Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter: [Albert Zimmermann zum 65. Geburtstag] 9783110877731, 9783110140583

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Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter: [Albert Zimmermann zum 65. Geburtstag]
 9783110877731, 9783110140583

Table of contents :
Vorwort
Bibliographie Prof. Dr. Albert Zimmermann
Scientia & Ars
Divisio philosophiae
The Rearrangement of the Liberal Arts in the First Half of the 13th Century: Grammar and Dialectics
Scientia et ars dans les »Libri Sententiarum« de Pierre Lombard. Approche lexicographique
Scientia et ars dans les introductions à la philosophie des maîtres ès arts de l’Université de Paris au Xllle siècle
The Quadrivium in the Universities: Four Questions
Von den mittelalterlichen Ansätzen eines Wandels zum kopernikanischen Umbruch im Wissenschaftsverständnis
De l’art des conjectures à la science divine selon Nicolas de Cues
Scientia signorum und Ars scribendi. Zur Zeichentheorie des Nikolaus von Kues
Dante Aligheri ou la convergence des arts et de la science
Theorica
Regularmethode und Axiomatik. Wissenschaftliche Methodik im Horizont der artes-Tradition des 12. Jahrhunderts
„Theophanie celestis emblema“. Zu einem Theorematabegriff bei Alain de Lille
Experientia — ars — scientia — sapientia. Zu Weisen und Arten des Wissens im Anschluß an Aristoteles und Thomas von Aquin
„Modus quo aliqua discutiuntur, debet congruere et rebus et nobis“. Il concetto di modus scientiae nella filosofia di San Tommaso d’Aquino
Scientia in se — scientia in nobis. Zur philosophischen Bedeutung einer wissenschaftstheoretischen Unterscheidung
Metaphysica
Was heißt Metaphysik bei Thomas von Aquin?
Autour du commentaire (P) de Siger de Brabant à la métaphysique
L’art et la science dans les commentaires médiévaux cracoviens sur la Métaphysique d’Aristote
Nihil notum nisi complexum. Von der Sach- zur Satzwissenschaft am Beispiel der Metaphysik
John Buridan on Man’s Capability of Grasping the Truth
Logica
Diale〈c〉tica est ars artium, scientia scientiarum
Wissenschaftstheoretische Differenzierungen zur Logik bei Johannes Buridan
Mathematica
An Aspect of Medieval Mathematics: Infinity in Number in Some English Commentaries of the XIIIth Century
Die Struktur mathematischer Urteile nach Thomas von Aquin, Expositio super librum Boethii De Trinitate, qu. 5 art. 3 und qu. 6 art. 1
Physica
Die Naturwissenschaft als Metaphysik der Natur bei Wilhelm von Conches
One more semi-Averroistic Physics-Commentary of the Late Thirteenth Century
Wissenschaft und Glaube bei der Frage nach dem Ursprung der Materie in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus dem 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts
Zur Funktion der aristotelischen Ursachenlehre in der Scholastik
Die Naturphilosophie als „scientia realis“ bei Wilhelm von Ockham
Ethica
L’éducation morale et les arts chez Aristote et Thomas d’Aquin
The Pars moralis of the Summa theologiae as Scientia and as Ars
Agere ex ignorantia. Über die Unwissenheit im praktischen Wissen bei Thomas von Aquin
Kunstwissen und sittliches Wissen in der Philosophie des Nominalismus
Theologica
Theologie zwischen Weisheit und Wissenschaft
Theologie und menschliche Wissenschaften in den principia des Aegidius Romanus
Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit in der Summa des Heinrich von Gent († 1293)
Erkennen als Erkennen Gottes. Epistemologische Aspekte der Intellekttheorie Meister Eckharts
Mystica
Kontemplation und Konstruktion. Zum Verhältnis von Mystik und Wissenschaft bei Hugo von St. Viktor
„Theologica perscrutatio labi debet ad inflammationem affectus“. Der Zusammenhang von mystischer Theologie und Philosophie bei Johannes Gerson
Vera scientia christianae philosophiae. Zu Heinrich Seuses „Horologium sapientiae“ II. 1 und 3
Vom Abgrund des Wissens. Denken und Mystik bei Tauler
Judaica
Der Begriff der scientia bei Levi ben Gerson
Scientia bifrons. Les ambivalence de la ’hokhmâh (sapientia / scientia) dans la pensée juive du moyen âge occidental après Maïmonide
Arabica
Al-Farabis Kommentar zu „De interpretatione“ des Aristoteles. Ein Beitrag zur Entwicklung der Sprachphilosophie im Mittelalter
Rôle des traductions dans l’évolution de ars et scientia au haut moyen âge et à la fin du moyen âge
Begründung des rational-wahrheitstreuen Wissens in der mittelalterlichen arabisch-moslemischen Philosophie
Studium
Artes und Bildung im mittelalterlichen Böhmen (vor der Gründung der Prager Universität)
Zum böhmischen Bildungs- und Bibliothekswesen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Vom Versuch der Errichtung der Prager Universität durch Wenzel II. zu ihrer Gründung durch Karl IV.
Zum Prüfungsstoff ad gradum baccalaureatus in artibus liberalibus an der Universität Erfurt nach der collectio von 1420
Historica
Imago Mundi. Marginalien zum „Weltbild“ des Honorius Augustodunensis (insbes. Imago Mundi, I, 1 und 5–7)
„Ars“ und „scientia“ in der Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts
Das Naturalisieren der Geschichtsschreibung nach dem 12. Jahrhundert (Der Bedeutungswandel von persona, tempus und locus)
Canonica
Canonica sapiencia und civilis sciencia: Die Nutzung des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs durch den Kanonisten Johannes von Legnano (1320–1393) im Kampf der Disziplinen
Universität und Konzil. Verfassungsrechtliche und wissenschaftstheoretische Einflüsse der Universitäten auf die Konzilien von Konstanz und Basel
Litterae
Deutsche theologische Literatur des 12. Jahrhunderts und der Umbruch des Wissenschaftsverständnisses
Henri d’Andeli, La Bataille de VII Arts – ein Streit um den Niedergang des Studiums der Grammatik und Rhetorik an der Pariser Universität
Erkenntnis des Menschen in der Kunst des Archimimen. Zu Juan Luis Vives’ Fabula de homine
Aesthetica
Kunst und Schönheit. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik
Ein Beitrag zum Verständnis von usus und ars im 11./12. Jahrhundert
Ars aedificandi – ars celebrandi. Zum pulchritudo-Verständnis in den Kirchweihbeschreibungen des Abtes Suger von Saint-Denis
Humana inventa. Zur künstlerischen Darstellung der artes mechanicae
Music as Art and Science in the Fourteenth Century
Namenregister

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Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter

w DE

G

Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln

Herausgegeben von Albert Zimmermann

Band 22/1

Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Scientia und ars im Hochund Spätmittelalter 1. Halbband

Herausgegeben von Ingrid Craemer-Ruegenberg und Andreas Speer Für den Druck besorgt von Andreas Speer

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter / hrsg. von Ingrid Craemer-Ruegenberg und Andreas Speer. — Berlin ; New York : de Gruyter. (Miscellanea mediaevalia ; Bd. 22) ISBN 3-11-014058-6 NE: Craemer-Ruegenberg, Ingrid [Hrsg.]; GT Halbbd. 1. [Albert Zimmermann zum 65. Geburtstag], — (1993) NE: Zimmermann, Albert: Festschrift

ISSN 0544-4128 © Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Allegorische Wissenschaftseinteilung mit Medicina lactam. Pergamenthandschrift, Frankreich, 4. Viertel 11. Jahrhundert: Prudentius, (Lyon Bibliothèque Municipale, Ms. Palais des Arts 22).

Psjchomachie

Albert Zimmermann zum 65. Geburtstag

Vorwort Unter dem Thema „Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter" stand die achtundzwanzigste Kölner Mediaevistentagung, die vom 8. bis 11. September vom Thomas-Institut der Universität zu Köln ausgerichtet wurde. Mehr als 250 Teilnehmer aus über 20 Ländern, darunter wiederum eine größere Zahl von Forschern aus Osteuropa, folgten der Einladung und ließen die Kölner Mediaevistentagung abermals zu einem interdisziplinären Diskussionsforum werden. Der vorliegende Band 22 der Miscellanea Mediaevalia steht — einer langen Tradition folgend — gleichfalls unter dem Generalthema der achtunzwanzigsten Kölner Mediaevistentagung. Der Doppelband enthält jedoch nicht nur die in elf Sektionen gehaltenen Vorträge 1 , sondern wie die vorausgehenden Bände zusätzliche Beiträge, welche die Diskussion ergänzen und weiterführen. Das Thema der Tagung wie dieses Bandes behandelt eine zentrale Fragestellung der Geistesgeschichte des Mittelalters, weist aber zugleich über die Mittelalterforschung hinaus auf das Verständnis von Wissen und Wissenschaft im allgemeinen. Denn nicht nur in rezeptionsgeschichtlicher, sondern auch in systematischer Hinsicht stellt das Mittelalter ein wichtiges Bindeglied in Hinblick auf neuzeitliche Konzeptionen dar. Während nämlich bis in das 12. Jahrhundert hinein das spätantike Bildungsprogramm der sieben freien Künste zusammen mit der Theologie das mittelalterliche Bildungsverständnis bestimmte, erfahrt dieses fortan eine grundlegende Wandlung. Der Begriff der Wissenschaft wird enger gefaßt als der traditionelle Begriff der Lehre. Zugleich werden Sprache und Methodik neu geregelt und die Formen der Wirklichkeitsbetrachtung zunehmend differenziert und spezialisiert. Historisch besonders anschaulich wird dieser Vorgang in der Gründung der Universitäten, während die bislang dominierenden Bildungsinstitutionen, die Kloster- und Kathedralschulen, an Bedeutung verlieren. Seinen theoretischen Ausdruck findet das neue Wissenschaftsverständnis in einem neuen, an die Zweiten Analytiken anknüpfenden Wissenschaftsbegriff, der eine methodisch aufgebaute und an Regeln gebundene Weise von Erkenntnis fordert. Dieser Wandel läßt sich auch begriffsgeschichtlich verfolgen: An die Stelle von „ars" tritt nunmehr vorwiegend „scientia". Aus einer vormals einheitlichen Erkenntnisart „Wis1

Cf. Α. Speer, Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter. Tagungsbericht über die 28. Kölner Mediaevistentagung vom 8. bis 11. September 1992, in: Bulletin de philosophie médiévale 34 (1922), 2 3 5 - 2 3 8 .

χ

Vorwoit

sen" entwickelt sich eine Vielzahl verschiedener Wissenschaften, die jeweils ihren besonderen Gegenstandsbereich haben. Dieses neue Wissenschaftsverständnis gilt zu Recht als eine der wesentlichen Konstanten auch der gegenwärtigen Wissenschaftskultur und kann somit als Beispiel für eine ungebrochene Kontinuität zwischen Mittelalter und Neuzeit gelten. Die in dieser Skizze nur angedeutete Komplexität dieses einflußreichen geistesgeschichtlichen Vorganges kann nur unzureichend erfaßt werden, wenn man, wie dies zumeist geschieht, lediglich nach den als „artes" oder als „scientiae" bezeichneten Disziplinen fragt. Der Tagung und auch der Zusammenstellung dieses Bandes lag daher die Absicht zugrunde, den genannten Transformationsprozeß in seinen nicht immer bruchlosen Ubergängen zu verfolgen und auch vermeintliche Nebenaspekte, denen abseits der Hauptströmungen gleichwohl eine nicht unbedeutende Wirkung zukommt, zu berücksichtigen. Der begriffsgeschichtliche Leitfaden bietet die Möglichkeit, die verschiedenen systematischen, historischen und philologischen Aspekte dieser grundlegenden Thematik miteinander in Beziehung zu setzen und so dem Wandel im Wissenschaftsverständnis und in der Wissensproblematik überhaupt nachzuspüren. Die Gliederung des Doppelbandes lehnt sich an die Sektionsthemen der Tagung an, ist jedoch allgemeiner gehalten und thematisch weiter gefaßt. Mit Ausnahme der ersten Abteilung, in der die Begriffsdistinktion selbst zum Gegenstand gemacht wird, lassen sich die Überschriften adjektivisch den beiden Leitbegriffen „ars" und „scientia" zuordnen, wobei oftmals beide Möglichkeiten offenstehen. Damit folgt die Gliederung der Themenstellung. Im einzelnen sind die als Überschriften gewählten Begriffe — mit Ausnahme des letzten — mittelalterlichen Wissenschaftseinteilungen entnommen 2 , ohne daß mit der getroffenen Anordnung eine weiterreichende eigene Systematik verbunden wäre. Wie bereits erwähnt, nahm auch an der achtundzwanzigsten Kölner Mediaevistentagung wiederum eine größere Zahl osteuropäischer Mediaevisten teil. Damit wurde die wichtige Brückenfunktion der Kölner Mediaevistentagung zwischen westlicher und östlicher Mediaevistik erneut unterstrichen, die schon in den vergangenen Jahren deutlich geworden war. Der vorliegende Band der Miscellanea Mediaevalia spiegelt gleichfalls einige Aspekte dieses zunehmend wichtiger werdenden Forschungsdialogs wider. Daß gegenüber der Mittelalterforschung jedoch durchaus verschiedene Erwartungshaltungen bestehen, kam auch bei einem Podiumsgespräch am ersten Abend der Mediaevistentagung zum Ausdruck, das unter der Frage stand: „Warum und zu welchem Zweck erforschen wir das Mittelalter?". Die westliche Perspektive ist vor allem durch forschungs2

Cf. hierzu J. A. Weisheipl, Classification of the Sciences in Medieval Thought, in: Medieval Studies 27 (1965), 5 4 - 9 0 .

Vorwort

XI

interne Motive bestimmt. Das Mittelalter wird überwiegend als historische Voraussetzung zum Verständnis von Neuzeit und Gegenwart gesehen, bisweilen auch in systematischer Hinsicht als ein Typus von Rationalität, wobei bestimmte Fragestellungen und Problemstellungen weiterhin als gültig angesehen werden. In der östlichen Mediaevistik treten die lange Zeit vorherrschenden forschungsexternen Motive zunehmend in den Hintergrund. Das Mittelalter gilt nicht mehr als ein gleichsam ideologiefreier Fluchtraum, sondern bietet eine Möglichkeit, die eigene Kultur im europäischen Kontext zu verstehen. Als eine unabdingbare Voraussetzung für das interdisziplinäre Gespräch und für die erwähnte Begegnung von Forschern muß die finanzielle Unterstützung bezeichnet werden, die uns von verschiedener Seite gewährt wurde. Unser Dank gilt namentlich der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, ferner der Rudolf Siedersleben'schen Otto Wolff Stiftung sowie dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Darüber hinaus muß auch das Mäzenatentum einiger Firmen mit Dankbarkeit erwähnt werden, dem bei zunehmenden Aufgaben eine wachsende Bedeutung zukommt. Sie alle, staatliche Stellen, Stiftungen und Mäzene, haben zu einem nicht unerheblichen Teil dazu beigetragen, daß die achtundzwangzigste Kölner Mediaevistentagung schließlich so stattfinden konnte, wie wir sie geplant hatten. Unser Dank gilt ferner allen Mitarbeitern der Universität zu Köln, deren Hilfe wir stets in Anspruch nehmen durften. Besonders gedankt sei erneut den Mitarbeitern des Musikwissenschaftlichen Instituts und seinem Direktor Prof. Dr. K. W. Niemöller für die Bereitstellung des Musiksaales als Tagungsort und für die vielfache technische Unterstützung. Herzlich gedankt sei auch Herrn Prof. Dr. Bernhard König, der die Teilnehmer der Tagung als Rektor der Universität zu Köln im Alten Senatssaal empfing. Schließlich gilt unser Dank der Direktorin des Schnütgen-Museums der Stadt Köln, Frau Dr. Hiltrud Westermann-Angerhausen, die uns für einen Nachmittag Gastrecht in St. Caecilia und damit auf historischem Kölner Boden gewährte. Vorbereitung und Organisation der achtundzwangzigsten Kölner Mediaevistentagung lagen in den bewährten Händen der Mitarbeiter des Thomas-Instituts. Das gilt auch für die redaktionellen Arbeiten dieses Doppelbandes, dessen Register erneut Herr Hermann Hastenteufel M. A. erstellte. Allen Mitarbeitern sei für ihre engagierte Mitarbeit und vielfaltige Unterstützung besonders herzlich gedankt. Schließlich gilt unser Dank Frau Grit Müller für die umsichtige redaktionelle Betreuung und dem Verlag Walter de Gruyter, der den Doppelband in bewährter Weise ausstattete und für eine zügige Drucklegung sorgte.

XII

Vorwort

Anläßlich der achtundzwanzigsten Kölner Mediaevistentagung feierte Herr Prof. Dr. Albert Zimmermann das fünfundzwanzig) ährige Jubiläum als Direktor des Thomas-Instituts und damit auch als Veranstalter der Kölner Mediaevistentagungen. Zugleich war diese Tagung die letzte, die Albert Zimmermann geleitet hat. Denn mit dem Ende des Sommersemesters 1993 wird Albert Zimmermann nach Vollendung seines 65. Geburtstages emeritiert. Als Prof. Dr. Albert Zimmermann mit Beginn des Wintersemesters 1967/68 den verwaisten Lehrstuhl von Paul Wilpert und ineins die Leitung des Thomas-Instituts übernahm, trat er mittelbar die Nachfolge seines eigenen akademischen Lehrers und Förderers Josef Koch an. Nach Abschluß der Examina für das Lehramt an Höheren Schulen in den Fächern Mathematik, Physik und Philosophie war Albert Zimmermann zunächst für einige Jahre in den Schuldienst gegangen; den akademischen Studienabschluß bildete seine Dissertation über die Questionen des Siger von Brabant zur Physik des Aristoteles. Das Engagement als Gymnasiallehrer und die Schulerfahrung haben gewiß dazu beigetragen, die vorbildliche Klarheit in Denken und Unterrichten, die das Wirken von Albert Zimmermann nach wie vor auszeichnet, zur Ausprägung zu bringen. Gegen Ende der 50er Jahre regte Josef Koch seinen Schüler dazu an, eine Habilitationsschrift in Angriff zu nehmen, und er verhalf ihm auch zu einem Forschungsstipendium für die Zeit der notwendigen Handschriftenstudien in Paris sowie in Oxford und Cambridge. Kurz nach Vollendung des Habilitationsverfahrens erschien die anregende und lehrreiche Arbeit zum Thema „Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen" als Band 8 der „Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters". Es erfolgte — unter Beibehaltung der Privatdozentur in Köln — eine Berufung an die damalige Pädagogische Hochschule (und heutige Gesamthochschule) Siegen und schließlich die Berufung auf den Kölner Lehrstuhl. Einige von uns, die bereits mit Gewinn bei dem jungen Privatdozenten studiert hatten, haben in der Folgezeit den weiteren wissenschaftlichen Werdegang und Lebensweg von Albert Zimmermann zum mindesten für jeweils etliche Jahre begleitet: als Assistenten, die später selbst die Hochschullaufbahn antraten, als wissenschaftliche Mitarbeiter und als Doktoranden. Die Weiterführung der Tradition der Mediävistentagungen, die Mitarbeit in der Société internationale pour l'étude de la philosophie médiévale (S. Ι. E. P. M.) wie auch gemeinsame Bemühungen um spezielle Forschungsgegenstände — wie z. B. den des Averroismus im Mittelalter oder den der mittelalterlichen Metereologie — führten dazu, daß Albert Zimmermann enge Kontakte zu einer Reihe renommierter Kollegen aus dem In- und Ausland knüpfte, Kontakte, aus denen auch Freundschaften entstanden.

