Kulturtransfer zwischen Romania und Germania im Hoch- und Spätmittelalter: Geburt der Übersetzung 9783110597349, 9783110596472

In the High and Late Middle Ages, one sees a broad reliance of German on French literature in virtually all literary gen

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Kulturtransfer zwischen Romania und Germania im Hoch- und Spätmittelalter: Geburt der Übersetzung
 9783110597349, 9783110596472

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Lyrische Gattungen
2. Die erzählende Literatur
3. Die Tierepik: Der Roman de Renart und seine deutsche Adaptation, Reinhart Fuchs
Abschließende Überlegungen. Geburt der Übersetzung
Bibliographische Angaben
Register der genannten Herrscher, Dichter und Werke

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Danielle Buschinger Kulturtransfer zwischen Romania und Germania im Hoch- und Spätmittelalter

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte

Band 153

Danielle Buschinger

Kulturtransfer zwischen Romania und Germania im Hochund Spätmittelalter Geburt der Übersetzung

ISBN 978-3-11-059647-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-059734-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-059695-3 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2019933092 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Für meinen lieben Freund und Mitkämpfer, Volker Mertens.

Inhalt Einleitung

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6 Lyrische Gattungen Die Liebeslyrik der Troubadours; der Minnesang Sangspruchdichtung 15



Die erzählende Literatur 19 19 Versliteratur Prosaromane 22 Versliteratur 23 23 Heldenepos Erste deutschsprachige Adaptionen des Modells der „Chanson de 23 geste“ Teilentlehnungen von Erzählmotiven im Nibelungenlied 26 Die Dietrichepik 30 Wiederaufnahme der Chanson-de-Geste-Tradition: Die „matière de France“ 34 Hochmittelalterliche Bearbeitung (oder Nachdichtung) franzö34 sischer Heldenepen: Rolandslied und Willehalm Die „matière de Rome“. Ein Beispiel: Der Alexanderroman 72 Französische Alexanderromane des 12. und 72 13. Jahrhunderts Der deutsche Alexanderroman: Vorauer, Straßburger und Basler Alexander 75 Höfischer Roman: Die „matière de Bretagne“ 97 97 Die Tristan-Sage 119 Der Artusroman: Chrétien de Troyes Prosaroman 146 147 Prosa-Lancelot 154 Das Rittertum Die Minne 156 157 Der Gral 159 Das Ende der Artuswelt Prosaroman im Spätmittelalter 161 Prosaübersetzungen von französischen Versdichtungen: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken 163

. .. ... ... ... ... ... .. ... ... .. ... ... . .. ... ... ... ... .. ...

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Inhalt

Deutsche Übersetzung von französischen Prosaromanen: L’Ystoire de Pierre de Provence et de la belle Maguelonne / Die Schöne Magelone 173 Wilhelm Saltzmanns Übersetzung des Kaiser Oktavianus als Bearbeitung des französischen Prosaromans Florent et Lyon, Enfans de lempereur de Romme, und die jiddische Historie des Kaiser 181 Octaviano Die Tierepik: Der Roman de Renart und seine deutsche Adaptation, Reinhart Fuchs 191 Reinhart Fuchs als Bearbeitung des altfranzösischen Roman de 193 Renart

Abschließende Überlegungen. Geburt der Übersetzung Bibliographische Angaben 217 217  Allgemeines  Untersuchungen 217  Lyrische Formen 219 . Quellen: Editionen und Übersetzungen 219 . Untersuchungen 220 . Didaktik . Quellen: Editionen und Übersetzungen . Untersuchungen 220 221  Tierepik . Quellen: Editionen und Übersetzungen 221 . Untersuchungen 222  Erzählliteratur . Versliteratur 222 222 .. Heldenepik 228 .. Versroman . Prosaromane 232 .. Quellen: Editionen und Übersetzungen .. Untersuchungen 234 236 . Kleinepik 236 . Schluss Register der genannten Herrscher, Dichter und Werke

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Einleitung Das Mittelalter ist eine Zeit, in der in den verschiedenen Ländern ähnliche gesellschaftliche Strukturen herrschten, und zwar die Feudalgesellschaft mit regionalen Abwandlungen, wobei sie in Frankreich früher ihren Höhepunkt erreichte als im Heiligen Römischen Reich. Es war eine Zeit, in der die Sprachgrenzen nicht mit politischen Grenzen übereinstimmten. So gehörten zum deutschen Reich Gebiete, in denen Französisch oder Okzitanisch gesprochen wurde. Noch heute bezeichnet man in der Gegend von Carcassonne die Gebiete östlich der Rhône als „terre d’Empire“, bildeten doch im Wesentlichen Schelde, Maas, Saône und Rhône die Westgrenze des Reichs. Und die verschiedenen Länder unterhielten untereinander rege Beziehungen, nicht nur auf dem Gebiet der Politik, sondern auch auf dem der Literatur. So ist es kein Wunder, dass die meisten deutschen Werke – lyrische wie epische – im Hoch- und Spätmittelalter Adaptationen von französischen Werken sind. Sieht man von den Anfängen der deutschen Literatur ab (und vom Heldenepos, obwohl auch dieses von der französischen Literatur beeinflusst ist), so beobachtet man in vielen literarischen Gattungen eine weitgehende Abhängigkeit der deutschen von der französischen Literatur. Die französische Dichtung ist im deutschen Sprachgebiet aufgenommen worden, weil sie Spiegelbild der Adelskultur war, die an den deutschen weltlichen Fürstenhöfen als Ideal galt. Von diesen Höfen ging das Interesse an der französischen Literatur aus, waren doch die Fürsten die Gönner und Auftraggeber der Dichter, und diejenigen, die ihnen die Vorlagen besorgten, zum Beispiel Landgraf Hermann I. von Thüringen († 1217), der Heinrich von Veldeke (vor 1150 – zw. 1190 und 1200) ermöglichte, den Eneasroman zu vollenden, Wolfram von Eschenbach (um 1170 – um 1220) die Vorlage zu seinem Willehalm besorgte, La bataille d’Aliscans, der schließlich Herbort von Fritzlar ein Exemplar von Le Roman de Troie des Benoît de Sainte Maure (1154– 1173) beschaffte. So wurden die Liebeslyrik und die sirventes der okzitanischen Troubadours, der antike und der arthurische Roman, die Tierdichtung, die französische Chanson de geste und der Prosaroman bis ins 16. Jahrhundert hinein rezipiert.¹ Die deutsche didaktische Dichtung sowie die Heldenepik weisen ebenfalls eine klare Beeinflussung durch die romanische bzw. französische Literatur auf. Kurz: Außer dem Theater im mittelalterlichen Deutschland, das wie das französische Theater auf lateinische Texte zurückgeht, wird weitgehend die mittelalterliche Literatur im deutschen

 Das Hauptwerk des als freier Schriftsteller in Straßburg lebenden Johann Fischarts (1546/7– 1590), die Affentheurlich Naupengeheurliche Geschichtklitterung (1575, später Geschichtsklitterung), ist nämlich eine paraphrasierende Übersetzung von Rabelais’ Gargantua (1534/5). https://doi.org/10.1515/9783110597349-001

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Einleitung

Sprachraum bis zum Narrenschiff des Sebastian Brant von französischen Texten abgeleitet.²

 Das Narrenschiff wurde nur über die von Brant selbst überwachte lateinische Übertragung durch Jacob Locher unter dem Titel Stultifera Navis ins Französische, Niederländische und Englische übersetzt. Bis zur Romantik wurden wenige deutsche Texte direkt aus dem Deutschen ins Französische übersetzt. Einige Beispiele : Fortunatus : Histoire comique ou Les aventures de Fortunatus , traduction nouvelle reveuë, & augmentée en cette dernière édition d’une lettre burlesque de Monsieur d’Alibray Herausgeber : V. Moulu (Lyon) ; Erscheinungsjahr : 1665 ; Übersetzer : Charles de Vion (ca. 1590 – 1654). Histoire de Fortunatus et de ses enfans. Übersetzer : Jean Castilhon 1720 – 1799). Nouvelle édition. Paris 1770. Faust. Im Jahre 1587 erscheint die anonyme Historia von Johann Fausten, gedruckt in Frankfurt von Johann Spies ; dieser Faust wird nicht ins Französische übersetzt, aber im Jahre 1593 ins Englische und dient Christopher Marlowe als Vorlage. Marlowes Doktor Faustus wird dann von Goethe studiert und bearbeitet. Georg Wiedmann schreibt seinerseits Das Leben des J. Faust (Hamburg 1593). Dieses Werk wird dann von Palma Cayet unter dem Titel Histoire prodigieuse et lamentable de J. Faust, grand magicien et enchanteur ins Französische übertragen. Diese Übersetzung (Paris 1598) erlebt vierzehn Auflagen von 1598 bis 1674. Wieland. Wielands Histoire d’Agathon, ou Tableau philosophique des mœurs de la Grèce (1766 – 1767) wurde von Joseph-Pierre Frénais ins Französische übersetzt (Lausanne-Paris 1768, 4 Tomes en 2 vol. in-12). Der Übersetzer schreibt „ imité de l’allemand de M.Wieland “. Gallica nennt als erste wirkliche Übersetzung von Wieland Jean-Charles Laveaux Übersetzung des Musarion von 1780 an: Wieland, Christoph Martin (1733 – 1813). Musarion, ou La philosophie des Grâces , poème en 3 chants de Wieland. Traduit de l’allemand par M. de Laveaux. 1780. Es scheint, dass Wieland recht populär war. Was den Eulenspiegel anbelangt, so ist die Frage nicht leicht zu beantworten. Es gibt zwar eine französische Übersetzung aus dem 16. Jahrhundert (Koopmans (Jelle) et Verhuyck (Paul). Ulespiegel de sa vie de ses œuvres. Edition critique du plus ancien Ulespoègle français du XVIe siècle. Anvers, Rotterdam, Uitgeverij C. de Vries-Brouwers bvba.z.c., 1988 ; 1 vol. cartonné, gr. 8°, besonders S. 29 – 30; Besprechung von Henri Plard in Revue belge de Philologie et d’Histoire. Année 1992 (70 – 3), S. 781– 784).Vgl. jetzt auch Jan Hutsebaut. „ Comment Ulenspiegel respondit a ung homme demandant après le chemin. “ Ulenspiegel dans la tradition anversoise. In : Till Eulenspiegel. Traduire l’original / Zurück zum Original. Ed. Alexander Schwarz. Lausanne (Centre de traduction littéraire) 2013, S. 71– 90, besonders S. 89. Darüber schreibt mir Prof. Dr. Alexander Schwarz in einer privaten Mitteilung vom 3. März 2019 : „ die ältesten französischen Fassungen aus Antwerpen behaupten zwar, Übersetzungen aus dem „flamand“ zu sein und haben auch viele Gemeinsamkeiten (Zahl der Historien, die nur etwa die Hälfte der deutschen ist etc.), ABER: alle erhaltenen niederländischen Fassungen sind jünger; es gibt Gemeinsamkeiten deutsch – französisch gegen niederländisch, der Übersetzer ins Französischen könnte also z. B sowohl eine deutsche wie eine niederländische Fassung vor sich gehabt haben etc. Koopmans/Verhuyck schliessen nicht einmal aus, dass die Antwerpener Tradition älter als die Strassburger und folglich der deutsche Text eine Bearbeitung des niederländisch/französisch/englischen sein könnte… „

Einleitung

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Joachim Bumke, einer der Literaturhistoriker, die sich mit diesen Fragen befassten,³ schrieb in seinem grundlegenden Buch Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter: „Die ‚literarischen Beziehungen‘ zwischen Deutschland und den romanischen Ländern waren im Mittelalter – jedenfalls im Bereich der Volkssprachen – ganz einseitiger Natur: Deutschland war der nehmende, die Romania der gebende Teil, mit einer Ausnahme, der Historiographie bzw der Universal- oder Weltgeschichtsschreibung, in der nach Paul Zumthor sich ein Einfluss aus dem deutschen Sprachraum in der Romania bemerkbar machte⁴; die deutschen Weltchroniken, die als Heilsgeschichte gedeutet wurden, hatten selbst die lateinischen Universalchroniken als Vorlagen.⁵ Die meisten Anregungen kamen aus Frankreich; erst später haben auch die anderen romanischen Länder die deutsche Literatur vielfach befruchtet. […] Für den Germanisten ist die Kenntnis der französischen Entwicklung eine Voraussetzung seiner Arbeit; denn gerade die bedeutendsten Dichter haben ihre Stoffe und Vorlagen aus Frankreich bezogen.“⁶ Dabei haben Frauen eine wichtige Rolle gespielt: „Bei der Erziehung adliger Mädchen haben offenbar Fremdsprachen, Musik und verschiedene kunsthandwerkliche Tätigkeiten im Vordergrund gestanden. […] Auf Grund dieser Bildungsvoraussetzungen ist damit zu rechnen, dass die Frauen bei der Über-

 Vor Joachim Bumke hat es mehrere gegeben, denen der französische Einfluss bewusst war, z. B. Friedrich Panzer, der 1945 in seinen „Studien zum Nibelungenliede“ über 80 Seiten den romanischen Einflüssen gewidmet hat (in der ausgehenden Nazizeit eine erstaunliche Leistung), und Theodor Frings hat schon 1932 in seinem Buch „Germania Romana“ – allerdings in sprachlicher Hinsicht – die gewaltigen romanischen Einflüsse auf das Deutsche behandelt, kurz noch einmal in seiner Leipziger Akademie-Abhandlung „Germania Romana und Romania Germanica zwischen Mittelmeer, Rhein und Elbe“ (Berlin 1963); zu nennen ist außerdem seine Berliner AkademieAbhandlung von 1949 „Minnesinger und Troubadours“ (Wiederabdruck bei Hans Fromm [Hg. ]: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, Darmstadt 1966, S. 1– 57).Vor allem soll Jean Fourquet hier zitiert werden, dessen Studien über die „Adaptation“ französischer Vorlagen in der deutschen Literatur des Mittelalters sein ganzes akademisches Leben begleiteten (siehe insbesondere Jean Fourquet, Hartmann d’Aue, Erec; Iwein. Extraits accompagnés des textes correspondants de Chrétien de Troyes avec introduction, notes et glossaires. Paris, Aubier, 1944; Wolfram d’Eschenbach et le Conte del Graal, 2ème édition, Paris, PUF, 1966; Jean Fourquet, Recueil d’Etudes réunies par Danielle Buschinger et Jean-Paul Vernon, Amiens 1989).  Paul Zumthor, Histoire littéraire de la France médiévale (Vie-XIVe siècles), Paris, PUF, 1954, S. 158  Dorothea Klein, „Durchbruch einer neuen Gattung : Volkssprachige Weltchroniken bis 1300“. In : Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Liberalität von 1200 – 1300. Cambridger Symposion 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young. Tübingen 2003, S. 73 – 90, hier S. 76.  Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick, 1967, S. 5.

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Einleitung

nahme französischer Moden, französischer Geselligkeitsformen und auch der französischen Literatur eine wichtige Rolle gespielt haben.“⁷ Man denke in diesem Zusammenhang an die Szene in Hartmanns Iwein, wo die Tochter des Wirtes vom ‚Schlimmen Abenteuer‘ französische Bücher lesen kann (6455: und vor in beiden saz ein maget,/ diu vil wol, ist mir gesaget,/ wälhisch lesen kunde). Unter Kulturtransfer versteht man im Allgemeinen den Prozess der Übernahme aller Bereiche einer Kultur (hier der romanischen) durch eine andere, bzw. eines Sprachraums durch einen anderen.⁸ Ich beschränke mich aber auf die Schöne Literatur (Belletristik); Werke, die einem erweiterten Literaturbegriff zuzuordnen sind, wie Geschichtswerke (z. B. Chroniken), geistliche Literatur und Fachliteratur sind einer späteren Darstellung vorbehalten. Hier werde ich das Problem des literarischen Kulturtransfers zwischen der „Romania“ und der „Teutonia“ im Mittelalter und in der frühen Neuzeit (bis 1600) vornehmlich am Beispiel der lyrischen Gattungen (Minnesang und Sangspruchdichtung) und der erzählenden Literatur erörtern. Nicht berücksichtigt werden in diesem Zusammenhang, mit Ausnahmen, die mittellateinische Literatur, zum Beispiel der Einfluss des Alain de Lille auf die deutsche Dichtung des Spätmittelalters, sowie auch die spanische Dichtung, z. B. die novela picaresca,⁹ oder auch die italienische, z. B. der Welsche Gast, den der italienische Kleriker Thomasin von Zirklaere auf Deutsch und für ein deutsches Publikum geschrieben hat (1215 – 1216),¹⁰ oder die Bearbeitung von Tommaso Leonis Werk Fiore di virtù (Anfang des 15. Jahrhunderts) durch Hans Vintler : Die pluemen der tugent. ¹¹ Es werden hier lediglich die Bearbeitungsmethoden und -tendenzen der deutschsprachigen Autoren vom 12. bis zum 16. Jahrhundert beleuchtet, die einige repräsentative französische Werke als Vorlagen hatten. Dadurch wird es gleich-

 Siehe auch Werner Paravicini, „Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft“. In: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec, Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen, Jan Thorbecke Verlag, 1998, S. 10 – 18.  Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands. Paris, PUF, 1999. Siehe auch Michael Borgolte, Julia Dücker, Marcel Müllerburg, Bernd Schneidmüller (Hg.), Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter. Berlin, Akademie Verlag, 2011.  Siehe Alberto Marino, Die Verwandlungen des Pícaro. Die Rezeption der ‚novela picaresca‘ im deutschen Sprachraum. Herausgegeben von Fausto De Michele, Andreas Kurz und Herwig Weber zum 80. Geburtstag ihres Lehrers. Baden-Baden, Verlag Valentin Koerner, 2017.  Heinrich Rückert (Hg.), Thomasin der Circlaere, Der Wälsche Gast. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe 1852. Quedlinburg und Leipzig. Berlin, de Gruyter, 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters).  Hans Vintler , Die pluemen der tugent. Hg. von Ignaz Vinzenz Zingerle, Innsbruck 1874 (Aeltere tirolische Dichter. 1. Band).

Einleitung

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zeitig möglich sein, eine Geschichte der Bearbeitung französischer Texte im deutschen Sprachraum vom Hochmittelalter bis zur frühen Neuzeit darzustellen und somit der Geburt der Übersetzung beizuwohnen. ¹² Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Rudolf Bentzinger (Berlin) und Herrn Dr. Ronny F. Schulz (Kiel) für die gründliche Durchsicht des Manuskripts und zahlreiche Anregungen, ebenso Frau Prof. Dr. Angelica Rieger (Aachen), Herrn Prof. Dr. Roy Rosenstein (Paris), Herrn Prof. Dr. Friedrich Wolfzettel und Herrn Dr. Guy Borgnet für ihre Ratschläge und ihre freundliche Unterstützung. Zugleich möchte ich die Gelegenheit nutzen, allen weiteren Freunden und Kollegen aus dem Umkreis der Mediävistik für die vielen Tagungen und Gespräche in den letzten Jahren zu danken, die nicht unwesentlich zu diesem Band beigetragen haben.

 Michel Espagne schreibt: „Un transfert culturel est une sorte de traduction puisqu’il correspond au passage d’un code à un nouveau code.[…] L’histoire des traductions, aussi bien au sens propre qu’au sens figuré, est donc un élément important des enquêtes sur les passages entre cultures“ (Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands. Paris, Presses Universitaires de France, 1999, S. 8). Marc Crépon seinerseits hat in seinem Beitrag „La traduction entre les cultures“ (In: L’horizon anthropologique des transferts culturels. Revue Germanique Internationale 21/2004, S. 71– 82; S. 248 – 249) „die Relevanz des Übersetzungsmodells bei der Erforschung von interkulturellen Beziehungen“ erörtert.

1 Lyrische Gattungen Die mittelhochdeutsche Lyrik teilt sich in zwei nahverwandte Untergattungen, die beide gesungen werden und die denselben Strophenbau aufweisen; sie unterscheiden sich aber durch die Themenwahl : ‒ die Liebeslyrik oder Minnesang, ‒ die Sangspruchdichtung. Die Form der Strophe ist in der Sangspruchdichtung seit Walther von der Vogelweide wie im Minnesang die der herkömmlichen Kanzone, die den okzitanischen Troubadours entlehnt worden ist (canso). Die Strophen sind dreiteilig oder stollig gebaut; sie bestehen aus zwei metrisch und musikalisch gleichartigen Teilen, und einem Dritten, metrisch und musikalisch verschiedenen Teil. Die beiden gleichartigen und gleichwertigen Teile sind die Stollen (1. und 2. Stollen, auch Stollen und Gegenstollen genannt); sie können an der Reimkorrespondenz erkannt werden: Der erste Stollen bringt die Anfangsreime, z. B. ab oder abc oder aab usw., der Gegenstollen die Antwortreime ab, abc, ccb usw. Zugleich wiederholt der Gegenstollen die Melodie des ersten Stollens. Diese paarigen Glieder werden als Aufgesang (in der okzitanischen Kanzone frons) zusammengesetzt und setzen sich als deutliches Hör-Erlebnis vom folgenden ungleichen dritten Teil, dem Abgesang, der eine neue Melodie bringt, ab. Die deutschen Termini Aufgesang, Abgesang und Stollen sind Kunstausdrücke der Meistersinger. Die Bezeichnung stolle (Stütze, Pfosten) ist darauf zurückzuführen, dass der Stollen zusammen mit dem Gegenstollen den Abgesang „stützt“, wie die Pfosten die Tür. Als metrischer Begriff ist das Wort zum ersten Mal ca. 1350 belegt. Dass der dreiteilige Aufbau der Meisterlieder auch für die meisten Minnelieder und Sangsprüche Geltung hat, erkannte Jacob Grimm 1811. Kurz, in einer Kanzone, die also aus zwei gleichen Stollen und einem Abgesang besteht, gründet sich die Gleichheit der Stollen ebenso auf die Melodie – der zweite wiederholt die des ersten, während der Abgesang eine neue Melodie bringt – wie auf den metrischen Bau.

1.1 Die Liebeslyrik der Troubadours; der Minnesang¹ Der soziale Rahmen der Liebeslyrik bzw. des Minnesangs ist der der Hoffeste des Adels, einer abgeschlossenen sozialen Klasse; es ist eine ständische Literatur.  Des Minnesangs Frühling. I. Texte. Bearbeitet von H. Moser und H. Tervooren. 37. Auflage. Stuttgart, S. Hirzel Verlag, 1982. Des Minnesangs Frühling. III/1. Untersuchungen von C. von Kraus. https://doi.org/10.1515/9783110597349-002

1.1 Die Liebeslyrik der Troubadours; der Minnesang

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Diese Dichtung hat mit diesem Stand des Adels ihren Anfang genommen und ist mit ihm zu Ende gegangen. Die Liebeslyrik dient zur Unterhaltung des Adels. Die Minnesänger sind meistens Adlige, sowohl die Amateure wie Kaiser Heinrich VI. als auch die Professionellen wie Walther von der Vogelweide. Gleichermaßen besteht das Publikum, dem diese Dichtung bestimmt ist, im 12. und im 13. Jahrhundert ausschließlich aus Vertretern des Adels. Der Mittelpunkt dieser Ära ist unbestreitbar Südfrankreich und danach Nordfrankreich. Dieser Ära gehören auch Nordspanien, vornehmlich Katalonien, Portugal, Italien, später Sizilien und der Hof Friedrichs II., Brabant, das Rheinland und zwei große Achsen, die einerseits bis nach Thüringen, andererseits bis nach Österreich gehen, an. Der Minnesang kommt, wie die Institution des Rittertums, der höfische, der antike und der arthurische Roman aus dem romanischen Westen nach Deutschland: In diesen drei Fällen wirkte der französische bzw. okzitanische Einfluss von Westen nach Osten. Im 11. Jahrhundert entstand die Lyrik der Troubadours in der alten römischen Provincia, in Okzitanien, d. h. im Limousin (mit Wilhelm von Aquitanien), in der Provence, dem Languedoc und der Gascogne; sie breitete sich mit kaum zeitlichem Abstand nach Norden aus, nach Nordfrankreich, von dort nach Osten zu den Deutschen. Auch dann, später, nach Italien, und wohl über Italien auch nach Deutschland. In der Tat gelangte die Dichtung der Troubadours, die gegen 1090 in Südfrankreich entstand und besonders im Limousin und am Hofe von Poitiers aufblühte, nach Nordfrankreich entweder unmittelbar oder durch Kontakte zwischen Dichtern aus dem Süden und aus dem Norden im Laufe des zweiten Kreuzzuges. An diesem Kreuzzug nahm Eleonore von Aquitanien teil, die Enkelin Wilhelms von Aquitanien, des ersten Troubadours, die den König von Frankreich, Ludwig VII., und dann, von Ludwig VII. geschieden, Heinrich II. Plantagenêt, den König von England, heiratete. Von dort erreichte die Dichtung der Troubadours gegen 1180 den Niederrhein, Rheinfranken und Alemannien einerseits über Limburg, Flandern und das Hennegau, andererseits über die Champagne, Lothringen und das Elsass. Dann verbreitete sie sich in den übrigen Teilen des deutschen Reiches. Andere Verbreitungsmöglichkeiten hat es wohl auch gegeben: die Reisen, die die Minnesänger als Ministerialen im Dienste der Staufer nach Poitou, in die Provence oder nach Italien unternommen haben, die Aufenthalte von französischen Klerikern und Spielleuten an deutschen Höfen, ihre Teilnahme an Hoffesten, z. B. dem Hoffest in Mainz im Jahre 1184, auf dem beide Söhne Friedrichs Barbarossa zum Ritter geDurch Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt. Hg. von H. Tervooren und H. Moser. Stuttgart, S. Hirzel Verlag, 1981. Des Minnesangs Frühling. III/2. Anmerkungen von K. Lachmann, M. Haupt, Fr. Vogt, C. von Kraus. Hg. von H. Tervooren und H. Moser. Stuttgart, S. Hirzel Verlag, 1981.

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1 Lyrische Gattungen

schlagen wurden (Guiot de Provins war nach eigenem Zeugnis dabei oder auch Friedrich von Hausen) oder die Reisen der deutschen Kleriker nach Frankreich, das alles hat als Vehikel der süd- oder westfranzösischen Liebeslyrik für den Minnesang fungieren können. Im Mittelalter gab es wohl Sprachgrenzen, aber diesen verschiedenen Sprachgebieten entsprach keineswegs eine Differenzierung in Bezug auf den Inhalt der Lieder, auf die Ausdruckstechniken, die Form der Strophe, die musikalische Kunst. Alles war eins. Innerhalb der adligen Ära sind die Kommunikationsmöglichkeiten über die Sprachgrenzen hinweg schnell und mannigfaltig. Die literarischen Moden verbreiteten sich sehr rasch: die Erfindung, der ‚Fund‘ eines Troubadours gegen 1170, wurde spätestens ein oder zwei Jahre später von einem Thüringer oder einem Österreicher nachgeahmt. Es gibt eine Einheit der literarischen Gattung der Liebeslyrik einerseits wie des höfischen Romans andererseits. Der Minnesang, die adlige Liebeslyrik deutscher Sprache, ist nur ein besonderes Beispiel der Liebeslyrik, deren Modell die okzitanische Liebeslyrik ist, die sehr schnell zum Beispiel der Liebeslyrik wurde, dem die gesamte Adelswelt folgte, einschließlich die der deutschsprachigen Gebiete. Im engen Sinn des Wortes bezeichnet Minnesang eine Liebesdichtung, wie sie die okzitanischen Dichter in ihrer Form und in ihrem Inhalt entwickelt haben und die gegen 1170 das gesamte staufische Gebiet eroberte und fortan da als einzige Form herrschte. Diese Dichtung hat im deutschsprachigen Raum zum einzigen Gegenstand die Liebe, und zwar eine ganz besondere Liebe (in Okzitanien gab es viele andere Themen, Sirventes usw.). Es ist die leidenschaftliche Liebe eines jungen Mannes, natürlich adliger Herkunft, zu einer unerreichbaren, wohl verheirateten Frau hoher Abkunft, von außerordentlicher Schönheit und hoher Bildung. Es ist selbstverständlich vergebens zu hoffen, dass diese Leidenschaft je erhört wird. Die hohen Tugenden der Herrin, die dazu beitragen, sie einer leidenschaftlichen Liebe würdig zu machen, sind der Grund selbst, warum der junge Liebhaber daran verzweifelt, je von ihr geliebt zu werden. Es ist die Situation des hoffnungslosen Liebhabers, für den der Gegenstand seiner Liebe unerreichbar ist – Fernliebe, okz. amor de lonh –, die Situation des „Ver de terre amoureux d’une étoile“ (des Regenwurms, der in einen Stern verliebt ist), um mit Victor Hugo zu sprechen (Ruy Blas, II,2). Das Lied ist dem Ausdruck der Gefühle gewidmet, die eine solche äußerst tragische Situation hervorbringen. Diese ganz besondere Form einer exaltierten und hoffnungslosen Liebe wird als „hohe Minne“ bezeichnet, ein Terminus, der der okzitanischen „fin’amor“ entspricht. Diese schon ausgereifte Liebeskonzeption wird im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts von den deutschsprachigen Dichtern „en bloc“ übernommen und herrscht dort ausschließlich während einer ganzen Generation. Sie erreicht ihren Höhepunkt in Thüringen mit Heinrich von

1.1 Die Liebeslyrik der Troubadours; der Minnesang

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Morungen, in Österreich mit Reinmar dem Alten. Was die deutschsprachigen Dichter charakterisiert, ist, dass sie eine Zeit lang das okzitanische Ideal mit größerer Strenge und Reinheit als die Troubadours verwirklichen. Der Grund dafür liegt sicher darin, dass die deutschsprachigen Dichter den „fait de culture“ angenommen haben, als dieser schon ausgereift war. Er wurde als das Thema der „hohen Minne“ von den deutschen Minnesängern übernommen; die Sprache selbst hat ihren Einfluss auf das Mittelhochdeutsch der Minnesänger ausgeübt; der Stil, die Metaphern, die Bilder und Vergleiche sowie der Strophenbau sind durch die Lyrik des westlichen Nachbarn direkt beeinflusst worden. Erst nachdem das französische Modell vollkommen assimiliert worden ist, haben sich die deutschen Minnesänger davon befreien können und sind eigene Wege gegangen, indem sie einerseits die künstlerischen Anregungen aus Frankreich selbstständig verarbeiteten² und gleichzeitig auf die einheimische Lyrik zurückgriffen, so Walther von der Vogelweide auf die Donaulyrik, die eine gegenseitige Liebe besang. Kurz, während die früheste deutsche Lyrik der höfischen Zeit kaum von Frankreich her beeinflusst ist, wäre die deutsche Lyrik der mittelhochdeutschen Blütezeit (1180 – 1230) ohne die okzitanische Lyrik kaum denkbar, denn der okzitanische Einfluss setzt überwältigend in der Friedrich-von-Hausen-Gruppe (1170 – 1190) ein. Die hoch- und späthöfische Lyrik zeigt augenfällig romanischen bzw. okzitanischen Einfluss.³ 1. Die deutschen Lyriker haben dann die metrische und musikalische Struktur der Strophen den Liedern der okzitanischen und nordfranzösischen Lyriker entnommen: dies sind Kontrafakte bzw. Kontrafakturen.⁴

 Vgl. Joachim Bumke, Höfische Kultur. Band 1, München, DTV, 1987, S. 131.  Siehe Angelica Rieger, „Relations interculturelles entre troubadours, trouvères et Minnesänger au temps des croisades“. In: Le rayonnement des troubadours. Actes du colloque de l’AIEO. Association Internationale d’Etudes Occitanes. Amsterdam, 16 – 18 Octobre 1995. Edités par Anton Touber. Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1998. S. 201– 225; siehe auch N. Unlandt, … E si fetz mantas bonas chansos…, Techniques romanes dans le Minnesang allemand du treizième siècle. Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literature 102. Amsterdam 1992. A. Touber schreibt sogar: „Les Minnesänger sont les fils spirituels des troubadours.“ („La France cachée dans le Minnesang allemand“. In: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec, Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter…, S. 303.  Siehe Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel. Aspekte der Adaptation von Troubadour-Melodien im deutschen Minnesang“. In: Le rayonnement des troubadours. Op. cit., S. 269 – 283; Anton Touber, „Les sens occitans, cachés dans la poésie des Minnesänger“. In: Le rayonnement des troubadours. Op. cit., S. 285 – 311. Was die Melodien anbetrifft, siehe Wendelin Müller-Blattau, Trouvères und Minnesänger II. Kritische Ausgabe der Weisen zugleich als Beitrag

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1 Lyrische Gattungen

Graf Rudolf von Fenis-Neuenburg (nach 1190)⁵ wächst in einer Gegend auf, in der sich deutsche und romanische Einflüsse treffen, in der das Zusammentreffen von französischen, provenzalischen und okzitanischen Lyrikern selbstverständlich war. In der Tat sind für fünf seiner Lieder romanische Vorlagen bezeugt.⁶ Es handelt sich um Kontrafakturen auf romanische Lieder, zum Beispiel von Folquet de Marselha (so „Gewann ich ze Minnen ie guoten wân“ (MF 80,1) // „Sitot me soi a tart aperceubutz“)⁷, Gace Brûlé („Minne gebiutet mir daz ich singe“ (MF 80,25) // De bone amor et de loiaul amie“)⁸ und Peire Vidal P.C. 364,37 („Nun ist niht mêre mîn gedinge“ (MF 84,10)// „Pus tornatz sui em Proensa“)⁹. Heinrich von Veldeke (1140/50- ca. 1190), der im heute belgischen Limburg zu Hause war, stand seinerseits offensichtlich unter dem Einfluss der nordfranzösischen Trouvères, was die Form betrifft, so z. B. Gace Brûlé („Sî ist sô gût ende ouch so scône“ (MF 63,28)// „Pour mal temps ne por gelee“).¹⁰ Friedrich von Hausen (ca. 1150 – 1189), der als der bedeutendste Autor des „Rheinischen Schule“ des frühen Minnesangs gilt, übernahm konsequent das Modell der okzitanischen und französischen – als vorbildhaft empfundenen – Lyrik. Sein lyrisches Werk umfasst insgesamt ca. 30 Lieder. Es handelt sich in vielen Fällen nachweisbar um Kontrafakturen zu Melodien der Troubadours (wie Bernart de Ventadorn) und Trouvères (wie Guiot de Provins, Gace Brûlé, Conon de Béthune) oder noch zu der Melodie eines unbekannten Trouvère, die in den Roman Guillaume de Dole von Jean Renart eingefügt ist. Das Lied „Ich denke under wîlen“ (MF 51,33) ist ein Kontrafakt zu dem Lied „Ma joie premerainne“ von Guiot de Provins.¹¹ Die Melodie des Liedes von Friedrich von Hausen ist nicht überliefert, aber da die metrische Struktur übernommen worden ist, kann man annehzu einer Melodienlehre des mittelalterlichen Liedes. Saarbrücken, Im Selbstverlag der Universität, 1956.  Olive Sayce (Hg.), Rudolf von Fenis. Die Lieder. Unter besonderer Berücksichtigung des romanischen Einflusses. Mit Übersetzung, Kommentar und Glossar. Göppingen, Kümmerle, 1996.  Ich zitiere Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger. Recueil de textes pour servir à l’étude des rapports entre la poésie lyrique romane et le Minnesang au XIIe siècle. Saarbrücken, West-OstVerlag, 1952.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 46 – 50; Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling. Untersuchungen, Leipzig 1939, durch Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt von Helmut Tervooren und Hugo Moser, Stuttgart, Hirzel Verlag, 1981, S. 205.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 56 – 57; Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, S. 208 – 209.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 80 – 81; Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, S. 217 ; Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel…, op. cit., S. 273.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger. S. 34– 35.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger. S. 16 – 17 ; Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, S. 126 – 127.

1.1 Die Liebeslyrik der Troubadours; der Minnesang

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men, dass dies für die Melodie auch gilt, und da man die Melodie des Trouvères zur Verfügung hat, kann man die Melodie von Hausens Lied rekonstruieren. Das Lied „Deich von der guoten schiet“ (MF 48,32) ist ein Kontrafakt zu Bernarts de Ventadorn „Pois prejatz mi, seignor“,¹² „Mir ist daz herze wunt“ (MF 49,13) ein Kontrafakt zu dem unbekannten Trouvèrelied „Mult m’a demor铹³. Friedrich von Hausen hat ebenfalls ein Lied von Chrétien de Troyes, „eine berühmte TristanKanzone“,¹⁴ formal nachgeahmt: „Diu süezen wort hânt mir getân“ (MF 44,13) // „D’Amors ke m’ait tolut a moy“.¹⁵ Chrétiens Lied wurde noch einmal formal übernommen (Bernger von Horheim, MF 112,1)¹⁶ und zweimal inhaltlich (Bernger von Horheim, Heinrich von Veldeke). Volker Mertens spricht von einem „europäischen ‚Minnesanggespräch‘“.¹⁷ Das sehr bekannte Lied Albrechts von Johansdorf (1172– 1210) „Ich vant âne huote / die vil minneclîchen eine stân“ (MF 93,12) ist eine Kontrafaktur zu einem Lied eines Marques de Montferrat ( ?)¹⁸ „Dona, (a) vos me coman,/ ç’anc res mai non amei tan.“¹⁹ Die Lieder des Burggrafen von Riedenburg (1150 – 70) sind gleichfalls von erheblichem Einfluss okzitanischen Liedgutes geprägt. Außerdem sind bei folgenden Minnesängern der frühen und der klassischen Zeit Kontrafakturen auf okzitanische und nordfranzösische Dichter nachweisbar: Bernger von Horheim MF 113,33 (Gaucelm Faidit P.C. 167,63;²⁰ aber auch Chrétien de Troyes, ein unbekannter Trouvère oder Bertran de Born, Conon de Béthune oder Gace Brulé oder Bertran de Born), Hiltbold von Schwangau KLD 18 (Peire Vidal P.C. 167,63; er benutzt aber auch Hausen und Fenis),²¹ Ulrich von Gutenburg MF 77,36 (Blondel de Nesle R. 482)²², Hartwig von Rute MF 116, 1 (Gaucelm Faidit)²³, Bligger von Steinach (Folquet de Marselha)²⁴, Heinrich von Morungen (ein  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger. S. 2– 3 ; Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, S. 116.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger. S. 6 – 7 ; Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling, S. 118 – 119.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 276.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 22– 23 ;Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 276 – 278..  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 24– 27.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 276.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 273.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 86 – 87.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , 273.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , 273.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 40 – 45; Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel…, op. cit., S. 273.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 68 – 73; Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 275.

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1 Lyrische Gattungen

unbekannter Troubadour)²⁵, Reinmar der Alte (Gace Brûlé)²⁶, Hartmann von Aue (Gace Brûlé),²⁷ Heinrich von Morungen (ein unbekannter italienischer Troubadour, ein unbekannter Trouvère)²⁸. Volker Mertens²⁹ beschreibt eingehend „das intertextuelle Spiel“ anhand von Folquets de Marselha Lied P. C. 155,8, das nacheinander von Friedrich von Hausen (MF 45,37), Rudolf von Fenis (MF 81,30), Hartwig von Rute (MF 116,1) und Bligger von Steinach (MF 118,19) verwendet wurde, und er hebt hervor, dass „ein exklusives Publikum von Kennern […] die Variations- und Innovationskunst des deutschen Sängers vor dem Hintergrund des romanischen Modells [schätzte], weniger informierte Zuhörer nahmen das Lied ohne spezifische Wahrnehmung dieser Dimension als innovatorische Variation des traditionellen Themen- und Motivinventars auf, die als Prinzip ja zum Minnesang gehört“.³⁰ Die Melodie des Palästina-Liedes (L 14,38)³¹ Walthers von der Vogelweide (die einzige vollständig überlieferte Melodie zu einem Walther-Text [in der Hs. Z]) ist eine Kontrafaktur zu einem Lied von Jaufre Rudel (P.C. 262,2). Sie beruht auf der vermutlich bereits Ende des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts in der Schule von Notre Dame entstandenen Melodie zu der Antiphon Ave regina cœlorum. Sie wurde von dem Troubadour Jaufre Rudel (der wohl an dem zweiten Kreuzzug von 1145 – 1149 teilgenommen hat) für ein weltliches Lied Lanquan li jorn son lonc en mai (PC 262,2) verwendet. Es ist wohl denkbar, dass Walther die Melodie Jaufres benutzte, denn die beiden Melodien zeigen so große Überseinstimmungen, dass eine unabhängige Entstehung von Walthers Ton kaum denkbar erscheint. Das Palästina-Lied ist somit eine geistliche Kontrafaktur, da Jaufres Lied ein weltliches Lied ist.³² Die deutschen und romanischen Strophenformen hat Anton Touber, von der Universität Amsterdam, mittels des Computers verglichen: Es wurden hunderte

 Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 74– 76.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 112– 119.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 120 – 125.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger, S. 126 – 130 ; Angelica Rieger, „Relations interculturelles entre troubadours, trouvères et Minnesänger au temps des croisades“. In: Le rayonnement des troubadours.., op. cit., S. 214.  Istvan Frank, Trouvères et Minnesänger. S. 112– 119.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 274– 282.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 274.  Hugo Kuhn (Hg.), Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Dreizehnte, auf Grund der 10. Von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben von Hugo Kuhn, Berlin, de Gruyter, 1965.  Volker Mertens, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel… op. cit. , S. 280 – 282.

1.1 Die Liebeslyrik der Troubadours; der Minnesang

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von Entsprechungen zwischen Walthers Lyrik, der Poesie der Troubadours und Trouvères, und dem deutschen Minnesang des 12. und 13. Jahrhunderts ermittelt.³³ 2.Walthers Angriff auf die „Wälschen“, d. h. auf die Franzosen „Die Franzosen sind sehr eingebildet, sie kennen kein ehrenhaftes Benehmen. Deutsche Männer sind gut erzogen, wie Engel sehen die Frauen aus.“ ist eine Erwiderung auf Angriffe auf die Deutschen, wie sie uns aus romanischen Liedern bekannt sind. Schon 1157 schrieb ein Lombarde, Peire de la Cavara, ein okzitanisches Sirventes gegen die Deutschen unter Friedrich Barbarossa oder unter Heinrich VI., „Das deutsche Volk wollet ihr nicht lieben³⁴, und nicht gefalle euch seine Gesellschaft; denn im Herzen macht es mir Beschwerde, mit ihnen zu kauderwelschen“. Und Peire Vidal hat wohl unter dem Eindruck des harten Feldzuges Heinrichs VI. im Jahre 1195 gegen Sizilien und Apulien gedichtet, dass Deutsche grob und grausam sind, und wenn einer von ihnen höfisch sein will, ist das eine unerträgliche, verletzende, ja tödliche Erfahrung: Peire Vidal schrieb diese Verse wohl, als er 1196/7 in Ungarn weilte: „Die Deutschen find ich unhöfisch und tölpelhaft, und wenn einer sich anstellt, höfisch zu sein, so ist’s ein tödlicher Kummer, Schmerz und Verdruss“ und „Ihr Deutschen, sehr tölpelhaft, schurkenhaft und schlecht nenn ich euch; denn noch nie erfreute sich an euch, der euch liebte und euch diente.“ Walthers Lied ist auch eine Antwort auf Peire Vidals Preis der Provence: „Solch ein Land hat’s nie gegeben, Wie vom Rhonestrome nach Vence, Und vom Meer bis zur Durance, Noch ein so vergnüglich Leben.“ 3. Motive werden auch entlehnt, so das Motiv des geraubten Kusses, das bei Reinmar dem Alten (MF 159,37) und Walther von der Vogelweide (L 111, 23 – 112,2)³⁵ zu finden ist, ein Motiv, das sehr früh bei den Troubadours anzutreffen ist, so bei Bernart de Ventadorn (39,41– 44). Vielleicht greift Walther mit seinem eigenen Gedicht Reinmar an. Es ist auch möglich, dass sich sowohl Reinmar wie Walther auf die okzitanische Lyrik beziehen, die die Kussraubtradition schon früh kennt.

 Anton Touber, „Les sens occitans, cachés dans la poésie des Minnesänger“. In: Le rayonnement des troubadours. Actes du colloque de l’AIEO. Association Internationale d’Etudes Occitanes. Amsterdam, 16 – 18 Octobre 1995. Edités par Anton Touber. Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1998. S. 285 – 296, besonders S. 295 – 296. Siehe auch Anthonius H. Touber, „La France cachée dans le Minnesang allemand“. In: Kasten, Ingrid, Werner Paravicini, René Pérennec, Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen, Jan Thorbecke Verlag, 1998, S. 303 – 314.  Carl von Kraus, Des Minnesangs Frühling. Untersuchungen. Leipzig 1939, durch Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt von Helmut Tervooren und Hugo Moser, Stuttgart, Hirzel Verlag, 1981, S. 126 – 127.  Hugo Kuhn (Hg.), Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hg. von Karl Lachmann. Dreizehnte, auf Grund der 10. Von Carl von Kraus bearbeiteten Ausgabe neu herausgegeben von Hugo Kuhn, Berlin, de Gruyter, 1965.

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1 Lyrische Gattungen

Reinmar: Unde ist, daz mirs mîn saelde gan, daz ich abe ir wol redendem munde ein küssen mac versteln, gît got, daz ich ez bringe dan, sô wil ich ez tougenlîchen tragen und iemer heln. Und ist, daz sîz vür grôze swaere hât und vêhet mich durch mîne missetât, waz tuon ich danne, unsaelic man? dâ nim eht ichz und trage ez hin wider, dâ ichz dâ nan, als ich wol kan. Bernart: „Wohl würde ich sie allein finden wollen, dass sie schliefe oder sich den Anschein davon gäbe, so dass ich ihr einen süßen Kuss raubte, da ich nicht so viel wert bin, sie darum zu bitten“. Die Übereinstimmung von Bernart und Reinmar besteht darin, dass in beiden Fällen der Kussraub Wunsch ist. Aber Reinmar geht weiter und möchte den Kuss der bösen Dame gerne zurückgeben. Genau diese Haltung finden wir bei Peirol, dem Troubadour aus der Auvergne, der etwa 1160 – 1221 lebte. Bei ihm heißt es (in deutscher Übersetzung): „Aber wenn es möglich wäre, würde ich gerne einen Kuss von ihr stehlen oder rauben; und wenn sie mir deshalb böse wäre, würde ich ihn ihr gerne zurückgeben.“ Das ist genau die Situation, die Reinmar ausführlicher beschreibt. Bei Peire Vidal, dem Schüler Bernarts, ist der geraubte Kuss Wirklichkeit (20,25 – 29): „Eines Morgens ging ich in ihr Zimmer, und ich küsste sie wie ein Dieb auf den Mund und auf das Kinn“. Und er sagt weiter: „Ich wäre mehr geehrt als jeder Andere, wenn der gestohlene Kuss mir zurückgegeben würde“, was schließlich auch geschieht. Bei Peire Vidal ist der gestohlene Kuss das Symbol der nicht gewährten Liebe; die Erhörung erfolgt, wenn die Dame ihm schließlich den gestohlenen Kuss zurückgibt. Alle Motive dieses Teiles dieser Reinmar-Walther -Fehde sind also bei den Troubadours vorgegeben. 4. Die Gattung des Kreuzzugsliedes ist wie die Kreuzzüge selbst in Frankreich entstanden.³⁶ Das Kreuzzugslied hat die deutschen Dichter beeinflusst wie Albrecht von Johansdorf (12. Jahrhundert) und Friedrich von Hausen (am 6. Mai 1190 in Palästina während des dritten Kreuzzugs gefallen). Beide haben den nordfranzösischen trouvère Conon de Béthune († 1219/20) in Regensburg beim dritten Kreuzzug persönlich kennen gelernt, und sie haben beide eines der beiden Kreuzzugslieder Conons nachgeahmt und abgewandelt (auf 1188 datiert), sowohl

 Sieglinde Hartmann, Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein oder die Erfindung der Liebe im Mittelalter, Wiesbaden, Reichert Verlag, 2012, S. 106 – 115.

1.2 Sangspruchdichtung

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den Text als auch die Metrik und die Melodie: Conon de Béthune, „Ahi, Amours, com dure departie“; Friedrich von Hausen, „Mîn herze und mîn lîp diu wellent scheiden“ (MF 47,9); Albrecht von Johannsdorf, „Mich mac der tôt von ir minnen wol scheiden“ (MF 87,5).

1.2 Sangspruchdichtung Auch die Sangspruchdichtung des Spätmittelalters zeigt romanischen bzw. okzitanischen Einfluss. Begriff und Bezeichnung „Spruch“ hat Karl Simrock in die Literaturwissenschaft eingeführt, um die Strophen politischen³⁷ und geistlichen Inhalts von der Liebeslyrik Walthers von der Vogelweide abzugrenzen. Dennoch wurden die „Sprüche“ gesungen, genau wie die „Lieder“, so dass die Bezeichnung „Sangspruch“, die ich übernehme – ihr überlegen ist, eine Bezeichnung, die wiederum „Sangspruch“ von „Sprechspruch“ (im Sinne z. B. von Freidank) zu unterscheiden erlaubt, obwohl sich beide „Gattungen“ nur in der Form („Sprechspruch“ ist vierhebige Reimpaardichtung, „Sangspruch“ strophische Dichtung, meist in gleichförmigen Einzelstrophen, manchmal – bei wiederkehrenden Themen – in Strophenreihen), aber nicht thematisch trennen lassen. „Sangspruchdichtung“ ist gesungene, strophische Dichtung, bei der die strophische Form an den Gesang gebunden ist. Die Überlieferung bezeugt dies durch die Melodieaufzeichnungen, die allerdings nur die wenigsten Handschriften bieten. Es ist in beiden Fällen eine Notation auf Notenlinien, die aber nur Hinweise auf den Melodieverlauf gibt. Andere Handschriften der vorhergehenden Zeitepoche, so die der „Carmina Burana“, haben nur Neumen. Hauptmerkmale der Musik der „Sangspruchdichtung“ sind Einstimmigkeit (erste mehrstimmige Melodien sind beim Mönch von Salzburg – 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts – und bei Oswald von Wolkenstein – ca 1377– 1445 – zu finden) und Abhängigkeit vom gregorianischen Gesang. Während die meisten Lieder eine bestimmte Strophenform und die dazu passende Melodie (als Ton bezeichnet, womit ein metrisches und musikalisches Schema gemeint ist) haben, wird beim Sangspruch der gleiche Ton von anderen Dichtern wieder verwendet. Außerdem pflegen die meisten Dichter nur wenige Strophenformen, doch zeichnen sie sich z.T. durch höchstes künstlerisch-handwerkliches Können aus (vgl. z. B. Frauenlobs Goldener Ton).

 Ulrich Müller, Untersuchungen zur politische Lyrik des deutschen Mittelalters, Göppingen, Kümmerle, 1974 (GAG 55/56).

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1 Lyrische Gattungen

Die in der Sangspruchdichtung behandelten Themen sind unter dem Bereich „Gesellschaftslehre“ zusammenzufassen: Die Sangspruchdichter, die die Bahn gehen, die von Walther von der Vogelweide exemplarisch vorgezeichnet worden ist, lehren die Menschen ihrer Zeit, wie sie sich im Leben, im Alltag, im politischen und religiösen Leben, im Verhältnis zur Kunst, zu Gott, zu anderen Menschen … richtig verhalten sollen. Die Sangspruchdichtung stellt – vereinfachend gesprochen – die „kollektive“ Gesellschafts- und Morallehre des Spätmittelalters dar. Thematisch kreist sie um vier allgemeine Komplexe: Politik, Liebe, Religion, Moral und Ethik.

Das okzitanische Pendant vom Sangspruch ist der sirventes, der ähnliche Themen behandelt³⁸. Ich möchte in der Folge noch auf den „geblümten Stil“ eingehen, denn ich habe zahlreiche Übereinstimmungen zwischen dem „geblümten Stil“ der deutschen Sangspruchdichter und dem „trobar clus“ und „trobar ric“ der Troubadours entdeckt. Zunächst sei die Bedeutung des Intellekts, des Verstandes sowohl bei den Troubadours (Marcabru, Peire d’Alvernha z. B.) als auch bei Frauenlob zu betonen. Wie Marcabru von seinem „sens“, d. h. seinen intellektuellen Fähigkeiten, und seinem „art“, d. h. von seinem Talent spricht, erwähnt Frauenlob in seinen Gedichten seinen „witz“, und er appelliert an „hern Sin“, seinen Verstand, den er personifiziert und der ihm helfen soll, sein Lob Heinrichs, des Herzogs von Mecklenburg, aufs trefflichste zu schmieden (GA V, 11,1). Bei den Troubadours und bei den Sangspruchdichtern gibt es dieselbe gekünstelte, dunkle, allegorischsymbolische, mehrdeutige Stilart mit ausgesuchten Vokabeln, mit abgeleiteten Wörtern, mit unerwarteten Suffixen, mit den gezierten, geschraubten und überraschenden stilistischen Ausschmückungen, mit ausgefeilten und unklaren Metaphern und Allegorien, mit seltenen Reimen (es soll darauf hingewiesen werden,

 Siehe Martin J. Schubert, „Verschriftlichung bei Sirventes und Sangspruch“. In: Dorothea Klein zusammen mit Trude Ehlert und Elisabeth Schmid (Hg.), Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext. Internationales Symposion Würzburg, 15.–18. Februar 2006, Tübingen 2007, S. 262– 293; Levente Selaf, „Parallele Geschichten: Die altfranzösischen nicht-lyrischen strophischen Dichtungen und die Sangsprüche“. In: Dorothea Klein, zusammen mit Trude Ehlert und Elisabeth Schmid (Hg.), Sangspruchdichtung. Gattungskonstitution und Gattungsinterferenzen im europäischen Kontext…, S. 307– 323.

1.2 Sangspruchdichtung

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dass der Reim in Okzitanien erfunden worden ist: der älteste erhaltene gereimte Text, die Chanson de sainte Foy, wurde wahrscheinlich von einem gelehrten Mönch, der in Kontakt mit der Abtei in Conques stand, in einem südokzitanischen Dialekt um 1060 geschrieben)³⁹, mit unverständlichen strophischen Kombinationen, mit seltsamen Klangfarben. Es gibt aber auch besonders dasselbe Bild des Webens („entrebescar“). Das Gedicht oder das Werk werden mit einem Gewebe verglichen, mit einem Stoff. So ist es auch bei Frauenlob: „(Gott) wibet ez in miner witze hamen“ (im Fangnetz meines Witzes, meines [dichterische Tätigkeit anregenden] Verstandes)⁴⁰ GA V,8,13. Frauenlob hat dieses Bild des Webens Hermann Damen entliehen, der es wohl von den Troubadours hatte. HMS III 169 – 170: VI 1– 2– 3 „wibet in dem herzen mit gedanken redeglanz“; sein „sin“ ist aufgefordert, in seinem Herzen eine glänzende Rede mit Gedanken zu weben. Das Verb „parrieren“, das von Frauenlob benutzt wird, könnte einen ähnliche Sinn wie „entrebescar“ haben, denn Hugo Suolahti gibt von „parrieren“ folgende Definition: „Nach verschiedenen Farben, bunt zusammensetzen oder schmücken, verschiedenfarbig durch einander mischen“.⁴¹ „entrebescar“ könnte durch „durchweben, flechten“ übersetzt werden. Der Troubadour flicht verschiedenfarbige Fäden, und das Resultat ist die Zeichnung, die aus der Gesamtheit der Fäden hervorgeht. Raimbaud d’Aurenga dichtet „cars bruns e tenhz. Motz entrebesc. Pensiuz pensanz“: kostbare, dunkle und gefärbte (Fäden) flechte ich, nachdenklich und denkend. Sowohl die Troubadours als auch die Sangspruchdichter zeichnen sich durch ihre Gelehrsamkeit aus, es sind gebildete Dichter, die eine geistliche Ausbildung genossen haben. Sie kannten sich mit den lateinischen Rhetorikern, in der lateinischen Poetik und der christlichen Exegese aus, was ihre Übereinstimmungen erklären könnte. Konrad von Würzburg schreibt ja in der Goldenen Schmiede (V. 108 – 115), es gebe eine ganze Tradition von Bildern, Metaphern, Symbolen, Formeln und Vergleichen, aus der Wolfram von Eschenbach, Konrad von Würzburg und seine Nachfolger, wahrscheinlich auch die Troubadours selbst, geschöpft haben. Doch es ist, wie wir gesehen haben, eine Tatsache, dass die Minnesänger unter dem direkten Einfluss der Troubadours gestanden haben. Dieser direkte Einfluss wird im 13. Jahrhundert weiter bestanden haben und die deutschen Dichter, die den „geblümten Stil“ pflegten, haben genau wie die Minnesänger

 Paul Zumthor, Histoire littéraire de la France médiévale (VIe-XIVe siècles), S. 154.  Wörterbuch zur Göttinger Ausgabe (Karl Stackmann et Karl Bertau Hg.), Frauenlob (Heinrich von Meißen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund von Vorarbeiten von H.Thomas. 2 Teile. Göttingen 1981), Unter Mitarbeit von Jens Haustein, redigiert von Karl Stackmann, S. 142; s. auch S. 482 (Göttingen 1990)  Siehe auch Wörterbuch zur Göttinger Ausgabe, S. 273.

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1 Lyrische Gattungen

unter dem Einfluss der okzitanischen Dichter und des „trobar clus“ und „trobar ric“ gestanden. Der „trobar ric“ behält seine Anhänger bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, und es gibt noch Dichter, die den „trobar clus“ im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts pflegen. Auch der dunkle Stil der Troubadours des 12. Jahrhunderts kann – wie in Portugal – seinen Einfluss a posteriori ausgeübt haben. Es gibt in der Tat viele Kontaktmöglichkeiten. Unter Friedrich II. z. B. haben die deutschen Dichter Kontakte zur sizilianischen Schule gehabt oder auch zum Hof Alfons’ des Weisen, König von Kastillien, der der Enkel von Philipp von Schwaben und der Neffe Friedrichs II. war, und zahlreiche okzitanische Dichter aufnahm, vielleicht auch deutsche Dichter. Und man darf nicht vergessen, dass die Provence zum Reich gehörte. Aber es ist wahrscheinlicher, dass die Tradition der Troubadours über Norditalien nach Deutschland gelangt ist. In Italien sind ja auch fast alle ältesten uns erhaltenen Sammelhandschriften entstanden, und die okzitanische Dichtung wurde dort noch lebhaft bewundert und gepflegt. Dem Ende des 13. und dem Anfang des 14. Jahrhunderts verdankt man eine große Reihe von Handschriften italienischer Herkunft. Dante (1265 – 1321), der Zeitgenosse Frauenlobs, und Petrarca (1304– 1374), der Zeitgenosse Heinrichs von Mügeln, der in der 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts gleichfalls ein Dichter des „geblümten Stils“ war, haben ihrerseits der okzitanischen Dichtung ein ernsthaftes Studium gewidmet und ihre Verehrung durch ihre Nachahmungen bekundet: Sie betrachteten sich als die Nachfolger der klassischen Troubadours im allgemeinen und von Arnaut Daniel im Besonderen, dem berühmtesten und wohl begabtesten Vertreter des „trobar ric“. Dante bezeichnete ihn als den besten Schmied der Muttersprache, Petrarca betrachtete ihn als den wahren Meister der okzitanischen Troubadours und als dichterischen Bahnbrecher, und er nannte ihn „gran maestro d’amor“. Es ist also wohl möglich, dass die deutschen Dichter des „geblümten Stils“, die „Blümer“, die Technik der Troubadours, ihre dunkle Dichtart, angenommen, sie aber zu anderen Zwecken benutzt haben (sie besingen nur ausnahmsweise die Liebe, Frauenlob gebrauchte den „geblümten Stil“ in Minneallegorien) und dass sie unter deren Einfluss gestanden haben: Wie die Troubadours sich gegenseitig beeinflussten, so wurden wahrscheinlich die deutschen Dichter auch von ihnen beeinflusst. Mit einem Wort: Ohne genaue Kenntnis des romanischen Vorbildes ist ein richtiges Verständnis des Minnesangs und der Sangspruchdichtung nicht möglich. Dies gilt auch für die erzählende Literatur.

2 Die erzählende Literatur In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts kommt in der erzählenden Literatur (ab 1150) wie in der Lyrik (ab 1180) der entscheidende Antrieb aus Frankreich. Die erzählende Literatur gliedert sich in Formen der Versliteratur und, ab dem Spätmittelalter, nach dem Durchbruch im 13. Jahrhundert, in Formen der Prosaliteratur, die dann später vorherrschen werden.¹

Versliteratur In der aus Frankreich kommenden Versliteratur wird zwischen der (dominierenden) Großform und der Kleinform unterschieden.² Die herrschende Versform der mhd. Erzählliteratur, das vierhebige Reimpaar, entspricht den achtsilbigen Reimpaaren der französischen Romane. Die chansons de geste benutzen zehnsilbige Verse, Strophen („Laisses“) und Assonanzen. Das Nibelungenlied und manche andere mhd. Heldenepen verwenden aus vier paarweise reimenden Langzeilen bestehende Strophen. In der mittelalterlichen klassischen großepischen Leitform (12. und 13. Jahrhundert) gibt es drei Hauptzyklen : ‒ die „matière de Rome“, deren Hauptbestandteile die Geschichten um Troja und Alexander den Großen sind: Le Roman d’Eneas, übersetzt von Heinrich von Veldeke: Eneasroman; Alexander des Albéric de Pizançon, übertragen vom Pfaffen Lamprecht; Le Roman de Troyes von Benoît de Sainte Maure, adaptiert von Herbort von Fritzlar und Konrad von Würzburg. Als Beispiel für diese Textsorte nehme ich den Alexanderroman. ‒ die „matière de France“, die sich mit Karl dem Großen und seinen pairs, mit Guillaume d’Orange und anderen französischen Helden befasst: La Chanson de Roland, La Chanson des Aliscans, übertragen vom Pfaffen Konrad und von Wolfram von Eschenbach; die Empörerepen (Girart de Roussillon, Renaut de Montauban, Maugis d’Aigremont, Ogier le Danois und ihre deutschen Bearbeitungen). Traditionell sind die französischen „chansons“ Heldenepen. Zum  Siehe L. Peter Johnson, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. II/1 Die höfische Literatur der Blütezeit. Tübingen, Niemeyer 1999, S. 225 – 228; Johannes Reinolt, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. III/1 Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit. Tübingen, Niemeyer 2004, S. 194– 195.  Für die mhd. Liebes- und Abenteuerromane z. B. sind keine direkten französischen Vorlagen bekannt (siehe Johannes Janota, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit, III/1, S. 198 – 214. https://doi.org/10.1515/9783110597349-003

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2 Die erzählende Literatur

Kapitel „Heldenepen“ gehören ebenfalls die Übernahme mancher Erzähltechniken der Chanson-de-geste in der Teutonia, Teilentlehnungen von Erzählmotiven sowie die gesamte Dietrichepik.³ die „matière de Bretagne “, die in allen Ländern den Stoff für die literarisch wertvollsten Romane und den Hintergrund einer ritterlichen Welt lieferte. Sie übte einen erheblichen Einfluss auf alle anderen epischen Gattungen aus, sogar auf das Nibelungenlied. Es sind Erec et Enide, Le Chevalier au lion und Le Conte del Graal des Chrétien de Troyes, bearbeitet von Hartmann von Aue (Erec und Iwein oder der Löwenritter) und Wolfram von Eschenbach (Parzival). Im 14. Jahrhundert wurden die Fortsetzungen des Conte del Graal von Claus Wisse und Philip Colin ins Deutsche übersetzt (es handelt sich um den Rappoltsteiner Parzefal). Als Beispiele habe ich Hartmanns Iwein oder der Löwenritter und Wolframs Parzival gewählt. Ich füge den Tristan-Stoff hinzu, der als Seitenzweig der „matière de Bretagne“ angesehen werden darf (mit zwei deutschen Werken: Eilharts von Oberg Tristrant, die Nachdichtung der Estoire, und Gottfrieds von Straßburg Tristan, die Bearbeitung des TristanRomans des Thomas d’Angleterre).

Somit habe ich vier Werke gewählt, deren jedes eine besondere Art der Untersuchung repräsentiert. Erec und Iwein, Hartmanns Bearbeitungen von Chrétiens de Troyes Romanen, Erec et Enide und Le Chevalier au Lion, stellen den einfachsten Fall dar, den Standardfall. Als Beispiel nehme ich den Iwein, den ich Szene für Szene mit der vollständig erhaltenen französischen Vorlage vergleiche. Was Wolframs Parzival anbelangt, so ist die Vorlage zwar Chrétiens Conte del Graal, doch das Einzigartige an dieser Vorlage ist, dass sie im Grunde aus zwei nebeneinandergestellten Romanen besteht, dem Perceval-Roman und dem Gauvain-Roman, die beide Fragment geblieben sind und deren einer, der GauvainRoman, überdies uneinheitlich ist.Wolfram hatte sich aber entschlossen, Parzival zum Haupthelden seines Romans zu machen. Dazu hatte er das Werk aber zu Ende schreiben müssen.

 Für die Rezeption der Chansons de geste in Deutschland siehe u. a. Jürgen Wolf, „Traditionslinien und Traditionsbrüche. Kulturelle Grenzen bei der Chanson de geste-Adaptation“. In: HansJoachim Ziegeler (Hg.), Chanson de geste im europäischen Kontext. Göttingen, V & R unipress, 2008, S. 59 – 72. Siehe auch Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen/ Basel 2010; Thordis Hennings, „Französische Chansons de geste in der Germania vor 1300. Übersetzungen, Bearbeitungen, Neudichtungen“ . In: Alfred Ebenbauer und Johannes Keller, 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Das Nibelungenlied und die Europäische Heldendichtung. Wien, Fassbaender, 2006. S. 163 – 179.

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Für Eilharts Tristrant kann ich nur die – unbekannte – Vorlage, die Estoire oder den Ur-Tristan, anhand von den Werken, die aller Wahrscheinlichkeit nach von diesem Urtext abgeleitet worden sind, mit großer Vorsicht rekonstruieren (Thomas d’Angleterre und dessen norwegischer und englischer Übersetzungen; Berol; Hs. 103 des französischen Prosaromans; Folie de Berne) und den deutschen Text mit diesen abgeleiteten Texten vergleichen. Gottfrieds von Straßburg Tristan nimmt inmitten der deutschen höfischen Romane, die nach einem französischen Vorbild geschaffen wurden, eine Sonderstellung ein: er gehört seinerseits zur Kategorie jener Werke, deren Vorbild zwar identifiziert wurde, aber leider gänzlich unbekannt geblieben ist. Man stellt außerdem fest, dass die Stellen, in denen der deutsche Tristan und die anglo-normanische Erzählung von Thomas übereinstimmen, nur geringen Umfangs sind. Nichtsdestoweniger lässt sich ein ziemlich genaues Bild des Handlungsablaufs in Thomas’ Roman dadurch konstruieren, dass man die in altnordischer Prosa verfasste Version von Bruder Robert (S) (1226) heranzieht, während ein anderes von Thomas’ Tristan abgeleitetes Werk, der Sire Tristrem (entstanden zwischen 1294 und 1330) zahlreiche Probleme aufwirft. Um die Adaptations-Technik Gottfried von Straßburgs genauer zu definieren, muss also – für einen Großteil des Werkes – auf die Gegenüberstellung des deutschen Tristan und der Saga zurückgegriffen werden. Ich habe dann tausend Verse des Thomasschen Gedichts mit der entsprechenden Passage der Saga verglichen, um zu ermitteln, wie Robert arbeitete. In einem dritten Schritt habe ich mich dem Dreieck Gottfried – Saga – Thomas gewidmet und eine genauere Untersuchung von Isoldes Obstgarten-Monolog durchgeführt, um so Gottfrieds und Roberts Haltung gegenüber Thomas’ Text näher bestimmen zu können. Eine präzise kontrastive Besprechung des Monologes, den Tristan hält, bevor er Isolde Weißhand heiratet (S reduziert diesen Monolog auf eine einzige Zeile) und der Minnetrank-Szene aus dem erst kürzlich entdeckten Carlisle-Fragment hat dann den vierten Schritt ausgemacht. Für beide Passagen liegt nämlich der Text Thomas’ vor, so dass er mit demjenigen Gottfrieds verglichen werden kann. Hier fasse ich meine früheren Untersuchungen zusammen. Diese Beispiele dürften uns nicht nur ermöglichen, die Umarbeitungstechnik Gottfrieds nachzuzeichnen, sondern auch die eigentliche Konzeption des elsässischen Dichters zu beleuchten und damit eine Teilinterpretation seines Werkes zu liefern. Nur wenn man die deutschen Bearbeitungen mit den französischen Vorlagen sorgfältig vergleicht, kann man die deutschen Werke verstehen und richtig interpretieren, sofern man herausfinden kann, was der Bearbeiter gestrichen oder hinzugefügt, was er an Neuem, sowohl was den Inhalt als auch die Form anbetrifft, gebracht hat. Auf diese Weise wird man beiden Autoren gerecht, dem französischen und dem deutschen, und fällt ein redliches und objektives Urteil über beide. Somit entgeht man „der Gefahr unsachlicher Voreingenommenheit“,

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der der Literaturkritiker in einer Zeit der „politischen Spannung zwischen Deutschland und Frankreich“ ausgesetzt war, wie es Joachim Bumke richtig betonte.⁴ Dies gilt auch für die Tierepik, deren bester Vertreter der Roman de Renart ist, adaptiert von Heinrich dem Glîchezâre, der Reinhart Fuchs, mit dem ich dieses Kapitel, das von der erzählenden Literatur handelt, beende,⁵ und die Kleinepik, einer späteren Darstellung vorbehalten ist.⁶

Prosaromane Im Spätmittelalter dominieren die Prosaromane. So werden ab der Mitte des 13. Jahrhunderts die drei ursprünglichen Teile des französischen Lancelot-Graal adaptiert: Lancelot, Queste del Saint-Graal, Mort du roi Artu. Die Prosaromane emanzipieren sich zwar einigermaßen von der französischen Literatur. Neben den Prosaromanen, die Prosaauflösungen von deutschen Versromanen der klassischen Zeit sind⁷, existieren solche, die keine direkte Vorlage haben⁸, oder Übersetzungen von lateinischen Romanen⁹ oder von italienischen Texten sind.¹⁰ Außerdem gibt es Prosaromane, deren Quelle ein französisches Werk ist (in Versen oder in Prosa). Manche Prosaromane (und der Wigalois des Wirnt von Gravenberg) wurden im Spätmittelalter vom Deutschen ins Jiddische übertragen.

 Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, S. 5.  Fritz Peter Knapp (Hg.), Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur. GLMF VI, Berlin, de Gruyter, 2013, S. 193 – 266.  Vgl. Patrick del Duca, „Le Stricker et ses sources françaises. Art narratif et intention didactique“. In: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec, Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, S. 230 – 244; Fritz Peter Knapp (Hg.), Kleinepik, Tierepik, Allegorie und Wissensliteratur. GLMF VI, S. 1– 191.  Wilhelm von Österreich – 1481, Tristrant – 1484, Wigoleis – 1493. Ich gebe das Datum des ersten Druckes an.  Fortunatus – 1509, Eulenspiegel von Hermann Bote – 1510 – 1511, Faust, – Ende des 16. Jhs.  Apollonius von Tyrus – 1471, Alexander – 1473, Trojas Zerstörung – 1474.  Griseldis – 1471 von Heinrich Steinhöwel und Fiorio und Biancefiore – 1499.

2.1 Versliteratur

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2.1 Versliteratur 2.1.1 Heldenepos 2.1.1.1 Erste deutschsprachige Adaptionen des Modells der „Chanson de geste“ Gemeint ist die Übernahme einiger Erzähltechniken der Chanson de geste in der Teutonia. Gegen 1150 begegnet man zwei Werken, in denen sich die deutschsprachigen Dichter wahrscheinlich manche Erzähltechniken der „chanson de geste“ angeeignet haben. ‒ Einerseits ein Epos, König Rother, das gegen 1150 in Achtsilbern verfasst worden ist und das sein Autor im romanischen Raum hat spielen lassen, dem Mittelmeerraum und Byzanz. Dieser Raum ist den Chansons de geste wohl bekannt: zum Beispiel in der Pèlerinage de Charlemagne ¹¹. König Rother spielt nicht nur in dem den Chansons de geste vertrauten Raum, das Epos ist ebenfalls mit der Geschichte Karls des Großen verknüpft, sofern im Werk selbst Rother der Vater von Pippin ist, also der Großvater des berühmten Kaisers und dadurch der Urahn von Friedrich Barbarossa . Ein drittes Motiv ist das der „moniage“: Rother und seine Ehefrau werden an ihrem Lebensende der Welt entsagen und sich in ein Kloster zurückziehen. Selbst das Motiv der Suche nach einer fernen Prinzessin, von dem angenommen wird, es stamme aus der altrussischen Literatur, ist der Chanson de geste nicht unbekannt. Oft ist die Rede von einer Sarazenin, die sich in einen christlichen Ritter verliebt und mit ihm flieht (ich denke z. B. an die Enfances Charlemagne, den Mainet, an Floovant und an den Guillaume-Zyklus). In Girart de Roussillon, einem zwar späteren Text, von dem aber frühere Fassungen bestanden haben müssen, ist ebenfalls von der Mission des Helden beim Kaiser von Konstantinopel die Rede, der ihm selbst und Karl Martell, den König von Frankreich, die Hand seiner beiden Töchter verspricht. Letztlich erinnert die Figur des Riesen Witolf mit der Stange sehr an Rainouart au tinel. Unter anderen haben Friedrich Panzer und Theodor Frings andere Parallelen zwischen dem König Rother und anderen französischen Chansons de geste, namentlich Raoul de Cambrai, gesehen. ¹² ‒ Andererseit können wir annehmen, dass zur selben Zeit eine erste Fassung des Nibelungenliedes entstanden ist, vermutlich von einem Spielmann verfasst, der seine Handlung nicht im Raum der französischen Chanson de geste  Martin de Riquer, Les Chansons de geste françaises. 2ème edition, Paris, 1968, S. 200.  Friedrich Panzer, „Die nationale Epik Deutschlands und Frankreichs in ihrem geschichtlichen Zusammenhang“. In: ZfdB 14 (1938), S. 249 – 265; Theodor Frings, „Raoul de Cambrai und die deutsche Heldendichtung“. In: Romanica, Fs. Fritz Neubert, Berlin 1948, S. 109 – 116.

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ansiedelte, sondern im Raum der germanischen Sagen, und der den Rhein gewählt hat, statt des Mittelmeerraums, als geographischen Raum¹³. Das alles berechtigt zu der Annahme, dass die älteste Fassung des Nibelungenliedes rheinisch ist; diese Annahme wird durch die Reime stân:gân anstelle von stên:gên bestätigt, deren Verbreitung die Grenzen Bayerns nicht überschritt. Es ist möglich, dass der rheinische Spielmann, gebürtig aus einer Gegend, die von der Sprachgrenze zwischen Romania und Teutonia nicht weit entfernt war, der demnach die Chanson de geste (vielleicht in der Form der Geste des Lorrains) kennen konnte, auf die Idee kam, die „matière de Germanie“, die bis auf Theoderich zurückgeht und als lieder weiterlebte, zu benutzen. Wahrscheinlich hat sich der Übergang vom Lied zum Epos gegen 1150/60 unter dem Einfluss der Romania vollzogen. Ein Spielmann hätte demnach die Idee geboren, auf der Grundlage dieser „matière de Germanie“, dieses germanischen Stoffes, ein Heldenlied über den Kampf zwischen den Burgunden und den Hunnen zu schreiben, und er hätte diesen Kampf gerechtfertigt, indem er daraus die Rache der Kriemhild macht (und es ist nicht unwahrscheinlich, dass dieser Dichter das Blutbad am Ende des Werkes der „matière de Troie“ oder der Geste des Lorrains entlehnt hätte). Wenn man nun ein Ur-Nibelungenlied annimmt, das zwischen 1150 und 1170 geschrieben worden ist, so wäre es zeitgleich mit König Rother entstanden: Wir hätten somit zwei Zeugen des französischen Einflusses in der Teutonia. Man darf nicht vergessen, dass zu Pfingsten 1156 Kaiser Friedrich I. Barbarossa in Würzburg Béatrice von Burgund heiratet und sich oft in Burgund aufhält.¹⁴ Nach dem Tod von Béatrices Vater, Renaud II., lässt sich Barbarossa am 30. Juli 1178 in Arles zum König von Burgund krönen. Außerdem war Béatrice literarisch sehr interessiert. Gautier d’Arras widmet ihr seinen Roman Ille et Galeron, in dem er die Kaiserin und ihre Familie lobt; er schreibt, dass in der Vergangenheit viele Dichter bei ihr in Dienst gestanden hätten, und dass er selbst nur mit Mühe mit ihnen mithalten könne, was von den literarischen Vorlieben der comitissa Burgundiæ zeugt, die sie mit Philippe d’Alsace, Thibaut V. de Blois und Henri I. de Champagne teilte. Sie kann wohl rege Beziehungen zu den Höfen dieser Fürsten gehabt haben, die sie nach

 Vgl. Danielle Buschinger, La ‚Chanson des Nibelungen‘ et ‚La Plainte‘, Paris, Gallimard 2001, Einleitung, S. 41– 44.  Vgl. Ferdinand Opll, Das Itinerar Kaiser Friedrich Barbarossas (1152 – 1190), Wien-Köln-Graz 1978.

2.1 Versliteratur



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ihrer Hochzeit mit Barbarossa nicht abgebrochen hat.¹⁵ Beatrices Hof, wo französisch gesprochen wurde und der die französische höfische Literatur aufnahm, spielte wohl eine Vermittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland und machte die französische Literatur in Deutschland bekannt.¹⁶ Damals war Burgund höchstwahrscheinlich eine beliebte Transitzone für die Vermittlung französischer Literatur nach Deutschland und der Stauferhof spielte wohl für diese Vermittelung eine bedeutende Rolle.¹⁷ Nicht zuletzt finden wir epische Erzählungen wie Herzog Ernst und Graf Rudolf . Manche haben eine hagiographische Komponente, wie Orendel mit der Legende vom ungenähten grauen Rock Christi. Herzog Ernst ist eine Mischform: Sein Autor hat aus der Tausendundeine Nacht-Tradition geschöpft (Sindbad der Seefahrer), er hat die klassischen Autoren, die antiken und mittelalterlichen Enzyklopädien und auch das Alte Testament für sein Werk genutzt. Wie in manchen Chansons de geste, insbesondere in den Empörerepen (Girart de Roussillon, 3. Drittel des 12. Jahrhunderts), nahm der Autor von Herzog Ernst den Streit mit dem sächsischen Kaiser zum Ausgangspunkt der Erzählung (die Auflehnung von Herzog Ernst gegen die königliche Gewalt): die Ungerechtigkeit, die er hat hinnehmen müssen, treibt den Vasallen dazu, selbst Ungerechtigkeiten zu verüben. Der Dichter siedelt dann die ganze Handlung in dem Rahmen sowohl des Kaiserreiches und der kaiserlichen Ideologie als auch der Kreuzzüge an, da Ernst, um seine Schuld dem Kaiser, dem Reich gegenüber, infolgedessen Gott gegenüber (1818 ff.) zu sühnen, beschließt, ins Heilige Land aufzubrechen, um gegen die Sarazenen zu kämpfen. Die Autoren von Herzog Ernst und von König Rother wären also durch französische Einflüsse veranlasst worden, ein originales Werk zu verfassen, indem sie ihren Stoff aus Geschichten schöpften, die im 12. Jahrhundert in Gang waren. Was Graf Rudolf anbelangt, so spielt er sich vor dem Hintergrund der Kreuzzüge ab (1170/80), und er steht auf halbem Weg zwischen Chanson de geste und Roman. Dieses Werk ist ein Beispiel für französischen Einfluss, denn die Ähnlichkeiten mit der Chanson de geste hinsichtlich der literarischen Verfahren sind klar; was den Stoff anbelangt, gibt

 Peter Ganz, „Friedrich Barbarossa : Hof und Kultur“. In: Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers. Hg. von Alfred Haverkamp, Sigmaringen 1992, S. 642.  Peter Johanek, „Kultur und Bildung im Umkreis Friedrich Barbarossas „. In: Peter Johanek, Antje Sander-Berke, Birgit Studt (Hrsg.), Was weiter wirkt… Recht und Geschichte in Überlieferung und Schriftkultur des Mittelalters, Münster 1997, S. 662– 663.  Cf. Joachim Bumke, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland1150 – 1300, München 1979, S.148.

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es nichts mehr Germanisches: Es ist die Rede von Byzanz, von der Entführung von heidnischen Bräuten, die getauft werden (vgl. den Zyklus um Guillaume). Graf Rudolf hätte in der Romania geschrieben werden können, so dass man angenommen hat, es habe eine direkte französische Vorlage (ein Heldenlied mit dem hypothetischen Titel Raoul d’Arras) gegeben, die uns nicht überliefert ist.¹⁸ Am Ende des 12. Jahrhunderts entstand ein bedeutendes Kunstwerk: das Nibelungenlied. Es stammte von einem gelehrten Mann, wahrscheinlich einem Kleriker, der die französische Literatur vom Ende des 12. Jahrhunderts gut gekannt hat.

2.1.1.2 Teilentlehnungen von Erzählmotiven im Nibelungenlied Meistens ist es sehr schwierig, ja unmöglich ist, zwischen „typologischen“ und „genetischen“ Ähnlichkeiten zu unterscheiden. Was das Nibelungenlied betrifft, so wurden die Beziehungen zur Chanson de geste sehr oft beschrieben, so von Samuel Singer, Theodor Frings, Friedrich Panzer, Hermann Schneider und Alois Wolf ¹⁹. Ich werde die spektakulärsten Punkte untersuchen, indem ich sie in den Rahmen eines Vergleichs mit der Thidrekssaga stelle, die – nach meiner Hypo-

 Graf Rudolf . Hg. von Peter Ganz, Phil. Studien und Quellen, Heft 19, Berlin, 1964, Einleitung, S. 11.  Samuel Singer, „Die romanischen Elemente des Nibelungenliedes“. In: S. Singer, Germanischromanisches Mittelalter. Aufsätze und Vorträge. Zürich und Leipzig, 1935, S. 232– 254; Hermann Schneider, „Deutsche und französische Heldenepik“. In: ZfdPh. 51 (1926), S. 200 – 243, wieder abgedruckt in H. Schneider, Kleinere Schriften zur germanischen Heldensage und Literatur des Mittelalters, Berlin, 1962, S. 52– 85; Friedrich Panzer, Studien zum Nibelungenlied. Frankfurt/ Main, 1945; Das Nibelungenlied. Entstehung und Gestalt. Stuttgart/ Köln, 1955; Theodor Frings, „Raoul de Cambrai und die deutsche Heldendichtung“. In: Romanica, Fs. Fritz Neubert; Alois Wolf, „Die Verschriftlichungen der Nibelungensage und die französisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter“. In: Hohenemser Studien zum Nibelungenlied. Hg. von Achim Masser, Dornbirn 1981, S. 227– 247; Alois Wolf, Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen, Gunter Narr Verlag, 1995. Siehe auch Thordis Hennings, Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum: Die Rezeption der Chansons de Geste im 12. und 13. Jahrhundert; Überblick und Fallstudien, Heidelberg, Winter, 2008; Thordis Hennings, „Die französischen Vorlagen der germanischen Chansons de geste-Bearbeitungen“. In: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Chanson de geste im europäischen Kontext. Göttingen, V & R unipress, 2008; Alois Wolf, Heldensage und Epos. Zur Konstituierung einer mittelalterlichen volkssprachlichen Gattung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen, Narr., 1995 (ScripOralia, 68).

2.1 Versliteratur

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these²⁰ – im Rahmen einer umfangreichen, auf deutschen (und nicht etwa skandinavischen) Zeugen des Dietrichzyklus beruhenden Kompilation in Prosa von einem Ur-Nibelungenlied abstammt, das vielleicht gegen 1150 entstanden ist und bereits den vollständigen Handlungsablauf von Anfang an und die ganze Verkettung der Ereignisse beinhaltet.²¹ ‒ Siegfrieds Tod weist Parallelen zum provenzalischen Epos Daurel et Beton auf. In der skandinavischen Überlieferung (Edda: Das Jüngere Sigurdlied) wird Sigurd im Bett neben seiner Gattin mit dem eigenen Schwert ermordet. Man kann annehmen, dass dies die erste Fassung von Siegfrieds Tod ist. In der Thidrekssaga wird Sigurd auf einer Wildschweinjagd an einer Quelle mit einem Spieß durchbohrt und umgebracht, und Hoegni ist der Mörder. Später sagt Hoegni zur Gattin des Helden, ein Eber habe ihn getötet, worauf Gunnar antwortet, der Eber sei Hoegni gewesen (S. 375 – 376). Da diese Erzählung jener vom Tode Boves in Daurel et Beton sehr nahekommt, ist anzunehmen, der Autor des Ur-Nibelungenliedes habe sie der provenzalischen Erzählung entliehen (die Entlehnung fand bereits im Ur-Nibelungenlied statt). Nichts steht dieser Hypothese entgegen, wenn man die Entstehung des Daurel et Beton zwischen 1130 und 1168 ansetzt, wie es in der neueren Forschung der Fall ist.²² Außerdem wird angenommen, dass das provenzalische Werk durch Beatrice, Prinzessin von Burgund, in deutschen Landen bekannt wurde. ‒ Im Nibelungenlied selbst finden wir zusätzlich zu diesem Detail u. a. Parallelen zum Renaut de Montauban, wo ein warnender Traum der Gattin von Renaut beschrieben wird (6485 ff.), der jenem von Kriemhild im Nibelungenlied (Str. 924) ähnelt. Auch finden wir das Motiv des Wettlaufs zwischen dem Helden und dem Verräter, der mit dem Sieg des Helden endet (NL 972– 984, Renaut 4672 ff.). Es sind zwei Motive, die in der Thidrekssaga anzutreffen sind und wohl von dem Autor des Nibelungenliedes hinzugefügt worden sind. In der Thidrekssaga enthüllt Gunnar/ Gunther die Identität des Mörders; der letzte Dichter setzt an die Stelle dieses Motivs ein Motiv, das er wohl dem Yvain/ Iwein 1357 ff. entliehen hat, und zwar die Bahrprobe (Str. 1044 – 1046).

 Vgl. Danielle Buschinger, La ‚Chanson des Nibelungen‘ et ‚La Plainte‘. S. 42– 43; „Les éléments mythiques anciens dans le Nibelungenlied considéré comme adaptation (double cohérence?)“. In: La Chanson de geste et le mythe carolingien. Mélanges René Louis, Saint-Père-sous Vézelay 1982, T.II, S. 1201– 1216.  Vgl. Jean Fourquet, „Réflexions sur le Nibelungenlied“. In : Recueil d’Etudes réunies par Danielle Buschinger et Jean-Paul Vernon à l’occasion de son 80ème anniversaire. Amiens 1979, S. 279, und „Sur une nouvelle étude du Nibelungenlied“. Ibid., S. 291– 294.  A critical edition of the old provençal epic Daurel et Beton, with notes and prolegomena by Arthur S. Kimmel. Univ. of North Carolina, nr. 108, Chapel Hill, 1971, S. 34– 48.

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In Renaut de Montauban erscheint Roland an Karls Hof, und er macht sich sofort nützlich, indem er auszieht, die Sachsen zu besiegen. Ebenso wird in der 4. Aventiure des Nibelungenliedes Siegfried am Wormser Hofe empfangen, und sofort erweist er den Burgunden den großen Dienst, indem er die Sachsen besiegt. Roland nimmt die sächsischen Könige gefangen; Karl behandelt sie großzügig und befreit sie ohne Lösegeld. Ebenso verhält es sich im NL. Wir haben hier einen augenfälligen Parallelismus zwischen beiden Werken, der einem den Gedanken an eine Entlehnung vonseiten des NL-Dichters nahebringt. Auffallend ist auch die Tatsache, dass die Episode vom Sachsenkrieg in der Thidrekssaga fehlt. Der Autor des NLs hätte also bei der Bearbeitung des Ur-NLs, meiner Hypothese nach, das Motiv von Siegfrieds mythischer Kindheit ausgelassen und den Krieg gegen die Sachsen eingeschoben, wobei er sich auf das Heldenlied Renaut de Montauban stützte (hier handelt es sich zweifelsohne um eine Entlehnung). Das Motiv des Angriffs der Nachhut durch die Bayern (26. Av.), das ebenfalls in der Thidrekssaga, demnach im Ur-NL fehlt, kann vom NL-Dichter dem Renaut entliehen worden sein (2763 ff.). Unter dem Einfluss des Renaut de Montauban (14799 ff.) kann gleichfalls die 34. Aventiure (Wie si di tôten ûz dem sal wurfen) dem Ur-NL hinzugefügt worden sein, da sie in der Thidrekssaga fehlt. So könnte es sich auch mit dem Gewissenskonflikt Rüdegers verhalten (37. Av.), der auf das Feudalsystem zurückgeht und sich häufig in der französischen Chanson de geste, z. B. in Raoul de Cambrai und in Renaut de Montauban nachweisen lässt. Im Renaut z. B. trifft man sogar dieses Motiv zweimal an. Einerseits verflucht Aimon den Eid, der ihn an den Kaiser bindet und ihn dazu verpflichtet, seine eigenen Söhne zu verfolgen; andererseits befindet sich Ogier der Däne in einem tragischen Dilemma zwischen seinen Pflichten als Vasall und jenen gegenüber seiner Familie. Es ist möglich, dass der Nibelungendichter dieses Motiv einer Chanson de geste entliehen hat, da es in der Thidrekssaga fehlt.