Vorwort

XIII

In der Nachfolge von Josef Koch und Paul Wilpert betreute Albert Zimmermann als Herausgeber, bzw. Mitherausgeber etliche Editionen sowie Forschungsreihen und Zeitschriften. Die von Wolfram Klatt erstellte Publikationsliste gibt einen Überblick über das weitreichende Engagement. Als Direktor des Thomas-Instituts inaugurierte Albert Zimmermann zudem eine Reihe weiterer wichtiger Forschungsvorhaben. Im Jahre 1978 trat die Union Académique an ihn mit der Bitte heran, die Leitung der in den USA begonnenen Edition der Werke des Averroes (der lateinischen Übersetzungen sowie der im Arabischen oder in hebräischer Umschrift erhaltenen Texte) zu übernehmen. Eine gewisse Krönung seiner wissenschaftlichen Laufbahn erfuhr Albert Zimmermann im August 1992, als er in Ottawa einmütig zum Präsidenten der S. I. Ε. P. M. gewählt wurde. Trotz seiner vielseitigen mediävistischen Aktivitäten ist Albert Zimmermann seinem ersten Beruf, dem des Gymnasiallehrers, treu geblieben. Seit 1970 steht er dem Essener Institut für Lehrerfortbildung der Bistümer in Nordrhein-Westfalen als Wissenschaftlicher Leiter vor. In etlichen Publikationen erörtert er grundsätzliche Gedanken zum Schul- und Bildungswesen. Gerade wir, seine Schüler und lang- oder kurzfristigen Mitarbeiter, müssen auch auf Albert Zimmermanns Verdienste als Hochschullehrer hinweisen. In geradezu spannenden Vorlesungen eröffnete er Semester für Semester den Zugang sowohl zu verschiedenen Problembereichen der mittelalterlichen Philosophie(-Geschichte) als auch zu eher systematischen Themen — beispielsweise der Logik, der Erkenntnistheorie, der Naturphilosophie und der Ethik. Die Haupt- und Oberseminare zu den unterschiedlichsten Texten und Problemen sind stets ein Musterbeispiel genauen, sachbezogenen Miteinander-Forschens gewesen. Dieser 22. Band der Miscellanea Mediaevalia ist Albert Zimmermann gewidmet. Er ermöglicht, wie wir meinen, auf besondere Weise einen Blick auf sein wissenschaftliches Wirken. Denn neben der wissenschaftlichen Arbeit, die sich in einer Vielzahl von Veröffentlichungen niederschlug, und der akademischen Lehre galt sein besonderes Interesse stets der Förderung der internationalen Zusammenarbeit. Eine Vielzahl von Gastforschern und Stipendiaten hat im Thomas-Institut arbeiten und studieren können. Gleichsam im Schnittpunkt dieses Lebenswerkes befindet sich die Kölner Mediaevistentagung als wichtiger Bestandteil der mediävistischen und philosophischen Forschungsdiskussion, als Instrument des akademischen Lehrens und Lernens sowie als internationale Begegnungsstätte. Somit stehen die Beitragenden gleichsam auch stellvertretend für alle, die in den vergangenen 25 Jahren an den Kölner Mediaevistentagungen teilgenommen haben. Darüber hinaus haben zahlreiche Kollegen aus der Mittelalterforschung sowie etliche Schüler sich zum Thema „Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter" Gedanken gemacht und berichten

XIV

Vorwort

aus ihrem jeweiligen Arbeitsbereich. Das Rahmenthema berührt eines der Hauptanliegen von Albert Zimmermann: Immer wieder hat er sich bemüht, auf das hohe Niveau und den anspruchsvollen Standard des mittelalterlichen Denkens und Wissensverständnisses hinzuweisen. Dem Irrglauben an ein „finsteres Mittelalter" kann nur durch Aufklärung begegnet werden. So können wir jetzt nur noch allen Mittelalterforschern danken, die so verdienstlich dazu beitragen, durch Berichte aus ihrem jeweiligen Untersuchungsbereich unseren verehrten Lehrer und „Chef zu würdigen. Im Namen auch der übrigen Mitarbeiter im Thomas-Institut und im Philosophischen Seminar. Köln, am 5. Juni 1993

Ingrid Craemer-Ruegenberg Andreas Speer

Inhaltsverzeichnis (1. Halbband) I N G R I D C R A E M E R RUEGENBERG

(Köln) — A N D R E A S

SPEER

(Köln)

Vorwort

IX

(Köln) Bibliographie Prof. Dr. Albert Zimmermann

WOLFRAM KLATT

XXIII

Scientia & Ars HANNS M A R T I N KLINKENBERG

(Aachen)

Divisio philosophiae

3

(Sofia) The Rearrangement of the Liberal Arts in the First Half of the 13th Century: Grammar and Dialectics

20

(Louvain-la-Neuve) Scientia et ars dans les »Libri Sententiarum« de Pierre Lombard. Approche lexicographique

29

(Québec) Scientia et ars dans les introductions à la philosophie des maîtres ès arts de l'Université de Paris au XHIe siècle

45

O L E G GEORGIEV

JACQUELINE HAMESSE

CLAUDE LAFLEUR

GEORGE M O L L A N D

The Quadrivium

(Aberdeen) in the Universities: Four Questions

66

(Krakau) Von den mittelalterlichen Ansätzen eines Wandels zum kopernikanischen Umbruch im Wissenschaftsverständnis

79

(Paris) De l'art des conjectures à la science divine selon Nicolas de Cues

95

MIECZYSLAW MARKOWSKI

JEANNINE Q U I L L E T

XVI

Inhaltsverzeichnis

(Wiesbaden) Scientia signorum und Ars scribendi. Nikolaus von Kues

DETLEF THIEL

Zur Zeichentheorie des

(Fribourg) Dante Aligheri ou la convergence des arts et de la science . .

107

TIZIANA SUAREZ-NANI

126

Theorica (Bonn) Regularmethode und Axiomatik. Wissenschaftliche Methodik im Horizont der artes-Tradition des 12. Jahrhunderts

145

(Hildesheim) „Theophanie celestis emblema". Zu einem Theorematabegriff bei Alain de Lille

158

(Köln) Experientia — ars — scientia — sapientia. Zu Weisen und Arten des Wissens im Anschluß an Aristoteles und Thomas von Aquin

171

M E C H T H I L D DREYER

JOHANNES K Ö H L E R

NOTKER SCHNEIDER

GIUSEPPE G A L V A N ( R o m )

„Modus quo aliqua discutiuntur, debet congruere et rebus et nobis". II concetto di modus scientiae nella filosofia di San Tommaso dAquino

189

(Bonn) Scientia in se — scientia in nobis. Zur philosophischen Bedeutung einer wissenschaftstheoretischen Unterscheidung

204

LUDGER HONNEFELDER

Metaphysica A. AERTSEN (Amsterdam) Was heißt Metaphysik bei Thomas von Aquin?

217

(Leuven) Autour du commentaire (Ρ) de Siger de Brabant à la métaphysique

240

JAN

ROBERT W I E L O C K X

Inhaltsverzeichnis

XVII

(Krakau) L'art et la science dans les commentaires médiévaux cracoviens sur la Métaphysique d'Aristote

257

(Hagen) Nihil notum nisi complexum. Von der Sach- zur Satzwissenschaft am Beispiel der Metaphysik

266

(Mheer) John Buridan on Man's Capability of Grasping the Truth . . .

281

SOPHIE W L O D E K

J A N P . BECKMANN

L A M B E R T M A R I E DE R I J K

Logica K L A U S JACOBI

Dialeifytica

(Freiburg i. Br.) est ars artium, scientia scientiarum

(Paderborn) Wissenschaftstheoretische Differenzierungen zur Logik bei Johannes Buridan

307

CHRISTOPH K A N N

329

Mathematica (Pisa) An Aspect of Medieval Mathematics: Infinity in Number in Some English Commentaries of the XHIth Century

343

(Köln) Die Struktur mathematischer Urteile nach Thomas von Aquin, Expositio super librum Boethii De Trinitate, qu. 5 art. 3 und qu. 6 art. 1

354

C E C I L I A TRIFOGLI

GUDRUN SCHULZ

Physica (Sofia) Die Naturwissenschaft als Metaphysik der Natur bei Wilhelm von Conches

369

(Warschau) One more semi-Averroistic Physics-Commentary of the Late Thirteenth Century

381

TZOTCHO BOIADJIEV

ZDZISLAW K U K S E W I C Z

XVIII

Inhaltsverzeichnis

(Köln/Pisa) Wissenschaft und Glaube bei der Frage nach dem Ursprung der Materie in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus dem 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts

399

(München) Zur Funktion der aristotelischen Ursachenlehre in der Scholastik

421

(Dresden) Die Naturphilosophie als „scientia Ockham

440

S I L V I A DONATI

R O L F SCHÖNBERGER

HANS-ULRICH WÖHLER

realis"

bei Wilhelm von

Ethica (Brüssel) L'éducation morale et les arts chez Aristote et Thomas d'Aquin

449

D. JORDAN (Notre Dame) The Pars moralis of the Summa theologiae as Scientia and as Ars

468

(Kerkrade) Agere ex ignorantia. Über die Unwissenheit im praktischen Wissen bei Thomas von Aquin

482

(Bochum) Kunstwissen und sittliches Wissen in der Philosophie des Nominalismus

499

G E R A R D VERBEKE

MARK

KLAUS HEDWIG

T H E O KOBUSCH

Inhaltsverzeichnis (2. Halbband)

Theologica (Tübingen) Theologie zwischen Weisheit und Wissenschaft

517

(Pisa) Theologie und menschliche Wissenschaften in den principia des Aegidius Romanus

528

(Bochum) Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit in der Summa des Heinrich von Gent (f 1293)

548

(Jena) Erkennen als Erkennen Gottes. Epistemologische Aspekte der Intellekttheorie Meister Eckharts

569

GEORG W I E L A N D

CONCETTA L U N A

LUDWIG HÖDL

UDO KERN

Mystica (Hannover) Kontemplation und Konstruktion. Zum Verhältnis von Mystik und Wissenschaft bei Hugo von St. Viktor

589

(Bonn) „Theologica perscrutati labi debet ad inflammationem affectas". Der Zusammenhang von mystischer Theologie und Philosophie bei Johannes Gerson

605

(Eichstätt) Vera scientia christianae philosophiae. rologium sapientiae" II.l und 3

620

GÜNTHER MENSCHING

GERHARD KRIEGER

RÜDIGER BLUMRICH

TAX Heinrich Seuses „Ho-

(Wuppertal) Vom Abgrund des Wissens. Denken und Mystik bei Tauler

JOHANN KREUZER

633

XX

Inhaltsverzeichnis

Judaica (Hannover) Der Begriff der scientia bei Levi ben Gerson

653

(Paris) Scientia bifrons. Les ambivalence de la 'hokhmâh (sapientia / scientia) dans la pensée juive du moyen âge occidental après Maïmonide

667

SUSANNE MÖBUSS

JEAN-PIERRE ROTHSCHILD

Arabica (Tübingen) Al-Farabis Kommentar zu „De interpretatione" des Aristoteles. Ein Beitrag zur Entwicklung der Sprachphilosophie im Mittelalter

687

(Montréal) Rôle des traductions dans l'évolution de ars et scientia au haut moyen âge et à la fin du moyen âge

739

(Moskau) Begründung des rational-wahrheitstreuen Wissens in der mittelalterlichen arabisch-moslemischen Philosophie

755

JAKOB H A N S JOSEF SCHNEIDER

ALBERT NADER

EUGENIE FROLOWA

Studium (Prag) Artes und Bildung im mittelalterlichen Böhmen (vor der Gründung der Prager Universität)

777

(Prag) Zum böhmischen Bildungs- und Bibliothekswesen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Vom Versuch der Errichtung der Prager Universität durch Wenzel II. zu ihrer Gründung durch Karl IV.

795

(Erfurt) Zum Prüfungsstoff ad gradum baccalaureatus in artibus liberalibus an der Universität Erfurt nach der collectio von 1420

807

M A R I E BLÁHOVÁ

IVAN H L A V Á C E K

JOHANNES K A D E N B A C H

Inhaltsverzeichnis

XXI

Histórica (Köln) Imago Mundi. Marginalien zum „Weltbild" des Honorius Augustodunensis (insbes. Imago Mundi, 1,1 und 5 — 7)

A N N A - D O R O T H E E VON DEN B R I N C K E N

819

(Düsseldorf) „Ars" und „scientia" in der Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts

829

(Sofia) Das Naturalisieren der Geschichtsschreibung nach dem 12. Jahrhundert (Der Bedeutungswandel von persona, tempus und locus)

846

VERENA E P P

GEORGI K A P R I E V

Canonica (Jena) Canonica sapiencia und civilis sciencia: Die Nutzung des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs durch den Kanonisten Johannes von Legnano (1320 — 1393) im Kampf der Disziplinen . .

863

(Bonn) Universität und Konzil. Verfassungsrechtliche und wissenschaftstheoretische Einflüsse der Universitäten auf die Konzilien von Konstanz und Basel

877

HELMUT G . W A L T H E R

JOSEF W O H L M U T H

Litterae (Heidelberg) Deutsche theologische Literatur des 12. Jahrhunderts und der Umbruch des Wissenschaftsverständnisses

895

(Bonn) Henri d'Andeli, La Bataille de VII Arts — ein Streit um den Niedergang des Studiums der Grammatik und Rhetorik an der Pariser Universität

900

(Heidelberg/Köln) Erkenntnis des Menschen in der Kunst des Archimimen. Zu Juan Luis Vives' Fabula de ho mine

918

ROSWITHA WISNIEWSKI

BRIGITTE STARK

H A N S G E R H A R D SENGER

XXII

Inhaltsverzeichnis

Aesthetica (Köln) Kunst und Schönheit. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik

945

(Köln) Ein Beitrag zum Verständnis von usus und ars im 11./12. Jahrhundert

967

(Köln) Ars aedificandi — ars celebrandi. Zum pulcbritudo-Vetstandms in den Kirchweihbeschreibungen des Abtes Suger von SaintDenis

981

(Braunschweig) Humana inventa. Zur künstlerischen Darstellung der artes mechanicae

1008

(North Easton) Music as Art and Science in the Fourteenth Century

1023

A N D R E A S SPEER

G Ü N T H E R BINDING

H A N N S PETER NEUHEUSER

JOHANNES Z A H L T E N

A N D R É GODDU

Namenregister

1047

Bibliographie Prof. Dr. Albert Zimmermann Zusammengestellt von

WOLFRAM K L A T T

(Köln)

Herausgeber, Mitherausgeber (Zeitschriften, Reihen, Editionen): — Archiv für Geschichte der Philosophie. Begr. 1888 von Ludwig Stein, fortgef. von Paul Wilpert, Hans Wagner und Karl-Heinz Iking. In Verb, mit Edwin M. Curley und unter ständiger Mitw. von Albert Zimmermann hrsg. von Rainer Specht. Bd 51 sqq. Berlin, New York 1969 sqq. — Corpus Commentariorum Averrois in Aristotelem/Averrois Opera. Editioni curandae praesident Albertus Zimmermann u. a. (Corpus Philosophorum Medii Aevi.) Leuven, Madrid, Jerusalem u. a. 1983 sqq. — Meister Eckart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die lateinischen Werke. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft von Konrad Weiß, Josef Koch f , Albert Zimmermann, Heribert Fischer f , und Loris Sturlese. Bd 3; 6; Stuttgart 1978 sqq. — Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität Köln. Bd 7 - 2 2 . Berlin 1970-1993. — Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters. Bd 9 sqq. Leiden, Köln 1971 sqq. — Vivarium. An International Journal for the Philosophy and Intellectual Life of the Middle Ages and Renaissance. Editors: L. M. de Rijk (Leiden), Advisory Committee: Albert Zimmermann (Cologne). Vol. 12 sqq. Leiden 1974 sqq.

Herausgeber (Monographien): — Albertus Magnus — Doctor Universalis 1280/1980. Hrsg. von Gerbert Meyer und Albert Zimmermann, für den Druck besorgt von Paul-Bernd Lüttringhaus. (Walberberger Studien. Philosophische Reihe, Bd 6.) Mainz 1980. — Gymnasiale Erziehung. Hrsg. von Heinrich Holzapfel, Christa Meves, Leo Haupts, Albert Zimmermann. Köln 1980. — Die historische Metrologie in den Wissenschaften. Hrsg. von Harald Witthöft, Günther Binding, Franz Irsigler, Ivo Schneider und Albert Zimmermann. (Sachüberlieferung und Geschichte. Bd 3.) St. Katharinen 1986.

Übersetzer: — Thomas von Aquin: Von der Wahrheit. De veritate (Quaestio I). Lat.-Dt. Ausgew., übers, u. hrsg. von Albert Zimmermann. (Philosophische Bibliothek. Bd 384.) Hamburg 1986.

XXIV

Bibliographie

Autor: a. Monographien: — Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles. Aus der Pariser Artistenfakultät um 1273. (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie. Bd 11.) Berlin 1968. — Der Mensch in der modernen Philosophie. (Christliche Strukturen in der modernen Welt. 14.) Essen 1975. — Ontologie oder Metaphysik? Die Diskussion über den Gegenstand der Metaphysik im 13. und 14. Jahrhundert. Texte und Untersuchungen. HabilitationsSchrift. (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters. Bd 8.) Leiden, Köln 1965. — Die Quaestionen des Siger von Brabant zur Physik des Aristoteles. InauguralDissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophischen Fakultät der Universität Köln. Köln 1955. — Verzeichnis ungedruckter Kommentare zur Metaphysik und Physik des Aristoteles. Aus der Zeit von etwa 1250—1350. Bd 1. (Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters. Bd 9.) Leiden, Köln 1971.

b. Aufsätze: — Albert le grand et l'étude scientifique de la nature. In: Archives de Philosophie 43 (1980), 6 9 5 - 7 1 1 . — Alberts Kritik an einem Argument für den Anfang der Welt. In: Miscellanea Mediaevalia, Bd 14. Berlin, New York 1981, 7 8 - 8 8 . — Albertus Magnus — Lehrer und Forscher, Friedensstifter und Heiliger. In: Mitteilungen des Heimatvereins Alt-Köln 40 (1980), 6—11. — Albertus Magnus und der lateinische Averroismus. In: Albertus Magnus — Doctor Universalis 1280/1980. Mainz 1980, 4 6 5 - 4 9 3 . — Alles kreist um die Sonne. Das neue Weltbild des Nikolaus Kopernikus. In: WDR-Schulfunk 1962, 7 5 - 8 0 . — Allgemeine Metaphysik und Teilmetaphysik nach einem anonymen Kommentar zur aristotelischen Ersten Philosophie aus dem 14. Jahrhundert. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 48 (1966), 1 9 0 - 2 0 6 . — Analoge und univoke Bedeutung des Terminus ,ens' nach einem anonymen Metaphysikkommentar des 14. Jahrhunderts. In: Studia Scholastico-Scotistica 5 (1972), 7 2 3 - 7 3 0 . — Eine anonyme Quaestio: „Utrum haec sit vera: Homo est animal homine non exsistente". In: Archiv für Geschichte der Philosophie 49 (1967), 183—200. — Anonymi Auctoris Utrum omnia entia causata sint entia per essentiam suam vel per dispositionem additam Essentiae. In: Tomasza ζ Akwinu Opuskulum „ D e Ente et Essentia". Spór o Realna Róznice Miedzy Istota a Istnieniem na Przelomie XIII i X I V w. Warszawa 1978, 1 6 6 - 1 7 2 . — Aristote et Averroes dans le Commentaires de Ferrandus de Hispania sur la Métaphysique dAristote. In: Diotima 8 (1980), 159 — 163. In: Mediaevalia Philosophica Polonorum 26 (1982), 3—7.

Bibliographie

XXV

Averroismus. In: La philosophie contemporaine/Contemporary philosophy, Tom./Vol. 6,1: Philosophie et science au Moyen Age/Philosophy in the Middle Ages. Part 1. Dordrecht, Boston, London 1990, 337—343. Ein Averroist des späten 13. Jahrhunderts: Ferrandus de Hispania. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 50 (1968), 1 4 5 - 1 6 4 . „Belehrte Unwissenheit" als Ziel der Naturforschung. In: Nikolaus von Kues. Eine Einführung in sein philosophisches Denken. Hrsg. von Klaus Jacobi. (Kolleg Philosophie.) Freiburg, München 1979, 1 2 1 - 1 3 7 . Bemerkungen zu Thomas von Aquin, Quaest. disp. De veritate I. In: Miscellanea Mediaevalia, Bd 15. Berlin, New York 1982, 2 4 7 - 2 6 1 . Der Begriff der Freiheit nach Thomas von Aquin. In: Thomas von Aquin 1274/1974. Hrsg. von Ludger Oeing-Hanhoff. München 1974, 1 2 5 - 1 5 9 . Begriff und Aufgabe einer christlichen Philosophie bei Edith Stein. In: Denken im Dialog. Zur Philosophie Edith Steins. Hrsg. von Waltraud Herbstrith. Tübingen 1991, 1 3 3 - 1 4 0 . Das Bild vom Menschen in der heutigen Philosophie unter besonderer Berücksichtigung seiner Freiheit und Personalität. In: Der Mensch und sein biblischer Auftrag. Hrsg. von Heinz Althaus. Freiburg i. Br. 1983. 9 7 - 1 2 5 . Dante hatte doch recht. Neue Ergebnisse der Forschung über Siger von Brabant. In: Philosophisches Jahrbuch 75 (1967/68), 2 0 6 - 2 1 7 . Edith Stein als Philosophin. In: Kölner Universitätsreden 67 (1987), 26—39. Der Evolutionsbegriff in der Sicht der Kosmologie und der Physik. In: Engagement 3 (1985), 3 3 0 - 3 3 6 . Ferrandus de Hispania. Ein spanischer Averroist um 1300. In: Actas del V Congreso Internacional de Filosofia Medieval, II. Madrid 1979, 1393—1399. Freie Schule als Schule einer freien Gesellschaft. In: Gymnasiale Erziehung, hrsg. von der Fördergemeinschaft für Schulen in freier Trägerschaft e. V. Köln 1980, 129-154. Galileis Überlegungen zum Phänomen der Trägheit — Ihre Wurzeln und ihre Nachwirkungen. In: Festschrift für Elisabeth Gössmann. Hrsg. von Helen Schüngel-Straumann und Theodor Schneider. Freiburg 1993. Im Druck. Gedanken — Anregungen — Hinweise. 10 Jahre Grundschule in NordrheinWestfalen. In: Erziehung heute 6 (1979), 1 5 - 1 6 . Gedanken des Thomas von Aquin über defectus naturalis und timor. In: Miscellanea Mediaevalia, Bd 19. Berlin, New York 1988, 4 3 - 5 2 . Gedanken des Thomas von Aquin über Spiel und Scherz. In: Geist und Zeit. Wirkungen des Mittelalters in Literatur und Sprache. Festschrift für Roswitha Wisniewski zu ihrem 65. Geburtstag. Hrsg. von Carola L. Gottzmann und Herbert Kolb. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris 1991, 2 0 1 - 2 0 9 . Die gegenwärtige Diskussion von Lehren des Thomas von Aquin in Deutschland. In: Gli Studi di Filosofia Medievale Fra Otto e Novecento. Roma 1991, 155-166. Geistige Strömungen im 12. Jahrhundert. In: St. Remigius — Bergheim/Erft. Festschrift aus Anlaß der 800-Jahrfeier der Kirchweihe. Bergheim/Erft 1976, 59-72. Die „Grundfrage" in der Metaphysik des Mittelalters. In: Archiv für Geschichte der Philosophie 47 (1965), 1 4 1 - 1 5 6 . Hat Thomas von Aquin die Knechtschaft unter Menschen als naturgegeben legitimiert? In: Religionsunterricht an Höheren Schulen 12 (1969), 119 — 127.

XXVI

Bibliographie

— In Memoriam Paul Wilpert (26.04.1906-01.01.1967). In: Archiv für Geschichte der Philosophie 50 (1968), 2 - 7 . — „Ipsum enim omnia esse nova, necessario magis indigemus ponere primam causam quae est causa omnium novorum: quia si (sit) aeternum, non indigeret quia aeternum unde aeternum non indiget causa. Licet ista sit tenenda secundum fidem et veritatem, tamen hoc not sit verum secundum principia Philosoph!. Quod potest probari ex duohus..." (f. 212ra). This introductory part of the "Corpus quaestionis" is followed by proofs of Aristotle's heterodox conception. Cf. Phys. 1,60: Utrum materia prima immediate sit producta a prima causa (f. 82vb). "Dicendum: Omnes istae opiniones sunt erroneae et contra veritatem et fidem. Unde dicemus quod materia prima est immediate causata quia..." (ibidem, f. 82vb). Cf. Phys. 1,28: XJtrum aliquidpossit fieri ex nihilo (ff. llrb—12vb); 1,58: Utrum materia sit ingenerabilis et incorruptibilis (f. 82ra—82va). A major part of the "Corpus quaestionis" analyzes one more problem, and this analysis has a form of a "dubium"·. whether the creation is eternal or happened "in tempore". The author presents the "opinion of philosophers" and the thesis of faith: "sed diversitas est inter philosophes et fidem et veritatem. Quia fides et Veritas sustinent quod de novo potest aliquid causari a prima causa ex nullo praesupposito quia eandem potentiam et eandem voluntatem habet; modo prima causa sit ab aeterno; ergo sicut ab aeterno potuit aliquid causare de novo ex nihilo, ergo et nunc. Et haec est vertías. Sed philosophi dicerent quod de novo prima causa non posset aliquid creare ex nihilo..." (Phys. 1,28, f. 12va). Thereafter we read arguments by "the philosophers" and counter-arguments as well.

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Question VIII,4, which represents the last category (5), deals with the eternity of world and of movement 9 , and its structure is very complicated. It begins with six "Rationes principales" which argue the orthodox solution (world and movement are not eternal); the entire " C o r p u s quaestionis", except one small fragment, proves the eternity of world and movement, and the replies to the "Rationes principales" reject their orthodox arguments. The small fragment of the "Corpus quaestionis" mentioned above has a form of a short "declaratio fidei", and it is followed by further proofs of "Aristotle's solution" 10 . If there were nothing more at the end of the text, it would be considered as a classical heterodox Averroistic question; however, the last reply to the "Rationes principales" does not close the dispute: This reply is followed by a series of counter-arguments directed against the heterodox proofs contained in the "Corpus quaestionis". Therefore, the anonymous author finishes his question by asserting the orthodox solution: neither world nor movement are eternal; consequently, one may admit that, after some hesitation, he finally agrees to the thesis of the faith. Some of the "semi-Averroistic" commentaries mentioned at the beginning of the present paper (not all) contain contradictory questions which analyze the same topic and give contradictory solutions 11 . The anonymous Physics-Commentary does not present questions of this kind. However, it is characterized by a contradiction or hesitation concerning the problem of mediate or immediate action of God upon world. One question (VIII,25) proves that God cannot move the prime mobile without any intermediary, and two questions (1,58 and 1,60)12, which deal with the mediate or immediate creation of prime matter, present contrary solutions to this problem. Question 1,60, as mentioned above, gives the following orthodox solution: God creates prime matter without any intermediary (although extensive information on — and proofs of the contrary thesis occupy the major part of its " C o r p u s quaestionis"). Question 1,58 dealing with the generation of prime matter, comprehends one subordinated "dubium"·. "utrum (materia) mediate vel immediate f i t a prima causa", and this "dubium" has been solved according to purely Averroistic patterns. Having mentioned "the opinion of theologians", the anonymous author proves "Ar-

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11 12

Cf. Phys. VIII,4: Utrum mundus sive motus sint aeterni (ff. 121rb —122ra). A short introduction to the second part of the "Corpus quaestionis" enumerates two opinions on the discussed topic, the first of Plato and the second "aliorum philosophorum", both of them asserting the eternity of world. Thereafter we read a typical "declaratio fidei" (followed by a series of heterodox arguments): "Sed itlud est contra fidem et veritatem, nec illud debemus credere, sed debemus credere primiter mundum et motum incepisse et terminari. Rationes autem philosophorum, et maximi philosophi maxima et suorum sequatium, fuerunt istae et omnes aliae ad ista reducuntur" (Phys. VIII,4 f. 121vb). This second sentence begins the "philosopher's argumentation" proving the eternity of world and movement. Cf. Ζ. Kuksewicz, Late thirteenth century (in print). For the titles of these questions cf. footnotes 4, 5, 7.

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istotle's solution": prime matter cannot be immediately created by the Prime cause; and the last argument proving this solution is followed by the "declaratio fidei" without any argumentation 13 . II. The characteristics of the doctrine of the anonymous Physics-Commentary will comprehend the following problems: the creation "ex nihilo", a mediate or immediate creation of world, the eternity of world, the infinite God's power and the relation between prime matter and its potentiality. The creation The anonymous author affirms and proves the creation "ex nihilo" in three questions: question 1,28, question 1,58 and question VIII,5. His arguments for the creation belong to "loci communes" used frequently at the end of the thirteenth century: (a) if there were not a creation "ex nihilo", we would have to proceed "ad infinitum" looking for a prime material cause of the generation; (b) the distance between "something" and "nothing" is infinite; God, because he has infinite power, can eliminate this infinite distance14, (c) Answering to Aristotle's statement which assumes that the generation of "something" from "nothing" is not possible, the anonymous author distinguishes two kinds of generation: The first of them is the "generation in proper sense" as discussed in the natural philosophy, and it is called "transmutation" which presupposes a material as the point of its departure and happens at some time. The second type of generation is called "generation in improper sense": it does not need a presupposed material and does not happen "in tempore". This second kind of generation, identical with the creation, should be called "emanation" because it proceeds from the sole prime cause15. A polemics against a counter-argument which affirms that the generation is an accident and needs, therefore, a préexistent substance, allows the anonymous author to precise his solution. He denies an opinion which 13

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The solution of this "dubium" is followed by a next question: "what is the intermediary in the creation of the prime matter", and the answer to it is a consequence of some Aristotle's theses: God creates prime matter by intermediary of celestial movement. The "declaratio fidei" finishes the analysis: "Dicendum secundum fidem et veritatem: Materia prima est causata immediate a prima causa et est corruptibilis. Quia factio de nihilo creatio est (...), ita est de novo creata a prima causa. Quia tamen retardavit prima causa productionem primae materiae, ad naturalem non spectat determinare" (Phys. 1,58, f. 87va). Cf. ff. 122ra, llrb. Cf. ff. 122rb, llrb, 82rb.

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qualifies the creation as an "accidens rationis" which does not presuppose a substance. According to his solution, each accident presupposes a substance but the creation is not an accident. A created being and the act of its creation are identical "realiter" and they differ only "ratione nostrae intelligendi": we speak namely about a "created being" if we consider it in the absolute sense, and we speak about the "creation" if we have in mind the relation ("respectas") of that being toward its cause 16 . Giles of Orleans 17 analyzes extensively the problem of creation in his second De generatione-Commentary and, more summarily, in the first version of the Physics-Commentary, and these analyses are only partly similar to analyses by the anonymous author. We find in both commentaries proofs based on infinity of the prime cause and on the difference between the generation in the proper sense (transformation) and the creation identified with emanation. Giles' of Orleans idea of the creation as an accident is different from the conception discussed by the anonymous author: Giles of Orleans considers the creation as an accident of the active potentiality of the prime cause. The concept of the active potentiality of the prime cause helps him also to reject heterodox argumentation: It is not necessary that a created being presupposes a passive potentiality; this being is, before the creation, in the active potentiality of the prime cause. If we compare the argumentation concerning this topic in works by Giles of Orleans and in the anonymous Physics-Commentary, we perceive one significant difference between both authors: Giles of Orleans in his De generatione-Commentaries and in the first version of his Physics-Commentary puts forwards the same two arguments and treats them as equally important 18 . The anonymous author cites the argument based on God's infinite power in an extremely short way, and the argumentation founded on the difference between the creation and the transformation is much more detailed and extensive than it is in Giles' commentaries.

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"Sed solet dici quod creatio est accidens rationis et tale bene potest praecedere suum subiectum; ideo creatio est in creato. Sed dico quod creatio et creatum esse sunt realiter idem et differunt ratione: quia creatum esse dicit rem in se absolute et creatio dicit earn ut habet respectum ad suam causam. Et ita non potest dici quod accidens praecedat suum subiectum quia quodcumque accidens, sive sit realis sive rationis, impossibile est quod praecedat suum subiectum quia tunc est ponere accidens sine subiecto etc" (Phys. 12, f. 12v—12vb). I have decided to compare the anonymous work with the Physics-Commentary by Giles of Orleans because the latter is the only commentary on Aristotle's Physics belonging to the "semi-Averroistic' current which is known and studied up to now. Cf. Ζ. Kuksewicz, Le problème de l'averro'isme de Gilles d'Orléans encore une fois, in: Mediaevalia Philosophica Polonorum 63 (in print).

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T h e w a y of c r e a t i o n Having admitted the creation "ex nihilo", the author of the anonymous Physics-Commentary puts forward the question whether God uses some intermediary in his action. However, this question deals mainly with prime matter (and only accidentally mentions the whole variety of the world), and the answer by the anonymous author is ambivalent: one "dubium" contained in question 1,58 argues mediate creation, and the entire question 1,60 — immediate creation. The main argument for a mediate creation of prime matter is based on lack of any similarity between prime matter which is pure potentiality and God who is pure act: no immediate transition between two "dissimilissima" is possible; therefore an intermediary is indispensable 19 . The next question put forward asks what is this intermediary between prime matter and God, and it is answered by citing several opinions. The "heterodox dubium" in question 1,58 starts the analysis of this problem with the following statement: A celestial body cannot be this intermediary because it is in continuous movement, and the effect of movement is a changeable being ("transmutabile"), whereas prime matter is not changeable. The role of the intermediary between God and prime matter is assumed, according to Aristotle, not by the movement but by the substance of the celestial body 20 . The "orthodox question", 1,60, which contains also a major part citing heterodox opinions, presents several solutions to the problem of the intermediary. According to Algazel, the substance of prime matter is caused by the lowest intelligence and its "esse" — by the lowest celestial body. Another opinion, called "physicae loquentium", distinguishes the nature of matter and its existence: the nature of prime matter is not created, but its "esse" is created by the celestial body "virtute primae causae". According to Averroes, prime matter gets only the movement from the prime cause, and it gets it "mediate", but the prime cause is no source of its "esse"21. Although the main problem analyzed by the anonymous author concerns prime matter, some remarks about beings of our world appear also in both questions. The multiplicity of beings in the created world cannot be produced immediately by God because the immediate effect of "one" must be also one. Algazel's opinion, cited above, concerns primarily the creation of the variety in our world (the creation of prime matter has been treated very shortly): this opinion presents the way the entire hierarchy of intelli19

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"Illud quod est dissimilissimum primae causae noti potest esse eius effectus immediatus quia suus effectus immediatus debet esse similissimus; sed materia est dissimilissima primae causae quia materia est omnino in potentia, prima causa est purus actus" (1,58, f. 82ra). Cf. Phys. 1,58, ff. 81vb-82ra. Cf. Phys. 1,60, ff. 82vb" —83ra.

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gences and celestial bodies comes out from the prime cause. The "opinio pbjsice loquentium" cited above explains not only the creation of prime matter, but also of substances: substantial forms are introduced into prime matter by movements of celestial bodies 22 . The orthodox solution of the analyzed problem is cited also, very shortly, in the "heterodox question" 1,58 as an "opinio theologorum": prime matter must be immediately created by God because it is created "ex nihilo". The "orthodox question" takes over this argument and supplies it by one more: "thinking" and "acting" of the prime cause are identical with one another; therefore, if God (the prime cause) can know immediately prime matter, he can also produce it without any intermediary 23 . Giles of Orleans, who, in both versions of his De generatione-Commentary, proved the immediate creation, becomes hesitant in the first version of the Physics-Commentary: He cites the same Arabic conception of the process which starts from the prime cause and ends with prime matter (although his record is much richer than the record we read in the anonymous Physics), but he does not reject it and leaves the solution of the problem in suspense24. One more problem dealing with the way the prime cause acts upon the world concerns the movement given to the first celestial body ("primum mobile"). According to the anonymous author, this celestial body can be moved in a mediate way only, and two interpretations are proposed to explain this general statement. The first is cited from Averroes, who assumes that the "primum mobile" is moved by the intermediary of two movers: one of them gives it the infinite duration, the other — a determined velocity. According to the second interpretation, the prime cause moves the first mobile by the intermediary of the first intelligence which is its "movens immediatum"; however, the prime cause, which is "primum movens absolute", is "a more immediate mover" ("movens immediatius"') in respect to the first mobile than it is in respect to any other celestial body 25 . This last remark gives the impression of a tendency to attenuate the discrepancy between the heterodox solution by Averroes and the orthodox thesis. However, the effect of this distinction consists only in verbal assimilation of the terminology used by Averroes to the terminology used by theologians.

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Cf. Cf. Cf. Cf.

Phys. 1,58, f. 82vb; 1,60, f. 82vb. Phys. 1,58, f. 82ra; 1,60, £ 83ra. Ζ. Kuksewicz, Le problème de l'averro'isme de Gilles d'Orléans (in print). Phys. VIII,25, f. 126ra.

One more Semi-Averroistic Physics-Commentary

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E t e r n i t y of c r e a t i o n Assuming that the world has been created by God, either immediately or mediately, one more important problem must be solved: is the world eternal, which means — created eternally, or was it created "in tempore"? This problem is analyzed very amply in the anonymous Physics-Commentary and it seems to me that its author, who shows a strong inclination toward the concept of the eternity of world, has not finally decided which side he should take. One entire question (VIII,4) and an ample part of another one (1,28) analyzes this problem, and several remarks dealing with it are contained in four other questions (VI,10; VI,20; VIII,2; VIII,3). The world is in continuous movement; therefore both — world and movement — must be either eternal or created "in tempore". However, there is no movement without time and no time without movement; therefore, if there is no beginning of time, the movement is eternal also; but time can begin only in a moment ("nunc") which also belongs to time. Consequently, if there were a first movement, there would be time before the first time. Furthermore, mobile and its movement are both either eternal or not. They cannot be created "in tempore" because a "mobile" is produced by a movement and there is no movement without something which moves. The next argument, cited frequently by Latin Averroists, proves that an eternal and unchangeable cause produces always its effect; therefore, God, being an eternal and immobile cause, produces the world "in all eternity" ("/» omni aeternitate")26. These arguments are presented in the "heterodox part" of question VIII,4, and there is no mention about an "opinio fidei et veritatis". The "heterodox dubium" in question 1,28 starts by stating the difference between "philosophers" and faith 27 , and it presents a variation of the last argument cited above in question VIII,4: if the prime cause produced something "de novo", either this cause would comprehend a potentiality towards this "something", or there would be some defect in this cause which contradicts the nature of God 28 . Both questions contain not only positive proofs of eternity; they also cite the most important argument of the contrary opinion and reject it. According to this argument, called "theological", God had always (eternally) the will to produce world at some precise moment; therefore, no change in his will was necessary at the moment of creation. The answer to this argument, given in question 1,28, states that there must be some reason for postponing an effect by an unchangeable eternal cause which, by its nature, must produce its effect eternally: This reason cannot be accidental, that is — "ex parte effectus" which does not exist yet; but it 26 27 28

Cf. Phys. VIII,4, £ 1 2 1 r b - 1 2 1 v a . Cf. footnote 8. Cf. Phys. 1,28, ff. l l r b —12va.

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Zdzisiaw Kuksewicz

cannot be "ex se" — because of some expectation by the prime cause — either: If the prime cause expected something, it would mean that the prime cause was lacking something 29 . The polemics in question VIII,4 goes on a similar way: The prime cause cannot postpone its effect because it would mean an expectation of something; however, expecting something presupposes a defect. Moreover, at the moment the effect is produced, the will of the prime cause is not the same as it was before because the act of will is different when expecting and when producing something; however, the will of God is unchangeable 30 . Both questions which prove the eternity of world comprehend also parts which argue the orthodox thesis. Several arguments contained in the "Corpus quaestionis" in question VIII,4 have their counter-arguments in the supplement at the end of the question 31 , and the "dubium" in question 1,28 comprehends also one counter-argument against an earlier heterodox proof. This counter-argument states that we do not know why the prime cause has postponed the creation because our intellect is not able to know God. However, we can suppose that God decided to show his power: If he had created the world eternally, he would be considered similar to natural necessary causes; having postponed his effect, he shows his difference from natural causes and the "sufficiency of his power" 32 . The "orthodox supplement" to question VIII,4 begins by a more ample version of the counter-argument in question 1,28. Thereafter we read answers to some further heterodox arguments contained in the "Corpus quaestionis"·. There was no change in the prime cause when, being a "motor in potentia", it became "motor in actif'\ only some relation has been acquired at that moment, and this relation is nothing real and different from the prime cause itself. Furthermore, the moment ("nunc") a movement began, was not a part of real time: this moment means some part of imaginable time Ç'tempus imaginatum"Y3. Two more questions (VI,10 and VI,20) argue the eternity of the movement and of the "mutatum"·. asking for the prime movement or "mutatum" has no sense because we would go "ad infinitum" looking for the first movement or "mutatum". Two questions (VIII,2 and VIII,3) argue that the existence of God as eternal cause can be better proved if we admit the eternity of the world; the supposition of the novelty ("novitas") of world makes this proof more difficult, if at all possible 34 . Three among these 29 30 31 32

33 34

Cf. Phys., 1.28, f. 12va. Cf. Phys. VIII,4, f. 121va. Cf. p. 2. Cf. Phys. 1,28, f. 12va. The anonymous author polemizes against an opinion which argues that God "shows his power" by the creation "ex nihilo". According to our author, God "shows the sufficiency of his power". Cf. Phys. VIII,4, f. 121va. Cf. Phys. VI,10, f. 115rb; VI,20, f. 116vb; VIII,2, f. 121ra; VIII,3, f. 121ra-121rb.

One more Semi-Averroistic Physics-Commentary

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questions do not mention the orthodox thesis which denies the eternity of world. Question VIII,3 contains, however, the following very short "declaratio fidei": According to the "faith and verity", the world is not eternal; but this is not true according to the principles of Aristotle's philosophy 35 . The analyses presented by Giles of Orleans are once more quite different from the analysis of the anonymous author, although both Physics-Commentaries testify to an hesitant attitude of their authors toward the solution of the eternity problem. The Physics-Commentary by Giles of Orleans is composed of three quasi-parts: One of them argues the eternity of world, rejects some arguments furnished in the second version of the De generatione-Commentary and accepts the rule about the unchangeable prime cause which must eternally produce its effect. The second part of his commentary distinguishes two aspects of analysis: the aspect of the natural transformation and the aspect of emanation: depending on the aspect of analysis each thesis is correct. The third part of the commentary comprehends an ample polemics against the rule concerning the effect of the unchangeable prime cause and it proves the creation "in tempore"36.

I n f i n i t e p o w e r of God The last controversial problem between the Aristotelian heterodoxy and Christian faith deals with God's power: whether it is finite or infinite? According to the standard Averroistic conception, God is infinite only "in duratione" but not "in vigore" which means that he is eternal but, considered as prime mover, he cannot have the infinite power. The anonymous author of the Physics-Commentary represents the orthodox opinion on this problem and proves it in three questions: 111,12, VII,24 and VIII,26 37 . There are two solutions to the problem of God's infinity, says the anonymous author: one of them is called by him "via Commentatoris" and the other — "via fide?'. The record of the former is short but precise, and there are some arguments cited for it, too. According to Averroes, the prime mover possesses the infinite duration but not the infinite power. There is nothing in the world which allows us to prove God's infinite power. The eternal movement effectuated by the prime cause furnishes an argument for God's infinite duration but not for his infinite power. If we say that God, who creates "ex nihilo" (which means acting from the infinite 35 36 37

Cf. footnote 4. Cf. Ζ. Kuksewicz, Le problème de l'averroïsme de Gilles d'Orléans (in print). Cf. Phys. 111,12: Utrum infinitum habeat rationem principii (ff. 93vb —94ra); VIII,24: Utrum prima causa sit infinitae virtutis in vigore (ff. 125va—126ra); VIII,26: Utrum ratio Philosophi per quam probat quod virtus movensper tempus infinitum non sit infinita valeat (f. 126ra—126rb).

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Zdzislaw Kuksewicz

distance between "something" and "nothing"), must have infinite power, that is not true. If would be, if God created from "nothing" understood as a "suppositum" ; but the affirmation "God creates ex nihilo" should be understood: "ex nihilo idest post nthiP', and this kind of action does not presuppose an infinite power 38 . Needless to say that the last argument does not correspond to Averroes' conception; it looks as an argument of some Latin Averroist who admitted creation. Averroistic argumentation does not influence the anonymous author and there is no sign of hesitation concerning the choice of the orthodox position. The prime cause has infinite perfection, duration and power: it contains all perfections, it gives some power to all other beings "in infinitum" and it has neither beginning nor end 39 . The classical proof of God's infinity based on creation conceived as a production effectuated "ex infinita distantia", a proof called by our author "ratio communis", is cited very briefly. The infinite distance means the distance between nothing and something, and the creation "ex nihilo" means that the creation presupposes nothing (it is a production "ex nullo praesupposito"), not that something is produced "from nothing". Therefore, if God is able to produce "ex nullo praesupposito" which means "ex infinita distantia", it must have infinite power 40 . Two more arguments are based on the hierarchy of power and on eternal movement. God's power is stronger than all other kinds of power; therefore it must be infinite; moreover, a cause which moves during the infinite time has infinite power because if it had not, it would move only during some determined time 41 . The anonymous author criticizes the Averroistic conception and explains his own. Averroes' classical argument proved that the mover with infinite power would move "in non tempore"·. It would be the case — objects our author — if the mover were united with matter, but the prime mover is not. It is not united with matter because if it were, there would be a corresponding infinite potentiality: each agent, which needs some "praesuppositum", has a corresponding potentiality (this potentiality is included in the "praesuppositum"X), but the prime mover needs no "praesuppositum"·, therefore, there is no reason to admit an infinite potentiality. If somebody tells that there is nothing which allows us to prove the infinite God's 38 39

40

41

Cf. Phys. VIII,24, f. 125vb. "Illud quod est principium est infinitum perfectione et duratione et vigore. Est infinitum perfectione quia omnes perfectiones in se continet; vigore quia in infinitum dat vigorem omnibus; est infinitum duratione quia nunquam incepit essse neque desinief' (Phys. 111,12, f. 93vb). "Quia quodproducit aliquid de infinita distantia, est (...) infinitae virtutis in vigore et causalitate: Modo prima causa producit entia ex infinita distantia quia producit ipsa ex nullo praesupposito: modo producere aliquid ex nullo praesupposito est producere ex infinita distantia. Non quia faciat nihil esse aliquid; tamen quia producit esse ex nullo praesupposito, ideo est infinitae virtutis in vigore" (Phys. VIII,24, f. 125va). Cf. VIII,24, f. 125vb.