In seinem oben erwähnten Aufsatz²³ hat Alois Wolf die Aufmerksamkeit auf die Tatsache gelenkt, dass unter dem Einfluss der Chanson de geste Gunther und Hagen, die in der nordischen Tradition Brüder sind, im NL zu Lehnsherrn und Lehnsmann werden, wobei die Rolle von König Gunther zugunsten der seines Vasallen Hagen abgewertet wird. Wenn man annimmt, dass die Thidrekssaga, in

 „Die Verschriftlichungen der Nibelungensage und die französisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter“.

2.1 Versliteratur

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der Hoegni ebenfalls Gunnars Halbbruder ist, die altnordische Übersetzung des Ur-NLs ist, kann man vermuten, dass es der Nibelungendichter ist, der das Motiv der Beziehungen zwischen Lehnsherrn und Lehnsmann in seine Erzählung aufgenommen hat, ein Motiv, das auch im Waltharius anzutreffen ist. Dies geschah vielleicht unter dem Einfluss der Chanson de geste, in der häufig eine schwache Königsherrschaft einem mächtigen Vasallentum gegenübersteht. Sehr wahrscheinlich ist an den Einfluss des Guillaume-Zyklus zu denken, in dem der Vasall Guillaume sich dem schwachen König Louis widersetzt, was allerdings nicht ausschließt, dass der Autor des NLs in diesem Motiv einen Widerschein der zeitgenössichen Realität im Kaiserreich gesehen haben mag. Man wohnte dem Aufstieg der Vasallen bei, insbesondere der Ministerialen seit Konrad II.; die Zentralgewalt wurde immer schwächer, während die Macht der Landesfürsten wuchs. Der Niedergang der Zentralmacht wuchs während des kaiserlichen Schismas, das auf den Tod von Kaiser Heinrich VI. (1197) folgte, das heißt zu der Zeit, wo das Nibelungenlied verfasst wurde. Dieses Thema vom mächtigen Vasallen ist im NL vorherrschend: ‒ Einerseits wird Gunther eine Rolle zugeteilt, die der des Königs in der Chanson de geste vergleichbar ist: Hagen tut immer nur das, was ihm passt, und Gunther, der ohnmächtig dem Mord an Siegfried beiwohnt und später nicht interveniert, als Hagen den Kaplan in die Donau wirft, muss dann seinen Vasallen decken. ‒ Andererseits herrscht der König, aber er regiert nicht; das tun die mächtigen Vasallen. Etzel hat keine Armee, er hat lediglich Heerführer, Blœdelin für die hunnischen Krieger, Dietrich für die germanischen. Zuletzt möchte ich noch auf zwei für die Chanson de geste typische Grotesken im NL hinweisen. ‒ Verweisen wir in der Chanson de Roland auf Baligans ungeheuren Spieß, den ein Maultier Mühe hätte, zu tragen (3153 – 55); bei seinem Kampf gegen Baligan reißt der Heide Karl vom Kopf ein Stück Fleisch, das so groß ist wie die Hand, so dass der Schädel freigelegt wird (3606 – 7). Im Nibelungenlied denke ich an die herkulesartigen Heldentaten der Prinzessin, die Gunther phantastische Prüfungen auferlegt, ein folkloristisches Motiv, das weit verbreitet ist. Ob dieses Thema der Prüfung polygenetisch oder monogenetisch ist (es gibt zahlreiche Frauen dieser Art in der slawischen Literatur), plädiere ich eher für eine polygenetische Erklärung, weil dieselben sportlichen Prüfungen im Tristrant Eilharts von Oberg anzutreffen sind (7766 ff.). Auch die Hilfe, die Siegfried Gunther leistet, kommt aus der Folklore: Sie ist der Hilfeleistung eines starken Dieners (wie der „starke Hans“) ähnlich.

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2 Die erzählende Literatur

Erwähnenswert ist auch die Episode des Bären, den Siegfried in die Küche loslässt.

Es sind Motive, die der Handlung entbehrlich sind, nur Schnörkel, dekorative Zusätze. Beide Motive befinden sich nicht in der Thidrekssaga, gehören also meiner Hypothese zufolge nicht zur älteren Schicht der Erzählung. Zusammenfassend lässt sich folgende Hypothese auftstellen: Der Nibelungendichter hat bei der Bearbeitung seiner Vorlage, des Ur-Nibelungenliedes, das gleichfalls die Vorlage der Thidrekssaga ist, der französischen heldenepischen Tradition der Chansons de geste Erzählmotive entliehen, mit denen er die Erzählung ausgebaut und ausgeschmückt hat. Die Erzählung hat er – neben anderen Änderungen –²⁴ gleichfalls mit Szenen aus dem höfischen Leben, Festlichkeiten, Reisebeschreibungen, sogenannten „Schneiderszenen“, Waffentaten, der Liebesgeschichte zwischen Siegfried und Kriemhild u. a.m. erweitert. Die deutschen Heldenlieder zeugen genau wie die anderen untersuchten Textsorten für die Einheit der literarischen Kultur im christlichen Westeuropa des 12. und 13. Jahrhunderts über die Sprachgrenzen hinaus.²⁵

2.1.1.3 Die Dietrichepik Das Nibelungenlied ist ein Seitenzweig des Dietrichszyklus (was von der Thidrekssaga bezeugt ist, die den Inhalt des Ur-Nibelungenliedes in eine Kompilation integriert, deren Hauptheld Dietrich ist): Es hat unter anderem als Modell für die strophische Form eines Teils dieses Zyklus gedient. Vom Dietrichzyklus haben wir erst späte Zeugen, was nicht besagt, dass es keine frühen Fassungen gegeben hat (es wird zum Beispiel in Eilharts Tristrant – 1170 – auf Dietrich und Hildebrand angespielt, V. 6196 – 9).

 Vgl. Danielle Buschinger, „Nibelungenlied und älterer mythischer, altheroischer Stoff aus der Adaptationsperspektive (Konstruktion auf zwei Ebenen)“. In: D.B., La détresse des Nibelungen. Amiens, Presses du CEM, 2000, S. 73 – 84.  Für die „Dietrich-Epik“ siehe: Georges Zink, „Chansons de geste et épopées allemandes“. In: Etudes Germaniques 1962 (XVII), S. 126 ff.; Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Zürich/ München, Artemis Verlag, 1978; Elisabeth Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik: Eine Einführung (Grundlagen der Germanistik, Band 58), Berlin, Erich Schmidt Verlag, 2015; Werner Hoffmann, Mittelhochdeutsche Heldendichtung, Berlin 1974; D. Schedludko, „Versuch neuer Interpretationen des Wolfdietrich-Stoffes“. In: ZfdPh. 1930 (55), S. 1– 49; Hermann Schneider, Die Gedichte und die Sage von Wolfdietrich. Untersuchungen über ihre Entstehungsgeschichte. München 1913, S. 27– 302; Danielle Buschinger, „Le cycle de Dietrich“. In: D.B., La détresse des Nibelungen. Amiens, Presses du CEM, 2000, S. 24– 27.

2.1 Versliteratur

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Genau wie in der spätmittelalterlichen Chanson de geste beobachtet man in der Dietrichepik einen Hang zum Wunderbaren (Zwerge, Riesen, Zauberer, Feen). Auch hier gibt es Ähnlichkeiten und Parallelismen zwischen der spätmittelalterlichen Heldenepik und der Dietrichepik, was das Problem der Beziehungen zwischen beiden Literaturen und vielleicht auch der Entlehnungen aufwirft. Wenn die Werke, die zur „historischen“ Dietrichepik gehören, als Heldenepen bezeichnet werden können, gehören die „aventiurenhaften“ Texte, wo der fiktionale Anteil vorherrschend ist, unzweifelhaft zur Gattung des Romans (genre „romanesque“, wie Dominique Boutet dies versteht, das heißt „pure Fiktion“²⁶. Wir begegnen demselben Phänomen in der spätmittelalterlichen französischen Heldenepik, so in Huon de Bordeaux.)²⁷ 1. Die Texte der französischen Chansons de geste tendieren dazu, sich zu Zyklen zu formieren, in denen es einen Urkern gibt, dem man Einzelteile hinzufügt. Im Zyklus um Guillaume d’Orange entsteht die Vorgeschichte nach der „Geschichte“, was zur Folge hat, dass der „cycle de Guillaume“ zum Zyklus um Garin de Monglane gehört; diese Gestalt wurde erfunden, damit Guillaume einen Urahnen habe. Auf eine ähnliche Weise hat man Ahnen für Dietrich erfunden, die Amelungen. Dietrichs Flucht und Rabenschlacht sind immer zusammen überliefert; die Flucht wird mit der Geschichte von Dietrichs Ahnen eingeleitet.²⁸ 2. Die Rolle des Alberich im Ortnit (gegen 1230) ist der von Aubéron in Huon de Bordeaux (1216/29 oder 1261/8)²⁹ ähnlich: Beide Gestalten helfen dem Helden auf einer Reise in den Orient, woher er eine Braut mitbringt (dennoch sind die Umstände verschieden); beider Charakter ist gleichfalls ähnlich. Sicher ist nur – durch die Etymologie –, dass Alberich der Vorfahr von Aubéron ist (Alberich erscheint im Nibelungenlied), so dass, unter Berücksichtigung der germanischen Herkunft von Aubérons Namen, man eine gemeinsame Herkunft beider Namen postulieren darf: Vielleicht haben beide Autoren aus der Folklore geschöpft.

 Dominique Boutet, „Introduction. L’insuffisance de l’épique“. In: Le romanesque dans l’épique. Actes du colloque du groupe de recherche sur l’Epique de l’Université de Paris X-Nanterre (22 – 23 mars 2002) édités par Dominique Boutet. Littérales n° 31– 2003, S. 5 – 11.  François Suard, „Huon de Bordeaux, une tentative originale de renouvellement de l’épique au XIIIe siècle“. In: Le romanesque dans l’épique…, S. 145 – 161.  Siehe Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik, S. 225 – 227.  Huon de Bordeaux. Ed. par Pierre Ruelle. Bruxelles, 1960 (Université Libre de Bruxelles. Travaux de la Faculté de Philosophie et Lettres, Tome XX), S. 92– 93; Marguerite Rossi, Huon de Bordeaux, Paris, 1975 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen-Age 2), S. 30.

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2 Die erzählende Literatur

Ortnit spielt wie die französischen Chansons de geste (und Herzog Ernst, Oswald, Orendel oder noch Graf Rudolf ) vor dem Hintergrund der Kreuzzüge und vermittelt in der Tradition der Chansons de geste ein negatives Bild vom Sarazenen. Andererseits ist Byzanz der geographische Raum, wo die Handlung von Wolfdietrich sich abspielt (Fassung A oder Ambraser Fassung). Übrigens wurden Ähnlichkeiten zwischen Wolfdietrich und der französischen Chanson de geste Parise la duchesse (Anfang des 13. Jahrhunderts) entdeckt, die nahelegen, dass das deutsche Werk abhängig von der Chanson de geste ist³⁰. Schließlich endet Der große Wolfdietrich mit der „moniage“ des Helden (wie König Rother oder Der Rosengarten in Worms: Vielleicht aus dem „Moniage Guillaume“ oder dem „Moniage Rainouart“ entlehnt. Im Rosengarten in Worms steht der Mönch Ilsan, ein furchterregender Kämpfer, übrigens in der mittelbaren oder unmittelbaren Tradition der Chanson de geste). Georges Zink³¹ macht auf die Gestalt des untreuen Ratgebers aufmerksam, dem man sowohl in der Chanson de geste als auch in der Dietrichepik begegnet: Zum Beispiel ist Ganelon in der Chanson de Roland verwandt mit Sabena, der sich in der A-Fassung von Wolfdietrich darauf versteift, die Königin und den Letztgeborenen ihrer Söhne, Wolfdietrich, beim König Hugdietrich zu verleumden, ebenso wie den jungen Fürsten bei seinen älteren Brüdern; man denkt auch an den Pfalzgrafen Heinrich, der Herzog Ernst zu Unrecht beschuldigt und der es schafft, ihn aus dem Reich zu verbannen. Der Kritiker denkt aber auch an eine gemeinsame Quelle. Fügen wir hinzu, dass wie im Daurel et Beton Wolfdietrichs Mutter nach dem Tod ihres Gatten dazu gezwungen wird, den verräterischen untreuen Ratgeber zu heiraten (vgl. auch Raoul de Cambrai oder Orson de Beauvais). D. Schedludko³² und Hermann Schneider³³ haben andere Parallelismen zwischen Wolfdietrich und französischen, nicht unbedingt heldenepischen Werken entdeckt. H. Schneider war der Meinung, dass die französischen und die deutschen Autoren aus einem gemeinsamen Fonds schöpften, dennoch ist es wohl möglich, dass die französischen Heldenepen als Reservoir für die deutsche Heldenepik dienten – vornehmlich durch die mündliche Tradition, ohne dass man jedes Mal ein bestimmtes Werk als Vorlage postulieren soll.

 Vgl. Werner Hoffmann, Mittelhochdeutsche Heldendichtung, Berlin, 1974, S. 154.  Georges Zink, „Chansons de geste et épopées allemandes“. In: Etudes Germaniques 1962 (XVII), S. 126 ff.  D. Schedludko, „Versuch neuer Interpretationen des Wolfdietrich-Stoffes“. In: ZfdPh. 1930 (55), S. 1– 49, besonders S. 14– 15.  Hermann Schneider, Die Gedichte und die Sage von Wolfdietrich. Untersuchungen über ihre Entstehungsgeschichte, München, 1913, S. 27– 302.

2.1 Versliteratur

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Der Austausch vollzog sich wahrscheinlich durch Vermittlung der Spielleute³⁴.Walter Salmen³⁵ hat nämlich gezeigt, dass einerseits die mittelalterlichen Spielleute von Hof zu Hof, von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, von Fest zu Fest, von Wallfahrt zu Wallfahrt, von Turnier zu Turnier zogen, dass es aber andererseits in Frankreich mehr deutsche Spielleute als französische Spielleute in Deutschland gab. Es ist also wahrscheinlich, dass die deutschen Dichter die französische Heldenepik wesentlich in Frankreich kennen lernten; aber die „fahrenden Spielleute“ aller europäischen Länder hatten ebenfalls häufig die Gelegenheit, miteinander Kontakt aufzunehmen. 6. In der epischen Hyperbel, die Rabenschlacht und Dietrichs Flucht charakterisieren, kann man ebenfalls den Einfluss der französischen Chansons de geste sehen, besonders vom Wilhelm-Zyklus³⁶. 7. Was das Eckenlied anbelangt (Mitte des 13. Jahrhunderts), hat Joachim Heinzle mit großer Vorsicht jedes genetische Band mit dem französischen Le chevalier du Papegau, das erst durch eine Handschrift des 15. Jahrhunderts bekannt ist, zurückgewiesen³⁷. Es könne sich nur um zufällige Übereinstimmungen handeln. Es ist aber – geographisch – nicht unmöglich, dass der rheinländische Adaptor des urtümlichen Tiroler Eckenliedes einen französischen Text kennen gelernt hat, da das Rheinland ein besonders günstiger Ort des Kulturaustausches war. 8. Joachim Heinzle³⁸ hat darauf aufmerksam gemacht, dass in der „ aventiurenhaften“ Dietrichepik, die den jungen Dietrich in die Welt des Wunderbaren sendet und ihn gegen Drachen, Riesen oder Zwerge kämpfen lässt, nicht nur neue Themen erscheinen, sondern auch Erzählmodelle des Artusromans: ‒ Der „matière de Bretagne“ entspricht die Welt der Südtiroler Märchenwelt; die Tiroler Wälder sind das Gegenstück der Bretagne. ‒ Man begegnet einem ähnlichen Handlungsablauf wie im Artusroman: : Bern (d.i. Verona) nimmt die Stelle des Artushofes ein. Außer im Wunderer enden alle erhaltenen Texte mit der Rückkehr Dietrichs nach Bern. ‒ Im Laurin, im Eckenlied, im Sigenot und in der Virginal begegnet man der Handlungsdoppelung, die Chrétien de Troyes Romane charakterisiert und die Hugo Kuhn den „doppelten Kursus“ nennt.

    

Vgl. Joachim Heinzle, op.cit., S. 156 – 157. Walter Salmen, Der Spielmann im Mittelalter, Innsbruck, 1983, S. 91 ff. Vgl. Hermann Schneider, op.cit., S. 67 und Werner Hoffmann, op.cit., S. 166 – 167. Vgl. Joachim Heinzle, op.cit., S. 144– 157. Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik, S. 233 – 244.

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2 Die erzählende Literatur

Dennoch ist es unmöglich im Dietrichzyklus den Einfluss des Artusromans nachzuweisen. Unbezweifelbar sind dennoch manche Analogien, so die Kritik der höfischen Ideologie, der „aventure“ oder der Liebe, zum Beispiel im Eckenlied oder im Sigenot. ³⁹

2.1.1.4 Wiederaufnahme der Chanson-de-Geste-Tradition: Die „matière de France“ In Deutschland wurde die Gattung der Chanson de geste im Hochmittelalter kaum rezipiert.⁴⁰ Es können nur die Bearbeitung der Chanson de Roland, das deutsche Rolandslied (um 1170) durch den Pfaffen Konrad, und Wolframs von Eschenbach Nachdichtung der Chanson des Aliscans, Willehalm (vor 1217) genannt werden. Im Spätmittelalter haben wir aber, wenn man von einer fragmentarisch auf uns gekommenen, niederdeutschen Neubearbeitung der Chanson des Aliscans, der Schlacht von Alischanz (Anfang des 14. Jahrhunderts), und von Ulrichs von dem Türlin Arabel absieht, einerseits die höchste Karlsverehrung im Karlmeinet, andererseits den Zyklus der Empörerepen, die sich gegen Karl den Großen wenden: Es sind die niederdeutsche bzw. ostfälische Prosabearbeitung von Girart de Roussillon, Gerart van Rossiliun (13./14.Jhdt.), die Renaut-de-Montelban-Dichtungen, Malagis und Ogier von Dänemark, sowie Elisabeth von Nassau-Saarbrücken’s Prosaauflösungen von Chansons aus dem Stoffkreis um Karl: Herpin, Sibille, Loher und Maller und Huge Scheppel . Letztere werden im Kapitel „Prosaromane“ behandelt.

2.1.1.5 Hochmittelalterliche Bearbeitung (oder Nachdichtung) französischer Heldenepen: Rolandslied und Willehalm In der deutschen Literatur des Mittelalters gibt es Texte, die von der französischen Literatur durch Bearbeitung übernommen worden sind. So wurden zwei französische Heldenepen ins Deutsche übertragen. Die französischen Chansons verwenden zehnsilbige Verse, Strophen („Laisses“) und Assonanzen. Es sind Heldenepen. Im Gegensatz dazu benutzen Konrad

 Vgl. Joachim Heinzle, Mittelhochdeutsche Dietrichepik, S. 236 – 244.  Thordis Hennings merkt treffend an: „Als eigene Gattung existiert die Chanson de geste in den germanischen Sprachen vor 1300 überhaupt nicht.“ („Die französischen Vorlagen der germanischen Chansons de geste-Bearbeitungen“, S. 14) Aber wenn sie schreibt: „So scheinen inhaltlich getreue, formal hingegen abweichende Übertragungen zu überwiegen“, übersieht sie, dass dies im Hochmittelalter die Norm war, während im Spätmittelalter die deutschen Übertragungen wörtliche Übersetzungen waren (vgl. meine Schlussbetrachtungen).

2.1 Versliteratur

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und Wolfram die Form des arthurischen Romans, den höfischen Reimpaarvers mit vier Hebungen; andererseits ist der Erzählstoff in Absätze gegliedert, die in den Handschriften durch eine Lombarde gekennzeichnet sind und auf ein rîme samenen enden. Der Stil der beiden Chansons kann mit einer erzählenden Parataxe bezeichnet werden. Konrad und Wolfram ersetzen die parataktische Struktur der Vorlage durch eine hypotaktische Struktur. Außerdem erleben wir in beiden Fällen das, was Eugène Vinaver „the rising of meaning“ genannt hat, und Rolandslied wie Willehalm sind Romane, wie Vinaver dieses Wort versteht. ⁴¹

2.1.1.5.1 Chanson de Roland und Rolandslied Nach der Vita Caroli Magni des Biographen Karls des Großen, Einhart, befehligte ein Hruodlandus, Markgraf der bretonischen Mark, die fränkische Nachhut und fiel in einem Gefecht, das am 15. August 778 zwischen den sich aus Spanien zurückziehenden Franken und baskischen Bergbewohnern stattfand. Den Ort des Kampfes erwähnte Einhard nicht. Es ist möglich, dass der Name Roncesvalles (Roncevaux) von Pilgern hinzugefügt wurde, die über den Pass von Roncesvalles nach Santiago di Compostella pilgerten und den Ursprung eines alten römischen Beinhauses mit der Vernichtung der fränkischen Nachhut in Verbindung brachten. 1065/70 entsteht dann die Nota Emilianense, die bezeugt, dass der Rolandslied -Stoff damals bekannt war. Die Chanson de Roland entstand zwischen 1087 und 1095). Die älteste erhaltene Handschrift ist die in anglonormannischem Dialekt geschriebene Handschrift, die heute in der Bodleian Library (Digby 23) aufbewahrt (O) und in die Jahre 1170 – 1180 datiert wird. Roland wird später zum Hüter der Privilegien zahlreicher Städte: Ihm wurden riesige Statuen errichtet. Um 1170 lässt Herzogin Mathilde, die Tochter Aliénors von Aquitanien und König Heinrichs II. von England, die Herzog Heinrich 1168 in Braunschweig heiratete, die französische Chanson de Roland von einem Dichter, der sich selbst phaffe Chunrât nennt (V. 9080), ins Deutsche übertragen.⁴² Die Herzogin hat wohl selbst eine Handschrift der Chanson de Roland mitgebracht,⁴³ in einer uns un-

 Eugène Vinaver, The Rise of Romance, Oxford 1971, S. 15 – 32.  Joachim Bumke, „Die Rolle der Frau im höfischen Literaturbetrieb“. In: Literarisches Mäzenentum. Ausgewählte Forschunger zur Rolle des Gönners und Auftraggebers in der mittelalterlichen Literatur, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982, S. 371– 404; das Zitat befindet sich auf S. 383.  Joachim Bumke äußert dieselbe Hypothese in seinem Buch Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland. 1150 – 1300, München, Beck, 1979, S. 90.

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2 Die erzählende Literatur

bekannten Fassung, die eher der Fassung der franco-venezianischen Handschrift Venedig IV (V4) (erste Hälfte des XIV. Jahrhunderts) und von der gleichfalls franco-venezianischen Handschrift von Châteauroux (Ch.) (um 1300), d. h. der Fassung einer Art Archetypus, nahe war. Mathilde, die am englischen Hof „mit den literarischen Bestrebungen“ vertraut war, hat wohl auch Eilhart von Oberg mit der Bearbeitung des ersten Tristanromans, der Estoire, beauftragt (es ist der Tristrant, um 1170), und ihr soll somit „eine zentrale Bedeutung für die Durchsetzung der französischen Dichtung in Deutschland“ zuerkannt werden.⁴⁴ Das Rolandslied ist vollständig in nur einer Handschrift sowie in Bruchstücken von fünf weiteren Handschriften überliefert. Die vollständige Handschrift ist die in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrte Handschrift cod. Pal. Germ. 112 (P) aus dem Ende des XII. Jahrhunderts. Im Folgenden werde ich einerseits den Text Konrads und andererseits die Handschriften O(xford), V4 und Ch. einer gründlichen Prüfung unterziehen, um die Stoffbehandlung des französischen Werkes durch den deutschen Dichter zu untersuchen. ⁴⁵ Die Episoden folgen in derselben Reihenfolge wie in der Vorlage. Konrad hat in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen eine gewisse Anzahl von Versen wortgetreu übersetzt, in diesen großmaschigen Aufriss flicht er dann seine eigenen Ausführungen, Änderungen, Zusätze ein. Er prägt den Text ins Höfische um, tilgt die Widersprüchlichkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten, überbietet seine Vorlage an dramatischer Intensität. Nicht zuletzt idealisiert Konrad seine Gestalten, die er vollkommen umwandelt, vornehmlich die Hauptgestalten, Roland und Olivier. Roland und Oliver sind im ersten Teil der Chanson und des Rolandsliedes die Hauptpersonen, wenn auch Konrad eher Roland in den Vordergrund stellt. Beim ersten Rat der Pairs ist Roland im deutschen Werk viel besonnener als in der Chanson, wo Karls Neffe ruhmsüchtig, eitel und sogar etwas angeberisch ist. Im Gegensatz zum französischen Roland, der den Streit durch den Krieg regeln will und sich von seinem Hang zum Kampf treiben lässt, interessiert sich der deutsche, der Marsiliens List und Vorhaben durchschaut hat, gar nicht für irdische Eroberungen, die er nebenbei erwähnt und die es nur zu verteidigen gilt. Was für ihn wichtig ist, ist das Christentum, das er verbreiten will, und die Christenheit, die er ausdehnen will. Im Geist von Bernard de Clairvaux wiegt der Kreuzzugsgedanke schwerer als politische Absichten. Roland missachtet den irdischen Lohn und den

 Joachim Bumke, „Die Rolle der Frau im höfischen Literaturbetrieb“, S. 384.  Siehe Danielle Buschinger, „Le Curé Konrad, adaptateur de la Chanson de Roland „. In: Cahiers de Civilisation médiévale, XXVI, 1983, S. 95 – 116.

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militärischen Sieg (914– 916): Er ist bereit, sein Leben zu opfern, für Gott zu sterben, um das ewige Heil zu erlangen. Dennoch zeigt er sich enthusiastisch und impulsiv (K 911; K 1298). Im Gegensatz zu ihm zeigt sich Oliver ruhiger und pragmatischer: Er sieht die Situation mit den Augen der Vernunft und ist besorgt um das Ansehen Karls und der Christen (959 – 961). Nichtsdestoweniger ist er wie Roland ein miles Dei, der nur die Interessen der Christen und der Christenheit in Betracht zieht. Doch stellt er nirgends irdischen und himmlischen Lohn gegenüber; was für ihn von Wichtigkeit ist, sind sowohl das Ansehen der Christen als auch politische Gründe, die zu den religiösen hinzukommen: Karl solle sein Heer in alle Richtungen bis ans Meer ziehen lassen und mit dem Schwert die Heiden dazu zwingen, den wahren Gott anzuerkennen (946 – 950). In der folgenden Szene wirft aber Karl den beiden Gefährten gleichermaßen ihre Impulsivität vor: Während in der französischen Chanson Olivier Rolands Gewalttätigkeit und schlechten, schwierigen Charakter fürchtet, legt Konrad die Worte, die in der Chanson Olivier sagt, in Karls Mund: Im Rolandslied fürchtet Karl sowohl den ungestümen Ton Olivers als auch die Zornausbrüche Rolands (1326 ff.). In der Chanson trotzen dann Ganelon und Roland einander, und Roland ist mitverantwortlich für das Desaster in Roncevaux, das halb auf Rolands Stolz und halb auf Ganelons Hass zurückzuführen ist, also auf menschliche Leidenschaften. Konrad verflacht das Tragische der Chanson: nicht die superbia, die Anmaßung und die Überheblichkeit sind es, die Roland veranlassen, zu handeln, sondern die Freude am Martyrium, der Wille zu sterben, um sich das Seelenheil zu sichern. Roland blickt demütig der Wirklichkeit ins Auge und bittet seine Gefährten darum, ihn nicht in der Fremde zu verlassen (3174 ff.): Die zwölf Paladine und die 20000 Christen folgen Rolands Aufruf. Der Leitgedanke ist bei Konrad der religiöse Enthusiasmus der milites Dei und ihr Wille, Gott zu dienen und für ihn zu sterben; ihr Lohn wird dann die Gnade sein, die Gott ihnen gewähren wird. Als in der Chanson Olivier Roland darum bittet, den Olifant zu blasen, versagt ihm Roland seine Bitte aus Ruhmbegierde und Überheblichkeit: Er würde sein Ansehen verlieren, seine ganze Sippe würde seinetwegen entehrt und getadelt, und Frankreich würde verschmäht. Abermals macht er sich schuldig und verantwortlich für die Katastrophe. Er ist ein Mensch wie alle anderen auch, er kann sich irren und sich schuldig machen. Im Gegensatz zu ihm vertritt Olivier die mit Umsicht und Besonnenheit gepaarte Tapferkeit. Roland, der sich zunächst weigert, den rettenden Hornstoß zu tun, der Karl herbeiführen würde, wird als proz (kühn) bezeichnet, und der dazu ratende Olivier als sage (klug). Es geht also um das Verhältnis von mesure und demesure (Maßhalten und Maßlosigkeit), von sapientia (Weisheit) und fortitudo (Kühnheit). Im Rolandslied fordert Olivier die Christen auf, sich einmütig in die Schlacht zu werfen, Gott werde ihnen helfen, zu siegen. Konrad nimmt in diesem Zusammenhang schwerwiegende Änderungen

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vor. Im deutschen Text beschwört Oliver Roland um Audens willen, ins Horn zu blasen (K 3868)⁴⁶. Wenn Roland ins Horn stoße, werde er das Leben der Seinen retten, die dann glücklich heimkehren werden. Dabei gibt Olivier einen Beweis von einer sehr menschlichen Fürsorge für das materielle Heil der Christen. Wie im französischen Werk weigert sich Roland, ins Horn zu blasen, aber nicht aus dem selben Grund: das Schicksal der Christen liege in Gottes Hand, und wenn es Gottes Wille sei, werde Roland mit Freude den Märtyrertod sterben; außerdem werden die Christen geläutert aus dem Blutbad herauskommen, das eine zweite Taufe sei (K 3872 ff.). Nachdem so viel Christen in der Schlacht gefallen sind, will Roland in der Chanson den Olifant blasen. Olivier erwidert, es wäre eine große Schande für seine Sippe, tadelt Roland heftig und beschuldigt ihn der Torheit (folie O 1724), der Tollkühnheit (estultie O 1725), die dem „rechten Maß“ (mesure O1725) entgegengestellt ist, des Leichtsinns (legerie O 1726), der den Tod aller Franzosen herbeigeführt hat, und er verdammt sogar die Tapferkeit Rolands, die allen Unheil gebracht hat. Daraufhin verzichtet er auf jede Überheblichkeit und jedes Unmaß. Konrad tilgt den Streit zwischen den Freunden: Oliver zeigt Roland gegenüber keinen Zorn, er wirft ihm nur vor, nicht rechtzeitig (inzit K 6009) das Horn geblasen zu haben, was das Leben der Krieger verschont hätte. Und er fügt hinzu: 6025 daz hastu allez aine getan: er gebraucht das Wort „Schuld“ nicht. Dies entspricht zwar der Chanson de Roland 1723 Cumpainz, vos le feïstes (Geselle, das tatest du). Doch belastet Konrad den Helden nicht. Da es nun keine Rettung mehr gibt, ist es an der Zeit zu sterben. Roland sieht ein, dass er im Unrecht war, als er das Horn nicht geblasen hat, als es noch Zeit war. Der deutsche Roland, der in der ersten Hornszene eine solche Verachtung für das irdische Leben und eine solche Freude am Märtyrertod zeigte, dass er zum Übermenschen geworden war, weint nun bitterlich über die Franken und zeigt dabei, dass er menschliche Gefühle empfinden kann. Man versteht, warum Oliver ihm keine Vorwürfe machen kann: indem er vor Gram weint, verzichtet Roland auf jedes übermenschliche, ja unmenschliche Übermaß und wird ganz einfach zum mitfühlenden Menschen. Roland hat keine Schuld auf sich geladen, und so hat er auch nichts zu bereuen.

 Diese ausdrückliche Aufforderung im Namen der Geliebten ist ein von Konrad in seinen Text eingeschobener Gedanke. Der vollkommene Liebende muss sich dem Willen seiner Geliebten unterordnen oder jede im Namen seiner Minnedame ausgesprochene Bitte gewähren: Dies ist das heilige Gesetz der höfischen Liebe. Im Gegensatz jedoch zu Siegfried (535,2 und 536,4) oder zu Tristrant in Eilharts Roman (D 5124 ff. und H 7790 ff.) erhört Roland Olivers Wunsch nicht. Hätte er dies getan, so wäre Konrad nicht imstande gewesen, seine Bearbeitung der Chanson de Roland weiterzuführen, da alle kommenden Ereignisse von der Weigerung Rolands ins Horn zu stoßen, abhängen. Konrad hat also folglich seinem Text nur einen höfischen Zug beigefügt, um ihn ein wenig zu modernisieren.

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Konrad ersetzt den Gegensatz zwischen Roland dem Kühnen und Oliver dem Weisen, zwischen fortitudo und sapientia (0 1093, Ch. 1465, V4 1038) durch die Gegenüberstellung Rolands als Übermenschen und Olivers als Menschen wie alle anderen auch. Und während Roland in der Chanson de Roland seinem Hochmut abschwört und zum Heiligen wird, wird Konrads Held einfach zum Menschen. Folglich erzählt Konrad, wie Hartmann von Aue zum Beispiel, dieselbe Geschichte wie seine Vorlage, aber auf seine „Façon“, auf seine eigene Art und Weise. In einem wesentlichen Punkt jedoch unterscheidet sich Konrad von den anderen Bearbeitern französischer Vorlagen: Er hebt eines der Hauptthemen seiner Vorlage besonders stark hervor, das des Kreuzzuges. Dieses Thema ist natürlich auch in der Chanson de Roland stark präsent: man denke z. B. an die Wertantonymie, die durch den Vers „Paien unt tort e chrestïens unt dreit“ (O 1015,V 4 950) ausgedrückt wird. In der Chanson fällt aber der Kampf für den rechten Glauben, der Kreuzzug, zusammen mit dem Kampf für Frankreich, für die „Dulce France“: Glaubensstreit und Nationalbewusstsein sind in der Chanson vereint. Konrad macht also das Thema des Kreuzzugs, des Heiligen Krieges, das in der Chanson de Roland nur ein Thema unter anderen ist, der Lehenstreue, der Treue seinem Lehnsherrn gegenüber, der Treue zum Kaiser, den Familienbanden, dem französischen „Patriotismus“, zum Hauptthema, zum Leitmotiv, das sein Werk durchzieht. Konrad trifft eine Auslese. Alle Hinweise auf „la dulce France“ als Motivation für den Kampf gegen die Heiden fehlen, aber vor allem ordnet er dem ausgewählten Thema den ganzen Stoff seines Werkes unter. Es ist der Kreuzzug, der dem „Rolandslied „ seinen ganzen Sinn verleiht. So wird die „dulce France“ durch das himmlische „erbelant“ ersetzt. Außerdem misst der französische Autor, wie es Eugène Vinaver⁴⁷ gezeigt hat, der Handlung mehr Bedeutung bei, geht nicht über die Geschichte hinaus. Im Gegensatz dazu gewinnt der deutsche Dichter den nötigen Abstand, um den Sinn der von ihm erzählten Geschichte herauszustellen und seiner Zuhörerschaft zugänglich zu machen. Er erläutert und drückt klar und deutlich aus, was in seiner Vorlage nur unterschwellig ist. Als Beispiel sei die Predigt Turpins zu Beginn der ersten Schlacht angeführt (K 3905 – 35; O 1127/35; V4 1059/ 64; Ch. 1498/1506). In der Chanson ermahnt Turpin die Christen, zuerst für ihren König zu sterben, dann für die Christenheit. Konrad streicht jede Anspielung auf Karl und legt weit mehr Nachdruck auf das Thema der himmlischen Belohnung, die den Christen für ihr bevorstehendes Martyrium versprochen wird. Er greift in einem Zusatz das Thema des heiligen Krieges auf, indem er den Krieg zwischen Christen und Heiden als Krieg zwischen Gott und Teufel bezeichnet (K 3902/12). Wichtig ist für ihn einzig und allein, im Dienst

 Eugène Vinaver, The Rise of Romance, S. 11 und 13.

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Gottes zu sterben und so seine Seele zu retten sowie das Christentum in der Welt auszubreiten. Diese Themen werden variiert: So werden in einem Kommentar des Autors die in Roncevaux gefallenen Christen ausdrücklich als Heilige bezeichnet (7598), bei deren Bestattung Wunderzeichen geschehen, was besagt, dass sie als heilige Märtyrer in den Himmel aufgenommen worden sind, und ihnen wird sogar die Funktion der Fürbitte bei Gott zugesprochen (3948 – 60 oder 7599 – 7600). Hier greift Konrad erläuternd in den Text ein. Auch wenn dies nicht expressis verbis gesagt wird, betrachtet Konrad Karl, dessen Rolle im deutschen Werk besonders ausgeweitet und verstärkt worden ist, als einen Heiligen: er wird als „gotes dienestman“ (31) bezeichnet. Es soll auch auf den Prolog hingewiesen werden: „nû hât in got gehalten/ in sîneme rîche,/ dâ wont er iemer êwichlîche“ (28 – 30).Was das Wunder der in ihrem Lauf innehaltenden Sonne betrifft, so stimmen die Auslegung Konrads und die Pierre Le Gentils überein: der deutsche Dichter zieht ausdrücklich eine Parallele mit dem Alten Testament (7021 „daz liset man in der alten ê“), hebt in einem Kommentar hervor, dass Gott für Karl dasselbe Wunder wie für Josuê bewirkt und ihm wie Josuê ermöglicht, seine Feinde zu verfolgen (7017– 27). Konrad setzt hierdurch ausdrücklich Karl mit den größten Helden der Bibel gleich (Josuê X, 12– 14). In diesem Zusammenhang soll Rolands Tod gesehen werden. Konrads Roland ist bereit, Gott sein Leben zu opfern, um des Heiles seiner Seele willen. Es ist nie die Rede von militärischen Heldentaten, von irdischem Ruhm und von Lust am Kampf: einzig und allein der himmlische Lohn ist für ihn wichtig, d. h. das ewige Heil. Andererseits sind es nicht die Eroberungen dieser Welt, die ihn interessieren, sondern es ist nur der Wille, die Christenheit, das Christentum zu retten. Aus diesem Grunde denkt er im Sterben nicht wie der französische Roland an die Länder, die er in der Vergangenheit erobert hat, noch an das holde Frankreich, noch an seine Sippe, noch an Karl den Großen, seinen Herrn (O 2377– 2380), sondern er bittet Gott darum, Karl zu erlauben, den Sieg über die Ungläubigen davonzutragen und alle in der Schlacht gefallenen Christen ins Paradies aufzunehmen (6903 ff.). Außerdem macht Konrad aus Roland, der wie ein Mönch mit ausgebreiteten Armen zur Erde fällt (6895) explizit einen Vasallen Gottes. In der Chanson de Roland ist schon die Rede von der göttlichen Herkunft des Schwertes Durendal. In V4 wird gesagt, dass Gott selbst Karl ein Schwert durch einen Engel überreichen lässt. Karl steht es jedoch im RL frei, das Schwert nach seinem Gutdünken weiterzugeben, und er selbst bestimmt es Roland, seinem Lehensmann. Konrad geht von seiner wahrscheinlich V4 nahestehenden Vorlage aus, er geht aber darüber hinaus, und zwar in einem dem Monolog Rolands hinzugefügten Passus: Roland ist von Gott selbst auserkoren worden, Durendart zu tragen. Wie in der Chanson hält Roland seinen Handschuh als Zeichen der Vasallität Gott entgegen, und ein

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Engel nimmt ihn ab; stillschweigend schwingt mit, dass Roland gleichzeitig mit dem Handschuh auch sein Schwert, das er nicht hat zerbrechen können, Gott zurückgibt. Das Schwert steht nämlich für die Bande, die den Vasallen mit dem Lehnsherrn verbinden, die Roland mit Gott verbinden; das Schwert ist das Lehen, das Gott persönlich Roland verliehen hat und das Roland in der Stunde seines Todes Gott, seinem himmlischen Lehnsherrn, nach dem feudalen Ritus zurückgeben will: in sine gnade will ich ergeben, / swaz ich sin uon im han,/ want ich sin nimen so wol gan („In seine gnädige Hand will ich alles zurücklegen, was ich von ihm habe, weil ich es keinem sonst übereigne“ (6886 – 6888). Außerdem hat ihm Gott diesen Feldzug befohlen (6864 ff.). Hiermit zeigt Konrad, dass Roland mehr als der Lehnsmann Karls ist: Er ist der unmittelbare Lehensmann Gottes. So bringt der deutsche Dichter deutlich zum Ausdruck, was in der Vorlage in der Episode, in der Roland Gott seinen rechten Handschuh hinhält, nur mitschwingt und was erst von den modernen Exegeten aufgedeckt worden ist. Schließlich ereignen sich im Augenblick seines Todes Wunder, die denen ähnlich sind, die in der Bibel Christi Tod begleiten; in der französischen Chanson de Roland kündigen aber die Anspielungen auf die Umwälzungen und Wunder, welche an die erinnern, die bei Christi Tod sich ereigneten (1423/37,V4 1337/46, Ch. 2432/45) Rolands Tod an: 0 1437 Ço est li granz dulors por la mort de Rollant, der also von Gott vorgesehen ist. Dass Konrad diese Wunder wiederholt kurz nach Rolands Tod erzählt, lädt dazu ein, den Tod seines Helden mit Christi Passion und Tod in Verbindung zu bringen, da beide das Jüngste Gericht ankündigen. Man könnte sogar Roland mit Christus vergleichen, denn durch seinen Opfertod bringt Roland, der als heiliger Märtyrer stirbt, wie Christus der Menschheit das Heil. Somit macht Konrad noch ausdrücklicher als die Chanson aus Roland eine Christusfigur. Roland opfert sich genau wie Christus für die Menschheit. Und indem er einen Gedanken des französischen Dichters weiter ausführt (O 2391 Desur sun bras teneit le chef enclin: Er hielt sein Haupt auf seinen Arm geneigt, V4 2552), beschreibt er den Tod des Helden wie den Christi (6916/9, Verse die man Johannes 19,30 gegenüberstellen kann: und neigte das Haupt und verschied. So veranschaulicht der Autor durch seine Schilderung den Sinn, den er in der Episode von Rolands Tod entdeckt hat und den er stark unterstreichen will. Im Grunde kann man wohl sagen, dass Konrad wie die modernen Exegeten⁴⁸ die Chanson de Roland auf eine ihm eigene Weise interpretiert hat und manche Punkte, die zu unterschiedlichen Interpre-

 Siehe in dieser Beziehung Ulrich Mölks Aufsatz, „Der hl. Roland: Französisches Rolandslied und lateinischer Pseudo-Turpin Im Vergleich“, in: Jakobus und Karl der Große. Von Einhards Karlsvita zum Pseudo-Turpin. Tübingen, 2003, S. 79 – 88.

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tationen führen, korrigiert und auf diese Weise zu einer einheitlichen Auslegung gebracht hat. Es ist also das Thema des Heiligen Krieges, „une donnée autonome, isolée, „simple“, régissant un vaste ensemble„⁴⁹, das von Anfang an die Handlungen der Personen bestimmt, sei es nun Roland, Oliver, Turpin, andere Helden, oder auch Karl und Tirrich. Dieser schon ab den ersten Zeilen des Werkes vom deutschen Dichter entwickelte Gedanke, der in seinem Werk den Ton angibt, ist die ideologische Grundlage, welche Konrad, der, ähnlich Chrétien de Troyes, seine „adaptation […] comme un travail d’élucidation“⁵⁰ auffasst, durch seine Kommentare, die Reden seiner Helden oder die Erzählung selbst hervorhebt. Diese Idee ermöglicht ihm, die verschiedenen Episoden miteinander zu verbinden, und sie verleiht dem Werk interne Einheit und logischen Zusammenhang. Kurz gesagt, diese Hauptidee, dieses ideologische Schema, die das ganze Werk durchziehen, können mit dem verglichen werden, was Eugène Vinaver die „conjointure“ nennt.⁵¹ Ebenso wie man bei den höfischen Romanen mit Eugène Vinaver von einer höfischen „conjointure“ sprechen kann, so kann man beim Rolandslied von einer religiösen „conjointure“ sprechen. Folglich ist Konrad mehr als ein Bearbeiter in der Art eines Hartmann, Wolfram oder Gottfried, deren Vorlagen ebenfalls mit einer „conjointure“ ausgestattet sind (er wäre eher mit Eilhart von Oberg zu vergleichen⁵²). Die Einführung einer „conjointure“ und das Deutlichmachen des Textsinnes, dazu noch die bewusste Auslassung der typischen Kennzeichen des heldenepischen Stils markieren, wie es Eugène Vinaver gezeigt hat, den Übergang vom Heldenepos zum Roman. Während der Autor der Chanson de Roland nicht auslegend in seine Erzählung eingreift und um des Erzählens willen erzählt – erst die modernen Exegeten werden den im Werk unterschwellig gebliebenen Sinn klar verdeutlichen –, distanziert sich Konrad wie jeder Romandichter von seinem Thema, um das Warum der Geschehnisse zu ergründen; er geht über die Geschichte hinaus, deckt den Sinn der erzählten Ereignisse für sein Publikum auf und gestaltet seine Erzählung nach diesem Sinn, in Einklang mit diesem Sinn, diesem „sen“ oder „senefiance“. Anders ausgedrückt: Konrad hat den Text seines Werkes als den Ausdruck einer Idee, die es durch seine eigene Erzählung deutlich zu machen, zu veranschaulichen gilt, verstanden, auch wenn er seine eigenen Gedanken hinzufügen soll. Kurz, genau wie Eilhart von Oberg mit seinem Tristrant oder Heinrich

   

Eugène Vinaver, A la recherche d’une poétique médiévale, Paris, Nizet, 1970, S. 73. Eugène Vinaver, A la recherche d’une poétique médiévale, S. 109. Siehe oben. Danielle Buschinger, Le Tristrant d’Eilhart von Oberg, Paris, Champion, 1974.

2.1 Versliteratur

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der Glîchesære mit dem Reinhart Fuchs, nimmt Konrad an dem teil, was Vinaver „the discovery of meaning“ nennt, und das „Rolandslied „ ist ein Roman. Doch soll man diese von Konrad herausgearbeitete Kreuzzugsthematik nicht so sehr mit einem Kreuzzug in das Heilige Land in Verbindung setzen (der 2. Kreuzzug, der ein Fiasko war, liegt schon sehr weit zurück) als mit den Wendenzügen Heinrichs des Löwen, die einen wahren Kreuzzugsfanatismus ausgelöst haben. Heinrich hat versucht, sein Herrschaftsgebiet nach Osten, östlich von der Elbe, auszuweiten und zu diesem Zwecke mehrere Eroberungszüge unternommen, die als Kreuzzüge deklariert wurden. Heinrich der Löwe war ja Konrads Auftraggeber, wie im Epilog des Werkes gesagt wird. Das „Rolandslied „ wäre entstanden, um Heinrichs „Kreuzzüge“ bzw. Eroberungen in slawischen Gebieten ideologisch zu legitimieren. Im Epilog betrachtet Konrad außerdem Heinrich den Löwen, dem Gott zum Sieg verholfen hat (9049), als einen ebenso großen Heidenbekehrer wie Karl den Großen, dessen Erbe er geradezu ist (9047), beteiligte sich Heinrich doch an den Vorbereitungen zu seiner Heiligsprechung durch Friedrich I. Barbarossa im Jahre 1165. Man kann wohl vermuten, dass sich in diesem Werk welfisches Selbstbewusstsein artikulierte, übte doch Heinrich der Löwe, der sich als Nachfahre Karls des Großen betrachtete, welcher im Rolandslied als mächtiger Herrscher dargestellt wird (974– 975 „jâ nîgent dîner crône/ alle cristen künige“), in seinem Herrschaftsgebiet nachgerade königliche Gewalt aus, und er eiferte beim Ausbau seiner Braunschweiger Residenz dem Repräsentationsvorbild Karls des Großen in Aachen nach. Kurz, das Rolandslied dient ebenfalls zur Selbstrepräsentation Heinrichs des Löwen, den übrigens Konrad im Epilog (9035 – 70) überschwänglich lobt und dem Kaiser gleichstellt.⁵³ Der Umstand, dass im Rolandslied der Papst ausgeklammert ist, könnte damit in Verbindung gesetzt werden, dass ein Schisma von 1159 bis 1177 die römische Kirche spaltete; Friedrich Barbarossa und einige seiner Vasallen, so Heinrich der Löwe, Konrads Auftraggeber, traten für den Anti-Papst Viktor IV. ein, gegen Alexander III., der am 24. März 1160 den Kaiser und alle, die das Schisma begünstigten, exkommunizierte.

 Karl Bertau, „Das deutsche Rolandslied und die Repräsentationskunst Heinrichs des Löwen“. In: Literarisches Mäzenatentum. Ausgewählte Forschungen zur Rolle des Gönners und Auftraggebers in der mittelalterlichen Literatur. Hg. von Joachim Bumke, Darmstadt 1982. S. 331– 370, insbesondere S. 335 – 341 (WdF 598); Bernd Bastert, „Konrads „Rolandslied“ und Strickers „Karl der Große“. Unterschiede in Konzeption und Überlieferung“. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Liberalität von 1200 – 1300. Cambridger Symposion 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 91– 110; Strickers Karl der Große. Hrsg. von Johannes Singer (DTM XCVI), Berlin/ Boston, de Gruyter Forschung, 2016.

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Nachwirkung des „Rolandsliedes“ Im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts überarbeitet der Stricker Konrads Rolandslied, erneuert es, wie er selbst sagt (v. 115 ff.); dabei bereichert er seine Vorlage um eine Vorgeschichte, die von der Jugend Karls berichtet. Der Stricker, dessen Karl in mindestens 24 Hss. und 21 Hss. sls Streuüberlieferung und Fragmente überliefert ist,⁵⁴ von denen mehrere noch in das 13. Jahrhundert verwiesen werden können, ist in den Passagen, die ich untersucht habe, seiner Vorlage ziemlich getreu gefolgt und hat die Kreuzzugsideologie im Großen und Ganzen beibehalten, war sie doch zu seiner Zeit aktuell, ‒ sowohl in Palästina, wohin Kaiser Friedrich II., der schon 1215 die Kreuzfahrt gelobt hatte, im November 1228 an der Spitze einer mächtigen Armee zog (5. Kreuzzug) und wo er kampflos, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, durch Verhandlungen mit dem ägyptischen Sultan die Freigabe der christlichen Pilgerstätten am 18. Februar 1229 erreichte, ‒ als auch im Osten, in Preußen, wo das Rolandslied in der Version des Stricker bei dem Deutschen Orden eine große Rolle gespielt hat und zum Kompendium von Ordensritterideologie wurde. Am Anfang des 14. Jahrhunderts (1320 – 1350) wurde das Rolandslied im ripuarischen Raum (Aachen/Köln), wohl in Aachen selbst, von einem Unbekannten (einem Geistlichen) ebenfalls nach dem Geschmack der Zeit in bearbeiteter Form in eine große zyklische Kompilation aufgenommen (was auch für eine Tendenz der spätmittelalterlichen Literatur zum Chronikalisch-Historisierenden zeugt), die nun eine komplette sagenhafte Lebensbeschreibung Karls des Großen abgibt, eine Art deutsches Gegenstück zur französischen legendären Karlsbiographie von Girart d’Amiens (um 1300): Es ist der in ripuarischem Schriftdialekt verfasste Karlmeinet ⁵⁵, der aus 6 Teilen besteht. Die Teile 1 (Karl und Galie: KG), 2 (Morant und Galie: MG), 4 (Karl und Elegast: KE), und 5 (Rolandslied-Bearbeitung neben „Ospinel“-Einschub), gehen auf ursprünglich selbständige Dichtungen französi Johannes Singer, S. XV.  Hartmut Beckers, „‚Karlmeinet‘-Kompilation“. In: Verfasserlexikon² IV, Sp. 1012– 1028; Morant und Galie, hg.v. Th. Frings und E. Linke; Berlin 1976 (DTM LXIX).Karl und Galie, Karlmeinet, Teil I; Abdruck der Handschrift A (2290) und der 8 Fragmente, hg. und erläutert von D. Helm, Berlin 1986 (DTM LXXIV). J. Akkerman: Studien zum Karlmeinet. Der 3. Abschnitt der Kompilation und sein Verhältnis zum ersten, Amsterdam 1937. U. von der Burg: Konrads Rolandslied und das Rolandslied des Karlmeinet. Untersuchungen und Überlegungen zu einem überhundertjährigen Problem, Rheinische Vierteljahrsblätter 39 (1975). S. 321– 341. R. Folz: Le souvenir et la légende de Charlemagne dans l’Empire germanique médiéval, Paris 1950, Reprint Genf 1973. Th. Frings und E. Linke: Rätselraten um den Karlmeinet. In: Medieval German Studies Presented to Frederick Norman, London 1965, S. 219 – 230.

2.1 Versliteratur

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scher Stoffherkunft zurück. Die Teile 3 (Karls Kriege) und 6 (Karls Tod und der eschatologische Epilog) sind dagegen keine vor der Zusammenstellung der Kompilation selbständig bestehenden Dichtungen gewesen, sondern sie sind erst vom Kompilator aufgrund von hauptsächlich lateinischen chronikalischen Vorlagen verfasst worden. Außerdem wurden der mittelniederländische Speghel Historiae Jacobs von Maerlant und für den Teil 5, nach Abbruch der Übereinstimmung mit Konrad (RL 8659 ff. entsprechen Km 488,69 ff.) eine junge französische Rolanddichtung, der sog. Roland rimé de la Meuse herangezogen⁵⁶ bzw. ein afrz. Rolandslied-Text, der zur in den Handschriften Châteauroux und Venedig VII repräsentierten Version der Chanson de Roland gehört, als ergänzende Quelle benutzt, die dem Bearbeiter direkt vorgelegt hätte.⁵⁷ Dann hätte der Kompilator zur Vorlage Konrads selbst zurückgegriffen, die nach unserer Hypothese eben eine zur Version Châteauroux- V 4 – V 7 – gehöriger Text ist. Es ist also wohl möglich, dass wir es mit einem „intelligenten“ Kompilator zu tun haben, der zusätzlich zu den deutschen Texten, die er vor sich hatte, auch französische Zeugen benutzte. Der Karlmeinet gilt im Allgemeinen als Unterhaltungsliteratur. In der Tat ist die Handlung spannend und abwechslungsreich. Weisen wir auch auf die Vielfalt und Differenziertheit der Gesichter, die Karl zeigt: Zunächst ist er der zum Küchenchef erniedrigte Königssohn, der sich sein ererbtes Reich zurückerobern kann und zum König von Frankreich gekrönt wird. Dann tritt er als argwöhnische Privatperson auf, die den Verleumdungen von Intriganten Glauben schenkt. Im dritten Teil wird er wieder Amtsperson: Er wird gar als rex iustus et pacificus dargestellt (293,47 ff.); wir haben hier wie oft in der mittelalterlichen Literatur eine Art Fürstenspiegel. Im KE haben wir es mit einem burlesken Kaiserbild zu tun. Im 5. Teil zeigt sich Karl wie in der Vorlage, dem Rolandslied, als godes deenst man, als Gottes Dienstmann (395,10). Am Schluss avanciert er zum Heiligen (537,31 ff.). Der Karlmeinet ist aber auch politische Dichtung: Das Ausschlaggebende liegt meines Erachtens in der Gestalt Karls, der zuerst zum König von Frankreich gekrönt wird und in Paris bzw. St Denis residiert und dann zum deutschen Kaiser wird, sich in Ingelheim niederlässt und in Aachen Hof hält, der unangefochtener Herrscher in Deutschland, im RL-Teil gar geistliches und weltliches Oberhaupt seines Reiches ist und in seinem „politischen Testament“ (535,21– 33) den Kai-

 André de Mandach, Naissance et développement de la chanson de gestz en Europe : I. La Geste de Charlemagne et de Roland, Genève 1961.  Udo von der Burg, „Konrads Rolandslied und das Rolandlied des Karlmeinet. Untersuchungen und Überlegungen zu einem hundertjährigen Problem“. In: Rheinische Vierteljahrsblätter. Jahrgang 39, 1975. S. 321– 341.

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serthron den deutschen Fürsten sichert. Schließlich zieht der Papst von Rom nach Aachen zu den Feiern anlässlich der Einbalsamierung Karls. Th. Frings und E. Linke haben schon 1965 nicht gezögert, Karl und Galie und Morant und Galie „an den rheinischen Karlskult anzuschließen“⁵⁸; meinerseits wäre ich geneigt, im ganzen Karlmeinet einen Versuch zu sehen, die Karlsnachfolge für Deutschland zu beanspruchen, was der historischen Wirklichkeit vollkommen entspricht, während die Franzosen sie für sich beanspruchen wollen: Zwischen 1280 und 1300 verfasst Girart d’Amiens für Karl von Valois, des Königs Bruder, die erste poetische Lebensbeschreibung Karls des Großen, wo er frühe Chansons de geste mit aus Chroniken entlehnten Elementen und mit verschiedenen lateinischen Legenden kombiniert. Karls „politisches Testament“ im Karlmeinet kann als Reaktion auf die französischen Ansprüche auf Karls Nachfolge.⁵⁹ Vornehmlich ab 1324 wird im deutschen Sprachraum die Erinnerung an Karl den Großen zugunsten Ludwigs des Bayern wachgerufen: Es ist, als ob die Karlstradition ihn legitimierte.⁶⁰ In seiner Schrift De iure regni et imperii Romani lässt Lupold von Bebenburg im Jahre 1340 Karl den Großen in Ingelheim (d. h. auf deutschem Gebiet) auf die Welt kommen, einer Stadt, die mehrmals vom Kompilator des Karlmeinet erwähnt wird. Während der Regierungszeit Karls IV. (ab 1346) bleibt die Erinnerung an Karl den Großen wach: Karl IV. propagiert gar den Karlskult.⁶¹ Dies alles zeigt einerseits, wie hochaktuell die Wahl eines solchen Themas in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts war. Doch wird im Spätmittelalter, zu gleicher Zeit wie der Karlmeinet, aber vornehmlich im 15. Jahrhundert, ein negatives Karlsbild entwickelt, in den sog. Empörergesten. Der Stricker ist ein repräsentativer Vertreter der spätmittelalterlichen deutschen Dichter: Er hat keine französische Vorlage mehr, sondern er adaptiert einen deutschen Text. Er behält den religiösen Grundgedanken seiner Vorlage, des Rolandsliedes des Pfaffen Konrad, bei, ohne ihn aber auszuführen, und mildert ihn ab. Der Kompilator des Karlmeinet hat teilweise französische Vorlagen adaptiert; für den Roland-Teil hat er Konrads Text oder gar seine Vorlage bearbeitet. Sein Ziel war es, den Karlskult zu propagieren.

 Th. Frings und E. Linke, „Rätselraten um den Karlmeinet“. In: Medieval German Studies Presented to Frederick Norman, London 1965. S. 219 – 230; das Zitat befindet sich auf S. 229.  Robert Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne dans l’Emmpir germanique médiéval. 1950, Nachdruck Genève, Slatkine, 1973, S. 402 ff.  Robert Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne, S. 405.  Robert Folz, Le souvenir et la légende de Charlemagne, S 443.

2.1 Versliteratur

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2.1.1.5.2 Wolframs Willehalm und seine Fortsetzungen Wolfram ersetzt die offene – denn zyklische – und parataktische Struktur der Aliscans durch eine geschlossene und symmetrische Struktur.⁶² Einerseits wird der Stoff vom Willehalm (vor 1217) symmetrisch angeordnet: Die gesamte Handlung wird von einem Netz von Symmetrien, Parallelismen und Antithesen durchzogen. Das französische Werk kannte nur eine raumzeitliche Symmetrie: beide Schlachten auf beiden Seiten des Besuchs Wilhelms in Laon. Wolfram hat diese Symmetrie stark hervorgehoben: Auf beiden Seiten dieser sich in Laon abspielenden Szene hat Wolfram beide Liebesszenen in Orange hinzugefügt (spielt doch die – eheliche – Liebe Willehalms und Gyburcs eine große Rolle in Wolframs Bearbeitung) sowie beide „Religionsgespräche“ zwischen Gyburc und ihrem Vater Terramer, die beide in seiner Vorlage fehlen. Man entdeckt ebenfalls Parallelismen und Antithesen in der Struktur von beiden Schlachten, z. B. die Kommentare des Dichters am Gipfelpunkt beider Schlachten, oder noch die Klage Willehalms um Vivien und die um Rennewart. Andererseits ist der Kampf Guillaumes gegen die Heiden in der französischen Chanson, die nur ein – allerdings wichtiges – Kettenglied in einem ganzen Zyklus ist – dem Zyklus um Guillaume d’Orange, lediglich eine Abwandlung einer präexistenten Lage, die sich unaufhörlich wiederholen kann – Guillaumes Kampf gegen die Heiden; dagegen leitet der deutsche Dichter diesen Kampf von einem einzigen Ausgangspunkt ab – der Entführung Gyburcs –, so dass Willehalms Kampf zu einem alleinigen und entscheidenden Ereignis wird – dem Kampf um Gyburc –; dann erweitert Wolfram die Diskussion schrittweise. Zuerst geht es um einen privaten Streit zwischen Tybalt und Willehalm, der dann zu einem Familienstreit wird; der persönliche Konflikt wird zu einem Religionskrieg bei der ersten Schlacht, dann politisiert er sich auf Grund der Gebietsansprüche der Heiden und der Beziehungen Willehalms zum Reich; schließlich handelt es sich um einen Kampf zwischen zwei Reichen um die religiöse und politische Vorherrschaft. Diese Steigerung in dem, was beim Krieg auf dem Spiel steht, verleiht Wolframs Werk seinen ideologischen Zusammenhalt. Dieser Sinn, der nicht einmal im Hintergrund der Vorlage präsent war, ist Wolframs Eigentum, und der Dichter verdeutlicht ihn in seinen Kommentaren, zum Beispiel in beiden Exkursen, am Höhepunkt beider Schlachten: im ersten Exkurs wird der Krieg zwischen Willehalm und Terramer interpretiert als ein Kampf zwischen Gott und dem

 Siehe Joachim Bumke, Wolframs Willehalm . Studien zur Epenstruktur und zum Heiligkeitsbegriff der ausgeheneden Blütezeit, Heidelberg, 1959, S. 82 ff. (Germanische Bibliothek, 3. Reihe). Siehe auch Bernd Bastert, Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum, Tübingen/ Basel 2010, S. 180 – 184.

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Teufel, im zweiten als einen Kampf des römischen Reiches, dessen Protagonisten Willehalm und die Großfürsten sind, gegen das Reich der Heiden. Aber nicht nur der Reichsgedanke, sondern auch eine bemerkenswerte Toleranz verleiht dem Werk seinen ideologischen Zusammenhalt. Im Gegensatz zum Pfaffen Konrad, der unter den zahlreichen Themen seiner Vorlage ein einziges Thema wählt, das er zum Haupthema seiner Bearbeitung macht, ändert Wolfram stark die Ideologie seines Werkes. Nicht uninteressant sind in diesem Zusammenhang, wie es Annelie Kreft hervorhebt,⁶³ „die enge Verknüpfung von Minne und Glaube“ und die Tatsache, dass Willehalm „seine Mannen (auffordert), für beide Arten der Liebe zu kämpfen“ (16,30 – 17,2 oder 299,26 – 27). Wolfram verwirft die traditionelle Idee der Kreuzzüge, die in der französischen Chanson de Roland, im Rolandslied und in den Aliscans, wo die Heiden als die Geschöpfe des Teufels der Ausrottung und dem ewigen Feuer der Hölle geweiht sind. Bei jedem Schritt trifft man im französischen Werk auf ein Glaubensbekenntnis von Guibourc, Guillaume oder Rainouart. Die Aliscans ist ein erbauliches Werk, das auf einem grundsätzlichen Gegensatz zwischen Christen und Heiden beruht, auch wenn die Heiden Sinn für die Familie und die Dynastie haben, als reich und mächtig und als der Christen würdige Gegner beschrieben werden, auch wenn Rainouard einem seiner Gegner sagt: „Versöhnen wir uns!“, ist der Krieg, den die Christen gegen die Moslems führen, ein gerechter Krieg, und die Christen, die in der Schlacht gefallen sind, werden direkt in den Himmel aufgenommen. Für Wolfram ist der Moslem wie der Christ ein Mensch, den man achten soll, er ist wie er ein Geschöpf Gottes. Im Willehalm, sagt er: „schônt der gotes hantgetât“ (307,28), schont Gottes Geschöpfe.⁶⁴ Und er bezeichnet als Mord die Massenkämpfe, die die Christen den Moslems in Südfrankreich, wo die Handlung des Romans spielt, gegenüberstellen, und er beweint sowohl den Tod eines Moslems als auch den eines Christen. Das Wort „Toleranz“ ist zu stark dafür; man sollte eher sagen „Schonung“, um Wolframs eigenes Wort zu gebrauchen.Vielleicht gehörte Wolfram einer kleinen Minderheit seiner Zeit an, denn es soll unterstrichen werden, dass im Heiligen Land selbst eine friedliche Koexistenz bestand und dass zur Zeit der Kreuzzüge die Handels- sowie die intellektuellen Beziehungen sich immer mehr erweiterten (man darf nicht vergessen, dass die Araber den christlichen Gelehrten die wissenschaftlichen Kenntnisse der Griechen vermittelten und die Renaissance des 12. Jahrhunderts nährten). So stellt der Schonungsgedanke Wolframs von Eschenbach in einem gewissen Maße einen Vorläufer des Toleranzgeistes des 18. Jahrhunderts dar.

 Annelie Kreft, Perspektivenwechsel…, op. cit., S. 84– 85.  Zur Forschung siehe Annelie Kreft, Perspektivenwechsel…, op. cit., S. 72– 75.

2.1 Versliteratur

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Wenn Wolfram eine gewisse Idee der Toleranz in sein Werk einführt, liegt es wohl daran, dass es vornehmlich um das Gefühl der Zugehörigkeit zum Rittertum geht. Es ist eine Gesellschaft, zu der beide Gegner gehören; sie kämpfen gegeneinander, aber sie achten einander, weil sie auf beiden Seiten Ritter sind. Die Achtung vor dem anderen beruht auf dem Gefühl, das sie von derselben ritterlichen Ethik haben. Aber im Willehalm begegnen wir ebenfalls einer – zwar relativen – Achtung vor der Religion des anderen: die Heiden wie Vieh niedermetzeln erscheint wie ein Verbrechen, wie eine Sünde (10,17– 20), man muss sie verschonen (306,27– 28; 450, 15 – 19), und eines Tages, wenn Got will, werden die Heiden Zugang zur Wahrheit haben. Diese gewisse „Toleranz“, die von einer großen Menschlichkleit zeugt, wird besonders von Gyburg gezeigt, und von Willehalm, der beschließt, die gefallenen Heidenkönige in ihre Heimat zu überführen, damit sie „nach ir ê“ beerdigt werden (465,10 – 20), nach ihrem Ritus. Dennoch besteht eine abgrundtiefe Kluft zwischen beiden Religionen. Wie im Parzival äußert Wolfram im Willehalm den Wunsch, dass alle Menschen das Christentum annehmen, und es wird klar gesagt, dass das Reich und der christliche Glaube gegen den Einfall der Heiden verteidigt werden müssen, die als die Angreifer betrachtet werden.⁶⁵ Kurz, der Reichsgedanke und die Toleranz sind die beiden ideologischen Schemata, die beide Wolframs Eigentum sind, denen der Dichter sein Werk unterordnet und die daraus einen Roman machen, nach der Definition von Eugène Vinaver. Rolandslied und Willehalm sind zwei Beispiele der direkten „ Rezeption“ der altfranzösischen „chansons de geste“ an deutschen Höfen, an denen die Bearbeitung der chansons de geste aus politischen Gründen bestellt wird. Das Rolandslied dient dazu, sowohl Heinrichs des Löwen Eroberungen östlich von der Elbe in slawischen Gebieten ideologisch zu legitimieren, als auch den Anspruch der Welfen darauf, als Erben des Reichsgedankens betrachtet zu werden, zu begründen, wie Karl der Große und die chansons de geste diesen Reichsgedanken auffassten. Im Epilog wird deutlich welfisches Selbstbewusstsein ausgesprochen: Heinrich der Löwe wird als Nachfahre Karls des Großen betrachtet und ihm gleichgestellt. Der Willehalm entsteht zu einer Zeit, wo der religiöse Fanatismus für den Kreuzzug nicht mehr existiert: Friedrich II., vom Papst dazu aufgefordert, einen Kreuzzeug zu führen, entzieht sich seiner Aufgabe, und als er 1227 sich gegen den Willen des Papstes, der ihn exkommuniziert hat, auf den Weg ins Heilige Land macht, verhandelt er mit den Sarrazenen und kauft ihnen das Heiliggrab ab.

 Joachim Bumke, Wolfram von Eschenbach, Stuttgart, 1981, p. 138 – 141 et 143.

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Wolframs Willehalm ist im Mittelalter ein recht beliebtes Werk gewesen, was die große Anzahl von Handschriften bezeugt. Doch bricht er vor dem Ende ab, so dass eine Generation nach Wolfram Ulrich von Türheim (1236 – 1285), der den ebenfalls unvollendet gebliebenen Tristan-Roman des Gottfried von Straßburg zu Ende geführt hat (es handelt sich um die erste Tristan-Fortsetzung, die zweite schrieb Heinrich von Freiberg am Ende des 13. Jahrhunderts) vor Mitte des 13. Jahrhunderts mit wenig Geschick eine Fortsetzung erstellt hat, den Rennewart, wie es im Mittelalter üblich war, wollten die Zuhörer doch eine komplette Geschichte haben. Wie es Thordis Hennings gezeigt hat, hat er intensiv auf französische Texte zurückgegriffen.⁶⁶ Er berücksichtigte allerdings überhaupt nicht Wolframs Intentionen. Um die Mitte des 13. Jahrhunderts unternahm es ein Kärtner Dichter, Ulrich von dem Türlin, zu dem Willehalm eine Vorgeschichte zu verfassen (die von Werner Schröder 1982 Arabel betitelt wurde), gewidmet König Ottokar II. von Böhmen, der 1253 den Thron bestieg und 1278 fiel. Arabel und Rennewart gehören zur produktiven Rezeption des Willehalm. So ist im Geschmack der Zeit eine zyklische Werkzusammensetzung entstanden, ein großes episches Sammelwerk, das in Prachthandschriften auf uns gekommen ist (in acht der zwölf vollständig erhaltenen Handschriften des Willehalm wird Wolframs Werk von der Arabel und vom Rennewart eingerahmt: die ersten erhaltenen Handschriften dieser Trilogie datieren aus der Zeit um 1300).⁶⁷

2.1.1.5.3 Schlacht von Alischanz Unabhängig von Wolfram von Eschenbach hat am Anfang des 14. Jahrhunderts ein Niederdeutscher die altfranzösische Bataille d’Aliscanz erneut ins RipuarischNiederländische übertragen. Diese Bearbeitung, die Schlacht von Alischanz, eine Mischung von hochdeutschen und niederdeutschen/mittelfränkischen bzw mittelniederländischen Formen, so dass man eine ripuarische Prosafassung vermuten kann⁶⁸, ist nur fragmentarisch überliefert. Auf uns gekommen sind 709 Verse

 Thordis Hennings, „Die französischen Vorlagen der germanischen Chansons de geste-Bearbeitungen“. In: Hans-Joachim Ziegeler (Hg.), Chanson de geste im europäischen Kontext, Göttingen, V & R unipress, 2008, S. 5 – 14, hier S. 13.  Annelie Kreft, Perspektivwechsel. Willehalm -Rezeption in historischem Kontext: Ulrichs von dem Türlin Arabel und Ulrichs von Türheim Rennewart, Heidelberg, Winter, 2014. Dies ist die erste Untersuchung der Willehalm-Trilogie.  Vgl. Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, S. 37, und vgl. Verfasserlexikon. Berlin, 1977, I, 240.Vgl. ebenfalls Danielle Buschinger, „La réception du cycle des Narbonnais dans la littérature allemande du Moyen Age“. In: Medioevo Romanzo. Actes du colloque de Bologne (Italie). Octobre 1996. Rom, 1997, S. 404– 420.

2.1 Versliteratur

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von der Schilderung der zweiten Schlacht, wo die Heldentaten Rainouarts auf dem Schlachtfeld erzählt werden (ab V.5257 bricht das Fragment ab). Da man nicht weiß, in welcher Gestalt der Bearbeiter die französische Chanson gekannt hat, ist es sehr schwierig, die Bearbeitungstechnik zu bestimmen. Die Handlung scheint nach dem, was man beurteilen kann, getreu wiedergegeben (mit Auslassungen): Die ganze Schlacht, in der drei Höhepunkte zu erkennen sind, wird von Rainouart als Rache für Vivians aufgefaßt (64 – 65//5306 – 8). Wir haben es hier mit einer z.T. ziemlich exakten Übertragung zu tun: Die Eigennamen sind z. B. getreu wiedergegeben; man erkennt eine Reihe von fast wortwörtlich übersetzten Versen (z. B. 416 //5964). Es gibt aber auch zahlreiche Auslassungen, Verschiebungen, Umstellungen und Kürzungen bzw. Zusammenfassungen (namentlich in den Kampf- und Schlachtschilderungen sowie in den Dialogen). Rainouart ist der gleiche riesenstarke Haudegen wie in der Vorlage; seine Zornausbrüche sind getreu wiedergegeben. Doch der deutsche Bearbeiter betont noch mehr das Heldenepische: Er fügt z. B. einen Vers ein wie 645 er gewan ains lauwen moet (er gewann den Mut eines Löwen), um Rainouart zu bezeichnen, aber er streicht die Schmerzbekundungen Rainouarts, der es in der französischen Vorlage bereut, Walegrape totgeschlagen zu haben (6444 ff.) – seine „menschlichere“ Seite wird dadurch unterschlagen -; seine Derbheit ist doch gemildert. Obwohl die metrische Form nicht immer zu erkennen ist, ist die Erzählung nicht ungeschickt und sehr lebendig. Von dem ritterlich-humanistischen Ideal Wolframs ist aber nichts mehr zu spüren: Der Gegensatz zwischen Christen und Heiden ist unüberbrückbar. Während Ulrich von dem Türlin keine französische Vorlage hatte und seinen Stoff aus dem Willehalm Wolframs entlehnte, ist die nur fragmentarisch überlieferte Schlacht von Alischanz eine ripuarisch-niederländische Bearbeitung der französischen Vorlage des Wolfram.

2.1.1.5.4 Die Empörerepen Girart de Roussillon (1149 oder 1155 – 80), Renaut de Montauban (um 1200) und Ogier le Danois (1192– 1200 oder um 1200) werden in der altfranzösischen Literatur unter dem Terminus geste des vassaux rebelles (Empörergesten) zusammengefasst. Ihnen liegt das Thema der Auflehnung des Vasallen gegen seinen Dienstherrn und König zugrunde, der Auseinandersetzung zwischen der Partikular- und der Zentralgewalt. In diesen drei Werken spiegelt sich die politische Situation in Frankreich um 1200 wieder, wo König Philipp II. August den erbitterten Kampf zwischen König und Großvasallen zugunsten der Monarchie entscheidet. Doch der Konflikt, zum ersten Mal in der altfranzösischen Literatur gegen Ende des 12. Jahrhunderts thematisiert, wird unter dem Blickwinkel der drei

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2 Die erzählende Literatur

Autoren nicht von dem Vasallen verschuldet, der als loyal dargestellt wird, sondern vom König, der als ungerecht, treulos und tyrannisch charakterisiert wird, d. h. das Ganze wird von einem propartikularen Gesichtspunkt aus gesehen, so dass diese drei Werke mit ihrem negativen Karlsbild sich mehr oder weniger gegen die kapetingische Karlspropaganda richten, die seit 1180 Philipp II. August als einen Nachkommen Karls des Großen feiert: „Die Darstellung Charlemagnes, des Ahnherrn Philipps II., als Anti-Figur eines idealen Lehnsherrn erhielt unter diesen Umständen eine gegen Philipp II. gerichtete Spitze“⁶⁹. Andererseits kann man die drei Werke, die sich in einer Steigerung befinden, was die Kritik an der Feudalgesellschaft und an der Zentralgewalt anbelangt, im Großen und Ganzen als poetische Kompensation, als epische Rache für eine politische Niederlage bezeichnen. Das Merkwürdige ist, dass diese drei sog. Rebellenepen, zu denen man noch das mit dem Renaut-Stoff verwandte Maugis d’Aigremont (1.Hälfte des 13. Jahrhunderts) gesellen kann, z.T. über das Niederländische in die deutsche Literatur eindrangen.

Gerart van Rossiliun Ein Willkürakt des Königs beeinträchtigt Girart in seinen Rechten und zwingt ihn dazu, zu rebellieren, wenn er nicht zugrundegehen will. Dieses Werk spiegelt eine in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts im Wandel begriffene Gesellschaft (Umwandlung der freien Allodbesitze in Königslehen) sowie die politische Situation, im Maße wie die Kapetinger auf diese Weise ihre Zentralgewalt stärken und die Feudalität schwächen und zähmen wollen. Doch hier stellt sich, auch wenn die soziale und politische Realität von einem propartikularen Gesichtspunkt aus betrachtet wird, die Frage nach der Legitimität der Auflehnung des Vasallen gegen die königliche Autorität bzw. Willkür. In der Tat, jede Empörung gegen den König ist zugleich ein Auflehnungsakt gegen Gott, fallen doch im Mittelalter die menschliche und die göttliche Ordnung zusammen. Der Rebell in seiner Vermessenheit wird wie im deutschen Epos Herzog Ernst von der erlittenen Ungerechtigkeit dazu getrieben, seinerseits Ungerechtigkeiten, ja Morde zu begehen, Verbrechen, die ihn zum Gottesfeind machen und die er abbüßen muss, indem er 22 Jahre lang, nur von seiner Frau begleitet, unerkannt als Köhler in den Ardennen lebt. Seine Wiederaufnahme in die Feudalgesellschaft erfolgt nicht durch den Heidenkrieg wie im Ogier von Dänemark, sondern auf romanhafte Art, ein erstes Mal durch eine Liebeslist der Königin, die Girart in höfischer Liebe zugetan ist,

 Karl Heinz Bender, König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de geste des XII. Jahrhunderts, Heidelberg 1967 (Studia Romanica 13. Heft), S. 173.

2.1 Versliteratur

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und ein zweites Mal auf die Fürbitte des Papstes hin, d. h. beide Male durch außerfeudale Mächte. Schließlich hebt Girart selbst das Lehnsverhältnis zum König auf, um für sein Seelenheil zu sorgen. Dieser freiwillige Verzicht auf seine feudale Position besiegelt den Zerfall der historischen Gesellschaft. Aber auch wenn der König als politische Figur triumphiert, triumphiert als literarische Figur der Vasall, der am Ende allein das Feld beherrscht.⁷⁰ Die franco-provenzalische, entweder 1149 oder 1155 – 80, wahrscheinlich in Poitou entstandene Chanson, in der die historische Gestalt Girart, der Feind Karls des Kahlen, weiter Prototyp des burgundischen Partikularismus und Irredentismus im Konflikt mit dem fränkischen Absolutismus (der König könnte auch Karl Martell sein) gezeigt wird, wurde im 13./14. Jahrhundert in niederdeutsche bzw. ostfälische Prosa übertragen, von der uns nur sechs Bruchstücke überliefert sind (ehem. in Wernigerode, nun verschollen). Zwei von den Fragmenten entstammen dem Anfang der zweiten Hälfte der Erzählung, und zwar dem Bericht über den zweiten Krieg zwischen Karl und Girart in Civaux (5828 – 5916 und 6079 – 6156), bei dem Girart eine schwere Niederlage erleidet, zahlreiche Mannen und Freunde verliert und dann fast von allen Mitstreitenden verlassen wird. Die vier übrigen gehören dem Schlussteil an (Versöhnung der Rebellen mit Karl durch Vermittlung des Papstes und Erweis von Bertas Unschuld und Frömmigkeit (9323 – 9505 und 9645 – 9878). Man stellt inhaltliche Übereinstimmungen mit dem franco-provenzalischen Text fest, z.T. wortwörtliche Übersetzung, doch niemals hält sich der mnd. Prosaist sklavisch an seine Vorlage. Er versucht denselben Inhalt mit eigenen Worten wiederzugeben. Es seien u. a. folgende Punkte hervorgehoben: ‒ Straffung der Erzählung, teils Erweiterung, wenige, geringfügige Änderungen bzw. Auslassungen oder Zusätze in den Schlachtschilderungen, Verschiebungen; ‒ Erweiterung der Stellen mit religiösem Gehalt; ‒ Einfühlungskraft und größere Anteilnahme an den schrecklichen Ereignissen bzw. an dem tragischen Schicksal Girarts, dem an Christus gemahnende Worte in den Mund gelegt werden (§ 409); ‒ Hinzufügung von inneren Monologen, in denen die Helden über das Geschehene oder das Erlittene reflektieren (§ 409); ‒ Parteinahme für Girart mit Betonung seiner Unschuld (§ 631), infolgedessen mit Betonung der ungerechten Handlungsweise des Königs (§ 403 oder 409), dabei wird der König noch stärker als in der Vorlage für seinen homot (Hochmut, superbia) verurteilt;

 Karl Heinz Bender, König und Vasall, S. 179.

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starke Anteilnahme des Dichters an den Worten des Papstes, der viel nachdrücklicher als in der Vorlage Karl ermahnt, Frieden zu schließen, und ihn auffordert, auf allen Hochmut zu verzichten und demütig zu sein; Hervorhebung der sozialen Verantwortung von Herrschern und Baronen, die viel stärker als in der Vorlage ermahnt werden, für de armen riddere (§ 637– 8) (9483 pabres chevalers), die durch den Friedensschluss der Verarmung preisgegeben sind, zu sorgen: Sie sollen die Fürsorge für die „armen ritter“ über ihre eigene Bereicherung stellen. Doch ist dies nicht uneigennützig: Wenn die „armen Ritter“ auf sich angewiesen sind, werden sie, um zu überleben, Raubritterunwesen treiben und so dem Reich schaden sowie dem Gemeinwohl, infolgedessen sollen sie in der Lage sein, ein für alle nützliches ritterliches Leben zu führen, d. h. dem Reich zu nützen, z. B. es gegen den Einfall der Heiden zu schützen (§ 639).

Das Merkwürdige an dieser Bearbeitung, die den Ideengehalt der Vorlage mit großem Einfühlungsvermögen wiedergibt und sogar verstärkt, ist, dass die Prosaform gewählt – und meisterhaft beherrscht – worden ist, so dass das Werk eine Sonderstellung nicht nur in der gesamten spätmittelalterlichen Literatur einnimmt, und zwar zwischen dem ab der Mitte des 13. Jahrhunderts entstandenen Prosa-Lancelot und den Romanen der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (ab 1435), sondern auch – und vornehmlich – in der mnd. Literatur, die außer dem Girart zu diesem Zeitpunkt kein Werk höfisch-ritterlicher Stoffwelt aufzuweisen vermag. So liegt die Vermutung nahe, dass der Bearbeiter der franco-provenzalischen Chanson de geste „den kühnen Gedanken faßte, /…/ sich der literarhistorisch jüngeren Tradition der niederdeutschen Geschichtsprosa anzuschließen“, was sein Werk „als res gestae /…/ zum Rang geschichtlicher Wahrheit“ erhebt⁷¹. Und nun drängt sich die Frage nach der Finalität dieser Bearbeitung auf. Infolge gewisser Ähnlichkeiten zwischen dem poetischen Schicksal Girarts und dem historischen Lebensweg Heinrichs des Löwen ist Hartmut Beckers der Ansicht, dass der Auftraggeber unseres Dichters am Welfenhofe zu finden sei, und zwar am Hofe Albrechts des Großen, der schon die Braunschweiger Reimchronik in Auftrag gab. Beckers’ Vermutung mag noch so bestechend sein, das Werk soll doch in den weiteren Kontext des 14. Jahrhunderts eingegliedert werden, zumal der Gerart van Rossiliun in der deutschen Literatur nicht vereinzelt steht: Abgesehen vom Karlmeinet (und der Schlacht von Alischanz), sind, wie ich es schon  Hartmut Beckers, „Der mittelniederdeutsche Prosaroman Gerhard von Roussillon. Versuch einer sprach- und literaturgeschichtlichen Einordnung“. In: Niederdeutsches Jahrbuch, Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung 1983 (106), S. 74– 95; das Zitat befindet sich auf S. 88 – 89.

2.1 Versliteratur

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hervorgehoben habe, nur Bearbeitungen von Chansons de geste auf uns gekommen, die zum Kreis der Empörergeste gehören, und zwar Reinolt von Montalban, Malagis und Ogier von Dänemark, die alle drei wohl für den pfalzgräflichen Hof in Heidelberg (also für einen hochfürstlichen Empfängerkreis) in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (1450 – 1460) aus dem Mittelniederländischen ins Deutsche übertragen wurden⁷². Diese Texte befanden sich laut Püterich von Reichertshausen (Ehrenbrief Str.98 ff.) – mit Ausnahme des Ogier – in der Bibliothek der Erzherzogin Mechthild von der Pfalz in Rottenburg.

Reinolt-von-Montelban-Dichtungen Die altfranzösische Empörergeste Renaut de Montauban, die um 1200 verfasst worden sein dürfte, erfreute sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in England, Spanien, Italien, in den Niederlanden, in Deutschland und in Skandinavien einer ungeheuren Beliebtheit, und zwar bis ins 20. Jahrhundert hinein, vornehmlich in der Form von Prosaauflösungen. Die französische Chanson erfuhr in der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts eine niederländische Bearbeitung, Renout van Montelbaen, von der nur Bruchstücke erhalten sind und die im 15. Jahrhundert in Prosa aufgelöst wurde: Es handelt sich um die Heemskinderen (frühester erhaltener Druck 1508)⁷³. Auf die zwei niederländischen Fassungen gehen dann die deutschen Behandlungen des Stoffes zurück. Nach der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde der Renout von einem Niederdeutschen für den Pfalzgrafen vom Rhein Friedrich den Siegreichen (reg.1449 – 76) oder für dessen Schwester Erzherzogin Mechthild (1418 – 86) in deutsche Verse übertragen. Die mhd. Übersetzung ist uns in zwei Heidelberger Handschriften erhalten (Cod. Pal. 340 und 399). Der Renout wurde auch gleichzeitig (vielleicht schon früher) in ripuarischen Dialekt übertragen: Das ist die Prosa Histôrie van Sent Reinolt .⁷⁴ Die niederländische Prosa der Heemskinderen (wohl schon in der Druckfassung von 1508) wurde 1604 verdeutscht.⁷⁵ Somit wurde die abenteuer-

 Zwischen 1476 und 1480 verfaßte Johann von Soest eine relativ freie hochdeutsche Bearbeitung des höfischen Versromans Heinric ende Margriete van Limburg. Es handelt sich um „Die Kinder von Limburg“ (um 1470). Siehe u. a. Xenja von Ertzdorff, Romane und Novellen des 15. und 16. Jahrhunderts in Deutschland. Darmstadt, Wissenliche Buchgesellschaft, 1989, S. 218 – 221.  Gerrit Siebe Overdiep, Die historie van den vier Heemskinderen, uitg. Naar den druck van 1508, Groningen, Wolters, 1931.  Hg. Von Al. Reifferscheid, ZfdPh 5 (1874), S. 271– 293.  Das deutsche Volksbuch von den Heymonskindern. Hg. von Fridrich Pfaff, Freiburg im Breisgau 1887. Paul von der Aelst, Die vier Heymons Kinder, Bern/ Frankfurt am Main/ New York 1986 (Bibliotheca Anastatica Germanica).

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liche Geschichte von den Haimonskindern, vornehmlich vom ältesten, Reinolt, mit seinem Zauberross Beyart, zum eigentlichen Volksbuch, das bis zum Ende des 18.Jahrhunerts mehrmals neu aufgelegt wurde. Die altfranzösische Versdichtung wurde im 15. Jahrhundert (mehrere Drucke von 1480 bis 1521) mehrmals in Prosa aufgelöst. Auf eine dieser französischen Prosaauflösungen aus dem Jahre 1521 geht aller Wahrscheinlichkeit nach die deutsche Prosa einer Aarauer Handschrift aus dem Jahre 1531 zurück, die dann Jhernimus zu Simmern 1533 in prachtvoller Ausstattung drucken ließ, unter dem Titel Buch der vier süne Aimonts. ⁷⁶ Doch erzielten sowohl die Aarauer Handschrift als auch der zu kostspielige Druck nicht den geringsten Erfolg, im Gegensatz zum Druck von 1604. Hauptthema der Dichtung ist wie in den übrigen Empörergesten die permanente Fehde zwischen dem König von Frankreich Karl, der die Erinnerung an drei verschiedene fränkische Könige verquickt (vornehmlich Karl Martell, aber auch Karl den Großen und Karl den Kahlen), und den Söhnen des Haymon, vornehmlich dem ältesten, Reinolt. Die Dichtung behandelt also das Thema der Auseinandersetzung zwischen dem Dienstherrn und König und dem Vasallen, zwischen der Zentralgewalt und der Partikulargewalt. Aber hier liegt die Schuld an der Auslösung des Konflikts zum ersten Mal in der französischen Heldenepik auf der Seite des Dienstherrn. Die Grundproblematik bleibt in den Nachfolgewerken im Großen und Ganzen die gleiche wie im altfranzösischen Werke.

a) Reinolt von Montelban oder die Heimonskinder Der Vergleich zwischen dem mhd. Text und den Fragmenten des mittelniederländischen Textes (Stadtbibliothek in Riga), die der Vorlage des hd. Bearbeiters weitgehend entsprechen könnten, ergibt, dass der mhd. Bearbeiter seine Vorlage relativ sklavisch übersetzt hat (es handelt sich um eine fast wörtliche Vers für Vers-Übertragung), dass er im Detail kaum Veränderungen angestrebt hat und keine ihm eigene Auffassung des Stoffes vertritt, so dass er wohl als Vertreter der mnl. Zwischenstufe betrachtet werden kann und die Interpretation des mhd. Textes gewissermaßen einer Interpretation des mnl. Epos gleichkommt.⁷⁷

 Die Haimonskinder in deutscher Übersetzung des XVI. Jahrhunderts, herausgegeben von Albert Bachmann, Tübingen, Hiersemann, 1895 (Bibliothek des litterarischenVereins in Stuttgart CCVI).  Vgl. Ute von Bloh, „Anders gefragt: Vers oder Prosa? ‚Reinolt von Montalban‘ und andere Übersetzungen aus dem Mittelniederländischen im Umkreis des Heidelberger Hofes. In: WolframStudien XIV. Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994. Hg. von J. Heinzle, L.Peter Johnson, G. Vollmann-Profe, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1994, S. 265 – 293.

2.1 Versliteratur

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Im afr. Renaut de Montauban ⁷⁸ liegt viel eindeutiger als in den übrigen Empörerepen und zum ersten Mal in der französischen Epik die Schuld an der Auslösung des Konflikts auf der Seite des Dienstherrn, d.i. Karl der Große, dessen Image vollkommen zerstört ist. ⁷⁹ Er trägt auch für die Fortsetzung des Krieges insofern die alleinige Verantwortung, als er allen Versöhnungsangeboten der Heymonskinder kein Gehör schenkt, deren echter Friedenswille unbestreitbar ist. Reinholt, obwohl er sich gegen seinen König mit Recht aufgelehnt hat und dessen Kampf als ein Kampf gegen den ungerechten König erscheint, betrachtet ihn aber weiterhin als seinen legitimen Dienstherrn, auch wenn er ihn als unwürdig erachtet und er berechtigt wäre, ihm die Lehnstreue aufzusagen. Darin liegt die ganze Tragik des Helden, eines Empörers, der sich trotz alledem seinem Dienstherrn gegenüber loyal verhält und ihm letzten Endes auch treu bleibt. Doch, obwohl er am Tod von Tausenden von Mannen völlig unschuldig ist, die im Laufe des Krieges gegen Karl gefallen sind, fühlt er sich verantwortlich dafür und fasst den Entschluss, sich von der feudalen Welt zurückzuziehen, in der der Gerechte keinen Platz mehr hat, und ein Büßerleben zu führen, um mit Gott Frieden zu

 Renaus de Montauban oder die Haimonskinder . Herausgegeben von Heinrich Michelant, Stuttgart 1862 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, LXVII); La Chanson des quatre fils Aymon, éditée par F.Castets (d’après le manuscrit. La Vallière), Montpellier 1909. Reprint: Genève, Slatkine, 1974; Renout van Montalbaen, herausgegeben von Hoffmann von Fallersleben, Breslau 1837 (In: Horae Belgicae Pars V); Renout van Montalbaen. Herausgegeben von Pieter Johan Jurriaan Diermanse, Leiden, Brill, 1939; Renout van Montalbaen, Uitgegeven, ingeleid en verklaard door D. van Maelsaeke, Antwerpen 1966 (Klassieke Galerij 156); Reinolt von Montelban oder die Heimonskinder. Herausgegeben von.Fridrich Pfaff, Tübingen 1885 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart, CLXXIV); Historie van Sent Reinolt, herausgegeben von Al. Reifferscheid, Zeitschrift für deutsche Philologie 5 (1874), S. 271– 293. De Historie van den vier Heemskinderen, uitgegeven naar den Druk van 1508 door G.S.Overdiep; Groningen/Den Haag, Wolters, 1931 (Groninger Bijdragen voor Taal- en Letterekunde I). Das Deutsche Volksbuch von den Heymonskindern. Herausgegeben von Friedrich Pfaff, Freiburg im Breisgau, Herder, 1887. Die Haimonskinder in deutscher Übersetzung des XVI.Jahrhunderts, herausgegeben von Albert Bachmann, Tübingen, Hiersemann, 1895 (Bibliothek des litterarischenVereins in Stuttgart CCVI). Les Quatre Fils Aymon ou Renaud de Montauban, Présentation, choix et traduction de Micheline de Combarieu du Grès et Jean Subrenat, Paris, Gallimard, 1983. Histori von den vier Heymonskindern, ausgewählt und eingeleitet von Peter Suchsland, in Deutsche Volksbücher in drei Bänden, Bd.3, Berlin und Weimar, Aufbau-Verlag, 1982 (Bibliothek deutscher Klassiker), S. 123 – 323 und 335 – 338. Leo Jordan: Die Sage von den vier Haimonskindern. In: Romanische Forschungen XX (1907), S. 1– 198. Siehe Danielle Buschinger, „Die vier Heymonskinder“. In: Heldensage – Heldenlied – Heldenepos. Actes du 2 ème colloque de la Reineke-Gesellschaft. 16 – 20 Mai 1991 à Gotha, Amiens 1992 (WODAN 12), S. 57– 71.  Siehe Sarah Baudelle-Michels, „La fortune de Renaut de Montauban“ . In: La tradition épique, du Moyen Age. Partie thématique sous la direction de François Suard. CRM n° 12, année 2005, Paris Champion, 2005, S. 106.

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2 Die erzählende Literatur

schließen und um seine Seele zu retten. Er verdingt sich als Arbeiter beim Dombau zu Köln und verrichtet die für einen Adligen entwürdigendste Arbeit – er schleppt Steine -, die von seiner vollkommenen Demut (humilitas), der christlichen Tugend par excellence, zeugt; er wird schließlich von den anderen, um ihren Arbeitsplatz besorgten Arbeitern erschlagen, und seine Leiche wird in den Rhein geworfen. Doch Gott vollbringt Wunder auf Wunder : durch Gottes Anweisung bringen Fische seinen Leichnam an die Oberfläche des Rheins, und letzten Endes schwebt Reinolts Sarg auf wunderbare Weise von allein nach Trémoigne (Dortmund), wobei die Glocken von selbst zu läuten beginnen. Der Mord an dem Gerechten wird als Märtyrium gedeutet, das aus ihm einen Heiligen macht. Das ihm von Karl zugefügte Unrecht macht aus Renaut einen Heiligen, eine Tatsache, von der aus das ganze Werk interpretiert werden soll. In Renaut de Montauban wird mit allem Nachdruck und stärker als im Girart ein propartikularer und antiköniglicher Standpunkt vertreten : Die Einheit von König und Vasall ist endgültig zerfallen, und zwar zugunsten des Vasallen. Das Königsbild ist durchgehend negativ gezeichnet, und es existiert keine mythische Idealität. Karl ist der stets ungerecht handelnde, rachsüchtige, hasserfüllte, grausame, tyrannische Herrscher, der seine Pflichten als Lehnsherr mehrmals verletzt und so zur Anti-Idealgestalt des Lehnskönigs wird. Des Königs Unrecht „übertrifft an Schwere somit alles königliche Unrecht früherer Epen“⁸⁰ und treibt letzten Endes Renaut zum Märtyrertod. Sofern Renaut dadurch zum Heiligen wird, sanktioniert Gott, dass das Recht auf Seiten des Vasallen liegt. Und Renauts Märtyrertod und Heiligsprechung ist im religiösen Bereich ein Triumph, der Karls politischen Sieg am Schluss in den Schatten stellt. Auch wenn die Einleitungsepisode des mhd. Reinolt von Montelban aus einer anderen Vorlage herkommt, ist die Grundproblematik im Grunde genommen die gleiche wie im afr. Werk. Selbst wenn Karl gewissermaßen zurücktritt und somit entlastet wird (das negative Karlsbild wird gemildert, und zwar in dem Maße, wie es auf Ludwig übertragen wird, der unwiderruflich den unerbittlichen Mechanismus von Gewalt und Gegengewalt in Gang setzt), bleibt die Karlsrolle weiterhin negativ: Karl wird bis zum Schluss von einer unerbittlichen Rachsucht getrieben, die ihn dazu veranlasst, die mit ihm blutsverwandten Heymonskinder mit seinem Hass zu verfolgen. Karls Ehr- und Rachsucht, sein Verlangen nach Satisfaktion, bestimmen all seine Taten, denn immer wieder bittet Reinolt mit aller Demut um Sühne, und jedesmal wird sein Anerbieten vom Kaiser zurückgewiesen, ja Karl befiehlt, die Brüder gefangen zu nehmen und aufzuhängen, was die Pairs, auf die Karl nie hört, missbilligen mit der Begründung, sie seien Karls Verwandte. Wäh-

 Karl-Heinz Bender, König und Vasall, S. 147.

2.1 Versliteratur

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rend sich Karl Reinolt gegenüber illoyal verhält, bleibt der Rebelle Reinolt immer treu und pflichtgetreu Karl gegenüber, den er wie in der afr. Chanson trotz alledem als seinen Herrn betrachtet (Ist Karl nit unser herre? 12612). Am Ende verzichtet Reinolt, um sich mit dem König auszusöhnen, nicht nur auf Beyart, der ertränkt wird, sondern auch auf seine Lehen, d. h. auf seine feudale, soziale Position (13014 ff.): Er scheidet dann aus der feudalen Welt. Und genau wie im afr. Werk schließt sich an die Empörergeste – mit geringfügigen Abweichungen, die aber den Grundgedanken nicht antasten – die Legende mit Martyrium, Wundertaten und Folgewundern. Durch die ungerechte Handlungsweise des Königs ist Reinolt zum Märtyrer und zum Heiligen geworden. Kurzum, im mhd. Text ist genau wie in der afr. Vorlage die propartikulare und antikönigliche Tendenz eindeutig.⁸¹ Doch die Kritik an der feudalen Gesellschaft und am König wird weitgehend entschärft. Es seien einige Beispiele angeführt: 1. Es wird nicht ausdrücklich gesagt, dass Karl im Unrecht und Reinolt im Recht ist, wie im afr. Werk (z. B. 356,1). Dies ist in der Handlung selbst nur unterschwellig. 2. In der Chanson fällt Gott selbst sein Urteil zugunsten der Heymonskinder, insofern als das Zauberross in der Maas ertränkt werden soll, eine Geste, die die Pairs als die eines Wahnsinnigen deuten (402,20), aber auf wunderbare Weise (mit Gottes Hilfe? cascuns Jhesu en loe 403,1) mit dem Leben davon kommt und in die Ardennen flieht, was einer weiteren Verurteilung des Königs gleichkommt und besagen könnte, dass der Kampf weitergeht. Im mhd. Reinolt dagegen geht das Ross unter, sobald es Reinolt nicht mehr sieht. 3. Die Spitze der Kritik an der feudalen Gesellschaft wird etwas entschärft, weil Karl trotz seiner Fehler unter dem Schutz Gottes bleibt⁸² – dies wird im Ogier von Dänemark (vers 16149 – 16153) bestätigt, aber besonders durch die Anhäufung von burlesken, parodistischen, schwankähnlichen Zügen bzw. Episoden⁸³. Es wird nämlich ein größeres Gewicht auf die Zauberergestalt des

 Peter Wunderli („Das Karlsbild in der altfranzösischen Epik“. In: Karl der Große in den europäischen Literaturen des Mittelalters. Konstruktion eines Mythos. Herausgegeben von Bernd Bastert. Tübingen, Niemeyer, 2004, S. 17– 37; insbesondere S. 30) betont nach Karl-Heinz Bender, König und Vasall. Untersuchungen zur Chanson de geste des XII. Jahrhunderts, Heidelberg 1967 (Studia Romanica 13), dass im afr. Renaut français, Charles ein Anti-Ideal geworden ist; er vertritt genau das, was ein Herrscher nicht sein darf. Man kann dasselbe vom mhd. Werk sagen.  Vgl. Bernd Bastert, „‚der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott‘: Karl der Große in der deutschen erzählenden Literatur des Mittelalters“. In: B. Bastert, Karl der Große…, op. cit., S. 145 – 146.  Es sei z. B. auf die Verse 5038 ff. hingewiesen, in denen eine Parodie des Grals zu erkennen ist: Malegys erzählt von einer Schale, die Christian heißt und aus der Christus am Gründonnerstag seine Apostel gespeist habe; wer aus der Schale eine Suppe nehme, werde von seinen Sünden

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2 Die erzählende Literatur

Malegys gelegt. Diese schwankähnlichen Erzählungen erheitern eine blutige Handlung, die bestimmt wird von Kampf, Ehr- und Rachsucht, ja sie tragen dazu bei, dass man diese Handlung nicht mehr so ernstnimmt. Darüber hinaus ist die Gestalt des Malegys zum Inbegriff der List bzw. der Intelligenz geworden und ein lebendiger Beweis dafür, dass man mit der Kraft der Intelligenz die rohe Gewalt, die die Probleme nicht zu lösen vermag, die sie hervorgebracht hat, sondern nur Gegengewalt bewirkt, bemeistern kann. Die Gestalt des Malegys wäre somit, wie Tristan etwa, der Typ des Kämpfers der Neuzeit, der die Intelligenz, die geistige Kraft als Waffe hat, im Gegensatz zum Ritter, der sich der Gewalt, der physischen Kraft bedient.

b) Der Prosaroman von den ‚Heymonskindern‘ Paul von der Aelst, ein Buchdrucker aus Deventer, veröffentlichte 1604 in Köln eine verdeutschte Fassung des niederländischen Volksbuchs, ⁸⁴ die wie andere Prosafassungen sich zunächst nicht an das Volk, sondern an Höfe und Adel richtete, die auch das Publikum der gereimten Romane bildeten. Für Reinolts Heiligengeschichte lehnte er sich offensichtlich an die Historie van sent Reinolt an.⁸⁵ Einige stichprobenartige Untersuchungen haben gezeigt, dass Paul von der Aelst sich prinzipiell getreu an seine nl. Vorlage gehalten hat, die er als Niederländer natürlich gut verstanden hat; so übernimmt er oft die Kapitelüberschrifiten. Doch übersetzt er meistens nicht wortwörtlich: Er sucht die gleiche Geschichte mit eigenen Worten zu erzählen, nimmt Verschiebungen, Zusammenfassungen und Kürzungen vor, seltener Erweiterungen und Zusätze. Zudem intensiviert er die Sentimentalisierung des Stoffes, die der Niederländer schon begonnen hat, so wird Beyart bei seiner Ertränkung ausdrücklich wie ein menschlicher Freund betrachtet. Der hochdeutsche Übersetzer nimmt überdies Anstoß an konkreten Details, z. B. daran, dass Frau Aye, die eben von ihrem Mann Heymon geschlagen worden ist, an der Nase und am Mund blutet (S.25/ S. 17). Und er streicht auch geographische Angaben, aber er fügt seinem Text genaue Datie-

rein. Schließlich isst Karl von dieser Suppe, um von seinen Sünden befreit zu werden, und er wäre ohne Gottes Hilfe (!) vom Ross gefallen.  Gerrit Siebe Overdiep, Die historie van den vier Heemskinderen, uitg. Naar den druck van 1508, Groningen, Wolters, 1931.  Hg. von Al. Reifferscheid, ZfdPh 5 (1874), S. 271– 293. Das deutsche Volksbuch von den Heymonskindern. Hg. von Fridrich Pfaff, Freiburg im Breisgau 1887. Paul von der Aelst, Die vier Heymons Kinder, Bern/ Frankfurt am Main/ New York 1986 (Bibliotheca Anastatica Germanica).

2.1 Versliteratur

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rungen hinzu, die er der Historie entnommen hat, was für seine Tendenz zur Historisierung zeugt. Andererseits hat er, im Gegensatz zum mnl. Bearbeiter, keinen Sinn mehr für die Sozialstrukturen des Mittelalters, z. B. versteht er nicht mehr die Anspielung auf die freien Allodien (lehensfreie Grundbesitze, frei von jeder Abgabe- und Dienstpflicht) (S. 22/ S. 15), was wohl zeigt, dass er einem anderen Zeitalter angehört und er ein Mensch der Neuzeit ist. Er hat auch kein Interesse für den feudalen Konflikt, der dem ganzen Stoff zugrunde liegt und der auch von der niederländischen Fassung stark in den Hintergrund getrieben wurde: seine Fassung ist nur noch ein Abenteuerroman. Aber was einem heutigen Leser am meisten auffällt, ist wohl der katholische Einschlag. Schon der Heiligenkult legt den Gedanken nahe, Paul von der Aelst sei Katholik gewesen, was z. B. dadurch bestätigt wird, dass Gebete oder die auf Religiöses hinweisenden Stellen, die im mndl. Text vorkommen, erweitert werden, oder dass hinzugefügt wird, dass Eheleute bei der Hochzeit eingesegnet werden (so S. 11 oder 56, wo noch präzisiert wird „nach Christlichen brauch“). Erwähnen wir noch, dass der Übersetzer moralisierend in den Text der Vorlage eingreift und Stellen streicht, an denen er als Erzkatholik wohl Anstoß genommen hat. Z. B. wird der Hinweis darauf, dass der Zauberer Malegys Liebes- und Buhlelieder singt, ausgelassen (er ersetzt S. 167 „liedekijns amoreus ende van minnen“ durch S. 155 „ein schönes Liedlein“). Nicht zuletzt sagt es der Autor selbst: S. 179 „Aber Gott der alle ding zum besten wendt, unnd die seinigen im waren Catholischen glauben nicht leßt under gehen, thut den Christen hülff unnd beystandt“ (vgl. S. 190 „mer God die alle dinc versiet ende den sinen inden noot niet en begheeft oft verloren laet, die seynde den Kerstenen hulp“). Als Reinolts Leichnam aus dem Rhein gezogen wird, läuten die Glocken von selbst, dem Heiligen zu Ehren und auch „zur aufferbawung des Christlichen Catholischen glaubens“ (S. 192). Außerdem wird die königliche Funktion überschwänglich gepriesen. So sollen Reinolts Brüder geschont werden, weil sie „doch von Königlichem blut sein, und ewere verwandten sein“ (S. 94); im mndl. Text steht nur S.105 „het is u vlesich ende bloet“: es wird also nur auf die verwandtschaftlichen Bande verwiesen. Besonders die Funktion des „Römischen Keisers“ wird hervorgehoben, so zum Beispiel schon auf dem Titelblatt: „zu zeiten Caroli Magni Kön: in Franckr. und ersten Rom. Keisers“, was immer wiederholt wird (so S. 195 „König Karlln der auch der erste Röm. Keyser war“). Darum wird auch auf das Zeremoniell am Hofe ein so großer Wert gelegt, oder auf den Titel der Personen (vornehmlich der Kaiser wird mit E.M angeredet), oder auf die Rangordnung (S. 28 „ein jeder noch seiner ordnung“). Die Verherrlichung des Amtes des römisch-deutschen Kaisers („dann er ist der Allerheiligste unnd aller Christlichste König von gantz Europa“ heißt es S. 29 in einem Zusatz im Zusammenhang mit König Ludwig) steht aber im Widerspruch zu dem Kontext, wo Ludwig sich auf so unwürdige und entwürdigende

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2 Die erzählende Literatur

Weise den Heymonskindern gegenüber benimmt, und überhaupt zu der Gesamthandlung, wo Kaiser Karl genau wie in der französischen chanson de geste oder im mhd. Versepos wegen seines ungerechten Verhaltens an der Auslösung des Konflikts schuldig ist und für alles Unglück verantwortlich ist. Das besagt wohl, dass es für den Übersetzer ein rein äußerer Schmuck war, ohne dass es für den Text eine tiefere Bedeutung hätte oder gar als eine Art politisches Bekenntnis aufgefasst werden könnte. Diese Verherrlichung der römisch-katholischen Kirche und des römischen Kaisers war vielleicht ein Mittel, den reformatorischen Kräften und Bewegungen, die im Reich die Oberhand gewannen (um die Mitte des 16. Jahrhunderts zählte die römische Papstkirche nur noch 3/10 der Bevölkerung in ihren Reihen), so wie der Auflösung der Reichseinheit durch die Reformation entgegenzuwirken, und es ist kein Zufall, dass die hochdeutsche Prosaübersetzung des Reinolt in Köln entstand, das „einen Eckpfeiler der katholischen Gegenreformation“ im Nordwesten bildete⁸⁶. 1582 versuchte Erzbischof Gebhard Truchsess von Waldburg aus privaten Gründen (er wollte heiraten) sein Kurfürstentum evangelisch zu machen; nun bestand die Gefahr, dass die umgebenden Bistümer, auch die westfälischen, mitgerissen würden. Dies brachte die katholische Partei in Köln, im Reich und im Ausland in Bewegung. Kurfürst Gebhard wurde abgesetzt und ein Wittelsbacher, Bischof Ernst von Freising, wurde zu seinem Nachfolger gewählt, und bis 1761 blieb Köln mit dem bayerischen Herzogshaus verbunden: „Damit war für die katholische Restauration in Nordwestdeutschland eine tragfähige Basis geschaffen“⁸⁷, und 1584 wurde in Köln eine ständige päpstliche Nuntiatur errichtet, womit die Stellung Köln als Hauptsstützpunkt des Katholizismus und der Gegenreformation in Norddeutschland durch Rom bekundet wurde⁸⁸. Übrigens wird Köln im hd. Text hoch gepriesen, als „heiligste und fürtrefflichste statt in gantz Teuschland“ (S. 187), was eine Steigerung, eine Hyperbole dem Text der Histôrie gegenüber darstellt, wo es heißt S. 288 „dê dâ ist eine huefstat alle des landes van Germânien“. Den deutschen Prosaroman von den Heymonskindern eine Streitschrift für den Katholizismus zu nennen, wäre wohl übertrieben, doch es ist nicht zu bestreiten, dass der Prosaroman zumindest ein Zeuge der Gegenreformation ist.

 Deutsche Geschichte. Bd. 3: Die Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus von den siebziger Jahren des 15. Jahrhunderts bis 1789. Berlin 1983, S. 248.  Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 2: Von der Reformation bis zum Ende des Absolutismus. 16. bis 18. Jahrhundert. Hg.von Herbert Grundmann, Stuttgart 1955, S. 122.  Handbuch der historischen Stätten Deutschlands. Bd. 3: Nordrhein-Wetsfalen. Hg. von Walther Zimmermann, Hugo Borger, F. von Klocke und Johannes Bauermann, Stuttgart 1963, S. 363.

2.1 Versliteratur

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c) Malagis ⁸⁹ Der Malagis -Stoff, der mit der Geschichte der Heymonskinder eng verbunden ist, tritt in der mittelalterlichen Literatur in verschiedenen Versionen auf, in der altfranzösischen chanson de geste Maugis d’Aigremont (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts), die in drei Handschriften zusammen mit den Quatre fils Aymon überliefert ist; in der altfranzösischen, nur handschriftlich überlieferten Prosafassung Maugis d’Aigremont, die gleichfalls in drei zyklischen Handschriften tradiiert ist; dem altfranzösischen Prosaroman Maugis(t), von dem wir 14 verschiedene Drucke vom 16. und 17. Jahrhundert kennen (der erste Druck entstand 1518 in Paris, der letzte 1660 in Troyes); in dem mittelniederländischen Versroman Madelgijs oder Malegijs (frühes 14. Jahrhundert), der durch den frühneuhochdeutschen (rheinfränkischen) Malagis vertreten ist (ca. 23500 Verse) – dabei handelt es sich um eine einfache Übersetzung aus dem Niederländischen, überliefert in zwei von einander abhängigen Handschriften (die in der Heidelberger Universitätsbibliothek aufbewahrten Codices Pal. germ. 340, wo sich im selben Codex sowohl Malagis als auch Reinolt befinden – Jahreszahl 1474 –, und Pal. germ. 315) und in 11 der 14 niederländischen Fragmente, die auf uns gekommen sind (ca. 3000 Verse); in der ergänzten niederländischen Versfassung, die durch drei niederländische Fragmente und das Malegijs-Volksbuch (1556) vertreten ist. Vom Prosaroman kennt man mindestens 15 verschiedene Fassungen vom 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie der Reinolt von Montalban oder Ogier von Dänemark – und ein Heinric ende Margriete van Limburg – wird der mittelniederländische Madelgijs in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunders (1450 – 1460) für den pfalzgräflichen Hof in Heidelberg (also für einen hochfürstlichen Empfängerkreis) ins Hochdeutsche übersetzt. Diese Texte befanden sich laut Püterich von Reichertshausen (Ehrenbrief, Str. 98 f.) in der Bibliothek der Mechthild von der Pfalz.

 Der deutsche Malagis . Nach den Heidelberger Handschriften cpg 340 und cpg 315 unter Benutzung der Vorarbeiten von Gabriele Schieb und Sabine Seelbach herausgegeben von Annegret Haase, Bob W. Th. Duijvestijn, Gilbert A.R. de Smet und Rudolf Bentzinger, Berlin, Akademie-Verlag, 2000 (Deutsche Texte des Mittelalters, LXXXII); B.W. Th. Duijvestijn, Bob W. Th., De Antwerpse Madelgijs fragmenten, Antwerpen 1983 (Publikaties van de Stadsbibliotheek en het Archief en Museum voor het vlaamse Cultuurleven 4). B. W. Th. Duijvestijn: Der deutsche und der niederländische Malagis. Eine vergleichende Studie. Diss. Gent (masch.) 1984– 1985 (Bd.1: Studie; Bd 2: Texte); G. G. Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung, Bd.2, S. 62– 68. Siehe auch Gilbert A. R. de Smet, „Der frühneuhochdeutsche Malagisroman im Umkreis der Heidelberger Umdichtungen“. In: Sprache und Literatur des Mittelalters in den Nideren Landen. Gedenkschrift für Hartmut Beckers. Hg. von Volker Honemann u. a., Köln/ Weimar/ Wien, Böhlau Verlag, 1999, S. 273 – 290.

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2 Die erzählende Literatur

Der Vergleich des hochdeutschen Malagis mit den niederländischen Fragmenten zeigt, dass der Übersetzer versuchte, seine Vorlage fast wortwörtlich zu übersetzen.⁹⁰ Die französische Chanson de geste bietet nur den Kern des Stoffes, und zwar die Jugendgeschichte des durch den – älteren – Renaud de Montauban bekannten zauberkundigen Verwandten der Heymonssöhne⁹¹. Sie beginnt mit der Geburt und der Trennung der Zwillinge Maugis und Vivien und endet mit dem Kampf und der Versöhnung der beiden Brüder und der Bekehrung von Vivien.⁹² Der französiche Dichter erzählt vor allem die zahlreichen Abenteuer von Maugis, die meisten davon im Dienste von heidnischen Fürsten. Er ist, wie es Alain Labbé⁹³ unterstreicht, der „Porte-étendard du camp de la révolte“ und „il pousse très loin la rebellion, ce dont Charlemagne a bien conscience puisqu’il fait de sa reddition la condition nécessaire à toute réconciliation.“ Maugis greift die kaiserliche Macht an, sodass er aus dem Weg geräumt werden muss. Die niederländische Kurzfassung, die durch den mittelhochdeutschen Malagis vertreten ist, lässt die Verszahl im Vergleich zur französichen Chanson um ca. 100 Prozent anschwellen: Gegenüber 9078 französischen Versen zählt das deutsche Epos mehr als 23000 Verse. Der niederländische Übersetzer erweitert besonders die Ausbildung des Magiers: die Magie nimmt einen sehr großen Platz im Werk ein und spielt eine wichtige Rolle in der Handlung. Beide Texte laufen parallel nur am Anfang; später gehen sie auseinander. Gegen Ende stirbt zwar Vivien, aber er lebt weiter in der Person seines Sohnes Aymijn (des späteren Vaters der vier Heemskinderen ). Der Versroman (und der deutsche Malagis) endet mit der Heirat von Aymijn mit Karls Schwester Aye und mit der Versöhnung zwischen Madelgijs und Karl. Der niederländische Prosaroman und einzelne niederländische Fragmente schließen weitere Erlebnisse von Madelgijs an. Am Schluss schlägt Madelgijs Aymijn zum Ritter und zieht sich zurück in eine Klause, in der er bleibt, bis die vier Söhne des Aymijn ihr abenteuerliches Leben beginnen. Aus der relativ kurzen Jugendgeschichte des Maugis ist in der deutschen Fassung ein weitschweifig erzählter Roman geworden, in dem sich Geschichten

 Für den Vergleich siehe die Einleitung zur Edition (S. LV-LXVI).  Siehe Bob Duijvestijn, „Er hett gelert und was eyn clerg gut/ von nygromancij. Die Zauberkunst im ‚Malagis ‘“. In: Sprache und Literatur des Mittelalters in den Nideren Landen. Gedenkschrift für Hartmut Beckers. Hg. von Volker Honemann u. a., Köln/ Weimar/ Wien, Böhlau Verlag, 1999, S. 67– 86.  Siehe die Zusammenfassung in Der deutsche Malagis . Nach den Heidelberger Handschriften CPG 340 et CPG 315…, S. XLII-XLIV.  „Enchantement et subversion dans Girart de Roussillin et Renaut de Montauban „. In: Chant et enchantement au Moyen Age, Toulouse 1997, S. 149.

2.1 Versliteratur

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über Heidenkämpfe, Orientfahrten, bis hin zu Auseinandersetzungen zwischen Malagis und Karl und die Liebesgeschichte zwischen dem Zauberer und der Fee Oriande befinden, deren Bruder Malagis in die Zauberkunst einweiht. Der deutsche Malagis liefert eine Art Vorgeschichte zum Reinolt von Montalban, da er die Lebensgeschichte Viviens, des Vaters Haymyns, sowie Haymyns Geburt und Lebensweg bis zur Hochzeit mit Karls Schwester erzählt. Er stellt auch die Ursprünge der Feindschaft zwischen Karl und der Heymonssippe dar. Doch die Ursache der Fehde ist ganz und gar romanhaft und nicht in historischer Wirklichkeit verwurzelt; außerdem ist Malagis, wie Gilbert de Smet unterstreicht, kein wirklicher Rebell, er ist „ein Dieb und Zauberer“ und „Karls nicht ablassender Hass gegen den trickreichen Zauberer ist auch nicht politisch bedingt und hat keinen Bezug zur Feudalität, sondern beruht lediglich auf den zauberkundigen Kunstgriffen“⁹⁴. Karl hat von Malagis’ Ruf als Zauberer gehört und bittet ihn, er möge ihm einzelne Griffe vorführen; Malagis willigt ein und er bittet durch Magie das königliche Paar und den ganzen Hof, sich zu entkleiden und tanzen zu gehen. Niemand kann sich dagegen widersetzen⁹⁵. Keine Gewalttat, kein Mord löst die Feindseligkeiten aus, sondern es sind einige Kunstgriffe, durch die er den König persönlich derartig beleidigt, dass letzterer dem Zauberer und seiner Sippe ewige Feindschaft schwört; Malagis schürt das Feuer, indem er Karl immer wieder lächerlich macht; ferner wird erzählt, wie es Malagis gelingt, mit Hilfe seiner Zauberkunst und nach einem schweren Kampf mit verschiedenen Monstern und mit dem Teufel Ramas das Ross Beyart zu gewinnen und es sich zu unterwerfen. Es gelingt Malagis, dem „larron-enchanteur“⁹⁶, durch Magie Karl und Roland in einen magnetischen, letargischen Schlaf zu zaubern und sie in die von Karl belagerte Stadt Montpellier zu entführen, in der Hoffnung, den König zur Versöhnung zu bewegen. Malagis kann seine Fesseln lösen; er kann verschlossene Türen öffnen; er kann sich in einen Teufel oder einen Engel, in Mahomet, in einen alten, kranken Pilger verwandeln, indem er sich seiner Kenntnis magischer Kräuter bedient. Wie Chundrie im Parzival kann er zahlreiche Fremdsprachen. Kurz nach seiner Geburt erhielt er

 Gilbert A. R. de Smet, „Der frühneuhochdeutsche Malagisroman im Umkreis der Heidelberger Umdichtungen“. In : Sprache und Literatur des Mittelalters in den Nideren Landen. Gedenkschrift für Hartmut Beckers. Hg. von Volker Honemann u. a., Köln/ Weimar/ Wien, Böhlau Verlag, 1999, S. 273 – 290, besonders S. 274.  Was die Magie anbelangt, so siehe insbesondere Bob Duijvestijn, „Er hett gelert und was eyn clerg gut/ von nygromancij. Die Zauberkunst im ‚Malagis ‘“. In: Sprache und Literatur des Mittelalters in den Nideren Landen. Gedenkschrift für Hartmut Beckers. Hg. von Volker Honemann u. a., Köln/ Weimar/Wien 1999, p. 68 – 86.  Philippe Verelst, „L’enchanteur d’épopée; prolégomènes à une étude sur Maugis“. Romanica Gandensia 16 (1976), S. 199 – 234. Zitiert von Bob Duijvestijn, S. 70.

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2 Die erzählende Literatur

einen magischen Ring, der ihn gegen alle Gefahren schützt, gegen den Hunger, den Durst, das Feuer, die wilden Tiere. Sein Freund Spiet verfügt gleichfalls über einen Ring, der ihn unsichtbar macht, wie Lunetes Ring im Chevalier au lion und im Iwein. Er praktiziert die magische Divination und kann den Teufel beschwören und ihn zwingen, sich seinem Willen zu fügen, wie er es in Paris aus Büchern gelernt hat. Gelegentlich führt er die Teufelsbeschwörung mit Hilfe Gottes oder der Heiligen Jungfrau durch. Die Zauberkunst wird zwar getadelt, besonders von Karl und Malagis’ nächsten Verwandten. Dennoch plädiert der Dichter selbst für die Anwendung der Magie, die für ihn vornehmlich die „weiße Magie“ ist, die für die gute Sache eingesetzt wird. Der Zauberer ist fähig, die Mächte des Übels zu beherrschen und sie zu manipulieren, um die Gerechtigkeit walten zu lassen.⁹⁷ Der Roman ist zwar von Grausamkeit, Blutdurst, Kampfsucht und Drang nach Rache beherrscht, doch ist die Darstellungsweise volkstümlich, abwechslungsreich, manchmal burlesk. Und vielmehr noch als im Reinolt von Montalban, denn hier handelt es sich um die Hauptperson des Romans, wird uns, wie Gervinus⁹⁸ es schon betont hat, die Vorherrschaft der „Weisheit“ vor der „Gewalt“ und der „geistigen Kraft“ vor der „physischen“ vorgeführt, der „Sieg des Gelehrtenadels über den bewaffneten“ dargestellt, anhand von z. B. der Gegenüberstellung der beiden Zwillingsbrüder Malagis und Vivien. In einem Disput zwischen beiden Brüdern (18226 – 18356) behauptet Vivien, dass es bei einer militärischen Aktion vor allem auf krafft und macht ankommt, auf die physische Kraft, während Malagis vorgibt, dass „wyßheit“ und „kunst“ die Eigenschaften sind, die den Menschen von allen anderen Kreaturen unterscheiden, und dass somit ihnen der Vorrang zukomme. Vyvien, von Malagis’ Interpretation überzeugt, gesteht ein : „Bruder, ich prise wicz vor macht“ (18359). Erwähnen wir ebenfalls die zahlreichen Zauberspäße, die in ähnlicher Form an verschiedenen Stellen des Romans immer wieder begegnen und durch die Malagis seine Gegner verulkt und mit der Kraft seiner Intelligenz überwältigt. In Verbindung mit der zentralen Rolle, die der Magie im Werk zukommt (sie erscheint sogar als vollwertiges Fach im Universitätsstudium, wie im Harry Potter!), werden die intellektuellen Fähigkeiten von dem niederländischen Adaptor positiv bewertet. Wie es Bob Duijvestijn richtig betont, bezeichnen das Wort „kunst“ und seine Synonyme „list“, „behendickeit“, „clerckij“, „zauberie“, „le-

 Sarah Baudelle-Michels, „La fortune de Renaut de Montauban „. In: La tradition épique du Moyen Age…, S. 109.  G. G. Gervinus: Geschichte der deutschen Dichtung, Leipzig, Engelmann, 1853, Bd.2, 4. gänzlich umgearbeitete Ausgabe, S. 66.

2.1 Versliteratur

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re“, „subtilkeit“, „wicz“, „wißheit“ als Übersetzungen vom lateinischen Wort „ars“, das sowohl die Wissenschaft als auch die praktische Fertigkeit⁹⁹ meint. Hier wird uns ein neuer Menschentyp dargestellt, eine Art Intellektueller, Gelehrter, der wohl durch den Bruder einer Fee in die Schwarzen Künste eingeweiht worden ist, doch auch einen richtigen Gelehrten als Oheim hat, und zwar Meister Yverd, der Magister an der Hochschule in Paris ist. Die Schwarzen Künste sind ihm gleichsam angeboren, und er verbessert seine Kenntnisse nicht nur bei seinem Onkel, sondern auch in Toledo. Durch seine Streiche und Späße nimmt Malagis gleichsam Eulenspiegel vorweg, und, indem es ihm sogar gelingt, den Teufel zu bezwingen, Faust. Im Malagis wurde auf viele Texte der Artesliteratur zurückgegriffen, auf zahlreiche didaktische Interpolationen und Exkurse, die überhaupt nichts mit der Geschichte des Malagis zu tun haben und zu denen im französischen Maugis jegliche Andeutung fehlt. Diese Exkurse enthalten „Belehrungen zu Themen des christlichen Glaubens, zur Naturkunde, zu Fragen der Moral und zum Verhalten in Liebesdingen“. ¹⁰⁰ Die Verdeutschung dieser so ausgerichteten Dichtung könnte möglicherweise ihre Ursache in der künstlerisch-intellektuellen Interessiertheit der Heidelberger Hofgesellschaft (und der benachbarten in Rottenburg, wo die Großherzogin Mechthild residierte, eine Tante des Pfalzgrafen Philipp) haben, in deren Rahmen sie entstand. Man schätzte in diesen höfischen Gesellschaften die mittelalterliche Vers- und Prosa-Erzählliteratur, aber auch die zeitgenössische Literatur, wie es der Katalog von Mechthilds Bibliothek, den Püterich von Reichertshausen¹⁰¹ aufgestellt hat, zeigt. Hartmut Beckers¹⁰² hat bewiesen, dass die niederländischen Texte durch die moselfränkischen Adelsgeschlechter vermittelt wurden.Vielleicht waren diese mittelniederländischen Texte schon ins Rheinfränkische übersetzt worden, bevor sie nach Heidelberg gelangten. In diesem Zusammenhang ist das Bemühen um die Herstellung eines zyklushaften Werkes im Sinne der Zeit zu verstehen. Nicht zuletzt kam es mit seiner abwechslungsreichen Handlung den Unterhaltungsbedürfnissen der Hofgesellschaft entgegen.

 Voir Bob Duijvestijn, „Er hett gelert und was edyn clerg gut/ von nygromancij. Die Zauberkunst im ‚Malagis ‘…, S. 69.  Siehe die Einleitung zu der Edition des Malagis (LII-LIV).  Siehe die Einleitung zu der Edition des Malagis (LXVII-LXX).  Hartmut Beckers, „Frühneuhochdeutsche Fassungen niederländischer Erzählliteratur im Umkreis des pfalzgräflichen Hofes zu Heidelberg um 1450/80“. In: Miscellanea Neerlandica. Opstellen voor Dr. Jan Deschamps ter gelegenheid van zijn 70. Verjaardag. Onder red. Van E. CockxIndestege, F. Hendrickx. Bd. 2, Leuven 1987, p. 237– 249.

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2 Die erzählende Literatur

Im Renaut de Montauban gewinnt Malagis an Wichtigkeit und er steht im Zentrum des Konflikts zwischen den vier Brüdern und König Karl, der am Schluss sich mit den Rebellen versöhnt, ausgenommen mit dem sympathischen Malagis, der ständig die gute, christliche Sache verteidigt und mit seinen Tricks seine Gegner lächerlich macht.

d) Ogier von Dänemark Es existieren mehrere französische Fassungen des Ogier le danois ¹⁰³: die erste, La Chevalerie Ogier de Danemarche,¹⁰⁴ wird in einer späten Handschrift einem Raimbert de Paris zugeschrieben und wurde gegen 1215 verfasst. Am Ende des 13. Jahrhunderts (gegen 1275) wird der erste Teil von Adenet li rois bearbeitet: es sind die Enfances Ogier. Um 1310 wird eine Fortsetzung in Zehnsilbenversen geschrieben, die offensichlich von spätmittelalterlichen Artusromanen beeinflusst worden ist, mit ganz neuen Abenteuern im Orient, dann in Avalon und schließlich in Frankreich zwei Jahrhunderte später; im 14. Jahrhundert (gegen 1335) wird Raimberts Ogier in Alexandrinern umgeschrieben; im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts wird die Alexandriner-Fassung zum Prosaroman umgestaltet (erste Inkunabel im Oktober 1496). Im 13. Jahrhundert gelangt der Ogier nach Norwegen, im 14. Jarhundert wird er in den Niederlanden und in Italien adaptiert; im 15. Jahrhundert wird er in Spanien nach französischer, in Deutschland nach mittelniederländischer Vorlage bearbeitet. Im Jahre 1534 veröffentlicht der Reformator Christiern Pedersen (1478 – 1554) eine dänische Prosa-Fassung nach einer französischen Vorlage, und der Held wird zum dänischen Nationalhelden, dieser Text wird wiederum 1571 von Conrad Egenberger von Wertheim ins Deutsche übersetzt. Von einem mittelniederländischen Ogier van Denemarken, dessen französische Vorlage unbekannt ist, sind nur vier Fragmente aus dem 14. Jahrhundert überliefert. Dieser mittelniederländische Roman wurde für den Pfalzgrafen in Heidelberg oder für dessen Schwester Mechthild, zusammen mit dem Renout und dem Madelgijs (beide im selben Codex enthalten) ins Hochdeutsche übersetzt.

 Für die französischen Texte siehe Emmanuelle Poulain-Gautret, La tradition littéraire d’Ogier le Danois après le XIIIe siècle. Permance et renouvellement du genre épique médiéval, Paris, Champion, 2005.  Chevalerie d’Ogier de Danemarche, La, canzone di gesta. Edita per cura di Mario Eusebi, Milano-Varese 1963.

2.1 Versliteratur

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Diese Übersetzung befindet sich in einer vollständigen Handschrift cpg 363 in der Heidelberger Universitätsbibliothek (datiert auf 1479).¹⁰⁵ Dem französischen Ogier liegt wie dem Girart oder dem Renaut der Konflikt zwischen König und Vasall zugrunde, d. h. zwischen Zentralgewalt und Partikulargewalt. Dennoch ist im einleitenden Teil noch der Vasall und nicht der König der Schuldige. Am Ende des 1. Teils ist die feudale Harmonie wieder hergestellt. Dank seiner im Heidenkampf vollbrachten Heldentaten gewinnt Ogier wieder die Gunst des Kaisers. Um sich gegen die Heiden zu verteidigen, zieht das vereinte Adelsheer unter Ogiers Führung gegen die Sarazenen und besiegt diese. Dennoch gibt es keine Spur mehr von einer Kreuzzugsideologie. Die Christen nehmen nicht mehr ausdrücklich das Kreuz, und die Gefallenen sind keine Märtyrer mehr. Der Kampf gegen die Heiden ist ein purer Abwehrkampf und die Christen haben nicht im Sinn, sie zum Christentum zu bekehren. Die Kriege gegen die Heiden haben die Funktion, den rebellischen Vasallen erneut in die Feudalgesellschaft aufzunehmen. Danach kommt es wieder zur Versöhnung zwischen Karl und Ogier, zwischen dem Lehnsherrn und dem Vasallen. Im Gegensatz zu den zwei anderen Rebellenepen, Girart und Renaut, wird im Ogier das Lehensverhältnis wieder in Kraft gesetzt, die Einheit von Königtum und Vasallentum und somit die Einheit der Feudalwelt wiederhergestellt. Die dichterische Intention ist hier auch eindeutig propartikular. Der Vasall hat sich als unentbehrlich für die Feudalgesellschaft erwiesen. Schließlich demütigt sich Karl vor dem Vasallen: Er hält ihm den Steigbügel. Dieser Handlungszug ist wohl eher Ausdruck eines Wunschtraumes der Feudalfürsten Frankreichs. Wie für die anderen Werke bleiben Grundgerüst und Ideologie des französischen Textes in der deutschen Übersetzung erhalten, deren Autor entschieden Partei für Ogier nimmt.¹⁰⁶ Dennoch wird wie im Reinolt von Montelban die Aufmerksamkeit des Lesers/Hörers etwas von der Hauptproblematik des Werkes abgelenkt. Ich verweise kurz auf folgende Punkte: 1. Eine Tendenz zur Vereinfachung und Linearität der Erzählung wird festgestellt. 2. Die Passagen, wo von Kämpfen und von Kriegen die Rede ist, der Kernpunkt des Heldenepos, werden erweitert (zum Beispiel mit topoi).

 Ogier von Dänemark nach der Heidelberger Handschrift Cpg 363, herausgegeben von Hilkert Weddige in Verbindung mit Theo J. A. Broers und Hans van Dijk, Berlin, Akademie Verlag, 2002 (Deutsche Texte des Mittelalters, 83).  Ogier von Dänemark nach der Heidelberger Handschrift Cpg 363, herausgegeben von Hilkert Weddige in Verbindung mit Theo J. A. Broers und Hans van Dijk, Berlin, Akademie Verlag, 2002 (Deutsche Texte des Mittelalters, 83). Für den Vergleich mit der französischen Überlieferung siehe die Einleitung zu dieser Ausgabe, S. XLIII-XLIX.

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3.

4. 5.

2 Die erzählende Literatur

Man begegnet Motiven des Artusromans. Die ritterlichen aventiuren im Sinn des Artusromans sind zahlreicher als in der Chevalerie Ogier. Am Ende aller seiner aventiuren fährt Ogier abermals ins Blaue und besiegt einen geheimnisvollen Unbekannten, nachdem ein schariant stoltz/starck und von großer maht (v. 23693 – 4) ihm den Weg gewiesen hat, genau wie der Waldmensch in Chrétiens und Hartmanns Iwein. Dennoch wird die Passage, in der Ogiers Aufenthalt bei der Fee Morgue in Avalon erzählt wird und wo von Artus die Rede ist, nicht wieder aufgenommen. Die Kampfhandlungen werden aber nicht mit einer Minnehandlung verbunden, wie im Artusroman. Nach der entscheidenden Schlacht gegen Broyer verliebt sich Ogier in eine englische Prinzessin und kämpft für sie, wenn er die jungfrauwe sere begert (v.19554), was das Ganze banalisiert. Passagen aus dem Reinolt, für den selben Auftraggeber geschrieben, werden in den Ogier eingefügt. Der Haupthandlung wird ein Nachtrag von 50 Blatt angehängt (ein Achtel vom gesamten Werk), wo es um eine Pilgerfahrt Ogiers nach Rom, dann nach Palästina geht, voller überraschender Wendungen, teilweise burlesker, ja grotesker Wendungen (Ogier wehrt sich gegen seine Feinde mit einer Tischplatte, und eine Frau bringt ihn zu Fall, indem sie Erbsen vor seine Füße schüttet, so dass er mit zwei Gesellen gefangen genommen wird). Es geht auch um die Schlacht Karls gegen Broyer d. Jg. und um seinen Sieg. Die Heiden werden besiegt und ergreifen die Flucht. Ogier kehrt nach Frankreich zurück, wo er von Karl mit allen Ehren empfangen wird. Bis zu seinem Tod steht er der Christenheit bei; dann sendet Gott ihm einen Engel, und er stirbt als Heiliger.

Dies alles zeugt von dem Willen des Adaptors, sein Publikum zu unterhalten. Außerdem sei betont, dass man gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Deutschland, als 1479 das Heldenepos um Karl in einer deutschen Versübersetzung über das Niederländische aus dem Französischen kommt, bei der handschriftlichen Überlieferung bleibt, während in Frankreich ein neues Medium sich des Textes bemächtigt, indem 1496 eine Prosaauflösung des Ogier durch den Buchdruck in Umlauf gebracht wird.

2.1.1.5.5 Abschließende Überlegungen a) Zur literarischen Gattung Die Adaptation von französischen Chansons de geste ins Deutsche kann eine Mode gewesen sein, da diese Textsorte in Frankreich sehr beliebt war. Einerseits handelt es sich um Heldenepen, in denen uns Helden gezeigt werden und eine

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heldenepische Ideologie vorgeführt wird (Mut, Treue, Kampf gegen die Feinde der Feudalherren, aber auch Rebellion gegen die eigenen Herren). Aber, wie man es in Frankreich am Ende des Mittelalters beobachten kann, ist der Anteil am Romanhaften sehr groß. Andererseits ist ihre Form nicht mehr die der Heldenepen des Hochmittelalters (vornehmlich die Strophenform): Diese Werke sind wie die höfischen Romane in paarweise gereimten Achtsilbern und sogar in Prosa abgefasst. Die Werke der Elisabeth von Nassau-Saarbrücke sind echte signierte Romane.

b) Finalität und Funktion Während der Karlmeinet von Gönnern in Auftrag gegeben wurde, die mit Hilfe der Karlspropaganda die Position deutscher Kaiser (sowohl Ludwigs des Bayern als auch Karls IV.) festigen wollten, sind die Mäzene der Bearbeitungen von Rebellenepen mit ihren propartikularen Tendenzen eher unter den partikular orientierten Fürsten zu suchen. Mit Ausnahme von Girart, zu einer Zeit geschrieben (13./14. Jahrhundert), wo Rudolf von Habsburg und Albrecht I. eine verstärkte Zentralmacht anstrebten und auf den Widerstand der deutschen Fürsten stießen, die schließlich sich durchsetzen konnten (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts), war die Problematik der anderen Werke nicht mehr politisch aktuell. Die „Goldene Bulle“ (1356) stärkte die Territorialmacht. Die kaiserliche Macht ist von nun an ohnmächtig. Man könnte zwar Girart als eine Hymne zum Lob des Rebellen schlechthin, Heinrichs des Löwen betrachten, geschrieben im Auftrag von Albrecht dem Großen und von dessen Söhnen, und der Pfalzgraf hätte den Auftrag gegeben, den Reinolt oder den Ogier ins Hochdeutsche zu übersetzen, um sich selbst zu inszenieren: Er wollte dadurch den Beweis für sein persönliches Prestige erbringen. Zu einer Zeit, wo die Türken Konstantinopel eingenommen hatten (im Jahre 1453) könnten Ogiers Siege über die Türken und die Befreiung Jerusalems durch Reinolt am Ende des Werkes noch mehr als Träume erscheinen als zur Zeit, wo die französischen Werke geschrieben worden sind. Die Bearbeitung von französischen Werken war eine Mode. Doch bestand die Hauptfunktion dieser Werke, die gleichfalls vom typischen Eifer des Sammlers zeugen, darin, ein breites aristokratisches Publikum durch eine an überraschenenden Wendungen reiche Handlung zu zerstreuen, und in diesem Rahmen soll man den Willen sehen, ein zyklisches Werk im Geschmack der Zeit zu schreiben. Und wenn unter diesen Werken Reinolt durch ganz Europa den größten Erfolg erzielt hat und in Prosa aufgelöst worden ist, und dies sowohl in Frankreich als auch in den Niederlanden und in Deutschland, hängt dies nicht nur mit der bewegten Handlung zusammen, sondern auch mit den vielen verschiedenen Tricks, die dem Magier Malegys erlauben, die Gegner der Haymonsbrüder durch

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2 Die erzählende Literatur

seine Intelligenz zu betrügen und zu überlisten. Diese Intelligenz ist das Zeichen einer neuen Ära und tritt an die Stelle der brutalen Kraft, und erklärt die rege Anteilnahme des Autors an dem Schicksal der Empörer, deren Rebellion als Rebellion gegen jegliche Tyrannei interpretiert werden kann.

2.1.2 Die „matière de Rome“. Ein Beispiel: Der Alexanderroman 2.1.2.1 Französische Alexanderromane des 12. und 13. Jahrhunderts Der deutsche Alexanderroman ist das erste Beispiel für den Einfluss der altfranzösischen Literatur auf die Herausbildung der deutschen Epik. Aus diesem Grunde kommt ihm eine große Bedeutung zu. Die um 1100 – 20 entstandene Dichtung des Alberic de Pisançon¹⁰⁷ (Bisinzo? Briançon? Besançon?) ist die älteste volkssprachige, nur bruchstückhaft erhaltene Dichtung um die Gestalt des sagenumwobenen Griechenherrschers; die wichtigsten Quellen Alberics waren Julius Valerius, die lat. Historiker Justinus und Orosius, vermutlich die J1-Rezension der „Historia de Preliis“ und vielleicht ein interpolierter Quintus Curtius¹⁰⁸. Alberic erzählt Alexanders Jugendgeschichte und seine Taten wahrscheinlich so weit wie sein mhd. Nachdichter bis zum Sieg Alexanders über Darius und Darius’ Tod¹⁰⁹. Davon erhalten sind nur 105 Achtsilber vom Anfang des Werks in francoprovenzalischer Mundart. Auf Alberics Dichtung fußt der französische „Zehnsilber-Alexanderroman“ („Alexandre décasyllabique“ - ADéca – etwa 1160 – 65), der in zwei Handschriften, A (Paris, Arsenal Ms. 3472, frühes 13. Jahrhundert) und B (Venedig, Museo Civico Correr VI,665, erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) überliefert ist. Beide geben nicht die Originalfassung wieder und sind nicht direkt voneinander abhängig¹¹⁰. Der erhaltene Teil reicht nur bis zum Sieg des eben erst voll waffenfähigen Alexander über den König Nicolaus von Caesarea. Der ADéca geht auch auf Julius Valerius und die Rezension J1 der HdP zurück. Die Handschriften A und B schließen an die

 Ulrich Mölk, „Alberics Alexanderlied“. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hg. von Jan Cölln, Susanne Friede und Hartmut Wulfram unter Mitarbeit von Ruth Finckh, Göttingen 2000, S. 21– 36.  George Cary, The medieval Alexander, Cambridge 1956, S. 27.  So zuletzt Mölk, „Alberics Alexanderlied“, S. 24 f.  Cola Minis, „Über die ersten volkssprachigen Alexander-Dichtungen“. In: ZfdA 88 (1957– 1958), S.38. Siehe auch Martin Gosman, „Le ‚Roman d’Alexandre‘ et ses versions du XIIe siècle. Une réécriture permanente.“. In: Bien dire et bien aprandre. Revue de Médiévistique. Centre d’Etudes médiévales et dialectales de Lille III N° 13, S. 7– 23.

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ca. 800 Verse des ADéca den Text des Zwölfsilber-Alexanderromans an¹¹¹. Um 1170 entstehen drei Werke in Zwölfsilbern, „Le Fuerre de Gadres“ von einem gewissen Eustache, eine Aufschwellung einer in der Rezension J3 der HdP kurz erwähnten Episode¹¹²: Bei der Belagerung von Tyrus sei Alexander seinen Leuten zu Hilfe gekommen, die zur Beschaffung von Lebensmitteln (fuerre) ausgerückt und von Gegnern abgefangen worden waren. Weit umfangreicher ist der „Alexandre en Orient“ des Lambert le Tort, der wahrscheinlich auf der Valerius-Epitome und dem Brief Alexanders an Aristoteles über die Wunder Indiens fußt und den Sieg über Darius und dessen Tod sowie die Fahrt Alexanders in den Orient und andere wunderbare Abenteuer erzählt (z. B. die Blumenmädchenepisode, den Jugendbrunnen, Gog und Magog und die Amazonen). Ein etwa gleichzeitiges Gedicht, ein anonymer „Mort d’Alexandre“, berichtet die Vergiftung des Helden. Davon hat sich nur ein Bruchstück von acht Laissen in der Hs. A erhalten¹¹³. Die beiden anderen Texte kennen wir aus der afrz. Fassung des Alexanderromans, die zur Vulgata geworden ist, weshalb beide nur in stark überarbeiteter und erweiterter Form vorliegen. Diese Fassung schuf um 1180 – 1185 Alexandre de Paris, geboren in Bernay (Normandie), vermutlich selbst bereits fußend auf einer älteren Kompilation der genannten Zwölfsilberdichtungen. Er verwendete nicht nur die französischen Texte seiner Vorgänger als Rohmaterial, sondern fügte auch übersetzte Passagen aus lateinischen Texten ein. Dieser ebenfalls in Zwölfsilbern abgefasste „Roman d’Alexandre“ (AdP) ist sehr reich überliefert – die Herausgeber von 1937 sprechen von 17 Hss. (Haupthandschriften M, Paris, B. N. fr. 24365, und G, Paris, B. N. fr. 25517). Sein Zwölfsilber-Versmaß heißt seitdem „Alexandriner“. Der Roman von ca. 16000 Versen erlebte noch zwei Fortsetzungen, die auf freier Erfindung beruhen und in denen erzählt wird, wie Alexander an seinen Mördern gerächt wird: Die eine, „La Venjance Alixandre“, hat Jean le Nevelon (um 1180) geschrieben, die zweite, „Le Vengement Alixandre“, stammt von Gui de Cambrai (vor 1191). Parallel zu diesen Fassungen, ohne dass festzustellen wäre, ob er sie gekannt hat oder nicht, schreibt Thomas von Kent einen anglonormannischen Alexanderroman, den er „Roman de Toute Chevalerie“ betitelt (um 1175). Der „Alexanderroman“ Alexandres de Paris besteht aus vier „Branches“ (Teilen). Branche 1: Geburt des Helden; Widerruf der Legende, nach der er der Sohn des Nectanebus sei; Alexanders Traum und Deutung durch die Magier; Erziehung;  Alexandre de Paris, Le Roman d’Alexandre. Traduction, présentation et notes de Laurence Harf-Lancner (avec le texte édité par E.C. Armstrong et al.), Paris 1994 (Lettres Gothiques), S. 20.  George Cary, The medieval Alexander, S. 30.  Catherine Gaullier-Bougassas, Les Romans d’Alexandre. Aux frontières de l’épique et du romanesque, Paris 1998 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age), S. 10, 12 und 227– 228.

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Alexander tötet Nectanebus; er zähmt das Pferd Bucéphale; diese Zähmung stellt vor der Schwertleite einen Initiationsritus dar, der die Aufnahme des Helden in das Mannesalter kennzeichnet; Schwertleite; Nikolaus-Krieg und Sieg Alexanders; Belagerung Athens; Alexander hindert seinen Vater daran, Olympia zu verstoßen. Darius verlangt Alexanders Unterwerfung; Alexanders beschließt, Darius zu bekriegen; das makedonische Heer setzt sich in Bewegung; der König zerstört eine feindliche Festung; erster Teil der Belagerung von Tyrus. Branche 2: Alexander sendet 700 Mann, um Lebensmittel zu beschaffen; diese werden von Feinden angegriffen; keiner will die Stätte verlassen, um Alexander zu benachrichtigen; der Kampf beginnt: die Lage der Makedonier wird schwierig; Alexander wird benachrichtigt, kommt seinen Mannen zu Hilfe; alle kehren nach Tyrus zurück; die Stadt wird erobert; in der Schlacht verwundet, ergreift Darius die Flucht; Alexander verfolgt ihn. Branche 3: Darius versucht, neue Truppen aufzubieten, vergebens; er wird von seinen eigenen Leuten ermordet; Alexander lässt die Mörder hinrichten; er will nun die Meeresgründe erforschen; erste Schlacht gegen Porus; als sie das geheimnisvolle Indien betreten, werden die Makedonier mit einer gefährlichen Tierwelt konfrontiert; Alexander gewinnt die zweite Schlacht gegen Porus, der zu seinem Vasallen wird; Alexander verjagt die Völker Gog und Magog und sperrt sie hinter einer hohen Mauer ein; das Heer betritt die Wüste; Herkules’ Säulen; le Val périlleux (das gefährliche Tal, ohne Wiederkehr); das Heer begegnet neuen Gefahren; die Blumenmädchen; das Orakel der Sonne und des Mondes kündigt Alexanders Tod an; Porus rebelliert und wird getötet; Alexander trifft die Königin Candace und lernt die Liebe kennen; er hilft einem der Söhne der Königin; dann zieht er nach Babylon, wo er sich zum König krönen lassen will; er unterbricht die Reise, um eine Luftfahrt zu unternehmen; das Heer setzt seinen Marsch fort; Alexander tötet, nach schweren Kämpfen, den Emir von Babylon, der Widerstand leistete, und nimmt die Stadt ein. Bevor er gekrönt wird, will Alexander das Reich der Amazonen unterwerfen; die Königin der Amazonen erkennt ihn als Lehnsherrn an. Branche 4: Krönung Alexanders in Babylon; Vergiftung des Königs; der Leichnam wird nach Alexandria gebracht. Der Form nach ist der AdP mit der Gattung der Chanson de geste verwandt, ist er doch in epischen Laissen abgefasst (Versreihen unterschiedlicher Länge mit gleicher Assonanz). Alberic hatte die Achtsilber-Laisse verwandt; sein Gedicht wurde dann in die zehnsilbige und schließlich von Alexandre de Paris in die zwölfsilbige Form (Alexandriner) umgestaltet. So befindet sich das Werk des Alexandre de Paris an der Grenze zwischen Heldenepos und Roman, wie es der Untertitel von Catherine Gaullier-Bougassas’ Buch besagt: Les Romans d’Alexandre. Aux frontières de l’épique et du romanesque. Ebenso wie bei der Bearbeitung

2.1 Versliteratur

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der altfranzösischen Chanson de Roland durch Konrad, verwenden die deutschen Bearbeiter den Reimpaarvers mit vier Hebungen; andererseits ist der Erzählstoff in Absätze gegliedert, die in der einzigen erhaltenen vollständigen Handschrift P (Heidelberg) durch eine Initiale gekennzeichnet sind und auf ein rîme samenen (Reimbindung) enden. Diese Form wird auch die des deutschen arthurischen Romans sein.

2.1.2.2 Der deutsche Alexanderroman: Vorauer, Straßburger und Basler Alexander Alberics Dichtung wurde nach 1150 von einem wohl aus Trier stammenden Kleriker namens Lamprecht in die deutsche Sprache übertragen. Diese Dichtung, die in einer älteren (originalnahen) Vorauer Fassung AV (um 1160, überliefert in Vorau, Cod. 276, 4. V. 12. Jh.) auf uns gekommen ist, bricht mit der zweiten Perserschlacht und dem Tode des persischen Königs Darius ab (er fällt durch die Hand Alexanders). Die zahlreichen Übereinstimmungen, die nach Inhalt und Reihenfolge zwischen AV auf der einen und ADéca und AdP auf der anderen Seite (z. B. in der Tyrus-Episode) bestehen, erlauben den Schluss, dass alle drei Dichtungen direkt oder indirekt auf dieselbe Vorlage zurückgehen, und zwar auf Alberics Text. Der deutsche „Alexanderroman“ ist das erste Beispiel für den Einfluss der altfranzösischen Literatur auf die Herausbildung der deutschen Epik. Aus diesem Grunde kommt ihm eine große Bedeutung zu. Es ist davon auszugehen, dass AV kein Fragment ist, wie viele Forscher behaupten, sondern vollendet worden ist. Am Anfang seiner Kriegszüge ging es dem Helden nur darum, sich vom Zins zu befreien, der seinem Vater aufgezwungen worden ist, und er räumte, um zu seinem Ziel zu kommen, alle aus dem Wege, die Darius unterstützten. Das letzte, ebenfalls gewaltsam beseitigte Opfer ist Darius selbst. Nun möchte ich einen Vergleich zwischen dem französischen Zehnsilber- und dem Zwölfsilber-Alexanderroman einerseits und der Vorauer Fassung des deutschen Alexanderromans andererseits anstellen; ich werde aber andere Fassungen nicht ausschließen. Ich werde zu diesem Zweck die Tyrus-Episode untersuchen, bei der Alexandre de Paris wahrscheinlich „Alberich-Material“ verwendet hat¹¹⁴; nach Paul Meyer¹¹⁵ hat ihm Quintus-Curtius den allgemeinen Rahmen für die  Vgl. Christoph Mackert, Die Alexandergeschichte in der Version des Pfaffen Lambrecht. Die frühmittelhochdeutsche Bearbeitung der Alexanderdichtung des Alberich von Bisinzo und die Anfänge weltlicher Schriftepik in deutscher Sprache, München, Wilhelm Fink, 1999, S. 69.  Paul Meyer, Alexandre le Grand dans la littérature française du Moyen Age, Genf, Slatkine, 1970 (Reprint), S. 153.

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Tyrus-Episode geliefert. Die Eroberung von Tyrus (um –332) wird in der deutschen Überlieferung vollständig nur von V 700 – 1018 und B 999 – 1284 erzählt (S 959 – 1421 ist lückenhaft, es fehlt ein Blatt; somit fehlen in S V 700 – 728). Für den Vergleich gehe ich von Lamprechts Text aus, den ich untersuchen werde, ohne auf die Sekundärliteratur zurückzugreifen – was im Rahmen dieser Arbeit nicht zu bewältigen wäre. Tyrus ist eine ruhige Stadt, die – im Gegensatz zu anderen – Alexander nie einen Schaden zugefügt hat.Warum will Alexander sie erobern? Es scheint keinen wirklichen Grund dafür zu geben. Christoph Mackert sieht in der Tyrus-Episode eine Kritik des Dichters an Alexander, den er der ubermütecheit bezichtigt, „die ihn zur Zerstörung von Tyrus veranlasst habe“. Darüber hinaus wird Alexanders Vorgehen gegen die Stadt als „ungerechtfertigt dargestellt“¹¹⁶. Der Kritiker konstatiert eine „Auflösung der sapientia et fortitudo-Einheit […], die von Lambrecht in diesem Abschnitt der Erzählung narrativ dargestellt und reflektiert“¹¹⁷ werde. Ich selbst bin der Meinung, dass man die Tyrus-Episode in den allgemeinen Verlauf der Alexander-Handlung einbetten muss, und ich werde versuchen, eine positive Wertung der Alexander-Gestalt herauszuarbeiten und zu rechtfertigen. Es gibt wohl Stellen im Text, wo Lamprecht an Alexander Kritik zu üben und für Tyrus und die Tyrer Partei zu nehmen scheint und die Mackerts Urteil rechtfertigen könnten (so V 847– 850). Es wird eine Offensive der Tyrer auf ein griechisches castel erzählt, d. h. ein befestigtes Vorwerk, das die burgâre von Tyrus in Brand stecken und zerstören; viele Griechen kommen dabei ums Leben. Es gelingt aber den Belagerern, alle Angreifer zu töten, zweihundert an der Zahl. Man kann nicht behaupten, das Verhalten der Tyrer sei „fair“ gewesen, haben sie doch die Griechen in Alexanders Abwesenheit angegriffen – er befand sich im Libanon, um seine Leute zu schützen, die Bäume fällten, um daraus Kampftürme zu bauen (V 819 – 820). Die Tyrer, die als stolz unt balt (V 825), übermütig und verwegen, bezeichnet werden, haben also heimtückisch die Gelegenheit wahrgenommen, den Ausfall zu unternehmen und das griechische castel zu zerstören. Es wird hinzugefügt, dass sie sich ubirmutechliche an Alexander rächen. Das Wort ubirmutechliche wird hier von Mackert als „Haltung des Wagemuts und des Vertrauens auf die eigene Durchsetzungsfähigkeit“ positiv gewertet. Der Kritiker wertet also dasselbe Wort negativ, wenn es Alexander betrifft, aber positiv, wenn von den Tyrern die Rede ist, was meiner Meinung nach etwas willkürlich ist.

 Christoph Mackert, Die Alexandergeschichte…, S. 262.  Christoph Mackert, Die Alexandergeschichte…, S. 297.

2.1 Versliteratur

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Als Alexander bei der zweiten Offensive auf Tyrus,¹¹⁸ bei der zahlreiche Kämpfer fallen, unter ihnen viele seiner eigenen Kämpfer, wird er noch mehr zum Weiterkämpfen angestachelt (V 870 – 873). Diese Verse werden von Mackert wiederum negativ gewertet.¹¹⁹ Dieses Urteil kann man wohl umkehren und diese Verse so verstehen, dass der Tod seiner eigenen Leute ihn mit Wut erfüllt, so dass er sie rächen will, zumal der Furor positiv gesehen werden kann, man denke z. B. an den furor teutonicus, die Wut der Berserker. In der Tat, Alexander lässt nun die Kampftürme an die Stadt heranbringen und greift an. Er durchbohrt mit dem Speer den Herzog, der über Tyrus gebietet (V 899 – 900), und springt als erster auf die Zinnen, um die Stadt zu erobern (V 905), gefolgt von viertausend seiner Krieger. Einhundert von ihnen kommen dabei ums Leben. Chr. Mackert interpretiert dies wieder negativ.¹²⁰ Dies könnte aber positiv bewertet werden, denn man könnte meinen, dass, während seine Leute sich ihm als unterlegen erweisen, weil ihnen der Sprung nicht gelingt, Alexander sich als vorbildlicher Kämpfer erweist, der sich als erster in den Kampf stürzt (diese Interpretation wird sich später bewahrheiten). Zwei Punkte scheinen jedoch bedenklich zu sein : ‒ Dies sind zuerst die beiden Verse 931– 932: Alexander ist der einzige, der keinen jâmer angesichts der vielen Toten empfindet. Aber nirgends wird im Kontext ausdrücklich gesagt, die Toten seien seine Krieger; es könnten die Gegner sein, die beim Niederreißen der Mauern umkommen (V 917– 918) und die im bitteriste(n) strît, den der Erzähler je erlebt hat, gefallen sind, was ein Topos der Schlachtschilderungen ist (V 920 – 921). Dazu tut der wunderlîche Alexander (V 932) im Kampf Wunder: er vollbringt Heldentaten und erschlägt viele Gegner (V 932– 933) – das Adjektiv wunderlîch(e) kann ja positiv gewertet werden, steht doch der wunderlîche Alexander (V 45) für Alexander magnus bei Alberic (v. 17), also für „Alexander der Große“¹²¹. Endlich wird von den chûnen von Tyre gesagt, dass sie alsô wildiu swîn kämpfen, weil sie sich ihrer Gegner erwehren und am Leben bleiben wollen: Aus diesem Grunde kann man wohl sagen, dass es wahrscheinlich ist, dass die Toten Feinde sind. Und es wird von keinem Krieger verlangt, Mitleid mit Feinden zu haben. Christoph Mackert zieht aus seiner angeblichen „Gleichgültigkeit gegenüber

 Genau wie Eilhart von Oberg in der Schlacht-um-Kahares-Episode schöpft Lamprecht hier aus einem Schatz von Topoi, die in Schlachtschilderungen anzutreffen sind.  Christoph Mackert, Die Alexandergeschichte…, S. 285.  Christoph Mackert, Die Alexandergeschichte…, S. 286.  Vgl. Trude Ehlert, Deutschsprachige Alexanderdichtungen des Mittelalters. Zum Verhältnis von Literatur und Geschichte, Frankfurt am Main-Bern-New York-Paris, 1989, S. 63 ff. Siehe auch der wunderlîche got Er. 8297 (BMZ, Bd. 4, Sp. 815b).

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den unzähligen Toten aus den eigenen Reihen“ den Schluss, dass Alexander ichbezogen sei und jede gesellschaftliche Verantwortung ablehne, ein Eindruck, den der Kritiker durch die Beschreibung von der brünne des Helden bestätigt findet¹²². Man soll es jedoch Alexander nicht zum Vorwurf machen, dass er eine Brünne trägt, die in eines wurmes blut (im Drachenblut) gebeizet und dass seine Rüstung hurnen ist (933 – 34 und 937); nie hat man Gahmuret vorgeworfen, einen Diamanthelm zu tragen (105,20), der nur durch Bocksblut weich gemacht werden kann (105,18 – 19 und 21); nie hat man Siegfried vorgeworfen, eine hürnene Haut zu haben! Dabei soll man im Auge behalten, dass die Siegfried-Sage im Alexanderlied durchscheint, was bedeutet, dass sie um 1150 bekannt war: Man kann sich also berechtigt fühlen, wie Ernest Tonnelat und wie Jean Fourquet, ein Ur-Nibelungenlied zu postulieren, das wohl um die Jahrhundertmitte verfasst worden ist und die Vorlage des bekannten Nibelungenliedes ist.¹²³ Dann zum Vers V 952: Nachdem es den Tyrern gelungen ist, rechtzeitig in die Festung zurückzuweichen, wobei viele Griechen ums Leben kommen, meint Chr. Mackert (S. 261– 262), der Dichter nehme plötzlich Partei für die Belagerten und bezichtige Alexander, ihnen Unrecht getan zu haben. Dies ist aber nur in S der Fall (S 1327– 30). In V bezieht sich aber Vers 952 Alexander tet in grôz unreht nicht auf die Tyrer, sondern eindeutig auf die Makedonier (V 949 – 52). Seinen eigenen Leuten tut Alexander Unrecht. In V nimmt also der Erzähler nicht Partei für die Tyrer, sondern er tadelt Alexander selbst, dessen Reaktion wiederum Zorn ist: der Held drängt nämlich erzürnt auf ein Tor zu, dann von den drei Türmen herab, die auf dem Tor standen, wird ihm so viel Schaden zugefügt, dass er zum Rückzug gezwungen wird, was nicht besonders glorreich ist ! Dennoch versucht der Erzähler, den Tadel zu mildern, den er gegen Alexander ausgesprochen hat, einerseits indem er das Töten von Alexanders Kriegern als mord bezeichnet, ein Wort, das negativ konnotiert ist, andererseits, indem er betont, dass Alexander erneut in Zorn gerät über

 Chr. Mackert, Die Alexandergeschichte…, S. 289.  La Chanson des Nibelungen. Etude sur la composition et la formation du poème épique. Paris 1926 (Publications de la Faculté des Lettres de l’Université de Strasbourg, n°30); Jean Fourquet, „Réflexions sur le Nibelungenlied“. In: J. F., Recueil d’Etudes de Jean Fourquet, réunies par D. Buschinger et J.P. Vernon à l’occasion de son 80ème anniversaire, Amiens, Centre d’Etudes médiévales, 1979., S. 279; „Das Nibelungenlied – ein Burgondenlied?“. In: D. R. Moser/ M. Sammer (Hg.), Nibelungenlied und Klage. Ursprung – Funktion – Bedeutung. München: Literatur in Bayern, 1998, S. 67– 73; Danielle Buschinger,La Chanson des Nibelungen‘ suivie de ‚La Plainte‘. Traduit du moyen-haut-allemand par Danielle Buschinger et Jean-Marc Pastré, présenté et annoté par Danielle Buschinger, Paris 2001, S. 41– 65.

2.1 Versliteratur

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die großen Verluste, was von seiner Anteilnahme am Geschick seiner Leute zeugt (V 958 – 959), zumal zorn in der Heldenepik positiv bewertet wird. Im Grunde befindet sich Alexander nun in eine Situation gedrängt, in der, obwohl sein Vorhaben völlig legitim war, da er sich von einem ungerechten Tribut befreien wollte, seine Handlungsweise hohe Verluste zur Folge hat. Er konnte nicht umhin, so zu handeln, in dem Maße, wie die Tyrer einen so heftigen Widerstand leisteten, geschützt von ihrer Festung, die als beinahe uneinnehmbar geschildert wurde; und seine Zornausbrüche zeigen, dass ihm der Tod seiner Krieger keineswegs gleichgültig ist. Das ganze Geschehen wird eher verständlich, wenn man es darauf zurückführt, dass Philippus, Alexanders Vater, Darius untertan und tributpflichtig war¹²⁴, was dem Helden Verdruss bereitete (V 469 – 482), und der Dichter kündigt in einer epischen Vorausdeutung an: V 483 Darius wart umbe den selben zins erslagen. Alexander verspricht, dass Darius mit seiner Forderung ein harte tumb man sei (491) und dass er selbst, so lange er am Leben ist, den Zins nicht zahlen werde; wenn Darius darauf bestehen sollte, werde er ihm seinen Kopf überlassen müssen (502 er solte ime sîne houbet lâzen). Das ganze Geschehen ist somit vorprogrammiert¹²⁵. Wir haben hier dieselbe Problematik wie in Eilharts Tristrant-Roman mit der Tributpflichtigkeit Markes Irland gegenüber, für die der König von Kornwall sich nicht verantwortlich fühlt, weil dieser Tribut, seiner Meinung nach, Kornwall aufgezwungen wurde, als er noch nicht König war, darum der Ausdruck Marck der kunig junge (H 394– 5); Gottfried seinerseits sagt ausdrücklich, dass Marke noch ein Kind war, zu schwach zur Gegenwehr (5931– 4). Und genau wie Tristrant für seinen Onkel eintritt, tritt nun Alexander für seinen Vater ein, mit dem einzigen Unterschied, dass Tristrant persönlich dem Morolt entgegentritt, während Alexander Herrschergewalt anwenden wird: so fordert es die Alexander-Tradition. Philippus stirbt kurz danach, und der zwanzigjährige Alexander wird zum König ausgerufen. Lamprecht betont dabei, dass, obwohl er erst zwanzig Jahre alt ist, er mit listen und mit mahten (563), d. h. mit Weisheit und Klugheit, aber auch mit Stärke regiert und die Ordnung in seinem Reiche aufrechterhält (564): Er er-

 Der Tribut, den Philippus an Darius zu zahlen hatte, wird auch z. B. in den Historien der alden ê erwähnt (Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts), vgl. Marie Lesaffre, La littérature biblique de l’Ancien Testament dans l’Ordre Teutonique au Moyen Age. Amiens, Presses du centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie-Jules Verne, 1999 (Médiévales 3), S. 331– 332.  Rose Beate Schäfer-Maulbetsch (Studien zur Entwicklung des mittelhochdeutschen Epos. Die Kampfschilderung in „Kaiserchronik“, „Rolandslied “, „Alexanderlied“, „Eneide“, „Liet von Troye“ und „Willehalm “, Göppingen 1972. GAG 22/23, S. 408) ist ebenfalls der Meinung, dass die Kriegszüge durch die Zinsforderung ausgelöst sind.

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weist sich somit als ein vollkommener Herrscher. Sein einziges Bestreben ist nunmehr, alles zum Ruhm Griechenlands zu tun und zuerst die Zinsabgabe zu beseitigen. Er bietet ein großes Heer auf und erhält Unterstützung von vielen Städten. Er bezwingt Sizilien, was seinem Vater nie gelungen ist, und Rom, das ihm von jetzt an Tribut zahlt. Und der Dichter betont mit Nachdruck: daz was wider Dario getân (616). Danach zieht er weiter nach Afrika, dessen Bewohner dem Darius untertan waren (639 – 640). Die Karthaginenser ergeben sich Alexander und bringen ihm Silber und Gold. Da er sie aber als kampftüchtig und tapfer erachtet, will er nichts von ihnen annehmen; im Gegenteil, er macht großzügig aus ihnen Verbündete und nimmt tausend von ihnen mit nach Ägypten, wo er eine Stadt gründet, die er nach sich benennt. Wie es scheint, greift er nur die Länder an, die in irgendeiner Beziehung zu Darius stehen bzw. ihm untertan sind (684– 685). Durch die Parataxe erklärt Lamprecht diese Verwüstungen dadurch, dass Alexander Darius feindselig gesinnt war, weil er ihm ungerechterweise zinspflichtig war. Er erobert und verwüstet noch, von Süden nach Norden ziehend, eine ganze Reihe von Städten und Ländern, u.a Galiläa, Syrien, judeis lant (697), Jerusalem, Bethlehem… Der Dichter betont, dass bis jetzt alles problemlos ging, ohne Verluste unter den seinen, bis er endlich vor Tyrus ankommt, wo er viele Helden verlieren wird (702), dies unterstreicht Lamprecht, auf die Zukunft vorausdeutend. Auch wenn die Stätten, die er verwüstet, die Wirkungsstätten Jesu sind, soll man nicht darin eine Verurteilung Alexanders sehen¹²⁶, denn ganz Palästina, einschließlich Jerusalem, war zu jener Zeit dem Darius untertan, und dies genügt, um Alexanders Vorgehen zu verstehen, ja zu rechtfertigen; darauf wird von Lamprecht durch den Reim gram/Galileam hingewiesen (V 685 – 686 er was Dario gram./ er stôrte Galileam). Beim Alexandre de Paris hat der Held den Vorsatz, nachdem er Tyrus eingenommen hat, auch Jerusalem zu erobern und zu zerstören; jedoch kommen die Bewohner der Stadt zu ihm und unterwerfen sich ihm: nach einer im 1. Jahrhundert vor Christi Geburt entstandenen Sage erweist Alexander wohl in einem Zusatz des französischen Dichters Moses’ Gesetz Ehre und versichert der Bevölkerung, die seine Macht anerkennt, Frieden und Sicherheit sein ganzes Leben lang¹²⁷. Aber es ist nicht die Rede davon, dass Jerusalem und Palästina dem persischen König untertan waren, ein Motiv, das im Roman de Toute Chevalerie durchscheint (die Juden von Jerusalem sind die Ver-

 Im Gegensatz zu dem, was Mackert meint (Die Alexandergeschichte…, S. 247– 249), auch wenn Mackert, S. 255, bemerkt: „Es wäre also verfehlt, einen abrupten Wechsel von einer positiven zu einer negativen Alexanderdarstellung zu konstatieren“.  Vgl. Alexandre de Paris, Le Roman d’Alexandre. Traduction, présentation et notes de Laurence Harf-Lancner, o.c., S. 248, Anm. 1.

2.1 Versliteratur

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bündeten Darius’: V. 1262)¹²⁸ und dieses hat Lamprecht wohl aufgegriffen, um seinen Helden zu entlasten. Gleichsam um zu erklären, warum die Eroberung von Tyrus äußerst schwierig sein wird, und somit Alexander zu entschuldigen, der hohe Verluste wird hinnehmen müssen, gibt Lamprecht gleich zu Anfang eine eingehende descriptio der Stadt (703 – 720 und 724), die ohnegleichen ist in der deutschen Literatur zur Zeit der Entstehung des Vorauer Alexander. Diese Beschreibung von Tyrus war aber wohl vorgezeichnet in der Vorlage, denn im Alexandre de Paris wird auch betont, dass die Stadt stark befestigt und vom Meer umgeben ist (2679, 2690 – 91, 2701– 2, 2712). Diese Beschreibung dient unbezweifelbar dazu, die Macht der Stadt hervorzuheben, was zur Folge haben wird, dass Alexander sie nur mit Mühe erobern wird¹²⁹, somit entschuldigt der Dichter seinen Helden im Voraus. Nun müssten die Verse besprochen werden, die in V eine Lücke aufweisen. Kinzel hat die Stelle so rekonstruiert: vil grôz scade daz was,/ daz si Alexander zebrach/ durch sîn ubermûtecheit, was bedeuten würde, dass Alexander der Stadt Tyrus Schaden zufügte, als er sie aus Übermut zerstörte. Christoph Mackert¹³⁰, der sich auf Belegmaterial aus Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan stützt, bemerkt mit Recht, dass das Wort scade im Mittelhochdeutschen nur als „eine Schädigung […], die jemand zufügt oder erleidet“ verwendet werde, bezieht den Schaden nicht auf einen materiellen Schaden, den die Stadt erlitten hätte, sondern „auf die enormen Verluste […], die der Kampf um Tyrus fordert“ und rekonstruiert den Text folgendermaßen: Vil grôz scade dâ gescach,/ dâ si Alexander zebrach/ durch sîn ubermûtecheit. Er fasst die auf diese Weise wiederhergestellten Verse als eine Verurteilung Alexanders auf, dessen „Aggression“ „viele Menschenleben kosten wird“, und er bezieht diese Menschenverluste „vorrangig auf Alexanders Truppen“, zumal der Kritiker diese Menschenverluste auf Alexanders ubermûtecheit zurückführt, deren „verhängnisvolle Folgen beleuchtet werden“¹³¹, und das Wort ubermûtecheit im negativen Sinne interpretiert, „als bloße Affektäußerung ohne ausreichenden Realitätsbezug“¹³². Dies scheint mir überinterpretiert – zumal ubermûtecheit auch positiv gewertet sein kann, da Alexander sehr jung ist – es wäre nur jugendliche Unbedachtsamkeit, oder gar überaus großer Mut, starke Tapferkeit –, und, wie hervorgehoben, der Kritiker ubermûte vonseiten

 Vgl. Catherine Gaullier-Bougassas, Les Romans d’Alexandre. op.cit., S. 133 und 297 ff.  Vgl. Marie-Sophie Masse, „Realia et description. Les descriptions de villes dans les romans d’antiquité allemands du XIIe siècle“. In: Les „Realia“ dans la littérature de fiction au Moyen Age, Amiens, Presses du CEM [UPJV]), 2000 (Médiévales 9), p. 83 – 104.  O.c., S. 271– 273.  O.c., S. 277.  O.c., S. 281.

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der Tyrer nicht ablehnt. Die einzige Schuld der Tyrer war also, dass sie einem König dienten, und zwar Darius, was, meiner Meinung nach, Alexander vollkommen entlastet: diese Verse relativieren also die vorige Aussage, machen sie gar zunichte, zumal man das Wort scult nicht nur wie das heutige „Schuld“ verstehen soll, sondern auch als „Ursache“ interpretieren könnte, bedeutet doch âne schult ‚ohne Ursache‘: der einzige Grund für Alexanders Vorgehen gegen die Stadt Tyrus wäre demnach, dass die Tyrer Darius, seinem Erzfeind, huldigen. Nach diesen einleitenden, kommentierenden Versen beginnt nun die Handlung. Alexander sendet den Tyrern einen Boten, der sie fragen soll, ob sie ihn zum König haben, ihm untertan sein und ihm die Stadt übergeben wollen – d. h. sie sollen ihm dienen, und nicht mehr Darius¹³³. Die Tyrer weisen Alexanders Forderung zurück, sie fügen aber hinzu, sie seien doch bereit, ihm von ihrem Gut zu geben. Als Alexander dies erfährt, wird er zornig¹³⁴. Daraufhin sendet Alexander drei Fürsten als Boten in die Stadt, um die Tyrer zu fragen, wo sie ihren sin, ihre Weisheit, gelassen hätten, dass sie den König verschmähen, der sich Rom und die Griechen untertan gemacht habe. Aus diesen Worten ist nur Spott herauszulesen und Verwunderung vonseiten Alexanders über die Handlungsweise der Tyrer, aber keine direkte Drohung, im Gegensatz zur Straßburger Fassung, in der er der Stadt droht, mit sînen knehten/ ir starke stat irvehten zu wollen, wenn sie sich ihm nicht augenblicklich unterwürfen (1017– 1021). Erst nachdem die Tyrer die Boten, die in V friedlich übermitteln wollten, gehängt haben, belagert Alexander die Stadt (875 ff.): Er handelt also nur nach dem Kriegsrecht: durch die heimtückische und rechtwidrige Handlung der Tyrer ist Alexander dazu berechtigt, die Stadt anzugreifen bzw. zu belagern. Der Krieg beginnt mit einer Seeschlacht (759 ff.), und die Tyrer, die zwanzigtausend an der Zahl sind (V 766; in S 1052 hunderttausend), verteidigen sich, wie erwartet, mit aller Kraft und erschlagen so viele Kämpfer aus Alexanders Heer, dass die Wogen von dem Meere rot werden (was ein Topos der Schlachtschilderungen ist). Die Naturkräfte bzw. der Sturm erwirken, dass einhundert griechische Schiffe sinken und die Besatzung ertrinkt. Vor dieser Katastrophe bricht Alexander den Kampf vorläufig ab: Er befiehlt vom Angriff auf die Stadt abzulassen und die Schiffe in den Hafen zurückzubringen. Der Dichter hebt heraus, dass die erlittenen Verluste

 Der Hinweis auf die Drohung Alexanders, er wolle bei abweisender Antwort die Stadt zerstören und ihnen allen das Leben nehmen, ist ein Zusatz der Handschrift S, die Alexanders Worte verschärft und aus ihnen ein richtiges Ultimatum macht, gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung (Verse 974– 977).  Die darauffolgende Passage in V ist schwer verständlich, ja lückenhaft; S wiederum fügt eine Drohung hinzu, er wolle sich an ihnen rächen, sie umbringen und die Stadt zerstören (S 999 – 1002).

2.1 Versliteratur

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Alexander äußerst nachdenklich machen (V 777/ 8): Er sorgt sich also um das Schicksal seiner Männer. Und nun setzt der als listich man bezeichnete Feldherr (V 779) seine Intelligenz (list) ein, er nutzt seine Erfahrung und seine Kenntnisse zu den Methoden der „Belagerung“ aus und versucht ein anderes Mittel, um die Stadt zu erobern. Nun ist keine Spur von Rache. Im Gegenteil, Alexander handelt nicht mehr im Affekt, sondern wohlüberlegt, was ein positiver Zug ist. Dabei denkt man an Eilharts Tristrant, der vom Dichter als der listig man im positiven Sinne des Wortes („der kluge Mann“) bezeichnet wird (H 44) und der durch den Einsatz seiner Intelligenz die Hindernisse überwindet. Außerdem ist Alexander dazu verurteilt, den Sieg über Tyrus davonzutragen, will er sich doch vom Tribut befreien. Um sein Ziel zu erreichen, muss er Darius und all seine Verbündeten überwältigen, und dies um jeden Preis. Durch ein neues Unternehmen, das er dank seiner Klugheit ersinnt, hofft er sein vorläufiges Scheitern wettzumachen. Und er schickt elftausend von seinen Leuten (eine sehr hohe Zahl) in den Libanon: Sie sollen Bäume fällen, um perfrit (V 792), berchfride (S 1094), d. h. „hölzerne, auf rädern bewegliche (Türme), die zur belagerung dienten“¹³⁵ zu bauen und hohe Leitern herzustellen, die ihnen ermöglichen sollen, auf die Zinnen der befestigten Stadt zu gelangen. Als die auf Seiten der Tyrer stehenden Araber tausend Holzfäller erschlagen, trifft Alexander Maßnahmen, um seine Leute zu schützen (V 819 – 820). Er zeigt sich somit fürsorglich seinen Kriegern gegenüber. Alexander ist ein guter Stratege, und dazu ein erfindungsreicher Feldherr. Als er bei der zweiten Offensive zurückweichen muss und sich mit seinen Heerführern berät, greift Alexander zum „griechischen Feuer“, dessen Kunst er beherrscht und das von seiner Erfahrung in der Kriegsführung und in der Belagerungstechnik zeugt (V 974 ff.), um Tyrus zu erobern. Die Stadt verbrennt nun ganz. Dabei kommen allerdings auch viele Griechen um, was der Dichter bedauert (V 988). Dies ist ein Sieg, der teuer erkauft wurde und den er nie hätte davontragen können, hätte er das griechische Feuer nicht verwendet. Alexander rächt sich an den überlebenden Tyrern, die er blenden oder hängen lässt. Doch betont der Dichter, er habe Vergeltung geübt für den Mord an seinen drei Abgesandten, was wiederum das ganze Geschehen rechtfertigt. Dies ist keine Schwarz-Weiß-Malerei: Lamprecht gibt uns ein nuanciertes Bild von Alexander, der kein „Superman“ ist und dessen Verhalten Probleme aufweist. In der letzten Schlacht gegen Darius schreit Alexander dem persischen König ins Gesicht: V 1521 ‘ir sult zins hie infâhen,/ dâ ir vil manegen tach habeth nâch gesant,/

 Benecke, Müller, Zarncke, Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 (Reprint: Hildesheim/ Zürich/ New York 1986), Bd. I, S. 108.