One more Semi-Averroistic Physics-Commentary

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power, it is also not true: we can prove it from the creation "ex nihilo". Moreover, it can be argued for from the action of the prime cause in infinite time: Acting during infinite time by an agent which has been produced would prove only the infinite duration of that agent; but acting during infinite time done by the prime agent proves its infinite power 42 . It is evident that these counter-arguments do not furnish a good answer to the Averroistic arguments cited by our author; the positive proofs of his solution are also very schematic. Giles of Orleans, in his two versions of the De generatione-Commentary, defends the orthodox opinion on the infinite power of God, but, in the first version of the Physics-Commentary, he begins to hesitate (in the second version of this latter commentary he admits the Averroistic conception); however, his analyses are even poorer than the analysis by the anonymous author, and he does not include a separate question on that topic into his Physics. Giles of Orleans cites one Averroes' argument denying the infinite power of God and affirming his infinite duration; he argues God's infinity as the sole explication of infinite movements of celestial bodies, but he does not tell precisely what kind of infinity he has in mind: infinite power or infinite duration, and he states firmly that the prime cause is infinite "duratione" 4 3 . One terminological difference should be noted: The anonymous author uses frequently the term "vigor" ("infinita virtus in vigore") which will become regular in the next century. Giles of Orleans speaks, in his De generatione-Commentaries and in the first versions of the Physics-Commentary, about "virtus" ("infinita virtus"), using a more traditional terminology typical for the thirteenth century.

Prime matter and its essence Although the question of the relation between the essence and the potentiality of prime matter does not belong to the category of controversial problems between the orthodoxy and the heterodox interpretation of Aristotelian philosophy of nature, it is an important problem discussed extensively at the end of the thirteenth century. It must have been also very important for the author of the anonymous Physics because the question dealing with this problem is the largest among all others in his commentary 44 . Therefore, the information about solutions of controversial problems between the orthodox interpretation of Aristotle and faith will be supplied by the information about the analysis of the problem of matter.

42 43 44

Cf. VIII,24, ff. 125vb —126va. Cf. Ζ. Kuksewicz, Le problème de l'averro'isme de Gilles d'Orléans (in print). Cf. 1,49: Utrum potentia materias sit de essentia eius (ff. 49ra—50va).

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Zdzislaw Kuksewicz

Two opinions, rejected by the author, begin his analysis: the first affirms real identity of matter and its potentiality; the second, identified by our author as Giles' of Rome opinion, distinguishes potentiality conceived as a relation ("respectus") and as a subject of the potentiality. Conceived as subject, it is identical with prime matter; conceived as relation — it is different from it. A series of counter-arguments deals with the first opinion but the second opinion is rejected by one very short argument: this distinction is not correct because the subject of potentiality is "potens", not "potentia"AS. The potentiality of prime matter is not, according to our author, identical with the essence of prime matter: it is a respect ("respectus") or relation considered as an accident which exists in prime matter by the very essence of prime matter itself finest materiae per essentiam eius"). However, this respect is nothing real: it is an "ens rationis"·, therefore, its difference from prime matter is only intentional ( " d i f f e r e n t i a rationis"). The potentiality of prime matter, being a respect, is related toward a determined form; therefore, when this form becomes act of a substance, the respect related to it disappears: forms give perfection to a composite being but not to potentiality because forms introduced into matter let disappear the corresponding potentiality 46 . The anonymous author precises his conception of potentiality in polemics with several interpretations of the main thesis which considers potentiality as relation or respect. One among cited opinions distinguishes between the respect as a relation toward a determined form and the respect as a relation toward all possible forms ("respectus absolute")·, the former is different from the essence of matter, but the latter is identical with it. This distinction is denied by our author who admits only the first kind of respect; nevertheless, he feels a need for a strong inherent connection between the matter and its potentiality. Therefore, he devises "inesse per essentiam": just as heat is different from fire but is somehow essential to it, potentiality-respect is essential to matter — it exists in matter "per eius essentiam"*1. It must exist in matter by its essence because there is nothing which could let unite potentiality and matter 48 . A very ample discussion concerns the character of this respect: is it real or intentional Valiquid rationis")? One cited opinion argues its real character: If, being "aliquid rationis", it were depending on our intellect, lack of any intellect would mean lack of potentiality which cannot be true because, even if no intellect existed, matter would have its potentiality. However, adherents of the opinion considering the potentiality-respect as real place 45 4,5 47 48

Cf. Cf. Cf. Cf.

f. 49va—49vb. ff. 49vb, 50ra, 50rb, 50va. f. 49vb. f. 49vb.

One more Semi-Averroistic Physics-Commentary

395

this "real relation" not in prime matter itself but in the composite substance: it should be considered as a "potentiality of a compositum". The polemics by our author against the argument cited above is not very clear because he does not explain the signification of the term "positive" ("positive") and "positive existence" ("positive esse") used by him. He denies the consequence "there would be no potentiality, if the intellect did not exist", and he explains his idea by the exemplum of blindness. Blindness "exists in the eye" as something positive because of our cognition of it, but the eye is blind not because of our intellect. There is an analogy between the relation fire —heat and the relation matter—potentiality: Matter has a potentiality toward a form by itself, but without human cognition this potentiality would add nothing "positive" to matter — the "esse positivum" of potentiality is done by the cognition of it 49 . The proof of the intentional character of the potentiality-relation is based on the concept of the "term of relation": The relation cannot be more real ("maioris entitatis") than terms of this relation; however, one term of the relation-potentiality is a form which will come at some future time and does not exist yet; it is not real, and it can only be grasped by cognition. Therefore, potentiality is a "respectus rationis" and not a "respectus realis"50. Giles of Orleans analyzes the same problem in his De generatione-Commentaries and in the Physics. He knows and rejects both opinions cited at the beginning of the analysis by our author. He considers potentiality as a "respectus rationis" or "accidens rationis", and his explanation of its intentional character is the same: potentiality is a relation toward a form which does not exist yet and which is only conceived by the intellect. Moreover, he explains, even more amply than our author, the concept of "relatio rationis" and some details of this explanation are common to both texts 51 . However, his commentaries do not comprehend an extensive analysis of different conceptions dealing with respect which we read in the anonymous commentary. He does not cite the opinions enumerated by our author and dealing with the character of respect, either. The comparison of texts by both masters lets discover major differences concerning details of their analyses which concern different subordinated topics 52 .

49

50 51

52

Cf. f. 50ra. "Materia, dato quod intellectus non esset, habet potentiam ad formarti, sed circumscripta intellectu nihil positivum addat supra essentiam materiae quia non habet esse positivum nisi per intellectum" (Phys., 1,49, f. 50ra). Cf. f. 50ra. We find this ample analysis not in questions dealing with prime mater and its potentiality, but in a question dealing with movement: Physica V,7 Utrum in < ad aliquid> sit motus per se (MS Paris, Bibl. Mazarine 3493, f. 57va—57vb). The explanation given by Giles and our author, how a relation can be dependent solely on human cognition and have, nevertheless, its real foundation in the reality, follow the same general idea. Cf. Ζ. Kuksewicz, Une seconde version des < Quaestiones super Physicam > de Gilles d'Orléans retrouvée, in: Mediaevalia Philosophica Polonorum (33) (in print). For Giles'

396

Zdzisiaw Kuksewicz

III.

Conclusion

The author of the anonymous Physics-Commentary belongs to the circle of masters which I have called "semi-Averroists". He accepts partly orthodox and partly heterodox conceptions, and seems hesitant concerning the solution of some problems. When arguing theses contrary to faith, he uses, in accordance with the Averroistic tradition, a very formal "declaratio fider. He defends the orthodox opinion on the creation and on the infinite power of God, and his attitude toward both problems is more orthodox than that of Giles' of Orleans: Giles admits the creation "ex nihilo" in De generatione and in the Physics as well, but the solution of the second problem is not the same in the two commentaries — the former commentary accepts the orthodox solution, but the latter testifies to his hesitation in the choice of the final solution. The anonymous author hesitates between an orthodox and heterodox solution of two problems: the eternity of world and the choice between its mediate or immediate creation. Giles of Orleans was hesitant in the solution of the eternity problem and convinced of the immediate creation in the second version of the De generatione-Commentary, but changed his mind in the first version of the Physics-Commentary and agreed to the heterodox Aristotelian conception. The analysis of the difference between prime matter and its potentiality by both masters lets us perceive that their general solutions are similar, but the ways of analysis and the choice of problems are very different. The anonymous author is, therefore, not identical with Giles of Orleans. He is not identical with Ferrandus of Spain, either, because the Metaphysics-Commentary of the latter is a clearly Averroistic work 53 . However, some analogy between the anonymous Physics-Commentary and Giles' of Orleans commentaries on De generatione and on Physics cannot be denied. Besides some similarity in solution, the way of putting forward problems and the style of arguments are quite similar; moreover, both authors cite Thomas Aquinas and Giles of Rome, and both give them the same names: "Expositor" to Thomas and "Expositor novus" to Giles of Rome 54 .

53

54

of Orleans concept of prime matter in the first version of De generatione-Commentary cf. Ζ. Kuksewicz, Die Theorie der Materie des Aegidius von Orleans, in: Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Amsterdam/Philadelphia 1991, 5 2 2 - 5 2 7 . Cf. Α. Zimmermann, Ein Averroist des späten 13. Jahrhunderts: Ferrandus de Hispania, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 50 (1968), 1 5 0 - 1 5 3 , 155. It is interesting to note that a late thirteenth century Parisian master, Henry Bath of Maline, called also Thomas Aquinas "Expositor", and Radulphus Brito, calling Thomas "Expositor antiquus", named Giles of Rome "Expositor novus".

One more Semi-Averroistic Physics-Commentary

397

Although some similarities between both Physics-Commentaries are evident, it does not seem to me that one master knew the Commentary of the other. Except few "loci communed which appear in nearly all commentaries at the second half of the thirteenth century, Giles of Orleans did not cite or criticize theses and arguments by the anonymous author; the reverse situation cannot be noted, either. This would mean, probably, that some space of time separated both texts, and that the anonymous commentary was a much later work. Two examples of analyses dealing with the same topic confirm this hypothesis. As I have pointed to in one of my studies dealing with Giles of Orleans 55 , this master tried to go around a serious Aristotelian argument which proved that each "production" presupposed a corresponding potentiality and denied, therefore, the creation "ex nihilo". As a response to this argument, Giles of Orleans suggested, in the first version of De generatione-Commentary, an active potentiality in intelligences created by God. In the second version of De generatione-Commentary and in the first version of Physics-Commentary, he followed Giles' of Rome idea and admitted an active potentiality in God 5 6 . However, the anonymous author proposed a different solution to this Aristotelian argument and he did not even mention Giles' of Orleans idea, although he criticized some other solutions which did not appear in any commentary of the latter. Forgetting Giles' of Orleans solution seems to prove some later development of analyses concerning the problem of creation "ex nihilo" ( admitting active potentiality in God contradicted his absolute simplicity!): Giles' solution, and some opinions cited by him, were no longer under debate at the time the anonymous commentary was edited. One more example, which suggests that our author did not know Giles' of Orleans solutions and that he commented on Aristotle's Physics at some much later time, is furnished by the analysis of the concept of matter in both commentaries. Giles of Orleans considered the potentiality of prime matter as a "respectus rationis" in his first and second version of the De generatione-Commentary; thereafter, in the first version of the PhysicsCommentary, he explained his idea in an extremely short way: a "respectus" which has one intentional term (our cognition) is a "respectus rationis"57. The anonymous author took over this solution and developed it. Furthermore, he cited several opinions dealing with the potentiality of prime matter conceived as a "respectus", which means that at the time his commentary was composed the idea of "respectus" applied to the potentiality of matter attained its maturity and was under intensive debate. 55 56 57

Cf. Ζ. Kuksewicz, Le problème de l'averoïsme de Giles d'Orléans (in print). Cf. ibidem. Cf. footnote 50.

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Zdzislaw Kuksewicz

Our present orientation in the sources concerning the Arts-Faculty commentaries in the late thirteenth and early fourteenth century does not allow to identify the author of the anonymous Commentary. However, the type of problems and analyses proper to this work suggest the same epoch and place other semi-Averroistic texts studied until now belong to — the late thirteenth century Parisian Arts-Faculty. Moreover, its date is probably much nearer to the fourteenth century than the date of Giles' of Orleans first version of the Physics-Commentary.

Wissenschaft und Glaube bei der Frage nach dem Ursprung der Materie in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus dem 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts* S I L V I A DONATI

(Pisa/Köln)

1. E i n f ü h r u n g Die Frage nach der Herkunft der Materie stellt ein Problem dar, bei dem die aristotelische sowie auch die arabische Philosophie, durch die das philosophische Denken des 13. Jahrhunderts geprägt ist, mit dem christlichen Glauben im Widerspruch stehen 1 . Nach Aristoteles kann die Materie weder entstehen noch vergehen. Dieser Schluß ergibt sich aus der Analyse der Prinzipien des Werdens, die in Phys. I durchgeführt wird. Da jede Veränderung ein zugrundeliegendes Substrat voraussetzt, schließe der Gedanke, daß das Substrat selbst entstehe, einen unendlichen Regreß ein. Aus ähnlichen Gründen wird von Aristoteles auch die Hypothese der Vergänglichkeit der Materie widerlegt 2 . Diese Annahme einer unentstandenen Materie als eines ewigen Prinzips des Werdens ist vor dem Hintergrund des philosophischen Systems des Aristoteles zu verstehen. Denn er betrachtet die Welt als ein seit aller Ewigkeit Gegebenes, zu dem Gott sich nicht als Ursprung des Seins verhält, sondern nur als erster Beweger, indem er die Kreisbewegung des Himmels verursacht 3 . Im Unterschied zum aristotelischen Denken läßt sich Avicennas Philosophie als ein kreatianistisches System charakterisieren, in dem die Welt * Diesem Aufsatz Hegt eine Untersuchung zugrunde, die dank eines Stipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft durchgeführt wurde. Herrn B. Roggenkamp (Thomas-Institut, Köln) bin ich für die Korrektur der deutschen Übersetzung sehr dankbar. 1 Den Autoren des 12. Jahrhunderts bereitet die Auslegung von Piatons Timaios ähnliche Schwierigkeiten; dazu cf. J. M. Parent, La doctrine de la création dans l'école de Chartres, P a r i s - O t t a w a 1938. 2 Cf. Phys. I, 9, 192 a 2 5 - 3 4 . 3 Noch offen bleibt für die aristotelische Forschung die Frage, ob der erste Beweger nur als Zielursache oder auch als Wirkursache der Himmelsbewegung anzusehen ist. Zur Lehre des Aristoteles cf. ζ. Β. J. Owens, The relation of God to world in the Metaphysics, in: Etudes sur la Métaphysique d'Aristote. Actes du VI e Symposium Aristotelicum, pub. P. Aubenque, Paris 1979, 207—228; L. P. Gerson, God and greek philosophy. Studies in the early history of natural theology, London—New York 1990, 82—141.

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Silvia Donati

aus Gottes schöpferischem Akt hervorgeht. Dieser Schöpfungsakt wird jedoch von Avicenna als anfangslos verstanden. Er entfaltet sich gemäß dem Grundsatz: Ex uno non provenit nisi unum, in einem Emantionsprozeß, innerhalb dessen nur das erste Verursachte, nämlich die erste Intelligenz, von Gott unmittelbar abhängt; an der Schöpfung der niedrigeren Stufen haben dagegen die Intelligenzen als vermittelnde Agentien teil4. Innerhalb dieser metaphysischen Konstruktion wird die irdische Materie eigentlich von der letzten Intelligenz, dem sogenannten intellectus agens oder dator formarum, durch die Mitwirkung der Himmelskörper hervorgebracht5. Avicennas neuplatonisch gefärbte Emanationstheorie wird von Averroes zurückgewiesen6. Gemäß einem dem aristotelischen Denken näheren Ansatz hält somit der Kommentator an der Lehre von der Ungewordenheit der Materie fest7; ferner weist er den Gedanken einer Schöpfung aus dem Nichts, d. h. einer Hervorbringung, die kein zugrundeliegendes Substrat voraussetzt, ausdrücklich zurück8. 4

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Dieses Entfließen der Vielheit aus dem Einen läßt sich darüber hinaus als ein notwendiger Prozeß kennzeichnen — ein Merkmal, daß dem christlichen Gedanken der Schöpfung als Ergebnis einer freien Entscheidung Gottes widerstreitet. Das Problem der Freiheit Gottes bezüglich seiner schöpferischen Tätigkeit bleibt jedoch in der hier untersuchten Diskussion um den Ursprung der Materie im Hintergrund. Zu Avicennas Lehre cf. A.M. Goichon, La distinction de l'essence et de l'existence d'après Ibn Sina (Avicenne), Paris 1937, 2 0 1 - 3 0 4 ; E. Behler, Die Ewigkeit der Welt. Problemgeschichtliche Untersuchungen zu den Kontroversen um Weltanfang und Weltunendlichkeit in der arabischen und jüdischen Philosophie des Mittelalters, München—Paderborn—Wien 1965, 77 — 114; Avicenna Latinus, Liber De Philosophia prima sive Scientia divina, V—X. Edition critique de la traduction latine médiévale, par S. Van Riet, Introduction doctrinale, par G. Verbeke, Louvain—Leiden 1980, 19* —68*. Zum Problem der Schöpfung in der arabischen Philosophie cf. auch H. A. Davidson, Proofs for Eternity, Creation and the Existence of God in Medieval Islamic and Jewish Philosophy, New York—Oxford 1987. Cf. Avicenna Latinus, Liber De Philosophia prima, IX, 5, 488—494. Dazu und im allgemeinen zur Rolle des intellectus agens in Avicennas Philosophie cf. Η. Α. Davidson, Alfarabi and Avicenna on the active intellect, in: Viator 3 (1972) 109 — 178. Die Theorie der Emanation der Materie durch Vermittler wurde von den Autoren des 13. Jahrhunderts ebenfalls Al-Ghazâlï zugeschrieben. Von Al-Ghazälls Werk kannten sie jedoch nur (ohne die Vorrede, die die Absichten des Autors schildert) die propädeutische Einführung (Maqäsid al-Faläsifa: Die Ziele der Philosophen), in der Al-Ghazäll erst die Lehren seiner Gegner, im besonderen die Lehren Avicennas, darlegt, die er danach in der Schrift „Die Widersprüche der Philosophen" (Tahäfut al-Faläsifa) widerlegt. So wurden diese Theorien von den mittelalterlichen Autoren als die Auffassung Al-Ghazälls selbst angesehen. Dazu cf. Behler, Die Ewigkeit der Welt, 138 sqq.; cf. Algazel's Metaphysics. A Mediaeval Translation, ed. J.T. Mückle, Toronto 1933; zu der Stelle, an der Al-Ghazäll die Theorie der Emanation der Materie darstellt, cf. op. cit., 121 — 123. Averroes scheint jedoch anfanglich die Emanationstheorie vertreten zu haben; zu diesem Punkt und im allgemeinen zum Verhältnis zwischen Welt und Gott bei Averroes cf. Β. S. Kogan, Averroes and the Metaphysics of Causation, Albany 1985, 203 — 265. Cf. Averroes, In Phys. I, t. c. 82, Venetiis 1562, Nachdr. Frankfurt a.M. 1962, Fol. 46 vb—47ra ( = Aristotelis Opera cum Averrois commentariis 4). Cf. z.B. Averroes, In Phys., VIII, t. c. 4, Fol. 341ra—b. Zum Standpunkt des Averroes cf. Kogan, Averroes and the Metaphysics, 203—221.