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den hân ich iu brâht in diz lant! und schlägt ihm das Haupt ab. Von hier aus ist die Tyrus-Episode vollkommen begründet. Alexander ging es nur darum, sich vom Zins zu befreien, und er fegte alle aus dem Weg, die Darius unterstützten, um zu seinem Ziel zu kommen. Das letzte Opfer ist Darius selbst, den er gleichermaßen eliminiert. Die Erzählstrategie der Vorauer Version des Alexanderliedes ist ganz auf Darius’ Tod angelegt: Dies ist augenscheinlich, wenn man die epische Vorausdeutung beachtet, in der, als zum ersten Mal in der Dichtung die Rede vom Zins ist, der Dichter Darius’ Tod ankündigt (483 – 484). Und hieraus ist man schließlich berechtigt zu behaupten, dass die Vorauer-Fassung nicht abgebrochen wurde, sondern in der Tat mit Darius’ Tod endete¹³⁶. Dieser Meinung ist auch z. B. Klaus Grubmüller: „Der Alexander-Schluss ist auf das Konzept der Vorauer Handschrift hin gestaltet“¹³⁷; dennoch leitet Kl. Grubmüller Darius’ Tod nicht aus der Tributforderung ab, sondern fügt ihn in Lamprechts heilsgeschichtliches Programm ein. Im Gegensatz zu ihm legt Ulrich Mölk besonderes Gewicht auf das Zinsmotiv, das „von seinem ersten Auftreten an (V. 471) Lambrechts gesamten Text […] (durchzieht) und […] am Schluss (V. 1521) wirkungsvoll konkretisiert“ wird¹³⁸. Dieses Ergebnis wird überzeugend von der Strukturanalyse bestätigt¹³⁹: Der Text der Vorauer Handschrift lässt sich nämlich in 92 Abschnitte, bzw. in 23 Blöcke von je vier Abschnitten zergliedern, wenn man eine Gruppe von in der Handschrift durch eine Initiale gekennzeichneten 4 Abschnitten als gemeinsame Grundeinheit der Zahlenkomposition nimmt. Die Strukturanalyse der Vorauer Fassung lässt also einen zahlenmäßigen Aufbau erkennen, der wie im Tristrant Eilharts von Oberg¹⁴⁰ und in Hartmanns von Aue Armer Heinrich ¹⁴¹ die innere Form des

 Chr. Mackert kommt im Anhang zu einem ähnlichen Ergebnis, aber er misst der Tributforderung eine weniger schwerwiegende Bedeutung bei und leitet nicht die ganze Tyrus-Episode bzw. die ganze Handlung daraus ab.  „Die Vorauer Handschrift und ihr Alexander. Die kodikologischen Befunde : Bestandaufnahme und Kritik“. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, Hg., op.cit., S. 214– 215.  „Alberics Alexanderlied“. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hg. von Jan Cölln, Susanne Friede und Hartmut Wulfram unter Mitarbeit von Ruth Finckh, Göttingen 2000, S. 30.  Vgl. Gisela Montanier, „La structure de la Chanson d’Alexandre (version de Vorau)“. In: Actes du Colloque des 9 et 10 Avril 1976 sur „L’adaptation courtoise en littérture médiévale allemande, publiés par les soins de Danielle Buschinger, Amiens 1976, S. 27– 38. Siehe auch im selben Band Danielle Buschinger, „Les problèmes de la composition numérique dans les œuvres médiévales allemandes“, o.c., S. 19 – 26.  Vgl. Danielle Buschinger, Le ‘Tristrant’ d’Eilhart von Oberg, Paris, Champion, 1975.  Vgl. Jean Fourquet, „Zum Aufbau des Armen Heinrich“. In: J. F., Recueil d’Etudes réunies par Danielle Buschinger et Jean-Paul Vernon, Amiens, 1979, S. 115 – 127.

2.1 Versliteratur

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Geschehens deutlicher macht: einem aufsteigenden Ast von elf Blöcken entspricht ein absteigender Ast von elf Blöcken. Die Architektonik des Werkes lässt sich durch folgende zahlenmäßige Formel ausdrücken: [5 + 1 + 5] + 1 + [5 + 1 + 5]. Die dominierende Symmetrieachse (Block XII in der Mitte des Werkes) ist Alexanders Thronbesteigung und dem Willen des neuen Königs, Darius zu bekämpfen, um sich vom Tribut zu befreien, gewidmet. Der Krieg gegen Darius beansprucht dann die zweite Hälfte des Textes; die Tyrusepisode nimmt ihrerseits vier ganze Abschnitte in Anspruch (703 – 1018, d. h. die Blöcke XIV-XV-XVI-XVII), wobei der Block XIII als Einleitung betrachtet werden kann, wenn Alexander am Schluss mit seinen Truppen nach Tyrus ausrückt. Der Umstand, dass der Vorauer Text wohl strukturiert ist, bestätigt, dass Lamprecht nach einem im Voraus entworfenen Plan arbeitete und dass wir einen vollständigen Text haben. Nun wende ich mich den französischen Fassungen zu. Christoph Mackert hat einige Berührungspunkte zwischen dem Vorauer Text und dem Text des Alexandre de Paris hervorgehoben, die „nie ausreichend beachtet worden“ seien¹⁴². Er selbst zieht aber keine Schlüsse aus diesen Gemeinsamkeiten, deren es noch mehr gibt. Im französischen Roman, sowohl im Zehnsilber-Alexanderroman (Adéca) wie im Roman d’Alexandre d’Alexandre de Paris (AdP) lässt sich gleichfalls der Krieg gegen Tyrus aus der Tributforderung des Darius, die Alexander aufkündigen will, ableiten. Es kommen Boten des persischen Königs zu Alexander, die von ihm fordern, er solle sich als lehnspflichtiger Vasall Darius’ bekennen (hom liges) und ihm einen Tribut entrichten (Venise 903, 918, 926 – 927, AdP I 2086, 2091– 92). Die Makedonier verweigern den Persern den Tribut. Im AdP erklärt Alexander Darius daraufhin den Krieg: I 2122– 4; er bietet ein Heer auf und rückt aus. Sofort bezeichnet der Autor seinen Helden als fiers (AdP I 2258, I 2730), was schrecklich, grausam, gewaltsam, heftig, ungestüm bedeutet, und es ist von seinem orgueil (AdP I 2262, I 2983), d. h. von seiner Überheblichkeit, Anmaßung, ein Wort, das dem mhd. ubermuot entspricht, die Rede, sowie von seiner iror, ire (Wut, Jähzorn) (AdP I 2809 Alixandres ot ire si tainst de mautalent = Alexander gerät in Zorn und erblasst vor Wut), was dem mhd. zorn entspricht und nicht unbedingt einen Makel bezeichnet, von seiner felonie (Grausamkeit, Unerbittlichkeit, Wut: 2848) und von seiner Gewalttätigkeit (I 2731), die den Tyrern Furcht einjagen. Tyrus, eine Stadt, die wie bei Lamprecht befestigt und uneinnehmbar erscheint, gehört im AdP König Darius (I 2698) und wird von Herzog Balès verwaltet – wir haben eine ähnliche Situation im Vorauer Text, wo nachdrücklich gesagt wird, dass die Tyrer Darius untertan waren; ein Herzog ist gleichfalls

 O.c., S. 260.

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Verwalter der Stadt. Alexander belagert sie und bittet die Tyrer um die Erlaubnis, hineinzugehen, um die Götter anzubeten (I 2727– 28). Die Tyrer, die sich vor Alexanders Zorn und Gewalttätigkeit fürchten, erfüllen aber seinen Wunsch nicht – im Vergleich dazu wird im Vorauer Text gesagt, sie seien furchtlos (V 737). Erst nachdem die Tyrer dies abgelehnt und somit ihre Unredlichkeit erwiesen haben (war doch Alexanders Anliegen äußerst legitim!), entschließt sich Alexander dazu, die Stadt anzugreifen. Die Weigerung der Tyrer ist also der Anlass für den Makedonier, die Stadt zu stürmen. Sowohl bei Lamprecht als auch im AdP tragen die Tyrer die Verantwortung für den Krieg, nur die Beweggründe Alexanders sind etwas verschieden; dabei soll darauf hingewiesen werden, dass sowohl bei Lamprecht als auch im Roman de Toute Chevalerie die Boten des griechischen Königs getötet werden. In letzterem werden sie ans Kreuz geschlagen (RdtC 1295) und Alexander will sie an den Tyrern rächen (RdtC 1306) und die Stadt zerstören. Im französischen AdP ist außerdem wie im deutschen Roman die Rede von einem Tribut, den Alexander von den Tyrern fordert: Wie bei Lamprecht sollen also die Tyrer den Griechen untertan sein. Diese Weigerung macht Alexander jähzornig, und er bereitet den Sturmangriff auf Tyrus vor. Er schaut fierement (selbstsicher, stolz) auf die Stadt und trachtet danach, sie einzunehmen (AdP I 2925). Er schickt Boten zum Herzog Balès und fordert von ihm, dass er ihm die Stadt ausliefere und er sich ihm unterwerfe; wenn er das tue, werde er ihm Frieden gewähren; wenn er es ablehne, werde Alexander Gewalt anwenden, alle Tyrer erhängen oder im Meer ertränken oder verbrennen (I 2970 – 2971), denn nie wolle er abziehen, bevor er Tyrus erobert (I 2927) und die Stadt comme un es (I 2956 „wie ein Brett“) ausgebrannt habe; er droht damit, feu grïes (griechisches Feuer) in die Stadt zu werfen (I 2957). Balès wäre nahe daran gewesen, die Boten zu erhängen, wenn Fürst Ladinès ihm nicht davon abgeraten hätte – dies ist wohl eine Änderung vonseiten Alexandres de Paris, stimmen doch hier RdTC und V überein. Im Zehnsilber-Alexanderroman (Adéca), der einen viel kürzeren Text bietet, fordert Alexander gleichfalls den Herzog von Tyrus heraus: er solle ihm die Stadt ausliefern. Die Tyrer lehnen es ab: Sie wollen sich Alexander nicht ergeben, was den Helden erzürnt (Venise 1108, AdP I 2999 – 3000). Daraufhin entschließt sich Alexander, der seinen Göttern schwört, er wolle die Stadt per force (Venise 1090) erobern, zur Belagerung. Er lässt die Trompete blasen und bereitet seine Soldaten auf die Schlacht vor. Im AdP I, 2745 ff. wie bei Lamprecht beginnt der Krieg mit einem Seekampf, und es erhebt sich ein fürchterlicher Sturm, der die Schiffe zerbricht, was den Griechen Angst einjagt. Die erste Phase der Schlacht endet aber im französischen Roman, im Gegensatz zum deutschen, glücklich für die Griechen: Die Tyrer werden besiegt, und die Überlebenden ergreifen die Flucht, wobei viele ertrinken.

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In der Folge begegnen die Griechen aber großen Schwierigkeiten, wie bei Lamprecht und übrigens auch im Roman de Toute Chevalerie (1189 ff.): dies entspricht ja der historischen Wirklichkeit, in der es viele Tote im griechischen Herr gab – man darf dabei nicht vergessen, dass die Belagerung von Tyrus sieben volle Monate gedauert hat! Als die Schlacht wieder beginnt, wird das chastel (die Festung), das Alexander vor den Stadtmauern hat bauen lassen und das wohl dem castel der Vorauer Fassung (V 828 und 839) entspricht, in Abwesenheit des Makedoniers von den Tyrern zerstört, und es gibt sehr viele Tote unter den Kriegern Alexanders: viele ertrinken (Venise 3006 // Lamprecht V 772 und 823 ff., nicht aber im AdP). Wir haben hier genau dieselbe Situation wie bei Lamprecht, aber im Gegensatz zu dem, was in der deutschen Dichtung steht, hat der Makedonier Mitleid mit ihnen (Venedig 3007; 3017; AdP II,1878); er gerät in Zorn und will sich sofort an den Tyrern rächen, sie erhängen oder sie im Feuer rösten lassen (AdP II 1884– 85) oder ihnen gar die Haut abziehen (Venise 3014). Er hat das gleiche affektgeleitete Rachestreben wie in der Vorauer Fassung. Daraufhin will er wie bei Lamprecht zu Kriegsmaschinen greifen (das sind enging und perieres, Venise 3039, d. h. Kriegsmaschinen und Steinschleudern, blîden) und Steine (Venise 3039: carrei) gegen die Stadt schleudern (Venise 3039, AdP II, 1910), und es ist hier wichtig zu berücksichtigen, dass das afr.Wort enging/ engiens sowohl Geschicklichkeit, Kunstfertigkeit, List als auch Kriegsmaschine, Maschine bedeutet. Genau wie bei Lamprecht benutzt Alexander technische Mittel, um zu seinem Ziel zu kommen: Er nutzt seine Geschicklichkeit in der Kunst der „Belagerung“ aus. Er lässt auch einen berfroi bauen (AdP II, 1913,Venise 3042), was dem deutschen perfrit V 792 und berchfride S 1094 entspricht. Mitten in der Schlacht trifft Alexander auf den Herzog Balez de Tyr: Genau wie in V 899 – 904 tötet er ihn durch einen Wurfspieß (V 903 gêre; AdP II 1949 dart) und stürzt ihn von der Mauer in die Burg (AdP II, 1945 – 60). Alexanders Aggressivität ist ebenso groß wie bei Lamprecht. Im Laufe der folgenden Schlacht springt er wie im deutschen Roman als erster auf den Stadtwall von Tyrus (Venise 3096/7; AdP II, 1967– 68), und der Dichter betont, dass er es par tel rage tut (Venise 3130; AdP II 2002). Dies ist eine berühmte Episode, die in der gesamten Alexander-Tradition, sowohl in der französischen als auch in der deutschen, von der Kampfestüchtigkeit des Helden zeugt. Etwas später lässt er wie bei Lamprecht li feus greceis (Venise 3280; AdP I, 2957) in die Stadt werfen. Und es ist auch die Rede davon, dass Alexander im Libanon Bäume hat fällen lassen, aus denen er engins und berfroi machen lässt (Venise 3362 ff.); im AdP lässt er Bäume im bois de Josaphaille fällen und die Stämme ins Wasser legen und mit Weidenruten zusammenfügen (I 2863 ff.). Sowohl in den französischen Texten wie im deutschen ist Alexander ein erfin-

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dungsreicher Feldherr; dennoch misst Lamprecht Alexanders Kunstfertigkeit eine größere Bedeutung bei, indem er betont, dass der Makedonier als einziger die Kunst des Herstellens von griechischem Feuer beherrscht (V 974 ff.). Er baut Kriegsmaschinen und ist ein Techniker der Belagerungskunst, was vollkommen positiv zu beurteilen ist, und wenn er Misserfolge hat, soll ihm das nicht als Fehler, als Makel angerechnet und vorgeworfen werden. Aus allen diesen Übereinstimmungen, die zwischen dem Vorauer Text und den zwei französischen Fassungen in der Tyrus-Episode bestehen und öfters in derselben Reihenfolge anzutreffen sind, kann man wohl den Schluss ziehen, dass sowohl der deutsche Text als auch der zehnsilbige Alexanderroman und Alexandre de Paris’ Bearbeitung der zehnsilbigen Dichtung direkt oder indirekt auf dieselbe Vorlage zurückgehen, und zwar auf Albérics Text. Dies schließt natürlich nicht aus, dass die verschiedenen Dichter auch Quintus Curtius herangezogen haben. Bei den Übereinstimmungen zwischen dem Text Thomas’ of Kent und dem Vorauer Alexander wäre es angebracht, beide Dichtungen genau zu vergleichen, was noch nie geschehen ist. Mit dem ‚Vorauer Alexander’ beginnt eine überaus reiche Tradition deutschsprachiger Alexanderdichtungen des Mittelalters. Auf eine spätere Bearbeitung dieser Vorauer Fassung oder gar auf AV selbst (die Abfolge und das Verhältnis der mhd. Fassungen sind in der Forschung stark umstritten¹⁴³) gehen dann zwei Fassungen deutschsprachiger Alexanderdichtungen des Mittelalters zurück, die die Gesamtvita des Helden umfassen. Sie werden als ‚Straßburger Alexander‘ (AS; um 1170 oder 1210?) und als ‚Basler Alexander‘ (AB; 15. Jahrhundert) bezeichnet. Die Basler Fassung, wohl in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des 13. Jahrhunderts verfasst¹⁴⁴, ist in eine Weltchronik-Kompilation eingefügt und in einer Handschrift aus dem 15. Jahrhundert überliefert (E VI 26 der öffentlichen Bibliothek der Universität Basel). Für den Anfang fußt B wohl auf der J2-Rezension der HdP, und am Schluss wurde wahrscheinlich eine ausgedehntere Fassung der Abenteuer Alexanders im Orient interpoliert, die große Ähnlichkeiten mit der Beschreibung dieser Abenteuer in der Weltchronik des Jan von Wien aufweist¹⁴⁵. Der AB-Redaktor erzählt von der legendären Geburt Alexanders (der nicht Phil-

 Vgl. Christoph Mackert, Die Alexandergeschichte …, S. 13 ff.; vgl. auch Trude Ehlert, Deutschsprachige Alexanderdichtungen, S.23 ff. Zu diesem Problem vgl. zuletzt Jan Cölln, „Arbeit an Alexander. Lambrecht, seine Fortsetzungen und die handschriftliche Überlieferung“. In: Jan Cölln, Susanne Friede und Hartmut Wulfram (Hg.), Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen, Göttingen 2000, S. 162– 207.  Trude Ehlert, Deutschsprachige Alexanderdichtungen, S. 84.  George Cary, The medieval Alexander, S. 29.

2.1 Versliteratur

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ipps, sondern Nectanebus’ Sohn ist) und von seinen sagenhaften Abenteuern, die er der HdP entlehnt (Gog und Magog, Fahrt zum Meeresgrund und Luftfahrt – so wird der Welteroberer auch zum Eroberer des Meeres und des Himmels –, Selbstmord des vom Gift geschwächten Helden am Euphrat, Testament). Der Umstand, dass Alexander Nectanebus’ Sohn ist, gestattet dem AB-Redaktor nicht, sich auf christliche und aristokratische Normen zu beziehen und den Helden in die Heilsgeschichte einzubeziehen. Die profane Historiographie konnte am Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts das Leben Alexanders unabhängig von biblischen Bezügen darstellen. Wichtiger sind die wunderbaren oder exotischen Elemente¹⁴⁶. Was die Straßburger Fassung anbelangt, setzt man sie gewöhnlich etwa 1170 – 1187 an, gemäß der auf 1187 fixierten Datierung der Straßburg-Molsheimer Handschrift (ehemals Straßburg, Seminarbibliothek C V 16.6 4°, dann Stadtbibliothek, verbrannt 1870) (Schröder 1985, Sp. 497). Seit man aber nicht nur die neuzeitliche Abschrift der vernichteten Hs., sondern auch eine originale Schriftprobe kennt¹⁴⁷, steht aus paläographischen Gründen einer Datierung der Handschrift auf die Zeit um 1210 – 1220 nichts entgegen, so dass in dieser Handschrift überlieferte Texte später datiert werden können, als üblicherweise angenommen. Im Folgenden gehe ich von dem methodischen Ansatz aus, dass alle Zeugen der handschriftlichen Überlieferung gleichwertige Versionen darstellen, die man als solche untersuchen soll, ohne einen Originaltext oder Zwischenstufen zu rekonstruieren (vgl. Bumke 1996), und will nur den Text untersuchen, wie ihn die Straßburg-Molsheimer Handschrift überliefert. Für den Teil, der über die Vorauer Fassung hinausreicht, geht die Erzählung wohl auf eine nicht interpolierte Fassung von Leos Historia de Preliis Alexandri Magni (HdP), Rezension J1 (11. Jhdt.), auf die Epistola ad Aristotelem (10. Jhdt.) und das Iter ad paradisum (1. Hälfte des 12. Jhdts.; die ältesten Handschriften stammen aus dem 9. Jahrhundert)¹⁴⁸. Inhalt (im Vergleich mit der lat. Quelle): Geburt des Helden als legitimer Sohn Philipps und Olympias (es ist keine Rede von Nectanebos). Erziehung. Zähmung des grausamsten Pferdes Griechenlands. Nicolaus-Krieg, der ihm ersten Ruhm einbringt. Mit fünfzehn Jahren will Alexander sein Reich vergrößern (AS spricht nicht vom Italienzug). Er besiegt Nicolaus, König von Caesarea, und schenkt die eroberte Krone seinem Vater. Lysias, der Alexanders Vater zum Bruch der Ehe mit Olympia, seiner geliebten Mutter, überredet hat, schlägt er im Streit die Zähne aus. Belagerung von Tyrus.

 Trude Ehlert, Deutschsprachige Alexanderdichtungen…, S. 84 ff.  Die Alexandergeschichte…, S. 40.  George Cary, The medieval Alexander, S. 28.

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Nach erheblichen Verlusten erobert er die Stadt mit Hilfe des griechischen Feuers. Ein Flüchtling aus Tyrus berichtet Darius, dem König von Babylon, die Geschehnisse, worauf dieser Tribut von Alexander fordert. Alexander verweigert jedoch diesen Tribut. Darius erklärt ihm den Krieg. Es folgt eine große Schlacht. Darius versucht, frische Truppen aufzubieten. Aus allen Landen eilen 630.000 Mann zu Hilfe. Zu diesem Zeitpunkt erfährt Alexander von der Krankheit seiner Mutter und begibt sich auf den Heimweg. Dort wird er wiederum in eine Schlacht verwickelt, die er gewinnt. Nach der Gesundung seiner Mutter stellt er in Griechenland ein neues Heer auf und begibt sich zurück nach Persien. Er hebt überall in Griechenland neue Truppen aus und stößt dabei teilweise auf erbitterten Widerstand. Dabei endet die Schlacht gegen die Lakedämonier vorerst unentschieden, und wiederum mit Hilfe des griechischen Feuers gewinnt er die Schlacht. Daraufhin kommt es zu einer ersten Schlacht mit den Truppen des Darius. Dabei nimmt Alexander dessen Familie gefangen. In einer zweiten Schlacht wird Darius besiegt, flüchtet und bittet Alexander um Milde. Alexander lehnt jedoch das Friedensangebot ab. Darius bittet dann König Porus von Indien um Hilfe. Dieser entsendet Truppen. Währenddessen wird Darius von zwei untergebenen Fürsten ermordet. Alexander versöhnt sich mit seinem sterbenden Gegner und rächt dessen Tod. Er heiratet dessen Tochter Roxane. Er erfährt, dass Porus, der König von Indien, mit einer großen Armee Darius zu Hilfe komme. Dies veranlasst Alexander, Porus mit seinem Heer über eine unwirtliche Wüste in Richtung Indien entgegenzuziehen (AS übernimmt weder die Fahrt zum Meeresgrunde noch die Luftfahrt). Die Makedonier werden mit einer gefährlichen Tierwelt konfrontiert. Die Armee meutert. Nachdem die Soldaten sich beruhigt haben, zieht Alexander weiter, trägt den Sieg über Porus davon und tötet ihn. Nun unterwerfen sich die Inder dem makedonischen Herrscher. Der Weg ist frei für Alexander, um Indiens Wunder kennen zu lernen. Alexander berichtet über diese Wunder, die am Ende der Welt anzutreffen sind, in einem an Aristoteles und an seine Mutter gerichteten Brief. Auf dem Weg jenseits der Kaspischen Tore bis ans Ende der Welt gibt es sowohl Ungeheuer als auch die tollsten Wunder, darunter die wie Blumen aufwachsenden Waldmädchen. Später folgt noch Alexanders Liebesepisode mit Candacis. Alexander beendet den Brief an seine Mutter, indem er von einer Reise durch viele Länder berichtet, in denen er viel Wundersames und Schlimmes erlebt habe. Nun ist er der Herr der Welt. Und doch reicht ihm das nicht. Er will das Paradies erobern und es zinspflichtig machen. Alexander wird vom AS-Redaktor zuerst streng verurteilt: Er wird des Hochmuts, der Unerfahrenheit und der Gier bezichtigt. Er gelangt bis ans Tor des Paradieses und scheitert. Er muss unverrichteter Dinge wieder abziehen, obwohl seine Krieger ihn drängen, das Paradies mit Gewalt zu erobern. Aber am Schluss zeigt ihn der AS-Redaktor in einem günstigen

2.1 Versliteratur

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Licht: Alexander wird sich im AS, wie wir sehen werden, in einen gerechten, friedensstiftenden König wandeln. Wenn wir von der neuen Sinngebung am Schluss absehen, so sind gegenüber den lat. Vorlagen an wesentlichen Änderungen nur einige Auslassungen zu vermerken – bis auf den Zusatz der Blumenmädchenszene, welche Minis¹⁴⁹ auf AdP zurückführen wollte. Die Blumenmädchen, die in den lateinischen Texten nicht auftreten, sind Wesen mit sowohl menschlichen als auch pflanzlichen Eigenschaften. Sie erscheinen bei Alexandre de Paris (Branche III,V. 3334– 3387, 3457– 3550; 147 Verse), aber auch schon in den Hss. A und B des ADéca, mit teilweise beträchtlichen Abweichungen im Wortlaut, in der Beschreibung von Alexanders Reise in den Orient. Die Blumenmädchen sind Wesen mit einem zügellosen Sexualtrieb, ursprünglich wohl Erfindungen orientalischer Herkunft. Sie leben in einem Wald, der sich längs eines Flusses erstreckt (V. 3286) und als Grenze zwischen der realen Welt und der Wunderwelt der Blumenmädchen dient. Bevor die Reisenden zu dem Ort gelangen, wo die Mädchen sich aufhalten, müssen sie über eine von zwei Automaten bewachte Drehbrücke gehen (V. 3388 ff.). Die Zauberei muss überwunden werden, bevor Alexander und seine Krieger zu den Blumenmädchen kommen. Diese sind sehr schön, haben kleine Brüste, leuchtende und lachende Augen und eine strahlende Gesichtsfarbe (V. 3338 – 3339). Bei ihrem Anblick entbrennt man für sie heftiger in Liebe, als wenn man von einem Funken angezündet worden wäre (V. 3340 – 3341); sie lieben die Männer über alles in der Welt (V. 3358), ziehen Alexanders Kriegern entgegen, und jede wählt den ihren aus. Sie geben sich die ganze Nacht und drei Tage lang nach Herzenslust der Liebe hin und führen ein fröhliches Leben (V. 3460 – 62). Aber wenn sie den Schatten der Bäume verlassen, sterben sie auf der Stelle (3503 – 3504). Am Anfang des Winters ziehen sich die Frauen in die Erde zurück, um sich vor der Kälte zu schützen, und bei Beginn des Sommers leben sie in der Gestalt von weißen Blumen wieder auf (3532 ff.). Alexander ist der einzige, der keine Liebesbeziehung zu einem der Mädchen hat. Er verzichtet darauf, weil er keinem der Mädchen zumuten mag, den Zauberwald zu verlassen und mit ihm mitzugehen (3493 – 3495). Denn das Verlassen des Waldes würde den Tod des Mädchens herbeiführen, das mit seinen Gespielinnen nur im Schatten der Bäume leben kann. Der Held verlässt den Wald freiwillig am vierten Tag (V. 3481) mit seinem Heer, und die Makedonier werden von den Mädchen bis an den Rand des Waldes begleitet (V. 3545 – 3546). Alex Cola Minis, „Zum Schluss von Lambrehts ‚Alexander‘. Zur Geschichte der Blumenmädchen im Strassburger ‚Alexander‘ und zu dessen Verhältnis zu der ‚Eneide‘ von Veldeke“. In: Thomas Klein und Cola Minis, Zwei Studien zu Veldeke und zum Strassburger Alexander, Amsterdam 1985 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, 61), S. 141.

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ander verbietet seinen Kriegern, im Walde zu bleiben. Denn sie könnten dem Reiz der Mädchen erliegen und zu keinem weiteren Feldzug tauglich sein. Die Blumenmädchen sind zwielichtige Figuren. Sie bieten Alexanders Soldaten ihre Liebe an und stellen damit eine Gefahr dar, da sie das makedonische Heer von seinem Feldzug mit Alexander abbringen könnten. Alexander hat sich also mit seinem Liebesverzicht dem magischen Bann der Feenwelt entzogen. Bleiben wir einen Augenblick bei der Venedig-Fassung B. Sie steht AdP sehr nahe. Alexander entzieht sich ebenfalls der Versuchung, im Walde die Liebe zu genießen, und gibt auch die Absicht auf, eines der Mädchen mit sich zu nehmen (6128 – 6131). Es gibt jedoch einige Abweichungen. So stehen die Laisses B 192 und 193 zwischen AdP 196 und 199. Aber es gibt etwas Wichtigeres: Auch in B ergreifen die Mädchen die Initiative (B 6099 – 6101). Diese Verse entsprechen AdP 3460 – 3462. Doch die Verse AdP 3358 f. fehlen. Es wird daher in B nicht gesagt, dass sie die Männer über alles in der Welt lieben und daher jede meint, sich daran erfreuen zu können. Es fehlen gleichfalls die Verse B 3518 – 3520. Somit entfällt die Idee, dass die Blumenmädchen eine Gefahr für Alexanders Heer bedeuten. Susanne Friede (2003), die diese Episode in der Version des Alexandre de Paris eingehend untersucht hat, konnte zeigen, dass in der Episode der Blumenmädchen eine originelle Bearbeitung des Motivs des Aufenthalts eines Sterblichen in dem Feenreich steckt, nämlich das Schema des morganischen Märchens (vgl. die Lais Graelent, Gungamor, Lanval).Wie in diesen drei Lais ist die Welt Alexanders und seiner Krieger völlig verschieden von der der Blumenmädchen. Es besteht eine Grenze, über die der Held gehen soll, um in die andere Welt einzudringen; er muss Hindernisse überwinden; schließlich ist der Fluss das entscheidende Element in der Beschreibung des Feenreiches. Susanne Friede denkt, dass Guingamor der AdP am nächsten stehende Lai ist. Aber AdP zerbricht das Schema des morganischen Märchens in dem Maße, wie Alexander sich als ein „epischer Held“ erweist, indem er der Verbindung mit einer Fee Widerstand leistet, um seine Rückkehr in die epische Welt der Kämpfe nicht zu gefährden¹⁵⁰. AS enthält die Blumenmädchen-Episode ebenfalls (AS 5157– 5358). Sie setzt Alexanders wunderbare Abenteuer, so die Blumenmädchen-Episode, bei der ich mich aufhalten werde, und die Candacis-Episode in einen im Mittelalter als real gedachten Raum, in die Geographie der Enzyklopädien. Die Episode ist im deutschen Text länger als im französischen (201 Verse) und reicher an Beschreibungen. Sie weist sowohl sehr große Ähnlichkeiten als auch nicht belanglose Unterschiede zum französischen Text auf. Es gibt weder das Überschreiten einer

 Susanne Friede, Die Wahrnehmung des Wunderbaren. Der Roman d’Alexandre im Kontext der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts, Tübingen 2003, S. 80.

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Grenze noch eine Brücke mit Automaten noch einen Fluss, über den Alexander gehen soll. Dennoch gibt es eine Wasserfläche unfern des Waldes der Blumenmädchen, ein Meer (V. 5157). Nur der Zugang zu einem Wald, in dem die Menschen ihre Nahrung gewinnen, wird von zwei Riesen verwehrt, die Alexander durch die Schreie aller seiner Krieger in die Flucht schlagen lässt (V. 5083 – 87); aber dieser Wald grenzt nicht an den der Blumenmädchen. In der S-Redaktion besteht die Episode aus einem Stück, im Gegensatz zu AdP, der die Erzählung vom Überqueren der Drehbrücke, die durch Zauberei den direkten Zugang zu den Mädchen verwehrt, unterbricht. Die Blumenmädchen werden zuerst von weitem gesehen, unter den Bäumen sitzend (Laissen 194– 195 – 196 – 197– 198). In AS gelangen Alexander und seine Krieger, die Wunder sehen wollen (V. 5161), zu einem wunderschönen Wald, der so dicht ist, dass das Sonnenlicht den Boden nicht erreichen kann. Der Wald, in dem es zahlreiche Quellen gibt, liegt unweit einer schönen Wiese. Die Krieger hören süßen Lyren- und Harfenklang und liebliche Stimmen, und Alexander weiß nicht, woher die Musik kommt. Von diesen wundervollen Klängen angelockt, tritt er mit seinen Gefährten in den Wald hinein. Erst jetzt erblicken sie die Mädchen, die im grünen Klee spielen und deren Lieder wie Petitcrius Glöckchen im ‚Tristan’ Gottfrieds von Straßburg (V. 15845 – 15873) all das Leid und die Traurigkeit der Helden, all ihre Ängste, sogar die Angst vor dem Tod, vergessen machen. Alexandre de Paris kennt dieses Motiv nicht. Die Blumenmädchen sind zahllos (AV 5214), und wie im französischen Text haben sie keine Königin. Der Redaktor erklärt daraufhin diese wunderbare Erscheinung. Am Anfang des Sommers, wenn die Natur wieder ergrünt, wachsen im Walde wunderschöne Blumen, rote und weiße, denen, wenn sie aufgehen, unvergleichlich schöne Mädchen entsteigen. Wie im französischen Text müssen sie im Schatten der Bäume bleiben, sonst sterben sie. Ihre Kleidung ist mit der Haut und dem Haar verwachsen, so dass sie wahrhaftig wie Blumen aussehen (AS 5300 – 03); bei AdP war demgegenüber nur gesagt worden, die Blumen seien außen ihr Gewand (V. 3536). Wie die Sirenen locken die Blumenmädchen durch ihren süßen Gesang die Männer, so dass Alexander und seine Krieger unwiderstehlich von ihnen angezogen werden. Wie bei AdP gehen sie dem Helden und seinen Gefährten entgegen (V. 5307), die nie so schöne Frauen gesehen haben: ihre sexuellen Reize erregen ihre Begierde (v. 5307). Man sieht, dass die sexuelle Begierde der Makedonier in AS stärker betont wird als im französischen Text, in dem die Mädchen die Männer anfeuern, ihre Begierden zu erfüllen (S 3461– 3462). Der Held ist nur mit einem kleinen Trupp von dreitausend Kriegern in den Wald gekommen. Er lässt dann die ganze Armee nachrücken, damit all seine Soldaten die wunderschöne Musik hören und die wunderschönen Frauen sehen (V. 5310). Sie schlagen ihre Zelte im Wald auf, und nicht auf der Wiese, das wird deutlich gesagt, wohl weil die Wiese in der hellen Sonne liegt. Alle, auch Alexander, der in der ganzen Episode in den

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Vordergrund gestellt wird, genießen die Liebe mit ihnen und machen aus ihnen ihre Frauen. Nie in ihrem Leben haben sie größere Liebesfreuden genossen, unterstreicht der Redaktor (AS 5318 – 5325). Sie bleiben länger da als bei AdP, drei Monate und zwölf Tage. Die Blumenmädchen gehören zu den Wundern (V. 5828), die Alexander sehen wollte. Sie scheinen nur von Luft und Liebe zu leben, denn im Gegensatz zu AdP 3468 – 3478 werden keine köstlichen Mahlzeiten für 40000 zubereitet. Anders als in AdP müssen in der S-Redaktion Alexander und seine Mannen den Wald verlassen, weil im Herbst, wenn die Bäume ihr Laub verlieren und die Vögel aufhören zu singen, die Blumen verwelken und die Mädchen sterben (AS 5343 – 5347). Dieses Naturphänomen scheint zahlreiche Tage gedauert zu haben, denn Alexander muss tagelang dem Verwelken der Blumen beiwohnen und somit dem langsamen Sterben der Mädchen (V. 5352– 56), was ihn und seine Krieger mit Trauer erfüllt. Erst nachdem alles vorbei ist, verlassen sie den Wald mit traurigem Herzen.Während im französischen Text der Zyklus jedes Jahr von neuem beginnt, nach dem Beispiel der ewigen Wiederkehr der Jahreszeiten¹⁵¹, ist die Situation im Straßburger Text einmalig und äußerst tragisch. Das Glück ist nicht nur vergänglich, sondern auch illusorisch, betrügerisch. Es sind immer neue Blumen, die am Anfang des Sommers aufblühen und denen Mädchen entsteigen; im Herbst verwelken die Blumen, und die Mädchen sterben; der Zyklus ist unterbrochen, bis neue Blumen im Frühling wieder aufblühen und so immer weiter. Alexander und seine Krieger verlassen den Wald, sobald die Mädchen verwelken und sterben. Da die Mädchen sterben, laufen Alexander und seine Mannen nicht Gefahr, von dem magischen Zauber gefangen gehalten zu werden, den die Mädchen auf sie ausüben. Der Held darf also die Liebesfreuden genießen, die nicht von Dauer sind. Der Wald, in dem sie leben, ist eine Art Paradies, aber nur ein vorläufiges Paradies, denn die Mädchen kommen im nächsten Frühling nicht wieder zum Leben. Das Paradies ist vorübergehend wie in der Petitcriu-Episode. Sobald Isolde die Kette abbricht, an der das Glöckchen hängt, ist es vorbei mit den Wonnen, die dieses spendet. Man könnte die Blumenmädchenepisode, wie sie der S-Redaktor erzählt, auch mit der Minnegrottenepisode in Gottfrieds ‚Tristan’ vergleichen, wo das Glück, das die Liebenden kennen, auch vergänglich ist, und wo die Liebenden um ihrer Ehre willen fortgehen. Die Blumenmädchen-Episode ist nicht von Alexandre de Paris in den Roman eingefügt worden, sondern schon zuvor, vielleicht von Lambert le Tort¹⁵², man

 Catherine Gaullier-Bougassas, Les Romans d’Alexandre. Aux frontières de l’épique et du romanesque, Paris 1998 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Age), S. 451– 452.  Catherine Gaullier-Bougassas, 1998, S. 235; Friede, Susanne, 2003, S.23.

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weiß nicht, in welcher Form, vielleicht in der Form, die sie in AS hat. Wenn die SFassung und der französische Alexanderroman tatsächlich dieselbe Vorlage haben, wie es Friede¹⁵³ vermutet, hätte Alexandre de Paris die Blumenmädchenepisode nach dem Beispiel der „Lais“ neu gestalten können, während AS, dem die den „Lais“ nahestehenden Elemente fehlen, seiner Vorlage treu gefolgt wäre. In jedem Fall ist es wichtig, dass Alexander nicht bei den Feen bleiben durfte, sondern seinen Weg fortsetzte, denn sonst hätte der Roman hier aufgehört. Der Dichter musste der Vollständigkeit halber Alexanders Lebensgeschichte bis zum Vergiftungs-Ende weiterführen. Heben wir zum Schluss folgendes hervor: Der AS-Redaktor hat sich Elemente aus seinen verschiedenen Vorlagen ausgesucht, meistens ist er dabei linear vorgegangen und hat die Episoden angeordnet, wie sie in den Vorlagen waren; manchmal hat er Episoden verschoben, umgestellt und in einen anderen Zusammenhang gebracht. Wie der ‚Roman de Toute Chevalerie’ des Thomas of Kent oder wie AdP¹⁵⁴ ist die AS also gleichsam ein „Patchwork“, wo Elemente aus verschiedenen Quellen, die der AS-Redaktor sich aus seinen Vorlagen ausgesucht und dann sowohl aus dem Französischen als auch aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt hat, zusammengesetzt werden, wie z. B. der Lanzelet Ulrichs von Zazikhoven oder der Wigalois Wirnts von Gravenberg, zwei Werke aus den zwei ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts (mit dem Unterschied jedoch, dass diese zwei Dichter sich die Bausteine ihrer Werke aus deutschen klassischen Werken ausgesucht haben)¹⁵⁵. Die Kompositionstechnik der S-Redaktion ist also sehr modern und liefert ein Argument für ihre Spätdatierung. Was ebenfalls auffällt, ist, dass am Schluss der AS-Redaktor die AlexanderGestalt nicht nur in einem günstigen Licht darstellt, sondern sie auch christianisiert. Alexander, der mit der Paradiesfahrt die von Gott dem Menschen zugewiesenen Grenzen überschreiten und in Gottes Machtbereich eingreifen wollte, bekehrt sich. Er folgt genau der Belehrung – einer Art memento mori – des weisen Juden, der ihm den aus dem Paradies herausgereichten Stein deutet, und wird zum rex iustus et pacificus, und dies zwölf Jahre lang. Denn im Gegensatz zu dem, was bei AdP erzählt wird, stirbt er nicht am Ende seiner Orientfahrt, was auch dazu beiträgt, diese Fahrt viel positiver zu deuten, als es bei AdP geschieht, wo die

 Susanne Friede 2003, S. 74.  Catherine Gaullier-Bougassas, 1998, S. 217– 237.  Danielle Buschinger, Réalité et imaginaire dans l’Alexandre de Strasbourg. In: Anna KukulkaWojtasik (Hg.), Réalité et imaginaire, Toruń 2003, S. 55 – 70; Danielle Buschinger, „Traduction et adaptation dans ‚L’Alexandre de Strasbourg‘. La réécriture du roman d’Alexandre.“. In: Pratiques de traduction au Moyen Age. Actes du colloque de l’Université de Copenhague. 25 et 26 Octobre 2002. Medieval translation practices. Ed. by Peter Andersen, Kopenhagen 2004, S. 82– 95.

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Indienfahrt wie ein zielloses Umherirren auf der Suche nach der Unsterblichkeit aussah.¹⁵⁶ AdP stellt am Ende des Romans alles Positive im Leben des Helden wieder in Frage: Er prangert seine desmesure (seine Maßlosigkeit) an, durch die er alles verliert (IV 1642 oder IV 1673 – 74), was das vorangehende, dithyrambische Lob (IV 1635 – 41) zunichte macht und auf eine Verurteilung Alexanders hinauskommt. Dabei denkt man an die Deutung des Traums des jungen Alexander am Anfang des Werkes: Keiner seiner Wünsche werde sich realisieren (I 305 – 308).¹⁵⁷ Der S-Redaktor schließt zwar die Vita des Alexander mit diesen mahnenden Worten ab: Nichts von dem alledem, was er errungen habe, habe er behalten, außer sieben Fuß Erde, wie der allerärmste Mann, der jemals auf die Welt gekommen sei (AS 7274– 7278), und er beendet sein ganzes Werk mit einem neuen, an das Publikum gerichteten memento mori. Während der altfranzösische ‚Roman d’Alexandre’ am Ende der Erzählung den Helden verurteilt, zeigen die ganze Orientfahrt sowie der Schluss mit der Bekehrung Alexanders, dass der AS-Redaktor, genau wie die AV-Fassung, die die Alexander-Figur als positive Gestalt gewertet hat, besonders wenn man die Tyrus-Episode im allgemeinen Rahmen der Handlung betrachtet, denn auf diese Weise macht die Eroberung von Tyrus durch Alexander, sowohl in der Vorauer Fassung des deutschen Alexanderromans, wo sie durch den ausdrücklichen Bezug auf das erste Makkabäerbuch und auf das Daniel-Buch mit der Ausgestaltung des Daniel-Traumes als ein Teil der Heilsgeschichte aufgefasst werden könnte¹⁵⁸ (V 467– 478), als auch im französischen Alexandre décasyllabique und im zwölfsilbigen Roman d’Alexandre des Alexandre de Paris, in dem die Eroberung Tyrus’ ausschließlich vom göttlichen Beistand abhängt¹⁵⁹, eine Etappe in der Vernichtung des persischen Reiches aus, das nach der Theorie der translatio imperii vom makedonischen Reich abgelöst werden sollte (Dn. 7)¹⁶⁰.

 Alexandre de Paris, Le Roman d’Alexandre. Traduction, présentation et notes de Laurence Harf-Lancner (avec le texte édité par E.C. Armstrong et al.), Paris 1994 (Lettres Gothiques), S. 57.  Laurence Harf-Lancner 1994, S. 50 – 53; Catherine Gaullier-Bougassas 1998, S. 511.  Trude Ehlert, Deutschsprachige Alexanderdichtungen …, S. 38 ff.Vgl. auch George Gary, op.cit., S. 45.  Catherine Gaullier-Bougassas, Les Romans d’Alexandre. Aux frontières de l’épique et du romanesque…., o.c., S. 292. Siehe auch Martin Gosman, La légende d’Alexandre le Grand dans la littérature française du 12e siècle. Une réécritre permanente, Amsterdam, Rodopi, 1997, S. 208 – 209. Siehe auch Christophe Thierrys Dissertation, L’Alexandre de Strasbourg. De la convoitise à la charité, Amiens 2008 (erscheint demnächst).  Catherine Gaullier-Bougassas, Les Romans d’Alexandre. Aux frontières de l’épique et du romanesque…., o.c., S. 292– 293.

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2.1.3 Höfischer Roman: Die „matière de Bretagne“ 2.1.3.1 Die Tristan-Sage Der Tristan-Stoff ist ein Seitenzweig der „matière de Bretagne“, soweit die Handlung in der Bretagne (Britannien) spielt, sowohl in der Petite Bretagne oder in der heutigen Bretagne als auch in der insularen Bretagne (im römischen Britannien, also im heutigen Großbritannien), soweit auch in manchen Werken König Artus selbst auftritt. Alle Tristan-Romane gehen direkt oder indirekt auf ein und das selbe, allerdings nicht überlieferte Werk zurück: auf den altfranzösischen Ur-Tristan, die sogenannte Estoire. Dieser Ur-Tristan ist wahrscheinlich gegen 1158 am Hofe Alienors von Aquitanien und ihres Gatten, Heinrichs II., verfasst worden, vielleicht in England, aber in (alt)französischer Sprache, da man am englischen Hofe seit der Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer im Jahre 1066 französisch sprach. Dessen ungeachtet müsste der Autor zumindest zweisprachig gewesen sein. Er beherrschte das Französische und das Keltische und war in beiden Kulturen, der französischen wie der keltischen, verwurzelt. In den uns erhaltenen Werken finden sich nämlich Motive und Episoden, die man auch in irischen Erzählungen aus dem Mittelalter antrifft, so dass für den Ur-Tristan u. a. keltische Einflüsse erschließbar sind. Wenn man alle erhaltenen Tristan-Romane miteinander vergleicht, kann man folgende Hypothese aufstellen: Der Ur-Tristan beinhaltet, ineinander verschlungen, die Gliederungen einer Brautwerbungssage und die eines keltischen Märchens nach dem Musterbild Diarmaid und Grainne mit „aithed“ und „geis“, die bereits oder auch nicht durch das immram erweitert worden sind: die keltische „geis“ ist durch den Liebestrank ersetzt worden, und vom Motiv der Brautwerbung verbleibt der Gedanke der erwiderten, aber vereitelten Liebe. Der Urheber der Estoire, dem außerdem daran liegt, das Motiv der heimlichen Besuche des Geliebten aufzugreifen, ist genötigt worden, um Tristan und Isolde dazu zu veranlassen, eine Trennung zu erwägen, die Wirksamkeit des Liebestrankes, die nicht wie die der keltischen geis, an deren Stelle er getreten war, unbegrenzt andauern konnte, zeitlich zu begrenzen. Da er jedoch nicht Sorge trägt, alles von vornherein zu erläutern, ist er sich wohl der Widersprüchlichkeiten, die das völlige Erlöschen der Wirkung des Liebestranks im weiteren Handlungsablauf des Romans nach sich zieht, nicht bewusst geworden, und so hat er die trotz allem fortdauernde Liebe Tristans und Isoldens nicht begründet. Der Verfasser hat dann seine Erzählung mit Themen, die verschiedenen Quellen entlehnt sind, ausgeschmückt, so z. B. mit dem volkstümlichen Drachenmotiv oder mit dem gefälschten Eid, welchen er einer orientalischen, nicht keltischen, Stoffquelle entnommen hat.

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Wie im Spielmannsepos besteht sein Held Tristan eine wachsende Anzahl von sehr lose zusammenhängenden Abenteuern. Kurz gesagt, der erste Tristanroman ist eine Verquickung von sehr unterschiedlichen Märchenmotiven, eine Aneinanderreihung von allmählich mit dem Haupthelden verknüpften Motiven. Und so darf man wohl wagen, den Ur-Tristan, dessen Anordnung sehr rudimentär ist (sein Aufbau muss als diskontinuierlich bezeichnet werden, und Zusammenhänge werden nicht immer deutlich; außerdem lassen sich zahlreiche Widersprüchlichkeiten feststellen) mit dem „conte d’aventure“, aus dem Chrétien de Troyes eine „moult bele conjointure“ gezogen hat, zu vergleichen.¹⁶¹ Von diesem Ur-Tristan können folgende Werke direkt abgeleitet werden, d. h. sie haben ihn alle als Vorlage gehabt: ‒ drei französische Romane, zwei nur fragmentarisch überlieferte Versromane (Béroul – um 1190 ? –, und Thomas d’Angleterre – um 1160 – 1170 ?–) und ein Prosaroman (1225 – 1235); ‒ ein Episoden-Gedicht in französischer Sprache (die sogenannte Folie Tristan: Tristan als Tor, Berner Fassung – Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts); ‒ der deutsche Versroman Tristrant und Isalde Eilharts von Oberg, die einzig vollständig erhaltene Versfassung des Mittelalters und zudem der einzige Textzeuge, mit dessen Hilfe die verlorene altfranzösische versepische Urfassung zurückgewonnen werden kann, so dass ihm für die französische wie für die deutsche Literaturgeschichte eine große Bedeutung zukommt. Dennoch darf man den Tristrant nicht als reine Übersetzung der Estoire betrachten. Er ist eine Nachdichtung (adaptation créative)¹⁶² gleicher Art wie der unvollendete, zwischen 1200 und 1210 entstandene Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, der auf der Version des Thomas fußt. Eilhart von Oberg hat seinen Tristrant um 1170 aller Wahrscheinlichkeit nach in Braunschweig verfasst, am Hofe Heinrichs des Löwen, des sächsischen Herzogs, der Lübeck wieder aufbaute und München gründete, und seiner Gattin, Mathilde von England, der Tochter der Alienor von Aquitanien, die ihm wohl aus England die Vorlage zu seinem Epos mitbrachte, und zwar den Ur-Tristan. ¹⁶³ Eilharts Tristrant ist der einzige deutsche Text, an den sich eine Tradition anschließt.

 Siehe unten.  Siehe Danielle Buschinger, Le „Tristrant“ d’Eilhart von Oberg, Lille/ Paris, Honoré Champion, 1974/75.  Siehe z. B. Christa Bertelsmeier-Kierst, „Verortung im kulturellen Kontext: Eine andere Sicht auf die Literatur um 1200.“ In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Liberalmität von 1200 – 1300. Cambridger Symposion 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 23 – 44, hier S. 34– 36.

2.1 Versliteratur

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Von allen übrigen haben wir nur noch Bruchstücke. Nun komme ich zum zweiten Niveau, d. h. zu den Werken, die nur indirekt auf den ersten Tristan-Roman zurückgehen: Diese Werke sind von zwei Romanen abgeleitet, von dem Tristan des Thomas d’Angleterre und von dem Tristrant Eilharts von Oberg.

2.1.3.1.1 Thomas’ Tristan Der anglonormannische Dichter hat als Ziel, den Ur-Tristan als Verherrlichung der fin’ amor zu interpretieren. Er behält die dafür am besten geeigneten Episoden bei; je nach Bedarf vervollständigt er seine Schilderung, ändert sie ab, um sie so mit seiner Auffassung des Romans in Übereinstimmung zu bringen. In der Tat eliminiert er gewisse Elemente, wenn sie mit der Ideologie der fin’ amor in Widerspruch stehen (z. B. die Episode des Scheiterhaufens und der Aussätzigen, die Vermittlung des Einsiedlers Ogrin, die Vollziehung der Ehe Tristans mit Isolde Weißhand), oder er ändert sie ab. So ersetzt er die Episode Nampetenis-Gariole, wie sie bei Eilhart und in der Hs. 103 des französischen Prosaromans, folglich in seiner Vorlage,¹⁶⁴ erscheint, durch die, in der Tristan, l’„Amerus“ genannt, die Ehre Tristans des Zwerges rächt, weil ihn dieser im Namen seines idealen Wertes als Liebenden beschworen hatte. Dieser Austausch erfüllt hauptsächlich den Zweck, aus Tristan ein Musterbeispiel aller Liebenden zu machen, die fin’ amor Tristans zu preisen; er wandelt auch das raue und harte Leben im Walde in ein paradiesisches Dasein um, außerdem gestaltet er den Schluss der Waldlebenepisode anders, indem er die vereinten Liebenden von Marke zurückrufen lässt. Er macht aus dem Liebestrank nicht die Ursache, Erklärung und Entschuldigung der Liebe zwischen Tristan und Isolde, sondern „das absolute Symbol der ewigen Liebe“, „das idealisierte Sinnbild der erwiderten, ersehnten Liebe“ (Frappier), und schließlich ergänzt er den doppeldeutigen Eid seiner Vorlage durch das Ordal, um aus seinem Werk eine Hymne auf die fin’ amor zu machen: Während bei Béroul die unbestreitbare Hilfe, die Gott den Liebenden angedeihen lässt, stillschweigend mitklingt, wird der göttliche Beistand bei Thomas deutlich unterstrichen: „jenseits von Gut und Böse verkündet Gott feierlich die Unschuld Isoldens“ (Frappier). Aber bei all seinen Veränderungen, die er an dem Text seiner Vorlage vornimmt, stützt sich Thomas doch fortlaufend auf diesen Text; wahrscheinlich hat er seiner Vorlage ein sehr loses Gedankenschema entnommen,

 Ich habe versucht zu zeigen, dass die Hs. BnF 103 des französischen Prosaromans, zumindest der Schluss der Prosa, eine Prosaauflösung der Estoire ist.

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welchem er die Ausarbeitungen seiner eigenen Erfindung hinzufügt und welches er nach seinen Interpolationen und Umgestaltungen getreu wiederaufnimmt. Wie Chrétien de Troyes hat Thomas d’Angleterre aus dem Text seiner Vorlage eine „conjointure“ gezogen, die, nach Eugène Vivaver¹⁶⁵ „réunit, rassemble ou organise des éléments divers et même dissemblables, […] ce qui les transforme en un tout organisé“.

a) Thomas’ Tradition: Tristramssaga – Sire Tristrem – Tristan als Tor Thomas’ Tristan, von dem nur Fragmente erhalten sind, wurde ins Norwegische übersetzt (die Tristramssaga von Bruder Robert, 1226), und ins Englische (Sire Tristrem, ein Werk, das zwischen 1294 und 1330 in Nordengland verfasst worden ist). Diese beiden Werke geben uns den Inhalt von Thomas’ Tristan wieder und haben einen geringen literarischen Wert (besonders Sire Tristrem). Wenngleich vom Tristan Thomas’ nur der Schluss und die Überfahrt Isoldens und Tristans von Irland nach Kornwall und die Brautnacht Isoldens und Markes erhalten geblieben sind, kann dennoch mittels dieser zwei Zeugen der ganze Text rekonstruiert werden. Auf Thomas’ Werk geht auch ein episodisches Gedicht zurück, die Oxforder Version von Tristan als Tor, die sich auch an die Berner Fassung anschließt.

b) Gottfrieds Tristan Außerdem wurde Thomas’ Tristan von Gottfried von Straßburg ins Deutsche übertragen: Gottfrieds Tristan gehört zur literarischen Textsorte der Übersetzung altfranzösischer Romane ins Deutsche bzw Nachdichtung. Seinen Tristan dichtete Gottfried im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts (1205 – 1210). Die gesamte Überlieferung bis 1300 weist ihrem Ursprung nach auf das Elsass, Gottfrieds Heimat: Alle Handschriften sind wahrscheinlich in einer einzigen Schreibstube entstanden, die sich in Straßburg befand. Gottfried schließt sich selbst an Thomas d’Angleterre an: als seine Quelle nennt er das Werk des Thomas von Britannien (V. 150). Leider ist Gottfrieds Tristan unvollendet geblieben (das Werk bricht nach 19548 Versen ab, an der Stelle, wo Tristan erwägt, ob er Isolde Weißhand heiraten soll): Gottfried ist, wie es seine Fortsetzer berichten, vor dem Abschluss des Werkes gestorben.

 Eugène Vinaver, A la recherche d’une poétique médiévale, S. 107.

2.1 Versliteratur

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c) Gottfrieds Fortsetzer Zwei Dichter haben versucht, Gottfrieds Werk zu Ende zu führen, doch griffen sie nicht wie der Elsässer auf Thomas’ Werk, sondern auf Eilharts Tristrant zurück. Es sind Ulrich von Türheim (1230/35), der sich auf den Tristrant stützt, und Heinrich von Freiberg (1290 – 1300), der sich sowohl dem Werk Eilharts als auch dem Ulrichs von Türheim anschließt. Ulrichs Werk hat kaum literarischen Wert, Heinrichs Tristan hat schon ein höheres Niveau, erreicht aber das von Gottfrieds Roman nicht.

2.1.3.1.2 Eilharts Tradition Eilharts Tristrant wurde in Prosa aufgelöst (erste Ausgabe 1484 in Augsburg). Auf diese Prosaauflösung greift Hans Sachs zurück, in fünf Meistergesängen (1551) und in einer Tragödie : Tragedia mit 23 Personen, von der strengen lieb herr Tristrant mit der schönen Königin Isalden, unnd hat 7 Actus –1553– ¹⁶⁶. Eilharts Tristrant wurde auch (ungefähr zur Hälfte) in die tschechische Sprache übersetzt (14. Jahrhundert). Außerdem existieren Wandteppiche, auf denen die Geschichte der beiden Liebenden dargestellt ist, wie der Tristan I (1300) von Wienhausen nahe bei Celle in Niedersachsen, dem das Epos Eilharts als Modell diente. Auf deutschem Boden hat man schließlich noch ein episodisches Epos, Tristan als Mönch, entdeckt, das Ähnlichkeiten mit Eilhart (13. Jahrhundert) auf-

 Die Tragödie von Hans Sachs folgt dem Prosaroman, der selbst aus dem Tristrant hervorgeht. Ihr Ziel, wie das aller seiner Werke, wie das Ulrichs, Heinrichs und des Prosadichters, ist es, mit der Geschichte eine Lehre zu erteilen. Am Ablauf der Geschichte wird keine grundlegende Veränderung vorgenommen, Sachs bewahrt nur die für den Handlungsablauf unbedingt notwendigen Elemente und erteilt seine Lehre am Anfang und am Ende der Tragödie durch den Mund des Herolds. Im Prolog befiehlt der Herold den Zuschauern, diese Geschichte gut im Gedächtnis zu behalten, und hebt die großen Leiden der Liebenden hervor, indem er unterstreicht, dass sie von der Liebe hervorgerufen wurden. Im Epilog, der Spuren des Epilogs des Prosaromans erkennen lässt, erteilt er die Lehre der Geschichte: Die ehebrecherische Liebe wird unwiderruflich verurteilt. Sie bringt nur Leid, kurze Freude und langes Leiden, Unehre und Unglück. Als Bürger des Rechtes und der Moral warnt Hans Sachs die Menschheit vor solcher Liebe, die ein vergifteter Honig ist, und fordert sie auf, nur in ehelichen Banden zu lieben, da diese Liebe von Gott geweiht ist. Im Texte selbst folgt jedoch Hans Sachs bei Isoldes Liebestod seiner Quelle sehr genau. Wie bei Eilhart und im Prosaroman versteht Isald gleich bei ihrer Ankunft, dass Tristrant tot ist. Sie nähert sich der Bahre, wo er liegt, und befiehlt Isald II., die weinend daneben steht, zurückzutreten, denn sie habe Tristrant mehr geliebt als diese. Somit offenbart Isald die Königin Tristrants Ehefrau die absolute Liebe, die sie mit ihrem Freund verband. Übereinstimmend mit den Vorlagentexten zeigt die blonde Isolde, dass ihre Liebe, eine ehebrecherische Liebe, höher zu bewerten sei als die Liebe einer Ehefrau.

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weist,¹⁶⁷ und ein ripuarisches Epos, von dem nur ein Fragment erhalten ist (14. Jahrhundert) und das vielleicht die Dichtung des Thomas d’Angleterre zur Vorlage hatte, wobei es allerdings Abweichungen zu diesem Epos aufweist. Während die französische Überlieferung der Versromane äußerst dürftig ist (man hat nur Fragmente, was zeigt, dass man die Romane nicht abschrieb, wahrscheinlich weil die Tristan–Sage eine subversive Sage war, welche die Grundlagen der Gesellschaft angriff – ehebrecherische Liebe –, und dies zu einer Zeit, wo die Kirche die Ehe zu einem Sakrament erhob, um die Gesellschaft gut in ihrer Gewalt zu haben),¹⁶⁸ bleibt die Tristan-Sage in Deutschland bis ins 15. Jahrhundert sehr lebendig.

Eilharts von Oberg Tristrant Schon durch die Lombarden in den Handschriften wird deutlich, dass Eilhart eine Vier-Teilung seines Romans anstrebte, die den Sinn des Ganzen unterstreicht: ‒ Vor dem Liebestrank: Tristrant lebt nur für seine Heldentaten; ‒ Nach dem Liebestrank und bis zum Waldleben: Tristrant und Isalde befinden sich nicht am gleichen Ort, aber ihre Liebe wird durch die Hindernisse am Hof vereitelt; ‒ Nach dem Waldleben bis zum Zauberkissen: Tristrant lebt verbannt und scheut keine Anstrengungen, wieder vor Isalde zu erscheinen; ‒ Vom Zauberkissen bis zum Schluss: Ein Bruch schließt sich an die Episode mit dem Zauberkissen an: Tristrant ist genötigt, sich vor Isalde zu rechtfertigen und Isalde muss die Gnade Tristrants verdienen (Episode des härenen Hemdes), aber hier überspannt Eilhart ein wenig die Symmetrie. Innerhalb dieses unmitttelbar dem französischen Roman entnommenen Gedankenschemas schreibt Eilhart sein Werk neu.¹⁶⁹ Nun, welches ist der Grundgedanke von Eilharts Tristrant ? Eilhart von Oberg macht aus seinem Werk die Illustration des Gegensatzes zwischen der höfischen Liebe, der „rechten minne“, deren idealisierte Vertreter Tristrant und Isalde die Königin sind, und der ehelichen Liebe, der „falschen Liebe“, die durch König Marke und Isalde II. (d. h. Tristrants Ehefrau) verkörpert wird, aus denen er einen Anti-Tristrant und eine Anti-Isalde macht, um den Sieg  Siehe Danielle Buschinger, Tristan allemand, Paris, Champion, 2013, S. 209 – 212.  Vgl. Georges Duby, Le chevalier, la femme et le prêtre, Paris, Hachette, 1981.  Zu den Einzelheiten, siehe D. Buschinger, Le Tristrant d’Eilhart von Oberg. op. cit., und dieselbe, „Textgliederung in der Eilhart von Oberg-Tradition (Versroman und Prosaauflösung)“. St-Petersburger Tagung, Juni 2017, im Druck.

2.1 Versliteratur

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der „rechten minne“, d. h. der außerehelichen Liebe, über die „falsche Liebe“, d. h. die eheliche Liebe, aufzuzeigen. Die Szene, in der Eilhart seine Auffassung der Liebe exemplifiziert, ist die Szene des Todes der Liebenden, in der er die zwei Isalden (d. h. Isalde die Königin und Isalde die Bretonin) sich vor dem Sterbebett des Helden einander gegenübertreten lässt und Isalde die Königin vor allen Anwesenden behauptet, Tristrant mehr geliebt zu haben, als es die Bretonin tat:  H „frow, ir solt uff her stan und laussend mich näher gavn. ich wain in billicher dann ir, er waß mir lieber dann üch ÿe.“

Isalde die Königin, die alles, was sie besitzt, aufgibt, und ihren Rang in der Gesellschaft aufopfert, alle Schranken der ritterlichen Welt niederreißt und ans Sterbebett ihres Geliebten gekommen ist, um ihr Schicksal als Liebende bis ans Ende zu erfüllen, verkündet Isalde der Bretonin mit lauter Stimme ihre Liebe für Tristrant und definiert sich als vollkommene Geliebte im Gegensatz zur Gattin, als ideale Stellvertreterin der höfischen Liebe, der „fin’ amor“, der „rechten minne“, im Gegensatz zur Stellvertreterin der ehelichen Liebe, der Liebe in ehelichen Banden, der „falschen Liebe“. Sie schiebt diese heftig und gebieterisch von der Todesbahre ihres Geliebten beiseite und offenbart ihr, die von den wahren Gefühlen ihres Manns nichts wusste und nichts wissen durfte, die absolute Liebe, die sie mit Tristrant vereint. In dieser Szene, deren Tragik und dramatische Intensität Eilhart noch hervorhebt und die er nach den Regeln des Theaters konzipiert, steigert er den Antagonismus zwischen Isalde der Königin und Isalde II. Deren Bild als Anti-Isalde vollendet er hier aufs äußerste und unterstreicht mit der größtmöglichen Klarheit den Zwiespalt der Liebenden – die der Tod unzertrennbar vereinen und von allen irdischen Zufälligkeiten befreien wird – mit der feindlichen Umwelt, in der die sozialen Konventionen – von Marke und Isalde II. verkörpert – es ihnen unmöglich machten, ihre Liebe sich öffentlich entfalten zu lassen. So zeigt er den Sieg der „rechten minne“ über die „falsche Liebe“ und verherrlicht damit eine Liebe, die stärker ist als aller Zwang, stärker als der Tod. Zur Verdeutlichung dieser These sei kurz auf eine Episode eingegangen, in der Tristrant als der ideale Liebhaber erscheint, nämlich die von den Wolfsfallen. Aus dieser Episode, die Eilhart verschoben hat (in seiner Vorlage befand sie sich sicher genau wie im französischen Prosaroman vor dem Waldleben), hat der Dichter zugleich eine symmetrische Episode, die im Gegensatz steht zu der Szene vom Mehl auf dem Estrich und die mit dem Todesurteil Tristrants und Isaldens endet. Für die unbesonnene Handlungsweise Tristrants, die Königin in ihrem Bett auf-

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zusuchen, obwohl er weiß, dass er dabei große Gefahr läuft, wird der Trank verantwortlich gemacht. Die Wolfsfallenepisode ist die Konsequenz des Versprechens, das er abgegeben hatte, als er den Eid geleistet hatte, immer einer im Namen seiner Herrin gemachten Beschwörung zu gehorchen, koste es ihn auch sein Leben. Es ist ein Eid, den Eilhart seinem Roman hinzugefügt hat, um aus seinem Helden im 2. Teil seines Werkes einen idealen Liebhaber zu machen. Diese Episode, die zum Vorteil der Liebenden endet, hat nach meiner Hypothese Eilhart an die Stelle der Szene von Isoldens Reinigungseid gesetzt. Diese hatte er aus religiösen Gründen gestrichen (genau wie er in der Szene des belauschten Stelldicheins den doppeldeutigen Eid Isaldens gestrichen hat). Eine solche Szene hätte sicherlich bei Eilharts Zuhörern am sächsischen Hof, an dem ein zugespitztes orthodox-religiöses Empfinden herrschte, Anstoß erregt; dennoch hat der Dichter die handelnden Personen der ausgelassenen Szene als Protagonisten beibehalten, d. h. Artus und seine Ritter.¹⁷⁰ Die Episode der Wolfsfallen wird dann von Eilhart auf den Eid Tristrants abgestimmt: Der Held, der sich vorhin, als er die Königin aufsuchte, der ihm drohenden Gefahr voll bewusst war, weiß jetzt nicht, dass Marke, um ihn zu überführen, Wolfsfallen aufgestellt hat, und er geht zu Isalde, nicht unter dem Antrieb des Liebestrankes, sondern der alleinigen Macht seiner Liebe gehorchend: Die Liebe des Helden wird zur höfischen Liebe und der zweite Teil des Werkes veranschaulicht die Hingabe des Helden an seine Herrin. Eilhart lässt Artus seine Rolle als Gewährsmann spielen (ebenso wie Béroul in der Szene des Reinigungseids, infolgedessen wie seine Vorlage, ihn seine traditionelle Schiedsrichter – und Friedensstifterrolle, seine Rolle als Gewährsmann spielen ließ). Indem er aber den religiösen Hintergrund weglässt, kann Artus sich für Tristrant, den höfisch gewordenen Liebenden, verbürgen und ihn vor dem sicheren Tod retten. Dies ist der Sinngehalt, dem die gesamte Erzählung untergeordnet ist und den der Dichter in den Text seiner Vorlage einführt, der Estoire, die ich mit dem „conte d’aventure“, aus dem Chrétien de Troyes eine „moult bele conjointure“ gezogen hat, verglichen habe. In der Tat, diese Idee, die das ganze Werk durchzieht, darf wohl mit der conjointure gleichgesetzt werden. In anderen Worten: Eilhart greift im Gegensatz zur estoire in seine Erzählung ein, um den Sinn seines Werkes deutlicher zu machen, denn er will mit dem Text seines Gedichtes eine Idee ausdrücken und diese durch die Erzählung selbst veranschaulichen; gegebenenfalls will er auch seine eigenen Gedanken hinzufügen. Man darf also behaupten, dass er genau wie Thomas d’Angleterre an dem teilhat, was Eugène

 Vgl. D. Buschinger, Le Tristrant d’Eilhart von Oberg. op. cit.

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Vinaver¹⁷¹ „the discovery of meaning“ nennt. Er ist also mehr als ein Bearbeiter wie Hartmann von Aue, Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach oder Gottfried von Straßburg anzusehen, deren Vorlagen schon Romane mit einer conjointure versehen waren. Er wäre viel eher mit dem Pfaffen Konrad, der die Chanson de Roland bearbeitet hat, oder mit Heinrich der Glîchezâre, der den Roman de Renart ins Deutsche übertragen hat, zu vergleichen.

2.1.3.1.3 Gottfrieds von Straßburg Tristan Gottfried von Straßburg verfolgt ähnliche Ziele wie Eilhart, aber er geht viel weiter, was leicht zu verstehen ist, wenn man bedenkt, dass seine Vorlage, Thomas’ Tristanroman, schon ein höfischer Roman war. Im Prolog, den er seiner Vorlage hinzufügt und in dem er sein Werk den „edelen herzen“ widmet, die die völlig unauflösliche Einheit von Freude und Leid anerkennen und das Leid als integrierenden Bestandteil gerade der Liebe bejahen. So stellt der Dichter Tristan und Isolde als Muster hin. Sie sind schon lange tot, aber ihr Leben, ihre Liebe, ihr Leid und ihr Tod sind zeitlos gültig, zur Erquickung der Lebenden: Durch ihre Liebe sind sie ewig geworden. Sie wirken und leben für die fort, die Gottfrieds Werk gern aufnehmen wollen. Gottfried schreibt seinen Helden nicht nur eine vorbildhafte, sondern auch eine wirkende Kraft zu. Die Wirkungskraft fasst er unter dem Begriff des Brotes zusammen, indem er das christliche Motiv der Eucharistie verwendet (239 und ist ir tot der lebenden brot). Gottfried scheint von einer Seelenbegeisterung ergriffen zu sein, die sich im sprachlichen Höhepunkt widerspiegelt. Es ist, als wolle er die Hörenden in eine Art Rausch, Ekstase, versenken durch die Wiederholung der gleichen Wörter: liebe, leit, herz, liep, wunne, not, tot, leben, triuwe, ere, herzelieb, herzeleit, vröude. Es handelt sich um eine musikalische Komposition, in der Gottfried gegensätzliche Themen variiert: liep und leit, wunne und not, leben und tot, herzeliep und herzeleit, vröude, clage. Das Motiv der unauflösbaren Einheit von Freude und Leid ist bei Thomas schon im Keime vorhanden: Man erinnere sich an die Verse Douce 746/752, wo Isolde das härene Hemd an ihren nackten Leib legt, um an Tristans Schmerzen teilzuhaben, genau wie sie an seiner Liebe teilhatte. Gottfried hat aber daraus das Hauptthema seines Werkes gemacht. Außerdem hat er die Aristokratie der edelen herzen erfunden, denen er sein Werk widmet. Dennoch ist der Gedanke nicht neu: Chrétien de Troyes bereut im Prolog zum Löwenritter, dass die Liebe in Verfall geraten sei und nur noch wenige Anhänger habe. Chrétien de Troyes benützt das

 Eugène Vinaver, The Rise of Romance, S. 15 – 32.

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Wort „covant“ (V.16: Orden zu deutsch), um den Kreis derer zu bezeichnen, die mit Ehrfurcht von der Liebe wie von etwas Heiligem sprechen (12 – 20). Auch bei Chrétien de Troyes ist die Liebe zu etwas Religiösem geworden, zu dem nur ein enger Kreis Eingeweihter Zugang hat. „Li deciple de son covant“ (v. 16) (die Jünger ihres Ordens) sind mit den edelen herzen Gottfrieds zu vergleichen: Beide erkennen die Einheit von Freude und Leid in der Liebe an. Und da der Löwenritter um 1170 entstanden ist, ist es wohl möglich, dass Gottfried die Idee der edelen herzen Chrétien verdankt. In der Abschiedsszene im Baumgarten wird ein letztes Mal auf die außerordentliche Liebe hingewiesen, die Tristan und Isolde verbindet: Tristan und Isolde bilden eine untrennbare Einheit, so dass Tristans Tod ihre Vernichtung bedeuten würde. Hier haben wir sowohl den Text des Thomas als auch die Übersetzung ins Altnordische, mit denen der Text Gottfrieds verglichen wird.

a) Das Dreieck Thomas – „Saga“- Gottfried: Isoldes Monolog im Baumgarten (Th. Cambridge 40 – 52, S LXVII, 11. 30 – 36, G 18287 – 309) Robert folgt Thomas sehr getreu. Das Bemerkenswerteste ist jedoch, dass Robert nirgends die Ordnung der Verse verändert: Die verschiedenen Etappen folgen aufeinander wie im Original. Im Gegensatz zu Robert übersetzt Gottfried den Thomas-Text jedoch niemals Wort für Wort und behält auch nicht die Ordnung seines Modells bei: Um seine formale Geschicklichkeit hervorzuheben und sich durch eine kunstvoll aufgebaute Redeweise seinem Schönheitsideal anzunähern, strukturiert er den Monolog Isoldes um. So stellt Gottfried von Straßburg an den Anfang seiner Rede die entscheidende Vorstellung der Unzertrennlichkeit der beiden Liebenden (ein Thema, das Thomas erst am Ende seines Monologes anschneidet [49/59] und das bei Robert gänzlich ausgelassen wird), aus der die gesamte Rede bis zu ihrem Höhepunkt, dem Kuss, der die absolute Einheit besiegelt, entwickelt wird. Die sinnfällige und strenge Struktur des Monologs schließt jedoch einen gewissen lyrischen Charakter keineswegs aus, so dass man – wie für den Prolog – von einer „musikalischen Gestaltung“ sprechen kann. Genau wie im Prolog versenkt Gottfried die Hörenden durch die Wiederholung der gleichen Wörter – lip, leben, ich, ir, mir, iuch, wir, mich, min, iuwer –, in eine Art Ekstase, und hier auch kann man von einer musikalischen Komposition sprechen. Isoldes Monolog ist wie eine Fuge aufgebaut, in der das zu Anfang angeschlagene Hauptthema, eben diese untrennbare Einheit, die beide Liebenden bilden, variiert wird. Und zum Schluss gibt Isolde Tristan den Abschiedskuss zum Siegel ihrer absoluten Einheit bis in den Tod (Gottfrieds Text hat unzweifelhaft eine mystische Färbung).

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Gottfrieds Helden sind zu idealen Gestalten geworden. Sie sind zu den idealen Vertretern der Minne, zu Vorbildern erhoben worden, die man nachahmen soll. Das Thema scheint hier das der ewigen Minne zu sein, der Treue bis in den Tod, das Thema der Minne, die nichts auf Erden zu zerstören vermag, und dennoch weist Gottfried auf die Zukunft hin: Er lässt Isolde Worte sagen, die darauf deuten, dass Tristan ihr untreu werden könnte. Damit weist Gottfried auf die Episode hin, in der nach der endgültigen Trennung der Liebenden Tristans Liebe ihre Probe in der Begegnung mit Isolde Weißhand erfahren wird (19057– 19062). Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Gottfried den Thomasschen Text völlig neu einkleidet, so dass man der Entstehung eines völlig neuen Werkes auf der Grundlage des älteren beiwohnt. So baut der Straßburger Dichter nicht nur den Monolog Isoldes um, sondern unterstreicht auch deutlich den Sinn, den er, nach dem Ausdruck Eugène Vinavers,¹⁷² seinem Modell hinzugefügt hat, um die Geschichte zu verschönern: Es handelt sich um die Hinnahme der Freude und des Leids der Liebe durch die Elite der „edelen Herzen“ – auf der einen Seite wird Gottfried also etwas systematisiert haben, was bei Thomas in nuce schon vorhanden war (hier ist an die Verse Douce 746/752 zu denken, in denen Isolde das Büßerhemd anzieht, um Schmerz und Trauer ihres Freundes so zu teilen, wie sie früher ihre Liebe geteilt hatten), und auf der anderen Seite erfindet er das Ideal der „edelen Herzen“, denen er sein Buch widmet. So stellt der Dichter in jenem Augenblick, da das im Prolog ausgedrückte Ideal ernsthaft in Gefahr zu geraten scheint – Tristan verlässt seine Geliebte und begibt sich ins Exil, wo er versucht, dieser Liebe, die ihn zu sehr quält, zu entsagen – den beispielhaften und idealen Charakter der Liebe zwischen Tristan und Isolde heraus. Gottfried verfährt also bei der Übertragung seiner Vorlage nicht so mechanisch wie ein Übersetzer, der wie Robert manchmal das Wesentliche unberücksichtigt lässt, sondern er nimmt die reflektierende Haltung eines Umarbeiters ein, der wie Hartmann oder Heinrich von Veldeke die Kernpunkte in den Vordergrund rückt. Wenn Tristan und Isolde zu Idealen erhoben werden sollen, dann soll ihre Liebe auch gerechtfertigt werden und Marke, der Ehemann, als schuldig erscheinen. Dies ist tatsächlich der Fall. Nach Thomas rechtfertigt Gottfried die Liebe Tristans und Isoldes in der Episode der Harfe und der Rotte. Der fahrende Ritter Gandin überlistet Marke mit seinem vorzüglichen Rottenspiel und entführt Isolde, da Marke sich außerstande sieht, für seine Frau zu kämpfen. Im letzten Augenblick tritt Tristan, der sich auf einer Jagd befand, dazwischen, und befreit Isolde durch eine Gegenlist: Er ge-

 Eugène Vinaver, The Rise of Romance, S. 15 – 32.

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winnt die gegen Rottenspiel vergebene Isolde mit Harfenspiel zurück und heißt Marke fürderhin, doch besser auf der Hut zu sein; er macht seinem Onkel die heftigsten Vorwürfe: Marke habe sich der Welt zum Gespött gemacht. Tristan ist es, der das Ansehen des Hofes wiederhergestellt hat. Hier, wie in der Moroltepisode, in der er Kornwall vom Tribut, der an ihr Land zu zahlen war, befreite, indem er den irischen Kämpen Morolt im Zweikampf besiegte, hat Marke die Gefahr nicht abwehren können. Seine eigenen Kräfte hält der König für zu gering. Das Opfer sollte damals der Zins sein, den Morolt verlangte, jetzt soll es Isolde sein. Marke spielt dabei eine klägliche Rolle. Er soll als Kontrastfigur zu Tristan verstanden werden. In dieser Episode kann man wohl eine Rechtfertigung für die Liebe Tristans und Isoldes sehen. Der König, der in zaghafter Schwäche sein Weib für ein Saitenspiel hingibt, hat jedes menschliche Recht auf diese Frau verloren. Derjenige indessen, der diese Frau wieder befreit, hat auch das menschliche Recht auf ihren Besitz. Von hier aus gesehen offenbart sich, dass die Gandin–Episode eine der zentralen Handlungsteile des Romans überhaupt ist. Dieser Erzählungsteil soll dazu dienen, Marke im menschlichen Sinn schuldig werden zu lassen und damit die innere Berechtigung auf die Seite der Liebenden zu legen: hüetet miner frouwen baz! (13450) sagt Tristan zu Marke. Diesen Verweis hat Gottfried fast wörtlich aus seiner Vorlage übernommen: Die Verse G 13441– 50 sind parallel zu Saga, Cap. L (S. 163). Der mittelenglische Übersetzer ist viel wortkarger, aber der Sinn ist derselbe (Sire Tristrem, CLXXV). Dieser Teil dient bei Thomas genau wie bei Gottfried dazu, Marke im menschlichen Sinne schuldig werden zu lassen und damit die innere Berechtigung auf der Seite der Liebenden zu sehen. Marke hat jegliches Anrecht auf Isolde verloren. Nun untersuche ich Tristans Monolog, mit dem Gottfrieds Text endet. Dafür haben wir glücklicherweise die anglonormannische Fassung, die ich mit Gottfrieds Text vergleichen werde. Tristans Monolog wird in der „Saga“ sehr gekürzt; das Wichtigste wird jedoch in einer Erzählung zusammengefasst. An dieser Stelle fasst sich Gottfried besonders kurz, im Gegensatz zur Abschiedsszene im Baumgarten. Wie in jener Abschiedsszene restrukturiert Gottfried den ganzen TristanMonolog, den er in drei Abschnitte unterteilt: 1. 19424– 64: 41 Verse: Tristan kann den Liebeskummer nicht mehr ertragen; es gibt nur eine Lösung: die Teilung (zwei Bilder: der Rhein – das Feuer). Er will von dem Leiden, das ihm die Liebe zur Königin zufügt, durch eine andere Liebe erlöst werden. Hier haben wir den Höhepunkt der Tragik erreicht, da Tristan nicht weiß, dass Isolde, die mehr an ihn denkt als an ihre eigene Qual, bereit ist, „auf mich und auf

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ihn zu verzichten, damit er lebe, für mich und für sich selbst“, wie sie es in jenem Monolog ausdrückt, als sie mit ihren Blicken das Schiff verfolgt, das Tristan für immer von ihr trennt. Aus Liebe zu Tristan, aus Selbstverleugnung ist sie dazu bereit, ihrem eigenen Ich zu entsagen, während er, dem ihre Opferbereitschaft verborgen geblieben ist, der Gefahr deswegen die Stirn bietet, weil er sein Leid nicht mehr zu ertragen vermag und demzufolge befürchten muss, seine Existenz zu verlieren und sich selbst zu zerstören. 2. 19465 – 502: 38 Verse: Die Trennung hat dem Ineinanderübergehen von Freude und Leid ein Ende bereitet. Isoldes Leben steht nun im Gegensatz zu demjenigen Tristans. Thomas’ Text erweist sich hier als sinnlicher, während der von Gottfried intellektueller, ja nüchterner wirkt. Der Straßburger Dichter erlebt die Ereignisse nur indirekt, auf mittelbare Weise. Dieser Unterschied ist charakteristisch für die deutschen Adaptoren: Sie haben einen geschriebenen Text vor sich und haben ihm gegenüber eher eine intellektuelle Reaktion, während der französische Dichter den Text erst schreiben und den Protagonisten, mit denen er gewissermaßen zusammenlebt, erst Leben einhauchen muss. Ferner geht es Gottfried vor allem darum, seinen Helden, den er liebt, von aller Schuld freizusprechen und zu entlasten, indem er es ihm erspart, zu viel Abfälliges über Isolde zu sagen. 3. 19503 – 48: 46 Verse: Sie hat keinen Boten zu mir entsandt, obwohl dies trotz aller Schwierigkeiten möglich gewesen wäre. „Sie vergisst mich“, ist hier Tristans Befürchtung. Am Ende variiert er dann das Thema „ich kann von ihr nicht ‚joie e deduit‘ verlangen“ – was durch „vröude unde vrôlichez leben“ wiedergegeben wird. Dieses Thema schafft die Grundlage für Thomas’ Text und rechtfertigt Tristans oben angeführten Entschluss: Er wird sich der Frau zuwenden, die ihm ‚joie e deduit‘ verheißt. Der Held stellt das Wesen seiner Liebe zur Königin, die Einheit von Freude und Leid, in Frage. Er ist versucht, der Welt der edelen herzen abtrünnig zu werden und in die Welt der gewöhnlichen Menschen zurückzusinken, die nur dem Rausch der Freuden zugewandt sind. Gottfrieds Werk bricht aber ab, bevor Tristan den Entschluss fasst, Isolde Weißhand zu heiraten. Aber, wenn auch die letzten Verse der Dichtung darauf deuten, dass Tristan in die Irre geht, dass er nahe daran ist, die Liebe zur Königin zu verraten, wird er doch standhalten. Denn man kann wohl annehmen, dass Gottfried, hätte er seinen Roman bis zum Schluss geschrieben, wie bis hierher seiner Vorlage treu gefolgt wäre, d. h. Thomas’ Tristan: Hier heiratet Tristan wohl Isolde Weißhand, aber im entscheidenden Augenblick verzichtet er darauf, seine Ehe zu vollziehen, und nie wird er sie vollziehen; bis zu seinem Tod wird er Isolde der Königin treu und der vollkommene Liebhaber im

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Sinne der edelen herzen bleiben. Sobald es nötig sein wird, wird sich der Held wieder fangen. Tristans Ehe wirkt als ein Auf-die-Probe-Stellen der Liebe und nicht als ihre Infragestellung. Wenn man beide Texte miteinander vergleicht, sieht man genau, dass Gottfried Thomas’ Text vor sich liegen hatte. Wie es seine Gewohnheit ist, baut er Tristans Monolog neu auf, stellt den Stoff neu zusammen, trifft eine Wahl und verkehrt sogar die Gliederung seines Vorgängers ins Gegenteil. Der Monolog fußt auf der Opposition zwischen „vro“ und „truric“: „nu bin ich truric, ir sit vro“, ruft Tristan in seiner Verzweiflung aus (19484). Der Held ist nicht mehr in der Lage, sein Leid zu ertragen. Er zweifelt an Isolde, an ihrer Liebe und an ihrer Fähigkeit, ihm trotz ihres legitimen Bundes mit Marke treu zu bleiben. Er glaubt, dass Isolde mit Marke ein lustvolles Leben führt und ihn vergessen hat. So hält er sich berechtigt, selbst auch „vröude unde vrôlichez leben“ zu suchen, d. h. seine Sinnenlust zu stillen. All dies finden wir – man muss es deutlich unterstreichen – bei Thomas, sogar stärker akzentuiert als bei Gottfried, der den Text seiner Vorlage abschwächt, da er ein dem höfischen Ideal entgegengesetztes Verhalten bei Tristan vermeiden will. Im anglonormannischen Text geht der Held nämlich so weit, dass er der Liebe eines Ehegatten mehr Wert einräumt als der Liebe eines Liebhabers und dass er Isolde Weißhand heiraten will, um das kennenzulernen, was die Königin mit Marke erlebt. In der anglonormannischen Dichtung scheint Tristan endgültig mit seiner Vergangenheit zu brechen und einen Schlussstrich unter seine Zeit der „fin’ amor“ zu ziehen, da er sich danach sehnt, sich den Freuden der Ehe hinzugeben, so wie sich ihnen die Königin Isolde hingegeben hat. Gottfried hat eine solche Vorstellung sicherlich als schockierend empfunden und sie durch die Lösung der Teilung ersetzt. Nachdem er mit solchem Nachdruck die Absolutheit der Liebe Tristans hervorgehoben hat, kann er nicht akzeptieren, dass der Held nach einem Missverständnis seine Liebe zu Isolde einfach aufkündigt; er war zu weit in seiner hymnischen Begeisterung für die „fin’ amor“ gegangen, um einräumen zu können, dass Tristan dieser Liebe völlig entsagt, auch wenn er sich vorstellen kann, dass Isolde ihn vergisst. Nichtsdestotrotz wird Tristan Kaherdins Schwester heiraten und eine Ehe eingehen, die der „fin’ amor“ eo ipso schon fremd ist, die aber zur Befriedigung gewisser physischer Bedürfnisse ausreicht. Hieraus leitet er die geistreiche Erklärung der Teilung ab, die er mit dem Schmerz der Trennung und mit dem Umstand, dass Isolde Marke gehört, rechtfertigt: Er hat davon gehört, dass sich der Liebeskummer durch eine andere Liebe lindern lasse. Thomas musste das Verhalten des heiratenden Tristan rechtfertigen, ein Motiv, das bereits in der Estoire vorhanden war: Hierfür erfindet er ein extremes Missverständnis (während wir bei Eilhart keine Analyse der Beweggründe Tri-

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stans vorfinden). Gottfried von Straßburg seinerseits erklärt die Hochzeit mit Isolde Weißhand durch den Versuch, den unerträglich gewordenen Trennungsschmerz zu lindern. Doch anstatt diese Lösung im Verlauf des Monologs vorzubereiten, führt er sie gleich zu Anfang an und verzichtet auf die Bedenken und Zweifel des Helden. Danach behält er von Thomas’ Text folgende Punkte bei 1. die Beschreibung der Lage, den Kontrast zwischen Isoldes Situation und derjenigen Tristans; Gottfried lässt bis zuletzt keinen Zweifel daran (19542/3 „die ich minne unde meine/ mê danne sêle unde lîp“), dass Tristan unter der Herrschaft der Liebe steht; 2. das Nachdenken über die Abwesenheit; Botschaft in Form eines Zwiegesprächs; und hier haben wir eine gewöhnliche Bearbeitung. Gottfried benutzt alles, was in seiner Vorlage „benutzbar“ bleibt, indem er es an die neue Lösung ansetzt. Hierdurch ergibt sich die Möglichkeit, den zweiten Teil des Monologs von Thomas zu benutzen. Wie hätte er geendet? Mit einem Schluss von einigen Versen: ‚ich gehe jetzt zu Kaherdin und sage ihm, dass ich Isolde Weißhand heiraten will‘. Zusammenfassend kann man also sagen, dass in diesem Text das ganze Problem der Spannung zwischen einer neuen Interpretation der Geschichte und der Beibehaltung des alten Gerüstes der Ereignisse, der ursprünglichen Fabel, entwickelt wird. Diese Verhaltensweise gegenüber der Vorlage ist charakteristisch für das gesamte Fragment: Gottfried zeigt durchgehend einerseits eine extreme Quellentreue, andererseits liefert er eine eigenständige Interpretation, die er vornehmlich in Kommentaren, Einschüben, lyrischen Einlagen (wie z. B. im Prolog), im Minneexkurs, in der Minnegrottenepisode darlegt.

b) Die Liebestrank-Szene: das sogenannte „Carlisle“-Fragment Thomas‘ verglichen mit der entsprechenden Passage aus Gottfried von Straßburgs Tristan Mit dem Vers 11958 beginnt in Gottfrieds Tristan eine Textstelle, die man mit jenem Text aus dem „Carlisle“-Fragment des Thomasschen „Tristan“ vergleichen kann, das in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Ian Short entdeckt worden ist. Den 154 Versen des anglo-normanischen Textes entsprechen 721 des deutschen Gedichts. Wir haben ein Verhältnis von 1 : 4,68, also einen mehr als viermal längeren Text bei Gottfried. In der Obstgarten-Szene verdoppelt Gottfried den französischen Text, während er ihn beim Tristan-Monolog zusammenfasst: den 182 Versen Thomas’ (Sn, 1– 182) entsprechen nur 125 Verse (19424– 548). Dieser große Unterschied in der Versanzahl ist teilweise darauf zurückzuführen, dass Gottfried einen langen Exkurs über die Liebe (12187– 12430) sowie eine lange

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Szene von 68 Versen (12435 – 12502) einfügt, in der die Liebenden Brangene um Hilfe bitten (sie solle sich in der Brautnacht zu Marke legen) und die Zofe vom Minnetrank erzählt – diese Szene beträgt bei Thomas nur 9 Verse (122– 130). Die Entdeckung des Fragments ermöglicht es, zu entscheidenden Erkenntnissen über Gottfrieds Tristan und über das Verhalten des Autors gegenüber seiner Vorlage zu gelangen. Hier die Ergebnisse des Vergleichs: 1. Der erste Punkt ist die Passage über „l’amer“ (der in der „Saga“ Bruder Roberts fehlt, der an dieser Stelle wahrscheinlich die Feinheit des Textes nicht verstanden hat). Es scheint sich tatsächlich so zu verhalten, dass Gottfried ziemlich nahe an Thomas’ Text bleibt, wobei er die Anzahl der Verse leicht reduziert: Im „Carlisle“-Fragment reicht das Wortspiel um die Worte „amer“, „amour“, und „mer“ vom Vers 33 bis zum Vers 70 und hat dementsprechend eine Länge von 38 Versen, während es bei Gottfried vom Vers 11986 bis zum Vers 12015 reicht und damit nur 30 Verse umfasst. Gottfrieds Text ist programmatischer mit seinen drei Versen 11986 – 11989 (lameir“ sprach si „daz ist min not,/lameir daz swaeret mir den muot,/lameir ist, daz mir leide tuot), in denen Isolde mit Worten spielt. Die dreifache Wiederholung des Wortes lameir am Anfang des Verses verstärkt zwar den Ausdruck, doch gleichzeitig wirkt diese rhetorische Figur (Anapher) leicht forciert und gekünstelt. Danach vollführt der Held eine Art rationelle Textinterpretation: „lamer“ kann „Liebe“, aber auch „Bitternis“ und schlussendlich auch „Meer“ bedeuten (11994– 11995: lameir daz waere minnen,/lameir bitter, la meir mer). Daraufhin stellt er Isolde auf die Probe, indem er nur von „Meer“ und „Bitternis“ spricht und „Liebe“ verschweigt. Isolde klärt ihn auf, und Tristan, der endlich verstanden hat, erklärt sich ihr auf eindeutige Art und Weise: 12015 lameir und ir, ir sit min not und übersetzt ir eine und iuwer minne (12017). Und die beiden jungen Menschen, die ihre Liebe zueinander erkannt haben (was durch den Chiasmus der man die maget, diu maget den man, 12036, veranschaulicht wird), umarmen sich in Zärtlichkeit und Liebe, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Tatsächlich schafft Gottfried, so wie er es gewohnt und so wie es auch in anderen Adaptationen französischer Texte, z. B. bei Hartmann von Aue oder bei Eilhart von Oberg, der Fall ist, Ordnung und Klarheit im zunächst eher konfusen Text seiner Vorlage, wodurch jedoch deren Lebendigkeit zugunsten einer größeren Trockenheit und Affektiertheit aufgegeben wird (Thomas, 47– 52). In einer 13 Verse (33 – 45) langen Rede spielt Isolde mit dem Wort „Bitternis“. Darüber hinaus führt Tristan, statt sich deutlich zu erklären, seinerseits das Wortspiel weiter (64– 70) und fügt hinzu, er habe genug gesagt, um von Isolde verstanden zu werden (71),

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was der Fall ist, so dass sich die Liebenden wie bei Gottfried liebend umarmen und sich den Freuden der Liebe hingeben (77). Gottfried benutzt in dieser Passage das altfranzösische Wort „lameir“, da sich das Wortspiel nicht ins Deutsche übersetzen ließ. Deswegen lässt er es auch durch seinen Helden in einer Textanalyse übersetzen, damit das Publikum, das des Französischen nicht mächtig sein konnte, verstehe, was dem Text jene Trockenheit verleiht, die ich bereits erwähnt habe. 2. Der zweite Punkt betrifft Brangenes Eingreifen (G 12045 – 12154 und Carlisle 78 – 84). Diese Stelle fehlt in der „Saga“. Bei Gottfried von Straßburg finden wir hier nicht nur eine bedeutende Erläuterung (110 Verse statt 7, also 15 mal mehr), sondern auch eine Veränderung des Inhalts. Im anglonormannischen Text haben sich Tristan und Isolde bereits geliebt und eröffnen sich Brangien, die sie durch verschiedene Versprechungen zu ihrer Komplizin machen: Die beiden Liebenden können sich also ungestört ihrer Leidenschaft hingeben. Im deutschen Text hingegen sind Erklärungen unnötig, da Brangene bereits auf den Gesichtern der beiden Helden die Leidenschaft sieht, die sich ihrer bemächtigt hat. Gottfried benutzt folgende Topoi: Tristan und Isolde stöhnen, werden nach und nach rot und blass und nehmen keine Nahrung zu sich, so dass sie schwächer werden. Die treue Dienerin macht den ersten Schritt und befragt die Helden, die sich ihr anvertrauen und sie bitten, ihnen zu erlauben, sich zu vereinigen, da sie sonst sterben müssten: „unser Tod und unser Leben ist in euren Händen“ (12117– 12118). Dieser Dialog zwischen Brangene und den Helden erinnert an Blanschefleurs Bitte an ihre „meisterin“, sie zum Krankenbett Rivalins zu führen (1216 – 1225). Brangene verspricht ihnen, sich ihrem Willen nicht entgegenzustellen, warnt sie aber, indem sie ihnen die Zukunft prophezeit („was mein Leid und eure Schande sein wird“, 12132– 12133) und gibt ihnen einen doppelten Rat: Wenn sie sich beherrschen können, sollen sie sich zurückhalten, und wenn dies nicht möglich sei, möchten sie doch verhindern, dass dieses „Laster“, dieser Skandal öffentlich werde, da sie sonst ihren Ruf verlieren und gehängt würden und sie mit ihnen. Ihr Schicksal, ihr Leben und ihr Tod befinden sich nun in ihren Händen. Gottfried lässt hier das Thema des Geheimnisses in der Liebe anklingen. Und Brangene verbindet, obwohl sie vernünftig bleibt und innerlich diese Liebe verurteilt, damit ihr Schicksal auf unlösbare Weise mit dem der Helden. Während der französische Text nach und nach unter der Feder des Autors, der sein Werk aus freien Stücken schafft, entsteht, überblickt der deutsche Bearbeiter, welcher den bereits fertigen Text vor Augen hat, den Text in seiner Gesamtheit und

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bereitet die Zukunft vor. Dies erklärt wahrscheinlich, warum Gottfried diese Szene, in der er Brangene eine große Bedeutung zugesteht, hinzugefügt hat. Dank der Vermittlung Brangenes kommt es nachts zur Liebesvereinigung (12157– 12182). Wie in der Rivalin- und Blanchefleur-Episode (1277 ff.), aber noch klarer, erklingt in diesen Versen, die für Carlisles Verse 82 bis 90 stehen, das Motiv von der Minne als Ärztin (12160 – 12170): die Liebenden geben sich gegenseitig einander als Medizin. Es ist vorstellbar, dass Gottfried hier von seinem Vorgänger, Eilhart, angeregt wurde (2712– 2719), bei dem Tristrant, Isalde und die Liebe alleine in einem Zimmer zusammenkommen und bei dem die Helden völlig geheilt werden, bevor sie einander verlassen. Statt von der Liebesszene zu reden, was dem Dichter nicht vornehm vorkommt, fügt Gottfried einen Exkurs über die Liebe ein (12183 – 12430), der von zwei Vierzeilern mit Kreuzreimen eingerahmt ist (man findet diese Abhandlung über die „gute, vorbildliche Liebe“ weder bei Carlisle noch in der „Saga“). Der Exkurs umfasst 244 Verse, und dies ist genau die Länge des Prologs (1– 244), was sicherlich nicht auf einen Zufall zurückzuführen ist. Es ist die sogenannte Minnerede oder auch Bußpredigt der Minne.

c) 12183/12430: Die sogenannte Minnepredigt (oder Bußpredigt der Minne). Die Minnerede beginnt mit einem Bekenntnis in der Ich-Form, wo Gottfried wie in den „autobiographischen“ Exkursen der Minnegrottenszene von sich spricht: Er habe die Liebe kaum gekannt (da greift er das Thema wieder auf, das er im Prolog behandelt hatte, von dem lieben leit, d. h. dem süßen Leid und der süßen Herzensqual, die die wahre Liebe ausmachen), dann schlägt er zum ersten Mal in seinem Werk das Thema der huote an (die der Liebe sehr schade).¹⁷³ Eines des Hauptthemen dieses Minneexkurses ist die Klage über die Käuflichkeit der Liebe (12300 – 12302), die auf Ovid zurückgeht (Ars Amatoria, II, 277 ff.). Der Dichter wandelt ebenfalls das Thema neu um, das er im Prolog aufgegriffen hatte (12269 – 74) – Wahre Minne ist ja eine Einheit von Freude und Leid – und übt Kritik am Minnedienst und am Minnesang (vgl. die letzten Verse des literarischen Exkurses, 4816 – 4820). Zu seiner Zeit sind fast alle Menschen der Liebe irgendwie verfallen, und doch verwirklicht niemand die Liebe in der rechten Weise. Auf Liebeserfüllung richtet sich zwar das Begehren aller Leute, aber dessen Ergebnis erkennt der Dichter keineswegs als Liebe an: Das ist nur ein Trugbild. Denn alle Leute erwarten von der Liebe nur Glück und Zufriedenheit. Wenn aber Leid und Schmerz aus der Liebe entstehen, so klagen sie die Minne an, die an all

 Vgl. den „huote-Exkurs“ (11817 ff.).

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dem doch unschuldig ist. Die wahre Minne ist aus der Welt verjagt worden, und nur das leere Wort ist geblieben und doch so zerredet, dass die Minne sich dieses Namens schämen soll. Durch ein Zerrbild haben die Menschen die wahre Minne ersetzt, und sie täuschen sich selbst durch ungeheuren Selbstbetrug. Der Vertreter dieser Liebe im Tristan ist Marke, der Ehemann, für den Liebe reine Sinnlichkeit bedeutet. Am Schluss des Minneexkurses wird zur Wiederaufnahme der Handlung übergeleitet. Nun sehen sich Tristan und Isolde mit der Gesellschaft konfrontiert: Tristan muss Isolde an Marke übergeben, ausliefern, und hier wird auf die Tragik der politischen Eheschließungen angespielt (12400 – 12403). Doch werden sie nicht aufhören, einander zu lieben. So wird ihre Liebe zu einer heimlichen werden, und da Isolde Markes Weib werden muss, wird ihre Liebe zu einer ehebrecherischen. Dazu kommt eine andere Sorge: Isolde kommt nicht mehr als Jungfrau zum König. Doch wird dieser Kummer mit der Freude ausgeglichen, die sie immer wieder empfinden.Wie in der „Vorgeschichte“ ergreift der weibliche Partner die Initiative, und genau wie Blanscheflur ist Isolde als einzige dazu fähig, die Gefahr abzuwenden.

d) Ende der Überfahrt Nun kann der Vergleich zwischen Thomas, Saga und Gottfried wieder aufgenommen werden. Die Saga folgt genau Thomas und lässt nichts aus. Dagegen stößt Gottfried die Anordnung des anglonormannischen Textes um. Die Abfolge der Ereignisse ist eher der von Eilhart ähnlich, aber es ist nicht möglich zu behaupten, dass Gottfried seinem Vorgänger gefolgt wäre. Gottfried hat von dem Text des Thomas eine Art Rahmen übernommen, in welchen er den Inhalt des Textes hineingießt: z. B. die Verse 12412– 4 und 12576 – 83, wo Gottfried, der die Szene verschoben hat, nichtdestotrotz auf sie anspielt, an der Stelle, wo sie sich ursprünglich befand. ‒ Aus Wahrscheinlichkeitsgründen verschiebt der Dichter die Szene, wo die Liebenden Brangene darum bitten, ihnen zu helfen. Bei Thomas befindet sich die Szene kurz vor der Hochzeitsnacht, was dem Dichter etwas überstürzt vorkommt. Darum erzählt er kurz vor Ankunft des Schiffes in Kornwall, dass Isolde dazu Brangene bewegt, sich in der ersten Nacht statt ihrer zu Marke zu legen. Im deutschen Text willigt sie ein, da sie sich durch ihre Fahrlässigkeit an all dem, was vorgefallen ist, schuldig fühlt: Sie hätte besser auf den Trank achten müssen. Dies treibt sie dann an, den Helden das Geheimnis des Minnetrankes zu enthüllen: der tranc [….], der ist iuwer beider tot. Diese Idee befindet sich bei Thomas später in der Erzählung: El beivre fud la nostre mort (V. 2649). Bei Gottfried antwortet Tristan: dirre tôt der tuot mir wol […] sô wolte

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2 Die erzählende Literatur

ich gerne werben/ umbe ein êweclîchez sterben (12498 – 12502). Diese Verse sind meistens missverstanden worden, als eine Anspielung auf den ewigen Tod (Tristan hätte sich bereit erklärt, für diese Liebe die ewige Verdammnis hinzunehmen: der entschiedenste Verfechter dieser These ist Gottfried Weber). Doch beruht diese These auf einem Missverständnis des letzten Verses: ein êweclîchez sterben stellt einen Prozess, einen Vorgang dar, der sich unendlich wiederholt, und hat mit dem ewigen Tod nichts zu tun, der ein Zustand ist (so im Gregorius, 86, 149,162).¹⁷⁴ Tristan bekennt sich zu dieser Liebe, auch wenn sie Tod ist: er bekennt sich zum Tod, denn dieser Tod ist ihm angenehm. Tristan ist bereit, das Sterben ohne Ende auf sich zu nehmen. Diesen Tod, wie er ihn immer erneut in der Ekstase der Liebesvereinigung mit Isolde erfährt, will er ewig sterben. Er bekennt sich zum Geschehenen, er fügt sich in sein Schicksal, nimmt es freudig auf sich, ist sogar bereit, das gleiche Los immer aufs Neue zu erfahren. Vorher waren Tristan und Isolde ohne Leid. Nun, da sie einander minnen, haben sie zugleich Freude und Leid erfahren, und mit dieser Sentenz über die wesenhafte Untrennbarkeit von Lust und Leid in der Minne schließt die Einleitung (12504 – 6). Aber wegen der Liebe darf man die êre nicht vergessen, d. h. das Ansehen in der Gesellschaft. Tristan darf Isolde nicht entführen, denn im Mittelalter konnte der Mensch nicht außerhalb der Gesellschaft leben. Aus diesem Grunde schickt Tristan Isolde zu Marke. Dies auch nimmt er auf sich, was dadurch symbolisiert wird, dass Tristan selbst die Boten zu Marke schickt, was bei Thomas nicht der Fall ist, aber bei Eilhart (2920 – 2923). Die Tatsache, dass Gottfried Isolde auf altfranzösisch lobt, zeigt, dass er auf altfranzösisch dichten kann: die Verse 12559 – 12560 „Isot, Isot la blunde / marveil de tu le munde“ befinden sich nicht im Fragment, was bestätigt, dass Gottfried das Altfranzösische benutzt, um mit Kenntnissen dieser Sprache zu glänzen.

e) Die Hochzeit ‒ Nun wird die Hochzeit begangen, doch scheint hier Gottfried den Text seiner Vorlage zusammengefasst zu haben, denn sie wird in Carlisle und in der Saga ausführlicher beschrieben (G 12569 // Carlisle // Saga S. 158).

 Vgl. Jean Fourquet, Littérature courtoise et théologie. In : Recueil Fourquet, Amiens 1979, S. 256 – 257.

2.1 Versliteratur





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Gottfried, der an alles denkt, erwähnt das politische Problem der Erbschaftsregelung: Er legt dem juristischen Aspekt der Eheschließung Bedeutung bei, was von Bruder Robert und vielleicht auch von Thomas vernachlässigt wurde (12570 – 4). Die Verse 12538 – 12540, die Gottfried seinem Text hinzugefügt hat, weisen in die Zukunft. Diese Ehe, die Marke vorkommt, als sei sie das summum seiner Freude, wird ihn seine Ehre kosten und ihn unglücklich machen.¹⁷⁵

f) Die Hochzeitsnacht Gottfried (12584– 12678) folgt dem anglonormannischen Text (131– 154) sehr genau, fügt aber Kommentare hinzu. Er vergleicht dieses Betrugsspiel mit Falschmünzerei: Marke habe statt einer Goldmünze nur ein Messingstück erhalten; Messing steht hier für gefälschtes Gold. Dieses Falschgeld sei aber nicht wertlos gewesen: im Gegenteil (12595 – 609). Ein Bericht Thomas’ (141– 144) wird bei Gottfried (12619 – 12628) zum inneren Monolog. Der elsässische Dichter übernimmt von der Vorlage die Idee, dass Marke nacheinander Brangene und Isolde gleichermaßen liebt, ohne den geringsten Unterschied zu bemerken. Aber in den Versen 12666 in duhte wip alse wip und 12669 ime was ein als ander, die sich gut ins Gedächtnis einprägen, legt er besonderen Nachdruck auf diese Idee, um Marke als Liebenden abzuqualifizieren: Wenn er an jeder Frau das gleiche Vergnügen findet, dann hat er keinen Sinn für die psychischen und physischen Besonderheiten einer Frau, dann ist seine Liebe zu Isolde niemals echte Liebe. Der einzige Unterschied besteht darin, dass bei Thomas es Tristan ist, der das Licht löscht, während bei Gottfried es Isolde ist, als Tristan Brangene zu Markes Bett begleitet. Die einzige Frage, die wirklich problematisch ist und die zahlreiche heftige Debatten ausgelöst hat, ist folgende: Was hat Marke getrunken, nachdem er die entjungfert hat, die er für seine Gattin hält? Die Saga sagt, Marke trinke auch vom Liebestrank; in Sire Tristrem CLVII ist es nicht deutlich, aber es scheint, dass der König nicht von diesem Trank trinkt; dagegen trinkt Tristans Hund vom Trank, was seine unerschütterliche Treue seinem Herrn gegenüber begründet (CLIII). Bei Gottfried, der hinzufügt, es handle sich um einen Brauch, trinken der König und die Königin Wein, und Gottfried setzt sich mit Dichtern auseinander (12651– 6), die gesagt hätten, dass sie vom Trank getrunken hätten, und er präzisiert, dass Brangene das Gefäß ins Meer geworfen hätte. Das Carlisler Fragment sagt hingegen Vers 149 „Après le vin“. So trank Marke Wein wie bei Gottfried, der seiner

 Vgl. Rainer Gruenter, „Daz ergest und daz beste. Zu Gotfrids Tristan und Isold, V. 11645 – 13096“. In: Medieval german studies. Presented to Frederick Norman, London 1965, S. 193 – 200.

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Quelle folgt, und nicht vom Trank. Infolgedessen werden viele Kommentare, die betonen, dass Marke so unschlüssig sei, weil er vom Trank genossen habe, hinfällig; aus diesem Grund soll man ihm nicht immer glauben, wenn der elsässische Dichter gegen andere Fassungen polemisiert. Denn meines Wissens gibt es außer der Saga keinen auf uns gekommenen Text, in dem Marke vom Trank trinkt, und Gottfried konnte die Saga nicht kennen! Der Vergleich von Gottfrieds Text mit dem Fragment bestätigt vollkommen die anderen Ergebnisse der Vergleiche von Gottfrieds Text mit den anderen Fragmenten des Thomas, die ich gemacht habe : Gottfried bleibt sehr nah am Text seiner Vorlage, ändert ihn aus Wahrscheinlichkeitsgründen, schafft Ordnung in diesem Text, ändert dessen Struktur, fügt Kommentare oder Exkurse hinzu, die die These exemplifizieren sollen, die er seinem Publikum darstellen will. Fassen wir zusammen: Gottfried verhält sich seiner Vorlage gegenüber auf scheinbar paradoxe Weise: Er beugt sich mehr als andere den Forderungen seiner Vorlage und erlaubt sich gleichzeitig unerhörte Freiheiten: extreme Quellentreue einerseits, andererseits eigenständige Sinninterpretation, die er vornehmlich in Kommentaren, Einschüben, in lyrischen Einlagen darlegt. Es ist der Fall z. B. beim Abschied der Liebenden im Baumgarten: Er restrukturiert vollkommen den Monolog Isoldes und unterstreicht mit allem Nachdruck den Sinn, den er seinem Werk gegeben hat: In dem Augenblick, wo das im Prolog ausgedrückte Ideal gefährdet ist, dass nämlich Tristan seine Geliebte für ein langes Exil verlässt, während dessen er versucht ist, auf diese Liebe zu verzichten, die ihm zu große Schmerzen bereitet, betont Gottfried das Exemplarische dieser Liebe. Es ist auch der Fall im letzten Monolog Tristans, wo Gottfried nicht hat akzeptieren wollen, dass sein Held vollkommen mit einer Vergangenheit bricht, in der die Liebe zu Isolde alle seine Handlungen regierte, obwohl seine Vorlage ihm diktierte, dass Tristan Isolde Weisshand heiratet; er hat dann eine andere Lösung gewählt: Er hofft, dass der Liebesschmerz durch eine andere Liebe gelindert wird, eine Lösung, die dem Dichter erlaubt hätte, danach die Ehe mit der anderen Isolde zu erzählen, wenn der Tod ihn nicht daran gehindert hätte. Dann baut er, von diesem Punkt ausgehend, den ganzen Monolog um. Dennoch bleibt Gottfried in den Grenzen der Bearbeitung, als ‚Nachdichtung‘ aufgefasst, die einerseits die größte Ehrfurcht vor der Vorlage verlangt, andererseits aber erlaubt, gewisse Szenen neu zu deuten und den Sinn der Geschichte abzuändern, wenn diese Änderungen mit so wenig Abweichungen wie möglich geschehen. Der elsässische Dichter hat es fertiggebracht, das, was unvereinbar erscheint, zusammenzufügen, zu vereinen.

2.1 Versliteratur

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2.1.3.2 Der Artusroman: Chrétien de Troyes Chrétien de Troyes ist der eigentliche Erfinder des Artusromans. Er kannte zwar Geoffrey und Wace sowie die Erzählungen keltischer Conteurs. Aber Chrétien hat, wie er es in seinem Roman Erec hervorhebt (V.13 – 14 „et tret d’un conte d’avanture/ une molt bele conjointure“: dieser Ausdruck, der das Schlüsselwort von Chrétiens Kunst ist, bedeutet „Anordnung der Handlung, Gestaltung des Stoffes gemäß dem Sinn“), die „matière de Bretagne“ von der Ebene des „conte d’avanture“, wo die Aufeinanderfolge der Episoden sehr locker war und jeder psychologischen Kohärenz ermangelte, auf die Ebene des Romans übergehen lassen. Sein Genie verstand dies als die Einheit von einem Stoff und einem Sinn (mhd. meine). Der überlieferte Stoff ist nichts anderes als die Hauptquelle des Werkes, die unbearbeitete, rohe Grundidee der Erzählung, das „Rohmaterial seiner bele conjointure“, um mit F.P. Knapp zu sprechen,¹⁷⁶ wenn man „conte d’avanture“ durch „Erzählung“ übersetzen kann. Diesen Stoff gestaltet der Autor mittels der „bele conjointure“, die die äußerliche, rein stoffliche Handlung des „conte d’avanture“ umgestaltet. Die „conjointure“, das „wohlgeordnete, wohlüberlegte Handlungsgefüge“ soll die Kohärenz und die innere Einheit des Stoffes sichern. Chrétien de Troyes hat wohl einzelne, verstreute Erzählungen nach einem Gesamtplan zusammengesetzt, und dies aufgrund des Sinnes, den er dem Ganzen verleihen wollte. Der Sinn hat einen didaktischen Wert: Er ist die geistige, die moralische Interpretation der erzählten Begebenheiten, das Ideal, das sie veranschaulichen wollen, oder ganz einfach was sie auf dem psychologischen und menschlichen Gebiet vermitteln wollen. Eine ungefähre Vorstellung von diesen „contes“ kann man sich dank dreier walisischer Erzählungen machen, die am Anfang des 13. Jahrhunderts gedichtet wurden und die nach Jean Frappier möglicherweise auf Erzählungen zurückgehen, die auch Chrétiens Vorlagen waren: Owet und Lunet oder Die Dame des Brunnens (La Dame de la Fontaine) entspricht dem Löwenritter (Yvain), Peredur ab Evrawc dem Conte del Graal, Gereint entspricht Erec und Enide. Aber während die walisischen „conteurs“ ihrer Vorlage aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich getreu gefolgt sind, ist Chrétien sicherlich viel freier damit umgegangen: Er hat, wie er sagt, aus den „contes“ eine „mout bele conjointure“ gezogen. Der Sinn von Chrétiens Werken (le „sen“, mhd. „diu meine“) ist klar: man kann sogar von Thesenromanen sprechen. Der Ritter muss das Gleichgewicht zwischen Minne und Ritterpflicht anstreben, zwischen amor und chevalerie,  Fritz Peter Knapp, „Erzählen, als ob es Geschichte sei. Antifiktionalität und Geschichtstheologie im ‚Prosa-Lancelot‘“. In: Klaus Ridder und Christoph Huber (Hg.), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext Tübingen, Niemeyer, 2007, S. 234– 248, hier S. 247.

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zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese Harmonie wird zerstört: der Ritter verliert seine Ehre und wird aus der Gesellschaft ausgestoßen; er muss dann eine Reihe von Prüfungen bestehen, um seine Ehre zurückzuerlangen und um wieder in die Gesellschaft aufgenommen zu werden. Der verheiratete Erec „verliegt sich“ bis zum Verlust der Ehre, weil er in der Minne sein Rittertum preisgibt (das französische Wort lautet „recreantise“, einen Fehler begehen; Hartmann hat dafür das Wort „sich verligen“ geprägt). Yvain opfert die Minne seiner Ritterehre; er begeht einen Fehler, der der als Pendant zu Erecs zu sehen ist: er „verrittert sich“. Im Karrenritter (Le Chevalier de la Charrette), einem Werk, das nicht direkt ins Deutsche übersetzt worden ist, wird das Thema unbedingter Unterwerfung des Liebhabers unter die Gesetze der Minne behandelt. Um der Königin Guenièvre willen besteigt Lancelot den ehrlosen, verruchten Karren („la charrette d’infâmie“), der die zum Tode Verurteilten zum Hinrichtungsplatz führt. Für Lancelot geht Minne über Ritterehre: Aber hier ist der Held des Romans der Vertreter der „okzitanischen“ Minne, der „fin’ amor“, die keinen fortwährenden Einklang zwischen Minne und Ritterehre und Ritterpflicht verlangte (wenn der Held die Königin aus der Gefangenschaft des Meleagant befreit, ist der Einklang zwischen Minne und Rittertat vollkommen). Die religiöse Lehre des Conte del Graal ist folgende: Derjenige, der im Zustand der Sünde verharrt, begeht Sünden und scheitert im Leben. Chrétiens Ziel ist es, zugleich sein Publikum zu unterhalten und zu erziehen (delectare et prodesse). Wie alle mittelalterlichen Werke sind Chrétiens Romane didaktische Werke: Es gilt, der Zuhörerschaft, die aus Rittern und Damen besteht, ein Lebensideal zu zeigen: Der Held des Epos wird als Vorbild gepriesen, seine Tugend zur Nachahmung empfohlen. Was der Dichter dem höfischen Publikum vermittelt, ist ein bestimmtes Sich-Gebaren, ritterlich-höfische Lebenshaltung. Die höfische, feudale Gesellschaft wird in Chrétiens Artusromanen verherrlicht. Hartmann von Aue verfolgt dasselbe Ziel und mit ihm alle anderen deutschen Dichter des Hochmittelalters. Er überträgt Chrétiens ersten Roman, geschrieben zwischen 1165 und 1170, Erec et Enide, ins Deutsche und führt damit die höfische Welt und die matière de Bretagne von Frankreich in die deutschsprachige Literatur ein; später übersetzt er Chrétiens Chevalier au lion. Perceval ou Le Conte del Graal, Chrétiens letzter Roman, den er nach 1181 für Philippe d’Alsace schrieb, wurde dann von Wolfram von Eschenbach ins Deutsche übertragen.

2.1 Versliteratur

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2.1.3.2.1 Hartmann von Aue als Bearbeiter von Chrétiens de Troyes Yvain, le Chevalier au lion. Versuch einer Interpretation¹⁷⁷ Hartmanns Iwein ist die deutsche Adaptation von Chrétiens de Troyes viertem Artusroman, Yvain, le Chevalier au lion. Wie im Erec, so steht auch im Iwein, im Anschluss an Chrétien, der Konflikt zwischen Pflicht und persönlicher Neigung im Mittelpunkt der Handlung, ein Konflikt, der letzten Endes die Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft veranschaulicht. Im Erec vergisst der Held seine Pflichten als Ritter und König (im deutschen Roman ist Erec schon zum König gekrönt worden, während er es in der französischen Vorlage erst am Schluss der Handlung wird) zugunsten der Liebe. Im Iwein vergisst er seine Gattin zugunsten seiner Pflichten als Ritter und seines Durstes nach ritterlichen Heldentaten. Erec, der zu sehr in seine Frau verliebt ist, vernachlässigt Turniere und Abenteuer; Iwein begeht den gegensätzlichen Fehler.Vor lauter Turnieren vergisst er die Frist einzuhalten, die ihm seine Gattin Laudine gesetzt hatte.¹⁷⁸ Erec und Iwein, die dank ihrer ritterlichen Tüchtigkeit eine Gattin erobert haben, begehen einen Fehler, dann müssen sie sich dieses Fehlers bewusst werden und sich läutern, um auf einer höheren Ebene wieder Mitglied der höfischen Gesellschaft und für sie nachzuahmende Beispiele zu werden: Sie müssen ein dauerhaftes Gleichgewicht zwischen amor und chevalerie herstellen, sowohl den Anforderungen des amor und denen der chevalerie genügen, den Ausgleich zwischen amor und chevalerie anstreben. Dieses Ziel ist nur mühsam zu erreichen. Zwei Etappen sind notwendig. Nach der ersten scheint es erreicht zu sein. Das stellt sich bald als Trugbild heraus. Deshalb muss der Held eine zweite, weit schwierigere, durchlaufen, in der die Kämpfe viel härter sind. Dann erst hat er das Ziel, die Harmonie von amor und chevalerie, erreicht. Das hat Hugo Kuhn als ‚doppelten Kursus‘ oder ‚Doppelweg‘ bezeichnet.¹⁷⁹ Dies ist der Sinn von Chrétiens de Troyes Romanen. Hartmann von Aue, als deutscher Nachdichter französischer Romane, Schöpfer einer ‚adaptation créative‘, erzählt seinem deutschen Publikum dieselbe Geschichte, aber er erzählt sie auf seine Art und Weise, nach seiner façon. Nachdem er Szene nach Szene

 Siehe Hartmann d’Aue, Erec; Iwein. Extraits accompagnés des textes correspondants de Chrétien de Troyes avec introduction, notes et glossaires par Jean Fourquet, Paris 1944; Michel Huby, L’adaptation des romans courtois en Allemagne au XIIe et au XIIIe siècle, Paris 1968; Volker Mertens, Laudine. Soziale Problematik im Iwein Hartmanns von Aue, Berlin 1978.  Die Jahresfrist ist eine vom feudalen Recht reglementierte Frist. Siehe Volker Mertens, Laudine, S. 43 – 46.  Diesbezüglich siehe Hugo Kuhn, Erec. In: Fetsschrift Kluckhohn-Schneider, Tübingen 1948, S. 122 – 147, wieder in: Hugo Kuhn, Dichtung und Welt im Mittelalter, Stuttgart, Metzler 1959, S. 133 – 150.Volker Mertens, Der deutsche Artusroman, Stuttgart 1998 (RUB 17609), S. 59 – 61.

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Hartmanns Romanen mit den französischen Vorlagen verglichen hat, formulierte Jean Fourquet die Grundregeln dieser literarischen Gattung.¹⁸⁰ Im Folgenden möchte ich die façon, nach der Hartmann das Grundthema seines Werkes behandelt, analysieren, indem ich beide Texte vergleiche.¹⁸¹

Vergleich zwischen Hartmanns Iwein und Chrétiens Chevalier au lion Moshé Lazar¹⁸² nennt Le Chevalier au Lion „un roman d’Erec à rebours“, Chrétien sagt es jedoch nicht selbst; Hartmann dagegen spielt selbst auf den Erec an: Gawein sagt Erec, er solle sich nicht verligen wie Erec, der seine Frau zu sehr geliebt habe (2787– 2797). Durch diese direkte Anspielung auf seinen ersten Roman, eine Anspielung, die ihm vielleicht durch V. 2563 nahegelegt worden ist, wo Chrétiens Held fürchtet, Que l’an ne l’apialt recreant („dass man ihn für einen Feigen hält“)¹⁸³, macht Hartmann deutlich aus seinem Iwein das Gegenstück zum Erec und betont ausdrücklich, was bei Chrétien nur implizit vorhanden ist. Vergleicht man Hartmanns Text mit Chrétiens Chevalier au lion genauer, so stellt man fest, dass Hartmann den französischen Text an vielen Stellen ganz einfach übersetzt, so dass ich in meiner französischen Übersetzung ab und zu die moderne Übersetzung von Chrétien durch Philippe Walter übernehmen konnte¹⁸⁴. Manchmal allerdings erweitert Hartmann Chrétiens Text beträchtlich (so Chr. 2486 – 2540 und Hartm. 2770 – 2912), öfters gestaltet er ihn völlig neu, übergeht Passagen, die ihm wahrscheinlich als belanglos erscheinen, zum Beispiel die Probleme der Liebe und der persönlichen Beziehungen zwischen dem Helden und Laudine, und unterstreicht das, was er als den tiefen Sinn des Werkes betrachtete: man darf über der Liebe nicht vergessen, seinen Rang in der Gesellschaft unbedingt zu wahren. Wer wie Erec das Rittertum für die Liebe aufopfert, verliert sîn êre, d. h. jedes Ansehen bei seinen Mitmenschen, jede soziale Achtung, sogar seinen Rang in der Gesellschaft – im Mittelalter wesentliche, unerlässliche Werte.  Jean Fourquet, Wolfram d’Eschenbach et le Conte del Graal, 2ème édition. Paris 1966, S. 3.  Für den Vergleich des deutschen Textes mit der französischen Vorlage siehe Jean Fourquet, Hartmann d’Aue, Erec; Iwein, S. 119 – 226. Siehe auch Johannes Frey (Erlangen), „Wer die Geschichte erzählt. Figuren und Erzähler in Chrétien Yvain und Hartmanns Iwein“. In: Marcel Krings und Roman Luckscheiter (Hg.), Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Mit einem Geleitwort von Bernhard Böschenstein, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2007, S. 39 – 50.  Moshé Lazar, Amour courtois et Fin’Amors dans la littérature du XIIe siècle, Paris 1964, S. 244.  Chrétien de Troyes, Œuvres complètes. Edition publiée sous la direction de Daniel Poirion, avec la collaboration d’Anne Berthelot, Peter F. Dembowski, Sylvie Lefèvre, Karl D. Uitti et Philippe Walter, Paris 1994 (La Pléiade), S. 401.  Chrétien de Troyes, Œuvres complètes, S. 337– 503.

2.1 Versliteratur

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Hartmann legt infolgedessen den Schwerpunkt auf die soziale Position des Helden. Hier kommt Hartmanns Gelehrsamkeit zum Vorschein: Der Mensch, der seine êre verliert, ist nicht mehr wert, Ritter zu sein. Um dieser Gefahr zu entgehen, muss er wie in der Vergangenheit, vor seiner Hochzeit mit Laudine, Ruhmestaten vollbringen und ein höheres Ansehen anstreben (2899 – 2904): dies ist die Pflicht eines guot[en] kneht[es] (2901).

a) Der Landjunker Um seine Theorie zu veranschaulichen und um gleichzeitig Iwein zu erschrecken, entwirft Gawein, dem Hartmann in der Folge die Mitschuld an dem Vergehen Iweins gibt (3028 – 3029 und 3052– 3058), mitten in seiner Rede (2807– 2858) das Porträt eines Landjunkers, eines ‚Krautjunkers‘, der, nach seiner Hochzeit auf jedes soziale Leben verzichtet, sich auf sein Landgut zurückzieht, sich nicht mehr pflegt und sich von den materiellen Sorgen ersticken lässt, über den Hagel, der seine Ernte zerstört, und über seine Armut stöhnend. Dieses Hors d’œuvre, das wahrscheinlich eine persönliche Anspielung seitens Hartmanns enthält, die wir nicht entziffern können und in dem man wohl einen Hinweis auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Hartmanns Epoche sehen soll¹⁸⁵, betont ebenfalls den sozialen Aspekt: Dieser Landjunker soll sich zwar auf seinem Landgut aufhalten und sich um seine Geschäfte kümmern (2851– 2853), aber er darf deshalb nicht darauf verzichten, das Leben eines Ritters zu führen (2856 – 2858), um zu beweisen, dass er noch Ritter heißen darf (2855 ob er noch rîters muot habe). Man hat den Eindruck, Hartmann will die Kaste der Ritter und ihre Lebensweise verteidigen und das Problem erweitern, indem er die epikuräische Seite Gaweins beseitigt und den sozialen Aspekt seines Eintretens betont.

b) Laudine verurteilt durch Lunete Iwein Hartmann unterstreicht das soziale Motiv auch in der Szene, in der Lunete, Laudines Botin (die bei Chrétien anonym bleibt), zum Artushof kommt, um Iwein zu verurteilen. Chrétien betont Laudines Schmerzen, da sie vergeblich auf Yvain gewartet hat, sowie das Motiv des Herzensdiebes (2727– 2763). Außerdem begnügt sich Laudine im französischen Roman damit, Yvain mitzuteilen, er dürfe nie wieder zu ihr kommen und er solle den von ihr geschenkten Ring zurückgeben (2769 – 2775); sie schilt den Helden einen Lügner und einen Betrüger (2721– 2722 und 2726). Hartmann, der die beiden ersten Punkte, d.i. der persönliche Aspekt

 Volker Mertens, Laudine, S. 37– 38.

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2 Die erzählende Literatur

des Problems, weglässt, aber sowohl die vorgebrachten Anklagen (3118, 3183 und 3195) als auch das Verbot, zu Laudine zurückzukommen (3190 – 3191), und den Befehl, den Ring zurückzugeben (3193) beibehält, fügt eine bedeutungsvolle Anklage hinzu, die eine immense Tragweite besitzt und wohl ihren Ausgangspunkt in der Vorlage hat: Stichwort desleal (2722). Indem Iwein sein Versprechen nicht einhält, vor Jahresende zurückzukehren, hat er einen schweren Fehler begangen, den er übrigens einsieht (3222– 3223): er hat das Verbrechen der untriuwe begangen, die gegenüber seiner Herrin, ja seiner Minneherrin eingegangenen Verpflichtungen nicht eingehalten, das heißt das schlimmste Verbrechen, das begangen werden kann. Wer triuwelôs handelt und die triuwe gegenüber seinem Herrn (hier geht es um die triuwe in der Liebe) verrät, ist ein übler Mensch, der nicht mehr würdig ist, unter Menschen, in der Gesellschaft zu bleiben, da er ihr nicht mehr nützlich ist, im ursprünglichen Sinne des Adjektivs vrum (3179 – 3180). Infolgedessen ist er nicht mehr würdig, am Hofe zu bleiben. Artus, der der triuwe und der êre einen so großen Wert beimisst, wäre gar von Schande befleckt, wenn er ihn länger unter seinen Rittern duldete (3187– 3189). Da die Schande eines Individuums die Gemeinschaft trifft, zu der es gehört, muss er aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Infolgedessen wird Iwein auf Befehl seiner Herrin nicht nur aus deren Gegenwart verbannt, sondern auch aus der Gesellschaft, und dieser Ausschluss wird durch den Verlust von sîn êre, d.i. sein Rang in der Gesellschaft, begründet (bei Chrétien hat Yvain sein Glück verloren, 2795 – 2797). Es ist merkwürdig, dass Artus nichts unternimmt, um Iwein zurückzuhalten, sondern dem Befehl Laudines auf der Stelle Folge leistet. Er hat nur etwas Mitleid mit dem Helden, der die Flucht ergriffen hat, und ihn suchen lässt, um ihn zu trösten. Die tiefgreifenden Änderungen, die Hartmann am Text seiner Vorlage vornimmt, verschieben das Problem der Beziehungen zwischen Mann und Frau auf die Ebene der Gesellschaft, der zwischenmenschlichen Beziehungen. Der Fehler des Helden wird mit dem sozialen Stand in Beziehung gesetzt, zu dem er gehört und dessen Werte er respektieren soll. Jeder Verstoß gegen das Wertesystem dieses sozialen Standes verursacht Schande, und dies sowohl für das schuldige Individuum als auch für die Feudalgesellschaft, deren Mitglied er ist, und verletzt die reziproken Verpflichtungen zwischen Feudalherrn und Vasallen. Indem er einen Fehler begeht, gefährdet er die soziale Kohäsion der Gesellschaft: die ganze soziale Pyramide gerät ins Wanken. Und wenn Hartmann eine homogene Gesellschaft nach dem französischen Modell herbeiwünschte,¹⁸⁶ gefährdet der von ei-

 Cf. René Pérennec, Recherches sur le roman arthurien en vers en Allemagne aux XIIe et XIIIe siècles, Göppingen 1984 (GAG 393, I und II).

2.1 Versliteratur

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nem Individuum begangene Fehler diese Kohäsion. Es muss eine Zeitlang aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, um wieder in diese Gesellschaft aufgenommen zu werden, sobald er bewiesen hat, dass er wieder ein beispielhaftes Mitglied dieser Gesellschaft ist. Ein ähnlicher Vorgang begegnet im Erec, wo das Rittertum die Stelle der Liebe einnimmt. Nun ist das Motiv des Fehlers eines Individuums, das die ganze Gemeinschaft in Mitleidenschaft zieht, zu der der Schuldige gehört, häufig in der höfischen Literatur in Deutschland anzutreffen. Genau wie im Iwein (3187– 9) wird im Parzival Artus’ Hof durch den persönlichen Fehler des Helden in Mitleidenschaft gezogen (314, 23 – 315,16), und es ist interessant, festzustellen, dass dieses Motiv bei Chrétien jeweils fehlt und erst von dem deutschen Dichter angeschlagen wird. Das Motiv begegnet ebenfalls im Nibelungenlied (Str. 995) und in der Krône Heinrichs von dem Türlin. In letzterem Werk ist das ganze Elend des alten Herrn in seiner Burg auf einen Brudermord zurückzuführen, der in Percevals Sippe begangen worden ist; daz künne al (29503), seine ganze Familie, ist dann von Gott verdammt worden. Es geht um das ‚initiale Verbrechen‘, von dem Wolfram gleichfalls in seinem Parzival spricht (463,2– 465,10). Eine ganze Sippe wird durch den Fehler eines Individuums geschädigt, wie die ganze Menschheit infolge von Kains Brudermord leiden muss. Nur ein Mitglied dieser Sippe kann die Sippe erlösen. Durch die Schuld eines Individuums müssen die Toten wie Gespenster ein Scheinleben führen, bevor Gawein sie rettet. Erst dann dürfen sie endlich sterben. Mit anderen Worten: die Bewohner der Burg leiden an den Folgen eines Verbrechens, das sie selbst nicht begangen haben. Sie sind persönlich nicht schuldig, sie sind schuldig nur im Sinne der Ursünde. Sie sind von einer erblichen Sünde belastet. Auf diese Weise erklärt Heinrich, dass sie nicht sterben können. Indem er eine menschliche Erklärung für eine unerklärliche Tat gibt, rationalisiert er das Übernatürliche.

c) Iweins Wahnsinn Während bei Chrétien der Held von selbst die Rittergemeinschaft verlässt (2798) und wahnsinnig wird, weil er sich für sein eigenes Unglück verantwortlich fühlt (2794 und 2797), aus einem persönlichen Grund also, wird er bei Hartmann von Laudine verjagt, und es sind der Verlust seiner Ritterehre, seines sozialen Rangs, der Umstand, dass seine triuwe angezweifelt wurde, der Verlust seiner Güter und erst an letzter Stelle der Kummer, den ihm der Verlust seiner Frau verursacht. Es sind also keine persönlichen, sondern ganz äußere Motive, die seinen Wahnsinn verursachen. Auch hier lässt Hartmann den persönlichen Aspekt der Sache außer Acht und unterstreicht den sozialen Aspekt sowie den Sinn seines Romans. Da er alles verloren hat, was im Mittelalter einen Menschen ausmachte, muss er eine

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2 Die erzählende Literatur

Zeit lang das Dasein eines Tieres führen, das seine Speisen roh frisst, ohne Pfeffer und Salz (V. 3278), wie unzivilisierte Menschen. Übrigens sagt Hartmann, er sehe aus wie ein „Mohr“ (3348 – 3349), das heißt wie ein Heide. Es scheint, als ob er gleichfalls aus der Gesellschaft der Christen ausgeschlossen worden wäre. Jetzt geht es für Iwein darum, alles zurückzuerobern, was er verloren hat, und wieder ein Mensch zu werden.

d) Iwein leistet Hilfe denen, die in der Not sind Es gibt sehr viele Beispiele dafür, dass Hartmann den Sinn seines Romans unterstreicht. Hier nur ein Beispiel: In der Episode des Schlimmen Abenteuers tilgt Hartmann das Motiv der tollen Kühnheit Iweins (5178 – 5179), das nicht mehr zum neuen Bild des Helden passt, das der Dichter vermitteln will. Der Protagonist ist fortan derjenige, der denen Hilfe leistet, die in Not sind, wie es der Dichter in einem hinzugefügten Kommentar ausdrücklich sagt (6001– 6004). Von dem Augenblick an, in dem er die in der Kapelle eingesperrte Lunete getroffen hat (eine Szene, die sich genau in der Mitte des Romans befindet) und ihr versprochen hat, für sie zu kämpfen, nimmt er Partei für die verfolgte Unschuld, er kämpft für die anderen, und dadurch gewinnt er wieder einen Platz in der Gesellschaft, die ihn verstoßen hatte. Er ist zutiefst berührt von der Not der armen Damen und hat Mitleid mit ihnen (6407– 6408 und 6413 – 6416). Immer unterstreicht Hartmann, Iwein handle aus Selbstlosigkeit. Dies gilt auch für die Harpinepisode.

e) Iweins Treue gegenüber Laudine Nicht zuletzt misst Hartmann dem Thema der triuwe des Helden seiner Herrin gegenüber ein größeres Gewicht bei als Chrétien, und zwar in drei Episoden, in denen er in seiner Liebe und in seiner Treue Laudine gegenüber auf die Probe gestellt wird: in der Episode der Frau von Narrison, in der Herpinepisode und in der ‚Pesme Aventure‘, bei der es sich sogar um einen Zusatz handelt. Bleiben wir bei letzterem Punkt. Während Yvain bei Chrétien zu seinem Bett gebracht und allein mit seinem Löwen zurückgelassen wird (5448 – 5449), schläft der Held bei Hartmann in derselben Kammer wie das Fräulein, das ihn begleitet, und Hartmann kommentiert (6574– 6581): Iwein war der untriuwe bezichtigt worden. Nun ist er der triuwe schlechthin. Es ist augenscheinlich, dass einige Änderungen, Zusätze oder Streichungen, die Hartmann vornimmt, viel weitergehen als Chrétiens Text: Der Dichter greift in den Text seiner Vorlage ein – dies sind allerdings Änderungen, die allerdings punktuell sind und nicht die allgemeine Struktur des Werkes anrühren. Eine

2.1 Versliteratur

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Änderung ist dennoch tiefgreifender: Es geht um die Einstellung von Chrétien zu den Frauen im Allgemeinen und um die Beziehung zwischen Iwein und Laudine.

f) Einstellung von Chrétien zu den Frauen im Allgemeinen Laudines Geschichte mag klassischer Herkunft sein (erwähnen wir den Roman de Thèbes mit der Gestalt der Jocaste, der Witwe von Ephesus oder Dido) oder keltischer Herkunft (mit dem Motiv der ‚Marthenehe‘, der Verbindung zwischen einem Menschen und einem übernatürlichen Wesen, und einem Motiv, das mit dem vorigen verbunden ist, dem des Verbotes, hier der Jahresfrist, die nicht überschritten werden darf). Man kann, was die Entstehung der narrativen Struktur des Chrétienschen Textes anbelangt, meinen, dass bei Chrétien eine Ansammlung misogyner narrativer Schemata zu einem politischen Zweck benutzt worden ist. Chrétien hat schon versucht, die Geschichte zu mildern, nichtdestotrotz bleibt er wenig nachsichtig gegenüber Laudine und der Frau im Allgemeinen: Er hat sie nicht auf eine vorteilhafte Weise gezeigt. Sie macht den ersten Schritt, aus dynastischen Gründen; sie wirft sich buchstäblich Yvain an den Hals und wird zum Symbol der weiblichen Unbeständigkeit. Dann verwandelt sich ihre Liebe zu Hass so schnell, wie sie vom Hass zur Liebe übergegangen war, und sie bleibt bis zum Schluss ebenso gefühllos, stolz, ja grausam und unerbittlich wie die Herrin der okzitanischen Trobadors. Die französischen Dichter beabsichtigten, die Höfe zu unterhalten und zu zerstreuen. Das Ziel der deutschen Dichter ist mehr didaktisch. Hartmann kann seinem Publikum unmöglich eine so harte und unerbittliche Frau zeigen. Eigentlich hat er sie aus einem pädagogischen Grund vermenschlicht. In der Tat, Hartmann hat absichtlich und systematisch die Frauen im Allgemeinen und Laudine im Besonderen verteidigt, und alle vorgenommenen Änderungen, die Laudine betreffen, sind einzig und allein gemacht worden, um sie sympathischer erscheinen zu lassen. Er formuliert übrigens selbst die Theorie, die er dann in die Praxis umsetzen wird, und zwar in der Szene, wo Lunete versucht, Laudine zu überzeugen, wieder zu heiraten. Artus’ Ankunft, die sie zuerst verheimlicht hatte, und die die Zofe nun ankündigt, liefert ihr ein gewichtiges Argument: sie macht diese Heirat notwendig. Denn es stellt sich die Frage: Wer wird den Brunnen nun verteidigen? In der Folge ergreift Hartmann systematisch Partei für die Frauen: Er behauptet, dass er niemals denen zustimmen werde, die Böses über die Frauen sagen und sie der Wankelmütigkeit bezichtigen werden, und er schließt mit einem Glaubensbekenntnis (1887– 1888). Er präsentiert Laudine immer in einem guten Licht. Laudines Rehabilitierung erfolgt auf zwei Gebieten, in der Episode ihrer Wiederverheiratung (Motiv der schnell getrösteten Witwe) und in ihren Beziehungen zu Iwein.

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2 Die erzählende Literatur

g) Iwein und Laudine: die Versöhnung Ich wende mich hier ausschließlich der letzten Szene des Romans zu.¹⁸⁷ Hier verhält sich Hartmann sehr frei gegenüber seiner französischen Vorlage, zumindest in der Handschrift B, und zwar in den Versen 8121– 8136. Schon vor der Ankunft des Löwenritters zeigt Laudine, dass sie nicht die unerreichbare Herrin ist: Sie will dem fremden Ritter entgegengehen, denn sie brauche ihn (8034 – 8035). Dieser Zusatz ist umso bedeutungsvoller, als Hartmann im ganzen Passus sehr nah an seiner Quelle geblieben ist. Nachdem sich der Held vor Laudine zu Boden hat fallen lassen und Lunete letzterer enthüllt hat, der Löwenritter sei Yvain/ Iwein selbst (Chr. 6720 – 6760; Hartm. 8040 – 8074), fühlt Laudine in beiden Texten, dass Lunete sie hintergangen hat. Sie fühlt sich aber in beiden Texten durch ihren Eid gebunden: sie muss ihm verzeihen, sonst würde sie meineidig (Chr. 6770 – 6779; Hartm. 8102– 8113), was sie mit allem Nachdruck betont. Daraufhin bricht der Held in Freude aus (Chr. 6785 – 6788; Hartm. 8114– 8117). Bis dahin folgt Hartmann Chrétiens Text sehr genau. Nun aber weicht der deutsche Text, in der Handschrift B, plötzlich und entscheidend vom französischen Text ab. Im französischen Text hat Yvain harte Bewährungsproben bestanden, und seine Herrin hat ihm – nur halbherzig – ihre Liebe zurückgegeben: die Versöhnung der Eheleute ist aber nur formell und gekünstelt. In der Handschrift B des deutschen Textes dagegen fleht Laudine ihrerseits Iwein an, ihr die Qualen zu verzeihen, die er ihretwegen ertragen musste (8122– 8129), und wie vorher Iwein, so wirft sie sich ihm nun demütig zu Füßen. Beide Partner sind gleichermaßen schuldig, denn weder der eine noch der andere hat das rechte Maß eingehalten. Iwein hat nicht das Gleichgewicht zwischen Minne und Rittertum gewahrt; Laudine hat in ihrem Zorn den Schuldigen verstoßen. Ich schließe mich Jean Fourquet¹⁸⁸ und Joachim Bumke¹⁸⁹ an, die die Meinung vertreten, dass die zwei Fassungen A und B des Iwein „gleichwertige Par-

 Ich verweise für das Übrige auf die Einleitung zu meiner französischen Übersetzung des Iwein bei Champion (Paris, 2018). Danielle Buschinger, Hartmann von Aue als Bearbeiter von Chrétiens de Troyes Yvain. In: Cora Dietl, Christoph Schanze, Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Réécriture und Rezeption. Wandlungen des Artusromans. Berlin, de Gruyter, 2019, S. 27– 35  Jean Fourquet, S. 225. Dieser Passus (8121– 8136) steht nur in drei Handschriften, die aber nicht zur selben Klasse gehören. Die Tradition ist so komplex, dass es nicht möglich ist, zu bestimmen, ob der Originaltext nur in diesen Hss. erhalten geblieben ist, oder ob diese Hss. eine Interpolation widerspiegeln. Dies ist z. B. Werner Schroeders Ansicht; in: Werner Schröder, Laudines Kniefall und der Schluss von Hartmanns Iwein. Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Jahrgang 1997. Nr 2, Stuttgart 1997.  Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 32 und 33 – 42.

2.1 Versliteratur

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allelversionen“ sind, dass der *B-Redaktor denselben Chrétien-Text als Vorlage hatte wie der *A-Redaktor und dass es sich um zwei unabhängige Fassungen handelt; wahrscheinlich hat es sogar mehrere echte romans d’Iwein gegeben¹⁹⁰. Im Anschluss an Joachim Bumke¹⁹¹ zitiere ich Jean Rychner, der von der ‚mouvance‘ der mittelalterlichen Texte spricht, sowie Bernard Cerquiglini: „L’écriture médiévale ne produit pas des variantes, elle est variance.“ Überdies habe ich im deutschen Text vor dieser Szene eine Reihe von Textstellen entdeckt, die eine andere Laudine zeigen als die von Chrétien, besonders in der Szene, wo Iwein sie erobert. Wie dem auch sei, diese Texterweiterung wie die vorhergehenden zielen darauf ab, die Gestalt der Laudine zu vermenschlichen, aber auch die hochmütige und unerreichbare Herrin vom Podest zu stoßen, auf das Chrétien, der das Frauenideal der okzitanischen Trobadors übernommen hat, sie gehoben hatte. Indem sie Iwein um Verzeihung bittet, so wie Iwein sie um Verzeihung gebeten hatte, zeigt Laudine, die genau wie er eine innere Läuterung durchgemacht hat, dass sie seine Liebe erwidern kann, dass sie nur eins mit ihm ist, dass infolgedessen ihre Versöhnung definitiv sein wird, dass ihre Ehe, die auf gegenseitige Liebe und auf die Gleichberechtigung und die Gleichheit der Pflichten in der Ehe gründet, für immer glücklich sein wird. Der *B-Redaktor/ Hartmann wollte damit zeigen, dass nur eine gegenseitige, tiefe und aufrichtige Liebe die wahre Liebe ist. Erinnern wir uns daran, dass Hartmann von Aue, der in einer ersten Phase seines lyrischen Werkes die unerfüllte Liebe nach dem Modell der ‚Hohen Minne‘ (und der Trobadors) besingt, später, in einer zweiten Phase, diese Liebe in Frage stellt. Die Folge dieser Erkenntnis ist, dass er sich von der adligen Welt abwendet, um sich den ‚niedrigen‘ Schichten der Gesellschaft zuzuwenden, weil dort, bei den Frauen jener sozialen Schichten, die natürliche Gefühle empfinden, seine Liebe erfüllt wird. In einer dritten Phase wendet sich Hartmann, der auf die Welt verzichtet, vom Minnedienst ab, weil man zum wahren Glück, zur wahren Erfüllung nur im Dienst an Gott gelangen kann. ¹⁹²

 „[M] ehrere echte ‚Iweine‘“, wie es schon Henrici in der Einleitung zu seiner Edition festhielt: Hartmann von Aue, Iwein der Ritter mit dem Löwen. Hrsg. von Emil Henrici. Bd. 1– 2, Halle 1891– 1893 (= Germanistische Handbibliothek, 8), S. XXXII. S. auch Joachim Bumke, Die vier Fassungen…, S. 42.  Joachim Bumke, Die vier Fassungen…, S. 50 und S. 54.  Vgl. Hartmanns Lied MF XXII/XV (216,29 – 52C), S. 426 in: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I. Texte. 37., revidierte Auflage mit 1. Faksimile, Stuttgart, Hirzel Verlag, 1982.

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2 Die erzählende Literatur

Hartmann verfährt im Grunde genau so wie seine Zeitgenossen Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide, die sich beide vom Ideal der okzitanischen Dichter abgekehrt haben, wie es in deutscher Sprache von Reinmar dem Alten vertreten wurde. Wolfram von Eschenbach hat fast ausschließlich Tagelieder geschrieben, die von der erwiderten Liebe handeln. Die Liebe, die er verherrlicht, ist die Liebe zwischen zwei liebenden Herzen, die Liebe, die nicht weh tut, die gegenseitige Liebe in der Ehe. Walther von der Vogelweide verwirft gleichfalls in mehreren Liedern die unerwiderte Liebe zu einer unerreichbaren und unerbittlichen Herrin und besingt daz wîp, das jenseits jeder sozialen Grenze der frouwe überlegen ist, und verlangt die Gegenseitigkeit der Gefühle. Man darf wohl meinen, dass Hartmann von Aue, wie Walther von der Vogelweide oder Wolfram von Eschenbach, im Iwein, einem Werk, das Wolfram kannte und benutzte, zeigen wollte, dass nur die gegenseitige Liebe die wahre Liebe ist.

h) Schlussbemerkungen Hartmann von Aue hat im Iwein den Sinn seiner Vorlage tiefgreifend verändert. Einerseits betont er den sozialen Aspekt der Schuld Iweins. Dieser wird nicht ausschließlich in seinem Verhältnis zu seiner Herrin gesehen, sondern auch im Verhältnis zu den Rittern, zu der sozialen Gruppe, zu der er gehört und deren Verhaltenskodex er beachten soll; jeder Verstoß gegen diesen Kodex hat den Verlust der Ehre sowohl für den Schuldigen als auch für die Gruppe, zu der er gehört, zur Folge. Wir begegnen demselben Problem im Parzival Wolframs von Eschenbach, der sich vom Ende des Iwein inspirieren ließ, um den unvollendeten Conte del Graal zu beenden.¹⁹³ Andererseits hebt er deutlich die Gleichheit der Ehepartner hervor, sowohl bezüglich der Rechte als auch bezüglich der Pflichten. Beide arthurischen Romane Chrétiens de Troyes, Erec et Enide und der Chevalier au lion, bilden die zwei Flügel derselben Ideologie, der höfischen und ritterlichen Ideologie, d. h. die der Gesellschaft seiner Zeit; auch wenn dieser Parallelimus etwas künstlich ist, denn ohne Lunetes letzte List mit ihrer Lüge und dem von Laudine erzwungenen Eid wäre die Symmetrie mit dem Erec nicht möglich gewesen. Es gibt jedoch zwischen beiden Romanen, wie Kurt Ruh für den Iwein und für den Chevalier au lion ¹⁹⁴ unterstreicht, einen sehr großen Unter S. z. B. Christine Wand, Wolfram von Eschenbach und Hartmann von Aue. Literarische Reaktionen auf Hartmann im Parzival. Herne 1989.  Kurt Ruh, Zur Interpretation von Hartmanns Iwein. In: Hartmann von Aue. Hg. von Hugo Kuhn und Christoph Cormeau. Darmstadt 1973, S. 408 – 425, insbes. S. 423 – 425.

2.1 Versliteratur

131

schied. Im Gegensatz zum Erec ist Iweins letzte Etappe nicht Artus’ Hof, sondern Laudine, die als ‚Minneherrin‘ ihr eigenes Territorium hat. Der Hof Laudines, die bei Hartmann Königin ist¹⁹⁵ – bei Chrétien ist sie nur Herzogin (V. 2152– 3 fille au duc Laudunet) –, wird zum zweiten Pol der Handlung, den arturischen Hof übertreffend, der bis jetzt der einzige Pol war, und verdrängt ihn sogar.¹⁹⁶ Yvain kehrt zwar an Artus’ Hof zurück, und sein Sieg über Gauvain zeigt, dass er wieder von der Gesellschaft anerkannt wird und sich des arturischen Hofes – ebenso aber Laudines – würdig erweist; er verlässt jedoch Artus und die seinen alsbald, um zu Laudine zurückzukehren. Indem Hartmann das Motiv der Schuld eines Individuums einführt, die auf die ganze Gemeinschaft zurückfällt, zu der es gehört, indem er den sozialen Aspekt der Schuld des Helden betont und indem er ihn nicht nur von Laudine, sondern auch auf die Anordnung Laudines hin vom gesamten Artushof verurteilen lässt, der der Anordnung der Herrin Folge leistet, unterstreicht Hartmann den Sinn des französischen Romans. Fortan ist Artus’ Hof nicht mehr die höchste Instanz; eine andere, eine höhere Instanz ist geschaffen worden, die der ‚Minneherrin‘, deren Willen und deren Entschlüssen der Artushof sich beugen muss. In diesem Sinn ist der Chevalier au lion und noch entschiedener der deutsche Iwein der Wegbereiter des Parzival, in dem das arturische Ideal ebenfalls von einem anderen Ideal übertroffen wird, dem Ideal des Grals.

2.1.3.2.2 Wolframs Parzival und Chrétiens de Troyes Conte del Graal Die Vorlage Wolframs von Eschenbach ist Chrétiens Conte del Graal, der aus zwei nebeneinandergestellten Romanen besteht, dem Perceval-Roman und dem Gauvain-Roman, die beide Fragment geblieben sind und deren zweiter sich eigentlich aus drei unabhängigen Teilen zusammensetzt. Es ist höchst wahrscheinlich, dass Chrétien gestorben ist, bevor er die zwei völlig divergierenden Romane beenden konnte: ein Mäzen hätte dann einen Schreiber damit beauftragt, die beiden unvollendeten Romane zusammenzufügen, wobei beide Teilromane einander abwechseln, um als erster den Nachlass Chrétiens zu veröffentlichen und ein einträgliches Geschäft zu machen. Wolfram, der Parzival zum Haupthelden seines Romans machen will, beabsichtigt zugleich aus zwei unabhängigen Romanen ein einheitliches Werk zu verfassen und es zum Abschluss zu bringen. Am Schluss seines Romans (827,1 ff.) betont dennoch der Dichter, er folge nicht Chrétien de Troyes, denn dieser habe die Geschichte „nicht wahrheitsgetreu

 Siehe Volker Mertens, Laudine, S. 34– 46.  Aus diesem Grund hat Kurt Ruh gesagt, dass der ‚doppelte Cursus‘ ein ‚einfacher Cursus‘ sei, da der Held zu Laudine zurückkehrt, und der Chevalier au lion kein „Erec à l’envers“.

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berichtet“; er beruft sich aber ausdrücklich auf einen Provenzalen namens Kyot, der uns „die authentische Erzählung mit dem richtigen Schluss“ überliefert hat (827, 9 ff.): Kyot soll also die Geschichte viel richtiger bis zum Abschluss erzählt haben als Chrétien. Das Merkwürdige ist, dass sich die erste Berufung auf Kyot erst im 8. Buch findet und dass Wolfram einen so berühmten Gewährsmann wie Chrétien ablehnt, um einen anderen zu wählen, der völlig unbekannt ist. Jean Fourquet hat die Quellenfrage lösen können, indem er sich auf eine genaue Untersuchung der Handschriften und auf einen präzisen Vergleich von Wolframs und Chrétiens Texten stützte: Wolfram hat nacheinander zwei verschiedene Handschriften von Chrétiens Conte del Graal verwendet: 1. Zuerst verfügte er über eine Handschrift, die den reinen Chrétien-Text enthielt, aber ohne dessen Prolog mit der Verfasser-Angabe und der Widmung an Philipp von Flandern. Deshalb berief er sich in dem Teil seines Werkes, der auf dieser ersten Chrétien-Handschrift fußt (es sind die Bücher 3 – 6 sowie ein erster Entwurf von Buch IX), auf keinen Gewährsmann und nannte seine Vorlage einfach „diz maere“ (die „estoire“). Diese Bücher entsprechen der Geschichte Percevals, wie sie Chrétien erzählt. Mitten in der französischen Erzählung befindet sich das geheimnisvolle Motiv der Burg, in der Perceval von einem siechen König empfangen wird. Er wohnt einem sonderbaren Zeremoniell bei, sieht eine blutende Lanze an sich vorbeiziehen, dann ein Gefäß, Graal genannt, und man schenkt ihm ein Schwert, das eigenartige Eigenschaften hat. Als er am folgenden Morgen erwacht, ist die Burg leer. Perceval erfährt dann, dass, hätte er eine einzige Frage gestellt, der König geheilt und die Burg von einem auf ihr lastenden Fluch befreit worden wäre. Als seine Heldentaten, die er dank seiner angeborenen Tugenden vollbracht hat, ihm erlauben, an Artus’ Hof aufgenommen zu werden, erscheint eine Botin des Grals, die ihn verdammt; er bricht auf und macht sich auf die Suche nach dem Gral. Nach einem Teil, den Chrétien Gauvains Abenteuern widmet, begegnet Perceval am Karfreitag einem Einsiedler, der sein eigener Onkel ist: Dieser Einsiedler erklärt ihm, warum er dem König die erlösende Frage nicht gestellt habe; er büße die Sünde, die er beim Verlassen seiner Mutter begangen habe (er hatte sie vor Schmerz in Ohnmacht fallen sehen und hatte ihr nicht Beistand geleistet). Perceval bereut seine Sünde, beichtet, bricht wieder auf, um erneut auf Abenteuer auszugehen. Der Perceval-Teil hört hier auf. Die französische Vorlage hat Wolfram dann verloren, und er macht sich daran, dem Parzival vielleicht nach dem Beispiel von der Vorgeschichte in Gottfrieds Tristan eine Vorgeschichte zu schreiben. Es ist die Gahmuret-Geschichte, die Geschichte des Vaters des Helden (Bücher I und II).

2.1 Versliteratur

133

Zu dieser Zeit schreibt er auch den Titurel, der schon alles beinhaltet, was Wolfram zu dem maere seiner Vorlage hinzufügen wird, um den Conte del Graal endehaft zu machen. 2. Nun bekommt er sein zweites Manuskript, das den Prolog Chrétiens und die erste Fortsetzung enthält (Continuation Gauvain); der Hauptheld ist Gauvain. In dieser Handschrift steht der Name Chrétiens; aber es gibt kein Merkmal, das Wolfram erlauben könnte, die Grenze zwischen dem Text Chrétiens und dem der Fortsetzung zu entdecken. So konnte Wolfram meinen, Chrétien habe das Ganze geschrieben. Nun ist die Fortsetzung nicht endehaft. Wie es Wolfram schreibt, schadet diese Fortsetzung tatsächlich dem maere. Da der Dichter sich entschlossen hat, Parzival zum Haupthelden des Romans zu machen, ist es Parzival, der unbedingt den Weg zur Gralsburg wiederfinden muss, wo er dann zum Gralskönig gekrönt werden soll. Wolfram weigert sich also, einen Text zu bearbeiten, der Chrétien zugeschrieben wird. So fühlt er das Bedürfnis danach, sich auf einen Gewährsmann zu berufen, der seine Entdeckungen deckt, womit er die Geschichte zu Ende führt. Diesen Gewährsmann nennt er dann Kyot, wohl nach dem Namen eines Guyots de Provins, der die Lieder der Troubadours an deutschen Höfen sang. Nun verstehen wir, dass Kyot erst im 8. Buch auftaucht. Überall, wo der Name Kyot im Parzival erscheint, soll man Wolfram von Eschenbach lesen. Unter diesem Namen wird der Anteil an Schöpfung, an Erfindung einer kreativen Adaptation sichtbar, wie Wolframs eine ist, d. h. eine Nach-Dichtung. Erfinden heißt lügen. ¹⁹⁷ Wolfram verrät sich im Epilog, indem er von 827,14 wan als dort der meister sprach (als wo der Meister sprach) zur ersten Person übergeht, zum „ich“ (827,15 – 18), denn er will mit einer frommen Betrachtung schließen, über das Heil seiner Seele (827,20 – 21). Zum Schluss kehrt er zur ersten Person zurück: , –  ob mir deheiniu guotes gan, sît ich diz maere volsprochen hân.

Er ist es, Wolfram, der das unvollendete Werk vollendet hat (volsprochen). Sobald Wolfram über die zweite Handschrift verfügt, setzt er seine Arbeit fort: Er schreibt die Bücher 7– 8 und 10 – 13, die die Gawan-Geschichte behandeln, wie sie im französischen Text behandelt wurde. Gleichzeitig überarbeitet er die Bücher III-VI. Schließlich schließt er die Gawan-Geschichte ab (Buch XIV), formt das Buch IX um und verfasst die Bücher XV und XVI mit seiner eigenen Auffassung der Gralswelt. Nun möchte ich an zwei Beispielen zeigen, wie Wolfram seiner altfranzösischen Vorlage gegenüber verfahren ist.  Jean Fourquet, persönliche Mitteilung.

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1) Chrétiens Auftraggeber war Philippe von Flandern, der der Erzieher des Königs von Frankreich war, Philipp des II. August, und sozusagen die Rolle des praeceptor Galliae war. Andererseits war die ganze Politik der Zeit auf den Kreuzzug hin gerichtet. Chrétien erteilt also in seinem Roman eine Lehre, die die Lehre der christlichen Kirche ist: Sünde, Reue, Beichte, Kommunion. Er will dem Adel im allgemeinen und dem König von Frankreich im besonderen zeigen, dass ein Mensch – Perceval -, der im Zustand der Sünde verharrt, nicht er selbst ist: die Schuld am Tode seiner Mutter lastet nun auf ihm und verursacht sein Schweigen auf der Gralsburg: Pechiez la langue te trancha, sagt Percevals Onkel zum Helden. Die Sünde hat ihm die Zunge abgeschnitten. Und in den Augen des hässlichen Fräuleins, das ihn verdammt, und in den Augen des ganzen Artushofs ist er verantwortlich durch sein Verhalten auf der Gralsburg für alles Leid, das auf dem König und dem Land weiter lasten wird. Wolfram tilgt die zwei Verse, wo gesagt wird, dass Parzival seine Mutter hat hinfallen sehen (Chr. 620 ff. entsprechen W 128,20 ff.). So ist der Held weniger schuldig als Perceval. Eine so große Schuld kann der deutsche Dichter seinem geliebten Helden nicht anlasten, will er doch aus ihm ein Vorbild machen. Deshalb wischt er Parzivals Sünde ab. Dadurch aber fällt die religiöse Lehre Chrétiens weg – d. h. einer, der im Zustand der Sünde verharrt, begeht Sünden, im Perceval das Schweigen auf der Gralsburg. Doch bleibt der Rest der Erzählung schlecht motiviert, und er muss allerlei erdenken, um Parzivals Unterlassung der Frage auf der Gralsburg zu erklären. So rechnet ihm Wolfram den Tod Ithers des roten Ritters an, den er vor Artus’ Burg tötet, und zwar aus drei Gründen: ‒ Parzival hat Ither mit einem Jagdspeer getötet, also mit unritterlicher Waffe. Wolfram unterstreicht mit einem gewissen Zynismus, dass sein Tod nicht so schlimm gewesen wäre, wenn er mit einem Speer erschlagen worden wäre (159,9). Nicht der Mord an Ither ist strafbar, sondern die Art, wie er verübt wurde. Sogar ein Mord soll ritterlich begangen werden. Parzival hat also weder gegen ein moralisches Gesetz noch gegen ein religiöses, sondern nur gegen ein ganz und gar äußerliches Gesetz verstoßen, d. h. gegen ein Gesetz der ritterlichen Gesellschaft. ‒ Parzival hat nach dem Tod Ithers ihm seine Rüstung geraubt. Er hat einen rêroub begangen, d. h. einen toten Ritter beraubt. Und dies ist bei der ritterlichen Gesellschaft verpönt. Es handelt sich also um einen zweiten Verstoß gegen das ritterliche Gesetz, und dies hebt Wolfram heraus (161,4 ff.). ‒ Parzival hat überdies seinen Vetter getötet. Dies wird ihm auch als Schuld angerechnet. Er hat gegen das Gesetz der Familie, der Sippe verstoßen (499,13 ff.).

2.1 Versliteratur

135

Dies alles weiß Parzival aber nicht, so dass man die Unterlassung der Frage als eine harte Prüfung interpretieren soll, die Gott dem Helden auferlegt hat, um seine edle Natur auf die Probe zu stellen. Dann übernimmt Parzival am Karfreitag die Verantwortung für Schulden, die er nicht wissentlich begangen hat und die die Vorstellung, die man von ihm in der ritterlich-höfischen Gesellschaft hat, beflecken. Gott braucht dann dem Helden nur noch seine Gnade zu erweisen, und Parzival wird zum Gralskönig berufen.

a) Erster Besuch Parzivals auf der Gralsburg Nachdem Perceval/ Parzival Blanchefleur/ Kondwiramurs verlassen hat (die nur bei Wolfram Parzivals Ehefrau ist), reitet der Held bis zum Abend. Da erblickt er auf einem See (auf einem Fluss bei Chrétien) einen Kahn mit Fischern. Auf die Frage, ob er eine Herberge finden könne, antwortet einer der Fischer, dass es dreißig Meilen im Umkreis kein anderes Haus gebe als eine Burg, die ganz in der Nähe liege, und er erklärt ihm den Weg dorthin. Parzival nimmt Abschied vom Fischer und reitet von dannen. Bei Chrétien sieht er zunächst die Burg nicht und schimpft auf den Fischer (Chr. 3036 ff.). Bei Wolfram findet der Held sofort den Weg zur Burg. Außerdem ist im französischen Roman die Brücke heruntergelassen – was darauf hinweist, dass der Gast erwartet wird –, während sie bei Wolfram hochgezogen ist (226,10 ff.). Die Veränderungen, die Wolfram vorgenommen hat, mildern allem Anschein nach das Wunderbare, das Übernatürliche. Denn bei Chrétien gehört die ganze Begebenheit in den Bereich des Wunderbaren, des Übernatürlichen, ja des Mythischen.Wie es Jean Frappier unterstrichen hat,¹⁹⁸ befindet sich die Gralsburg bei Chrétien im Jenseits der keltischen Mythologie: Sie gehört zum Mythos, genau wie die Burg vom Schlimmen Abenteuer und die Welt des Brunnens in Chrétiens und Hartmanns Iwein. Das Jenseits ist in der keltischen Mythologie von der irdischen Welt, von der Welt der Wirklichkeit nicht durch unüberwindliche Grenzen getrennt. Im Gegenteil, es ist sehr leicht, den Weg zu finden, der in die Welt des Fabulösen, des Feenhaften führt, aber unter der Bedingung, dass man dazu berufen ist. Der Fischerkönig könnte auf den Gott des Meeres in der keltischen Mythologie zurückgehen oder auf den König des Jenseits. Der Gott hätte sich vermenschlicht und in einen Angler verwandelt (da er zwischen den Beinen verwundet ist, kann er nicht reiten). Der Artushof dagegen, auch wenn er geschichtlich nicht belegt ist, könnte in der Wirklichkeit existieren: Der Artushof stellt im Artusroman die Welt der Wirklichkeit dar.

 „Féerie du Château du Roi-Pêcheur“. In: Mélanges Fourquet, Paris 1969, S. 111 ff.

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Ob absichtlich oder nicht, Wolfram scheint alles Wunderbare zu tilgen, wenigstens zu mildern. Dennoch ersetzt der deutsche Dichter den keltischen Mythos der „Anderen Welt“ durch seinen eigenen Mythos, den Mythos der Gralswelt. Im Gawan-Teil nimmt Wolfram betreffs der anderen Begebenheiten, die in den Bereich des Wunderbaren gehören, z. B. das Schastel Marveil, das auch zum Mythos gehört und bei Chrétien das Jenseits darstellt, ebenfalls schwerwiegende Abänderungen vor.

Was ist nun der Gral ? In Chrétiens Text erfährt man wenig davon. In einer geheimnisvollen Burg wird Perceval von einem siechen König empfangen und wohnt einem sonderbaren Aufzug bei. Alles ist darauf angelegt, Perceval dazu anzuregen, eine Frage zu stellen; seine Neugier wird gereizt: Zuerst wird ihm ein Schwert geschenkt, das wunderbare Eigenschaften hat, dann sieht er eine Lanze, an deren Spitze Blut herausquillt, und schließlich einen Graal (d.i. eine ziemlich tiefe Schüssel, die auf einem Fuss steht), der in einen Nebenraum getragen und einem Menschen gebracht wird, der nicht zu sehen ist. Der Gral wird mehrmals durch den großen Saal ins kleine Zimmer getragen. Dreimal betont Chrétien, dass Perceval gern eine Frage stellen möchte, aber er traut sich nicht, denn er will Gornemants Rat befolgen (3202 ff.). Statt dessen isst er mit gutem Appetit die Speisen, die von Dienern aufgetragen werden. Als er am folgenden Morgen erwacht, ist die Burg leer. Erst viel später wird der Hörer/ Leser spärlich aufgeklärt über diese Vorkommnisse: der Gral ist für Chrétien eine edelsteinbesetzte Schüssel, in der dem Vater des kranken Burgherrn eine Hostie gebracht wird, die ihn am Leben erhält: dieser Greis ist so esperitax, d. h. so reinen Geistes, dass er seit 15 Jahren sein Leben auf diese Weise fristet. Mehr erfährt man nicht über den Gral und die Gralsburg. Und Wolfram versucht, alles zu erklären. Zunächst gibt es im 5. Buch ein Zeremoniell, das bei Chrétien nicht zu finden ist: Der deutsche Dichter ist einem Regisseur ähnlich, der ein Theaterstück inszeniert, man könnte von Choreographie sprechen. Die ganze Gralsszene ist so angelegt, dass das Erscheinen von Repanse de Schoye mit dem Gral zum Höhepunkt wird. Das Bild ist um den Gral und dessen Trägerin symmetrisch angeordnet: Während bei Chrétien der Gral in den Nebenraum und mehrmals an Perceval vorbeigetragen wird, bildet er bei Wolfram den Gipfelpunkt der Szene; außerdem trägt Repanse de Schoye nicht einen Graal, sondern den Gral (der bestimmte Artikel weist darauf hin, dass es sich um ein bekanntes Objekt handelt). Wolfram verschiebt das Motiv des Schwertes und benützt es anders als Chrétien. An erster Stelle kommt die Lanze, von einem Knappen getragen (231,17– 8). Blut fließt von der Spitze den Schaft hinab auf die Hand des Knappen und von dort in

2.1 Versliteratur

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den Ärmel seines Gewandes. Während er die Lanze schweigend durch den Saal trägt, von einer Wand zur anderen, beginnen alle Ritter zu weinen und zu schreien. Das afr. Wort „crient“ (3210), das „fürchten“ bedeutet, hat Wolfram falsch verstanden: er hat „schreien“ verstanden und so übersetzt. Dieser Fehler hat Wolfram dazu geführt, das Motiv des Schmerzes und des Jammers, das er schon ein paar Mal angeschlagen hatte, hier nochmals aufzugreifen und noch stärker zu betonen: er erweitert nämlich die Stelle, aber lässt die Verse aus, wo Chrétien zum ersten Mal erwähnt, dass sein Held gern eine Frage stellen möchte, aber lieber schweigt. Er lässt auch die zweite Erwähnung von Parzivals Schweigen aus und behält nur noch eine, die letzte, nachdem er das Wunder des Grals erzählt hat, der alle beliebigen Speisen und Getränke spendet (239,8 ff.). Dann erst kommt das Schwert. Ein Knappe tritt zum Burgherrn, der dann das Schwert seinem Gast reicht; dabei sagt er ihm, es sei sein eigenes Schwert, das er oft im Kampf geführt habe, bis Gott ihn erschlagen habe. Bei Chrétien ist das Schwert eine magische Waffe, eine Waffe und ein Talisman aus dem Jenseits, und die Schwertgabe bedeutet, dass Perceval ein außerordentliches Schicksal erwartet. Wolfram spricht das viel deutlicher aus: bei ihm ist es des Königs eigenes Schwert. Indem der König es dem Helden übergibt, will er zeigen, dass er sozusagen abdankt und dass an seiner Stelle Parzival Gralskönig werden soll. Die Schwertgabe ist also der zweite Höhepunkt der Szene. Sie dient auch dazu, Parzival dazu zu veranlassen, eine Frage zu stellen: Wolfram sagt dies ausdrücklich (240,5/6). Es hilft alles nichts, Parzival stellt die Frage nicht, die alle von ihm erwarten, und der Dichter ruft aus: ôwê daz er niht vragte dô! / des bin ich vür in noch unvrô (240,2/3). Aber erst im Buch IX (468,23 – 471,28) erfährt man Wolframs Gralsvorstellung, die sein Eigentum ist. Der Einsiedler Trevrizent, ein Onkel des Helden, verkündet Parzival, was der Gral sei. Der Dichter hat hier den Text seiner Vorlage auf das Siebenfache erweitert. Buch IX wird nach zwei Abenteuern Gawans eingeschaltet, deren jedes der Gegenstand einer Kurzerzählung hätte sein können: Gawan und Obilot, Gawan und Antikonie. Dies ist der Augenblick, in dem Wolfram sich vorzustellen beginnt, wie er die Adaptation in deutschen Versen von Chrétiens unvollendetem Roman vollenden wird. Nachdem er Gawan als Hauptfigur eliminiert hat (Buch XIV), wird er in einem grandiosen Finale das arthurische Abendland und den märchenhaften Orient des Feirefiz, des Halbbruders Parzivals (des Sohnes Gahmurets und Belakanes), zusammenbringen und vereinigen. Dies soll vorbereitet werden. KyotWolfram benötigt einen phantastischen Gewährsmann, Flegetanis, der in den Sternen liest (454,23): es ist ein Heide, ein Astrologe, der von Salomo abstammt; er hat in den Sternen gelesen, es gebe ein Ding, das ‚der Gral‘ heiße. Kyot hat eine Erzählung entdeckt in heidenischer schrifte (453,13), in arabischer Sprache also, die Kyot-Wolfram hat lesen können, denn er war getauft (453,17), was einen Angriff

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auf Gottfried von Straßburg darstellt: Der elsässische Dichter meinte, Wolfram sei so verworren, dass man Kommentare in den swarzen buochen suchen solle, um ihn verstehen zu können (4683 – 4690). Kyot-Wolfram hat in lateinischen Büchern gesucht, in Chroniken von Britannien, Frankreich, Irland und anderen Ländern (455,4– 11), bis er in Anjou entdeckte, was sich im Titurel findet (!), das heißt die Geschichte von Mazadans Geschlecht, zu dem Titurel gehört und das bis zu Herzeloyde und deren Sohn führt, Parzival, dem Helden dieser Geschichte (455,22). Wolfram parodiert hier die Stelle, in der Gottfried von den Forschungen spricht, die er betrieben hat, um die unverfälschte Geschichte von Tristans Leben zu entdecken, die des Thomas von Britanje (155 – 167). Dies ist die Zeit, in der es Wolfram unternommen hat, ebenso gelehrt wie andere Dichter zu erscheinen. Der Name Flegetanis wurde wohl dem eines Flusses aus der griechischen Mythologie entlehnt, des Phlegetons, des Flusses der Unterwelt. In seinem Gespräch mit Trevrizent, dem Einsiedler-Onkel, der sein Amt als Beichtvater bekleidet, bekennt Parzival: 467,26 – 27 mîn hôhstiu nôt ist umbe den grâl;/ dâ nâch umb mîn selbes wip („Mein größtes Verlangen ist es, den Gral zu erringen, doch ich sehne mich auch nach meiner Frau “). Der Onkel enthüllt ihm, es gebe eine Gemeinschaft von kampferprobten Rittern, die er templeise nennt und die von einem Stein leben. Dieser Stein, der sich als der Gral herausstellen wird, heißt „lapsit exillis“ (469,1– 7). Er wurde von einer Schar Engel auf der Erde zurückgelassen und ist von Gott selbst ausgesuchten reinen Menschen anvertraut worden: die Geschichte dieser Elite ist es, die Kyot-Wolfram in den lateinischen Büchern entdeckte.