Wissenschaft und Glaube

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Wenn auch in verschiedenen Hinsichten, stehen diese Theorien mit der christlichen Schöpfungslehre im Widerspruch. Denn unter dem Begriff der Schöpfung wird vom christlichen Glauben eine Art der Hervorbringung verstanden, die sich de novo, ex nihilo, und durch einen Gott allein eigenen Akt ereignet9. Demgemäß stellt sich die Frage des Ursprungs der Materie als ein Problem heraus, bei dem das Ideal einer harmonischen Übereinstimmung zwischen Philosophie und Glauben für die mittelalterlichen Autoren ins Wanken gerät. Dieser Zwiespalt kommt in der Pariser Zensur aus dem Jahr 1277 deutlich zum Ausdruck, von der unter anderem die Lehre von der Ewigkeit der Welt, die Theorie von der Schöpfung durch Vermittler sowie auch die Leugnung des Dogmas der creatio ex nihilo betroffen waren 10 . Innerhalb der Kommentare zum Corpus Aristotelicum wird gewöhnlich das Problem der Herkunft der Materie im Anschluß an die Stelle des ersten Buches der Physik behandelt, wo Aristoteles die Entstehungslosigkeit und die Unvergänglichkeit der Materie beweist. Gegenstand des vorliegenden Beitrags sind die unterschiedlichen Stellungnahmen zu diesem Thema, die sich in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus der zweiten Hälfte des 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts finden. Zur Ergänzung unserer Darlegung werden wir einige zeitgenössische Kommentare zu anderen Werken des Aristoteles heranziehen, in denen ebenfalls das Problem der Herkunft der Materie aufgeworfen wird 11 . Durch diesen 9

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Zum christlichen Schöpfungsbegriff cf. H. Pinard, Création, in: A. Vacant, E. Mangenot, E. Amann, Dictionnaire de théologie catholique, III, 2, Paris 1923, 2034—2201. Zum Ursprung der Lehre von der creatio ex nihilo, cf. auch G. May, Schöpfung aus dem Nichts: die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo, Berlin—New York 1978. Zur Pariser Zensur vom Jahr 1277, die hauptsächlich gegen die Anhänger des radikalen Aristotelismus an der Pariser Artistenfakultät gerichtet war, cf. R. Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 mars 1277, Louvain—Paris 1977. Die Sätze des Verurteilungsdekrets, die die Lehre von der Ewigkeit der Welt und die Theorie der Emanation durch Vermittler betreffen, sind zahlreich. In aller Kürze sei hier nur auf den Satz Nr. 107 (cf. op. cit., 175 — 177) hingewiesen, der die, im Abschnitt 4 zu behandelnde Theorie der Schöpfung der Materie durch die Himmelskörper betrifft. Zur Leugnung der Schöpfung aus dem Nichts cf. die Sätze Nr. 108 und 188 (op. cit., 177—179, 280— 282). Zur Frage, ob diese häretischen Theorien den eigenen Standpunkt der Pariser Magister darstellen, aus deren Schriften die Sätze des Verurteilungsdekrets entnommen sind, cf. z.B. op. cit. 1 4 8 - 1 4 9 , 156, 1 5 8 - 1 6 0 , 1 7 6 - 1 7 9 , 2 8 1 - 2 8 2 . Alle in der folgenden Analyse untersuchten Werke gehören zur literarischen Gattung des Kommentars per modum quaestionis. Zur Quästionenliste der meisten hier herangezogenen Physikkommentare cf. Α. Zimmermann, Verzeichnis ungedruckter Kommentare zur Metaphysik und Physik des Aristoteles aus der Zeit von etwa 1250—1350, Leiden—Köln 1971 ( = Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 9). Zu einem Überblick über die wichtigsten ungedruckten Physikkommentare des 13. Jahrhunderts cf. auch S. Donati, Per lo studio dei commenti alla Fisica del XIII secolo. I: Commenti di probabile origine inglese degli anni 1250 — 1270 ca., in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 2 (1991) 361—441; ibid. 4 (1993), im Druck. Im vorliegenden Aufsatz werden die ersten Ergebnisse einer Untersuchung dargestellt, deren Ziel eine umfangreichere

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kurzen Überblick werden sehr unterschiedliche Anschauungen darüber zutage treten, wie Philosophie und Glaube sich in unserer Frage zueinander verhalten und wo ihre Grenzen zu setzen sind.

2. Die L e h r e v o n der z e i t l i c h e n S c h ö p f u n g der M a t e r i e Von einigen frühen Kommentatoren wird der Versuch unternommen, die aristotelische Philosophie mit der christlichen Schöpfungslehre in Einklang zu bringen, indem sie Aristoteles die Lehre vom zeitlichen Anfang der Welt zuschreiben. Diese Auslegung findet sich z. B. in zwei Physikkommentaren englischer Herkunft, die etwa auf die Jahre 1250—1270 zurückgehen, nämlich in dem Kommentar des englischen Magisters Galfridus von Aspall 12 und in einem anonymen Kommentar aus demselben Milieu, der uns in der Hs. Oxford, Merton Coll., 272 erhalten ist ( = Me 272(3))13. Das Problem des zeitlichen Ursprungs der Materie wird von Galfridus von Aspall in der Frage: „De materia prima an incepit esse", behandelt. Die Antwort des englischen Magisters auf diese Frage lautet positiv: Die Materie hat angefangen zu existieren. Seiner Lösung liegt die Auffassung zugrunde, Gott sei die universelle Wirkursache alles Seienden — eine Auffassung, die nach Ansicht des Galfridus auch von Aristoteles vertreten wird. Aus diesem Postulat folgt, daß Gottes Wirksamkeit sich auch auf die Materie erstreckt. Kernstück der Lehre des englischen Magisters ist allerdings ein Verständnis der Wirkursächlichkeit, gemäß dem der Gedanke eines zeitlichen Anfangs im Begriff der Wirkursache enthalten ist. Denn zum Begriff der Wirkursächlichkeit gehören nach Galfridus zwei verschiedene Momente: einerseits die Hervorbringung einer Wirkung, andererseits die Erhaltung einer bereits hervorgebrachten Wirkung. Obwohl beide Arten der Wirksamkeit im Begriff der Wirkursache enthalten sind, stellt das Hervorbringen ihr Wesensmerkmal dar. Im Gegensatz jedoch zum Erhalten setzt das Hervorbringen einen Anfang voraus. Demgemäß ist die Materie, wenn sie von Gottes Wirkursächlichkeit abhängt, hervorgebracht

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Studie zu demselben Thema und die Herausgabe der betreffenden Texte ist. Im folgenden werden die ungedruckten Physikkommentare durch Abkürzungen bezeichnet, die aus der Signatur der Handschriften stammen, von denen sie jeweils überliefert sind. Die Ziffer (1), (2) und (3), mit denen einige dieser Abkürzungen enden, erklären sich dadurch, daß in ein und derselben Handschrift mehrere Physikkommentare enthalten sein können. Hs. Oxford, Merton Coll., 272, Fol. 88ra-118vb ( = Me 272(1)); zu diesem Werk cf. Donati, Per lo studio, 4 2 1 - 4 3 2 . Ms. cit., Fol. 136ra —174Brb; zu diesem Werk cf. Donati, Per lo studio, § 6, im Druck.

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worden; und das bedeutet wiederum, daß ihre Existenz einen Anfang besaß 14 : „Causa prima per Aristotelem in Metaphysica incidit in triplici genere causae; sed nisi materia prima inciperet, non esset in triplici genere causae; ergo etc. Probatio minorisi si materia prima non inciperet, tune non esset efficiens respectu materiae primae. Probatio consequentiae: duae sunt conditiones requisitae ad hoc quod aliquid (?) sit efficiens: prima est quod agat, secunda est quod conservât ( p r o : conservet) rem effectam in esse. Sed prima conditio magis facit ad efficientiam quam secunda, quia res proprie dicitur efficiens ab agere sive facere, non autem a conservare, quia a conservatione non denominatur. Sed si materia prima non inciperet, non ageret tunc causa prima in materiam primam; ergo, si materia prima non inciperet, non esset efficiens respectu materiae primae; ergo etc.".

Diese Interpretation des Standpunkts des Galfridus wird durch eine Stelle im achten Buch des Kommentars bestätigt, an der der Autor sich bei der Widerlegung der Hypothese einer Schöpfung ab aeterno auf dasselbe Verständnis der Wirkursache beruft. Weil die Welt aus Gottes Wirkursächlichkeit hervorgeht, ist es nach Galfridus undenkbar, daß sie seit aller Ewigkeit existiert wie Gott selbst 15 . Wie oben gesagt, schreibt Galfridus die Lehre von dem zeitlichen Anfang der Materie auch Aristoteles zu 16 . Unser Kommentator scheint somit der Meinung zu sein, daß die Auffassung des Aristoteles sich mit der christlichen Lehre von einer zeitlichen Weltentstehung in Einklang bringen lasse. Diese Interpretation wird im achten Buch des Kommentars im Rahmen der Frage nach der Weltewigkeit deutlicher zum Ausdruck gebracht: Wenn der Standpunkt des Aristoteles korrekt ausgelegt wird, so Galfridus, steht er mit der Theorie des zeitlichen Ursprungs der Welt keineswegs im Widerspruch 17 . Eine ähnliche Auslegung der aristotelischen Lehre findet sich in M e 272(3). I n der Frage: „De materia prima, an producitur in esse per creätio-

nem", vertritt der Autor die Meinung, daß die Materie so wie auch das 14

15

16 17

Cf. Me 272(1), Fol. 95rb. Die Quästio: „De materia prima an incepit esse", findet sich in dem Fol. 95ra—b. Der Grundsatz, dem ersten Prinzip kämen alle drei Arten der Ursächlichkeit, nämlich Formursächlichkeit, Zielursächlichkeit und Wirkursächlichkeit, zu, scheint eher aus dem Metaphysikkommentar des Averroes als aus der Metaphysik des Aristoteles zu stammen. Dazu cf. Averroes, In Metaph., XII, t. c. 6, Venetiis 1562, Nachdr. Frankfurt a. M. 1962, Fol. 294vb—295rb ( = Aristotelis Opera cum Averrois commentariis 8). Cf. Me 272(1), Fol. 114ra. Ähnliche Überlegungen zum Begriff der Wirkursache finden sich auch in der Quästio: „An causa prima possit aliquid causare sive efficere", eines anonymen Kommentars zur Metaphysik aus der Hs. London, Wellcome Historical Medical Libr., 333 (Fol. lllra—121va, 1 2 4 r b - 1 5 0 r b ; cf. im besonderen Fol. l l l v a ) . Zu diesem Werk, dessen Autor demselben Milieu anzugehören scheint wie der schon genannte Galfridus von Aspall, cf. Donati, Per lo studio, § 9, im Druck. Cf. Me 272(1), Fol. 95rb. Cf. Me 272(1), Fol. 113vb: „Dicendum quod tempus non est aeternum, sed incepit tempus et motus et fuit primus homo. Nec vult Aristoteles oppositum, si recte exponatur".

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ganze Universum erschaffen seien, was, wie der Zusammenhang klar macht, im Sinne einer zeitlichen Schöpfung verstanden werden muß. Ferner wird diese Meinung nach Ansicht unseres Autors auch von Aristoteles geteilt. Wie er berichtet, wird Aristoteles von einigen, unter ihnen Averroes, die Lehre von der Ewigkeit der Welt unterstellt. Er weist jedoch diese Interpretation als unbegründet zurück. Aristoteles leugne keineswegs den zeitlichen Anfang der Welt. Mit seiner in Phys. VIII entwickelten Theorie der Ewigkeit der Bewegung meine er lediglich, daß Bewegbares, Bewegung und Zeit gleichzeitig ins Sein getreten seien, so daß es keine ursprüngliche Zeit gegeben habe, in der das Bewegte bereits existierte, die Bewegung hingegen noch nicht begonnen habe. Seiner Deutung der aristotelischen Lehre entsprechend versteht der Kommentator den von Aristoteles in Phys. I, 9 vorgebrachten Beweis für die Entstehungslosigkeit der Materie nicht als eine Leugnung ihres Geschaffenseins und der Zeitlichkeit ihrer Schöpfung, sondern nur als eine Widerlegung der Hypothese, die Materie sei aus einem weiteren Substrat entstanden 18 .

3. Das P r o b l e m der S c h ö p f u n g a u s d e m N i c h t s Im Gegensatz zu den eben untersuchten Autoren unterscheiden andere Kommentatoren das Problem der Schöpfung der Materie von dem ihres zeitlichen Ursprungs. Die christliche Auffassung vom Geschaffensein der Materie erscheint als eine vom philosophischen Standpunkt aus durchaus haltbare Theorie: Sie wird auf Grund philosophischer Argumente erschlossen und von einigen Kommentatoren auch den „Philosophen" ausdrücklich zugeschrieben. Hinsichtlich des Problems der Zeitlichkeit der Schöpfung sehen sie hingegen die Offenbarungslehre und die Anschauungen der „Philosophen" im Widerspruch, weil die „Philosophen" im Gegensatz zum Glauben die Welt für ewig halten. Als Zeugen dieser Auffassung über das Verhältnis von Glauben und Philosophie in der Frage nach dem Ursprung der Materie werden im folgenden vier Physikkommentare Pariser Herkunft herangezogen. Deren Abfassung erfolgte wahrscheinlich zwischen etwa 1270 und dem Anfang des 14. Jahrhunderts 19 . Es handelt sich dabei um den Kommentar des 18

19

Cf. Me 272(3), Fol. 144ra—b. Ähnliche Versuche einer Harmonisierung der aristotelischen Lehre von der Weltewigkeit mit der christlichen Theorie der zeitlichen Schöpfung, die schon bei Autoren wie Philipp dem Kanzler und Alexander von Haies vorkommen, waren bekanntlich von Robert Grosseteste heftig kritisiert worden. Dazu cf. R. C. Dales, Medieval Discussions of the Eternity of the World, Leiden 1990, 57—75; S. F. Brown, The Eternity of the World Discussion at Early Oxford, in: Mensch und Natur im Mittelalter, ed. A. Zimmermann und A. Speer, Berlin-New York 1991, Bd. 1, 2 5 9 - 2 8 0 ( = Miscellanea Mediaevalia 21/1). Zu diesen Werken cf. Donati, Per lo studio, 3 6 7 - 3 6 9 , 374.

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Pariser Magisters Radulphus Brito, der in den Jahren um 1300 der Artistenfakultät angehörte 20 , ferner um einen anonymen Kommentar aus dem Codex Kassel, Landes- und Stadtbibl., Phys. 2° 11 ( = Ka II) 21 , und um zwei Kommentare unsicherer Autorenschaft aus den Codices Leipzig, Universitätsbibl., 1386 und Paris, Bibl. Mazarine, 3493 ( = L 1386(1) 22 ; Maz 3493 23 ). Von den genannten Werken geht neben dem Kommentar des

20

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Hs. Firenze, Bibl. Naz. Centr., Conv. Soppr. E. 1. 252, Fol. l r a - 6 0 r a ( = Fi 252); cf. im besonderen: „Utrum ex non ente fiat aliquid„Utrum materia sit ingenerabilis et incorruptibilis" ( = Fi 252, Fol. 1 Orb—lira, 17rb-17vb). Nach J. Pinborg befindet sich dasselbe Werk in einer etwas unterschiedlichen Fassung auch in der Hs. Vat. lat. 3061 (Fol. 63ra— 126rb); cf. J. Pinborg, A Note on Vat. lat. 3061, in: Bulletin de philosophie médiévale 18 (1976) 78; Radulphus Brito, Quaestiones super Priscianum Minorem, hg. und eingel. H.W. Enders und J. Pinborg, Stuttgart—Bad Cannstatt 1980, I, 18. Zu dem Kommentar aus .der Hs. Vat. lat. 3061 cf. auch Z. Kuksewicz, One mòre semi-Averroistic PhysicsCommentary of the late thirteenth-Century, in diesem Band. Ich bin Prof. Kuksewicz dafür sehr dankbar, daß er mir diesen und den in der Anm. 23 angeführten Aufsatz vor der Veröffentlichung zur Verfügung gestellt hat. Ms. cit., Fol. 41ra—77rb; cf. im besonderen: „Utrum factum habeat principium", „Utrum ex non ente per naturam fiat aliquid", „Utrum materia sit ens factum", „Utrum materia sit factum novum" (L 1386(1), Fol. 44vb—45ra, 45rb—45va, 46va—47ra). Wenigstens das erste Buch von L 1386(1) ist durch eine enge Verwandtschaft mit einem bekannten Physikkommentar gekennzeichnet, welcher von Siger von Brabant oder von seiner Schule stammt, nämlich der anonyme Kommentar, der in zwei etwas unterschiedlichen Fassungen in den Hss. Erfurt, Wiss. Bibl. der Stadt, Amplon. Fol. 349 (Fol. 75ra-117rb) und Vat. lat. 6758 (Fol. Ira—43vb) vorliegt. In den beiden Quästionen über den Ursprung der Materie zeigen sich jedoch deutliche Ähnlichkeiten zu den entsprechenden Quästionen des Physikkommentars des Boethius von Dacien. Zum Text dieser Quästionen aus dem Kommentar des Boethius cf. Boethii Daci Quaestiones super libros Physicorum, ed. G. Sajó, Hauniae 1974, 182—183, 185 — 188 ( = Corpus Philosophorum Danicorum Medii Aevi V,2). Ms. cit., Fol. Ira —35rb; cf. im besonderen: „Utrum omne quod est factum habet principium", „Utrum aliquid possit fieri ex non ente", „Utrum materia generetur per se et corrumpatur", „Utrum materia sit de novo facta" (Ka 11, Fol. 3rb—3va, 3vb—4ra, 7rb—va). Ms. cit., Fol. Ira—93vb; cf. im besonderen: „Utrum omne quod f i t ihabeat principiumy", „Utrum omne quod est factum sit factum ex aliquo sui", „Utrum materia sit producta per generationem vel quomodo" (Maz 3493, Fol. 9va—lOrb, 20ra—va). Dieser anonyme Kommentar ist vor kurzem von Z. Kuksewicz dem Pariser Magister Aegidius von Orléans zugeschrieben worden; cf. Kuksewicz, One more semi-Averroistic Physics-Commentary; Id., Le problème de l'averoïsme de Gilles d'Orléans encore une fois (im Druck). Die Gründe dieser Zuschreibung, die der polnische Forscher in einigen mir unzugänglichen Studien vorbringt, konnte ich bisher nicht zur Kenntnis nehmen. Zu dem genannten Kommentar cf. jedoch auch Ch. J. Ermatinger, Some unstudied sources for the history of philosophy in the fourteenth century, in: Manuscripta 14 (1970) 67 — 87, im besonderen 70 — 71. Ein weiteres Indiz für die von Kuksewicz vorgeschlagene Zuschreibung könnte die Tatsache sein, daß mehrere Quästionen von Maz 3493 mit den entsprechenden Quästionen eines Physikkommentars aus der Hs. Cambridge, Gonville and Caius Coll., 513, Fol. Ira—83rb inhaltlich übereinstimmen, auf den sich möglicherweise der in einem Zusatzblatt enthaltene Titel: „Quaestiones super libros Physicorum secundum Aegidium", bezieht. Die Sachlage bleibt jedoch unklar, weil dieser zweite Kommentar auch Ähnlichkeiten mit Werken englischer Herkunft aufweist. Dazu cf. S. Donati, Per lo studio, 368 —

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Radulphus Brito auch Maz 3493 auf die Jahre nach der Zensur von 1277 zurück, während das Problem für Ka 11 und L 1386(1) noch offenbleibt 24 . Als Anhänger der genannten Meinung werden wir darüber hinaus einen anonymen Kommentar zur Schrift De generatione et corruptione in Betracht ziehen, der ebenfalls aus der Pariser Artistenfakultät stammen dürfte und möglicherweise in den siebziger Jahren verfaßt wurde 25 . Gemeinsamer Standpunkt dieser Kommentatoren ist der Gedanke, daß die Materie von der ersten Ursache hervorgebracht sei. Diese These wird durch verschiedene Argumente begründet. Einige unserer Autoren berufen sich auf den Grundsatz, der uns bei Galfridus von Aspall bereits begegnet ist, nämlich daß Gott die universelle Wirkursache alles Seienden sei. Weil die Wirkursächlichkeit des ersten Prinzips sich auf alles Seiende erstreckt, so hebt z. B. der Autor des Kommentars zur Schrift De generatione hervor, muß auch die erste Materie von ihm ins Sein gerufen worden sein26. In

24 25

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369, 372—373. Zu den Quästionen, in denen Maz 3493 mit dem Kommentar aus der Hs. Cambridge, Gonv. and Caius Coll., 513 übereinstimmt, gehört auch die Frage: „Utrum materia sit generabili* et corruptibilis" (Maz 3493, Fol. 18rb—18vb), die in der folgenden Analyse nicht betrachtet wird. Dazu cf. auch infra. Hss. Erlangen, Universitätsbibl., 213 (Fol. 28rb—46rb) und Kassel, Stadt- und Landesbibl., Phys. 2° 11 (Fol. 124ra—135vb), die einen unvollständigen Text überliefert. In der folgenden Analyse beziehe ich mich auf die Hs. aus Erlangen (deren Text jedoch an einigen Stellen anhand der Hs. aus Kassel verbessert wird); cf. im besonderen: „Utrum aliquid possit generar! ex non ente simpliciter", „Utrum materia prima sit generabilis et corruptibilis" (Hs. Erlangen, UB, 213, Fol. 31vb—32ra, 32rb—32vb). Der Kommentar, in dem sich bezüglich mehrerer Probleme Positionen finden, die von der Zensur vom Jahr 1277 betroffen wurden (dazu cf. auch infra), geht möglicherweise der Pariser Zensur voraus. Einige Indizien legen den Verdacht nahe, daß dieser Kommentar von demselben Autor stammt, der den anonymen, in beiden Hss. überlieferten Kommentar zur Schrift De caelo et mundo verfaßt hat. Wie sich aus dem incipit und dem explicit des Werkes ergibt, dürfte darüber hinaus ein drittes Exemplar des Kommentars zur Schrift De caelo in der Hs. Cremona, Bibl. Statale, 80 (7.5.15) unter dem Namen des Pariser Magisters Peter von Alvernia erhalten sein. Die Frage nach der Autorenschaft unseres Kommentars zur Schrift De generatione bleibt ganz offen. Bemerkenswert ist jedoch, daß bei der Behandlung des Problems der Schöpfung aus dem Nichts sowie auch der Frage nach dem Ursprung der Materie Ähnlichkeiten mit dem Metaphysikkommentar Peters von Alvernia und mit dem anonymen, von Ph. Delhaye herausgegebenen Physikkommentar (der vom Herausgeber Siger von Brabant zugeschrieben wird, der aber möglicherweise ebenfalls von Peter von Alvernia stammt) tatsächlich bestehen. Zum Inhalt der drei oben erwähnten Hss. cf. H. Fischer, Die lateinischen Pergamenthandschriften der Universitätsbibliothek Erlangen, I, Erlangen 1928, 252—254; Codices Manuscripti Operum Thomae de Aquino, II, ed. H. V. Shooner, Santa Sabina, Roma 1973, 74—75; Catalogo di manoscritti filosofici nelle biblioteche italiane, V, a c. L. Casarsa et alii, Firenze 1985, 36 — 38. Zur handschriftlichen Überlieferung des Kommentars Peters von Alvernia zur Schrift De caelo cf. auch Ch. H. Lohr, Medieval Latin Aristotle Commentaries. Authors: Narcissus-Richardus, Traditio 28 (1972) 338. Ich hoffe, mich mit diesen Kommentaren in einem weiteren Beitrag ausführlicher beschäftigen zu können. Cf. Hs. Erlangen, UB, 213, Fol. 32va.

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L 1386(1) und Ka 11 wird neben Gottes universeller Wirksamkeit auch die absolute Unvollkommenheit der Materie hervorgehoben. Wegen dieses Charakters der Unvollkommenheit, der sich aus der rein potentiellen Natur der Materie herleitet, kann sie unmöglich als ein ontologisch unabhängiges Seiendes aufgefaßt werden. In noch größerem Maße als allem anderen Seienden eignet deshalb der Materie, aus Gottes schöpferischer Tätigkeit hervorzugehen 27 . Ein weiteres Argument für das Geschaffensein der Materie sieht der Autor von L 1386(1) in ihrem Verhältnis zur Form: Da die Materie hinsichtlich der Existenz von der Form abhängt, die ihrerseits ein ens factum darstellt, muß dieses Merkmal auch der Materie zukommen 28 . Im Mittelpunkt der Diskussion über den Ursprung der Materie steht bei diesen Autoren ein Problem, das bei den im vorangehenden Abschnitt betrachteten Kommentatoren im Hintergrund blieb, nämlich das Problem der Schöpfung aus dem Nichts. Daß dieses Problem mit dem der Schöpfung der Materie eng verbunden ist, ist offensichtlich. Denn einerseits impliziert der Gedanke der Schöpfung aus dem Nichts, daß auch die Materie erschaffen ist. Andererseits kann die Hervorbringung der Materie nur als eine Schöpfung aus dem Nichts verstanden werden. Bei der Entstehung der Materie kann nämlich kein weiteres zugrundeliegendes Substrat angenommen werden, das als Stoff der Hervorbringung fungiert. Ansonsten wäre der Einwand eines unendlichen Regresses, den bereits Aristoteles in Phys. I, bei seiner Widerlegung der Hypothese des Entstandenseins der Materie erhoben hatte, unvermeidlich. Wenn die Materie hervorgebracht ist, dann muß sie aus dem Nichts entstehen. Die Lehre von dem Geschaffensein der Materie setzt daher eine Klärung des Problems der Schöpfung aus dem Nichts voraus. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, wie sich der Gedanke einer solchen Hervorbringung mit dem Grundsatz: Ex nihilo nihil f i t , der nach Angabe des Aristoteles von allen Naturphilosophen vertreten wird 29 , vereinbaren läßt. Dieses Problem war bereits von Thomas von Aquin in seinem Kommentar zum achten Buch der Physik in seiner Entgegnung auf die Einwände, die Averroes gegen die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts vorgebracht hatte, ausführlich diskutiert worden 30 . Die Lösung des Tho27 28 29 30

Cf. L 1386(1), Fol. 46vb; Ka 11, Fol. 7va. Cf. L 1386(1), Fol. 4 6 v a - b . Cf. Phys. I, 4, 187a 3 2 - 3 5 . Cf. Thomas Aquinas, In Phys., VIII, lect. 2, ed. P. M. Maggiolo, Taurini-Romae 1954, 506, Nr. 9 7 4 - 9 7 5 ; Averroes, In Phys., VIII, t. c. 4, Fol. 341 r a - b . Bekanntlich hält Thomas von Aquin die Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts für notwendig und philosophisch beweisbar; dazu cf. z.B. Sent. II, dist. 1, q. 1, art. 2, ed. R. P. Mandonnet, Parisiis 1929, 16—20; Summa Theol., Pars I, q.44, art. 2, q. 45, art. 2, ed. P. Caramello, Taurini-Romae 1948, 2 2 4 - 2 2 5 , 2 2 8 - 2 2 9 . Zum Standpunkt des Thomas cf. z.B. Z. Hayes, The general doctrine of creation in the thirteenth century, München—PaderbornWien 1964, 54—56; J. Aertsen, Nature and Creature: Thomas Aquinas's Way of Thought,

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mas beruht auf der Unterscheidung zweier Arten der Hervorbringung, die sich voneinander strukturell abheben und auf die die Bezeichnungen Jacere' und fieri' nur äquivok angewendet werden können. Die erste Art der Hervorbringung ist diejenige, die sich durch Bewegung und physikalische Veränderung vollzieht. Da jede Bewegung ein zugrundeliegendes Substrat erfordert, so muß bei einer solchen Hervorbringung ein materielles Substrat vorausgesetzt werden. Das bedeutet jedoch nach Meinung des Thomas nicht, daß eine Hervorbringung aus dem Nichts absolut unmöglich ist, sondern lediglich, daß sie nicht als eine Bewegung oder eine Veränderung aufgefaßt werden kann. Zur Bezeichnung dieser zweiten Art der Hervorbringung verwendet Thomas den Ausdruck simplex emanatio31 : „Et quia omnis motus indiget subiecto, ut hic Aristoteles probat et rei Veritas habet, sequitur quodproductio universalis entis a Deo non sit motus nec mutatio, sed sit quaedam simplex emanatio. Et sic fieri et facere aequivoce dicuntur in hac universali rerum productione, et in aliis productionibus". In dieselbe Richtung bewegt sich die Lösung unserer Kommentatoren, die auf die Unterscheidung der zwei Arten der Hervorbringung zurückgreifen. Somit zeigen sie durch mehrere Argumente, daß bei der Hervorbringung per motum et transmutationem ein materielles Substrat angenommen werden muß. Das Problem wird von einigen sogar mit Bezug auf Gottes Allmacht betrachtet, wobei die Frage gestellt wird, ob es für Gott möglich wäre, eine derartige Hervorbringung ohne ein materielles Substrat zu vollziehen. Nun trifft der Grundsatz: Ex nihilo nihil f i t , im Falle einer Hervorbringung per motum et transmutationem nach Ansicht unserer Autoren nicht nur auf die natürlichen Agentien, sondern auch auf Gott selbst zu. Denn nach ihrer Meinung muß die Hypothese einer Hervorbringung aus dem Nichts, die durch Bewegung und Veränderung erfolgen würde, als widersprüchlich abgelehnt werden, da das Substrat im Begriff der Veränderung enthalten ist. Diese Auffassung wird mit besonderer Klarheit in Maz 3493 zum Ausdruck gebracht, dessen Autor erklärt, daß die These, Gott könne etwas ex nihilo durch einen physikalischen Prozeß hervorbringen, nicht nur gemäß den Prinzipien der Philosophie, sondern auch nach dem Standpunkt des Glaubens zurückzuweisen sei 32 .

31 32

Leiden-New York-Kobenhavn-Köln 1988, 2 0 1 - 2 1 0 (= Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 21); Id., The eternity of the world: the believing and the philosophical Thomas. Some comments, in: The eternity of the world in the thought of Thomas Aquinas and his contemporaries, ed. J. B. M. Wissink, Leiden—New York — Kobenhavn—Köln 1990, 9 — 19 (= Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters 27). In Phys., VIII, lect. 2, 506, Nr. 974. Cf. Maz 3493, Fol. lOrb: „Sed ulterius, utrum deus possit aliquid facere ex nihilo per motum et transmutationem. Credo etiam secundum veritatem et fidem quod non. Cuius ratio quia hoc implicai contradictoria ...".

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Neben dem physikalischen Hervorbringen gestehen jedoch auch unsere Autoren die Möglichkeit eines Hervorbringens anderer Art zu. Da diese zweite Art des Hervorbringens sine motu et transmutatione erfolgt, ist sie den von Aristoteles in der Physik dargestellten Grundsätzen, die den natürlichen Prozeß des Werdens regeln, nicht unterworfen. Im Unterschied zur physikalischen Hervorbringung erfordert sie somit kein zugrundeliegendes Substrat und kann ex nihilo stattfinden. Zur Benennung eines solchen Hervorbringens greifen unsere Autoren den von Thomas von Aquin verwendeten Ausdruck auf und beschreiben sie als eine simplex emanatio. So erklärt z. B. Radulphus Brito 33 : „Dicendum quod aliquid fieri ex nihilo potest dupliciter intelligi, quia vel potest intelligi fieri proprie, quod est per motum et transmutationem, aut fieri improprie, quod est per simplicem emanationem sine motu et transmutatione. Modo, quando quaeritur utrum ex nihilo nihil fiat, si quaeras de fieri proprie, dico quod sic, quia omne fieri et omnis motus requirit aliquod subiectum ... Si autem loquamur de fieri large et improprie, dico quod ex nihilo fit aliquid ...". Dieser Analyse der verschiedenen Arten des Hervorbringens schließt sich eine Bestimmung des Begriffs der Wirkursächlichkeit an, die der Lehre Avicennas entnommen ist. Neben dem aristotelischen Begriff der Wirkursache, dem gemäß diese als der Ursprung der Bewegung aufgefaßt wird, rückt bekanntlich bei Avicenna ein zweiter Begriff in den Vordergrund, nach dem die Wirkursache als Ursprung des Seins verstanden wird. Diesen zweiten Begriff, der eine Art metaphysische Ursächlichkeit bezeichnet, welche Avicenna der physikalischen Ursächlichkeit des Prinzips der Bewegung gegenüberstellt, verwendet er dafür, die Wirksamkeit Gottes als Schöpfer zu beschreiben 34 . Nun werden ähnliche Überlegungen von unseren Kommentatoren im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen der Hervorbringung per motum et transmutationem und der Hervorbringung per simplicem emanationem entwickelt. Sie werden mit besonderer Klarheit vom Autor von Maz 3493 zum Ausdruck gebracht 35 : „lila quae sunt facta per motum et transmutationem mediam, talia habent omne genus causae ... Item, debent habere efficiens, quia efficiens est unde motus principtum; cum ergo producantur per motum, manifestum est quod debent habere efficiens ... ΛΙία autem sunt 33 34

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Cf. Fi 252, Fol. lOva. Cf. Avicenna Latinus, Liber De Philosophia prima, VI,1, 291—292. Zur Lehre des Aristoteles cf. jedoch auch R. Sorabji, Time, creation and the continuum: theories in antiquity and the early middle ages, London 1983, 307 — 308. Zur Lehre Avicennas und zu ihrem Einfluß auf die mittelalterlichen Autoren cf. W. Dunphy, Two Texts of Peter of Auvergne on a Twofold Efficient Cause, in: Mediaeval Studies 26 (1964) 287—301; Id., Peter of Auvergne and the Twofold Efficient Cause, ibid. 28 (1966) 1 - 2 1 ; Id., St. Albert and the five causes, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 41 (1966) 7 - 2 1 . Cf. Maz 3493, Fol. 9vb.

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facta per simplìcem emanationem, ut sunt omnes substantias separatae et corpora caelestia et materia prima ... Talia facta non habent efficiens unde motus principium, sed solum unde principium esse. Unde Avicenna distinguit duplex principium efficiens, scilicet unde principium motus et unde principium esse". Im Rahmen derselben Gedanken bewegen sich auch die anderen Kommentatoren, obwohl sie ihren Standpunkt in einer knapperen Form darlegen und auf Avicennas Theorie der zwei Arten der Wirkursächlichkeit nicht ausdrücklich zurückgreifen. Somit wird hervorgehoben, daß die Dinge, die ohne Bewegung und Veränderung ins Sein gerufen werden, von der Tätigkeit einer Wirkursache abhängig sind, daß allerdings diese Wirkursache mit dem Prinzip der Bewegung nicht verwechselt werden darf 36 . In dem Gedanken der schöpferischen Tätigkeit Gottes, die aus dem Nichts alles Seiende hervorbringt und sich bis auf die erste Materie erstreckt, scheinen diese Autoren eine Übereinstimmung des Glaubens mit der Philosophie zu erblicken, die von einigen ausdrücklich betont wird. So hebt z. B. Radulphus Brito bezüglich der Theorie der Schöpfung aus dem Nichts in einer bereits zitierten Passage hervor: „... Si autem loquatur de fieri large et improprie, dico quod ex nihilo fit aliquid, et hoc secundum fidem et veritatem et secundum etiam philosophos ,.."37. Ein zweiter Aspekt der christlichen Schöpfungslehre, nämlich die Zeitlichkeit der Schöpfung, bleibt hingegen den Konzeptionen der „Philosophen" fremd; denn nach Angabe unserer Autoren verstehen sie den Schöpfungsakt als einen ewigen Prozeß und vertreten die Lehre von der Ewigkeit der Welt. Der Standpunkt der „Philosophen" wird von den Kommentatoren auf deren Auffassung über das Verhältnis von Ursache und Wirkung zurückgeführt, und zwar auf den Grundsatz, daß die Ursache nur dann ihrer Wirkung zeitlich vorausgehe, wenn diese durch eine physikalische Veränderung verwirklicht werde. Demgemäß bestehe bei einer Hervorbringung, die sich sine motu et transmutatione vollzieht, kein Grund für einen zeitlichen Unterschied zwischen Ursache und Wirkung. Auf Grund solcher Überlegungen — so erklären die Kommentatoren — sprechen die „Philosophen" den Dingen, die von Gott sine motu et transmutatione hervorgebracht werden, ein principium durationis ab und betrachten sie als ewig, wie

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Dazu cf. e. g. L 1386(1), Fol. 45ra: „Alio modo factum ingenitum. Et tale habet principium, scilicet efficiens, quia factum non est sine causa efficiente. Tarnen ista causa efficiens non est principium unde motus, quia ad esse talis facti non requiritur transmutatio ...". Cf. Fi 252, Fol. lOva. Cf. auch K a l l (Fol. 7va): „Dicendum secundum philosophas·, materia est facta non per transmutationem, sed per simplicem emanationem, tarnen ab aeterno ..." und den Kommentar zur Schrift De generatione (Hs. Erlangen, UB, 213, Fol. 31vb): „... Ista igitur factio non est aliqua transmutatio, sed est quaedam simpliciter (pro: simplex) emanatio ipsorum entium a causa prima, quae a quibusdam philosophorum, ut a Platone et Avicenna et aliis creatio dicebatur".

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Gott selbst38. Ein zweiter Gedankengang, der die „Philosophen" zur Weltewigkeitslehre führt, findet nach Angabe der Kommentatoren seinen Ausgangspunkt in dem Grundsatz, daß jede innovatio in der Wirkung eine entsprechende innovatio in der Ursache voraussetze. Gemäß diesem Grundsatz erscheint die Hypothese eines zeitlichen Anfangs der Wirksamkeit Gottes mit seiner absoluten Unveränderlichkeit unvereinbar 39 . Die Argumente, durch die die „Philosophen" ihre Auffassung begründen, werden von den Kommentatoren in den hier untersuchten Quästionen nicht eingehend auf ihre Richtigkeit hin überprüft 40 . In der Haltung unserer Autoren zur Ewigkeitslehre zeigt sich jedoch auch in diesen Quästionen ein Unterschied. Denn in einigen Kommentaren, nämlich in dem Kommentar von Radulphus Brito sowie auch in L 1386(1) und Maz 3493, wird diese Lehre ausdrücklich zurückgewiesen, weil sie dem Glauben und der Wahrheit widerspricht 41 . Die Autoren von Ka 11 und des Kommentars zur Schrift De generatione hingegen beschränken sich darauf, den Standpunkt der „Philosophen" wiederzugeben, ohne sich davon ausdrücklich zu distanzieren. Angesichts der vorsichtigeren Haltung, die in Werken wie dem Kommentar des Radulphus Brito und Maz 3493 eingenommen wird, welche mit Sicherheit nach der Zensur von 1277 entstanden sind, ließe dies sich vielleicht durch eine frühe Datierung (vor 1277) von Ka 11 sowie auch des Kommentars zur Schrift De generatione erklären 42 . 38 39 40

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Cf. z.B. K a l l , Fol. 3va. Cf. ζ. Β. L 1386(1), Fol. 46vb. Selbstverständlich gehört eine ausführliche Behandlung der Frage nach der Ewigkeit der Welt zur Auslegung des achten Buches der Physik, in dem Aristoteles die Ewigkeitslehre vertritt. In den hier untersuchten Quästionen, die jeweils dem ersten Buch der Physikkommentare (und aus dem ersten Buch des Kommentars zur Schrift De generatione) entnommen sind, bleibt hingegen die Frage im Hintergrund. Cf. Fi 252, Fol. lOva—b: „... Verum tarnen philosophi dicerent quod de novo prima causa non posset causare aliquid ex nihilo ... Istud tarnen est falsum et erroneum, immo potest de novo aliquid ex nihilo producere ..."; L 1386(1), Fol. 46vb: „... Unde materia est effectus primae causae, quia omnia ingenita attribuunt philosophi primo principio ... Philosophi tamen, videntes quod nulla innovatio est in primo, dixerunt quod omnis effectus primi immediatus non est novus ... Hoc tamen est contra fidem, quod primum non agit innovationem in inferioribus ..."; Maz 3493, Fol. 9vb: „... Alia autem sunt facta per simplicem emanationem ... Secundum veritatem et fidem oportet dicere quod talia facta habent principium durationis, quia solummodo est unicum quod est infinitum duratione, puta deus ipse ... Sed hoc non fuit visum philosophis, sed voluerunt quod esset aliqua coaeterna primo..." Cf. Ka 11, Fol. 3va: „Aliud est factum sine transmutatione. Et hoc non habet principium temporis ... Et tale factum secundum philosophos non videtur habere principium temporis ... solum e f f i c i t ilia per emanationem ab ipso et non per transmutationem. Et ideo sunt ei coaeterna secundum philosophos..."·, cf. auch supra, Anm. 37. Zu dem Kommentar zur Schrift De generatione cf. Hs. Erlangen, UB, 213, Fol. 32va—b: „... Dicendum quod habuit esse post non esse non posterius secundum durationem, sed solum posterius secundum naturam (materiam ms.), quia secundum intentionem Aristotelis prima materia habet esse aeternum, quia generatio et corruptio aeterna sunt·, et ita coaeterna est causae suae secundum durationem, posterior tamen

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4. D i e L e h r e v o n der S c h ö p f u n g der M a t e r i e durch V e r m i t t l e r Neben das Problem der Zeitlichkeit der Schöpfung tritt bei der Diskussion über den Ursprung der Materie eine zweite Frage, die die Art und Weise betrifft, wie die Materie aus dem ersten Prinzip hervorgeht: Wird die Materie von Gott unmittelbar hervorgebracht oder durch die Mitwirkung vermittelnder Agentien? Außer einigen im vorangehenden Abschnitt bereits erwähnten Werken 43 , in denen diese Frage ebenfalls aufgeworfen wird, werden wir vier weitere Physikkommentare in Betracht ziehen, die etwa nach 1274/1275 entstanden sein dürften 44 . Zwei von diesen, die uns in den Codices Paris, Bibl. Nat., lat. 14698 und 16160 erhalten sind ( = Nat 14698 45 ; Nat 16160 46 ), gehören zur Pariser Tradition. Der dritte stammt von dem englischen Magister Simon von Faversham 47 , während der letzte ein anonymes Werk aus dem Codex Oxford, Oriel Coll., 33 ist ( = Or 33), dessen Verwandschaft mit dem Kommentar Simons von Faversham sowie auch mit anderen Kommentaren englischer Autoren ebenfalls auf eine englische Herkunft hindeutet 48 . Als Zeuge dieser Diskussion werden wir darüber hinaus den Kommentar zur Metaphysik des englischen Magisters Richard von Clive heranziehen, der auf die siebziger Jahre zurückgehen dürfte 49 .