Die Eigenschaften des Grals Dieser (Edel)-Stein hat bestimmte Kräfte (das Mittelalter glaubt an die kraft von gewissen Steinen): 1. Durch die kraft dieses Steins verbrenne der Phönix zu Asche; aber aus dieser Asche gehe er zu neuem Leben hervor und er erstrahlt danach ebenso schön wie zuvor. 2. Der Mensch, der diesen Stein sieht (gesiht, d. h. der Aspekt der in ihrer Ganzheit vollbrachten Handlung), an welcher Krankheit er auch leiden möge, könne in der folgenden Woche nicht sterben. Er wird auch ewig am Leben bleiben. Ob Mann oder Frau, er altere nicht. Lediglich sein Haar ergraue. Der Stein habe solche Kraft, dass Fleisch und Knochen sofort ihre Jugend wieder erlangen. Dies ist der Grund, warum König Anfortas, der solche Schmerzen erdulden muss, im Buch XVI darum bitten wird, dass man den Gral von ihm entferne, um in Frieden sterben zu können. Dieses Motiv wird von Wagner in

2.1 Versliteratur

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seinem Parsifal wiederaufgenommen werden. Diesen Stein nenne man auch den Gral (459,1– 28). Bleiben wir bei dem bis jetzt noch nicht zufriedenstellend erörterten Namen stehen, den Wolfram dem Gral zuschreibt, nämlich lapsit exillis (469,7). Ich führe hier die Erklärung an, die Jean Fourquet für diesen Terminus vorgeschlagen hat, und versuche sie weiter zu führen und zu begründen. Das Mittelalter kennt einen Stein, von dem gesagt wird, dass er, wenn er einmal angezündet worden ist, nie mehr erlischt (von griech. asbestos: unauslöschlich).¹⁹⁹ In Wirklichkeit ist Asbest unbrennbar, unzerstörbar, daher wird er u. a. zur Herstellung von feuerfester Schutzkleidung verwendet. Dieser Stein besteht aus langen, verspinnbaren Fasern, die man spinnen und weben kann und mit denen man Gewebe, Stoffe machen kann, was man in Latein durch lapis textilis ausdrücken kann. Als Kyot-Wolfram in lateinischen Büchern gesucht hat, hat er also den Asbest entdeckt, der durch seine wichtigste Verwendung bestimmt ist. Lapis textilis also, statt lapsit exillis, lapsit ex caelis, lapis ex celis, lapis exilis…. Ex ist immer als Präposition interpretiert worden, auf die ein Dativ Plural folgt, mit Endung -îs. Lapist kann auf lapsit zurückgeführt werden, mit Metathesis, und dies gibt einen Sinn: Dies ist der Stein, der durch eine Schar von Engeln auf der Erde zurückgelassen wurde (454,24). Einige sind da geblieben, andere sind zum Himmel zurückgekehrt. Diese Beschaffenheit des Steines führt Jean Fourquet dazu, den Vers 469,7 so zu lesen: er/ heizet/ lapis/texti/lis (d. h. dieser Stein „heißt ein faseriger Stein, oder Textilstein“). Dieser Vers wäre ein korrekter Achtsilber (bzw. ein korrekter vierhebiger Vers), mit Auftakt und männlichem Endreim. Da dieser Stein als unauslöschlich gilt, kann man dann die Geschichte mit dem Phönix verstehen, zumal der Salamander, ein mythisches Wesen, das im Feuer lebt und in ihm nicht stirbt, mit dem Asbest in Verbindung gebracht wird. Wolfram selbst erzählt eine ähnliche Geschichte: Salamander hätten ja für Feirefiz einen Waffenrock in Feuersglut gewebt (735,23 ff.), wohl aus den Fasern des Asbestes. ²⁰⁰ Oder ist die Natur des Steines aus der Sage des Phönixes abgeleitet (in der man eine Präfiguration der Wiederauferstehung Christi gesehen hat). Der Phönix

 Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden. 19., völlig neu bearbeitete Auflage. Zweiter Band, Mannheim, Brockhaus, 1987, S. 171.  Werner Wolf erwähnt ebenfalls anlässlich der Gralsvorstellung von Albrecht, dem Autor vom Jüngeren Titurel, den „flechtbaren Stein, de(n) Asbest“ („Der Vogel Phönix und der Gral“. In: Studien zur Deutschen Philologie des Mittelalters. Friedrich Panzer zum 80. Geburtstag am 4. September 1950 dargebracht. Herausgegeben von Richard Kienast. Heidelberg, Carl Winter, 1950, S. 77). Aber er interpretiert „lapsit exillis“ als „jaspis und silix“ (S. 93).

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2 Die erzählende Literatur

geht aus seiner Asche zum neuen Leben hervor. Der Stein, aus dem der Gral besteht, hätte demnach Feuer auf ihn übertragen. Es kommen andere Erfindungen dazu, die es erlauben werden, das letzte Buch des Werkes zu vestehen, z. B. die Sendung Loherangrins nach Brabant (die Sage des Schwanritters). Auf dem Gral, der als ein Steinblock aufgefasst wird, müssen unter bestimmten Umständen Inschriften erscheinen, d. h. die Befehle, die von oben erteilt werden. Und diese kraft wird durch die Oblate verliehen, die jeden Karfreitag eine Taube auf den Stein legt (470,1 ff.). Durch die Bemerkung der stein ist ouch genant der gral (469,28) wird der Teil des Tafelgeschirrs, das Perceval in der Burg des Fischerkönigs bei einem Mahl erblickt, mit dem Asbest gleichgestellt, auf dem die Inschriften erscheinen. Man darf sich wohl fragen, ob Wolfram den Sinn des Wortes Gra-al (zwei Silben) erfasste, wie Chrétien es verstand, da es sich bei Wolfram, wie schon gesagt, um einen Eigennamen handelt? Außerdem ist der Gral, nach Wolframs Auffassung, der Mittelpunkt einer Rittergemeinschaft, die von Gott selbst gelenkt wird und mit der Gott durch seine Vermittlung in Verbindung steht. Und Kyot ist es, d. h. Wolfram von Eschenbach, der angeblich in Toledo in einer arabischen Handschrift die Geheimnisse des Grals entdeckt hat (452,29 ff.). Wolfram, der im Epilog von Kyot sagt, letzterer habe diu rehten maere, d. h. die authentische Erzählung und dirre âventiure endeszîl (d. h. mit dem richtigen Schluss von Provenz in tiuschiu lant gebracht (827,9 – 10), verrät sich als alleiniger Autor des vollständigen Romans, indem er, wie schon hervorgehoben, die erste Person ich benutzt. Wie Jean Fourquet es unterstrichen hat, ist Kyot kein Mythos, es ist eine Mystifizierung. Am Ende von Buch IX, nachdem Trevrizent Parzivals Sünde übernommen und sich für seine Buße verbürgt hat (bei Chrétien beichtet Perceval), verlässt der mit Gott ausgesöhnte Parzival seinen Onkel und trifft per Zufall auf Artus’ Heer. Nun hat Wolfram für die Fortsetzung des Parzival-Teils keine Vorlage mehr. Er lässt sich vom Schluss des Iwein inspirieren – Kurt Ruh schreibt,²⁰¹ Wolfram habe „sich des ‚Iwein‘-Schemas(s) bedient“. Zuerst besiegt Parzival im Zweikampf Gawan, somit zeigt er sich wie Iwein der arthurischen Ritterschaft wieder würdig. Er trifft auf seinen Halbbruder Feirefiz, den Vertreter der morgenländischen Ritterwelt, der sich auf die Suche nach seinem Vater begeben hat. Somit ist der Bogen um das ganze Werk zu Buch I geschlagen, wo Feirefiz als Sohn Gahmurets und Belakane geboren wurde. Im Kampf zerbricht Parzivals Schwert; großzügig wirft Feirefiz sein eigenes Schwert weg, beide Gegner stellen sich vor, und beide Brüder

 Kurt Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters. II. ‚Reinhart Fuchs‘, ‚Lanzelet‘, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1980, S. 116.

2.1 Versliteratur

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erkennen sich. Sie kehren zum Artushof zurück, wo Cundrie, die Gralsbotin, dem ganzen Hof mitteilt, Parzival sei von Gott zum Gralskönig ernannt worden und ein einziger Mann dürfe ihn begleiten. Parzival ernennt dann seinen Halbbruder. Der Artushof ist für Parzival (und Feirefiz) wie für Iwein nicht der Endpunkt ihrer Abenteuer. Sie ziehen weiter, zum Gral, nach Munsalvaesche.

b) Schloss der Frauen/ Schastel Marveil „Gawan im Lande, von welchem niemand wiederkehrt“, so könnte man die Episode vom Schloss der Frauen betiteln, wie sie Chrétien erzählt. Denn alles in Chrétiens Erzählung erweckt im Hörer/ Leser die Vorstellung, Gauvain befinde sich im Totenreich, im Jenseits, in der ‘Anderen Welt ‘, die in der keltischen Mythologie von der irdischen Welt nicht durch unüberwindliche Grenzen getrennt ist (vgl. u. a. das ‚Schloss des Schlimmen Abenteuers‘ im Iwein), ohne dass es Chrétien jedoch ausdrückte. Eine ganze Reihe von Indizien bestätigen deutlich diesen Eindruck. 1. Der schwerverwundete Ritter, dem Gauvain begegnet (es ist der Urjanz Wolframs), warnt ihn vor den Gefahren, die ihm drohen, wenn er die bosne de Galvoie (6602), d. h. die Grenze von Galvoien, überschreitet, nachdem er den Bürgern der Gemeinde entwischt ist (6600 ff.). Dieser Ritter ist allem Anschein nach ein Ritter, der die Welt der Lebenden verlassen hat, kurz ein Toter, der aus dem Jenseits zurückgekehrt ist und von dort berichten kann. Liest man Chrétiens Text, drängt sich der Gedanke auf, das Land, das jenseits der Grenze von Galvoien liegt, sei das Totenreich (V.8384 ff.). 2. In der Burg La Roche de Canguin, die in dem Raum jenseits der Grenze von Galvoien liegt, einem paradiesischen Ort inmitten einer feindlichen Welt, findet Gauvain seine und Artus’ Mutter wieder, die er schon lange tot wähnte. Wenn Artus hätte ahnen können, sie seien noch am Leben und nur gefangen gehalten, hätte er sie gesucht, um sie zu befreien. Königin Ygerne, Artus’ Mutter, spricht außerdem diese zumindest sonderbaren Worte aus : 8169 ff „Denn König Artus ist gar jung; wenn er hundert Jahre alt ist, kann er nicht älter sein, denn mehr Jahre zählt er unmöglich“ (S. 143). Sie hat keine Ahnung mehr von der irdischen Zeit. Übrigens sagt Gauvain, als er erfährt, die zwei Königinnen seien Artus’ und seine eigene Mutter, Artus habe schon lange keine Mutter mehr (8734 ff.), was Guiromolant bestätigt (8753 ff.). 3. Gauvain entdeckt eine Schwester, die er nicht kannte. Seine Mutter hat sie nämlich im Schloss der Frauen geboren. Dem Text lässt sich wohl entnehmen, dass Gauvains Mutter schwanger war, als sie starb, und dass diese Tochter für ihren Tod verantwortlich ist.

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4.

5.

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2 Die erzählende Literatur

Um zur Burg La Roche de Ganguin zu gelangen, die Paule le Rider als Ort des Überlebens im Tod bezeichnet hat, muss Gauvain zuerst einen Ritter besiegen, der ihm den Zutritt verwehrt: Es ist Greorras’ Neffe, d. h. eine Art Hüter des Jenseits; dann muss er über einen Fluss, der die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und dem Jenseits darstellt, im Kahn des Fährmanns fahren, den man mit dem Charon der griechischen Mythologie vergleichen kann. Am Tor der Burg der Frauen sitzt ein Mann mit einem vergoldeten, mit goldenen Reifen und eingelegten Edelsteinen versehenen Stelzfuß, ein sehr reicher Mann, der allem Anschein nach auch zur mythischen Welt gehört, ein Zerberus der verbotenen Pforte, genauso wie Charon der Fährmann der des Flusses ist. Während der Wanderung durch das Totenreich wird Gauvain vom schlimmen Fräulein begleitet, einer echten Teufelin „(„pire que Sathanas“, V. 7456). Sie hat manche Ritter zugrunde gerichtet, die von ihrer Schönheit verhext und daran gehindert wurden, in das Schloss der Frauen einzutreten. Gauvain hat ihrem Zauber zu widerstehen gewusst, und während der Ferge ihn abzuschrecken versucht (was auch zur Tradition des Jenseits gehört) und ihm anbietet, in sein Land zurückzukehren, d. h. in die Welt der Lebenden, was ja eine ganz besondere Gnade ist, ist er bereit, sich unter Lebensgefahr den Prüfungen des Wunderbettes zu unterziehen. Er bewältigt diese Prüfungen und kann so alle Zauber im Schloss aufheben und dessen Herr werden. Dennoch ist er ein Gefangener, denn nie darf er das Schloss verlassen (8331). Ein einziges Mal bekommt er die Erlaubnis auszureiten, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, dass er noch am selben Tag zurückkomme. Dieses Detail steht in Beziehung zu dem Umstand, dass Chrétien de Troyes den mythischen Zusammenhang, der seinem Roman zugrunde liegt, mit einem ritterlichen Zusammenhang überdeckte (das hat Jean Fourquet „double cohérence“ genannt). So ist der französische Dichter bemüht, alle mythischen Elemente in einer ritterlichen Perspektive neu zu interpretieren. Gauvains Abenteuer werden mehr oder weniger die ritterlichen Abenteuer eines idealen Ritters, auch wenn sie im Hintergrund die Zweideutigkeit des Rittertums, d. h. einer kriegerischen Kaste, ans Licht bringen, an deren Händen Blut klebt (Gauvains ist eines Mordes schuldig, eines Verbrechens, das dem Handwerk aller anhaftet, die ein Schwert tragen). Ebenso ist Chrétien bestrebt, das schlimme Fräulein zu vermenschlichen, indem er es der Welt der Lebenden entstammen lässt: sie sei aber sehr jung nach Galvoien gebracht worden (8639 – 40), d. h. ins Totenreich. Auch wird ihr Betragen psychologisch begründet: sie will den Tod ihres Geliebten rächen.

2.1 Versliteratur

143

Die mythische und die ritterliche Ebene sind aber unvereinbar, was Dissonanzen verursacht: Die mythischen Elemente schimmern durch den ritterlichen Überbau (und diese Zweideutigkeit ist es u. a., die den Romanen Chrétiens Reiz und Poesie verleihen): so das unwahrscheinliche Alter Artus’ (er ist 100 Jahre alt und ist ein Kind), die Gestalt des Krüppels, die auf der ritterlichen Ebene keine Funktion mehr hat; der Umstand auch, dass Gauvains Mutter im Jenseits eine Tochter geboren hat; die Tatsache auch, dass Gauvain das Schloss nicht verlassen darf. Man weiß nicht, wie Chrétien, hätte er sein Werk zu Ende geschrieben, diese Widersprüche aufgehoben hätte: Z. B., wenn Artus Gauvains Einladung befolgt hätte, mit seinem ganzen Hofstaat nach La Roche de Ganguin zu ziehen, wäre er in Gefahr geraten, die ganze Ritterschaft ins Verderben zu stürzen, d. h. in den Tod? Wolfram ist bestrebt, alle diese Dissonanzen zu beseitigen, die bei Chrétien zwischen der mythischen und der ritterlichen Ebene bestehen. 1. Wolfram macht das „böse Fräulein“ zur überhöhten Herrin der Troubadours und Minnesänger, zur Herrin, zu der der Liebhaber demütig und verehrungsvoll emporschaut, zur Gebieterin, die vom Mann alles fordern kann, was sie will: Wolfram ersetzt den quasi-magischen Reiz, den sie auf Gauvain ausübt, durch einen Minnedienst, dem Gawan freiwillig zugestimmt hat. 2. Wolfram tilgt jeden Hinweis auf die Grenze von Galvoien und lässt die Worte des Ritters über jenes Land aus, von dem kein Ritter lebend zurückgekehrt ist, d. h. jede Andeutung auf das Jenseits. 3. Der reiche Krüppel mit dem Stelzfuß wird zu einem reichen Krämer; der Ferge ist ein armer Ritter: jeder hat eine besondere gesellschaftliche Stellung inne (dies gehört zur rationalistischen Überarbeitung des französischen Textes). 4. Wolfram lässt das Verbot weg, das Gauvain gegenüber ausgesprochen wird, das Schloss zu verlassen; ebenso die zusammenhanglosen Worte von Artus’ Mutter über ihren Sohn, ein hundertjähriges Kind; auch lässt er Gawan nicht sagen, dass Artus seit 60 Jahren keine Mutter mehr habe und dass seine eigene Mutter schon 20 Jahre tot sei. 5. Wolfram macht aus dem Schloss der Frauen das Schloss eines Zauberers, der darin Artus’ und Gawans Mutter sowie Gawans Schwester und zahlreiche Ritter und Frauen gefangenhält, die er entführt hat und denen er jede Liebe verbietet. (Wolfram hatte im Buch II erwähnt, dass Artus sich auf die Suche nach seiner Mutter gemacht hatte, die entführt worden war.) 6. Bei Wolfram ist Gawan nun der Herr der Burg und der Befreier aller Gefangenen, die sich nun dank seiner wieder der Liebe hingeben dürfen. Bei Wolfram vollzieht Gawan eine Erlösungstat genau wie Parzival. Schließlich kann Wolfram alle, die keine Toten sind, an Artus’ Hof zurückführen, wo sie ihre Verwandten mit Freuden wiedersehen. Und Gawan kann seinen Platz in der ritterlichen Gesellschaft wiederfinden, zumal Wolfram ihn für unschuldig

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2 Die erzählende Literatur

am Tod Kingrisins erklärt hat: So kann er hocherhobenen Hauptes an Artus’ Hof zurückkehren, was ihm bei Chrétien unmöglich gewesen wäre. Kurz, in Wolframs Parzival haben wir es nicht mehr mit Mythischem zu tun, sondern mit einer anderen Art von Übernatürlichem, Wunderbarem: mit Magie; der Mythos ist untergegangen und durch Magie und Zauberkunst ersetzt worden. Ich möchte noch auf ein Detail hinweisen, das in der Episode „Schloss der Frauen/ Schastel Marveil“ anzutreffen ist. Im Conte del Gral befindet sich Gauvain in der Burg der Roche de Canguin in einer endogamischen und inzestuösen Situation: Gauvain und Clarissant sitzen nebeneinander auf dem Lit de la Merveille. Wenn Gauvain wohl weiß, dass Clarissant seine Schwester und die gefangenen Königinnen seine Großmutter und seine Mutter sind, wissen diese nicht, dass ihr Enkel und Sohn ihnen gegenübersitzt, und Gauvain versucht nicht im mindesten, sie aufzuklären. Im Gegenteil unterhält er das Zweideutige der Situation. Ygerne betrachtet das glänzende Paar, das Gauvain und Clarissant bilden. Weil Gauvain den beiden Frauen nicht enthüllt hat, in welchem Verwandtschaftsverhältnis er zu ihnen steht, beabsichtigt seine Großmutter, ihn mit seiner eigenen Schwester zu vermählen (9047– 9059, S. 157). Gauvain befindet sich infolgedessen in einer ausgesprochenen inzestuösen Lage. Daraufhin stellt Gauvains Mutter die Hypothese auf, sie seien Bruder und Schwester und begingen den Inzest (V. 9060/4, S. 157). Auch wenn Chrétien sofort ihre Worte bagatellisiert (9065/71), ist es deutlich, dass Gauvains Mutter vor Endogamie und Inzest nicht zurückschrickt: was hier erwogen wird, ist eine Art königlicher Inzest, der in manchen Gesellschaften nicht nur erlaubt, sondern auch gefördert wurde. Gauvain darf aber die Burg der Roche de Ganguin nicht verlassen: Er ist zugleich Herr über die Burg und ihr Gefangener. Und diese Gefangenschaft ist eben Symbol der Endogamie, gar des Inzestes. Gauvain ist nun der Gefangene seiner Familie. Wolfram, der, wie wir gesehen haben, jeden Hinweis auf eine Deutung des Schastel Marveil als Totenreich gestrichen hat, streicht die zweideutigen Worte der Großmutter und der Mutter Gauvains, die auf eine inzestuöse Verbindung zwischen dem Helden und seiner Schwester hinweisen. Und Gawan entschließt sich ausdrücklich zur Exogamie, indem er Orgeluse heiratet, eine Gestalt, die, wie schon gesehen, Wolfram völlig neu interpretiert hat. Und es ist bezeichnend, dass beide sich ihrer übermächtigen Liebe hingeben, gerade an der Stelle, wo bei Chrétien die zwei Königinnen eine Verbindung zwischen Gauvain und seiner Schwester erwägen. Übrigens verspricht Gawan seiner Schwester Itonje, von der er sich noch nicht als ihr Bruder hat erkennen lassen, dass er ihr helfen wolle, Gramoflanz zu heiraten, nachdem er wohl gemerkt hat, dass sie ihn liebt: Er hilft also seiner Schwester, eine exogamische Verbindung aufzunehmen. Und statt dass sich Artus und seine Ritterschaft in eine endogamische Gesellschaft ein-

2.1 Versliteratur

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gliedern, ziehen die Gefangenen der Schastel Marveil an den Artushof, d. h. in eine offene Welt, wo jeder Austausch möglich ist. Kurz, Wolfram hat den endogamischen Charakter der Gawan-Abenteuer vollkommen ausgelassen und das Thema des Inzestes nie berührt, an dem er wahrscheinlich Anstoß genommen hat, genauso wie er jede zweideutige Aussage seiner Vorlage streicht, jede Dissonanz beseitigt, die bei Chrétien zwischen der mythischen und der ritterlichen Ebene besteht.

Schlussbemerkungen Die Artuswelt ist nicht mehr ohnegleichen; ihr gegenüber steht die Welt des Orients, die Wolfram im ersten Buch seines Romans vorgestellt hat: Rittertum als ideale Lebensform gibt es in der einen wie in der anderen, die heidnische Welt ist der Artuswelt an ritterlichem Wert gleich, an Reichtum und vielleicht auch an Toleranz überlegen. Nur eines trennt beide: die Taufe. Sonst sind Christen und Heiden gleichwertig, und man kann nur Wolframs transreligiöse Toleranz bewundern, die einmalig in der deutschsprachigen Literatur ist, ja seinen Ökumenismus. Das gilt auch für sein Verhältnis zu den Juden. Vor dem Besuch Percevals beim Einsiedler am Karfreitag trifft der Held Büßer, drei Ritter und zehn Edelfrauen. Einer der drei Ritter hält eine lange Rede über den Sinn des Karfreitags, in der er verlangt, dass man die treulosen Juden wie Hunde töten müsste (Chr. 6292– 6296). Es ist für Wolfram bezeichnend, dass er die ganze Rede beibehält (448,1– 26), aber diese antijüdischen Verse streicht. Indem Wolfram die Welt des Orients in seinen Roman einführt, relativiert er die Bedeutung der Artuswelt, die fortan nicht mehr allein in ihrer Art ist und dadurch an Bedeutung verliert. Zur Artuswelt gehört Schastel marveill und ihr idealer Vertreter ist Gawan. Der morgenländischen Welt und der Artuswelt überlegen ist die Gralswelt, zu der die Artusritter keinen Zugang haben: bei Chrétien gehört die Gralsburg noch zur arthurischen Welt, zur britunischen Abenteuerwelt. Aus der Gralsburg macht Wolfram eine Welt, die Hohe Burg, die sich von der Artuswelt löst. Diese Gralswelt ist auch eine ritterliche Welt, aber all ihre Mitglieder sind von Gott selbst – ohne Vermittlung der Kirche – berufen worden, um dem Gral und – sofern sie als Herrscher in herrenlose Länder ausgesandt werden können, um Frieden, Gerechtigkeit und Ordnung wiederherzustellen – der gesamten menschlichen Gesellschaft zu dienen: Sie bilden eine Elite, die aus den zwei weltlichen Ritterschaften, aus der morgenländischen – in der Person von Parzivals Halbbruder, Feirefiz – und aus der abendländischen, stammt. Johann, Feirefiz’ Sohn, wird dann im Orient ein Gegenstück zur Gralswelt gründen. Unter dem Zeichen des Grals sind Abendland und Morgenland vereinigt.

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2 Die erzählende Literatur

Da Wolframs Figuren außerdem die ganze Menscheit umfassen, die Totalität der damals bekannte Welt darstellen, die Orient und Okzident einschließt, kann man wohl meinen, dass Wolfram beabsichtigt hat, eine Art Weltgeschichte zu schreiben. Er hat es geschafft, den unvollendeten und uneinheitlichen Roman Chrétiens zu einem Drei- bzw.Vierweltengedicht zu entwickeln: Er hat die Welt des Artusromans zugunsten einer Kosmologie gesprengt. Kurz: In seinem Parzival vereinigt Wolfram von Eschenbach die zwei sehr verschiedenen Romanfragmente des Conte del Graal zu einem einheitlichen Epos. Beide Fragmente wurden von Chrétien nur unzureichend verbunden, die dichterische Leistung Wolframs besteht meines Erachtens darin, dass er, indem er Parzival zu seinem Heros machte, beide Teile nicht nur verbindet, sondern sie in einen neuen, unerwarteten Rahmen stellt. Um die Neuartigkeit der Wolframschen Bearbeitung nachvollziehen zu können, muss man sich zunächst vor Augen führen, dass bei Chrétien de Troyes alter Mythos und neue ritterliche Ethik unvereinbar aufeinandertreffen. Er versucht die Rupturen des Mythos mit ritterlichen Idealen zu glätten.Wolfram stellt über die beiden unabhängigen Mythen das ideologische Konzept der Gralswelt. In Wolframs Parzival wird nun die ritterliche Ethik selbst zum Mythos. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass das gesellschaftliche System in Frankreich und im Reich differierten. Während in Frankreich Adel und Rittertum ineinanderflossen und identisch waren, blieben im Reich die milites, die als Kriegsknechte und als Dienstmannen (ministeriales) Halb-Unfreie oder gar Unfreie waren, weiterhin den nobiles unterstellt, die den Freien entsprachen. Erst im Laufe des 13. Jahrhunderts wurde im Reich der Ritter allmählich mit dem Adel gleichgestellt, und dies nach französischem Beispiel. So kann man wohl meinen, dass Wolfram sich als Ideologe des Ritterums auffasste, was sich in seinem Werk niederschlägt. Somit haben wir mit Wolframs Parzival ein Beispiel für die Einwirkung von zwei politischen Systemen auf ein episches Werk.

2.2 Prosaroman Zu Beginn des 13. Jahrhunderts wird in der epischen Literatur Frankreichs zum ersten Mal Prosa verwendet, die im Laufe des Folgejahrhunderts zum besonderen Kennzeichen der Gralsliteratur wird. Die Prosa, die die achtsilbigen Reimpaare ablöste, galt als Gewähr für die Wahrhaftigkeit des Erzählten²⁰². Der Roman wird

 Diese These geht auf die Forschung von Doutrepont über die „mises en prose“ am Burgundischen Hofe zurück. Dennoch war der Motor für Prosa im Mittelfranzösischen eigentlich der

2.2 Prosaroman

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zur historia und gerät deshalb in enge Verbindung zur Chronik. Diese neue literarische Form, die den lateinischen Chroniken entlehnt wurde, unterstreicht von vornherein ihre eigene Wahrheit, da sie Fakten berichtet. In diesem Zusammenhang²⁰³ entstand in den letzten Jahren des 12. Jahrhunderts oder am Anfang des 13. Jahrhunderts eine Trilogie von drei Prosaromanen, Joseph d’Arimathie, Merlin und der Prosa-Perceval (der sogenannte Didot-Perceval), die Robert de Boron zugeschrieben wird.²⁰⁴ Um 1210 entsteht der Perlesvaus, ein Meisterwerk der mittelalterlichen Erzählliteratur, in einer wunderbaren, von der mittellateinischen Rhetorik stark beeinflussten, klaren und wirkungsvollen Prosa geschrieben, dessen Held stark der Hauptgestalt des Conte del Graal Chrétiens de Troyes ähnelt. Dieser Roman umfasst die gesamte arthurische Welt. Es folgt zwischen 1215 und 1230 in mehreren Bearbeitungsstufen, wahrscheinlich in Nordfrankreich, der gewaltige Lancelot-Graal-Zyklus, oder Prosa-Lancelot, der aus drei Teilen besteht: dem Lancelot propre, der Queste del Saint Graal und La Mort le roi Artu. Diesen drei Teilen wurden nachträglich zwei weitere Teile vorangestellt, die Estoire del Saint Graal und die Estoire de Merlin. Im Spätmittelalter, genauer gesagt am Ende des 14. Jahrhunderts, aber vor allem nach 1440, entstehen in Frankreich zahlreiche weitere Prosaauflösungen (mises en prose) von Chansons de geste, die durch die Buchdruckerkunst gegen Ende des 15. Jahrhunderts die heldenepischen Stoffe bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts öffentlich bekannt machen, das heißt: bis zu der Zeit, als die Gelehrsamkeit der Philologen die Wiederentdeckung der Chansons de geste des 12. und des 13. Jahrhunderts ermöglichen wird. Die Adressaten der französischen Prosaauflösungen sind hauptsächlich diejenigen Aristokraten, die eigens Werkstätten mit Prosaauflösern und Abschreibern begründet haben. Wenden wir uns nun der deutschen Literatur zu, die weitgehend von altfranzösischen Vorlagen inspiriert worden ist.

2.2.1 Prosa-Lancelot Der französische Lancelot-Graal-Zyklus (1215 – 30), dessen Erfolg enorm war, ist in mehr als hundert Handschriften überliefert und im 15. und 16. Jahrhundert mehrmals gedruckt worden. Er wurde in Italien, Spanien, Portugal, England, in

königliche Hof und deren Aufträge für Übersetzung aus dem Lateinischen, z. B. Jean de Vignay am Hof der ersten Valois.  Siehe Fritz Peter Knapp, „Erzählen, als ob es Geschichte sei. Antifiktionalität und Geschichtstheologie im ‚Prosa-Lancelot‘“. In: Klaus Ridder und Christoph Huber (Hg.), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, S. 235 – 248.  Paul Zumthor, Histoire littéraire de la France médiévale (VIe-XIVe siècles), S. 213 – 214.

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2 Die erzählende Literatur

den Niederlanden und schließlich in Deutschland übersetzt oder adaptiert. Es ist der Prosa-Lancelot, ²⁰⁵ der nur den ‚eigentlichen‘ Lancelot-Teil umfasst, den Lancelot propre, die Queste und die Mort Artu. Dem französischen Lancelot-Gral-Zyklus liegen zugrunde Chrétiens de Troyes Karrenritter und der Conte del Graal, die Werke Robert de Borons und die pseudohistorische Überlieferung von König Artus, die von Geoffroy of Monmouth geschaffen und von Wace vermittelt worden ist. Die Hauptthemen des Lancelot-Stoffes, wie ihn Chrétien de Troyes behandelt hat (zwischen 1177 und 1181), kann man zusammenfassend so vorstellen: ‒ der vorbildliche Ritter wird in Bewährungssituationen dargestellt; ‒ das Minne-Thema wird exemplarisch abgehandelt. Chrétien de Troyes, der im Auftrag von Marie de Champagne die Theorie der fine amor beispielhaft anschaulich macht, spitzt die Themen zu: Einerseits werden an Lancelot extreme Forderungen an Bewährung gestellt, andererseits wird Lancelot zum idealen Darsteller der fine amor, die als Quelle des hohen muotes und der höchsten ritterlichen Tugenden gilt. Der altfranzösische Lancelot-Graal-Zyklus – man pflegt von der Vulgata oder vom Vulgata-Zyklus zu sprechen – besteht aus fünf Teilen und wird von der Estoire del Saint Graal (I) eingeleitet, an die sich die Estoire de Merlin (II) anschließt. Die drei weiteren Teile, die den eigentlichen Kern des Zyklus ausmachen, sind der Lancelot propre (III), die Queste del Saint Graal (IV) und La Mort le roi Artu (V). Im altfranzösischen Zyklus stellt man folgendes fest: 1. eine exzessive Aufschwellung der Handlung; die Verbindung der Gralsgeschichte mit der Lancelot-Geschichte und eine gewisse Relativierung der Lancelot-Ginover-Liebe, sofern des Helden außereheliche Vereinigung mit Ginover ihn von der Eroberung des Grals ausschließt und letzten Endes, sobald diese Liebe bekannt wird, die eigentliche Ursache des Untergangs des

 Reinhold Kluge (Hg.), Prosa-Lancelot, Berlin 1942– 74 (DTM 42;47;63). Hans-Hugo Steinhoff/ Reinhold Kluge (Hg.), Namen- und Figurenregister. Bearbeitet von Hans-Hugo Steinhoff. Berlin, Akademie-Verlag, 1997 (DTM 80). Hans-Hugo Steinhoff hat diese Edition übernommen und ihr eine neuhochdeutsche Übersetzung und einen Kommentar beigefügt: Lancelot und Ginover I (Prosalancelot I) und Lancelot und Ginover II (Prosalancelot II). Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. Germ. 147, herausgegeben von Reinhold Kluge, ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017– 8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff. Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag 1995; Lancelot und der Gral I (Prosalancelot III) und Lancelot und der Gral II (Prosalancelot IV), Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag, 2003; Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus (Prosalancelot V). Übersetzt, kommentiert und herausgegeben von Hans-Hugo Steinhoff †. Frankfurt am Main, Deutscher Klassiker Verlag, 2004.

2.2 Prosaroman

2.

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Artus-Rittertums und des Artus-Reiches sein wird; die Unterordnung der chevalerie terrienne, deren idealer Vertreter Lancelot ist, gegenüber der chevalerie celestielle, deren idealer Vertreter Galaad, d. h. Lancelots Sohn, ist, sowie ein Zurücktreten des höfischen Ideals hinter dem religiösen Ideal und eine religiöse Färbung des Stoffes (dies in der Queste, mit der Christianisierung des Grals). Auffällig ist der Übergang zur Prosa, die das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums vollauf befriedigt. Dieser Übergang zur Prosa ist damit verbunden, dass wir es mit einem anderen Publikum zu tun haben, einem bürgerlichen Publikum, das den Stoff unmittelbar zur Kenntnis nimmt, d. h. die Werke selbst liest. Und nicht zuletzt galt die Prosa als Gewähr für die Authentizität des Erzählten. Mit Jean Frappier²⁰⁶ ist anzunehmen, dass ein Einzelner, ein „Architekt“, die Trilogie Lancelot-Queste-Mort Artu konzipiert hat, zumindest das Grundgerüst des Gesamtzyklus entworfen hat und möglicherweise den Lancelot propre selbst schrieb, die zwei anderen Teile jedoch Mitarbeitern überließ.

Die deutsche Übersetzung, die die Teile III bis V des altfranzösischen Zyklus enthält, folgt wenigstens zum Teil der französischen Fassung mit nur kurzem Abstand. Es bestehen zwei Fragmente des ersten Teils aus dem 13. Jahrhundert. Das älteste erhaltene Fragment (M – cgm 5250), das selbst nur eine Kopie ist, kann aus paläographischen und aus sprachlichen Gründen schon in die Zeit vor der Mitte des 13. Jahrhunderts gehören (um 1250); das Amorbacher Fragment (A) kann aus ähnlichen Gründen erst am Ende des 13. Jahrhunderts entstanden sein (1270/ 1280).²⁰⁷ Es wird heute angenommen, dass der erste Teil des deutschen ProsaLancelot (P)²⁰⁸ noch vor der Mitte des 13. Jahrhunderts (zwischen 1230 und 1250) am Mittelrhein über das Niederländische bzw. nach einer (verlorenen) mittelniederländischen Zwischenstufe entstand (P I) wie es Pentti Tilvis zeigte.²⁰⁹ Es handelt sich hier um einen Einzelfall in der Literaturgeschichte des 13. Jahrhun-

 La Mort le roi Artu. Roman du XIIIe siècle édité par Jean Frappier, Genève/Lille, 1954. Introduction, S. X.  Pentti Tilvis, Prosa-Lancelot Studien, I-II, Helsinki, 1957. (Annales Academiae scientiarum Fennicae, B, 110.), S. 206; Hans-Hugo Steinhoff. Lancelot und der Gral II (Prosalancelot IV), S. 730.  „[D]ie erste Hälfte des Lancelot propre bis zur hinterlistigen Gefangennahme des Helden in der Karrenepisode“ (F. P. Knapp, Chevalier errant und fin’amor. Das Ritterideal des 13. Jahrhunderts in Nordfrankreich und im deutschsprachigen Südosten, Passau, Passavia Universitätsverlag.1986, S. 9).  Pentti Tilvis, Prosa-Lancelot Studien.

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2 Die erzählende Literatur

derts.²¹⁰ Doch stellt der deutsche Prosa-Lancelot bis heute die Forschung vor zahlreiche schwer zu lösende Rätsel.²¹¹ Hans-Hugo Steinhoff ²¹² und F. P. Knapp²¹³ waren zuerst der Ansicht, dass die folgenden Teile (P II und P III) auf mittelfränkischem Boden erst Ende des 13. oder Anfang des 14. Jhs im unmittelbaren Anschluss an das französische Werk geschrieben wurden.²¹⁴ Hartmut Beckers²¹⁵ erwog, dass der Mittelteil erst um 1460 direkt für den Heidelberger Zyklus entstanden sein könnte. Nach neuen Erkenntnissen ist nun Hans-Hugo Steinhoff gleichfalls der Meinung, dass P I in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurückgeht,²¹⁶ dass P II erst im 15. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt worden sei, später als P III, der nur bis ins 14. Jahrhundert reicht (Fragment m, Marburg, Staatarchiv, Hr 11,2, um 1350; Fragment w, Berlin, Staatsbibliothek, Mgf 876, 14. Jhdt.²¹⁷, 15. Jhdt.²¹⁸), dass die Arbeit an P III „spätestens um die Mitte des 14. Jahrhunderts aufgenommen worden“ sei,²¹⁹ dass P II also als letztes entstanden sei.²²⁰ Die ver-

 Vgl. Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, S.36.  Diese These der mnl. Zwischenstufe wird von folgenden Forschern vertreten: Pentti Tilvis, Prosa-Lancelot Studien, I-II, Helsinki, 1957 (Annales Academiae scientiarum Fennicae, B, 110); Thordis Hennings, Altfranzösischer und mittelhochdeutscher Prosa-Lancelot. Übersetzungs- und quellenkritische Studien, Heidelberg, Winter, 2001; Klaus Ridder und Christoph Huber (Hg.), Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext, Tübingen, Niemeyer, 2007; A Companion tot he Lancelot-Grail Cycle. Edited by Carol Dover. Cambridge, Brewer, 2003; Katja Rothstein, Der mittelhochdeutsche Prosa-Lancelot Eine entstehungs- und iiberlieferungsgeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung der Handschrift Ms. allem. 8017 – 8020, Bern u. a., Peter Lang, 2007.  Hans-Hugo Steinhoff, „Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Prosa-Lancelot“. In: Peter F. Ganz und Werner Schröder (Hg.), Probleme mittelalterlicher Überlieferung und Textkritik. Oxforder Colloquium 1966, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1968, S. 81– 95, hier S. 95.  F. P. Knapp, Chevalier errant und fin’ amor…, S. 9.  Für die Datierung des Prosa-Lancelot siehe u. a. Ulrich Wyss. „Auf der Suche nach dem arthurischen Prosaroman im deutschen Hochmittelalter“. In: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec, Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Sigmaringen, Jan Thorbecke Verlag, 1998, S. 215 – 227.  Hartmut Beckers, „Der Püecher Haubet, die von der Tafelrunde wunder sagen. Wirich von Stein und die Verbreitung des ‚Prosa-Lancelot‘ im 15. Jahrhundert“. In: Wolfram-Studien IX 1986), S. 17– 45, hier S. 37– 40.  Hans-Hugo Steinhoff, Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus (Prosalancelot V), S. 1053.  Hartmut Beckers, „Der Püecher Haubet…“, S. 18.  Monika Unzeitig-Herzog, „Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz zwischen der altfrazösischen ‚Queste del Sauint Graal‘ und den deutschen Fassungen der ‚Gral-Queste‘ des ‚Prosa-Lancelot‘. In: Wolfram-Studien XIV (1994), S. 149 – 170, hier S. 159.  Hans-Hugo Steinhoff, Die Suche nach dem Gral. Der Tod des Königs Artus (Prosalancelot V), S. 1053.

2.2 Prosaroman

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schiedenen Teile wären in folgender Reihenfolge entstanden: P I, P III, P II. Kurz, der Prosa-Lancelot ist „ein heterogenes Gebilde“.²²¹ Wie es F. P. Knapp unterstreicht,²²² ist die Überlieferung „ziemlich schmal und […] spät“. Der deutsche Prosa-Lancelot, dem im Gegensatz zur Vorlage vielleicht aus politischen Gründen kein Erfolg beschieden war,²²³ ist in 9 mehr oder weniger fragmentarischen Handschriften aus dem 13., 14., 15. und 16. Jahrhundert überliefert.²²⁴ Die einzige fast vollständige Handschrift, die Heidelberger Prunkhandschrift P (Cpg 147)²²⁵, die Reinhold Kluges Ausgabe zugrunde liegt, stammt aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (wohl zwischen 1460 und 1480 für Pfalzgrafen Friedrich den Siegreichen – reg. 1449 – 1476 – oder Philipp den Aufrichtigen – reg. 1476 – 1508 – hergestellt)²²⁶. Diese Handschrift hat jedoch zwischen P I und P II eine große Lücke, die etwa ein Zehntel des Ganzen ausmacht und deren Text keine Handschrift bietet; eine Kölner Papierhandschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert (1476) (k) füllt einen Teil der Lücke, im direkten Anschluß an PI. Im 16. Jahrhundert wurde der altfranzösische Prosa-Lancelot

 Siehe Steinhoffs Nachwort zu Lancelot und der Gral II (Prosalancelot IV), S. 728 – 731 und Kari Keinästö, Über ingressive und egressive Infinitivkonstruktionen im mittelhochdeutschen ProsaLancelot. In: Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Hg. von Anne Betten u. a., Tübingen 1990, S. 56 – 70. Kari Keinästö schreibt S. 57: „Die zeitliche Differenz zwischen P I und P II, d. h. zwischen dem ältesten und jüngsten Zyklus, kann sich also sogar bis auf 200 Jahre erhöhen.“  Hans-Hugo Steinhoff, Lancelot und der Gral II (Prosalancelot IV), S. 731.  F. P. Knapp, Chevalier errant und fin’ amor…, S. 9.  Nach Michèle Remakel (Rittertum zwischen Minne und Gral. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. Frankfurt am Main et al. 1995, S. 225 – 227) meint Valentina Sommer (Der deutsche „Prosa-Lancelot“ als ein „posthöfischer“ Roman des späten Mittelalters, Stuttgart, ibidem-Verlag, 2000, S. 32– 33) wohl mit Recht, dass es beim Hochadel, dessen Macht in Deutschland im Vergleich zu der Macht des Kaisers immer größer wurde, „kein Bedürfnis nach einer religiös verankerten Ersatzlegitimation“ gegeben habe und dass „die Idee des Romans selbst […] also keine Konjunktur“ gehabt habe. Außerdem sei die Prosa in Deutschland nicht weit verbreitet und wirke „nicht kunstvoll genug“. Schließlich habe es für Lancelot und Galaad keinen Platz mehr gegeben, denn das „Gralsgeschlecht“ sei in der deutschen Literatur mit den Namen Parzival, Feirefiz und Johannes fest verbunden.  Siehe die gesamte Auflistung der vollständigen Handschriften und der Bruchstücke im Nachwort von Steinhoff, Lancelot und Ginover I (Prosalancelot I), S. 1051– 1052. Siehe auch Thordis Hennings, Altfranzösischer und mittelhochdeutscher Prosa-Lancelot. Übersetzungs- und quellenkritische Studien, Heidelberg 2001, S. 1– 8.  Siehe für die handschriftliche Überlieferung insbesondere Georg Steer, „Der Heidelberger ‚Prosa-Lancelot‘-Codex Pal. Germ. 147. Fragen seiner Entstehung, Sprache und Herkunft“. In: Wolfram-Studien IX. Schweinfurter ‚Lancelot‘-Kolloquium 1984. Hg. von Werner Schröder, Berlin 1986, S. 10 – 16.  Hartmut Beckers, „Der Puecher Haubet…, S. 19.

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2 Die erzählende Literatur

erneut ins Deutsche übersetzt. Diese Übersetzung ist in einer vor 1539 begonnenen, 1576 zu Ende geschriebenen bairischen, heute in der Bibiothèque de l’Arsenal in Paris aufbewahrten Handschrift überliefert (Hs. A). Hans-Hugo Steinhoff hat auf diese Pariser Handschrift zurückgegriffen, um die gesamte Lücke zu schließen.²²⁷ René Pérénnec²²⁸ schreibt, „Die Erkenntnis, dass der deutsche Prosa-Lancelot eine Übersetzung ist, hat sich durchgesetzt“, eine Äußerung, die der Autor sofort einschränkt. Die Meinungen zu diesem Thema gehen auseinander. Ich wäre eher der Meinung, dass wir zwar nicht mit einer Bearbeitung des Hohen Mittelalters wie Iwein, Tristan oder Parzival, sondern doch mit einer intelligenten Übertragung zu tun haben, die schon eine vorsichtige Umarbeitung des französischen Textes darstellt.²²⁹ Es scheint selbst, als ob zum Teil der Umarbeiter eine neue Interpretation in den Stoff eingeführt hätte, den er sonst mit großer Treue wiedergibt. Obwohl der deutsche Umdichter dieselbe Geschichte wie die Vorlage erzählt, in der Lancelot und Ginover für ihre Sünde bestraft werden und die ganze Artuswelt in die Katastrophe stürzen, ist er der Lancelot-Ginover-Liebe gegenüber nachsichtiger gewesen als der französische Dichter. Hie und da hat er es spüren lassen, ist er doch bestrebt, Lancelot moralisch zu entlasten und seine Liebe nie als fole amour (als törichte Liebe) zu kennzeichnen, die auf eine force d’amors zurückzuführen ist. fole amour und force d’amors werden immer vom Übersetzer/ Umarbeiter ausgelassen.²³⁰ Die Lancelot-Ginover-Liebe wird viel positiver bewertet als im französischen Roman. Mit einem Wort: der deutsche Prosa-Lancelot gehört zumindest in den von mir untersuchten Passagen (die sich in PL II und III befinden, die später als P I entstanden sind, wohl im Laufe des 14. Jahrhunderts für P III, gar im 15. Jahrhundert für P II), als Nachschöpfung in die deutsche Literatur.²³¹

 Siehe Steinhoffs Nachwort zu Lancelot und der Gral II (Prosalancelot IV), S. 728 – 731.  René Pérennec, „Lancelot en Prose / Prosa-Lancelot. Übersetzungsanalyse als ittel des Lexiksvergleichs. Einige Bemerkungen.“ In: Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext…, S. 29 – 42. Das Zitat befindet sich auf S. 29.  Danielle Buschinger, „Zum Verhältnis des deutschen Prosa-Lancelot zur altfranzösischen Vorlage“. In: Wolfram-Studien IX (1986). Schweinfurter ‚Lancelot‘-Kolloquium 1984, S. 46 – 89.  Ibid., S. 62– 63.  Steinhoff meint dagegen, dass der mhd. PL „keine originäre Schöpfung […], auch keine wirklich eigenständige Bearbeitung, sondern ‚nur‘ eine Übersetzung seiner altfranzösischen Vorlage“ sei (zitiert von Thordis Hennings, Altfranzösischer und mittelhochdeutscher ProsaLancelot…, S. 436). Thordis Hennings selbst (S. 422– 438) zeigt, dass im untersuchten Textteil (einem „kurzen Ausschnitt aus dem ersten Drittel und nahezu (dem) gesamte(n) letzten Viertel von PL I“ sowohl wortwörtliche Übersetzungen (traduction littérale) als auch radikale, zum Teil weiträumige Kürzungen und „tiefgreifende Hinzufügungen“ (S. 424) zu finden seien. Sie ist außerdem der Meinung, dass „der erste Teil des deutschen Romans […] der Pariser Nationalbi-

2.2 Prosaroman

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Der deutsche Prosa-Lancelot ist der erste und auf lange Zeit einzige Prosaroman in deutscher Sprache. Erst im 15. Jahrhundert setzte sich die Textsorte „Prosaroman“ durch, die dann durch die Buchdruckerkunst weit verbreitet wurde. Die Handlung verfolgt die Lebensgeschichte Lancelots von der Geburt bis zum Tod. In dem Lancelot propre wird die Liebesgeschichte zwischen Lancelot und Artus’ Gattin, Ginover, erzählt. Es werden auch die Besuche Gaweins, Lancelots und seines Vetters Bohort in Cobernic, der Gralsburg, berichtet, was die Queste vorwegnimmt. Bei einem seiner Aufenthalte zeugt Lancelot, durch einen Trank getäuscht, mit der Tochter des Grals-Königs Pellès seinen Sohn Galaad, der später das Gralsabenteuer zu Ende führen wird. Es mehren sich die Hinweise auf die Zerstörung der Tafelrunde und den Untergang des Artusreiches. Am Schluss wird Galaad zur Gralssuche aufgefordert, was den Übergang zur Queste bildet. Im zweiten Teil des Zyklus verfolgt die Erzählung im einzelnen die Schicksale Galaads, Gaweins, Lancelots, Parzivals, Hektors und Bohorts, wobei – nach dem Prinzip des entrelacements – bald der eine, bald der andere auf die Vorderseite der Bühne tritt. Nach langen Irrfahrten zu Land und zu Wasser, gelangen schließlich die drei Auserwählten, Galaad, Parzival und Bohort zur Gralsburg Corbenic. Der Gral wird nach Sarraz im Orient entrückt, und als Galaad in den Gral schaut, wünscht er zu sterben. Dann wird der Gral in den Himmel entrückt. Nachdem Parzival als Einsiedler gestorben ist, bleibt nur noch Bohort am Leben, um dem Artushof die Kunde zu überbringen. Im Tod des König Artus entbrennt Lancelot aufs neue in Liebe zu Ginover, und nun übt er keine Vorsicht mehr wie früher. Auf frischer Tat ertappt, wird die Königin zum Tod durch Verbrennen verurteit, aber von Lancelot, der entfliehen konnte, vor dem Scheiterhaufen gerettet. Beide Lie-

bliothek BN fr. 751 am Nächsten steht.“ (Klaus Ridder und Christoph Huber [Hg.], Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext. Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 2007, S. 3). Siehe auch Frank Brandsma und Fritz Peter Knapp, 10.4. „Der deutsche Prosa-Lancelot“. In: René Pérennec und Elisabeth Schmid (Hg.), Redaktion Nils Borgmann, Höfischer Roman in Vers und Prosa (GLMF V), S. 415 – 42; Monika Unzeitig-Herzog, „Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz zwischen der altfrazösischen ‚Queste del Saint Graal‘ und den deutschen Fassungen der ‚Gral-Queste‘ des ‚Prosa-Lancelot‘; Katja Rothstein, Der mittelhochdeutsche Prosa-Lancelot. Eine entstehungsund überlieferungsgeschichtliche Berücksichtigung der Handschrift Ms. Allem. 8017 – 8020. Bern u. a., Peter Lang, 2007, befasst sich mit der Neuübersetzung des französischen Lancelot en prose (1539 – 1576), aufbewahrt in der Bibliothèque de l’Arsenal in Paris (a), die einer französischen Vorlage, mit der der Druck Incunabulum 1488 (D) eng verwandt ist, sehr getreu folgt und bis auf wenige Ausnahmen wortwörtlich übereinstimmt (S. 195 – 196). Diese Übersetzung entstand wahrscheinlich im Auftrags eines Mitglieds einer Straßburger Patrizierfamilie, die Familie Bock oder Böcklin von Böcklinsau, die auf sozialen Aufstieg bedacht war und von dem Adel als Standesgenossen anerkannt werden wollte (S. 179 – 182, S. 196).

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2 Die erzählende Literatur

benden können fliehen. Nach einem unerbittlichen Krieg zwischen Artus und Lancelot liefert letzterer auf Veranlassung des Papstes Ginover dem König aus und verlässt England. Doch Gawein treibt Artus erneut zum Krieg gegen Lancelot. Bei einem Zweikampf besiegt Lancelot Gawein, der bald darauf stirbt, nachdem er Artus zur Versöhnung mit Lancelot geraten hat. In der Ebene von Salisbury kommt es schließlich zur Entscheidungsschlacht zwischen Artus und Mordret, seinem eigenen, ihm von seiner Schwester Morgane geborenen Sohn, der versucht hatte, sich der Krone und der Königin zu bemächtigen. Die Artusritter werden niedergemetzelt, Artus tötet Mordret, der zuvor seinen Vater tödlich getroffen hatte. Girflet, der letzte Ritter der Tafelrunde, soll Artus’ Schwert Escalibor ins Wasser werfen: Eine Hand, die aus dem Wasser auftaucht, ergreift das Schwert und zieht es für immer in die Fluten. Morgane holt den todwunden König mit einem Schiff ab, und später findet Girflet seinen Sarg in der Schwarzen Kapelle. Ginover wird Nonne und stirbt bald darauf, reuevoll und mit ihrem Schöpfer ausgesöhnt. Lancelot rächt an Mordrets Söhnen den Tod Artus’, entsagt der Welt, wird zum Priester geweiht und stirbt nach vier Jahren, und Engel tragen seine Seele gen Himmel. Der Lancelot-Dichter hat folgende thematisch-stoffliche Entscheidungen getroffen, so dass sich die Themen sich in vier große Kreise gliedern lassen: 1. das Rittertum (sowohl das irdische als auch das himmlische); 2. die Minne; 3. der Gral; 4. das Ende der Artuswelt. Wie der französische Lancelot en prose erzählt der deutsche Prosa-Lancelot zwar die Geschichte der Liebe zwischen Lancelot und der Königin Ginover. Trotz alledem ist er vor allem ein Gralsroman. Und was anfangs als die Biographie eines auserwählten Ritters erschien, stellt sich am Schluss als Roman eines Versagens, eines Scheiterns heraus: der Held ist ein Verlierer.²³²

2.2.1.1 Das Rittertum Im Lancelot propre ist das Rittertum etwas Profan-Heiliges: Es ist die Rede von dem Heiligen Orden der Ritterschaft, über dessen heilige Satzungen die Frau vom See, die Lancelot aufgezogen hat, ihren Schützling aufklärt. Sie unterstreicht besonders die ethische und soziale Seite des Rittertums (z. B. Treue, Gerechtig-

 Michèle Remakel, Rittertum zwischen Minne und Gral. Untersuchungen zum mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot, S. 183 ff.

2.2 Prosaroman

155

keitssinn, Barmherzigkeit, Schutz der Kirche und der Schwachen). Der Ritter soll seinerseits vollkommen in sein Amt ergeben sein. Lancelot ist der ideale Vertreter dieses Rittertums (I,616,33). Aber ihm wird schon im ersten Teil des Lancelot propre prophezeit, dass nach ihm ein Ritter kommen soll, der noch vollkommener sein wird als er (I,616,33 – 35): Dieser vollkommene Ritter wird Galaad sein, Lancelots eigener Sohn. Galaad wird seinen Auftrag erfüllen, weil er in Davids Nachfolge steht. Der Erzähler fügt die gesamte Heilsgeschichte in seinen Roman ein, von der Weltschöpfung bis zum Ende einer der glänzendsten Epochen von Artus’ Reich (wie die mittelalterlichen Chroniker, die von der Weltschöpfung bis zu ihrer eigenen Zeit gingen). Diesbezüglich schreibt Michèle Remakel,²³³ dass der Gral nicht nur das Symbol des Bundes zwischen Christus und Josephs von Arimathien Geblüt, sondern auch das Symbol des ersten Bundes zwischen Gott und Israël sei. Die innere Geschlossenheit zwischen Altem und Neuem Testament wird besonders hervorgehoben, was eine der Innovationen im Prosa-Lancelot ausmacht, wobei betont werden muss, dass der deutsche Prosa-Lancelot im Großen und Ganzen dem französischen Lancelot en prose folgt. Im zweiten Teil (Gral-Queste) wird dann das irdenische Rittertum, das identisch ist mit dem Artusrittertum, disqualifiziert, weil der Welt verhaftet und beflecket mit dotlichen sunden (III,195,17) und der hymmelischen ritterschaft (III,194,15) entgegengesetzt, die rein und keusch ist (196,2), und deren idealer Vertreter Galaad ist, der jungfräuliche Held, der in Analogie zu Christus konzipiert wurde (genau wie die Gralssucher mit den Aposteln gleichgesetzt werden). Schon Rudolf Voss²³⁴ bemerkte, dass die Gralsritter „aus dem weltlichen Stand des Rittertums“ hervorgehen, ja dass diese Ritter „in ihrem Heilsstatus höher zu stehen vermögen als Geistliche“²³⁵. Emmanuèle Baumgartner²³⁶ geht aber in ihrer Interpretation, an die ich anknüpfe, weit darüber hinaus: Das Beschauen des Grals ist ein Privileg des Rittertums, wenn es geistlich ist, und Galaad, als geistlicher ritter (III,195,13), als Ritter Christi (III,369,3), gibt dem irdischen Rittertum ein Beispiel, um zur Erlösung zu gelangen. Die Gral-Queste wurde also zur Verherrlichung des – von Gott erwählten – Rittertums, der nova militia im Sinne von Bernhard von Clairvaux: Galaad ist der Messias der ritterlichen Welt, die Queste das neue Evangelium des Rittertums. Kurz, das Werk, das dem Rittertum eine heilsgeschichtliche Sendung verleiht, dient zur Legitimation der  Op. cit. S 186.  „[A]us dem weltlichen Stand des Rittertums“, R. Voss, Der Prosa-Lancelot, 1970, S. 94.  Ebd., S.90.  Emmanuèle Baumgartner, L’arbre et le pain. Essai sur La Queste del Saint Graal, Paris 1981, insbesondere S. 141– 154.

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2 Die erzählende Literatur

obersten Schicht der Gesellschaft; der Dichter verfolgt somit ein ähnliches Ziel wie Wolfram von Eschenbach mit seinem Parzival, und das Merkwürdige dabei ist, dass wie im Parzival der säkulare Klerus vollkommen ausgeschaltet wird (außer Josephé, dem Sohn Josephs von Arimathia). Es ist nur die Rede vom regulären Klerus, von Eremiten und Mönchen, die dazu bestimmt sind, die Abenteuer, die die verschiedenen Gralssucher erleben, oder die Träume, die sie haben, auszulegen: Eremiten und Mönche sind die einzigen Vermittler zwischen Gott und dem Rittertum; jedoch, auch wenn sie die verschiedenen Kundgebungen des Grals zu interpretieren vermögen, dürfen sie den Gral nicht direkt anschauen. Dieses Beschauen vom Gral ist sogar den Königen verwehrt, denn es ist ein Privileg, das dem Rittertum vorbehalten wird.

2.2.1.2 Die Minne Im Gesamtzyklus werden zwei entgegengesetzte Auffassungen von der Minne dargestellt. Im ersten Teil des Lanzelot propre wird die Liebe zwischen Lancelot und Ginover mit allen Attributen sakraler Weihe – wie es der fine amor der okzitanischen Trobadors (der hohen minne der deutschen Minnesänger) gebührt – ausgestattet: Bei Lancelot ist es Liebe auf den ersten Blick, der Held ist beim Anblick seiner Herrin oder jedesmal, wenn von ihr die Rede ist oder sooft er an sie denkt, überwältigt, entrückt, betört, gebannt und seiner Sinne nicht mehr mächtig, bis es endlich zur Liebeserklärung kommt; da legt er ein Bekenntnis echter höfischer Liebe ab (I,294,15 ff.). Die Liebe ist die Quelle des hohen muotes, der edlen Gefühle, und regt zu Heldentaten an: Ihr kommt eine erzieherische Funktion zu. Außerdem ist Lancelot dem Willen seiner Herrin vollkommen ergeben. Von Anfang an hat Ginovers und Lancelots Liebe etwas Frisches, Gesundes an sich – erste Blicke, erster Kuss,Vollzug der Liebe …. das Ganze wird auf anmutige, beinahe spielerische Weise erzählt, und die Gestalten bewahren einen äußerst feinen Takt, eine ausgesuchte Höflichkeit. Nie ist im ersten Teil des Lancelot propre von Sünde oder sündhaftem Benehmen die Rede, auch nie von Artus. Der Liebesvollzug wird zu einem beispielhaften Symbol rechter minne emporstilisiert, in dem sich das ethische Ideal feudal-höfischer spiritualisierter Sexualmoral substantialisiert. Kurz, im ersten Teil gibt es keine Antinomie zwischen Liebe und ritterlicher Vollkommenheit. Doch schon im zweiten Teil des Lancelot propre sind die ersten Anzeichen einer Umwertung der Ginover-Lancelot-Liebe zu beobachten. In der Auslegung des Traumgleichnisses vom Leoparden und vom Löwen durch Meister Helias wird im französischen Roman klar ausgesagt, dass Lancelot wegen seiner Liebe zu Ginover nicht imstande sein wird, das Abenteuer des Grals zu bestehen: Lancelots

2.2 Prosaroman

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Scheitern sei auf die Hitze der Begierde, die in ihm ist, zurückzuführen. Diese Aussage mildert der deutsche Prosaist ab, aber er behält natürlich das Motiv bei, das für das Gesamtwerk grundlegend ist (I,505,2– 7; I,616,6 – 9; I,616,20 – 21; siehe auch II,531,6; 533,18;591,5 ff, wo Lancelot die Sünde mit der Königin direkt vorgehalten wird). Aber wenn Ginover es einmal zutiefst beklagt, dass Lancelot infolge seiner Liebe zu ihr die Grals-Aventiure nicht vollenden und somit das höchste Glück irdischer Ritterschaft nicht erreichen wird, versucht er sie damit zu trösten, dass er ohne sie kein Herz zu Ritterschaft gehabt hätte (II,438,14/439,18). Der Ritter, der die Grals-Aventiure beenden wird, soll rein und keusch sein (I, 505, 2– 7), und dies ist der Ritter, der nach Lancelot kommen wird (I,616,33 ff.). In der Grals-Queste ist es dann klar, dass Liebe zur Unzucht herabgewürdigt wird und zur Quelle der Unzucht. Lancelot schwört feierlich, dass er seiner Liebe entsagen wolle, er bereut nun sogar, die Königin je getroffen zu haben. Gleich bei seiner Rückkehr an Artus’ Hof entbrennt er aufs neue in Liebe zu Ginover und verfällt somit wieder seiner Sünde, was die tiefere Ursache für den Untergang des Rittertums, der Tafelrunde und der arthurischen Welt ist.

2.2.1.3 Der Gral Im Prosa-Lancelot erscheint der Gral als ein heiliges Objekt (II,292,24), das den Menschen die Gnade Gottes zuteil werden lässt, als das vom Heiligen Geist erfüllte Heiligtum, das in der Queste am Pfingstsonntag zu den Artusrittern kommt wie der heilige Geist über die Jünger (III,19,3 ff.). Er hat die Gestalt eines Kelchs (III,292,24) und ist die Schüssel, aus der Jesus am Gründonnerstag das Osterlamm mit seinen Jüngern aß. Joseph von Arimathia hat das Gefäß von Palästina nach Großbritannien gebracht, wo er nun König Pellès und sein Gesinde ernährt (II,801,5 – 12). Im Lancelot-Teil wird der Gral bei den Besuchen Gaweins, Lancelots und Bohorts von einer Jungfrau getragen, sonst schwebt er ohne Träger umher und erscheint unter Donnerschlag und in vollem Glanz. Er hat eine dreifache Funktion: 1. Er spendet irdische Speisen. 2. Er hat eine heilende Funktion. 3. Am Schluss der Queste wird der Inhalt des Grals in Corbenic und in Sarraz mit dem corpus Christi identifiziert, und es werden drei Messen zelebriert, wobei die Liturgie des Grals in drei zunehmend komplizierter werdenden Formen zelebriert wird, die dem Grad der Auserwähltheit der Gralsucher entsprechen. Dem reumütigen Lancelot wird eine Teil-Vision des Grals gewährt: Durch eine offene Tür darf er das Wunder der Dreifaltigkeit sehen. Die zweite Messe versammelt auch in Corbenic zwölf werliche ritter an der Tafel Jesu Christi, und zwar Galaad, Bohort und Parzival, die drei Erwählten, sowie neun Ritter,

158

4.

2 Die erzählende Literatur

die aus drei verschiedenen Ländern kommen und so den internationalen Charakter der auserwählten himmlischen Ritterschaft symbolisieren. Während dieser zweiten Messe wird uns in einer ergreifenden Kürze die ganze christliche Heilslehre dargestellt, von der Menschwerdung Gottes bis zu seiner Aufopferung am Kreuz, und dies im Hinblick auf das – auserwählte – Rittertum. Christus erscheint leibhaftig im heiligen Gefäß während der Zeremonie. Dies ist der eindeutige Beweis, dass der Erwählte bei Gott ist. Kein Vermittler ist vonnöten, denn der echte „miles Christi“erhält die Befehle direkt von Gott. Die entscheidende Bedingung, die der Gralsritter erfüllen soll, ist, sich grundsätzlich Gottes Willen zu unterwerfen.²³⁷ Und nachdem der Gral auf immer das Königreich von Logres – d. h. Artus’ Reich – infolge der Sünden seiner Einwohner verlassen hat, findet in Sarraz eine dritte Messe statt; im Augenblick der Wandlung wird Galaad herbeigerufen: er solle in den Gral schauen und sehen, was er schon lange zu sehen begehrt habe, und als Einziger sieht er die Geheimnisse des Grals. In diesem langersehnten Augenblick, wo er sieht, was der Geist sich nicht erdenken und keine Zunge beschreiben kann, wünscht er zu sterben, und der Gral wird in den Himmel entrückt.

Was ist eigentlich der Gral im Prosa-Lancelot? Welches ist seine Bedeutung? Es sind viele Interpretationen vorgeschlagen worden. Das Mysterium des Grals wäre das Mysterium der Eucharistie oder die romanhafte Kundgebung Gottes (Pauphilet), oder das Symbol der Gnade Gottes (Gilson), das Symbol der Dreifaltigkeit (M. Lot-Borodine), oder noch das volle Beschauen der göttlichen Geheimnisses (R. Voß).

Was besagt der Text? III,381,5 Hie sehe ich die großen anhafft und die großen ere und wirdikeit, alhie sehen ich wunder uber alle wunder (Hier sehe ich den großen Ursprung, ehrenhaftes Benehmen und Heldentaten, hier sehe ich Wunder über Wunder). Was Galaad tatsächlich im Gral sieht, ist zugleich das Wunder vom Ursprung und vom Leben und das, was das Wesen des Rittertums ausmacht, d. h. der Inbegriff des Rittertums, der im gleichen Augenblick entsteht wie das Leben selbst. Der Gral ist also eine Reliquie, die Gott für das von ihm auserwählte Rittertum bestimmt hat („Ce qu’il a […] le privilège de voir, […] c’est que l’essence même du chevalier, la prouesse et les granz hardemenz, ces incomparables merveilles, cet élan imp-

 Siehe Michèle Remakel, Rittertum zwischen Minne und Gral….

2.2 Prosaroman

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étueux qui l’anime, qui est la cause première […] de son être, naît au temps même du commencement, est consubstantielle à la genèse même de la vie“.²³⁸

2.2.1.4 Das Ende der Artuswelt Die tiefere Ursache für den Untergang des Artusreiches und des gesamten weltlichen Rittertums liegt in der sündigen, ehebrecherischen Liebe der Königin und Lancelots, in dem Maße wie ihre Liebe, die sie im letzten Teil des Zyklus mit solcher Heftigkeit packte, dass sie jede Vorsicht vergessen, zur verwerflichen Leidenschaft degradiert, ja pervertiert ist, die höfischen Regeln des Maßes und der Verschwiegenheit nicht mehr achtet und die Grundpfeiler der Gesellschaft erschüttert, was deren Zusammenbruch verursacht. Somit ist ein wichtiger Wert der höfischen Gesellschaft – die höfische Liebe, die nun nicht mehr Quelle aller Tugenden ist – ins Wanken geraten und in Frage gestellt worden. Dazu kommt Ginovers rasende Eifersucht auf die Tochter des König Pellès – am Schluss des Lancelot propre (sie vertreibt Lancelot, so dass er in Wahnsinn fällt) – und auf das Fräulein von Escalot – in Artus’ Tod (da wünscht sie Lancelot alles Übel, sogar den Tod, III,427,15 – 16): Das gegenseitige Vertrauen zwischen zwei Menschen, auf das die mittelalterliche Gesellschaft gegründet ist, geht somit verloren. Die Verurteilung der Königin zum Tode, die unmittelbar auf die Entdeckung der auf frischer Tat ertappten Liebenden folgt, führt dann zum Tode Gaheriets, des Lieblingsbruders Gaweins, was wiederum ein überspitztes Rachegefühl nach sich zieht: Auf diese Weise werden zwei weitere Werte des Ehrenkodexes der höfischen Gesellschaft, die Sippentreue und das Ehrgefühl, für die Katastrophe verantwortlich gemacht, denn der Krieg, der nun infolge der Hybris Gaweins, infolge seines leidenschaftlichen Hasses auf Lancelot, ausbricht, leitet das Ende herbei, das durch den Verrat Mordrets endgültig wird. Die Katastrophe hat aber noch andere Gründe. Das Bild von König Artus ist – wie es R. Voß²³⁹ überzeugend gezeigt hat – ambivalent. Von Anfang an haftet ihm ein Makel an, und zwar die inzestuöse Geburt Mordrets, die erst am Schluss in voller Klarheit enthüllt wird. Hinzu kommt, dass Artus weiter den Intrigen der falschen Ginover erliegt und in schändlicher Weise seine legitime Frau verstößt, wodurch sein Hof synen namen und sin ere (I,535,20) verliert, „dass Artus nicht einfach die Verkörperung des Herrschers schlechthin ist, sondern zugleich Per-

 Emmanuèle Baumgartner, L’arbre et le pain, S. 154.  R. Voß, Der Prosa-Lancelot, S. 58 – 61.

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2 Die erzählende Literatur

son, die den Schwankungen des Menschseins unterworfen ist“.²⁴⁰ In einem Wort: Mit König Artus verliert die Tafelrunde ihre Vorbildlichkeit. Die Heroik treibt Artus weiter dazu, auf die Warnungen, die sich anhäufen, nicht zu hören (er sieht sich sogar im Traum vom Rad der Fortuna herunterfallen), im Gegenteil den Kampf gegen Mordret aufzunehmen und in die Vernichtungsschlacht von Salisbury zu ziehen. Im Prosa-Lancelot werden die Werte der höfischen Gesellschaft entweder pervertiert oder sie führen zu einer entsetzlichen Katastrophe, wenn sie zu streng eingehalten werden. Es wird der Schiffbruch der höfischen Welt gezeigt. Aber im Prosa-Lancelot wird – wie mir scheint – eine Ersatzlösung angeboten: das mönchisch-asketische Ritterideal mit seiner Hierarchie der Tugenden, Virginität, Keuschheit, Demut, Geduld. Das wird exemplarisch gezeigt sowohl an dem in der Grals-Queste dargelegten Ideal der himmlischen Ritterschaft als auch an dem weltverneinenden und weltentsagenden Leben, das die Hauptgestalten nach dem Zusammenbruch der Artuswelt führen: Sie treten beide in den geistlichen Stand ein und sterben reuevoll und bußfertig, ohne sich je wiedergesehen zu haben. Genau wie der französische Zyklus (Pauphilet, Gilson) ist der deutsche Prosa-Lancelot wohl unter dem Einfluss der Zisterzienser geschrieben worden (in beiden Werken ist immer wieder die Rede von weißen Mönchen) und steht dem Geist der „neuen Frömmigkeit“ nahe; man denkt an die Klöster Gotteshal in Hessen oder Himmerod in der Eifel.²⁴¹ Doch auch das himmlische Rittertum wird nicht als ewig dargestellt (auch wenn Gott ihm das Privileg gegeben hat, vor dem Weltgericht und vor der Endzeit zu schauen, infolgedessen zu wissen): In die Zeit der Geschichte integriert und der Zeit unterworfen, ist es wie alles auf Erden vergänglich (dies gibt übrigens die einzige Erklärung dafür ab, dass der Gral von der Erde in den Himmel entrückt wird und somit auf ewig von der Erdoberfläche verschwindet), was den Prosa-Lancelot an die Grenze zur Chronik, zur Geschichtsschreibung bringt. An den deutschen Prosa-Lancelot knüpft im 15. Jahrhundert Ulrich Fuetrer mit seinem Prosa-Lantzilet (um 1467) an, den er dann zwischen 1484 und 1487 in der Titurel-Strophe umarbeitet (der strophische Lantzilet).

 R. Voß, S. 59.  Siehe Steinhoffs Nachwort zu Lancelot und Ginover I (Prosalancelot I), S. 768.

2.2 Prosaroman

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2.2.2 Prosaroman im Spätmittelalter Zumindest im 15. und am Anfang des 16. Jahrhunderts darf ausschließlich eine Gattung „Prosaroman“ angesetzt werden²⁴², die durch den dominanten Formtyp (die Prosa), durch den narrativen Grundtyp der Texte und durch deren Umfang gekennzeichnet ist, der schließlich den (vor allem höfisch geprägten) deutschen Versroman ersetzt. Es ergibt sich somit folgende Definition: „Der frühneuhochdeutsche Prosaroman wird extern durch Bürger in adligem Auftrag primär für ein adliges (aber auch bürgerliches) Publikum mit oder ohne primär- bzw. sekundärsprachliches Vorbild im Medium der Handschrift fixiert und im Medium des Drucks verbreitet“²⁴³. Diese Gattung emanzipiert sich aber allmählich von der französischen Literatur. Es sind fünf Varianten dieser Textsorte aufzuweisen²⁴⁴: 1. Die Prosaauflösungen mittelhochdeutscher Versromane aus der klassischen Zeit sind, d.i. aus dem Hochmittelalter; zu ihnen gehören z. B. Herzog Ernst: Epos (1475/76),²⁴⁵ Lied (1493), Wilhelm von Österreich (Prosafassung nach Johann von Würzburg, 1481), Tristrant und Isalde (Prosaversion nach Eilhart von Oberg, 1484), Sigenot der Jüngere (Dietrich von Bern, 1487/88), Wigoleis vom Rade (Prosaversion nach Wirnt von Gravenberg, 1493); Herzog Wilhelm von Orlens (Neubearbeitung nach Rudolf von Ems, 1491); erwähnen wir noch die 2005 von Holger Dreifuß edierte Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm ²⁴⁶, die die Prosaauflösung der Willehalm -Trilogie aus Ulrichs von dem Türlin Arabel, Wolframs von Eschenbach Willehalm sowie Ulrichs von

 Vgl. zum Beispiel Franz Simmler, „Syntaktische Strukturen im Prosaroman des 16. Jahrhunderts. Die Schoen Magelona.“. In: Sprachwissenschaft. Band 8 (1983) Heft 2. In diesem Aufsatz wird auf die gattungstheoretischen Erwägungen hingewiesen, so auf Joseph Görres’ Schrift, Die teutschen Volksbücher. Mit einem Nachwort herausgegeben von L. Mackensen, Kleine volkskundliche Bücherei 2, Berlin, 1925, oder noch auf Annelies Schmitts Dissertation, Die deutschen Volksbücher. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte und zur Tradierung im Zeitraum von der Erfindung der Druckkunst bis 1550. I-II. Maschinenschriftliche Dissertation Humboldt-Universität, Berlin, 1973. Franz Simmler, „Vom Prosaroman zur Erzählung. Sprachliche Veränderungen in der Stoffgeschichte und ihre Rückwirkungen auf Textsorten-Differenzierungen“, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur. Band 20, Heft 3 – 4 (1991), S. 457– 486.  Franz Simmler, „Vom Prosaroman zur Erzählung…“, op.cit., S. 467.  Vgl. u. a. Gotzkowski, Bodo, „Volksbücher“. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher, Bibliographie der deutschen Drucke. Teil I: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil II: Drucke des 17. Jahrhunderts. Mit Ergänzungen zu Band I, Baden-Baden 1991– 1994.  Die Jahreszahlen geben das Erscheinen des ältesten bekannten Druckes an.  Holger Dreifuß, Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm. Frankfurt am Main 2005. Siehe auch Verena Barthel, Empathie, Mitleid, Sympathie. Rezeptionslenkende Strukturen mittelalterlicher Texte in Bearbeitungen des Willehalm -Stoffes. Berlin 2008.

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2 Die erzählende Literatur

Türheim Rennewart enthält (alle überlieferten Handschriften stammen aus dem südalemanischen Raum: Zürich 1474, Schaffhausen 1483, Frauenfeld 1460/70; die Historia wurde nicht gedruckt). Die „Prosaromane“, die keine direkte Vorlage haben: Fortunatus (1509), Eulenspiegel von Hermann Bote (1510 – 1511), Barbarossa (1519), Ritter Galmy (Georg Wickram, 1539), Gabriotto und Reinhart (Georg Wickram, 1551), die Schildbürger oder Faust (1587); Viele haben dennoch als Vorlage ein französisches Werk (in Versen oder in Prosa): Der Ritter vom Turm (deutsche Bearbeitung durch Marquart vom Stein) (1493); Haimonskinder (1493), Fierrabras (1533), Kaiser Octavian (1535) sind Adaptationen von französischen Chansons de geste, genau wie Hug Schapler (1500), Loher und Maller (1513) und Herpin (1514) der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken; Veit Warbeck hat sich l’Ystoire de Pierre de Provence et de la belle Maguelonne vorgenommen: Die Schöne Magelone (das Autograph entstand 1527, der Erstdruck durch Heinrich Steiner 1535). Eine grosse Anzahl von Bearbeitungen französischer Texte sind im alemannischen Raum der Schweizerischen Eidgenossenschaft entstanden: so die A-Fassung von Pontus und Sidonia (zwischen 1440 und 1460, die als einzige gedruckt worden ist, 1483); die C-Fassung (zwischen 1440 und 1460²⁴⁷, die in der Berner Bibliothek liegt); Clamades (1450 – 1452, ein Text, der nie gedruckt worden ist; Olwyer uß Castilia und Artus uß Algarbe, Übersetzung durch den Berner Wilhelm Ziely von der l’Istoire de Olivier de Castille et de Artus d’Algarbe, son très chier amy et loial compagnon ²⁴⁸, die 1482 in Genf gedruckt worden ist; diese Übersetzung wurde zum ersten Mal 1521 bei Adam Pietri von Langenhoff in Basel gedruckt, im selben Band wie Valentin und Orsus, ein anderes von Wilhelm Ziely übersetztes Werk, 1521)²⁴⁹; die Melusine des Thüring von Ringoltingen²⁵⁰, eines Berner Patriziers und Schöffen. Thüring übersetzt 1456 den französischen Versroman Mellusigne eines gewissen Coudrette (um 1400), dessen Titel

 Wolfram Schneider-Lastin, „Handschriftenfunde zur Literatur des Mittelalters. 122. Beitrag. Christine de Pizan deutsch. Eine Übersetzung des ‚Livre des fais d’armes et de chevalerie‘in einer unbekannten Handschrift des 15. Jahrhunderts“. In: ZfdA 125 (1996), S. 197– 198.  Georges Doutrepont, La littérature française à la cour de Bourgogne : Philippe le Hardi, Philippe le Bon, Charles le Téméraire. Réimpression de l’édition de Paris 1909. Genève, Slatkine Reprints, 1970 = 1909, S. 54– 56.  Siehe Hans Fröhlicher, Thüring von Ringoltinge’s „Melusine “, Wilhelm Ziely’s „Olivier vnd Artus“…, S. 61 ff. Der Text wurde von Heinz Kindermann ediert, in Volksbücher vom sterbenden Rittertum. Deutsche Literatur. Reihe Volks- und Schwankbücher, Band I, Weimar/ Leipzig/ Wien 1928, S. 237– 261.  Thüring von Ringoltingen, Melusine . Nach den Handschriften hg. von Karin Schneider, Berlin, „Texte des späten Mittelalters 9“, 1958.

2.2 Prosaroman

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5.

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gleichfalls Livre de Lusignan ou de Partenay lautet und der auf den Wunsch eines Herrn von Partenay hin die sagenhafte Geschichte der Familie von Lusignan enthält²⁵¹. Ein Berner Patrizier überträgt Les faits d’armes et de chevalerie von Christine de Pizan. Manche Prosaromane (und der Wigalois des Wirnt von Gravenberg) werden im Spätmittelalter ins Jiddische übertragen. Die „Prosaromane“, die Übersetzungen lateinisch-humanistischer und antiker Vorlagen darstellen; hierzu gehören Historia Apollonii regis Tyri (Deutsch von Heinrich Steinhöwel, 1471), Historia Alexandri Magni (Deutsch in der Fassung des Johann Hartlieb, 1473), Euriolus und Lucretia (Deutsch von Niclas von Wyle, 1478), Historia Griseldis (Deutsch von Heinrich Steinhöwel, 1471), Guiscard und Sigismunde (Deutsch von Niclas von Wyle, 1476/77), Troja-Romane (Nach Guido von Columna verdeutscht von Hans Mair, 1474), Theagenes und Chariklea (Deutsch von Johann Zschorn, 1559). Die „Prosaromane“, die italienische Werke als Vorlagen haben, so Griseldis (1471) von Heinrich Steinhöwel und Fiorio und Biancefiore (1499). Historie von den vier Kaufleuten (nach Boccacio, 1490); Florio und Biancefora (nach Boccacio, 1499); Ritter Thorelle (1512); Cymon (1516); Giletta (aus dem Decamerone, 1520); Andreützo (nach Boccacio, 1557).

2.2.2.1 Prosaübersetzungen von französischen Versdichtungen: Elisabeth von Nassau-Saarbrücken Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, die seit den dreißiger Jahren des 15. Jahrhunderts die Tradition wiederaufnahm, französische Vorlagen ins Deutsche zu übertragen, wählte für ihre Adaptationen die Gattung der Chansons de geste, die im Hochmittelalter kaum Beachtung gefunden hatte und die erst ab dem 14. Jahrhundert wieder rezipiert wurde. Sie leistete zugleich Neues – abgesehen von der niederdeutschen Prosabearbeitung von Girart de Roussillon –, indem sie die französischen Chansons de geste, die in Versform vorlagen, direkt in deutsche Prosa übertrug.²⁵²

 Vgl. z. B. Laurence Harf-Lancner, Les Fées au Moyen Age. Morgane et Mélusine. La naissance des fées. Paris, Champion, 1984.  Karl-Heinz Spieß, „Zum Gebrauch von Literatur im spätmittelalterlichen Adel“. In: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec, Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, Sigmaringen, Jan Thorbecke Verlag, 1998, S. 100 – 101, ist der Meinung, „Elisabeth (habe) die Übersetzung der Chansons de geste einem zweisprachigen Sekretär übertragen und vielleicht die eine oder andere mündliche Hilfestellung gegeben“. Man solle „künftig die angebliche Beteiligung von drei Familienmitgliedern an der Entstehung der Romane sehen.“ Der dritte ist vielleicht Elisabeths Sohn.

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2 Die erzählende Literatur

Elisabeth, die Tochter Friedrichs von Lothringen († 1415) und Margarethes von Vaudemont und Joinville († 1416), wurde nach 1393 in Vézélise geboren. 1412 heiratete sie Philipp I. Nassau-Saarbrücken, einen deutschen Fürsten. Als Philipp 1429 starb, übernahm sie für ihre beiden unmündigen Söhne Philipp und Johann die Regierung der Grafschaft, und selbst nachdem Johann 1442 die Regierung angetreten hatte, nahm sie Anteil an der Verwaltung des Landes. Sie starb am 17. Januar 1456. Auf französischem Sprachgebiet geboren und aufgewachsen (sämtliche Gebiete ihres Vaters, auch die reichsdeutschen, lagen auf französischem Sprachgebiet), unterhielt sie enge Beziehungen zu wichtigen Zentren der zeitgenössischen französischen Literatur, während zu Beginn ihrer literarischen Tätigkeit keine Verbindung mit deutscher Literatur feststellbar war. Dies erklärt, warum sie als Ausländerin bestrebt war, französische literarische Kultur auf deutsches Gebiet zu übertragen: Ihre schriftstellerische Tätigkeit, die aus ihr die erste weltliche Schriftstellerin Deutschlands machte, war eine Vermittlungstätigkeit. Außerdem ging von ihr eine bedeutsame Anregung für einen neuen literarischen Geschmack im Reich aus, dank der engen Bande, die der Saarbrücker Hof mit der Kurpflaz unterhielt: Die literarisch interessierte Mechthild von der Pfalz, später von Österreich, deren Hof in Rottenburg ab den fünfziger Jahren des 15. Jahrhunderts ein Mittelpunkt für das literarische Leben der Zeit war und deren Bibliothek Püterich von Reichertshausen in seinem Ehrenbrief (1462) rühmte, war eine Kusine Elisabeths (Elisabeths erster Roman, Herpin, befand sich schon um 1450 in Mechthilds Bibliothek). Vor 1437 ging Elisabeth an die Prosaübersetzung vier junger französischer chansons de geste, und dabei stand sie unter französischem Einfluss, war doch diese Literatur am Burgunder Hof, mit dem sie in Verbindung stand, schon im 14. Jahrhundert Mode; außerdem wählte sie die Prosaform, der man gewöhnlich mehr Wahrheitsgehalt zuwies als der Poesie, fasste sie doch ihre Werke als wahrhaftige Chroniken auf. Ihre Vorlagen, die handschriftlich wie inhaltlich – im Geschmack der Zeit – zyklenhaft miteinander verbunden waren – sie stammen alle aus dem Stoffkreis um Karl –, erhielt sie wohl von ihrer Mutter, die aus französischem Haus stammte und stolz auf ihren Großvater, den Chroniqueur Joinville war. Die zeitliche Reihenfolge von Elisabeths vier Romanen ist folgende:²⁵³  Elisabeth von Nassau-Saarbrücken, Huge Scheppel, hg. von H. Urtel, Hamburg, „Veröffentlichungen der Hamburger Stadtbibliothek 1“, 1905; Loher und Maller. Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos. Hg. von Ute von Bloh unter Mitarbeit von Silke Winst, Berlin 2013; Herzog Herpin . Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos. Hg. von Bernd Bastert, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 2014.

2.2 Prosaroman

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Herpin, Übersetzung vom Lion de Bourges (14. Jahrhundert), Sibille, Übersetzung von der Reine Sebile (13. Jahrhundert), Loher und Maller, Übersetzung von einer chanson de geste Lohier et Malart (14. Jahrhundert), von der nur Fragmente überliefert sind und die teilweise dank Fragmenten einer Übersetzung ins Mittelniederländische rekonstruiert werden kann, Huge Scheppel, Übersetzung von der chanson de geste Hugues Capet (1356 – 1358).²⁵⁴

Nach Liepe²⁵⁵ wurde die zyklische Handschrift, die die vier Texte, die Elisabeths Vorlagen waren, beinhaltete, im Jahre 1405 in einer Schreiberwerkstatt in der Nähe von Amiens geschrieben.

2.2.2.1.1 Herpin (nach 1430) Die Vorlage bot die chanson Lion de Bourges, die uns in zwei inhaltlich stark voneinander abweichenden französischen Handschriften der Pariser NationalBibliothek erhalten ist und deren kompilatorischer Charakter im Geschmack der späten chansons de geste und des Abenteuerromans hervorgehoben werden soll. Der Motivschatz der chansons des 14. Jahrhunderts findet sich im Herpin exemplarisch vereinigt. Die Handlung verläuft unter Wiederholung beliebter Motive, des ausgesetzten Kindes, des Sich-Verlierens und Wiederfindens der Ehegatten durch drei Generationen hindurch. Herzog Herpin von Bourges wird verleumdet und von König Karl von Frankreich vertrieben und seines Landes beraubt. Er kämpft vor Rom gegen die Heiden und befreit den Papst von ihrer Bedrohung. Er wird dann an die Heiden verkauft und in Toledo lange gefangen gehalten. Die Tochter des Sarazenenfürsten tritt für ihn ein und lernt den Christenglauben; er vollbringt in heidnischen Landen rettende Heldentaten (Heilige treten den Christen helfend zur Seite). So verdient er seine Freiheit wieder und findet letzlich seine Frau wieder. In diese Geschichte ist die seines Sohnes Löw hineingeschachtelt, der so heißt, weil er von einer Löwin gesäugt wurde. Dieser zieht aus, um Vater und Mutter zu suchen, und Ritter zu werden. Dieser vollbringt Wundertaten, bei denen

 Für Huge Scheppel verweise ich auf meinen Aufsatz: „Pouvoir politique et pouvoir culturel. Elisabeth von Nassau-Saarbrücken „. In: Cours princières et châteaux. Pouvoir et culture du XIè au XIIIè siècle en France du Nord, en Angleterre et en Allemagne. Actes du Colloque de Soissons (28 – 30 Septembre 1987) édités par Danielle Buschinger, Greifswald, Reineke Verlag 1993 (WODAN 21), S. 45 – 58.  Wolfgang Liepe, Elisabeth von Nassau-Saarbrücken . Entstehung und Anfänge des Prosaromans in Deutschland, Halle 1920, S. 90 ff.

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2 Die erzählende Literatur

ein weißer Ritter, ein Toter, der von Löw erlöst worden ist, dem Helden beisteht (dies ist das in der französischen Literatur des Spätmittelalters weit verbreitete Motiv des „mort reconnaissant“, des dankbaren Toten); er findet in der Tat in Toledo Vater und Mutter, die kurz danach ums Leben kommen. Er zieht wieder aus, um sein Erbe, Bourges, wieder zu gewinnen (daraufhin söhnt sich König Karl nach blutigen Kämpfen mit ihm aus), er wird ein gerechter Herrscher, über den alle Bürger der Stadt sich freuen, weil er sie bei ihren alten Rechten gelassen hat und ihre persönliche Lage auch verbesserte, und er verleiht seinen Vasallen ihre Lehen. Es folgt dann die Geschichte von Löws Söhnen, nach einem ähnlichen Schema. Aus der Fülle der Episoden könnte Folgendes unterstrichen werden: ‒ Dem leicht irrezuführenden Herrscher Karl, der den Verleumdungen des Verräters sofort Glauben schenkt, wird der gerechte Herrscher Löw gegenübergestellt, der für das Wohl seiner bürgerlichen Untertanen wirkt und von ihnen entsprechend liebgewonnen wird. Es ist eine Art Fürstenspiegel, wohl für die Söhne Elisabeths verfasst, wird doch in diesem Roman „die Entwicklung des Helden zum Herrscher“ dargestellt.²⁵⁶ Andererseits ist festzustellen, dass in diesem Roman, wie übrigens in Loher und Maller und besonders in Huge Scheppel, die enge Verknüpfung zwischen Adel, in der Person Herpins, und Bürgertum zum Thema wird, ein Ideal, das Elisabeth selbst anstrebte in Anlehnung an das französische Vorbild.²⁵⁷ ‒ Das Motiv des von seinem Lehensherrn zu Unrecht – wegen einer Verleumdung – enterbten Vasallen kann in den breiten Rahmen des Konflikts zwischen der zentralen und der territorialen Macht gestellt werden, und hier auch findet sich ein Bezug zur Politik Elisabeths, die „den Prozeß der Territorialisierung“ forcierte²⁵⁸, und zu der Politik ihrer Söhne. ‒ Der Kampf zwischen Christen und Heiden spiegelt den Dualismus zwischen Christenwelt und Heidenwelt wider, aber es sind auch Zwistigkeiten zwischen zwei heidnischen Fürsten, wobei der Christ Herpin sich auf die Seite des einen gegen den andern stellt (mit den Requisitien der Gattung, so die wunderbare Hilfe Gottes durch seine Heiligen): Dies könnte bedeuten, dass die Kluft zwischen Heidenwelt und Christenwelt nicht unüberbrückbar ist. Im ersten Teil des Herpin hat sich Elisabeth sklavisch eng an ihre Vorlage gehalten. Danach hat sie sich etwas mehr von der Vorlage befreit, ohne jedoch die  Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland. Die Prosaerzählungen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken, Frankfurt am Main/ Bern/ New York, 1987, S. 38.  Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland…, S. 35 und 91.  Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland…, S. 30.

2.2 Prosaroman

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Vorgänge selbstständig geformt zu haben. Es begegnen immer wieder wörtliche Übernahmen weiter Strecken der Vorlage, auch wenn Kürzungen vorgenommen werden, wie im zweiten Herpin-Teil. Elisabeth hält die Laissenabsätze genau ein und übernimmt die epischen Formeln so wie die clichés épiques, so dass man den besonderen Stil der französischen Chansons de geste wiedererkennt, aber in deutscher Prosa. Es muss noch hervorgehoben werden, dass ihr Stil von Werk zu Werk bedeutend freier und gewandter wird. Es ist auch möglich, dass Elisabeth ihre Übersetzungen später noch einmal überarbeitete, indem sie eine andere Vorlage benutzte. An den blutigen und brutalen Kampfschilderungen nahm Elisabeth keinen Anstoß, wohl aber an den erotischen Stellen und an den derbsinnlichen Liebesepisoden, die sie dann wohlerzogen und dezent änderte, umformte oder gar überging.

2.2.2.1.2 Sibille (nach 1430) Dieser Roman ist in einer einzigen Handschrift überliefert. Elisabeths Vorlage, die chanson de geste der Reine Sibile (Mitte des 13. Jahrhunderts) ist nur fragmentarisch in 507 Versen in drei verschiedenen Fassungen überliefert. Auf sie gehen eine deutsche, eine spanische und eine französische Prosafassung zurück. Es ist eine kurze Geschichte, der die Sage der verleumdeten, zu Unrecht vertriebenen und schließlich wieder glücklich zu Ehren gelangten Ehefrau wie im Teil Morant und Galie des Karlmeinet zugrundeliegt. Wiederum ist es der leichtgläubige König, der Schuld an allem trägt, König Karl der Große (wie in Herpin ): Sibille, Karls Ehefrau, wird von einem Zwerg verleumdet und zum Flammentod verurteilt, wird aber begnadigt und in die Verbannung geschickt. Sie wird von einem treuen Bauern beschützt, der sie nach vielen Jahren zu Karl zurückführt. Allem Anschein nach hat Elisabeth ihre Vorlage stark gekürzt. In dieser Erzählung ist auch genau wie in Herpin die negative Rolle des Kaisers, d. h. der Zentralgewalt herauszustreichen, was mit der partikularistischen Politik der Elisabeth in Verbindung gebracht werden kann. Diese kurze Geschichte ist mit der Königin von Frankreich von Schondoch verwandt (Anfang des 14. Jahrhunderts).

2.2.2.1.3 Loher und Maller (1437) Von diesem Werk sind fünf Handschriften und drei Drucke (1514,1567,1613) überliefert. Es wurde von Dorothee Schlegel als „romantisches Volksbuch“ kürzend bearbeitet. Am Schluss der Handschrift erklärt Elisabeth, dass ihre französische Vorlage 1405 von Marguerite de Vaudémont et Joinville geschrieben worden ist,

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2 Die erzählende Literatur

was nicht stimmt.²⁵⁹ Marguerite ist lediglich die Auftraggeberin einer Abschrift der vier Werke, die Elisabeth bearbeitet hat und die durch die Gestalt vom König Louis miteinander verbunden sind, einer Abschrift einer schon zyklischen Handschrift, die in der Picardie geschrieben worden ist. Man kann vermuten, dass die französische chanson de geste Lohier et Malart im zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden ist.²⁶⁰ Die gesamte chanson ist verloren gegangen; Ulrich Mölk hat vor dreißig Jahren ein Fragment der verschollenen französischen Vorlage wieder entdeckt (Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, Abt. 1105, Nr 40).²⁶¹ Die französische chanson ist ins Mittelniederländische übersetzt worden (von dieser niederländischen Bearbeitung sind Fragmente überliefert).²⁶² Das Werk ist eine dreigliedrige Kompilation: ‒ Loher, hinter dem der Frankenkönig Chlothar I. (511– 561) steht und der hier zum Sohn Karls des Großen gemacht wird, geht mit seinem treuen Gefährten Maller in die Verbannung; ‒ er wird am Hofe des byzantinischen Kaisers aufgenommen und erhält die Hand von dessen Tochter als Lohn für die geleistete Kampfhilfe gegen die Heiden; er behauptet sich gegen seinen Halbbruder Ludwig und wird zum römischen Kaiser erhoben, dann wird er aber von Ludwigs Räten entmannt, mit deren Frauen er ein ausschweifendes Leben geführt hatte und die aus Rache seine Verbannung veranlassten; ‒ er tötet unwissentlich Maller und lebt fortan als Einsiedler. Angehängt ist eine Bearbeitung der alten, nur fragmentarisch erhaltenen chanson Isembart et Gormont. Ein wichtiges politisches Motiv des Romans ist die Einführung des Wahlkönigtums durch den Papst, am Schluss der eigentlichen Loherdichtung, d. h. weit nach der Entmannung Lohers, eines Motivs, das Elisabeth wahrscheinlich in ihrer Vorlage schon vorfand. In diesem Roman geht es aber vor allem um die „Domestizierung der triebhaften Impulse“,²⁶³ um die „Institutionalisierung der se-

 Ibid., S. 99 ff. und 158 ff.  Ulrich Mölk, Lohier et Malart. Fragment eines verschollenen französischen Heldenepos. Göttingen 1988 (Nachrichten der Akad. der Wissenschaften, Philol.-histor. Klasse, 5), S. 138.  Ibid., S. 135 – 164. Siehe auch „Lohier et Malart. Fragment d’une chanson de geste disparue“, Romania 110 (1989), S. 466 – 492.  Vgl. K. Iwema, „De middelnederlandse fragmenten van Loyhier en Malaert. Een bronnenuitgave“. In: Leuvense Bijdragen 1986 (75), S. 433 – 494.  Vgl. Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland. Die Prosaerzählungen Elisabeths von Nassau-Saarbrücken, Frankfurt am Main/ Bern/ New York, 1987, S. 111.

2.2 Prosaroman

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xuellen Kontrolle“,²⁶⁴ deren sich Loher als unfähig erweist, und somit erscheint das Werk als ein Lehrbuch a contrario für einen vollkommenen Herrscher. Das Thema, das Elisabeths letzten Roman und ganze Politik charakterisiert – und zwar die Verbindung des Stadtbürgertums mit einem starken Herrscher – wird hier auch angeschlagen.²⁶⁵ Die Übergangspassage zwischen dem ersten und dem zweiten Teil von Lohier et Malart ist uns durch das von Ulrich Mölk entdeckte Fragment erhalten, dessen Autor aus Nordfrankreich stammt. Das Fragment könnte identisch mit der Abschrift von 1405 sein, die Marguerite de Vaudémont-Joinville hat herstellen lassen, oder zumindest geographisch und chronologisch nicht weit entfernt.²⁶⁶ Ich zitiere Ulrich Mölk²⁶⁷: „Ce texte démontre clairement que, pour l’auteur, la deuxième partie formait un tout. Il y annonce, en effet, uniquement les deux grandes séries d’événements qui constituent la deuxième partie mais ne fait nullement mention du contenu de la troisième partie; des deux séries il résume d’abord la deuxième (de la mort de Malart jusqu’à la conclusion de la paix), ensuite la première (de l’émasculation de Lohier jusqu’à la bataille de la Marne), présentant dans les deux cas Marfuné, le personnage inventé par lui-même, comme le héros central.“ Andererseits enthält der dem Fragment entsprechende Text einen einzigen Absatz, der genau einer „laisse“ entspricht. Schließlich bestätigt U. Mölk Wolfgang Liepes Hypothese, nach der Elisabeth ihre Übersetzung revidiert hat, mittels einer anderen Handschrift, die den selben epische Zyklus enthielt und die, im Gegensatz zur ersten, bebildert war.²⁶⁸ Zu Elisabeths Adaptionstechnik ergibt sich aus dem Vergleich ihres Textes mit dem des Fragments folgendes: Elisabeth lässt fast nichts aus, sie streicht verständlicherweise gewisse epische Klischees, z. B. „a ce que dire oi“ (V. 70), lässt ebenfalls, aber nur selten,²⁶⁹ gewisse epische Formeln aus, z. B. „Ne sai c’on vous voulsist la chançon demener“ (V. 136) oder epische Adjektive, wie „au vis cler“ (V. 142); sie kürzt oder erweitert den Text hie und da, formuliert ihn um, ist manchmal nicht so präzis, manchmal expliziter als das Original, übersetzt sehr selten den französischen Text Wort für Wort, mildert ihn, wenn er ihr zu brutal vorkommt (wahrscheinlich anstandshalber)²⁷⁰, sie tilgt gleichfalls das Zeremonielle, um zur Sache zu kommen, oder das Sentimentale, z. B. beim Abschied von Loher und

      

Vgl. Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland, S. 101. Vgl. Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland, S. 120. Ulrich Mölk, „Lohier et Malart. Fragment d’une chanson de geste disparue“, S. 477 und 481. Ibid, S. 476. Ibid. 478. W. Liepe, S. 230 ff. Ibid, S. 270.

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2 Die erzählende Literatur

Maller von der jeweiligen Gattin. Elisabeth gestaltet ihren Text um und bemüht sich darum, die Zukunft vorzubereiten oder vergangene Ereignisse ins Gedächtnis zurückzurufen. Im Gegensatz zu dem, was Liepe andeutet,²⁷¹ hatte Elisabeth Kenntnis von der klassischen französischen heldenepischen Tradition, denn sie fügt ihrem Text Karls des Großen Kampfruf bei „Montgoye, das ist der Franzosen gerüffe“ (= Montjoie) und das Prinzip der Aufstellung der Armee nach „echelles“ („drissig stryte“). Während der französische Autor sich begnügte, „paien que Dieu maudie“ (V. 84) zu schreiben, betont Elisabeth dieses Motiv stärker und beschimpft die Heiden als „hellysche tüffele“ und als „swartze tüfel“: Sie spielt hier auf die zeitgenössische Realität an, bedrohten doch die Türken im 15. Jahrhundert das gesamte Abendland. Das erklärt das Heidenbild der Chanson de Roland („der wilde“ Heide, nach der Formulierung von Hans Neumann). Noch ein Beispiel: Wo im französischen Text die Rede von einem echten Kreuzzug die Rede ist (V. 98/99 „Or vous mande li pape que vousnne laissiés mie/ de li venir aidier a faire croserie“), sagt Elisabeth mit Nachdruck, dass die gesamte Christenheit in Gefahr ist. Ihr Text, der eine ähnliche Idee ausdrückt, ist moderner, denn es geht zu ihrer Zeit darum, die ganze Christenheit vor der türkischen Gefahr zu retten und nicht nur einen Kreuzzug zu starten. Man kann hinsichtlich dieses leider zu kurzen, aber der Vorlage Elisabeths sehr nahen Textes weiter gehen als Wolfgang Liepe, der bei Elisabeths ganzem Text hervorhob: „wie eng sich Elisabeth im ganzen an den Text ihrer Vorlagen gehalten hat, wenn sich auch eine bescheidene Entwicklung zu freierer Textgestaltung wahrnehmen ließ.“²⁷² Ein ganz anderer Text entstand unter der Feder der Dichterin, die von ihrer Arbeit als Bearbeiterin eine sehr elaborierte Auffassung hatte. Ihr Ziel war, scheint mir, mehr als eine Vermittlerin zwischen dem französischen Autor und dem deutschen Publikum zu sein, mehr als diesem Publikum einen Ersatz des Originals anzubieten, sie wollte als Schriftstellerin anerkannt werden.

2.2.2.1.5 Huge Scheppel (nach 1437) Die Vorlage ist die chanson de geste Hugues Capet (Ausgabe von De la Grange, Paris 1864), die wohl um die Mitte des 14. Jahrhunderts niedergeschrieben worden ist. Doch weicht Elisabeths Vorlage von der erhaltenen Fassung ab. Elisabeths Übersetzung ist nur in einer einzigen, in der Hamburger Stadtbibliothek befindlichen Handschrift erhalten, aber auch in 10 Drucken von 1500 bis 1794.

 Ibid, S. 228.  Ibid., S. 229.

2.2 Prosaroman

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Der Roman, der im Geschmack der Zeit als historya bezeichnet wird und als warhaftige cronik, erzählt die legendäre Geschichte des Hugues Capet, des Sohnes eines Adligen und einer Metzgerstochter, der das Metzgerhandwerk nicht lernen will, weil er eine viel höhere Meinung von sich hat, und der nach vielen Abenteuern durch seine Heirat mit des Königs Tochter zum König von Frankreich avanciert und damit den Beginn des Geschlechts der Capetinger darstellt, die viele Jahrhunderte hindurch den Thron von Frankreich verwalteten. Bei seinem sozialen Aufstieg wird er von der Bürgerschaft von Paris, die tapfer streitet, gegen die adlige Fronde unterstützt. Hug wird als erfolgreicher – und brutaler – Haudegen dargestellt, aber auch als großer Frauenheld, der vor seiner Heirat mit der Königstochter von Frankreich ein fröhliches Leben führt und sehr viele Kinder zeugt, von denen zehn zu ihm nach Paris ziehen, und der als Ehemann auch viele Söhne gewinnt. Elisabeth schwächt aber den Don-Juan-Charakter des Huge Scheppel beträchtlich ab. Sechs Söhne Huges ziehen am Schluss in den Krieg gegen den Sultan und die Heiden, von denen 80000 erschlagen werden. Hug wird als guter König dargestellt, der das Königreich in Frieden hält. Im Huge Scheppel wird zwar die historische Wirklichkeit widergespiegelt: 1. Es werden die politischen Wirren im Reich geschildert, an denen Philipp I. von Nassau-Saarbrücken Anteil hatte, indem er z. B. 1400 unter den Fürsten war, die Wenzel der deutschen Königswürde entsetzten und Ruprecht von der Pfalz auf den Tron hoben. Er war zudem sowohl Ruprechts als auch später Sigismunds Vertrauter und hat zur Wahl Josts und Sigismunds beigetragen. Außerdem beteiligte sich Philipp gern und oft an örtlichen Fehden, an denen es in Elisabeths Werk nicht fehlt. 2. In ihren Regierungsjahren (1429 – 1438) war Elisabeth bestrebt, ihre Grafschaft von jedem Krieg fernzuhalten (auch wenn es ihr nicht immer gelang) und in ihren Landen selber Frieden zu wahren. Schließlich wurde unter ihrer Regierung mit dem Steinkohlenbergbau im Saargebiet begonnen. So hat sie sich sowohl in Löw selber wiedererkannt, der für das Wohl seiner Untertanen wirkt, als auch im guten König Hug. 3. Die Heidenkriege wurden wieder aktuell, bedrohten doch die Türken im 15. Jahrhundert das ganze christliche Abendland. Aus diesem Grunde taucht in Elisabeths Romanen – wie in vielen zeitgenössischen Werken – das Heidenmotiv und der Gegensatz zwischen Heidenwelt und Christenwelt immer wieder auf, wenn auch nur am Rande, wie in Huge Scheppel . Und angesichts der immer größer werdenden Gefahr knüpft das Heidenmotiv an das des Rolandsliedes wieder an. Die Türkengefahr ließ Wolframs Humanität und Toleranz vergessen.

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4.

5.

2 Die erzählende Literatur

Die Thematik des Romans war höchst aktuell: Einerseits konnte man in dem zum König von Frankreich gewordenen Huge Scheppel das Bauernmädchen Jeanne d’Arc erkennen, andererseits die Karriere des Kaufmannssohns Kaspar Schlick, der zum Kanzler Kaiser Siegismunds, 1437 zum Reichsgrafen erhoben wurde und eine dem Kaiserhaus verwandte Prinzessin heiratete. In Huge Scheppel spiegelt sich viel deutlicher als in den anderen Romanen die mächtig anwachsende politische Macht des Bürgertums wieder, ist doch das Hauptthema der soziale Aufstieg des geburen, der dank seiner Tüchtigkeit und seiner Intelligenz (das Listmotiv spielt eine entscheidende Rolle) zum französischen König und Begründer der französischen Capetinger-Dynastie wird. Nicht zuletzt soll auch auf die ausschlaggebende Rolle verwiesen werden, die die Bürgerschaft von Paris und der reiche Metzgermeister Simon, Huges Onkel, spielen: Die Bürger zeigen sich im Kampf ebenso tapfer wie die Vertreter des Adels; für Huges Aufstieg ist das vom reichen Metzgeronkel besoldete Heer ebenso wichtig wie seine Tapferkeit: Für seine finanzielle Hilfe wird er vom König am Ende belohnt, mit der Erhebung zum Kanzler. Man könnte wohl von einer programmatischen Erklärung bürgerlichen Machts- und Geltungsanspruchs sprechen. Aber das wichtigste Motiv des Huge Scheppel ist doch die Allianz zwischen Bürgertum und Herrscher, die aktuell war zur Entstehungszeit der französischen chanson Hugues Capet um die Mitte des 14. Jahrhunderts (dabei soll die Rolle des bürgerlichen Etienne Marcel mit besonderem Nachdruck erwähnt werden) und die zur absolutistischen Monarchie geführt hat: Hugues Capet verkörpert in persona diese Verknüpfung von bürgerlichen Kräften mit dem Fürstenhof, die Elisabeth in ihrer eigenen Politik anstrebte und nach oder eher neben ihr ihr Sohn Johann III. von Nassau-Saarbrücken, der ihre Politik fortsetzte.²⁷³ Mit der Abfassung ihres Romans wollte Elisabeth wohl auch „über die in den Prosaauflösungen angelegte Entwicklung des Helden auf die Erziehung ihres Sohnes Einfluss […] nehmen“.²⁷⁴

Doch war Elisabeths Hauptanliegen, adelige Unterhaltungsliteratur zu schaffen, in der von Wundertaten und Kriegen die Rede war und man kann wohl sagen, dass die vier Romane der Gräfin dem Abenteuerhunger des Publikums um die Mitte des 15. Jahrhunderts sehr entgegenkamen. Dies alles sicherte vornehmlich dem Huge Scheppel die Zuneigung der breiten Leserwelt des 15. und besonders des 16. Jahrhunderts: Huge Scheppel wurde im

 Vgl. Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland, S. 41.  Vgl. Bernhart Burchert, Die Anfänge des Prosaromans in Deutschland, S. 190.

2.2 Prosaroman

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Verlauf des 16. und des 17. Jahrhunderts achtmal gedruckt (zum ersten Mal 1500 und zum letzten Mal 1794) und wurde 1556 von Hans Sachs dramatisiert. Durch diese Drucke wurden diese im 15. Jahrhundert als adelige Unterhaltungsliteratur geschaffenen Romane nicht mehr ausschließlich von den Oberschichten gelesen, sondern wurden zum Lesestoff breiterer Schichten, und zwar des städtischen Mittelstands.

2.2.2.2 Deutsche Übersetzung von französischen Prosaromanen: L’Ystoire de Pierre de Provence et de la belle Maguelonne / Die Schöne Magelone Die Schöne Magelone, der einzige Prosaroman, dessen Autor bekannt ist, ist die Bearbeitung eines französischen Prosaromans²⁷⁵. Im Jahre 1527 übersetzte Veit Warbeck (1490 – 1534) den französischen Prosaroman, L’Ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du Conte de Provence, et de la belle Maguelonne ²⁷⁶, der in zwei von einander abweichenden Fassungen überliefert ist. Er ist um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden. Von der ersten Fassung besitzen wir fünf Handschriften und einen Druck aus Lyon um das Jahr 1480. Von der zweiten, die verkürzt worden ist, haben wir nur eine Handschrift, die Coburger Handschrift²⁷⁷ (Hs. S IV 2 der Landesbibliothek Coburg, 15. Jahrhundert), die das Datum von 1453 trägt, sowie eine Reihe von Drucken. Doch handelt es sich wohl bei der Coburger Handschrift um eine formale Umarbeitung einer älteren Fassung, daher der Ausdruck „Et fut mis en cestuy lengaige“. Diese ältere Fassung wurde wohl um 1430 niedergeschrieben. Die Coburger Handschrift, die wahrscheinlich von einem deutschen Kopisten hergestellt wurde, enthält den französischen Text (die *C-Fassung), mit einer interlinearen lateinischen Übersetzung und mit zahlreichen Randbemerkungen: Französische Begriffe oder Redewendungen werden lateinisch oder auch deutsch glossiert. Die Handschrift diente wahrscheinlich zum Französischunterricht. Veit Warbeck unterrichtete in der Tat den späteren Kurfürsten Johann Friedrich (* 1503) im Französischen.

 Für die Edition des Textes siehe Jan-Dirk Müller (Hg.), Die Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Melusine, Hug Schapler, Fortunatus, Magelone, Knabenspiegel, Faust. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten.  L’ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du conte de Provence et de la belle Maguelonne. Texte du Manuscrit S IV 2 de la Landesbibliothek de Cobourg (XVème siècle) édité par Régine Colliot. Edition CUER MA, Université de Provence, 29, Avenue Robert Schuman, 13621 Aix-en-Provence, 1977 (Senefiance N°4).  Es gibt vier weitere Handschriften: BNfr 1501– 1502; Nouv. Acq. Fr. 19.167; Arsenal 3354.

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2 Die erzählende Literatur

Auf diese Redaktion gehen die meisten französischen Drucke zurück, und sie ist die Grundlage der weiteren europäischen Tradition. Es gibt aber noch eine weitere französische Redaktion (= *B, hg. von Alphonse Biedermann, Paris und Halle 1913), die handschriftlich und in zwei Drucken überliefert ist. Der französische Prosaroman ist zweimal in frühneuhochdeutsche Prosa übersetzt worden. Die ältere Fassung ist anonym, die jüngere stammt von Warbeck; auf letztere gehen alle späteren Drucke zurück. Das Autograph der deutschen Übersetzung ist erhalten, was ebenfalls einen Ausnahmefall ausmacht: Es ist die Handschrift Gotha Chart B 437²⁷⁸, die auf den 6.11.1527 datiert ist. Sie befand sich im Besitz Kurfürst Johann Friedrichs von Sachsen und war vermutlich das Widmungsexemplar (Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/ Gotha, Cod. Chart. B 437). Acht Jahre später wurde der Roman mit einem Sendbrief Georg Spalatins beim Augsburger Drucker Heinrich Steiner gedruckt (Erstdruck 1535) und erlebte 6 weitere Drucke beim selben Drucker bis 1545. Dem Drucker dürfte eine andere Handschrift als die Gothaer vorgelegen haben²⁷⁹. Außer dem Autograph überliefert eine weitere Handschrift Warbecks Roman, die „Berliner Handschrift“, die nun in Krakau liegt (Ms. Germ. 4° 1579). Die ersten Drucke Heinrich Steiners stammen aus den Jahren 1535, 1536, 1537, 1539, 1540, 1541, 1544 und 1545²⁸⁰. Bis zur ersten Edition durch J. Bolte im Jahre 1894 gibt es eine ungebrochene Texttradition. Der Text ist in Kapitel gegliedert. Während die Handschrift nicht illustriert ist, enthält der Erstdruck außer dem Holzschnitt auf dem Titelblatt 23 Holzschnitte, die wohl aus Kostengründen nicht eigens für die Magelone gemacht, sondern für andere Drucke benutzt worden sind, was in unserem Corpus noch nicht der Fall war. Am Ende des Textes werden, wie in den anderen erwähnten Inkunabeln der Druckort (Augsburg), der Name des Druckers (Heinrich Steiner) und das Druckdatum (am XII. Junij im M.D.XXXV) angegeben. Nach Veit Warbecks Tod wurde die Liebesgeschichte Peters und Magelones mit einem Sendbrief Georg Spalatins beim Augsburger Drucker Heinrich Steyner veröffentlicht; dieser Sendbrief wirft ein ganz besonderes Licht auf das Werk selbst.

 Johannes Bolte (Hg.), Die schöne Magelone, aus dem Französischen übersetzt von Veit Warbeck 1527. Nach der Originalhandschrift herausgegeben von Johannes Bolte, Weimar 1894 (Bibl. älterer deutscher Übersetzungen 1).  Vgl. Jan-Dirk Müller, Die Romane…, S. 1228.  Ich stütze mich für diese Untersuchung auf Franz Simmlers Aufsatz, „Vom Prosaroman zur Erzählung. Sprachliche Veränderungen in der Stoffgeschichte und ihre Rückwirkungen auf Textsorten-Differenzierungen“. In: Daphnis 20 (1991), so wie auf die zwei weiteren Aufsätze Franz Simmlers, auf die ich verweise.

2.2 Prosaroman

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Warbecks Bearbeitungstechnik: Versuch einer Interpretation Die Handlung von L’ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du conte de Provence et de la belle Maguelonne /Veit Warbecks Schöne Magelona ist zweisträngisch: 1. Graf Peter von Provence erfährt von der Schönheit der Königstochter Magelone in Neapel. Er zieht dorthin und gewinnt im Ausland, unerkannt, durch Tapferkeit im Turnier und durch sein edles Wesen Ehre, Frau und Land. Peter entflieht mit Magelone; 2. unglückliche Trennung der Liebenden, lange Entbehrung, glückliches Erkennen,Vereinigung der durch Buße geläuterten Liebenden und Wiedersehen mit den Eltern. Der erste Strang ist dem ritterlichen Abenteuerroman entlehnt, der zweite entspricht dem Grundmotiv des hellenistischen Romans. Daneben werden orientalische (so vielleicht aus Tausendundeine Nacht) bzw internationale Motive eingesetzt. Das Motiv des Raubvogels, der die drei Ringe raubt, das Motiv der Trennung der Hauptpersonen sowie das ihrer glücklichen Vereinigung nach vielen Abenteuern sind wohl dem französischen Roman L’Escoufle von Jean Renart entlehnt, dessen einzige bekannte Handschrift sich auch in der Bibliothek von Herzog Philippe le Bon befand (das Motiv des Raubvogels findet sich auch in einer deutschen Novelle des 14. Jahrhunderts, Der Bûsant). Dem Motiv des Fisches, in dessen Bauch man die drei vom Vogel geraubten Ringe wiederfindet, begegnet man unter anderem in der Vie du Pape Saint Gregoire (12. Jahrhundert) und in dessen deutscher Bearbeitung durch Hartmann von Aue, Gregorius, so wie in Philippe de Beaumanoirs Roman La Manekine (1230 – 1240). Der mittelfranzösische Roman fußt auf der Gründungssage des ehemaligen Bischofssitzes Maguelone in der Nähe von Montpellier, der früher auf einer kleinen Insel gelegen war. Grundsätzlich wird der deutsche Text des Druckes mit dem französischen Text verglichen, aber bei Abweichungen des gedruckten Textes gegenüber dem Text der Handschrift werden beide deutschen Texte herangezogen. Dabei soll aber auch beachtet werden, dass der Drucker eine leicht von W abweichende Handschrift zur Verfügung gehabt haben kann. Warbeck folgt der französischen Vorlage genau, tilgt jedoch oder ändert Gewagtes ebenso wie Konfessionelles. Die Übersetzung ist dezenter. Ein Beispiel: statt dass Maguelone „fust en son lit“ (S. 8 – 9), geht sie in ihre Kammer (607,8). Der Umdichter betont stärker das Höfische. Ein Beispiel: So wird hinzugefügt, dass die Amme, zu der Magelone ihre keimende Liebe anvertraut, „jr sunderlich vnd heymlich trew war“ (607,17). Man beobachtet die Wiedergabe einfacher Ausdrücke durch zweigliedrige Formeln: „vostre couraige“ (S.9) wird übersetzt durch „ewr hertz vnd gemueth“ (608,10 – 11), „mon cueur“ (S. 20) durch „mein hertz vnd gemuet“ (626, 22), „vostre commandement“ (S. 19) durch „ewr gebot vnd

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beuelh“ (625,28). Das Gegenteil begegnet auch: „son honneur et la dignité ou elle estoit“ (S. 17) wird übersetzt durch „jr eer“ (623,5). Die meisten Änderungen werden durch das protestantische Bekenntnis Warbecks verursacht. Dafür einige Beispiele: ‒ Fast jeder Hinweis auf den Frauendienst wird gestrichen. Nur die Ehe ist Ziel der Liebe. Maguelonne sagt von Pierre „j’en feroye mon seigneur et mon amy“ (S. 9); statt dessen will sie „jn zuo meynem gemahel nemen“ (608,17– 18). Einen der Ringe denkt Pierre der Amme „pour l’amour de ma dame“ zu, denn er wage nicht, den Ring der Maguelone zu schenken; dies streicht Warbeck, aber wie im französischen Text „pour l’amour de vous je le presenteray a la belle Maguelonne“ (S.11) übergibt ihr die Amme den Ring „vonn ewrent wegen“ (611,24). In „Et s’il plaist a vostre doulceur, vous prendrés de vostre loyal espoux pour l’amour de moy, comme celluy qui veult obeir, cestuy anel en memoire de moy“ (S. 19 – 20), wird der Hinweis auf Pierres Liebe und Bereitschaft, ihr zu jeder Zeit zu gehorchen, gestrichen: „Widerumb so es euch geliebt were/ von ewrm gemahel zuo entpfahen disen ring mein da bey zuo gedencken“ (625, 30 – 31). Spalatin streicht den Passus, wo Maguelonne Gott dafür dankt, dass er ihr erlaubt habe, Pierre und seine Liebe kennen zu lernen: „car Dieu de sa grace me ay fait venir a sa cognoysance et amour“ (S. 20) sagt Spalatin: „Gott habe lobe“ (626, 23); Warbeck bleibt näher am Text, dennoch tilgt er auch „amour“: „das jch jn seine kuntschafft kommen bin, gott hab lob“ (40b). Doch wird das Detail beibehalten, dass beim Turnier in Neapel die Ritter „auß liebe der junckfrawen oder frawen“ Ritterspiel treiben wollen (629,7– 8) // „pour l’amour des dames“ (S. 22). Da wo in der Vorlage Liebe und das heilige Sakrament der Ehe korrelativ nebeneinander stehen (S. 16 – 17 „que je puisse venir a l’amour de la belle Maguelonne et au saint sacrement de mariage solemnisé en sainte eglise“) betonen Warbeck/ Spalatin, dass die Liebe nur durch die Ehe erreichbar ist: „ich beger auch nichts anders zuo erlangen /…/ dann die liebe der schoensten Magelona zum heyligen Sacrament der Ee solche zuo volenden nach gebrauch der heyligen Christlichen kirchen“ (621,11– 13). Dabei soll hervorgehoben werden, dass der deutsche Umdichter nicht im Sinne Luthers „das heilige Sakrament der Ehe“ tilgt (vgl. auch S. 35 „le sacrement de mariage“, was sogar durch „das heylige Sacrament der ehe“ übersetzt wird, 647, 18 – 19). „[M]a loyalle amye et espouse“ (S. 33) wird durch „mein aller liebster gemahel“ (645,15 – 16) übersetzt, „Las, ma noble dame et espouse“ (S. 33) durch „Ach wee mein aller liebster vnd edelster gemahel“ (645, 24– 25); „ma loyalle amye“ und „ma […] dame“ sind gestrichen worden. Doch schon die Vorlage tadelt Hastigkeit und unordentliches Verhalten in der Liebe: „car les choses qui sont faites desordonnees per voulenté hastive ne sont pas all’onneur de ceulx qui les font“ (S. 12),

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was Warbeck getreu übersetzt: „Dan alle ding so da unordenlich vnd schnelle geschehen kommen nicht zuo ehren denen die es thuon“ (25a), was Spalatin so überträgt: „dann alle ding so vnordenlich vnnd vnbedaechtlich geschehenn/ kommenn nicht zuo ehrenn/ denenn die ehs thuond“ (613,15 – 17). Außerdem gewinnt in beiden Texten die Vernunft die Oberhand über die Liebe (S. 17 und 623,2– 5); hier vereinfachen Warbeck/ Spalatin sogar eine zweigliedrige Formel: „son honneur et la dignité ou elle estoit“ wird übersetzt durch „jr eer“. Im französischen Text ist die Ehe gültig, wenn Peter Magelone vor aller Augen heiratet: „Chier pere, quant je la jectay de l’ostel de son pere, ce estoyt ma volenté de l’espouser par vostre commandement pour l’onneur de vous et de ma dame; je suys content devant tous l’espouser“ (S. 58 – 59); im deutschen Text dagegen erst, wenn Peter und Magelone nach protestantischem Brauch öffentlich in die Kirche gehen, um mit dem Segen von Vater und Mutter zu heiraten: „allerliebster vater da ich auß dem hauß jres vaters sie fuert was es mein wille sie zuo ehelichen/ doch auß beuelch ewer vnd meiner fraw muotter bin ich zuo friden yetzunder sie offentlich zuo kirchen zuo fueren“ (676,19 – 22; 110a). Der Übersetzer setzt für „catholique“ „christlich“ ein. In der Vorrede übersetzt er „la sainte foy catholique“ (S.1) durch „zum heyligen Christenlichen glauben kommen waren“ (593,11). Gleichfalls wird „comme il estoit vray catholique“ durch „als ein rechter Christenlicher mensch“ (645, 5 – 6) übersetzt. Dennoch wird „son cueur fust tousjours a Dieu et a la sainte foy catholique“ (S. 35) vollkommen gestrichen (647,15 – 16). Er tilgt alles, was sich auf die Heiligenverehrung bezieht, z. B. in der Vorrede die Anrufungen der Jungfrau Maria und unseres Herren St. Peter von Maguelonne. Als Peter Magelone am Meeresstrand schlafend zurückgelassen hat, ruft er in der Vorlage einige Male Gott und die heilige Jungfrau Maria an (S. 33); in den deutschen Texten bittet er nur Gott um Hilfe und Barmherzigkeit (63b, 645,6 ff.). „Hee, glorieuse Vierge Marie, qui estes lumiere de consolacion et [des] desolés“ (S. 37) wird übersetzt durch „O guetiger Got der du bist ein liecht aller vngetroesten vnd verlassnen“ (650,8 – 9; 71a). Am Schluss streicht Warbeck „et moururent sainctes personnes“ (S. 59), und er lässt die Heiligen aus, denen zu Ehren die Kirche erbaut worden ist (111b). Der Druck streicht außerdem die abschließende Gebetsformel. Doch vor dem Turnier in Neapel hören die Ritter die Messe: „Quant […] tous les chevaliers eurent ouy la messe“ (S. 23)// „horten messe“ (629,30), und der Hinweis auf Maria wird beibehalten: „le jour de Nostre Dame“// der tag vnser frawen geburt“ (629,29 – 30); in Warbecks Handschrift (44b) steht sogar „der tage unser lieben frawen geburt“. Der deutsche Umdichter tilgt nicht die wirkende

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Kraft der Almosen (S. 35 // 647,19 – 21). Der protestantische Bearbeiter lässt auch nicht das Motiv der Pilgerschaft aus. So geht Magelona in allen drei Texten als Pilgerin nach Aigues-Mortes (übersetzt durch „gen todten wassern“, 654,1): „ung jour elle alloit per la ville comme une povre pelerine“ (S. 40), und sie erzählt, dass sie „venoit de gaigner le pelerinaige de Romme“// „da gieng sie eins tags durch die stat wie eine arme Pilgerin“ (654, 4– 8; 77a-b). Am Schluss tilgt Warbeck weder die Wunder, die Gott wirkt (S. 51 „en quoy Dieu et Monseigneur Sainct Pierre faisoient beaucoup des miracles“ // Warbeck, der das Wort „mirackell“ benutzt 95b „dar jnne gott will mirackell beweyset“; Spalatins Text ist gedämpfter: „darinn Got vil zeichen thete“, 667,23) noch das Gelöbnis einer Wallfahrt zu „der kirchen Sanct Peters zuo Magelon“ (667,18), das Peter abgibt, um seine Eltern und Magelone wiederzusehen: „Et nous vous conseillons que vous vous y vouez.[…] il voua a Dieu et a Saint Pierre qu’il y demourerait par l’espace d’ung moys“ (S. 51)// „wir raten euch das jr euch da hin gelobet. […] da verhieß er Got/ er wollte inn dem selbigen spittal ein gantzen Monat bleiben“ (667,23 – 28; 96b). Lediglich der Hinweis auf den heiligen Petrus wird beide Male gestrichen. In einigen Fällen ist Warbeck der Vorlage getreu gefolgt und Spalatin hat den Text im Druck geändert. Es gibt noch mehr Beispiele, so: ‒ S. 28 „Et certes j’ay mis en mon cueur que jamais ne vous laisseray“. Maguelone entscheidet selbst über ihr Schicksal. Warbeck übersetzt getreu: 38b39a „vnd [ich] setze euch ein meister vnd herren meines hertzen“. Spalatin entzieht der Frau die Entscheidungskraft und übergibt sie dem Mann, der von Magelone aufgefordert wird, über sie zu verfügen: 625,13 – 14 „vnd setzt euch ein meister vnd herrn meines hertzen“. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau, zwischen den Geschlechtern werden von Spalatin geändert: der Mann verfügt über die Frau. ‒ Als auf der Flucht Magelone ihren Kopf in Peters Schoß gelegt hat und einschläft, entbrennt der junge Mann in Liebe, schnürt ihr Gewand an der Brust auf und greift an ihre Brüste: „et tastat sa doulces mamelles“ (S. 31) –„griff an jre schonen brustlin“ (60b); der Druck tilgt das Verb (642,11), so dass Peters Vergehen nicht so schlimm ist; Spalatin hat hier wohl im Sinne seines Sendbriefes und der Vorrede Zensur geübt. Da entdeckt Peter den Beutel aus rotem Zindeltaft, in dem er die drei Ringe findet, die er ihr geschenkt hat. Da heißt es im französischen Text: „Mais Nostre Seigneur monstra que en ceste monde n’est plaisir sans douleur ne felicité parfaicte. Sy transmyst ung oysel vivant de rapine cuidant soy que ce sandal rouge fust une pièce de cher, sy vollat et print le dit sendal et s’en ala a tout“ (S. 31). Der Vogel, von Gott geschickt, ist ausdrücklich ein Werkzeug der Vorsehung, das Peter vor unor-

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dentlicher Liebe bewahren soll.Warbeck übersetzt getreu: (61a) „aber gott der almechtig erzeiget jm, wie das jn dieser welt kein freude were on traurigkheit vnd schicket do hin einen vogell der do lebet von dem raup der ersach den zendell vnd vermeinet es were fleisch erwischet (61b) er den zendell vnd floge dar von“. Spalatin streicht „schicket“: „Aber Gott der allmechtig erzeigt jm/ wie das inn dieser welt kein freud were on traurigkeit vnd kam ein vogel der lebt von dem raub/ der selb ersach den zendel vnnd vermaint es were flaisch/ er erwüschet den zendel vnd flog daruon“ (643,6 – 10). In allen drei Texten bewirkt dieser Vorfall die Trennung der Geliebten, denn Peter verlässt die schlafende Magelone, um den Vogel zu verfolgen. Die Trennung wird somit in den drei Texten als Strafe für Peters erotisches Verlangen interpretiert. Daraufhin will Peter sich ins Meer stürzen S. 33 „se fust en propos de soy getter dedens la mer“ (63a/b, 644,33) und somit hätte er eine Todsünde begangen; in den drei Texten verhindert Gott dieses schwere Vergehen und will Peter zur Geduld leiten. Dass der Sultan dem gefangenen Peter wohlgewogen ist, ist im französischen Text gleichfalls ein Zeichen der göttlichen Vorsehung, in den deutschen Texten ist es dennoch ein Zeichen der Gnade Gottes: „Et Nostre Seigneur luy donna cueur et voulenté d’aymer celluy jeune chevalier Pierre, et tant l’aymoit le Souldan comme s’il eust esté son propre filz“ (S. 34)// „Auch gab got der allmechtige dem Soldan die gnad das er den Peter lieb gewan/ vnd also seer/ als wer er sein einiger geborner sun gewesen“ (646, 32– 33; vgl. 66b). Menschliches Glück ist nicht erreichbar aus eigener Kraft, es ist nur möglich mit der Hilfe Gottes. Während der französische Dichter und Warbeck im Titel die männliche Hauptfigur an erster Stelle nennen, während Spalatin im Sendbrief und in der Vorrede gleichfalls Peter hervorhebt, wird im Titel des Druckes „Die schoen Magelona“, nur die weibliche Hauptfigur genannt, was bedeuten könnte, dass das Zielpublikum des Druckes ein weibliches war.

Spalatins Sendbrief wirft ein ganz besonderes Licht auf das Werk selbst. Spalatin (1484– 1545) gehört zum Humanistenkreis um Conrad Mutianus Rufus (1471– 1526) in Gotha. Als langjähriger Freund Martin Luthers gewinnt er großen Einfluss auf die Frühgeschichte der Reformation. Dies erklärt, warum Spalatin im Sendbrief den Leser mit Nachdruck vor den Überresten des katholischen Glaubens warnt: nicht durch die Werke, nicht durch „meß/ walfarten/ ablaß/ anruoffung der lieben heyligen steet“ wird der Christ vor Gott gerechtfertigt, sondern allein durch den Glauben („sola fide“) und durch die Gnade Gottes („sonder allein vnd einig in gots lautern gnad vnnd barmhertzigkeit vnd im glaubenn an Jesum Christ“). Übrigens macht er aus der Magelone ein „Exempel evangelischer Ehe-

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2 Die erzählende Literatur

lehre“²⁸¹. Spalatin fügt auch eine Vorrede hinzu, in der er den Roman zu einem exemplum christlicher Lehre macht und den didaktischen Charakter des Werkes unterstreicht. Im Grunde unterstreicht Spalatin mit allem Nachdruck die meisten Umdeutungen, die Warbeck selbst vorgenommen hat. Denn die Änderungen des Umdichters zielen schon darauf hin, aus dem höfischen Roman einen moralisierenden Roman, eine Art Fürstenspiegel im Sinne Luthers zu machen. Das traurige Schicksal der Helden wird als Strafe für moralische Verfehlungen, mangelnde Sittsamkeit und Ungehorsam der Kinder den Eltern gegenüber verstanden. Der glückliche Schluss ist der irdische Lohn für Wohlverhalten. Doch stellt man ein widersprüchliches Verhalten vonseiten des Bearbeiters fest. Warbeck ist nämlich mit seinen Änderungen nicht konsequent verfahren, und es bleiben in seinem Werk Stellen, an denen der alte Stoff durchsickert. Einerseits passt Warbeck sein Werk der lutherischen Lehre an, andererseits nicht. So behält er die wirkende Kraft der Almosen, die Wallfahrten, die Wunder Gottes, die Messe so wie das Sakrament der Ehe (die Ehe ist für Luther kein Sakrament). Dies macht seine Änderungen um so deutlicher. Die Schöne Magelone wurde ins Niederländische und in skandinavische und slawische Sprachen übersetzt. Sie erlebte auch zahlreiche Bearbeitungen. Zwei Beispiele: Hans Sachs (1494 – 1576) hat den Stoff dreimal bearbeitet, als Meisterlied (1554), als Spruchgedicht (1554) und als Comedi mit 19 personen: die schön Magelona (1555). Ludwig Tieck arbeitete den Text 1796 um und fügte Lieder ein, die z. B. von Johannes Brahms vertont wurden und die dazu verhalfen, dass der Stoff noch heute lebendig ist. Abschließend kann folgendes hervorgehoben werden: Warbeck folgt der französischen Vorlage genau, tilgt jedoch oder ändert Gewagtes ebenso wie Konfessionelles. Warbecks Übertragung könnte man eher als Übersetzung bezeichnen. Wie alle Prosaromane hat die Schöne Magelone, deren Autor und Vorlage bekannt sind (was einen Ausnahmefall darstellt), und in der Folgezeit eine große Resonanz gekannt hat, eine erzieherische Funktion. Soll das bedeuten, dass die Prosaromane, die im Medium des Druckes verbreitet waren, generell zur Belehrung der sowohl bürgerlichen als auch adligen Leserschaft bestimmt waren?

 J.-D. Müller, Die Romane des …, Stellenkommentar, S. 1248.

2.2 Prosaroman

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2.2.2.3 Wilhelm Saltzmanns Übersetzung des Kaiser Oktavianus als Bearbeitung des französischen Prosaromans Florent et Lyon, Enfans de lempereur de Romme, und die jiddische Historie des Kaiser Octaviano Als letztes Beispiel wähle ich die Octaviano-Tradition vom altfranzösischen Roman Octavian bis zum altjiddischen Kaiser Octaviano. Dies wird mir erlauben, die gesamte Bearbeitungskette zu untersuchen, von einer altfranzösischen Versdichtung bis zu einem jiddischen Prosaroman, über eine französische Prosaauflösung, die ins Deutsche übertragen worden ist; dieser deutsche Prosaroman ist es, der dann ins Jiddische übersetzt worden ist. Am Anfang der heute bekannten Tradition des Octavian-Romans ist ein französischer, in paarweise gereimten Achtsilbern verfasster Text, der dem Stoff nach zum großen Zyklus der Karlsepen gehört und der in einer einzigen Handschrift überliefert und in seiner Datierung im 13. Jahrhundert umstritten ist.²⁸² Er wurde unter dem Titel Octavian veröffentlicht²⁸³; ob es ein Roman ist oder eine „späte Chanson de geste-Dichtung mit Erzählmotiven des späthöfischen Romans, aber mit charakteristischen Stilmerkmalen der Chanson de geste, wie z. B. dieser Anrede an das Publikum (v. 1– 6)“, wie es Xenja von Ertzdorff meint²⁸⁴, ist schwer zu entscheiden. Wie Werner Röcke hervorhebt, „zeichnen sich die Prosaromane des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit dadurch aus, dass sich die Grenzen zwischen den Gattungen auflösen“.²⁸⁵ Letzterer Text ist die Vorlage einerseits einer Fassung aus dem 14. Jahrhundert, in Alexandrinern geschrieben (16000 –

 Paul Zumthor, Histoire littéraire de la France médiévale (Vie-XIVe siècles), Paris, PUF, 1954, S. 254, datiert ihn auf die Zeit zwischen 1229 und 1244.  Octavian. Altfranzösischer Roman. Nach der Oxforder Handschrift Bodl. Hatton 100. Zum ersten Mal hg. von Karl Vollmöller, Heilbronn 1883 (Altfranzösische Bibliothek 3) (Nachdruck Wiesbaden 1967). Im Grunde hätte der Titel Othevien heißen sollen.  Siehe Xenja von Ertzdorff, „Chanson de geste und Prosa-Romane des 15./ 16. Jahrhunderts: ‚Kaiser Octavian us‘“. In: Wolfram-Studien XI. Chansons de geste in Deutschland. Schweinfurter Kolloquium 1988. Hg. von Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe, Berlin 1989, S. 227– 242 (hier S. 228). (Neugedruckt in: Xenja von Ertzdorff, Spiel der Interpretation. Gesammelte Aufsätze zur Literatur des Mittelalters und der Neuzeit. Hg. unter Mitwirkung von Rudolf Schulz (Redaktion) und Arnim-Thomas Bühler (Layout), Göppingen, Kümmerle, 1996 (GAG 597), S. 463 – 479. Siehe auch Die Romane von dem Ritter mit dem Löwen. Hg. von Xenja von Ertzdrff unter redaktioneller Mitarbeit von Rudolf Schulz, Amsterdam – Atlanta, GA 1994.  Werner Röcke, „Das Spiel mit der Geschichte. Gebrauchsformen von Chanson de geste und Roman in der Histori von dem Keyser Octaviano“. In: Anfänge des Romans. Herausgeber dieses Heftes: Wofgang Haubrichs. LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. 89 (1993), S. 70 – 86. Das Zitat befindet sich auf S. 70. Dennoch trifft diese Bemerkung schon auf die französische Vorlage zu! Siehe auch Ludwig Kessler, Der Prosaroman vom Kaiser Oktavian (Eine Stoffund Stilanalyse). Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt a. M., Limburg an der Lahn 1930.

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2 Die erzählende Literatur

18576 Verse), die dann in Prosa umgeschrieben worden ist (handschriftlich überliefert), andererseits einer Prosaauflösung²⁸⁶, zuerst Lyon et Florent betitelt, später Florent et Lyon, Enfans de lempereur de Romme (ed. princeps Lyon, 1500²⁸⁷ und zahlreiche spätere Drucke). Der Erstdruck diente Wilhelm Saltzmann als Vorlage für seine Übersetzung, die 1535 bei Bartholomäus Grüninger in Straßburg als Folioband erschien. Hans Sachs schrieb 1555 „ein comedi“, die „genau dem deutschen Volksbuch folgte. „Ein comedi mit zwey- und zweyntzig personen, die vertrieben keyserin mit den zweyen verlornen söhnen, und hat sechs actus“.²⁸⁸ Ludwig Tieck, der schon die Magelone und Genoveva neu gedichtet hat, arbeitete 1801/02 auch den Kaiser Octavian zu einem Lustspiel in zwei Teilen um²⁸⁹. Erwähnen wir noch die Nacherzählungen von Marbach und Simrock.²⁹⁰ Kurz, alle überlieferten, hier angeführten Textzeugen der Octavian-Tradition gehen also direkt oder indirekt auf die älteste überlieferte Hs. Hatton 100 zurück.

 Noëlle Laborderie, Florent et Octavien, Chanson de geste du XIVe siècle. Zwei Bände, Paris, Champion, 1991. Doutrepont, Georges, Les mises en prose des épopées et des romans chevaleresques du XIVe au XVIe siècle, Bruxelles, Palais des Académies (Académie royale de Belgique. Classe des lettres et des sciences morales et politiques. Mémoires, 2e s., 40), 1939 [réimpr.: Genève, Slatkine, 1969], S. 176 – 184. Für eine vollständige Bibliographie siehe „Florent et Lyon“. In: Nouveau répertoire de mises en prose XIVe-XVIe siècle, publié chez Garnier en 2014 par un quatuor emmené par Maria-Colombo-Timelli, S. 239 – 244.  Florent et Lyon. Wilhelm Saltzmann: Kaiser Octavian us. Hg. von Xenja von Ertzdorff und Ulrich Seelbach. Unter Mitwirkung von Christina Wolf, Amsterdam – Atlanta, GA, Rodopi, 1993. Neuhochdeutsche Übersetzung: Die deutschen Volksbücher, gesammelt und in ihrer ursprünglichen Echtheit wiederhergestellt von Karl Simrock, 2 Bände, Frankfurt, 1865. Erste Ausgabe, die der Übersetzung Salzmanns zugrunde liegt (vgl. den kritischen Apparat der Ausgabe von Xenja von Ertzdorff und Ulrich Seelbach, S. 319): A) Lyon et florent. Col. Imprime a lyon par Martin hauard lan mille cing cens le .xxiij. de octobre. Lyon, Bibliothèque municipale. Inc. 903 (aus Gotha); Zweite Ausgabe: B) Florent et Lyon. Colophon : Imprime a Lyon par Oliuier Arnoullet demourant pres de nostre dame confort. Lan Mil. CCCCC. Et. Xxvj. Et le penultiesme de May. Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 142,3 Quodl. (4).  Hans Sachs. Hg. von Adalbert Keller, Band 8, Stuttgart 1879, Nachdruck Hildesheim 1964, S. 161– 196.  Ludwig Tieck’s Schriften. Erster Band. Kaiser Octavian us. In zwei Theilen, Berlin 1828 (Nachdruck Berlin 1966).  Geschichte vom Kaiser Octavian us, welcher sein Ehgemahl und seine zwei Söhne in das Elend verschickt und endlich wieder gefunden hat, Leipzig 1838 (Volksbücher, hg. von Gustav Oskar Marbach, Nr. 6). Eine schöne und kurzweilige Historie vom Kaiser Octavianus, seinem Gemahl und zwei Söhne, Berlin 1846 (Deutsche Volksbücher, nach den ältesten Ausgaben wiederhergestellt von Karl Simrock, Bd. XI) (Nachdruck Hildesheim, New York 1974).

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2.2.2.3.1 Zusammenfassung der Handlung In der ersten französischen Fassung wird erzählt, dass die Ehefrau des Kaisers Othevien wegen der Geburt von Zwillingen verleumdet wird. Sie flieht mit ihren Söhnen, die von Tieren entführt werden, der erste von einem Affen, der zweite von einem Löwen. Ein Pilger, namens Clemens, erbarmt sich des ersten, nimmt ihn mit nach Paris und erzieht ihn im christlichen Glauben zu einem Metzger bzw. zu einem Kaufmann und zu einem Bürger. Sein Bruder Othevien geht nach Jerusalem. Als der Sultan mit seiner sarazenischen Armee gegen Paris zieht, erweist sich Florent, dessen hohe Abkunft, obwohl er bürgerlich erzogen worden ist, immer wieder durchbricht (wie Parzival ist Octavian zwar als Ritter geboren, aber nicht als Ritter erzogen), in der Schlacht als echter Ritter und gewinnt die Liebe einer schönen Sarazenin. Diese entführt er, bevor er gefangen genommen wird, indem er seinem Bruder zu Hilfe eilt; später interveniert auch der junge Othevien, dem sein Löwe auf Fuß und Tritt folgt, und befreit Vater und Bruder. Der Sieg über die Sarazenen wird gefeiert, und Florent heiratet seine schöne Sarazenin, die aus Liebe ihren Vater verleugnet und ihren Göttern abschwört. Zum Schluss ist die Familie wieder vereint. Und dies alles nach 1453…nach dem Fall Konstantinopels! Dies entspricht im Großen und Ganzen dem ersten Teil der Fassung in Alexandrinern, deren Autor seine Vorlage erweitert hat.²⁹¹ Dieses spannende Werk hat sich einer großen Beliebtheit erfreut: Die achtsilbige Fassung wurde zweimal im Mittelenglischen adaptiert (14. Jahrhundert); es gibt ebenfalls Übersetzungen ins Deutsche, ins Italienische [eingegliedert in die Reali di Francia (Bologna, 1900, S. 176 ff.) und in die Storie di Fioravanie (Il libro delle Storie di Fioravante, Bologna 1872, S. 444 ff.)],ins Dänische, Isländische, Niederländische und ins Polnische (1569). Es ist unmöglich, zu wissen, ob der deutsche Druck auf einen Druck oder eine handschriftliche französische Vorlage zurückgeht, da der Erstdruck der französischen Vorlage verlorengegangen ist und die Überlieferung der französischen Fassung kompliziert und lückenhaft ist.

2.2.2.3.2 Bearbeitungstendenzen des deutschen Prosaisten²⁹² Ein Vergleich zwischen den französischen Vers- und Prosaversionen würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen.²⁹³ Für den Vergleich zwischen dem

 Noëlle Laborderie, Florent et Octavien, Chanson de geste du XIVe siècle. Zwei Bände. Paris, Champion, 1991, S. CXXX-CXC.  Xenja von Ertzdorff, „Chanson de geste und Prosa-Romane des 15./16. Jahrhunderts: ‚Kaiser Octavian us‘. S. 227– 242.

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2 Die erzählende Literatur

deutschen Prosaroman und seiner französischen Vorlage können dennoch Stichproben hilfreich sein. Zunächst sind die Rubriken der beiden Fassungen, die den Text der Erzählung in Unterteile gliedern, besonders aufschlussreich. Anhand der Liste der Rubriken geht klar hervor, wie beide Autoren die gleiche Geschichte narratologisch gleichermaßen erzählen, sogar bis in die gleiche Unterteilung. Die Eigennamen bleiben gleich. Die Rubriken sind gleichlautend. Gelegentlich fehlt ein Titel in einer der Fassungen, oder einer der Autoren fasst zwei Titel in einem einzigen zusammen. In diesem Fall greift der Deutsche den Titel des darauffolgenden Kapitels auf. An den Lücken, die man beim Schriftbild des französischen Textes feststellt, sieht man, dass der deutsche Übersetzer den Text der Vorlage etwas ausweitet.²⁹⁴ Handlungslücken im französischen Original werden des Öfteren vom deutschen Übersetzter ausgefüllt. Der deutsche Übersetzer, Wilhelm Saltzmann, erweitert stark die Rolle des zweiten Sohnes des Kaisers, Lyon, der glanzvolle Taten vollbringt (er bewirkt letztendlich die allgemeine Aussöhnung) und den der Franzose dann am Schluss der Erzählung in den Schatten seines Bruders stellt. Im französischen Text liest man nur, dass der Kaiser „le fit cheualier et puis le maria et luy donna pour femme la plus belle dame de sa contree“ (302, 6 – 8), ohne zu präzisieren, in welches Land Lyon sich begibt. Saltzmann übersetzt getreu: „Darnach schlGg der Keyser seynen sun Lyon zG Rytter“. Dann ändert er den Text und fügt hinzu, der König von Spanien habe ihn seine Tochter zur Frau gegeben (303, 11– 12), was er danach stark ausweitet, indem er dem Lyon ein ganzes Kapitel widmet („Wie der edel Ritter Lyon in Hyspania auff ein Thurnier rytt/ vnd jm durch seine mnnlihe thaten/ des Künigs auß Hyspania tochter Rosamunda gennt vermhelt wardt.“, 303, 14– 16). Der am Schluss etwas stiefmütterlich behandelte Lyon vollbringt in

 Für die Überlieferung der deutschen Fassung siehe Theresia Friderichs-Berg, Die ‚Historie von dem Kaiser Octavian o‘. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu den Druckausgaben eines Prosaromans des 16. Jahrhunderts und seiner jiddischen Bearbeitung aus dem Jahre 1580, Hamburg, Helmut Buske Verlag, 1990 (jidische schtudies 3), S. 160 – 184. Der deutsche Roman wurde sogar in das Buch der Liebe aufgenommen (Edition von Feyerabendt), zusammen mit z. B. Magelona, Ritter Galmy, Tristrant, Florio und Bianceforra, Medlusine, Ritter von Thurn, Ritter Pontus, Herzog Herpin, Wigoleis vom Rad (S. 180 – 183). Für die Holzschnitte siehe S. 270 – 390.  Dies hat Ludwig Kessler, Der Prosaroman vom Kaiser Oktavian…, S. 16 – 17 und 21– 26, mit anderen Beispielen schon geschrieben. Der Kritiker schreibt ebenfalls, dass Saltzmanns Darstellungen „mit echtem Humor gewürzt sind“ (S. 17– 21), oder drastisch sind (S. 27– 32); er stellt auch Übertreibungen fest (S. 33 – 34) oder „Erklärungen für das schwerfällige Publikum“ (S. 34– 36), „Missverständnisse“ (S. 36 – 37) „Freude an Kleidern und Waffen“ (S. 37– 38), „lyrische Sentimentalität“ (S. 38 – 40, d. h. seine Freude an der Darstellung, oder „Sympathie und Antipathie“ [S. 40 – 42]), d.i. seine Empathie.

2.2 Prosaroman

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Spanien anlässlich eines Turniers „mnnliche thaten“ (309, 9 – 10 „dann warlich jr habt Ritterlich gefochten“) und gewinnt danach hierdurch die Hand der Tochter des spanischen Königs, Rosamunda. Nach der Hochzeit kehrt er mit seiner Ehefrau nach Rom zurück, und beide werden vom Kaiser „gar wol empfangen“ (309, 32). Saltzmann hat wohl diese Erzählmotive seiner Vorlage hinzugefügt, „um für Lyon eine Entsprechung zur Geschichte des Florent als König von England zu schaffen“²⁹⁵, und womöglich hat er sie dem zeitgenössischen Roman Die schn Magelona in der Übersetzung von Veit Warbeck entlehnt.²⁹⁶ Danach kehrt Saltzmann zu seiner Vorlage zurück: „Comment florent fut couronne roy dangleterre“ (310, 1);„Wie Florent zG einem Künig in Engelland gekrnt ward“ (311, 1), was eine Anspielung auf die historische Realität sein könnte, wie Bossuat es vermutet.²⁹⁷ Ein weiteres Beispiel hierfür: Die Überschrift auf Seite 98 erwähnt, dass der König von Frankreich die Kathedrale von St. Denis bauen lässt. Dieser Hinweis auf St. Denis fehlt in der deutschen Übersetzung: „Wie dem Künig auß Franckreych botschafft kam/ wie die Türcken vnd heyden mit gewalt jn sein land geuallen weren/ vnd wolten das gantz vnd gar zerstren vnd verderben/ vnd wie der Künig vast darab bekümmert ward“ (99, 1). Doch erwähnt Wilhelm Saltzmann diese Tatsache im Text des nächsten Kapitels selbst: „Auch hette er sich eins solchen nit versehen/ wann er hette sant Dyonisius Münster angehebt zG bauwen“ (101, 12– 14). Nach ihm ist St. Denis „ein warer fundator vnd stiffter“ (101, 22), was bei dem Franzosen nicht der Fall ist: der deutsche Adaptor unterstreicht die Rolle des Heiligen als religiöses Oberhaupt. Ich möchte ebenfalls darauf verweisen, dass der Adaptator in diesem Zusammenhang das ausdrücklich sagt, was im französischen Text nicht ganz klar ausgedrückt war und noch dazu abermals das Religiöse seines Textes betont: „iamais vostre esglise ne sera parfait/ les payens la mettront en exil et en feront a leur guise. Ha seigneur saint denis sauluez ma cite de paris“ (100, 14– 15)//„so wirt dein Münster nimmer auß gebauwen/ Wann die ungleubigen warden es zerstren/ vnd nach jrem gefallen ein Heydnischen Tempel daruß machen. O du heyliger herr sant Dyonisi beschirme mein statt Paryß. Also sprach der frum Künig Dagobertus offt so er alleyn was auß andacht jn seinem hertzen. Auch ward sein gebett zG letst erhrt.“ (101, 30 – 31).

 Florent et Lyon. Wilhelm Salzmann: Kaiser Octavian us. Hg. von Xenja von Ertzdorff und Ulrich Seelbach…, S. 389.  Florent et Lyon. Wilhelm Salzmann: Kaiser Octavian us. Hg. von Xenja von Ertzdorff und Ulrich Seelbach…, S. 389.  Von Theresia Friderichs-Berg zitiert (Die ‚Historie von dem Kaiser Octavian o‘. Überlieferungsgeschichtliche Studien zu den Druckausgaben eines Prosaromans des 16. Jahrhunderts, S. 163 – 164).

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2 Die erzählende Literatur

Das französische Werk ist ein Loblied auf das über die Sarazenen triumphierende Christentum. Dies wird vom deutschen Übersetzer schon in seiner „Vorred diser Historien“ hervorgehoben: „Auch wie der Soldan oder knig vß babilonia mitt grosser macht inn Franckreich zoch/ vnd wolt den knig zG Franckreich vertriben hon. auch warden ihr hren wie der Solldan/ überwunden gefangen vnd zG Pariß getaufft ward vnd mGst dem knig zG franckreich sein lben lang ein grosse tribute geben“ (6, 30/ 7,1). Florent bezeichnet sich selbst in der deutschen Übersetzung (213, 22– 24) (und nicht in der Vorlage, S. 212) ausdrücklich folgendermaßen: „Auch ist er ein getrüwer merer der Christenheyt und ein zerstrer der Abgtterey/ vnnd vorab ewers got Machon“. Darüber hinaus findet Florent die Zeit, seiner Geliebten in einer Kampfpause einen kurzen Unterricht über den christlichen Glauben zu erteilen (261, 16). Diese religiöse Haltung dominiert in der gesamten Übersetzung. Der deutsche Übersetzter streicht zwar den Hinweis seiner Vorlage auf „la saincte foy catholique“ (48, 19), „ennemys de la saincte foy catholique“, den er folgendermaßen übersetzt: „wider den Cristlichen glauben“ (49, 29); er tilgt auch die Formel „qui luy iura sur les saintz“ (48, 2). Nichtdestotrotz misst er dem Heiligen Dionysus wie im Katholizismus eine vermittelnde Funktion bei. Die Gottesmutter wird wie in der Vorlage angerufen:“pour remercyer dieu et sa doulce mere et aussi les Glorieux apostres“ (13, 2– 3)// „vnd wil Gott dem herren/ vnnd seiner lieben mGter/ auch seinen heiligen zwolff botten/ lob vnnd dancksagen“ (15, 3 – 4); die Kaiserin bittet Gott und „sa doulce mere“ (32, 28) // „sein wirdige MGter“ (33, 27) um Hilfe. Vgl. auch 129, 31– 35 // 128, 18 – 20. Auch die Heiligen werden um Hilfe gebeten:“bey allen seinen lieben heyligen die bey jm in dem himel sindt“ (61, 29 – 3) // „et par tous les sainctz et sainctes de paradis“ (60, 34– 35), der Deutsche streicht lediglich die Wunder, die Gott macht (60, 35). In beiden Texten (60, 20 – 22 und 61,14– 17) beichtet die Kaiserin, und im deutschen Text gibt ihr der Priester die Absolution („ein absolutz“ 61, 18); im französischen 60, 23 ist die Rede von „la benediction“ und von „leau benoite“. In ihrem Meineid nennt die böse Schwiegermutter „saint marcel“ („par la foy que ie doy a saint marcel“ 16, 13)// „sant Martzell“ („bei der trew die ich sant Martzell schuldig bin“ 17, 21). Schon Ludwig Kessler betont „die religiöse Haltung Saltzmanns“.²⁹⁸ An den Beispielen, die ich selbst gegeben habe, kann man klar sehen, dass er ein Katholik  Ludwig Kessler, Der Prosaroman vom Kaiser Oktavian…, S. 12– 16. Ich verweise auf sein Buch und die Beispiele, die er gegeben hat und an denen „sich eindeutig die religiöse Haltung des Übersetzers (ergibt). Man wäre versucht, ihn sogar für einen Priester zu halten“. Er betont den katholischen Einschlag zu einem Zeitpunkt (1835), „in dem die Reformation schon Ereignis geworden war“ (S. 15). Doch fügt er hinzu: „Jedenfalls hat er auch den Wellenschlag der Reformation

2.2 Prosaroman

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war, der vielleicht um die Reformation wusste, doch sich für den Katholizismus entschieden hatte. Dies ist die wichtigste Ursache für die Abweichung des deutschen Textes gegenüber dem französischen. Denn außer der starken Erweiterung der Rolle des zweiten Sohnes des Kaisers, Lyon, folgt Wilhelm Saltzmann seiner Vorlage sehr getreu, wie in einer richtigen Übersetzung.

2.2.2.3.3 Die jiddische Historie von dem Kaiser Octaviano Max Weinreich bezeichnet die jiddische Sprache als eine „langue de fusion“ (shmeltssprakh) (zwei Sprachen verschmelzen zu einem einheitlichen Ganzen), denn sie hat sich im Kontakt mit umliegenden Sprachen und Dialekten gebildet, mit denen sie zahlreiche gemeinsame Züge und eben so viele spezifische Unterschiede hat, und die ältere jiddische Literatur als eine „littérature de fusion“ (shmeltsliteratur) (zwei Literaturen verschmelzen zu einem einheitlichen Ganzen), denn in ihnen kristallisieren sich zahlreiche, den mittelalterlichen europäischen Literaturen eigene Züge und in Verbindung mit den hebräischen Quellen stehende Charakteristika heraus²⁹⁹. Sie sind ein Beispiel von „Kulturtransfer“, das von der linguistischen Durchlässigkeit zeugt, die zwischen der jüdischen Sprache und und den umliegenden Sprachen existiert hat, und auch zeigt, dass die Juden sich nie geweigert haben, sich mit anderen Bevölkerungen zu mischen³⁰⁰. Hier nehme ich als Beispiel von „älterer jiddischer Literatur“ die Adaptation ins Jiddische des deutschen Prosaromans aus dem 16. Jahrhundert vorstellen, Die Historie von dem Kaiser Octaviano (1580)³⁰¹. Grundlage für die Behandlung der jiddischen Adaptation in Kaiser Oktaviano (das mayse der Kaiserin mit tsway zünen) ist die Handschrift Bayerische Staatsbibkliothek Cod. Hebr.100, die drei von unseren jiddischen Bearbeitungen enthält und von Aliza Cohen-Mushlin beschrieben worden ist.³⁰² Drei Schreiber sind zu unterscheiden. Derjenige, der Die Historie von dem Kaiser Octaviano geschrieben hat, ist Yitzhak bar Yuda Reutlingen (Schreiber und Künstler, 1580 – 1585). Die Handschrift wurde in Tannhausen (im heutigen Baden-

empfunden. Aber eine eindeutige Stellungnahme zu ihr (zur Reformation) lässt sich kaum beweisen. Seine Frömmigkeit […] ist mehr eine kindliche.“ (S. 16).  Jean Baumgarten, Introduction à la littérature yiddish ancienne, Paris, Les Editions du Cerf, 1993, S.163.  Jean Baumgarten, Introduction à la littérature yiddisch ancienne, 1993, S. 163.  Die Historie von dem Kaiser Octavian o, Augsburg ca. 1568; hg. von Theresia Friderichs-Berg, Hamburg, Buske, 1981– 1990 (Jidische schtudies = Ydishe studies, Bd. 1– 3, Jidische schtudies, Bd. 1– 3).  Beschreibung der hebräischen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek (im Druck).

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2 Die erzählende Literatur

Württemberg) geschrieben. Die Sprache ist ein ostschwäbisches Jiddisch, das in der Nähe von Augsburg, zwischen Tübingen und Ulm, gebräuchlich ist. Der Text der Münchner Handschrift ähnelt teilweise dem des Augsburger Druckes von Mattäus Franck (ca. 1568). In unserem Fall haben wir eine ungebrochene Texttradition.

2.2.2.3.4 Bearbeitungstendenzen in den einzelnen Texten Das französische Werk ist ein Loblied auf das über die Sarazenen oder Muslime d. h. in dem Sprachgebrauch des Mittelalters die Heiden triumphierende Christentum. Die Kämpfe werden als christliche Ruhmestaten interpretiert. Sie verhelfen dem Christentum zum Sieg über die Heiden. König Dagobert, der im Werk eine wichtige Rolle spielt, hat zum Sieg gegen die Heiden beigetragen, indem er alle Herrscher der Nachbarländer zur Unterstützung im Kampf aufgerufen hat. Außerdem heiratet zum Schluss der eine Sohn, Lyon, die Tochter des Königs von Spanien, Florent herrscht als rex iustus et pacificus in England. Andererseits wird das in der Vorlage angedeutetete Kreuzzugsmotiv herausgestrichen, eine Änderung, die sich wohl durch die Tatsache erklären läßt, dass das Werk nach der Eroberung Konstaninopels 1453 verfaßt wurde: In Kaiser Octavianus wie z. B. im Pontus und Sidonia (Erstdruck 1483, nachgedruckt 1498 bei Johann Schönsperger in Augsburg) so wie in der Wirklichkeit ziehen die Heiden gegen die Christen in den Krieg.³⁰³ Aus allen diesen Gründen versteht man gut, dass die christlichen Elemente in der jiddischen Bearbeitung getilgt werden³⁰⁴, so die Anspielungen auf die „Sainte Vierge Marie“ oder auf „Jesu Crist“, und dass die Geschichte selbst judaisiert, „in jüdische Denk- und Rezeptionsmuster eingegliedert“ wird³⁰⁵. Die Welt, in der die Handlung spielt, wird nun jüdischen Lebensformen angepasst. Zum Beispiel tritt Florent, einer der Zwillinge, der miles christianus, als frommer Jude auf, und seine Mutter, des Kaisers Ehegattin, kennt sich gut in der jüdischen Tradition aus. So denkt sie, als sie ihr Kind und die Löwin sieht, gleich an Daniel in der Löwengrube; dazu kommt der Umstand, dass Daniel die verleumdete Frau rettet, die zweite Problematik unseres Textes. Der jüdische Umdichter tilgt die Stellen, die dazu bestimmt sind, die christlichen Leser zu erbauen, oder er weicht Elementen, die der jüdischen Religion fremd sind, aus:

 Ludwig Kessler, Der Prosaroman vom Kaiser Oktavian…, S. 42.  Dabei stütze ich mich auf das Buch von Theresia Friderichs-Berg (Die ‚historie von dem kaiser octaviano‘).  Op. cit., S. 12.

2.2 Prosaroman

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„Sie hetten ihn auch von stund an lassen taufen“ (sie tauften ihn)// „un hissen das kind mit seynum namen Vlorenus“ (sie nannten das Kind Florenus) „da die Bilger mit irer Galeen auff hetten gekert […] das es Christen Leut waren“ (die Pilger sind auf ihre Boote zurückgekehrt […] es waren Christen) // „do di kauflöut mit irem shif hate nous gestanden |…] das es goyim waren“ (Da sind die Kaufleute auf ihren Schiffen geblieben […] es waren goyim)³⁰⁶.

An einer anderen Stelle des jiddischen Textes verpflichtet sich die Heldin Marcebilla dazu, nicht wie in der deutschen Fassung sich zum Christentum zu bekehren, sondern Jüdin zu werden: „Auch von ewrend wegen will ich meinem Glauben verlassen und dem Gott mahon verleugnen vnnd den christlichen Glauben annemen vnnd wie ein fromme Christin mich halten“ (um Euretwillen will ich auf meinen Glauben verzichten, den christlichen Glauben annehmen und mich wie eine fromme Christin benehmen) // „vun oueret wegen wil ikh mayna emuna ver lossen un oueren glauben an nemen un ayn vrumen yuden warden“ (und um Euretwillen will ich meinen Glauben aufgeben und den Euren annehmen, um eine fromme Jüdin zu werden).

Im allgemeinen folgt der Bearbeiter der Rahmenhandlung sehr getreu, nimmt daran nur geringfügige, oberflächliche Änderungen vor, aber er passt manche Details einem jüdischen Publikum an. So gebraucht er hebräische oder aramäische Termini, schwächt christliche Elemente ab oder judaisiert sie, er schreibt Prologe und Epiloge um, indem er die jüdischen Werke nachahmt, die immer mit einem Lob auf Gott beginnen und mit messianischen Betrachtungen enden. Kurz, alle Änderungen, die der jiddische Umdichter vornimmt, oder Zusätze, die er macht, dienen dazu, sich die christlichen Heldenepen oder Romane anzueignen oder in eine für ein jüdisches Publikum geeignete Unterhaltungsliteratur umzuwandeln. Diese Werke spielen eine grosse Rolle in der Geschichte der älteren jiddischen Literatur. Es sind nicht zu übergehende literarische Schöpfungen. Die Autoren kennen sich in Inhalt und Form der mittelhochdeutschen Literatur aus, in der Heldenepik ebenso wie in den höfischen Romanen; sie berücksichtigen auch die hebräischen Texte. Zum ersten Mal wird die jiddische Sprache als Literatursprache verwendet, und nicht nur für theologische oder pädagogische Zwecke. Die Überlieferung von jiddischen Prosaromanen zeugt von den engen Beziehungen zwischen der jüdischen und der christlichen Gemeinschaft und von der Rolle der Juden als Umdichter, Übersetzer und Vermittler von Themen und Gattungen, die aus den umgebenden Literaturen stammen. Die Autoren eignen sich fremde Formen und Themen an, die im Mittelalter unter der Bevölkerung  „Goyim“: jüdische Bezeichnung für Nichtjuden.

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2 Die erzählende Literatur

beliebt waren, schreiben sie um und verwandeln sie in eine jüdische Literatur. Diese Aneignungsfähigkeit, die die Grundlagen des Judentums nicht vernachlässigt, bleibt eines der konstanten Merkmale der älteren jiddischen Literatur. Diese Texte zeugen ebenfalls von der Fruchtbarkeit des Kulturtransfers zwischen zwei benachbarten Welten, die in der jüdischen Kultur ständig zu beobachten ist, ohne dass die jüdische Tradition außer Acht gelassen wird³⁰⁷. Die jiddischen Adaptationen von mittelhochdeutschen Romanen heben sich aber stark vom Dukus Horant ab, einem Werk, das im ausgehenden 13. Jahrhundert geschrieben worden ist.³⁰⁸

2.2.2.3.5 Schlussbetrachtungen Die Arbeitsmethoden des jiddischen Umdichters gegenüber seiner Vorlage sind nicht selten der Gattung „Bearbeitung“ zuzuordnen. Sie gleichen denjenigen katholischer oder evangelischer Bearbeiter eines evangelischen oder katholischen Textes, den sie in jeweils ihre Glaubensrichtung umdeuten. Beim Transfer zwischen zwei Kulturen gibt es keinen Unterschied bei jiddischer und bei katholischer oder protestantischer Literatur: jüdische, protestantische oder katholische Autoren passen ihre Texte ihrem Publikum an. Auch die ältere jiddische Literatur ist ein hervorragendes Beispiel fur Kulturtransfer.

 Für diese Ausführungen stütze ich mich auf Jean Baumgarten, Introduction à la littérature yiddisch ancienne, 1993, S. 197– 200.  Siehe Dukus Horant. Hg. von P. F. Ganz, F. Notman, W. Schwarz. Mit einem Exkurs von S. A. Birnbaum, Tübingen 1964. Siehe auch Jean Baumgarten, Introduction à la littérature yiddisch ancienne, 1993, S. 168 – 171.

3 Die Tierepik: Der Roman de Renart und seine deutsche Adaptation, Reinhart Fuchs Das älteste uns bekannte Tierepos des europäischen Mittelalters ist ein lateinisches Hexametergedicht aus dem 10. Jahrhundert, geschrieben von einem anonym gebliebenen Mönch aus Toul. Es trägt den Titel Ecbasis cuiusdam captivi per tropologiam (Flucht eines Gefangenen mit moralischer Sinngebung). Mitte des 12. Jahrhunderts entsteht der gleichfalls in lateinischen Versen abgefasste Ysengrimus, geschrieben von einem Magister Nivardus van Gent. Das erste volkssprachige Tierepos tritt in Frankreich auf: es ist der Roman de Renart. Der Roman de Renart ist in Kapitel eingeteilt, die Branchen heißen. Die ersten Branchen sind im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts entstanden und wurden von ungefähr 20 Dichtern niedergeschrieben, die aber anonym geblieben sind. Obwohl der Roman de Renart in Handschriften aus dem 13. Jh. überliefert ist, sind dessen erste Branchen viel früher entstanden. Die Branchen II und IVa gelten zwar als die ältesten (um 1170), aber es ist wohl anzunehmen, dass es schon früher Anthologien mit dem Fuchs als Zentralgestalt gab. Pierre de Saint-Cloud ist der Autor der Branchen II/Va (um 1170). Ich zitiere die ersten Verse der Branche II: „Ihr Herren, sehr viele Erzählungen habt Ihr schon gehört […]. Aber noch nie hörtet Ihr von der so überaus harten Fehde zwischen Renart und Ysengrin, die sehr lange dauerte und unerbittlich war. […] Fürwahr, manchen Kampf und manchen Waffengang gab es zwischen ihnen.“ Hier ist die Grundidee des RdR zusammengefasst, aus der sich alle weiteren Branchen ableiten lassen. Pierre de Saint-Cloud erzählt die vier Begegnungen des Fuchses mit Tieren, die er gern gefressen hätte: Das sind der Hahn Scantecler, die Meise, der Kater Tibert und der Rabe Tiecelin, die ihm alle entgehen können. Nach diesen vier Niederlagen des listigen Fuchses erzählt uns Pierre de Saint-Cloud den Besuch Renarts in der Höhle des Wolfes, wo er auf die Welpen uriniert und die Wölfin vergewaltigt. Vor dem Hof des Königs Noble klagt dann der Wolf gegen Renart, aber die Debatte wird unterbrochen, bevor der Schuldige bestraft wird. Einige Jahre später (gegen 1180) will ein Dichter den Prozess Renarts zu Ende führen (Branche I). Diese drei grundlegenden Erzählungen fixieren ein für allemal das Thema. Aber der Fuchs kann jedesmal entkommen und wird nie hingerichtet: Der Verurteilte kann jedesmal seine Freiheit wiedererlangen, sodass immer wieder Stoff für weitere Erzählungen ensteht. So schließen sich bis 1250 neue Branchen an. Die Branchen sind voneinander unabhängige, von verschiedenen Autoren geschriebene Erzählungen, die kein Ganzes bilden: die Form ist eine offene und die Struktur eine parataktische. Branche ist der treffende Terminus, denn der Stamm wird nie sichtbar. https://doi.org/10.1515/9783110597349-004

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Roman de Renart ist der Titel verschiedener Sammelhandschriften (die erste stammt aus den Jahren um 1205), in denen die Schreiber die zusammenhanglosen Geschichten zusammengestellt haben, in denen der Fuchs die erste Rolle spielt, außer den vier letzten Branchen, in denen der Fuchs nicht mehr auftritt. In den ersten Branchen (zwischen 1174 und 1205) ist der Fuchs als zwar listiger, doch eher sympatischer Schelm dargestellt, der Ysengrin die übelsten Streiche spielt: Renart verbrüht ihm z. B. den Kopf mit kochendem Wasser, wobei er ihm eine Mönchtonsur verpasst, er verleitet ihn dazu, seinen Schwanz in einen zugefrorenen Fischweiher zu hängen, wobei sein Schwanz festfriert und dann von einem herbeieilenden Ritter abgeschlagen wird, sodass Ysengrin schwanzlos entfliehen muss. Im 13. Jahrhundert verliert der Fuchs diesen Charakter des listigen Schelmes und wird zu einem Geist des Bösen, und das Komische tritt zurück. Der Erfolg des Werkes war so groß, dass der Eigenname Renart (aus dem Germanischen Regin-hart = „kundiger Ratgeber“ kommend) den Gattungsnamen goupil = Fuchs verdrängte. Der Roman de Renart wurde auch im Ausland berühmt: Er wurde ins Francoitalienische übersetzt (Rainardo e Lesengrino, 13. Jahrhundert) und ins Deutsche (Reinhart Fuchs, der gar nicht mehr komisch ist, sondern tragisch und pessimistisch). 1250 wurden mehrere Branchen von einem flämischen Dichter ins Flämische übersetzt: Van den vos Reynaerde. Im 14. Jahrhundert verfasste ein anderer flämischer Dichter das lange Gedicht Reinaert de Vos, das dann in niederländische Prosa übertragen, 1479 gedruckt, schließlich ins Niederdeutsche (Reynke de Vos, Lübeck, 1498) und ins Lateinische übersetzt wurde. Dieses Werk trug dazu bei, dass der Fuchs-Roman bis heute bekannt ist. 1481 wurde eine englische Übersetzung der Prosafassung gedruckt. Dann wurde der Reynke de Vos ins Dänische, ins Isländische, ins Schwedische übersetzt und die Liste endet mit Goethes Reinecke Fuchs. Goethes Fassung wurde mehrmals ins Französische übersetzt, und diese Fassung ist es, in der der Roman de Renart am häufigsten in Frankreich rezipiert wurde. Heinrich der Glîchezâre stützte sich auf die Branchen I, Ib, II, III, IV, V, Va, VI, VII, X, XIV, um sein eigenes Werk zu schreiben und daraus ein geschlossenes, durchkomponiertes Ganzes zu machen: Es ist der Reinhart Fuchs (entweder in den sechziger Jahren oder in den neunziger Jahren des 12. Jahrhunderts verfasst). Heinrich hat daraus ein negatives, warnendes exemplum gemacht: „Wer sich einem Ungetreuen überläßt, dem naht Leid, kann ich nur sagen. So ist es nun auch mir ergangen“, sagt Vrevel der König am Schluss der Erzählung (2238 – 40). Ute Schwab spricht von einer politischen Allegorie, jedenfalls ist der Reinhart Fuchs eine ätzende Satire, die Heinrich durch die Tierallegorie in Szene setzte.

3.1 Reinhart Fuchs als Bearbeitung des altfranzösischen Roman de Renart

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3.1 Reinhart Fuchs als Bearbeitung des altfranzösischen Roman de Renart ¹ Schon Lucien Foulet stellte die Frage: „Ist Heinrich der Glîchezâre ein Bearbeiter, oder ist er nur ein bescheidener Übersetzer?“²; und er hat es unternommen, zu zeigen, auf welche Weise er „eine komplette Geschichte von Renart und Isengrin (erzählt), die alle Ereignisse ihres Lebens enthält“ und „die einen Anfang und einen Schluss“ hat³. John Flinn seinerseits schrieb, man verdanke Heinrich „den ersten Versuch, alle Abenteuer Renarts in einem einzigen vollständigen und gemeinverständlichen Gedicht zusammenzuführen.“⁴ Die Untersuchung des ersten Gerichtstages und einiger Hauptthemen des Reinhart Fuchs hat gezeigt, dass Heinrich nichts erfunden hat. Ich werde versuchen zu zeigen, wie Heinrich ein kohärentes Werk mit einer klaren Gliederung verfasst hat. Die Anordnung der Episoden im Roman de Renart kann mit einer Art Parataxe gleichgesetzt werden, in der die verschiedenen Abenteuer des Fuchses und des Wolfs um einen Urkern agglutiniert wurden, die Branchen II und Va, die Pierre de Saint-Cloud zugeschrieben werden.Was die verschiedenen Branchen miteinander verbindet, ist lediglich die Rückkehr der selben Figuren. Der Roman de Renart ist

 Die benutzten Editionen sind folgende: Klaus Düwel, Der Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich. Unter Mitarbeit von Katharina von Goetz, Frank Henrichvark und Sigrid Krause herausgegeben von Klaus Düwel, Tübingen, Max Niemeyer Verlag, 1984; Buschinger, Danielle et Jean-Marc Pastré, Heinrich der Glîchezare, „Reinhart Fuchs“, Wien, Halosar, 1984; Karl-Heinz Göttert, Heinrich der Glîchezâre, Reinhart Fuchs, Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch, hgg. und erläutert von K. H. Göttert, Stuttgart, Reclam, 1976; Wolfgang Spiewok, Der Fuchs und die Trauben. Deutsche Tierdichtung des Mittelalters, Berlin, 1973/ Wiesbaden, 1978; Wolfgang Spiewok, Heinrich der Glichesaere, Fuchs Reinhart, mittelhochdeutsch/ neuhochdeutsch, Leipzig, Reclam, 1977; Le Roman de Renart. T. I, éd. bilingue. Trad. de M. de Combarieu du Grès et Jean Subrenat, Paris 1981 (zitiert). Le Roman de Renart. Edition publiée sous la direction d’Armand Strubel avec la collaboration de Roger Bellon, Dominique Boutet et Sylvie Lefèvre. Paris, Gallimard, 1998 (Bibliothèque de la Pléiade, n° 445).  Lucien Foulet, Le Roman de Renard, Paris 1914 (Nachdruck Paris, Champion, 1968 [Bibliothèque de l’Ecole des Hautes Etudes, fasc. 211]), S. 400: „Est-il un adaptateur, ou n’est-il qu’un humble traducteur?“  Lucien Foulet, Le Roman de Renard, S. 427: „une histoire complète de Renard et d’Isengrin qui embrassât les principaux événements de leur vie et qui eût un commencement, un milieu et une fin“.  John Flinn, Le Roman de Renart dans la littérature française et dans les littératures étrangères au Moyen Age. Toronto, University of Toronto Press, 1963, S. 548: „la première tentative de réunir toutes les aventures de Renart dans un seul poème complet et compréhensible“.

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„ein locker verbundenes Schwankkorpus“⁵, eine Aufeinanderfolge von Szenen, ja von unabhängigen Gedichten, die von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zeitpunkten verfasst worden sind, um ein zentrales Thema, die Auseinandersetzung zwischen Fuchs und Wolf. Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem Roman de Renart und den Romanen, die von den anderen deutschen Dichtern adaptiert worden sind. Die Anordnung der Episoden des Roman de Renart ist von einer Handschriftengruppe zur anderen unterschiedlich. Sie entspricht einer von den Schreibern in den Handschriften willkürlich vorgenommenen Aufstellung. Der Elsässer hatte seinerseits den Wunsch, die zahlreichen, voneinander unabhängigen Abenteuer des Fuchses und des Wolfes, wie sie gewisse einzelstehende Branchen des Roman de Renart (I, Ib, II, III, IV,V,Va,VI,VIII, X) erzählen, in ein kohärentes Ganzes zu gießen, das einen Anfang und einen Abschluss hat. Er will der Auseinandersetzung von Fuchs und Wolf eine finale Struktur geben und hauptsächlich eine Steigerung schaffen. Es geht – genauer gesagt – um eine doppelte Steigerung nach zwei Achsen, die beide im Roman de Renart ihren Ausgangspunkt haben und die Leitideen des ganzen Werkes ausmachen (die Geschichte der Liebschaften des Fuchses erfährt eine dritte Steigerung). 1) Wie es Hansjürgen Linke⁶ und Sigrid Krause⁷ gezeigt haben, stehen sich im ersten Teil des Reinhart Fuchs Reinhart und seine Verwandten feindlich gegenüber: Das Leitthema ist hier die Verwandtschaft, die Familie als Keimzelle der Gesellschaft. Im Roman de Renart gelten nur Chanteclerc und die Meise als Verwandte des Fuchses. Von dieser Grundidee ausgehend, weitet Heinrich die Verwandtschaftbande auf die zwei weiteren Gegner Reinharts aus, den Raben und den Kater, aus denen der elsässische Dichter die Vettern des Fuchses macht. Im zweiten Teil stehen sich Reinhart und der Wolf feindlich gegenüber: Um eine Steigerung in der Erzählung zu schaffen, macht Heinrich die weltliche Gevatterschaft (vielleicht die Waffengevatterschaft) – geselleschaft – zwischen dem Fuchs und Ysengrin durch den Pakt zu einer festen Einrichtung. Man könnte sogar dieses Bündnis zwischen Fuchs und Wolf als Verhältnis zwischen Dienstmann und Dienstherrn auslegen (V. 389 – 391); Heinrich ergänzt sie durch eine geistliche

 Karl-Heinz Göttert, Heinrich der Glîchezâre, Reinhart Fuchs…, Nachwort, S. 170.  Hansjürgen Linke, „Form und Sinn des Reinhart Fuchs“. In: Festschrift B. Horacek, Wien 1974, S.261.  „Le Reinhart Fuchs, satire de la justice et du droit“. In: Comique, satire et parodie dans la tradition renardienne et les fabliaux. Actes du Colloque de janvier 1983 du Centre d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie publiés par Danielle Buschinger, Göppingen 1983 (GAG 391), S. 139.