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secundum naturam (materiata ms.)". Diese Theorien scheinen jedoch nicht den eigenen Standpunkt der Kommentatoren widerzuspiegeln, da beide Autoren auf die „intentio" der „Philosophen" verweisen. Was im besonderen den Autor von Ka 11 betrifft, behauptet er in einer anderen der hier untersuchten Quästionen auch ausdrücklich, daß die Welt einen zeitlichen Anfang habe; cf. Ka 11, Fol. 7va. Es handelt sich dabei um den Kommentar des Radulphus Brito, um Maz 3493 sowie auch um den Kommentar zur Schrift De generatione (von diesem letzten Werk cf., außer den bereits erwähnten Quästionen, auch die Quaestio: „Utrum elementa secundum species suas causata sint ab agente primo immediate"·, Hs. Erlangen, UB, 213, Fol. 30rb—30va). Zu diesen Werken cf. S. Donati, Per lo studio, 3 6 6 - 3 6 8 , 3 7 0 - 3 7 1 . Ms. cit., Fol. 83ra—129Ar; cf. im besonderen: „Supposito quod materia prima in esse sit producta, non tarnen per generationem, dubium est a quo in esse sit producta, utrum videlicet immediate a primo principio vel ab aliqua intelligentia vel a substantia orbis" (Nat 14698, Fol. 91ra—va). Ms. cit., Fol. 3ra—79vb; cf. im besonderen: „Utrum materia prima sit immediate a Deo causata" (Nat 16160, Fol. 14ra—va). Diese Sammlung von Quästionen scheint ein aus Bruchstücken verschiedener Kommentare zusammengesetztes Werk zu sein, zu denen auch der Kommentar des Radulphus Brito gehören dürfte. Hs. Erfurt, Wiss. Bibl. der Stadt, Amplon. Fol. 348, Fol. l r a - 6 9 r b ( = Er 348(1)); cf. im besonderen: „Utrum materia prima procedat a primo immediate vel mediante orbe" (Er 348(1), Fol. llva—b). Ms. cit., Fol. 8ra—79vb; cf. im besonderen: „De materia prima utrum ipsa producatur a prima causa immediate vel mediante orbe, hoc est mediante corpore caelesti" (Or 33, Fol. 23ra— b). Ms. Worcester, Cath. Libr., Q. 13, Fol. 116ra-135ra, 138ra-155rb; cf. im besonderen: „Utrum materia possit immediate causari a primo" (ms. cit., Fol. 128rb—128vb). Zu diesem

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In Hinblick auf die Theorie der Schöpfung der Materie durch Vermittler, die ebenso wie die Lehre von der Weltewigkeit von der Zensur vom Jahr 1277 betroffen war, finden sich bei unseren Autoren sehr verschiedene Haltungen. In dem bereits erwähnten Kommentar zur Schrift De generatione, im Kommentar Simons von Faversham und in Or 33 wird diese Theorie gelehrt, ohne daß auf einen Konflikt zwischen dem Standpunkt des Glaubens und dem der „Philosophen" ausdrücklich hingewiesen wird 50 . Dieser Konflikt wird hingegen in dem Kommentar von Radulphus Brito und in Maz 3493 betont; beide Kommentatoren stellen somit zwar die Lehre der „Philosophen" dar, bekennen sich jedoch zum Standpunkt

50

Kommentar (sowie auch zum Physikkommentar Richards von Clive; s. infra, Anm. 73) cf. S. Donati, Per lo studio, 369 — 370. Zu klären ist das Verhältnis dieses Werkes mit einem anonymen Metaphysikkommentar, der in der bekannten Hs. Cambridge, Peterhouse, 152 (Fol. 322ra—351rb) erhalten ist. Denn das incipit der beiden Schriften ist sehr ähnlich. Ferner ist die Quästionenliste der entsprechenden Teile dieser Werke, von denen der Kommentar aus der Hs. Worcester, Cath. Libr., Q. 13 vollständiger ist, bis auf wenige Unstimmigkeiten identisch. Zur Quästionenliste des Kommentars aus der Hs. Cambridge, Peterhouse, 152, cf. Α. Zimmermann, Verzeichnis, 113 — 118. Was den Kommentar zur Schrift De generatione betrifft, legt diese Tatsache den Verdacht nahe, daß das Werk vor der Zensur von 1277 entstanden sei (cf. auch supra). Dieselbe Haltung findet sich jedenfalls auch in Kommentaren, die mit Sicherheit der Pariser Zensur vorausgehen, nämlich in den verschiedenen reportationes des Metaphysikkommentars Sigers von Brabant und in dem bereits erwähnten anonymen Physikkommentar, den Ph. Delhaye unter Sigers Namen ediert hat; zu den betreffenden Texten cf. Siger de Brabant, Quaestiones in Metaphysicam, éd. W. Dunphy, Louvain-La-Neuve 1981, 254—258 (Philosophes Médiévaux 24); Id., Quaestiones in Metaphysicam, éd. Α. Maurer, Louvain-LaNeuve 1983, 2 0 5 - 2 1 0 , 4 3 6 - 4 3 8 ( = Philosophes Médiévaux 25); Siger de Brabant, Questions sur la Physique d'Aristote, par Ph. Delhaye, Louvain 1941, 69 — 72, 74—75 ( = Les Philosophes Belges 15). Die Frage, ob dieses Argument auch auf den Kommentar des englischen Magisters Simon von Faversham und auf Or 33 zutrifft, bleibt hingegen offen. Denn einerseits war die Zensur eine auf Paris begrenzte Maßnahme; bei diesen Kommentaren handelt es sich jedoch um zwei Werke, von denen das erste mit Sicherheit, das zweite mit Wahrscheinlichkeit von einem englischen Autor stammt. Was Simon von Faversham betrifft, ist andererseits sogar sehr wahrscheinlich, daß er am Ende der siebziger oder am Anfang der achtziger Jahre an der Pariser Artistenfakultät gelehrt hat. Übrigens sind sowohl der Kommentar Simons von Faversham wie auch Or 33 gerade in den hier untersuchten Quästionen durch eine enge Verwandtschaft mit dem von Ph. Delhaye herausgegebenen Physikkommentar gekennzeichnet, der zur Pariser Tradition gehört. Offen bleibt auch die Frage, ob die in unseren drei Kommentaren gelehrte Theorie der Schöpfung der Materie durch Vermittler die eigene Auffassung der Kommentatoren oder lediglich eine Wiedergabe der Lehre der „Philosophen" darstellt. Ein ausdrücklicher Verweis auf den Standpunkt der „Philosophen" findet sich jedenfalls in dem Kommentar zur Schrift De generatione (Hs. Erlangen, UB, 213, Fol. 32va: „... Rationabile videtur materiam primam ab agente primo mediante orbe causari. Et haec est intentio Avicennae..."). Zur lokal begrenzten Gültigkeit der Pariser Zensur cf. R. Hissette, Note sur la réaction „antimoderniste" d'Etienne Tempier, in: Bulletin de philosophie médiévale 22 (1980) 88 — 97. Zur Lehrtätigkeit Simons von Faversham cf. Simon of Faversham, Quaestiones super libro Elenchorum, ed. S. Ebbesen et alii, Toronto 1984, 3 —6 ( = Studies and Texts 60).

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des Glaubens 51 . Der Zwiespalt zwischen der genannten Theorie und dem Glauben wird ebenfalls von Richard von Clive hervorgehoben; er versucht aber darüber hinaus diese Doktrin unter philosophischem Gesichtspunkt zu überprüfen 52 . Eine gewissermaßen ähnliche Haltung findet sich in Nat 14698 und in Nat 16160; in beiden Werken wird die Lehre von der Hervorbringung der Materie durch Vermittler nicht nur als „erronea" abgelehnt 53 , sondern auch mit Hilfe philosophischer Argumente widerlegt. Was nun die philosophischen Grundlagen dieser Auffassung betrifft, so steht bei einigen unserer Autoren, wie bereits bei Avicenna, an dessen Emanationstheorie sie anknüpfen, das Problem des Hervorgehens der Vielfalt aus dem Einen im Vordergrund. Somit berufen sich Radulphus Brito und der Autor von Maz 3493 bei der Begründung der Lehre auf den Grundsatz, daß nur ein und dieselbe Wirkung von einer immer gleich bleibenden Ursache unmittelbar bewirkt werden könne. Weil die erste Intelligenz die unmittelbare Wirkung der ersten Ursache darstellt, so kann unmöglich die Materie aus dem ersten Prinzip unmittelbar hervorgehen 54 : „... Ab eodem secundum quod idem non procedit nisi idem immediate; modo certum est quod a prima causa, quae est eadem et invarìabilis, procedit immediate prima intelligentia; ergo a prima causa immediate non procedit materia prima". Neben diesem Argument wird auch eine zweite Überlegung angeführt, die in dem Gedanken gründet, daß eine gewisse Ähnlichkeit und eine gewisse Proportionalität zwischen der Ursache und der Wirkung bestehen muß. Unter allem Seienden ist aber die Materie wegen ihrer rein potentiellen Natur diejenige, die sich von der absoluten Aktualität des ersten Prinzips am meisten unterscheidet. Wie z. B. im Kommentar zur Schrift 51

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Cf. ζ. Β. Fi 252, Fol. 17va—b: „... Secundum dubium est utrum immediate sit a prima causa creata. Theologi dicrnt quod sic ... Sed istud est contra Philosophum ... Secundum Philosophum diceretur quod materia prima non est creata a prima causa mediante motu caeli, sed mediante substantia caeli ... Verum tarnen secundum fidem et veritatem materia est immediate causata a causa prima ..."; Maz 3493, Fol. 20rb: „... Cum ergo materia prima producatur ex nihilo, oportet quod producatur ab ilio qui est virtutis infinitae. Et hoc oportet dicere secundum veritatem et fidem catholicam. Sed secundum intentionem philosophorum, quae erronea est...". Cf. Hs. Worcester, Cath. Libr., Q. 13, Fol. 128va: „... Utrum secundum philosophiam possit materia causari a primo immediate, dubium est (dubium est mg. ms.), quia secundum veritatem manifestum est quod sic ...". Wie diese Gegenüberstellung zur „philosophia" bestätigt, dürfte sich der Ausdruck secundum veritatem" auf den Standpunkt des Glaubens beziehen. In diesem Zeitalter wird gewöhnlich das Wort ,erroneum' im Sinne von ,dem Glauben widerstreitend' verstanden; dazu cf. ζ. B. Aegidii Romani Apologia. Edition et commentaire, par R. Wielockx, Firenze 1985, 143 (= Aegidii Romani Opera Omnia III.l). Zu den betreffenden Stellen cf. Nat 14698, Fol. 91va: „... Haec sententia philosophorum erronea est, et omnino dicendum quod materia prima et simpliciter omne quod in esse productum est nullo praesupposito immediate producitur a primo principio ..."; Nat 16160, Fol. 14rb—va: „... Sed quia omnes istae opiniones sunt falsae et erroneae, ideo debemus dicere materiam primam esse immediate a deo causata". Cf. Fi 252, Fol. 17va.

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De generatione hervorgehoben wird, scheint demgemäß die These, daß die Materie von der ersten Ursache unmittelbar hervorgebracht worden sei, den Prinzipien der Vernunft zu widerstreiten 5 5 : „... Utrum tarnen immediate ab ipso causetur vel non, magis videtur dubium. Videtur tarnen dicendum quod non procedat ab ipso immediate, quoniam agens primum inter omnia entia est agens perfectissimum; cum igitur effectus debeant suis proportionari, ut patet ex VII Physicorum, rationabile est quod effectus immediate productus ab agente primo inter entia causata sit ens perfectissimum. Materia autem prima inter omnia entia est ens imperfectissimum, quia solum (pro: secundum?) id quod est potentia est rationabile videtur quod ipsa ab agente primo fuerit immediate causata ...". Was ist nun nach Ansicht unserer Autoren die vermittelnde Ursache, die an der Hervorbringung der Materie mitwirkt? Wie schon gesagt, geht nach Avicenna die Materie aus der letzten Intelligenz hervor, obwohl die Bewegungen der Himmelskörper in irgendeiner Weise an ihrer Emanation teilhaben. Unsere Kommentatoren scheinen hingegen nur die Rolle der Himmelskörper zu berücksichtigen. So werden die vermittelnden Agentien, die an der Schöpfung der Materie mitwirken, gewöhnlich mit den himmlischen Sphären identifiziert, was wiederum durch deren Teilhabe an der Hervorbringung der ersten vergänglichen Körper, nämlich der Elemente, in denen die Materie primo existiert, begründet wird 5 6 . Eine solche Theorie läßt sich andererseits auch auf Grund des Prinzips der Proportionalität zwischen Ursache und Wirkung rechtfertigen. Denn wie z. B. Simon von Faversham bemerkt, weisen die Materie der vergänglichen Körper und die Himmelskörper eine gewisse Änlichkeit miteinander auf, die in der Tatsache besteht, daß sowohl die Materie wie auch die Himmelskörper in einer Hinsicht als veränderlich, in einer anderen Hinsicht als unveränderlich bezeichnet werden können. Wegen dieser Ähnlichkeit erweisen sich also die Himmelskörper als sehr geeignet, an der Hervorbringung der Materie mitzuwirken 5 7 : „Dico igitur quod materia procedit a primo, hoc tarnen est mediante orbe, quia, sicut dicit Philosophus II huius et V Metaphjsicae, causa et effectus debent esse proportionalia. Nunc autem materia istorum generabilium est intransmutabilis secundum substantiam, transmutabilis autem secundum esse etformam; ideo oportet quod procedat in esse immediate a tali causa quae partim sit transmutabilis et partim non transmutabilis. Talis autem causa est corpus caeleste, ita quod dicemus quod materia est intransmutabilis secundum 55 56

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Cf. Hs. Erlangen, UB, 213, Fol. 32va. Cf. ζ. Β. Ibid.: „... Materia autem prima per se et primo reperitur in corporibus primis generabilibus et corruptibilibus; et ideo rationabile videtur ipsam causatam esse ab agente primo eo modo quo elementa prima ab ipso sunt causata. Ipsa autem immediate non procedunt ab agente primo secundum species suas, sed mediante orbe, ut superius ostensum . Rationabile videtur materiam primam ab agente primo mediante orbe causari ...". Cf. Er 348(1), Fol. l l v a - b .

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substantiam quia corpus caeleste est intransmutabile (est intransmutabile iter, ms.) secundum substantiam, et materia est transmutabilis secundum esse et formam quia corpus caeleste est transmutabile secundum ubi". Die Einwände, die gegen die Theorie der Schöpfung der Materie durch Vermittler von ihren Kritikern erhoben werden, richten sich sowohl gegen die Theorie selbst als auch gegen ihre Postulate. Eine eingehende Diskussion des Axioms: Ab eodem secundum quod idem nonprocedit nisi idem immediate, findet sich ζ. Β. bei Richard von Clive, der zu zeigen versucht, daß diese Theorie philosophisch unbegründet ist 58 . Was die Theorie an sich betrifft, wird gegen sie gewöhnlich eingewendet, daß sie mit der Lehre von der Schöpfung der Materie aus dem Nichts unvereinbar ist. Dieser Einwand erklärt sich daraus, daß das Hervorbringen aus dem Nichts als eine Gott allein eigentümliche Tätigkeit betrachtet wird, an der die mittleren Agentien keineswegs teilhaben können. Denn wie die Kritiker dieser Theorie hervorheben, kann der unendliche Abstand, der das absolute Nicht-Seiende und das Seiende voneinander trennt, allein durch eine Ursache von unendlicher Kraft überbrückt werden. Demgemäß erscheint der Gedanke, daß mittlere Agentien wie die Himmelskörper an der Schöpfung der Materie mitwirken, unvertretbar. Dieser Einwand ist den Verfechtern der Theorie von der Schöpfung der Materie durch Vermittler bekannt. Allerdings versuchen einige unserer Kommentatoren ihn zu umgehen, indem sie sagen, daß auch mittlere Agentien an einer Hervorbringung aus dem Nichts teilhaben können, weil sei dabei nicht in propria ratione wirken, sondern sich auf die Wirksamkeit des ersten Prinzips stützen 59 . Derartige Lösungen werden jedoch von den Kritikern unserer Theorie als unzureichend verworfen. Ein solcher Standpunkt findet sich ζ. B. in Nat 14698 und in Nat 16160. Die dabei angeführten Einwände kommen den Überlegungen sehr nahe, die bereits von Thomas von Aquin bezüglich der Theorie von der Schöpfung durch Vermittler geäußert worden waren. In seinem Kommentar zum zweiten Buch der Sentenzen hatte Thomas diese Theorie als häretisch bezeichnet, scheint sie allerdings als theoretisch möglich betrachtet zu haben 60 . Seine Rechtfertigung der Theorie beruhte wie bei deren späteren Verfechtern auf dem Gedanken, daß hinsichtlich der vermittelnden Ursachen die Wirksamkeit des ersten Prinzips als Stütze vorauszusetzen sei. In späteren Werken hingegen nimmt Thomas gegenüber dieser Theorie eine kritischere Haltung ein. So weist er ζ. B. in der Summa Theologiae die Lehre von der Schöpfung durch Vermittler als absolut unmöglich zurück. Seine Kritik stützt sich auf die Analyse des 58 59

60

Cf. Hs. Worcester, Cath. Libr., Q. 13, Fol. 1 2 8 r b - v a . Solche Erwiderungen finden sich in dem Kommentar Simons von Faversham (Er 348(1), Fol. l l v b ) , in Or 33 (Fol. 23rb) und in Maz 3493 (Fol. 20va). Cf. Sent. II, dist. 1, q. 1, art. 3, 2 0 - 2 3 ; dazu cf. auch R. Hissette, Enquête, 1 7 6 - 1 7 7 .

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Begriffs der instrumenteilen Ursache, unter den nach seiner Ansicht diese vermittelnden Ursachen fallen. Die eigentliche Funktion der instrumentellen Ursache — so hebt Thomas hervor — besteht darin, das Substrat auf die Wirkung der oberen Ursache vorzubereiten. Nun liegt der Hervorbringung aus dem Nichts kein Substrat zugrunde, worauf diese vorbereitende Wirksamkeit ausgeübt werden könnte. Demgemäß kann es bei einer solchen Hervorbringung keine instrumentelle Ursache geben 61 . Im Umkreis derselben Gedanken bewegen sich bei ihrer Widerlegung der Theorie der Hervorbringung der Materie durch Vermittler auch Nat 14698 und Nat 16160. Angelpunkt ihrer Kritik ist wie bei Thomas der Begriff der vorbereitenden Ursache, auf den die Wirksamkeit der Vermittler zurückgeführt wird. Wie z. B. der Autor von Nat 14698 vorgibt, der sich im besonderen mit der avicennischen Theorie der Hervorbringung der Materie durch die letzte Intelligenz auseinandersetzt, ist bei einer Hervorbringung, die kein Substrat voraussetzt, eine vorbereitende Ursache nicht erforderlich 62 : „... Nec valere videtur quod dicuntphilosophi, intelligentiamproducere materìamprimam in virtute primi principa. Sic enim intelligentia esset ut instrumentum primi in hac actione. Contra istud enim est quod instrumentale agens universaliter aliquam dispositionem concausat in causato principalis agentis. Sed in producto nullo praesupposito non potest causari aliqua dispositio; in tali igitur effectu non requiritur agens instrumentale, sed fit immediate tale omne (pro: omne tale) a primo principio".

5. D i e K r i t i k d e r L e h r e v o n d e r S c h ö p f u n g d e r M a t e r i e Zuletzt werden wir eine Auffassung in Betracht ziehen, die sich durch ihre heftige Kritik an dem Gedanken einer Übereinstimmung zwischen Philosophie und Glauben in der Frage nach dem Ursprung der Materie kennzeichnen läßt. Als Zeuge einer solchen kritischen Haltung gilt in der folgenden Analyse der Physikkommentar des Pariser Magisters Bartholomaeus von Bruges, der auf die Jahre 1307/1308 zurückgeht 63 . Wesensmerkmal seines Standpunkts ist die Zurückweisung jedes Versuchs, die

61 62 63

Cf., Summa Theol., I, q.45, art. 5, 2 3 0 - 2 3 1 . Cf. Nat 14698, Fol. 91va; cf. auch Nat 16160, Fol. 14va. Hs. Vat. lat. 845, Fol. 37ra—155ra ( = Vat 845); cf. im besonderen: „Utrum illa propositio babeat veritatem, quod omne quod est factum habet principium", „Utrum aliquid possit fieri ex nihilo", „Utrum ... materia sit corruptibilis" (Vat 845, Fol. 49rb —51vb, 61rb—62ra). Zu diesem Werk cf. Ch. H. Lohr, Medieval Latin Aristotle Commentaries. Authors A —F, in: Traditio 23 (1967) 375; J. M. M. H. Thijssen, The commentary on the Physics of Bartholomew of Bruges (d. 1356): an inventory of the manuscripts, in: Manuscripta 31 (1987) 8 9 - 1 0 1 ; S. Donati, Per lo studio, 371, n. 36.

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christliche Schöpfungslehre philosophisch zu fundieren 64 . Die Theorie einer Hervorbringung der Welt aus dem Nichts durch Gottes Wirksamkeit wird zwar auf Grund des Glaubens als wahr anerkannt 65 ; sie bleibt jedoch nach Ansicht unseres Kommentators der wissenschaftlichen Erkenntnis, sofern diese, gemäß der von Aristoteles und Averroes angewandten Methode, vom natürlichen Verstand auf Grund von Erfahrungsprinzipien und durch Beweise erworben wird, absolut unzugänglich. Die Kritik des Bartholomaeus von Bruges richtet sich gegen den für die gegnerische Auffassung grundlegenden Begriff der simplex emanatio, d. h. gegen eine Hervorbringung, die sine motu et transmutatione erfolgt und daher kein zugrundeliegendes Substrat erfordert. Wie er ausdrücklich betont, widerspricht der Gedanke einer solchen Hervorbringung sowohl der aristotelischen Philosophie wie auch im allgemeinen jeder Erkenntnis, die der menschliche Verstand auf natürliche Weise gewinnen kann 66 : „... Et est intelligendum quod ad quaestionem quidam dicunt quod aliquid est factum dupliciter: uno modo per motum et transmutationem, alio modo non per motum, sed per simplicem emanationem ... Ista opinio, quantum ad illud quod dictum est de huiusmodi /actis non per motum, est contra Aristotelem et Commentatorem et contra iliud quod potest capi ex ratione naturali; et ideo, non solum est contra hominem, sed contra veritatem possibilem investigari et intelligi ab homine secundum quod homo ... Cum igitur ista sit (pro: sinfí) ita, sic apparet quod impossibile est, naturaliter loquendo, aliquid fieri sine motu". Seiner Widerlegung liegen einige Autoritätsargumente 67 sowie auch eine Analyse des Begriffs des Hervorbringens zugrunde, durch welche er zu zeigen versucht, daß ein solches Geschehen eine Veränderung voraussetzt 68 . Maßgeblich scheint jedoch dabei die Berufung auf die Erfahrung, die den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Erkenntnis darstellt: Jede Art der Hervorbringung, die uns durch die Erfahrung bekannt ist, erfolgt mittels einer Veränderung 69 . Dieser Gesichtspunkt kommt bei der Bespre64

65

66 67 68

69

Dieselbe Meinung wird auch von Johannes von Jandun vertreten; dazu cf. Α. Maurer, John of Jandun and the Divine Causality, Mediaeval Studies 17 (1955) 185—207; S. MacClintock, Perversity and Error. Studies on the „Averroist" John of Jandun, Bloomington 1956, 8 8 - 8 9 . Cf. Vat 845, Fol. 51vb: „... Et sic dicere Philosophas. Sed fides et Veritas ponit quod in principio fuerunt omnia facta ex nihilo, sed postea omnia facta sunt per motum et transmutationem, et ideo non potuerunt fieri aliqua postea nisi ex aliquo". Cf. Vat 845, Fol. 49va-50ra. Cf. Vat 845, Fol. 49vb. Ibid. „... Ponatur aliquod factum non per motum, ut dicunt. Tunc quaero de ilio. Certum est quod habuit non esse antequam factum esset, tunc et nunc non esset factum, sicut primo. Sed tunc, vel habuit simul esse et (vel ser. sed interi, corr. ms.) non esse in eodem indivisibili temporis, vel prius non esse quam esse. Non simul habuit esse et non esse, quia hoc est impossibile et implicai contradictoria; ergo prius non habuit esse et nunc habet; ergo est mutatum. Sed non est mutatum esse sine motu; quare nihil est factum sine motu ...". Ibid.