3.1 Reinhart Fuchs als Bearbeitung des altfranzösischen Roman de Renart

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Bruderschaft. Nun verbindet eine doppelte Gevatterschaft Reinhart und Ysengrin, eine Gevatterschaft, die schon im Keim im französischen Text vorhanden war: „compere ci et devant Dé“ (IV, V. 256), eine Formel, die RF, V. 902, „bruoder unde gevatere min“ entspricht. Dies ist ein weiterer Kreis als der im Grunde ziemlich enge Kreis der Verwandtschaft (im Großen und Ganzen die Branchen III, V, VI, IV, Va, II, mit der Anfügung von drei Elementen). Der dritte Teil führt Reinhart in den weiteren Rahmen des Staates und des Königstums, d.i. an den Hof von König Vrevel (Branchen I und X mit zahlreichen Additionen). 1) Diese erste Steigerung – Familie, weltliche und geistliche Gevatterschaft, Staat – wird mit einer zweiten verbunden, der zwischen den kleinen – schlauen, listigen – Tieren und den großen – dummen – Tieren, die Heinrich gleichfalls aufgebaut hat, indem er vom Roman de Renart ausgegangen ist: Er hat sein Werk mit der Auseinandersetzung zwischen einerseits Reinhart und andererseits nacheinander dem Hahn, der Meise, dem Raben und dem Kater begonnen, die auf der Hut sind und denen es gelingt, Reinhart hinters Licht zu führen, indem sie dieselbe Waffe wie der Fuchs gebrauchen, d.i. die List. In diesem Teil ist nicht die Rede vom Wolf, im Gegensatz zum Roman de Renart, wo Ysengrin in der Szene vom Kater Tibert auftritt (II, V. 700 ff.). Heinrich wird ihn erst später einführen. Andererseits vertauscht er die Episode des Katers und die des Raben, wahrscheinlich, um eine Steigerung zu schaffen, denn der Kater ist das größte der kleinen Tiere, die Reinhart angreift. Am Ende der Diepreht-Episode gerät der Fuchs in die Falle und hätte das Leben beinahe verloren, wenn der Bauer nicht so ungeschickt gewesen wäre (RF, V. 364– 379). Heinrich vertauscht beide Episoden ebenfalls, um das Angebot der Gevatterschaft besser zu motivieren (RF, V. 397), das Hauptthema des zweiten Teils: Der Fuchs überträgt seine eigenen Probleme auf den Wolf, indem er vorgibt, jener hätte viele Feinde. Im zweiten Teil greift Reinhart den Wolf als den Hauptvertreter der großen Tiere an: Um ihn zu betrügen, wirft er ihm das Bündnis der Stärke (vom Wolf) und der Klugheit (des Fuchses) vor. Dieses Thema des Bündnisses von Kraft und Klugheit, das im RdR gleichfalls angesprochen wird, ist der Ausgangspunkt dieses zweiten Teils des Werkes, in dem Heinrich mehrere Branchen vom RdR zusammenträgt: den Anfang der Branche V mit der Episode des Schinkens, den Reinhart erbeutet hat und den Ysengrin mit den Seinen frisst, ohne das geringste Stück für den Fuchs übrigzulassen. Diese Tat bleibt im RdR isoliert, während Heinrich sie benutzt, um die Tücke Ysengrins zu zeigen, der den Vertrag nicht erfüllt, den er mit dem Fuchs abgeschlossen hat. Außerdem schließt ihr Heinrich, der eine kohärente Geschichte erzählen will, die Rache des Fuchses an, der den Wolf und seine Familie in Rausch versetzt. Dazu benutzt der elsässsische Dichter höchst-

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wahrscheinlich die Branche VI, in der Ysengrin dem Löwen erzählt, wie Reinhart ihn trunken gemacht hat (VI, V. 704 ff.); danach übernimmt er von der Branche VI die Stellen, wo Reinhart dem Esel ein bequemes Leben und genug zu fressen verspricht (VI, V. 264 ff.; RF, V. 562 und Lücke, die man mit einem Sangspruch des Marner füllen kann)⁸. Heinrich fügt dieser Versprechung das Motiv der Entmannung des Wolfes hinzu, das er meinem Dafürhalten nach der Branche Ib (V. 2567 ff.) entnommen hat. Danach erzählt er die „moniage Ysengrin“, und auch hier bemüht sich Heinrich, die verschiedenen Szenen miteinander zu verbinden: So erwähnt er den Verlust von Ysengrins Zagel (V. 859) und seine Entmannung, die der Prior in seiner Dummheit für eine Beschneidung hält (V. 1012– 3). Die üblen Streiche, die Reinhart, das kleine Tier, Ysengrin, dem großen Tier, spielt, zeigen eindeutig, dass der Fuchs trotz seiner körperlichen Unterlegenheit dank seiner List (seiner Klugheit) dem Wolf überlegen ist. Die Überlegenheit des Fuchses über den Wolf ist ebenso offensichtlich in der Geschichte seiner Liebschaften mit Hersant. Diese Geschichte wechselt mit der Erzählung aller Fallen, in die Reinhart den Wolf lockt, nach der Technik der Verschachtelung (des „entrelacement“) ab. Indem er die Wölfin vergewaltigt, die ihn geringschätzte, weil er angeblich „zu swach“ (V. 433) sei (körperlich zu schwach), zeigt er, dass er eben so stark wie sie ist – da ihre Kraft ihr von keinem Nutzen ist (V. 1183 „ir kraft konde ir niht gefrumen“, ein Vers, der RdR II, V. 1336 – 7 entspricht) – und infolgedessen so stark wie der Wolf selbst. Dabei bleibt es aber nicht. Im deutschen Werk vergewaltigt Reinhart die Wölfin vor dem gesamten Hof, und man kann der Meinung sein, dass die Vergewaltigung von Hersant nicht nur die Rache Reinharts an Hersant, sondern auch an den großen Tieren ist, „manic tier vreisam“ (V. 1189), die vorher Reinhart wie Riesen erschienen (V. 1104 „die douchten Reinharten risen“), und alle an Ysengrins Seite waren (V. 1110 – 1 „swelich tier grozen lip hat,/ daz waz mit Ysengrine da“). Dadurch trifft Reinhart – der kleine Adlige – Ysengrin – den großen Adligen – und in seiner Person die gesamte soziale Gesellschaftsschicht des Großadels, der der Wolf angehört. Heinrich hat also ein Detail seiner Vorlage verwendet, die Einteilung der Tiere in kleine und große Tiere, um einen ersten Sieg Reinharts darzustellen, des Vertreters der kleinen Tiere, über die großen Tiere, deren Vertreter Ysengrin und Hersant sind. Die letzte Etappe spielt sich am Hof von König Vrevel ab, der der Vertreter schlechthin der Kraft und der Macht ist und der Reinharts List zu seinen Gunsten verwenden will, vor allem, um wieder gesund zu werden; aber auch hier erringt

 Philipp Strauch (Hg.), Der Marner. Mit einem Nachwort, einem Register und einem Literaturverzeichnis von H. Brackert, Berlin 1965, S.118, 121 ff.

3.1 Reinhart Fuchs als Bearbeitung des altfranzösischen Roman de Renart

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die List (die Klugheit) den Sieg über die Kraft, denn dank seiner Schlauheit (Reinhart schmeichelt dem Löwen, indem er vortäuscht, Mitleid mit ihm zu haben) instrumentalisiert der Fuchs Vrevel in seinem Kampf gegen alle Tiere. Während beim ersten Gerichtstag große und kleine Tiere ihren Einzug getrennt hielten (V. 1103 – 20), erscheinen nämlich die großen Tiere am Hof mit den kleinen vermischt (V. 1331– 1360), was den Auftakt zu einem endgültigen Sieg Reinharts sowohl über die kleinen Tiere, die ihn im ersten Teil des Werkes zum Besten hielten. Die Besiegten sind der Hahn Scantecler in der Person seiner Gattin Pinte (V. 2091) und ihrer beider Tochter (V. 1461), der Kater Diepreht (V. 1932), aber auch der Biber (V. 1985) und die großen Tiere, der Eber (V. 1949), der Hirsch (V.1951), der Bär und der Wolf (V. 1926 ff.), sogar das Kamel und der Elefant (V. 2097– 2156). Dadurch vollbringt Heinrich im dritten Teil die Synthese zwischen dem ersten Teil, wo die Rede von den Streichen ist, die die kleinen Tiere Reinhart spielen, und dem zweiten Teil, wo Reinhart die großen Tiere in der Person von Ysengrin angreift. Zum Schluss vergiftet er den König selbst. Diesen beiden Leitideen gesellt sich die Liebesgeschichte des Fuchses mit Hersant zu. Heinrich, der Ehebruch und Vergewaltigung (die im RdR unmittelbar aufeinanderfolgen) dissoziiert, schildert diese Liebesgeschichte in drei Bildern, die eine Steigerung erkennen lassen: Die erste Szene erzählt, wie Reinhart um Hersant wirbt, wobei Heinrich die Terminologie des höfischen Minnedienstes benutzt. Reinharts Werbung wird abschlägig beschieden (hier handelt es sich um eine Addition). Die zweite Szene berichtet vom Ehebruch, der im RF auf Ysengrins Entmannung zurückzuführen ist (im RdR II, V. 1068 ff., erfolgt der Ehebruch zufällig). Da sein Minnedienst gescheitert ist, greift Reinhart zum grausamen Mittel der Entmannung des Wolfes (ein Motiv, das im RdR auftaucht). Der 3. Akt, Hersants Vergewaltigung, steht in einem anderen Kontext (II, V. 1261 ff.). Während sie im RdR acht Tage nach dem Ehebruch in aller Heimlichkeit geschieht, erfolgt sie im RF nach dem ersten Gerichtstag vor der gesamten Gesellschaft. Diese drei Leitgedanken sind einem allgemeineren Sinngehalt untergeordnet, der alle von Heinrich erzählten Abenteuer zu einem kohärenten, durchkomponierten Ganzen verbindet: dem sozialen Aufstieg Reinharts. Versuchen wir diese Aussage zu rechtfertigen. 1) Schon in der ersten Branche des RdR (V. 1255) wird Renarts Fuchsbau, in den Hersant bis zum Bauch hineingeschlüpft ist und wo der Fuchs mühelos sie vergewaltigen kann, als „Festung“ bezeichnet (V. 1257 „Li chastiaus estoit granz et fors“). Nachdem er dem Hunderudel entkommen ist, das ihn verfolgte, findet er Zuflucht in Malpertuis (Va, V. 1272, „Qu’en Malpertuis l’ont enbattu“), das in der Branche I, V. 1594 ff., als „fort chastel“, „meson“, „forterece“ und „donjon“ bezeichnet wird. Am Anfang der Branche Ia (V. 2 ff.) stellt Noble die Festigkeit dieser Burg fest, die nur durch Verrat oder Hun-

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gersnot eingenommen werden kann (III,V. 186 ff.). In der Branche III,V. 186 ff., brät Renart die Aale in seinem „chastel“. Im französischen Text besteht die Burg des Fuchses von Anfang an. Im Gegensatz dazu führt der Fuchs bei seinen ersten Abenteuern ein Nomadenleben.Weil er dem Wolf ein Bündnis vorschlägt, fühlt er sich fähig, eine „burc“ zu zerstören (V. 399 ff.). Aber erst als er die Wölfin vergewaltigt hat, baut er sich aus einem Loch im Walde ein „hus“ (V. 637), wo er aus Angst vor Repressalien des Wolfes Vorräte zusammenträgt. Reinharts Haus wird dann als „burc“ bezeichnet, in der er Zuflucht findet, nachdem er, wie in der Branche Va, dem Rüden entkommen ist (V. 1164 „zu siner burc er do reit“) und wo Hersant, wie in der Branche II, hineinschlüpft, bevor Reinhart sie vergewaltigt, nachdem er aus einem anderen Loch hinausgelaufen ist. Heinrich hat anscheinend zwei Details miteinander kombiniert, die an zwei verschiedenen Stellen seiner Vorlage zu finden waren. Dennoch wird Reinharts Burg viel später in der Erzählung mit Namen benannt, im Augenblick, wo der Bär ihn im Namen des Königs Vrevel an den Hof bittet; der elsässische Dichter übersetzt einfach den französischen Namen „Malpertuis“: RF, V. 1521, „der burck spricht man noch,/ so man si nennet ‚ubel loch‘“. Nirgends wird die Burg beschrieben, im Gegensatz zum französischen Werk. Kurz, während Reinharts Burg im RdR von Anfang an besteht, bestimmt der Elsässer den Zeitpunkt, an dem Reinharts Burg gebaut wird. Man hat den Eindruck, dass der Fuchs sich eine Burg erst leisten kann, nachdem er die Wölfin erobert hat, und dass dieser Bau eine Etappe in seinem Leben darstellt, in seinem sozialen Aufstieg. Übrigens kann diese Idee dem elsässischen Dichter von seiner Vorlage nahegelegt worden sein, wo in der Branche X Renart vom König als Belohnung für die Dienste, die er ihm geleistet hat, „deus bons castax“ (X, V. 1674) sowie eine Eskorte von hundert Rittern (X, V. 1694) erhält. 2) Andererseits stellt man fest, dass im RdR alle Tiere, die großen und die kleinen, mit „Herren“ angeredet werden: „messire Noble li lions“ (I,V. 995,Va, V. 643), oder „dans Bruns“ (Va, V. 1040), „sire Brun“ (I, V. 505), „sire Ysengrins“ (Va, V. 753 oder I, V. 255), „dame Hersent“ (I, V. 126), „Dant Brichemer“ der Hirsch (Va, V. 855), „Sire Bruiant“ der Stier (I, V. 103), „mesire Tybert li chaz“ (I, V. 1249), „Sire Chantecler“ (I, V. 283), „dame Pinte“ (I, V. 367), „dame Copée“ (I, V. 383), „misire Coart li levres“ (I, V. 451), „Dant Galopin“, ein anderer Name für den Hasen (Va, V. 1083), „dame More“ das Murmeltier (Va, V. 1080), „Sire Petitpas“ der Pfau (I, V. 1322), „sire Belin“ der Widder (I, V. 1316), „Danz Roxas“ das Eichhörnchen (I,V. 1325), „mesire Grinberz“ der Dachs (Va, V. 1073), „sire Renart“ (Va, V. 674 und I, V. 975), „dan Renart“ (I, V. 22), „dant Renart“ (Va, V. 813). Der Wolf und der Fuchs werden außerdem als Barone

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dargestellt, als zwei ebenbürtige Feudalherren, die über dieselbe Macht verfügen, auch wenn Ysengrin Konnetabel am Hofe ist (Va, V. 543 ff.). Im RF werden nur der Wolf und die Wölfin mit „herre“ und „vrouwe“ angeredet, „vor Hersant unde er Ysengrin“ (V. 520 z. B. aber auch V. 578, 529, 423, 410, 630, 607, 627 u. 870; Reinhart selbst redet Ysengrin mit „herre“ an und Hersant mit „vrowe“, z. B. V. 389 u. 435), König Vrevel mit „herre kunik“, V. 1403, den Rüden Reize mit „hern Reizen“,V. 1122, den Bären Brun mit „herr Brun“,V. 1127, „hern Brunen“, V. 1486, „her capilan“,V. 1533, den Ritter Birtin – und dies ist symptomatisch – mit „her Birtin“, V. 783, „herre Birtin“, V. 793. Im RF werden unter den kleinen Tieren nur Scantecler und Pinte mit „herr“ und „vrouwe“ angesprochen („vor Pinte“, V. 56 u. 89, „vrowe Pinte“, V. 75, und sie nennt den Hahn „er unde truot“, V. 75), wahrscheinlich weil sie die mächtigsten Figuren in einer sozialen Zelle, im Hühnerhof, sind, und der Hahn als Familienoberhaupt damit beauftragt ist, Anklage zu erheben. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass Reinhart (ebenso wie seine Kumpane) nie mit „Herr“ angeredet wird; der einzige Titel, den der elsässische Dichter ihm gibt, erscheint am Ende des Werkes, im Augenblick, wo er als Arzt an den Hof kommt, „meister“ (V. 1910 „meister herr Reinhart“; der König nennt ihn auch so: V. 1977 „‚ia‘, sprach der kunic, ‚meister min‘“). Dieser Titel, der ebenfalls dem Arzt aus Salerno gegeben wird: „meister Pendin,/ ein artzt von Salerne“ (V. 1874– 5), entspricht im Grunde dem akademischen Titel „magister in medicine“⁹; siehe auch „meister Reinhart der arzat“ (V. 2011 und 2017). Da die meisten Ärzte im Mittelalter entweder Juden oder Kleriker waren¹⁰ und da Adlige den Arztberuf ausüben durften¹¹, kann man annehmen, dass Reinhart sich am Ende des Werkes entweder für einen Kleriker oder für einen Aristokraten ausgab. Kurz, einerseits erwirbt Reinhart eine Burg, andererseits trägt er am Schluss einen akademischen Titel. Mit anderen Worten: ihm ist der soziale Aufstieg gelungen. Von dieser Tatsache aus kann man einen ganzen Aspekt der Erzählung beleuchten. Wenn man in der Episode mit Hersant die physische Schwäche des Fuchses auf die soziale Ebene umsetzt, kann man sagen, dass Hersant Reinharts Angebot ablehnt, weil er gesellschaftlich für sie, die dem Hochadel angehört, zu niedrig steht. Darauf antwortet er, es wäre für sie besser, einen Mann zu lieben, der sozial niedriger stünde als sie, als einen König, der sie geringschätzen würde: „unwerde“ (V. 438) greift „swach“ (V. 433) wieder auf, dem „kunic“ entspricht (V.  Vgl. Danielle Jacquart, Le milieu médical en France du XIIe au XVe siècle, Genève/ Paris, 1981, S. 57.  D. Jacquart, op.cit., S. 161.  D. Jacquart, op.cit., S. 172.

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437). Aber die Ablehnung der Wölfin ist nicht definitiv, denn dem Prinzip, einen Liebhaber zu haben, steht sie nicht feindlich gegenüber (V. 432). Als später Ysengrin seinen „zagel“ verliert, seine männliche Potenz, vielleicht auch seine soziale oder politische Macht einbüßt, gibt sie Reinharts Drängen nach. Daraufhin erhebt sich der Fuchs bis zu ihrem sozialen Niveau, denn kurz danach ist er in der Lage, sich eine Festung zu bauen (V. 635 – 639). Später nimmt Heinrich die Opposition „starc: listic“ wieder auf: Indem der Fuchs die Wölfin vergewaltigt, die ihn geringschätzte („zu swach“ V. 433), zeigt er, dass er durch seine List (durch eine Klugheit) sozial stärker ist als sie: „di sol von rehte hie wirtinne sin“ (V. 1237), schleudert er verachtungsvoll dem Wolf ins Gesicht, den er ironisch „min her“ (V. 1232) nennt. Es ist rechtens, dass Hersant „wirtinne“ in seiner Burg sei. Die erste Etappe von Reinharts sozialem Aufstieg war der Bau seiner Festung, die zweite Etappe ist, dass Hersant dort „wirtinne“ sei, dass sie die Ehefrau des Hauswirtes Reinhart geworden ist. Der Umstand, dass der Fuchs die Wölfin vor dem ganzen Hofe vergewaltigt, könnte als der Sieg Reinharts angesehen werden, des Vertreters der Schwachen, der über die Mächtigen siegt, deren Vertreter Ysengrin und Hersant sind, als der Sieg des kleinen Adligen über die großen Adligen. Im Folgenden ist von der Demütigung und Schande der Wölfin nicht mehr die Rede, sondern nur von der Demütigung und Schande des Wolfes: indem er Hersant vergewaltigte und sich ihr ebenbürtig – ja ihr überlegen – zeigte, traf Reinhart den Hochadligen Ysengrin und, durch ihn, die gesamte soziale Schicht der Hochadligen. Und, damit dieser Sieg offenbar sei, musste der gesamte Hof zugegen sein. Obendrein trägt der Fuchs an dem Hof von König Vrevel, der der Mächtigste unter den Mächtigen ist (V. 1242– 46, insbesondere „si leisten alle sin gebot,/ er war ir herre ane not“, wo man die Übersetzung von Va, V. 304, „qui totes sont au roi susmises“ erkennt), den Sieg sowohl über die Schwachen als auch die Kräftigen davon, besonders über den Hirsch, der das Symbol des Rechtes, also ein Vertreter des Amtsadels ist, über den Bären, des Königs Kaplan, und über das Kamel, die Äbtissin in Erstein, die beide Vertreter des hohen Klerus sind, und über den Wolf, der dem Schwertadel gehört, also über die Vertreter der geistlichen und der weltlichen Aristokratie.¹² In dem Herrn Scantecler, der in einem Bauernhaus lebt, könnte man vielleicht den Vertreter des kleinen Landadels sehen. Schließlich trägt Reinhart, der seine Gegner verstümmelt oder einfach eliminiert hat und den König selbst vergiftet, einen totalen Sieg über die Mächtigen davon. Dieser Sieg wurde (unfreiwillig zwar, aber die Absicht des Dichters ist eindeutig) von

 Jürgen Kühnel, „Zum Reinhart Fuchs als antistaufischer Gesellschaftssatire“. In: Stauferzeit. Hg. Von R. Krohn, B. Thum, P. Wapnewski, Stuttgart 1978, S. 82.

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einem anderen kleinen Tier vorbereitet, einem anderen kleinen Adligen, einem Burgherrn (V. 1272), der winzigen Ameise, die, um ihre Burgleute zu rächen, die von dem König niedergetrampelt worden sind, letzteren geschwächt hatte (V. 1300) und Ursache der „Krankheit“ des Löwen war, welche das Eingreifen von Reinhart als Arzt verkleidet einleitet. Aber nicht die Macht strebt Reinhart an; was er wünscht, ist das Chaos, die Anarchie, den Zusammenbruch des Reiches, kurz die Vernichtung des ordo. Die erste Etappe ist vollbracht, als Reinhart die Familie angegriffen hat, die kleinste juristische Zelle, auf der die gesamte Gesellschaftsordnung beruht: wer sie zerstört, zerstört die Gesellschaft und führt sie ins Chaos. Im zweiten Teil zeigt Reinhart untrewe in der weltlichen, dann in der geistlichen Gevatterschaft mit dem Wolf. So ist eine andere Gruppe der mittelalterlichen Gesellschaft, die auf der trewe basiert, vernichtet; aber da ist der Fuchs nicht allein verantwortlich, denn der Wolf hält auch nicht den Wortlaut des Vertrags mit dem Fuchs ein, indem er den Schinken nicht teilt und dann ein heimtückisches Verhalten in seiner Fehde gegen Reinhart zeigt; in dem Versöhnungsverfahren greift der Bär, der Vertreter der königlichen Autorität, gleichfalls auf ein unlauteres Mittel zurück – den Eid, den der Fuchs auf den Zähnen des lebendigen Rüden leisten soll. Im dritten Teil stürzt der Fuchs die Welt ins Chaos, indem er den König angreift, den Bürgen der sozialen, juristischen und moralischen Ordnung: Der Tod des Königs ist zwar eine gerechte Strafe für so viel Dummheit und Vertrauensseligkeit, aber als er schließlich zu sich selbst zurückfindet, erkennt er seine Fehler (V. 2232– 40), sodass die gesamte Schuld dem Fuchs zugeschrieben werden muss. Man stellt fest, dass der Dichter in den ersten Versen des Werkes (V. 3 – 10) und in den Kommentaren, die er seiner Erzählung hinzufügt (zum Beispiel V. 992– 1004 oder V. 2177– 2186), den Fuchs, seine untrewe und seinen Wunsch, sich in der Gesellschaft hochzuarbeiten, in anderen Worten das, was Karl Bosl die „soziale Mobilität“¹³ genannt hat, verurteilt; so darf man behaupten, dass Heinrich durch sein Werk einen Erzkonservatismus ausdrückte. Er will den ordo mundi mit seinen Werten aufrechterhalten. Diesen ordo, wo es Große und Kleine, Mächtige und Schwache gibt, zeigt der Dichter, der seinem Rezipienten ein abschreckendes Beispiel geben will (nach dem Prinzip der verkehrten Welt), als ständig übertreten, Wolf, Bär und Löwe, der die „burc“ der Ameisen zerstört und somit einem Volk seine Souveränität mit Gewalt aufzwingen will, sind die Übertreter (letztere Episode hat im RdR keine Entsprechung, sie ist von Heinrich hinzugefügt worden). Aber auch der Fuchs verstößt regelmäßig gegen die Weltordnung. Infolge-

 Karl Bosl, „Über soziale Mobilität in der mittelalterlichen Gesellschaft“. In: Karl Bosl, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München/ Wien 1964, S. 156 – 179.

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dessen ist ein ungerechter König besser als der Triumph des Fuchses, der die endgültige Zerstörung dieses ordo mundi beabsichtigt, den Heinrich, wie die Sangspruchdichter,¹⁴ unbedingt aufrechterhalten wissen wollte. Dies ist der Sinngehalt, dem die gesamte Erzählung untergeordnet ist. Der Dichter trifft eine Auswahl in den Branchen des französischen Werkes. Er eliminiert zahlreiche Szenen, die seinem Vorhaben zuwiderlaufen, ändert andere ab, fügt andere noch hinzu, die die Leitidee veranschaulichen, verbindet einzelne Episoden miteinander. Er hat sein gesamtes Werk auf der Grundlage dieser Idee aufgebaut und die parataktische Struktur des Roman de Renart durch eine hypotaktische ersetzt. Wir hätten hier die conjointure, die nach Eugène Vivaver „réunit, rassemble ou organise des éléments divers et même dissemblables (hier die einzelnen Szenen des RdR), […] ce qui les transforme en un tout organis铹⁵. In anderen Worten: 1) der elsässische Dichter schafft erstens im Gegensatz zu den französischen Dichtern des Renart durch seine Kommentare Distanz zur Handlung, um nach dem Wie und Weshalb der Geschehnisse zu fragen; 2) er greift zweitens in seine Erzählung ein, um den Sinn seines Werkes zu erhellen, um mit dem Text seines Gedichts eine Idee auszudrücken, die er durch die Erzählung selbst veranschaulichen will, und um gegebenenfalls seine eigenen Gedanken hinzuzufügen; 3) so darf man behaupten, dass er an dem teilhat, was Eugène Vinaver „the discovery of meaning“¹⁶ nennt und dass sein Werk ein Roman ist; 4) also ist er mehr als ein Bearbeiter wie Hartmann von Aue, Heinrich von Veldeke, Wolfram von Eschenbach oder Gottfried von Straßburg, deren Vorlagen schon Romane mit einer conjointure waren; 5) er wäre viel eher mit einem Eilhart von Oberg, dem Bearbeiter des ersten französischen Tristanromans,¹⁷ oder einem Pfaffen Konrad, der die Chanson de Roland bearbeitet hat,¹⁸ zu vergleichen; 6) somit ist der Reinhart Fuchs ein bedeutender Zeuge in der Entwicklung der Textgruppe „Nachdichtung/Übersetzung“.

 Danielle Buschinger, Poètes moralistes du Moyen Age allemand. XIIIe – XVe, Paris, Garnier, 2017, S. 147– 162.  Eugène Vinaver, A la recherche d’une poétique médiévale, S. 107.  Eugène Vinaver, The Rise of Romance, insbesondere S. 15 – 32.  Danielle Buschinger, Le Tristrant d’Eilhart von Oberg, Paris, Champion, 1975.  Siehe in diesem Band das Unterkapitel „Heldendichtung“.

Abschließende Überlegungen. Geburt der Übersetzung Ein umfassender Rückblick unter Einbeziehung aller behandelten Themen ist hier nicht möglich. Statt dessen will ich mich auf das Problem der Übetragung von einer Sprache, dem Französischen, als Ausgangssprache, in eine andere, das Deutsche als Zielsprache, konzentrieren. „Un transfert culturel est une sorte de traduction puisqu’il correspond au passage d’un code à un nouveau code“ (Ein Kulturtransfer ist eine Art Übersetzung, da er dem Übergang von einem Code zu einem anderen entspricht), schreibt Michel Espagne, der Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrthunderts zusammen mit Michael Werner den Begriff „Transfert culturel“ geschaffen hat,¹ aber anfangs betraf der Begriff erst die Zeit ab dem 18. Jahrhundert. Im Mittelalter wird viel übersetzt.² Sogar die Bibel ist eine Übersetzung. Es ging darum eine „christliche Literatursprache“ zu schaffen.³ Am Anfang stellte man im deutschen Sprachraum Listen von lateinischen Wörtern mit den entsprechenden deutschen Termini auf. Typisches Beispiel ist der etwa um 765 – 70 an der Freisinger Klosterschule entstandene „Abrogans“, ein spätlateiniches Wörterbuch, benannt nach dem ersten Stichwort (lat. abrogans = neuhochdeutsch demütig, althochdeutsch dheomodi). Insgesamt enthält dieses Wörterbuch ca. 3760 althochdeutsche Wörter. Andere Beispiele sind Glossierungen der Werke Gregors des Großen, Bibelglossen oder Glossierungen der altkirchlichen Konzilbeschlüsse (Canones-Glossen) so wie von antiken wissenschaftlichen Werken. Dann gibt es Interlinearversionen, z. B. die Interlinearversionen der (auf Benedikt von Nursia zurückgehenden) Benediktinerregel (Anfang des 9. Jahrhunderts), der Psalmen und der Hymnen.⁴ Das sind meistens Wort-für-Wort-

 Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands. Paris, PUF, 1999, S. 8.  Vgl. Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hg.), Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994 (Wolfram-Studien XIV), Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1996; Hans J. Vermeer, Das Übersetzen im Mittelalter (13. und 14. Jahrhundert). Band 2: Deutsch als Zielsprache, Heidelberg, TEXTconTEXT-Verlag, 1996.  Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, München, DTV, 1990, S. 89.  Nikolaus Henkel, „Die althochdeutschen Interlinearversionen zum sprach- und literarhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe“. In: Wolfram-Studien XIV. Übersetzen im Mittelalter…, S. 46 – 72. https://doi.org/10.1515/9783110597349-005

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Übersetzungen.⁵ Zu den ältesten Interlinearversionen der Hymnen gehört das Reichenau-Murbacher Hymnar (Beginn des 9. Jahrhunderts). Zur Missionierung der unterworfenen heidnischen Germanen durch die Franken werden die wesentlichsten religiösen Texte ins Deutsche übersetzt. Hierzu gehören vor allem das Taufgelöbnis, das Paternoster und Credo sowie die Beichtformel. Später werden längere lateinische Texte ins Deutsche übersetzt. Eines der frühesten Zeugnisse ist der althochdeutsche Isidor des ausgehenden 8. Jahrhunderts: dabei handelt es sich um die deutsche Übersetzung des Traktats De fide catholica ex veteri et novo testamento contra Judaeos (Über den katholischen Glauben nach dem Alten und dem Neuen Testament, gegen die Juden), verfasst von dem spanischen Kirchenvater Isidor von Sevilla (gestorben 636): das lateinische Original und die deutsche Übersetzung stehen einander gegenüber, in zwei parallelen Spalten. Es handelt sich in der Pariser Isidor-Handschrift (Paris BN lat. 2326) um „eine freie, sprachlich und terminologisch geradezu mustergültig ausgefeilte Übersetzung“,⁶ eine „herausragende Leistung […], an der gemessen alle jüngeren Überseztungen eher medioker erscheinen müssen“.⁷ Dann kommen um 830 die Evangelienharmonie des Syrers Tatian (der althochdeutsche Tatian), eine fast interlineare Wiedergabe des lateinischen Originaltextes, wobei ein deutschsprachiger theologischer Wortschatz angestrebt war, und der altniederdeutsche Heliand, dessen poetische Form weit über eine trockene Übersetzung hinausgeht, sowie das zwischen 863 und 871 in althochdeutsch verfasste Evangelienbuch des Benediktinermönches Otfrid von Weißenburg (im heutigen Elsass), das sich an „des Lateinischen unkundige(n) Herren und Damen“ richtete.⁸ Letzterem geht es vornehmlich um Poesie, da er seiner fränkischen Sprache das Heimatrecht unter den heiligen Sprachen sichern wollte.⁹ Mit seiner Übersetzung hat er die konsequente Anwendung des Endreimverses in die deutsche Literatur eingeführt,¹⁰ und er hat immer wieder kommentierende Kapitel eingefügt, wobei er die exegetischen Schriften der Karolingerzeit und die Kommentare von Alcuin, Hrabanus Maurus und Beda benutzt hat. Zitieren wir auch Willirams von Ebersberg (1160) Hohelied Siehe Klaus Ridder und Jürgen Wolf, „Übersetzen im Althochdeutschen: Positionen und Perspektiven“. In: Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters, Berlin/New York, Walter de Gruyter, 2000, S. 415 – 417.  Klaus Ridder und Jürgen Wolf, S. 429.  Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, S. 90.  Helmut de Boor, Die Deutsche Literatur von Karl dem Großen bis zum Beginn der höfischen Dichtung (770 – 1170), 9. Auflage bearbeitet von Herbert Kolb, München, Beck, 1979, S. 77.  Siehe Wolfgang Haubrichs, „Otfrid von Weissenburg – Übersetzer, Erzähler, Interpret, zur translativen Technik eines karolingischen Gelehrten.“ In: Wolfram-Studien XIV. Übersetzen im Mittelalter…, S. 13 – 45.  Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, S. 94– 96.

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Paraphrase, die der kirchlich-theologischen Auslegung folgte, und an erster Stelle Notker der Deutsche von St.Gallen (um 950 – 1022), dessen Übersetzung von Boethius’ De consolatione Philosophiae (Von der Tröstung der Philosophie) von Nikolaus Henkel „eher als eine (nicht auf die deutschen Bestandteile begrenzte!) Bearbeitung, die dem nicht mitüberlieferten Original [also dem unveränderten Boethius-Text] funktional zugeordnet [sei] und mit diesem zusammen z. B. im Unterricht] zu benutzen war.“¹¹ Notkers Übersetzungstechnik ist „auf die Angemessenheit des deutschen Ausdrucks ausgerichtet“¹². Mit dem Ausgangstext verfuhr er souverän. Ihm ging es darum, „den Sinn zu fassen und klar zum Verständnis zu bringen“; seine Sprache ist geschmeidig und frisch, „es sind immer wieder sprachliche Schöpfungsakte, die er vollzieht“.¹³ Dies ist einer der Gründe, warum er „eine neue Wissenschaftssprache“ geschaffen hat.¹⁴ Die weltliche Literatur wurde anfangs ausschließlich in lateinischer Sprache verfasst. Nennen wir folgende lateinische Werke, den in lateinischen Hexametern geschriebenen Waltharius (10. Jahrhundert), die ca. 1200 Hexameter umfassende Ecbasis captivi, das erste Tierepos des europäischen Mittelalters (1. Hälfte des 11. Jahrhunderts), und den ca. 2300 lateinische Verse umfassenden Ritterroman Ruodlieb (Mitte des 11. Jahrhunderts). Es sind keine Übersetzungen. Das Annolied (um 1100) ist das erste poetische Geschichtswerk in deutscher Sprache. Genau wie die Literatur auf deutschprachigem Gebiet anfangs vornehmlich eine Übersetzungsliteratur war (es waren lateinische Texte, die zuerst übersetzt wurden), so waren die deutschen Werke im Hochmittelalter (1160 – 1220/30) zum Teil weiterhin Übersetzungen von lateinischen Werken. Die S-Redaktion des Alexanderromans enthält Auszüge von Leos Historia de Preliis Alexandri Magni (HdP), Rezension J1, nicht interpoliert = 11. Jhdt., Epistola ad Aristotelem (10. Jhdt.) und Iter ad paradisum (1. Hälfte des 12. Jhdts.). Sie sind vom Latein ins Deutsche übertragen (es geht um eine Bearbeitung des lateinischen Originaltextes); dann wurden sie nach der Technik des „patchwork“, einer am Anfang des 13. Jahrhunderts üblichen Technik, angelegt. Nennen wir auch die Metamorphosen von Ovid, die ein sächsischer Kleriker namens Albrecht von Halberstadt um 1200 auf Betreiben des Landgrafen Hermann von Thüringen in gereimte deutsche Verse übersetzte.¹⁵ Zum großen Teil jedoch waren es Übersetzungen aus dem

 Zitiert nach Klaus Ridder und Jürgen Wolf, S. 421.  Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, S. 197.  Helmut de Boor, Die Deutsche Literatur von Karl dem Großen, S. 111.  Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, S. 198.  Siehe Peter Kern, „Zur ‚Metamorphosen‘-Rezeption in der deutschen Dichtung des 13. Jahrhunderts“. In: Eine Epoche im Umbruch. Volkssprachliche Liberalität von 1200 – 1300. Cambridger

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Französischen. Nun „beginnen die großen Jahrhunderte der französischen Kultur“, hebt Joachim Bumke hervor.¹⁶ Das 12. Jahrhundert wird oft als das erste „Grand siècle français“ bezeichnet. Es ist das Zeitalter der großen romanischen Basiliken, der Gotik mit den monumentalen Kathedralen, ihren Plastiken und ihren Glasfenstern. Es ist das Zeitalter des Philosophen Pierre Abélard und des Mystikers Bernhard von Clairvaux. Auf dem Gebiet der Literatur ist es das Zeitalter der Liebeslyrik der Troubadours, des Antikenromans, der Tierdichtung, der Artusepik und der Chansons de geste. Zusammen mit dem Aufblühen der Architektur, der Plastik und der Literatur erlebt man zunächst in Südfrankreich, dann in Nordfrankreich das Aufblühen der höfischen Kultur. Entscheidenden Einfluss auf Aufschwung und Entwicklung höfischer Kultur, die dann vom romanischen Westen ausging und dann über den niederländischen Raum und Lothringen ins deutsche Reich drang, hat über die Kreuzritter das im Wesentlichen arabisch geprägte Morgenland ausgeübt. Es ist eine aristokratische Kultur, die sich unter anderem in der Dichtung des 12. Jahrhunderts widerspiegelt. Von nun an beobachtet man in allen literarischen Gattungen eine weitgehende Abhängigkeit der deutschen von der französischen Literatur.Warum haben die bedeutendsten Dichter des deutschen Sprachraums ihre Stoffe und Vorlagen aus Frankreich bezogen? Dieser schwierigen Frage können nur provisorische und vorsichtige Antworten gegeben werden. Die französische Dichtung ist im deutschen Sprachgebiet aufgenommen worden, wohl weil sie Spiegelbild der französischen Adelskultur war, die an den deutschen Fürstenhöfen als Ideal galt, von denen aus das Interesse an der französischen Literatur ausging; waren doch die Fürsten Gönner und Auftraggeber der Dichter, und diejenigen, die ihnen die Vorlagen besorgten. Vergessen wir auch nicht, dass die Gräfin Marie de Champagne dem Dichter Chrétien de Troyes „matiere et san“ (Stoff und Sinn) zu seinem Werk Le chevalier de la Charrete gegeben hat. Darum waren die Dichter „häufig existentiell von (dem Auftraggeber) abhängig“.¹⁷ Die deutsche Literatur wurde somit die Widerspiegelung einer französischen Hegemonialstellung.¹⁸ Wie es Bumke schon vor 50 Jahren schrieb, ging „das Interesse an der französischen

Symposion 2001. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst und Christopher Young, Tübingen 2003, S. 175 – 193.  Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, S. 11.  Hans J. Vermeer, Das Übersetzen im Mittelalter (13. und 14. Jahrhundert), S. 37.  Siehe ebenfalls Joachim Bumkes Einleitung zu: Joachim Bumke (Hg.), Literarisches Mäzenatentum. Ausgewählte Forschungen zur Rolle des Gönners und Auftraggebers in der mittelalterlichen Literatur, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982, S. 12– 16.

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Dichtung […] von den weltlichen Fürstenhöfen aus.“¹⁹ Bumke nennt als ersten den Landgrafen Hermann I. von Thüringen († 1217). Hermann I. von Thüringen ermöglichte Heinrich von Veldeke (vor 1150 – zw. 1190 und 1200), den Eneasroman zu vollenden, besorgte Wolfram von Eschenbach (um 1170 – um 1220) die Vorlage zu seinem Willehalm, La bataille d’Aliscans, beschaffte schließlich Herbort von Fritzlar ein Exemplar von Le Roman de Troie des Benoît de Sainte Maure (1154– 1173). So wurden die Liebeslyrik der okzitanischen Troubadours, der höfische Roman, die Tierdichtung und die französischen Chansons de geste rezipiert. Parallel zu der Entstehung einer weltlichen Adelskultur im 12. Jahrhundert entstand um 1150 in Deutschland eine deutschprachige Literatur, wobei die Ausgangssprache von nun an okzitanisch für die Lyrik und französisch für die Erzählliteratur war. In beiden Fällen waren es Übersetzungen/Bearbeitungen/ adaptierende Bearbeitungen²⁰. Sie entsprechen den „mises en roman“ von lateinischen Texten durch französische Autoren, deren erster Wace war, der Geoffrey of Monmouth übersetzte. ²¹ Hier ist es angebracht, Goethes Definition des Übersetzens aus seiner Gedenkrede für Christoph Martin Wieland zu zitieren: „Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, dass der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den Unsrigen ansehen können; die andere hingegen macht an uns die Forderung, dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben und uns in seine Zustände, seine Sprachweise, seine Eigenheiten finden sollen.“²² Da es im Mittelalter kein Nationalbewusstsein gab und in den Ländern Westeuropas der Feudaladel die herrschende Oberschicht der Gesellschaft bildete, ist es kein Wunder, dass die höfische Kultur Frankreichs als Vorbild gilt, vornehmlich in den deutschsprachigen Ländern. Man kann durchaus von einer übernationalen Ritterkultur sprechen. In England finden sich seit der Eroberung des Landes durch die (romanisierten) Normannen im Jahre 1066 bei der gesamten Oberschicht Kenntnisse der französischen Sprache und Kultur. Im Jahre 1154 bestieg Heinrich II. Plantagenet, Graf von Maine und Anjou und durch seine

 Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, S. 15.  „Hier wird dem Folgetext ein gegenüber dem Prätext ‚von außen‘ geänderter Zweck zugewiesen, ohne dass damit eine ‚Überhöhung‘ oder ‚eine Nivellierung‘ verbunden wäre“, z. B. „die normative Einbürgerung, d. h. eine rigorose Anpassung an den Geschmack des Zielpublikums, die modernisierende und die ideologische Bearbeitung sowie die Bearbeitung für gewisse Zielgruppen.“ Jörn Albrecht, Übersetzung und Linguistik, Tübingen, Gunter Narr Verlag, 2005, S. 38.  Cf. Laurence Mathey-Maille, „De Facetia a curtseisie: Wace traducteur de Geoffroy de Monmouth“. In: Bien dire et bien aprandre. 14 (1996): Traduction, transcription, adaptation au Moyen Age, S. 189 – 199.  Zitiert von Jörn Albrecht, Übersetzung und Linguistik, S. 40.

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Heirat mit Eleonore von Aquitanien Herzog von Aquitanien, den englischen Thron. England war nun Teil eines vorwiegend französischen Herrschaftsbereichs. Die Oberschicht der Gesellschaft sprach nur französisch. Daher entstanden am anglo-normannischen Hof einige der bedeutendsten Werke der altfranzösischen Literatur, u. a. der Trojanerroman von Benoît de Sainte Maure , die Werke der Marie de France und der Tristan-Roman des Thomas d’Angleterre. Auch die deutschsprachigen Länder entwickelten viele Beziehungen zu Frankreich. Die Feudalgesellschaft Frankreichs erreichte jedoch früher ihren Höhepunkt, und die Emanzipation des weltlichen Adels ist demnach in Frankreich eher anzusetzen. Der Aufschwung des weltlichen Adels setzte erst um 1150 ein; diese Umstände prägten die Ideologie. Zwischen dem französischen und dem deutschen Adel bestehen vielfältige Beziehungen. Man soll bedenken, dass die deutschen Herrscher oft französischsprechende Prinzessinen heirateten, die den verfeinerten Lebensstil ihrer Heimat an die deutsche Höfe brachten. Zum Beispiel heiratete 1156 Friedrich Barbarossa in Würzburg Béatrice de Bourgogne, die ihm Arles als Mitgift einbrachte; Béatrice hatte selbst einen französischen literarischen Hof;²³ wenn Barbarossa nach Rom ging, machte er in Arles Station. Die Beziehungen waren demnach intensiv zwischen der Teutonia und der Romania. Auch Mathilde (die Tochter Alienors von Aquitanien aus der Ehe mit dem englischen König Heinrich II.) kam aus einem höchst literarischen Milieu, dem ihrer Mutter. Als sie im Jahre 1168 Heinrich den Löwen, den sächsischen Herzog, heiratete, brachte sie an den sehr strengen Hof der Welfen in Braunschweig die verfeinerten höfischen Sitten, den Ehren- und Höflichkeitskodex ihrer Heimat mit. So hat sie den Hof der Welfen durch die anglo-normannische Kultur beeinflusst und ihn zu einem literarischen Zentrum im Deutschland des 12. Jahrhunderts gemacht. Durch Mathilde dürfte auch eine Handschrift der Estoire in die Hände Eilharts gelangt sein, der sein Werk um 1170 verfasst haben mag²⁴. Thomas d’Angleterre, der seinen Tristan am Hofe Heinrichs II. und Alienors geschrieben hat, hatte wohl eine andere Kopie der Handschrift erhalten. So hat Eilhart wahrscheinlich das deutsche Publikum mit einem im romanischen Sprachraum

 Peter Johanek, „Kultur und Bildung im Umkreis Friedrich Barbarossas „. In: Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers. Hg. von Alfred Haverkamp, Sigmaringen 1992, S. 662– 663. Siehe ebenfalls Peter Ganz, „Friedrich Barbarossa: Hof und Kultur“. In: Friedrich Barbarossa. Op. cit., S. 642 ff.  Danielle Buschinger, Le „Tristrant“ d’Eilhart von Oberg…., op. cit.; „Conjectures sur Eilhart von Oberg“. In: Figures de l’écrivain au Moyen Age. Actes du colloque d’Amiens des 18 – 20 mars 1989, publiés par les soins de D. Buschinger, Göppingen 1991 (GAG 510), S. 63 – 72 (siehe auch Danielle Buschinger, Tristan allemand, Amiens 1998, Presses de l’UFR de Langues, Université de Picardie Jules Verne, S. 189 – 195).

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berühmten Roman bekannt gemacht. Man kann wohl meinen, dass Mathilde nach Braunschweig auch eine Handschrift der Chanson de Roland gebracht hat, die vom Pfaffen Konrad ins Deutsche übertragen worden war. Schließlich hatten die Ritter beider Länder Gelegenheiten, einander zu begegnen: Kreuzzüge, Turniere, höfische Feste, von Königen und Fürsten veranstaltet (z. B. das Mainzer Pfingstfest 1184). Seit etwa 1160 artikulierte der deutsche Adel das Bedürfnis, sich jene Geschichten, die in den Ländern romanischer Sprache im Umlauf waren, in der eigenen Sprache erzählen zu lassen. Daher wurden in Deutschland französische Werke bearbeitet, die die höfische Ritterkultur widerspiegeln. Den deutschen Gönnern und Auftraggebern, die den Dichtern auch die Vorlage verschafften, ging es vornehmlich „um die Darstellung der französischen Sitten und Lebensformen“, die im Minnelied und im höfischen Roman „ihren spezifischen Ausdruck fanden.“²⁵ Nun sollen nach dem bis jetzt gezogenen Vergleich zwischen der französischen Vorlage und der deutschen Bearbeitung die verschiedenen Adaptationsverfahren durch die Jahrhunderte diachronisch analysiert werden. Man beobachtet, dass im Spätmittelalter wie im Frühmittelalter der deutsche Autor sich ganz nah an die Vorlage hielt, sie manchmal wortwörtlich übersetzte. Im Frühmittelalter wurden Gebete und liturgische Texte ins Deutsche übertragen, wobei es verständlich ist, dass der Übersetzer nah am Original blieb, ja beinahe wortwörtlich übersetzte, um das Wort Gottes nicht zu verfälschen. Es war eine Art Gebrauchsliteratur, „die sich an ein nicht ausreichend lateinkundiges Publikum wendete“²⁶ und im Grunde den lateinischen Text ersetzen sollte. Es entwickelte sich parallel dazu eine Übersetzungsliteratur, die höhere Ansprüche hatte und schon eher zur Textgruppe „Bearbeitung“ gehörte, wobei zu bemerken ist, dass die Grenze zwischen „textnahen und freieren Übersetzungen“ verschwommen war.²⁷ Im Hochmittelalter verhielten sich die Dichter gegenüber ihrer Vorlage nicht so mechanisch wie die Übersetzer, sondern sie nahmen die reflektierte Haltung der Umarbeiter ein, die sich wie Hartmann, Gottfried oder Wolfram einer literarischen Tätigkeit widmeten. Das erste Hindernis, auf das die Dichter stießen, war der Zwang des Schlussreims und der grammatischen Strukturen der Zielsprache. Schon Ferdinand de Saussure hatte gezeigt, dass die Sprachen „des systèmes clos

 Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, S. 19.  Dieter Kartschoke, Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter, S. 93.  Klaus Ridder und Jürgen Wolf, S. 429.

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de relations ne connaissant que leur ordre propre“²⁸ sind, und Maurice Pergnier unterstreicht, dass „à quelque niveau qu’on se situe – phonologie, morphologie, syntaxe, lexique – il n’y a pour ainsi dire jamais d’équivalence vraie d’une langue à une autre, et que les unités de deux langues ne se recouvrent jamais que partiellement […]“.²⁹ Die Übersetzung im Mittelalter sei „par nature bien souvent proche de l’adaptation, avec les risques que cette dernière comporte“. ³⁰ Die deutschen Umarbeiter des Hochmittelalters bearbeiteten den Text ihrer Vorlage nach mehreren Prinzipien. Sie strebten eine neue Form an, eine künstlerische Form, die sich an die lateinischen artes scribendi anlehnte. Sie folgten den Beispielen, die sie da fanden, um ihren Stil anzureichern, zu vervollkommnen. Gottfried selbst schrieb in dem literarischen Exkurs über Hartmann von Aue emphatisch (V. 4621– 4630): Hartman der Ouwaere, âhî, wie der diu maere beide ûzen unde innen mit worten und mit sinnen durchverwet und durchzieret! wie er mit rede figieret der âventiure meine! wie lûter und wie reine sîniu cristallînen wortelîn beidiu sint und iemer müezen sîn!

Der Adaptor, der mit seinem Vorgänger wetteifert, schmückt den Text seiner Vorlage aus und färbt ihn durch (durchverwen bezieht sich auf das lateinische colores aus den Artes poeticae und durchzieren auf ornatus). In diesen zehn Versen stellte Gottfried seine Auffassung der Dichtkunst dar, die zugleich die eines Dichters wie Chrétien de Troyes und die der deutschen Umarbeiter ist. Die persönliche Arbeit der deutschen Bearbeiter von französischen Vorlagen besteht also in einer formalen Neugestaltung des französischen Werkes, in der Aufstellung einer kunstvollen Gliederung, im Einordnen der Materie, einer Neugestaltung, die aber keineswegs eigenständige Sinninterpretation ausschließt.

 Zitiert von Maurice Pergnier, Introduction. In : Geneviève Contamine (Hg.), Traduction et traducteurs au Moyen Age, Actes du colloque international du C.N.R.S. organisé à Paris les 26 – 28 mai 1986, Paris, Editions du C.N.R.S., 1989, S. XVI.  Maurice Pergnier, Introduction…, S. XVI.  Maurice Pergnier, Introduction…., S. XIX.

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Wie es Hans. J.Vermeer unterstreicht,³¹ verstand „der mittelalterliche Mäzen“, von dem der deutsche Umarbeiter ja abhängig war, „als in seiner Zeit gebildeter Mann die Ausgangssprache oft zumindest hinreichend genug, um sich ein Urteil über das Translat bilden zu können. Die Thematik war dem Gebildeten ohnehin in den meisten Fällen bekannt, da es nicht um deren Neuheit, sondern um das künstlerische Übertreffen einer Vorlage ging, also allenfalls um die Neuheit der Darstellung“. Dieses „Übertreffen-Wollen einer Vorlage“ trifft „eher den Willen zur Kunst, als die bloße Beachtung des Inhalts dies kann“.³² Werner Koller nennt diese Art Übersetzung „freie Bearbeitung“. Die „freie Bearbeitung“, „die den ausgangssprachlichen Text in der deutschen Fassung erweitert, strafft und kommentiert und die ihn in die deutsche mittelalterliche Welt überführt, ist kennzeichnend für die Übersetzungshaltung in mittelhochdeutscher Zeit.“³³ Wahrscheinlich wäre im Deutschen der Ausdruck „Nachdichtung“ viel angebrachter als der traditionsgemäß angewandte Ausdruck „Bearbeitung“, da die in Versen verfassten französischen Romane im Mittelhochdeutschen von wahren Dichtern ausgearbeitet wurden, denen es sowohl um die Vermittlung „von der Eigenart der französischen Dichtungen“ als auch um die „künstlerische Präsentation des Stoffes“ ging.³⁴ „Dichtung“ bedeutet „Schöpfung“, und „nach“ bedeutet, dass es vorher einen anderen Dichter gab, der weder dieselbe Technik noch dieselbe Interpretation darbot. Das Französische kennt nur ein Wort dafür, nämlich „adaptation“. Ich würde eher den Ausdruck „adaptation créative“ vorschlagen, der dem deutschen Terminus „Nachdichtung“ besser entspräche. Niemals wurde den Malern vorgeworfen, die Madonna mit dem Kind gemalt zu haben: in diesem engen Rahmen haben sie Meisterwerke geschaffen, und man unterscheidet leicht Correggio von Raphaël. So ergeht es den deutschen Dichtern des Hochmittelalters. Das Beachten des Inhalts des narrativen Stoffes verbietet nicht, die Darstellung zu variieren. Man soll das Problem unter mehreren Gesichtspunkten anschneiden. Einerseits baut der Bearbeiter eine Szene oder eine Episode neu auf; er struktuiert oder ordnet eine Beschreibung oder eine Rede neu an; er verschiebt ein Detail von einer Episode zur anderen, er betont die Elemente, die ihm als wichtig erscheinen, er fügt neue Details oder Beschreibungen hinzu, in denen er seine

 Hans J. Vermeer, Das Übersetzen im Mittelalter (13. und 14. Jahrhundert), S. 38.  Hans J. Vermeer, Das Übersetzen im Mittelalter (13. und 14. Jahrhundert), S. 39.  Werner Koller, Einführung in die Übersetzungswissenschaft. 8., neubearbeitete Auflage. Unter Mitarbeit von Kjetil Berg Henjum, Tübingen/ Basel, A. Francke Verlag, 2011, S. 58.  Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München, DTV, 1990, S. 134.

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Virtuosität zeigt, so Hartmann im Erec mit der Beschreibung von Enites Pferd oder Gottfried im Prolog. Das Wetteifern mit dem Vorgänger, das „Übertreffen-Wollen einer Vorlage“ sind demnach in Zusammenhang damit zu bringen, dass im Hochmittelalter der Umarbeiter von einem Mäzen abhing, der sich in der Kunst auskannte und dass der Dichter seinem „Brotgeber“, wie es im 15. Jahrhundert Michel Beheim sagen wird, zeigen wollte, dass er besser war als die Vorlage. Michel Beheim sagte mit allem Nachdruck am Schluss seiner Reimchronik über Friedrich 1. von der Pfalz, dass er den Auftrag seines Mäzens zu erfüllen hatte: Der fürst mich hett in knechtes miet, ich ass sin brot und sang sin liet; ob ich zu einem andern kam.

Nur wenn man die deutschen Bearbeitungen mit dem Originaltext, d. h. mit den französischen Vorlagen sorgfältig vergleicht, kann man die deutschen Werke verstehen und richtig interpretieren, sofern man herausfinden kann, inwiefern der deutsche Autor sich von der Vorlage befreit, was er gestrichen oder hinzugefügt, was er an Neuem, sowohl was den Inhalt als auch die Form anbetrifft, gebracht hat. Auf diese Weise ist man gerecht gegenüber beiden Autoren, dem französischen und dem deutschen, und fällt ein redliches und objektives Urteil über beide, denn man hat herausgearbeitet, inwiefern der deutsche Autor sich von der Vorlage befreit und was er an Neuem gebracht hat. Im Grunde wollte der Bearbeiter auch Dichter sein und dem ästhetischen Gefühl seines adligen Publikums gerecht werden. Somit entgeht man „der Gefahr unsachlicher Voreingenommenheit“, der der Literaturkritiker in einer Zeit der „politischen Spannung zwischen Deutschland und Frankreich“ ausgesetzt war, wie es Joachim Bumke richtig betonte.³⁵ Wenn es nun darum geht, die Entwicklung der Bearbeitungs- bzw. Übersetzungsmethoden der Dichter vom 12./ 13. Jahrhundert bis zum 16. Jahrhundert zu untersuchen, so kann man behaupten, der erste sei viel kühner gewesen als der zweite. Der Dichter im Hochmittelalter gestaltete grundsätzlich den Text seiner Vorlage um, um seine Botschaft mitzuteilen. Jörn Albrecht,³⁶ der darauf aufmerksam macht, dass „schon der ‚Höfische Roman‘ der Stauferzeit […] im wesentlichen ‚Importware‘ [sei]; die deutschen Bearbeiter […] (hätten) sich enger an die französischen Vorlagen gehalten, als die ältere deutsche Germanistik dies

 Joachim Bumke, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter, S. 5.  Jörn Albrecht, Literarische Übersetzung. Geschichte. Theorie. Kulturelle Wirkung, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, S. 306.

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wahrhaben wollte“, beschreibt Wolframs von Eschenbach Bearbeitungstechnik (Chrétien, Perceval, Verse 4164– 4210; Wolfram, Parzival VI. 281, 10 – VI. 283, 9) folgendermaßen: „Die Episode von den drei Blutstropfen im Schnee, in der Wolfram […] die Erzählung auf die anderthalbfache Länge aus(dehnt) und […] die Authentizitätsfunktion ganz bewusst (zerstört), indem er sich durch ironische Kommentare als Erzähler in Erinnerung bringt“, sei „ein Musterbeispiel für eine Bearbeitung, bei der der reine Stoff treu bewahrt, die Erzählhaltung stark variiert wird“. Der zweite folgt seiner Vorlage sehr getreu und nimmt nur geringfügige Änderungen vor, die im Reformationszeitalter vornehmlich durch das protestantische Bekenntnis Warbecks verursacht werden: Er nimmt nämlich konsequente Abänderungen im protestantischen Sinne vor. Spalatin folgt Warbeck, und seine Umarbeitung zielt darauf hin, aus der Schönen Magelone ein exemplum der lutheranischen Lehre zu machen. Ansonsten ist die deutsche Übertragung eine wörtliche Übersetzung. Ein anderer Unterschied besteht darin, dass der Autor vom Reinhart Fuchs zum Beispiel sich zwar nennt (Heinrich der Glîchezare), aber man weiß nichts von ihm: er interveniert nur in seinen Kommentaren. Während Pierre de Provence et la belle Maguelonne anonym geblieben ist, sind dagegen Warbeck und Spalatin bekannte Persönlichkeiten, der eine wie der andere Luthers Anhänger. Auf ähnliche Weise wie die Protestanten passen sich die jiddischen Bearbeiter ihrem Publikum an: Sie übersetzen ihre frühneuhochdeutschen Vorlagen sehr genau und ändern lediglich die protestantisch oder katholisch angehauchten Passagen. Die Werke der älteren jiddischen Literatur sowie die katholischen oder protestantischen Prosaromane sind hervorragende Beispiele für einen frühneuzeitlichen Kulturtransfer. Am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit wollten die Autoren ihr Publikum unterhalten und/ oder belehren. Vielleicht war dieses „gemischte“ Publikum, das aus Adligen und Stadtbürgern bzw. Patriziern bestand, künstlerisch nicht so anspruchsvoll wie das Publikum im Hochmittelalter. Sie waren wohl eher an dem Inhalt des Werkes interessiert als an der formellen Neugestaltung. Monika Unzeitig-Herzog³⁷ schreibt treffend: „Die Übersetzung der Handschrift a (des Prosa-Lancelot) ist für ein Publikum des 16. Jahrhunderts bestimmt. Sie ist inhaltlich adäquat und genau. Vollständigkeit, Sinnerfassung, explikatives Übersetzen bestimmen und prägen die Übersetzung, die für ihre Zeit eine ihrer Intention nach optimale Leistung ist“, dennoch gibt sie die Gründe dafür nicht an, warum im 16. Jahrhundert anders übersetzt wird als im Hochmittelalter. Außer-

 Monika Unzeitig-Herzog, „Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz zwischen der altfranzösischen ‚Queste del Saint Graal‘ und den deutschen Fassungen der ‚Gral-Queste‘ des ‚Prosa-Lancelot‘…, S. 170.

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dem waren die meisten Werke Prosaromane, die zum Selbstlesen verfasst wurden und bei denen es den Schlussreimzwang nicht gab. Am häufigsten hatten die Bearbeiter keinen Auftrag von einem kunstinteressierten Mäzen erhalten, dem sie Rechenschaft über ihre Arbeit ablegen mussten. Und wenn sie einen hatten wie der Verfasser der Neuübersetzung des französischen Lancelot en prose „a“ (1539 – 1576), so war er bestrebt, im Kontext der damaligen „Ritterrenaissance“ dem Adel nachzueifern, um selbst in den Adel aufgenommen zu werden, sodass er in erster Linie am Roman selbst interessiert war. Darum gab sich der Übersetzer nicht die Mühe, den Text seiner Vorlage neu zu interpretieren. Er stellte sich auf den Standpunkt des Linguisten, der lediglich einen schriftlich fixierten Text, wie er in der Ausgangssprache steht, in eine Zielsprache übertragen wollte. Für das Mittelalter darf man die modernen Übersetzungsmaßstäbe nicht anlegen, deren es sehr viele unterschiedliche und sogar oft widersprüchliche gibt. Als Nicht-Linguistin werde ich nicht darauf eingehen.³⁸ Als Definition von „übersetzen“nehme ich die des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm (Bd. 23, Spalte 546): ein Buch „aus einer Sprache in eine andere übertragen“, wobei der Rezipient der Ausgangssprache nicht kundig ist und trotzdem den Inhalt des Buches kennen lernen möchte. In meinen Ausführungen stütze ich mich auf die Beispiele, die ich selbst gegeben habe. Im Althochdeutschen beobachten wir fast gleichzeitig Wort-für-Wort-Übersetzungen sowie hochwertige freie, ja künstlerische Übertragungen. Für die klassische Zeit des Hochmittelalters gilt was als erster Jean Fourquet geschrieben hat : „L’adaptateur, ayant lu et médité un poème déjà existant, se propose de raconter à son public la même histoire, la même jusque dans le détail des comportements et des événements, mais de la raconter à sa façon, et nous donnons ici à façon le sens fort que Chrétien lui donne dans la préface de son Lancelot: une mise en oeuvre nouvelle, d’une technique littéraire qui rivalise avec celle du prédécesseur.“³⁹ 2011 schreibt Werner Koller etwas ähnliches, aber in anderen Worten : „Die ‚“Treue‘“ der deutschen höfischen Dichtungen gegenüber

 Vgl. u. a.Werner Koller, Einführung in die Übersetzungswissenschaft, S. 86 – 103; Werner Koller, „Anmerkungen zu Definitionen des Übersetzungs‚vorgangs‘ und zur Übersetzungskritik“. In: Wolfram Wilss (Hg.), Übersetzungswissenschaft, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1981, S. 263 – 274; Jörn Albrecht, Übersetzung und Linguistik, S. 23 – 59.  Jean Fourquet, Wolfram d’Eschenbach et le Conte del Graal, 2ème édition, Paris, PUF, 1966, p.3. „Nachdem der Bearbeiter eine schon bestehende Dichtung gelesen und überdacht hat, nimmt er sich vor, seinem Publikum bis in alle Einzelheiten der Verhaltensweise und Ereignisse dieselbe Geschichte zu erzählen, sie aber auf seine eigene ‚Façon‘ zu erzählen, und wir geben dem Worte hier den starken Sinn, den Chrétien ihm in seinem Prolog zum Karrenritter gibt, nämlich: eine neue Ausführung, eine neue Technik, die mit der des Vorgängers wetteifert.“

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dem jeweiligen französischen Ausgangspunkt gilt dem Stofflichen als historischer und poetischer Wahrheit; in der formalen und deutend-erklärenden Ausgestaltung sind sie frei“. Das beste Beispiel dafür ist der Tristan Gottfrieds, in dem das ganze Problem der Spannung zwischen einer neuen Interpretation der Geschichte und dem Respekt der ursprünglichen Fabel entwickelt wird. Das nenne ich „adaptation créative“. Dies ändert sich im Spätmittelalter allmählich. Im 15. Jahrhundert haben wir das Beispiel der Elisabeth von Nassau-Saarbrücken , die sich zwar ziemlich eng an den Text ihrer Vorlagen hielt, sich aber doch als Schriftstellerin behaupten wollte. In der frühen Neuzeit finden wir fast die modernen Übersetzungsprinzipien. Die Übersetzungen dienten beinahe als Ersatz des Originals. Dies gilt zum Beispiel für den Prosa-Lancelot: die Meinungen gehen betreffs der Art und Weise auseinander, wie der französische Text ins Deutsche übertragen worden ist. Ist der ProsaLancelot eine Übersetzung oder zum Teil eine vorsichtige Umarbeitung des französischen Textes ?⁴⁰ Diese auseinandergehenden Meinungen hängen wohl damit zusammen, dass der größte Teil des Textes im Spätmittelalter bzw. in der frühen Neuzeit entstanden ist, einer Zeit, in der die Übersetzungstechnik im Wandel war. Man darf wohl die verschiedenen Übersetzungen des französischen Prosa-Lancelot nicht einschätzen bzw. beurteilen. Man soll sie als gleichwertig betrachten, genau wie alle Zeugen einer handschriftlichen Überlieferung gleichwertige Versionen darstellen, die man als solche untersuchen soll, ohne einen Originaltext oder Zwischenstufen zu rekonstruieren. Wie Monika Unzeitig-Herzog schlussfolgert⁴¹, sind es spannende und interessante Beispiele der „Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte.“ Zum Schluss soll auf Folgendes hingewiesen werden: Die katholischen oder evangelischen Umdichter eines evangelischen oder katholischen Textes deuten ihn entweder katholisch oder evangelisch um, ansonsten folgen sie der Vorlage ganz getreu. Dasselbe gilt für die jiddischen Übersetzer von christlichen deutschen Texten: Sie tilgen alles Christliche und deuten ihren Text jüdisch um. Ansonsten bleibt der Inhalt der Übersetzung dem Original gleich. Aus dieser über-

 Zumindest in den von mir untersuchten Passagen (die sich in P III befinden, das später als P I entstanden ist, wohl im Laufe des 14. Jahrhunderts für P III, gar im 15. Jahrhundert für P II) ist der Übersetzer bestrebt, Lancelot moralisch zu entlasten. Das nenne ich „Nachschöpfung“. Siehe Monika Unzeitig-Herzog, „Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz zwischen der altfranzösischen ‚Queste del Saint-Graal‘ und den deutschen Fassungen derr ‚Gral-Queste‘ des ‚Prosa-Lancelot‘“. In: Joachim Heinzle, L. Peter Johnson, Gisela Vollmann-Profe (Hg.), Wolfram-Studien XIV, Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Kolloquium 1994, Berlin, Erich Schmidt Verlag, 1996, S. 149 – 170, hier S. 151, Anm. 10.  „Zu Fragen der Wirkungsäquivalenz…“, S. 170.

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greifenden Sicht stellen sich die Werke der älteren jiddischen Literatur sowie die hier untersuchten katholischen oder protestantischen Prosaromane als hervorragende Beispiele eines frühneuzeitlichen Kulturtransfers dar. Kulturtransfer ist ja das Schwerpunktthema der hiesigen Abhandlung überhaupt. Ohne ihn kann keine Kultur blühen.

Bibliographische Angaben¹ 1 Allgemeines 2 Untersuchungen Albrecht, Jörn, Übersetzung und Linguistik. Tübingen, Gunter Narr Verlag, 2005. Bosl, Karl „Über soziale Mobilität in der mittelalterlichen Gesellschaft“. In: Karl Bosl, Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa, München/ Wien 1964, S. 156 – 179. Bumke, Joachim, Die romanisch-deutschen Literaturbeziehungen im Mittelalter. Ein Überblick, Heidelberg 1967. Bumke, Joachim, Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150 – 1300. München 1979. Bumke, Joachim (Hg.), Literarisches Mäzenatentum. Ausgewählte Forschungen zur Rolle des Gönners und Auftraggebers in der mittelalterlichen Literatur. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1982. Bumke, Joachim, Höfische Kultur, Band 1, München, DTV, 1987. Contamine, Geneviève (Hg.), Traduction et traducteurs au Moyen Âge, Actes du colloque international du C.N.R.S organisé à Paris les 26 – 28 mai 1986 (Paris: Ed. du C.N.R.S., 1989 [Documents, études et répertoires publ. par l’Institut de recherche et d’histoire des textes]). Crépon, Marc, „La traduction entre les cultures“. In: L’horizon anthropologique des transferts culturels. Revue Germanique Internationale 21/2004, S. 71 – 82; S. 248 – 249. Duby, Georges, Le chevalier, la femme et le prêtre, Paris, Hachette, 1981. Espagne, Michel, Les transferts culturels franco-allemands. Paris, Presses Universitaires de France, 1999. Fourquet, Jean, Recueil d’Etudes réunies par Danielle Buschinger et Jean-Paul Vernon, Amiens 1979. Frings, Theodor, Germania Romania und Romania Germania zwischen Mittelmeer, Rhein und Elbe, Berlin 1963. Frings, Theodor, „Minnesinger und Troubadours“ (Wiederabdruck bei Hans Fromm [Hg.]: Der deutsche Minnesang. Aufsätze zu seiner Erforschung, Darmstadt 1966, S. 1 – 57. Frings, Theodor, Germania Romania, Halle 1932 Ganz, Peter, „Friedrich Barbarossa: Hof und Kultur“. In: Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers. Hg. von Alfred Haverkamp. Sigmaringen 1992. Gervinus, G. G., Geschichte der deutschen Dichtung, Bd.2, Leipzig 1853. Gervinus, G. G., Geschichte der deutschen Dichtung, Bd. 2, 4. gänzlich umgearbeitete Ausgabe, Leipzig, Engelmann, 1853. Haubrichs, Wolfgang, „Otfrid von Weissenburg – Übersetzer, Erzähler, Interpret, zur translativen Technik eines karolingischen Gelehrten.“ In:Wolfram-Studien XIV. Übersetzen im Mittelalter… (1996), S. 13 – 45.

 Ich beschränke mich auf die zitierten Texte und erstrebe keinesfalls Vollständigkeit. https://doi.org/10.1515/9783110597349-006

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3 Lyrische Formen

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3 Lyrische Formen 3.1 Quellen: Editionen und Übersetzungen Moser, Hugo und Helmut Tervooren (Hg.), Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. I. Texte. 37., revidierte Auflage mit 1. Faksimile. Stuttgart, Hirzel Verlag, 1982. Moser, Hugo und Helmut Tervooren (Hg.), Des Minnesangs Frühling. III/1. Untersuchungen von C. von Kraus. Durch Register erschlossen und um einen Literaturschlüssel ergänzt. Stuttgart, S. Hirzel Verlag, 1981. Moser, Hugo und Helmut Tervooren (Hg.), Des Minnesangs Frühling. III/2. Anmerkungen von K. Lachmann, M. Haupt, Fr. Vogt, C. von Kraus. Stuttgart, S. Hirzel Verlag, 1981. Stackmann, Karl und Karl Bertau (Hg.), Frauenlob (Heinrich von Meißen). Leichs, Sangsprüche, Lieder. Auf Grund von Vorarbeiten von Helmuth Thomas. 2 Teile: 1. Teil: Einleitungen, Texte. 2. Teil: Apparate, Erläuterungen. Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1981. Strauch, Philipp (ed.), Der Marner. Mit einem Nachwort, einem Register und einem Literaturverzeichnis von Helmut Brackert, Berlin 1965.

3.2 Untersuchungen Buschinger, Danielle, Poètes moralistes du Moyen Age allemand. XIIIe – XVe, Paris, Garnier, 2017. Frank, Istvan, Trouvères et Minnesänger. Recueil de textes pour servir à l’étude des rapports entre la poésie lyrique romane et le Minnesang au XIIe siècle. Saarbrücken, West-Ost-Verlag, 1952. Hartmann, Sieglinde, Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein oder die Erfindung der Liebe im Mittelalter. Wiesbaden, Reichert Verlag, 2012, S. 106 – 115. Mertens, Volker, „Kontrafaktur als intertextuelles Spiel. Aspekte der Adaptation von Troubadour-Melodien im deutschen Minnesang“. In: Touber, Anton (Hg.), Le rayonnement des troubadours. Actes du colloque de l’AIEO. Association Internationale d’Etudes Occitanes. Amsterdam, 16 – 18 Octobre 1995. Amsterdam-Atlanta, Rodopi, 1998, S. 269 – 284. Müller, Ulrich, Untersuchungen zur politische Lyrik des deutschen Mittelalters. Göppingen, Kümmerle, 1974 (GAG 55/56). Müller-Blattau, Wendelin, Trouvères und Minnesänger II Kritische Ausgabe der Weisen zu gleich als Beitrag zu einer Melodienlehre des mittelalterlichen Liedes, Saarbrücken, Im Selbstverlag der Universität, 1956. Rieger, Angelica, „Relations interculturelles entre troubadours, trouvères et Minnesänger au temps des croisades“. In: Touber, Anton (Hg.), Le rayonnement des troubadours…. S. 201 – 225. Sayce, Olive (Hg.), Rudolf von Fenis. Die Lieder. Unter besonderer Berücksichtigung des romanischen Einflusses. Mit Übersetzung, Kommentar und Glossar. Göppingen, Kümmerle, 1996.

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3.3 Didaktik 3.4 Quellen: Editionen und Übersetzungen Rückert, Heinrich (Hg.), Der Wälsche Gast des Thomasin von Zirclaria. Mit einer Einleitung und einem Register von Friedrich Neumann. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe 1852. Quedlinburg und Leipzig. Berlin, de Gruyter, 1965 (Deutsche Neudrucke. Reihe: Texte des Mittelalters). Zingerle, Ignaz Vinzenz (Hg.), Vintler, Hans. Die pluemen der tugent. Hg. von Ignaz Vinzenz Zingerle. Innsbruck 1874 (Aeltere tirolische Dichter. 1. Band).

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4 Tierepik

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5.3 Kleinepik del Duca, Patrick, „Le Stricker et ses sources françaises. Art narratif et intention didactique“. In: Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec, Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter, S. 230 – 244. Knapp, Fritz Peter (Hg.), Germania Litteraria Mediaevalis Francigena (GLMF). Bd. 6: Kleinepische, lehrhafte und allegorische Dichtung. Berlin / New York, De Gruyter, 2012.

5.4 Schluss Mathey-Maille, Laurence, „De Facetia a curtseisie: Wace traducteur de Geoffroy de Monmouth“. In: Bien dire et bien aprandre. 14 (1996) Traduction, transcription, adaptation au Moyen Age., S. 189 – 199.

Register der genannten Herrscher, Dichter und Werke Albrecht von Johansdorf (1172 – 1210), Minnesänger 11, 14 Andreützo (nach Boccacio, 1557), Adaptation aus dem Italienischen 163 Bataille d’Aliscans oder Chanson des Aliscans (Ende des 12. Jahrhunderts), französische Chanson de geste 1, 19, 34, 47 f., 207 Benoît de Sainte Maure (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts), französischer Dichter, Autor des Roman de Troie 1, 19, 207 f. Bernart de Ventadorn (1130/40 – 1190/1200), Troubadour 10, 13 Bernger von Horheim (Ende des 12. Jahrhunderts), Minnesänger 11 Bertran de Born (vor 1140 – ca. 1215), Troubadour 11 Bligger von Steinach (ca. 1174 – 1209), Minnesänger 11 Blondel de Nesle (ca. 1175 – 1210), nordfranzösischer Trouvère 11 Brant, Sebastian, Autor des Narrenschiffs (1457 – 1521) 2 Bruder Robert, Autor der norwegischen Tristramsaga, oder Saga 21, 100, 112, 117 Burggraf von Riedenburg (1150 – 1170), Minnesänger 11 Chanson de Roland (Ende des 11. Jahrhunderts), französische Chanson de geste 19, 29, 32, 34–36, 38–40, 42, 45, 48, 75, 105, 170, 202, 209 Chrétien de Troyes (um 1140 – um 1190), französischer Dichter, Begründer der Textsorte „Höfischer Roman“, oder „Artusroman“), seiner Romane waren Vorlagen für Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach 11, 20, 33, 42, 98, 100, 104–106, 119, 121 f., 130 f., 142, 146– 148, 206, 210, https://doi.org/10.1515/9783110597349-007

Christine de Pizan, Les faits d’armes et de chevalerie 162 f. Conon de Béthune († 1219/20), nordfranzösischer trouvère Conon de Béthune) oder noch auf die Melodie eines unbekannten Trouvère, die in den Roman 10 f., 14 Cymon (1516), Adaptation aus dem Italienischen 163 Der Ritter vom Turm (1493), deutsche Bearbeitung vom Livre pour l’enseignement de ses filles von Geoffrey de la Tour Landry durch Marquart vom Stein 162 Die Schöne Magelone (1527, 1535), deutsche Adaptation von der Ystoire de Pierre de Provence et de la belle Magelone durch Veit Warbeck 162, 173, 180, 213 Der Wälsche Gast Werk des italienische Klerikers Thomasin von Zirklaere (1215 – 1216) 4, 220 Eleonore von Aquitanien (ca. 1122 – 1204), die Enkelin Wilhelms von Aquitanien, die den König von Frankreich, Ludwig VII., und dann, von Ludwig VII. geschieden, Heinrich II. Plantagenêt, den König von England, heiratete 7, 208 Elisabeth von Nassau-Saarbrücken (nach 1393 – 1456), Autorin von Prosaauflösungen von Chansons aus dem Stoffkreis um Karl 34, 54, 162–166, 168, 215 Eneasroman (1174 – 1190), deutsche Adaptation durch Heinrich von Veldeke vom altfranzösischen Roman d’Eneas (um 1160) 1, 19, 207 Erzherzogin Mechthild (1418 – 1486), Schwester Friedrichs des Siegreichen 55 Euriolus und Lucretia (Deutsch von Niclas von Wyle, 1478) 163

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Register der genannten Herrscher, Dichter und Werke

Fierrabras (1533), Adaptation von einer französischen Chansons de geste 162 Fiorio und Biancefiore (1499), Adaptation aus dem Italienischen 22, 163 Florio und Biancefora (nach Boccacio, 1499), Adaptation aus dem Italienischen Ritter Thorelle (1512), Adaptation aus dem Italienischen 163 Folquet de Marselha (ca. 1150 – 1231), Troubadour 10 f. Friedrich Barbarossa (ca. 1122 – 1190), von 1152 römisch-deutscher König und von 1155 bis 1190 Kaiser des römisch-deutschen Reiches 7, 13, 23–25, 43, 162, 208 Friedrich II. (1194 – 1250), ab 1198 König von Sizilien, ab 1212 römisch-deutscher König, von 1220 bis zu seinem Tod Kaiser des römisch-deutschen Reiches 7, 18, 44, 49 Friedrich von Hausen (ca. 1150 – 1189), Minnesänger 8, 10, 12, 14 Gace Brûlé (ca. 1163 – nach 1213), nordfranzösischer trouvère 10, 12 Gaucelm Faidit (ca 1185 – 1202), Troubadour aus dem Limousin 11 Gerart van Rossiliun (13./14.Jhdt.), niederdeutsche bzw. ostfälische Prosabearbeitung von Girart de Roussillon 34, 52, 54 Giletta (aus dem Decamerone, 1520), Adaptation aus dem Italienischen 163 Girart de Roussillon (1149 oder 1155 – 1180), französische Chanson de geste 19, 23, 25, 34, 51, 163 Graf Rudolf (1170/80), ein Werk, das auf halbem Weg zwischen Chanson de geste und Roman steht 10, 25 f., 32 Griseldis (1471), Prosaroman, adaptiert aus dem Italienischen von Heinrich Steinhöwel 22, 163 Guillaume de Dole, Roman von Jean Renart 10 Guiot de Provins (ca. 1150 – † nach 1208), französischer trouvère und Dichter 8, 10

Guiscard und Sigismunde (Deutsch von Niclas von Wyle, 1476/77) 163 Haimonskinder (1493), Adaptation von einer französischen Chansons de geste 56 f., 162 Hans Vintler, Adaptator der Fiore di virtù: Die pluemen der tugent 4 Hartmann von Aue (ca. 1160 – ca. 1210) überträgt Chrétiens Erec et Enide und Chevalier au lion ins Deutsche: Erec (1180– 1185) und Iwein (um 1200). Er schreibt ebenfalls Das Büchlein (1180/85), Gregorius (1187/89) und Der arme Heinrich (1195). Hartmann ist auch bekannt als Minnesänger 3 f., 12, 20, 24, 39, 42, 70, 84, 105, 107, 112, 120 – 131, 135, 175, 202, 209 f., 210, 212, 230 – 232 Hartwig von Rute (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts), Minnesänger 11 Heemskinderen (frühester erhaltener Druck 1508), Prosaauflösung der 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts von der niederländischen Bearbeitung des Renaut de Montauban (Renout van Montelbaen) 55, 57, 60, 64 Heinrich VI. (1165 – 1197), ab 1191 Kaiser des römisch-deutschen Reiches; von 1194 bis zu seinem Tod zugleich König von Sizilien 7, 13, 29 Heinrich von Morungen (ca. 1150 – ca. 1222), Minnesänger 9, 11 Heinrich von Veldeke (vor 1150 – zw. 1190 und 1200), der im heute belgischen Limburg zu Hause war, hat den Roman d’Eneas ins Deutsche adaptiert; er war gleichfalls Minnesänger und offensichtlich unter dem Einfluss der nordfranzösischen Trouvères 1, 10 f., 19, 91, 105, 107, 202, 207, 230 Herbort von Fritzlar, Adaptator des Roman de Troie des Benoît de Sainte Maure 1, 19, 207 Hermann I. von Thüringen († 1217), Landgraf von Thüringen 1, 207

Register der genannten Herrscher, Dichter und Werke

Herpin (nach 1430), Adaptation von der französischen Chanson de geste Lion de Bourges durch Elisabeth von NassauSaarbrücken 34, 162, 164 – 167, 184 Hiltbold von Schwangau (vor 1221 – um oder nach 1254), Minnesänger 11 Historia Alexandri Magni (Deutsch in der Fassung des Johann Hartlieb, 1473) 163 Historia Apollonii regis Tyri (Deutsch von Heinrich Steinhöwel, 1471) 163 Histôrie van Sent Reinolt, ripuarische Übersetzung des Renout van Montelbaen 55 Historie von den vier Kaufleuten (nach Boccacio, 1490), Adaptation aus dem Italienischen 163 Huge Scheppel (nach 1437), Adaptation von der französischen Chanson de geste Hugues Capet durch Elisabeth von NassauSaarbrücken 34, 165 f., 170 – 171. Hugo, Victor (1802 – 1885), französischer Dichter 8 Jaufre Rudel (um 1100 – um 1147), okzitanischer Toubadour 12 Jean Renart (1. Hälfte des 12. Jahrhunderts), nordfranzösischer Dichter 10, 175 Kaiser Octavian (1535), Adaptation von einer französischen Chansons de geste 162, 181 f., 183 f., 185, 187 f. König Rother 23–25, 32 Leoni, Tommaso, Autor der Fiore di virtù (Anfang des 15. Jahrhunderts) 4 Loher und Maller (1437), Adaptation von der französischen Chanson de geste Lohier et Malart durch Elisabeth von NassauSaarbrücken 34, 162, 164 – 167, 170 Madelgijs oder Malegijs (frühes 14. Jahrhundert), mittelniederländische Übertragung des Maugis d’Aigremont 63 f., 68 Malagis (1450 – 1460) aus dem Mittelniederländischen ins Deutsche übertragen 34, 55, 63 – 68

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Maugis d’Aigremont (1.Hälfte des 13. Jahrhunderts), französische Chanson de geste 52 Mellusigne, oder Livre de Lusignan ou de Partenay, Versroman eines gewissen Coudrette (um 1400) 162 Melusine (1456) Übersetzung durch Thüring von Ringoltingen des französischen Versromans Mellusigne) 162, 173 Narrenschiff, ein Werk des Sebastian Brant (1494 gedruckt in Basel) 2 Ogier le Danois (1192 – 1200 oder um 1200), französische Chanson de geste 19, 51, 68 Ogier von Dänemark, zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts (1450 – 1460) aus dem Mittelniederländischen ins Deutsche übertragen 34, 52, 55, 59, 63, 68 f. Olwyer uß Castilia und Artus uß Algarbe, Übersetzung durch den Berner Wilhelm Ziely von der l’Istoire de Olivier de Castille et de Artus d’Algarbe, son très chier amy et loial compagnon (1482) 162 Paul von der Aelst, ein Buchdrucker aus Deventer, veröffentlichte 1604 in Köln eine verdeutschte Fassung des niederländischen Volksbuchs, Die historie van den vier Heemskinderen (1508) 55, 60 f. Peire de la Cavara, lombardischer Dichter 13 Peire Vidal (12. Jahrhundert), Troubadour 10 f., 13 f. Peirol (um 1160 – 1221), Troubadour aus der Auvergne 14 Pèlerinage de Charlemagne, französische Chanson de geste 23 Pfaffe Konrad (Mitte des 12. Jahrhunderts), deutschsprachiger Dichter, hat um 1172 die Chanson de Roland ins Deutsche adaptiert 19, 34, 46, 48, 105, 202, 209 Philipp II. August (1165 – 1223), von 1180 bis 1223 König von Frankreich aus der Dynastie der Kapetinger 51

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Register der genannten Herrscher, Dichter und Werke

Pontus und Sidonia (A-Fassung, zwischen 1440 und 1460, C-Fassung (zwischen 1440 und 1460) 162, 188 Reinmar der Alte (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts), Minnesänger 12 Reinolt von Montelban oder die Heimonskinder, zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts (1450 – 1460) aus dem Mittelniederländischen ins Deutsche übertragen 56 – 58, 69 Renaut de Montauban (um 1200), französische Chanson de geste 19, 27 f., 51, 55, 57, 64, 66, 68 Renout van Montelbaen, niederländischen Bearbeitung des Renaut de Montauban 55 Rolandslied (um 1170), Bearbeitung der Chanson de Roland durch den Pfaffen Konrad 34 – 37, 39, 42 – 45, 48 f., 79 Roman de Troie (1160 – 1170), von Benoît de Sainte Maure geschrieben 1, 207 Ruy Blas (1838), ein Werk Victor Hugos 8 Schlacht von Alischanz (Anfang des 14. Jahrhunderts), anonyme niederdeutsche Bearbeitung der Bataille d’Aliscans oder Chanson des Aliscans 34, 50 f., 54 Sibille (nach 1430), Adaptation von der französischen Chanson de geste Sibille durch Elisabeth von Nassau-Saarbrücken 34, 165, 167 Theagenes und Chariklea, Deutsch von Johann Zschorn, 1559 163 Thomasin von Zirklaere (1186 – 1238), Autor des Welschen Gastes 4 Troja-Roman, nach Guido von Columna verdeutscht von Hans Mair, 1474) 163

Ulrich von dem Türlin († um 1269), Autor von Arabel, der Vorgeschichte zu Wolfram von Eschenbachs Willehalm 34, 50 f., 161 Ulrich von Gutenburg (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts), Minnesänger 11 Valentin und Orsus, ein anderes von Wilhelm Ziely übersetztes Werk, 1521) 162 Walther von der Vogelweide (ca. 1170 – ca. 1230), Minnesänger 6 f., 9, 12 – 16, 62, 130 Welscher Gast, Werk des italienische Klerikers Thomasin von Zirklaere (1215 – 1216) 4 Wilhelm von Aquitanien (1071 – 1126), „der erste Trobador“, Herzog von Aquitanien und der Gascogne 7 Willehalm (vor 1217), Wolframs von Eschenbach Nachdichtung der Chanson des Aliscans 1, 34 f., 47 – 51, 79, 161, 207 Wolfram von Eschenbach (ca. 1160 – 1180 – ca. 1220), deutscher Dichter, hat Chrétiens Perceval ou le Conte del Graal und die Bataille d’Aliscans oder Chanson des Aliscans ins Deutsche adaptiert; als Minnesänger hat er ebenfalls Liebeslieder verfasst, besonders Tagelieder 1, 17, 19 f., 34 f., 42, 47 – 50, 81, 105, 120, 125, 130 – 141, 143 – 146, 156, 161, 171, 207, 209, 213 Ystoire de Pierre de Provence et de la belle Maguelonne (Mitte des 15. Jahrhunderts) 162, 173