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chung des Grundsatzes: ,ex nihilo nihil fit', mit besonderer Klarheit zum Ausdruck. Wie Bartholomaeus betont, duldet der Grundsatz: ,ex nihilo nihil fit', gemäß unserer Erfahrung, keine Ausnahme, so daß man bezüglich der Vorstellung einer Hervorbringung aus dem Nichts eine übernatürliche Art der Erkenntnis annehmen müßte 70 : „... Propositiones univerales, quae sunt principia artis et scientiae capiuntur ex hoc quod ita apparet in partibus, ut patet II Posteriorum et I Metaphysicae. Sed in sensibilibus et particularibus apparet quod fiunt ex aliquo; ergo etc. Sed si aliqui habeant per inspirationem divinam quod ex nihilo possit fieri aliquid, ego nescio. Credo quod pauci sunt tales. Sed bene habent a magistris, et Uli ab aliis prioribus habuerunt ...". Im Licht dieser Kritik an dem Versuch, die Schöpfungstheorie durch den Begriff der simplex emanatio verständlich zu machen, erklärt sich auch im einzelnen die Stellungnahme des Bartholomaeus bezüglich der Frage nach dem Ursprung der Materie. Denn er weist die Auffassung zurück, welche die Materie als ein von Gott „per simplicem factionem et emanationem" Geschaffenes beschreibt, weil sie „nimis theologi%at"lx. Angesichts der Tatsache, daß die Materie, als letztes Substrat der Veränderung, durch keinen physikalischen Prozeß hervorgebracht werden kann, muß sie nach Bartholomaeus innerhalb einer wissenschaftlichen Betrachtung als ein ewiges Seiendes angesehen werden, welches von sich aus existiert und keine weitere Wirkursache als Ursprung seines Seins erfordert 72 .

6.

Schlußbemerkungen

Die vorangehende Analyse bietet einen Überblick über die Diskussion um die Frage nach dem Ursprung der Materie, wie sie sich in einigen Kommentaren zur Physik und zu anderen Werken des Aristoteles in der zweiten Hälfte des 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts entwickelt. Wie sich in dieser Analyse herausgestellt hat, finden sich bei unseren Kommentatoren sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, in welchem Maße die auf Grund des Glaubens vertretenen Theorien mit der philosophischen Weltanschauung übereinstimmen und sich mit Hilfe philosophischer Argumente bestätigen lassen. Selbstverständlich stellt sich für Auto70 71

72

Cf. Vat 845, Fol. 5Ira. Cf. Vat 845, Fol. 61va: „Istam positionem ego non intelligo, quia nimis theologi^at". Bartholomaeus von Bruges setzt sich im besonderen mit der Theorie der Hervorbringung der Materie durch Vermittler auseinander, sowie sie in Maz 3493 oder in dem Kommentar des Radulphus Brito formuliert wird. Seine Widerlegung gilt jedoch auch im allgemeinen gegen jede Formulierung der Lehre von der Schöpfung der Materie. Ibid.: „... Et cum dicunt quod deus creat (pro: causati) totum, verum est in aliquo genere causae. Non enim est causa efficiens omnium, quia plura sunt quae nullum habent efficiens, et materia est huiusmodi ...".

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ren, die einen K o n f l i k t zwischen dem Standpunkt des Glaubens und dem Standpunkt der Philosophie sehen, die Frage, ob ihre Bekenntnisse zum Glauben als aufrichtig zu betrachten sind und ob sich dieser K o n f l i k t überbrücken läßt. G e m ä ß einer, innerhalb der Forschung weitgehend vertretenen Interpretation, sind sogar radikale Positionen wie diejenige eines Bartholomaeus v o n Bruges in dem Sinne zu verstehen, daß Philosophie und Glaubenslehre als zwei voneinander getrennte Bereiche betrachtet werden, die einen unterschiedlichen Ursprung haben und ganz verschiedene Methoden anwenden. So w i r d einerseits die philosophische Erkenntnis als ein eigenständiges System angesehen, das v o m natürlichen Verstand gemäß seinen Prinzipien bis in seine letzten Konsequenzen entwickelt werden muß. Andererseits w i r d ihr nur eine eingeschränkte G ü l tigkeit eingeräumt, die sich nicht auf den Bereich des Übernatürlichen erstreckt und deshalb die Überlegenheit des Glaubens nicht tangiert 7 3 .

73

Eine solche Interpretation wird z.B. von S. MacClintock (Perversity and Error, 69 — 101) und R. C. Dales (Medieval Discussions, 248—251) vertreten. Der Gedanke der Autonomie der wissenschaftlichen Erkenntnis und zugleich das Bewußtsein ihrer eingeschränkten Gültigkeit haben bekanntlich einen musterhaften Ausdruck in der Schrift des Boethius von Dacien „De aeternitate mundi" gefunden; dazu cf. ζ. Β. Η. Schrödter, Boetius von Dacien und die Autonomie des Wissens, in: Theologie und Philosophie 47 (1972) 16 — 35; R. C. Dales, The origin of the doctrine of the double truth, in: Viator 15 (1984) 169 — 179. Überlegungen, die denen des Boethius nahe kommen, werden von einem der hier untersuchten Autoren geäußert, nämlich von Richard von Clive; dazu cf. ζ. Β. eine Stelle seines Physikkommentars, der wie der bereits erwähnte Metaphysikkommentar möglicherweise auf die siebziger Jahre zurückgeht (Hs. Worcester, Cath. Libr., Q. 13, Fol. 79ra—116ra, im besonderen Fol. l l l r b ) : „Patet tunc quod illudper quod dicitur quod ex nihilo aliquid fit non sumitur a ratione sumpta ex sensibilibus. Et propterea Aristoteles non debuit hoc ponere in quantum philosophus. Etsi sciret Aristoteles quod hoc sit verum, non debet hoc ponere, quia, sicut iudex non debet iudicare, quamvis sciat sic esse vel sic in veritate rei, sed debet iudicare secundum allegata, sic Aristoteles non debet ponere aliquid fieri ex nihilo in quantum philosophus. Sed tunc quaeritur utrum repugnet veritati et utrum erret. Dicendum quod errat in quantum falsum sustinet, sed tarnen non errat in quantum philosophus, quia philosophus, in quantum huiusmodi, nihil debet ponere nisi quod per rationem potest convincere. Quia ergo philosophus non errat nisi quando errat in philosophia sua, ideo {sua ideo interi, ms.) non est inconveniens quod duo diversi philosophi, ex diversis principiis idem affirment et negent. Propterea non est inconveniens quod philosophus neget aliquid ex nihilo [et] fieri et similiter motum incepisse et quod fides ponat contrarium et similiter Veritas, quia philosophus ponit quae sunt sensui nota et per rationem sensibilem, fides et Veritas ponit quod aliquid fit ex nihil· o> et similiter quod motus incepit ex volúntate ipsius primi solum. Et sic non est inconveniens quod diversi idem negent et affirment penes diversa principia et penes rationes diversas".

Zur Funktion der aristotelischen Ursachenlehre in der Scholastik R O L F SCHÖNBERGER

(München)

I.

Jene Bemühung der Griechen, in der Philosophie und Wissenschaft noch ungeschieden sind, die sich aber grundsätzlich und wirksam dem Mythos entgegensetzt, jene Bemühung beginnt mit der Suche nach Gründen. War der Mythos zwar ebenfalls eine Form, das Geschehen im Naturablauf hinsichtlich seiner auffalligsten Phänomene zu verstehen, so setzt sich jetzt gegen ihn der Versuch ab, diese Phänomene und die begegnende Welt insgesamt durch ihre Gründe begreiflich werden zu lassen. Diese Bemühung initiiert zum einen eine neue Mentalität, wie sie etwa in dem Satz des Demokrit zum Ausdruck kommt: „er wolle lieber einen einzigen ursächlichen Beweis [aitiologia] für etwas finden, als daß er den persischen Königsthron erwürbe" 1 . Aus der Perspektive des Anspruches, für vertretene Behauptungen einen Grund abfordern zu können bzw. angeben zu müssen, rücken alle bisherigen Formen existentieller Verläßlichkeit wie Mythos und Nomos auf die Seite der doxa. Da jenes Wissenwollen aber nicht bloß die überkommenen Strukturen der Verläßlichkeit auf neuen Feldern anwendet, sondern insgesamt relativiert, verlangt sie zum anderen — also über die eben genannte Verwandlung der Mentalität hinaus — auch eine eigene theoretische Fundierung: Gibt es denn so etwas wie Gründe, und wenn ja, wofür überhaupt lassen sich Gründe angeben? Zunächst sieht es so aus, als ob sich dies aus der Art des theoretischen Umgangs selbst ergäbe, in dem nichts aus der Warum-Frage ausgespart wird: weder die Erscheinungen der Natur noch die Gehalte des Nomos oder die Herkunft der Götter, weder das Erstaunliche noch das Selbstverständliche. Die diversen philosophischen Ansätze der Antike ließen sich wohl ohne jede verfremdende Äußerlichkeit nach den Formen der in ihrer Suche

1

Frg.118; Übersetzung von H.-G. Gadamer, Antike Atomtheorie (1935), in: Gesammelte Werke V, Tübingen 1985, 271 sq.

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unterstellten Gründe gruppieren. Piaton hat in einer berühmten Passage des „Phaidon" dies in Form der sokratischen Biographie geschildert. Die dort vorgetragene Kritik Piatons an Anaxagoras hat Leibniz übersetzt, um sie in den „Discours de métaphysique" (im Kapitel 20) einzufügen (Phaid. 97 c) 2 . Ungeachtet dieser ersten Auseinandersetzung um die Arten (eide) von aitiai und ungeachtet der inhaltlichen Kontroversen darüber, was wofür Ursache ist, bleibt dabei doch gemeinsame Voraussetzung, daß es als unproblematisch gelten kann, Gründe überhaupt zu suchen. Von Aristoteles bis Thomas Hobbes wird denn auch immer wieder die Philosophie geradezu als Suche nach Gründen definiert. Gleichwohl rückt spätestens mit Piaton die Frage in den Mittelpunkt, welche Arten von Gründen es denn „gibt". Was bei Piaton als philosophische Entwicklung des Sokrates geschildert wird, erhält bei Aristoteles die Form einer geschichtlich sukzessiven Entdeckung der verschiedenen Typen des Grund-seins, die — aristotelischem Selbstverständnis nach — bei ihm selbst zum Abschluß kommt. Im übrigen sei gleich vorweg bemerkt: Wenn im folgenden auch weiterhin von den „vier Ursachen" die Rede ist, so geschieht dies nur faute de mieux. Der moderne Begriff der Ursache macht es ziemlich problematisch, mit Bezug auf ein Ding oder ein Ereignis von mehreren Ursachen zu sprechen. Die deutsche Sprache verfügt jedoch über kein Substantiv mit ähnlich breiter Bedeutung wie das griechische aitia3. Es mag vielleicht zu den Rätseln der Denkgeschichte gehören, daß ein in fundamentalen Fragen — wie etwa im Konzept der Metaphysik, der Vollendung des Menschen oder der Theorie und Pragmatie des Wissens — zweideutig bleibender Autor wie eben Aristoteles zu einem Schulautor werden konnte, doch scheint das Lehrstück von den vier Ursachen ein vergleichsweise eindeutig fixiertes zu sein, auf das man sich nur zu berufen braucht. Unklar ist allenfalls seine theoretische Genese. Denn Aristoteles präsentiert das Theorem nur im Resultat. Ebendies aber hat seine Exegeten irritiert. Sir David Ross schreibt in seinem Kommentar zur Physik: „We do not know how Aristotle arrived at the doctrine of the four causes; where we find the doctrine in him, we find it not argued for but presented as self-evident" 4 . Diese Verwunderung ist für Wolfgang Wieland in seinem inspirativen Buch über „Die aristotelische Physik" bereits ein Indiz dafür, daß Ross hier noch in einer Auslegungstradition stehe, die mit überstrengen systematischen Ansprüchen an die aristoteli-

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4

Ed. C. J . Gerhardt, Die philosophischen Schriften von G. W. Leibniz, N D Hildesheim (Olms) I960, V I I , 335. Heidegger, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht als Erkenntnis, GA X L V I I , 184: „Griechisch gedacht, meint αίτιου jenes, woran es liegt, daß ..." Aristotle's Physics. A Revised Text with Introduction and Commentary, London 1936, 37.

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sehen Texte herangehe. „In Wirklichkeit", sagt Wieland, „handelt es sich bei der Vierursachenlehre aber gar nicht um eine hintergründige Theorie von metaphysischen Grundprinzipien, die durch eine glückliche Fügung der Natur dem menschlichen Geist als selbstevident gegeben sind und unmittelbar einleuchten, sondern um etwas viel Einfacheres ...[:] um das Ergebnis einer Analyse des Sprachgebrauchs" 5 . Hans Wagner hat sich trotz seiner ansonsten scharfen Kritik an Wieland dieser Sicht der Dinge im wesentlichen angeschlossen. Der „Ausgangspunkt der gesamten Gründelehre", sagt Wagner in seinem Physik-Kommentar, sei „die Analyse der Warum-Antworten" 6 ; daher könne Aristoteles zum einen als Grund auch Negativität anführen und zum anderen ohne weiteres für dasselbe mehrere Gründe angeben. Gleichwohl ist es doch ebensowenig unproblematisch, daß Aristoteles dieses Lehrstück nicht allein an zwei verschiedenen Stellen vorträgt, sondern auch, daß diese Passagen in der Metaphysik und in der Physik dem Gehalt nach sich nahezu unverändert finden. Man muß fragen: 1. In welches der beiden Gebiete gehört denn diese Theorie von den sog. vier Ursachen? 2. Wodurch unterscheiden sich Physik und Metaphysik, wenn nicht hinsichtlich der jeweils gesuchten Arten von Gründen? Immerhin könnte es doch naheliegend sein, wenn Wissen heißt, Gründe anzugeben vermögen, daß dann die verschiedenen Arten des Wissens durch verschiedene Arten von Gründen definiert sind. Wieland hat diesen Unterschied für irrelevant erachtet. Die Physik sei „aus sich selbst verständlich" 7 und zudem in heutiger Terminologie „der Sache nach eine metaphysische Untersuchung" 8 . Damit befindet sich Wieland auch selbst schon in einer, wenn auch nicht weiter namhaft gemachten Tradition. Ebenso wie nach Hegel die aristotelische Physik das „ist, was für die jetzigen Physiker eigentlich die Metaphysik der Natur wäre" 9 , hat auch Heidegger in seinem Aufsatz „Vom Wesen und Begriff der Physis" konstatiert: „überhaupt hat es wenig Sinn zu sagen, die ,Physik' gehe der 5

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7 8 9

Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, 262. Ganz ähnlich die Stoßrichtung von Heidegger, Die Frage nach der Technik [1953], in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 5 1985, 12: „Zwar tut man seit Jahrhunderten so, als sei die Lehre von den vier Ursachen wie eine sonnenklare Wahrheit vom Himmel gefallen. Indessen dürfte es an der Zeit sein zu fragen: weshalb gibt es gerade vier Ursachen? Was heißt in Bezug auf die genannten vier eigentlich .Ursache? Woher bestimmt sich der Ursachecharakter der vier Ursachen so einheitlich, daß sie zusammengehören?" Aristoteles, Physikvorlesung, Darmstadt "1983, 463 (40,1—7); ebenso W. Charlton, Aristotle's Physics I, II. Translated with Introduction and Notes, Oxford 2 1983, 99; kritisch dazu jüngst M. Schofield, Explanatory Projects in Physics, 2.3 and 7, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy, suppl. vol.: Aristotle and the Later Tradition, ed. H. Blumenthal and H. Robinson, 2 9 - 4 0 . Op. cit., 13. Op. cit., 19; cf. p. 60 sq. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, XVIII (Glockner), 337.

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,Metaphysik' voraus, da die Metaphysik ebenso sehr ,Physik' ist als die Physik ,Metaphysik' " 10 . Wie immer, es steht gleichwohl fest, daß es sich nach aristotelischem Selbstverständnis ganz ohne Zweifel um zwei voneinander zu unterscheidende Disziplinen handelt. Die Weise, wie Aristoteles in Metaphysik E 2 die Unterscheidung zwischen Physik und Metaphysik angibt, verbleibt nun aber gänzlich innerhalb der Lehre von den Substanztypen. Die Disziplinen werden dabei nicht neuzeitlich methodisch, sondern inhaltlich gegliedert. Auf der Basis zweier Kriterien, nämlich der Selbständigkeit und des Bewegtseins ergeben sich durch jeweilige Kontradiktion drei relevante Kombinationen, denen die drei theoretischen Disziplinen zugeordnet werden 11 . Die Einordnung der Ursachenlehre bleibt von daher gesehen also weiterhin offen und problematisch.

II. Jene drei hier nur gestreiften Interpretationsprobleme — nämlich erstens die wissenschaftstheoretische Zuordnung der Ursachenlehre, zweitens die Frage der möglichen aitiologischen Unterschiedenheit von Naturphilosophie und Metaphysik, und drittens das Problem ihrer theoretischen Genese — , diese drei Interpretationsprobleme wachsen im Aristotelismus, soll heißen im Verlauf der Interpretationsgeschichte, zusammen. Im folgenden sei nun ein Blick darauf geworfen, wie gerade im Ausgang von der aristotelischen Ursachenlehre selbst eine Unterscheidung von Physik und Metaphysik konzipiert wird. Dabei wird sich zeigen, daß entweder den beiden Disziplinen unterschiedliche causae zugeordnet oder diese causae, um als Unterscheidungskriterium fungieren zu können, in sich differenziert werden. In beiden Fällen aber geschieht auf der Basis des Aristoteles zugleich ein deutlicher Schritt über ihn hinaus. Die Frage muß ansetzen beim inneren Zusammenhang der vier Ursachen oder noch eher dabei, ob ein solcher Zusammenhang überhaupt besteht. Sollten diese vier Ursachen ebenfalls nur, wie es Kant von den Kategorien des Aristoteles behauptet hat, „rhapsodistisch" aufgelesen (KrV Β 106) sein oder sind sie in ihrem Erschöpfendsein von einem Prinzip her einsichtig zu machen? Solche Systematisierungsversuche können — gegen Wieland — nicht als dem Aristoteles völlig äußerlich angesehen werden: 10

11

GA IX, 242; cf. Einführung in die Metaphysik, Tübingen 4 1976, 14 ( = GA XL, 20): „Die ,Physik' bestimmt von Anfang an das Wesen und die Geschichte der Metaphysik ..."; cf. 107 ( = GA XL, 149); Der Satz vom Grund, Tübingen 5 1978, 120. Prägnant zusammengefaßt bei E. Vollrath, Aristoteles: Das Problem der Substanz, in: J. Speck (ed.), Grundprobleme der großen Philosophen, Göttingen 2 1978, 84—128; hier 93-96.

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Zum einen hat Aristoteles auch seinerseits mitunter solche Suffizienzanalysen angestellt, etwa bei der Zahl der Sinne (de an. III, 1); zum anderen kommt er immer wieder in seinen Schriften auf die Vierzahl der Ursachen als einer festen Größe zu sprechen und schließlich hat der problemgeschichtliche Exkurs in Metaphysik A 3 —7 eben vor allem den Sinn, die Vollständigkeit der vier Ursachen abzusichern 12 . Für eine Denkform wie die der Scholastik ist es nun aber geradezu typisch, die Frage aufzugreifen, wie sich die Suffizienz der sog. vier Ursachen theoretisch zwingend zeigen ließe. Innerhalb der lateinischen Scholastik hat Thomas von Aquin das Suffizienzproblem der vier Ursachen bereits in seinen frühen Schriften erörtert 13 . Eine für unsere Frage relevante Bedeutung bekommt es aber, so scheint es, erst bei Dietrich von Freiberg. Während es nämlich sonst in vielen, auch späteren Physik- und MetaphysikKommentaren übergangen wird 14 , greift Dietrich immer wieder dies Problem auf. In der Schrift „De animatione caeli" führt Dietrich die vier Ursachen präzise als vier Gattungen von Ursachen an 15 . Von Anfang an werden sie mit Averroes so angesetzt, daß sie als ganze im eigentlichen Sinne nur in demjenigen Bereich von Wirklichkeit vorkommen, der als bewegter der Veränderung, dem Werden und Vergehen unterworfen ist. Schon auf der Stufe der Mathematik aber ergibt der Begriff des Zweckes keinen Sinn; nichts ist mathematisch deswegen der Fall, weil es so gut ist 16 ; wenn aber — so muß man ergänzen — der Zweck die Kausalität der Wirkursache bestimmt, dann kann man mit Dietrich sagen, daß dann per consequens (!) auch die Wirkursache dort keine Rolle spielen kann. Gilt dies bereits in der Mathematik, dann ist es bei den materie- und deshalb bewegungsfreien Substanzen nur umso plausibler 17 . Die Metaphysik schließt also die causa Heidegger, der sonst vor solchen Deduktionsansprüchen bei der aristotelischen Kategorienlehre gewarnt hat (Nietzsche: Der europäische Nihilismus, GA XLVIII, 68), bringt im „Vom Wesen des Grundes" (GA IX, 124 sq.) genau das zuletzt genannte Argument vor. Allerdings urteilt auch er später hier anders, Die Metaphysik des deutschen Idealismus, GA IL, 78: „Eine strenge und ausdrückliche Begründung dafür, daß dieses διά τί oder die αιτία vierfach ist, gibt Aristoteles in den uns erhaltenen Schriften nirgends." 13 De princ. naturae, cap. 4 (ed. Leon. XLIII p. 43 sq.); Albertus Magnus, Phys. II, 7 (ed. Col.IV 1, 107 sq.) — Beide ordnen die Frage nach den Ursachen als solchen der Ersten Philosophie zu: Thomas, in Phys. II, 5 (176); Albert, op. cit., 106, 6 9 - 7 2 ; 108, 1 1 - 1 5 ; cf. Heinrich von Gent (?), Quaestiones in librum de causis, Resp. ad 3 (ed. J. Zwaenepoel 25). 14 Die Vierzahl nur feststellend und erläuternd: Roger Bacon, comm. natural. I p.II. d.5 c.l (ed. R. Steele, Opera hactenus inedita, Oxford 1905 sqq., 121 — 124; in den PhysikQuaestiones des Boethius von Dacien (CPDMA V, 2) fehlt die Fragestellung ganz; in späteren Texten wie den Physik- und Metaphysik-Quaestiones des Johannes von Jandun verlagert sich die Frage auf die Wirkweise der causa finalis. 15 So auch de int. II 8, 1 (I, 151): per singula causarum genera. 16 Cf. Aristoteles, Met. III, 2; 996a35-bl; allerdings Thomas, in Met. III, 4 (385). " De anim. caeli 3, 2 (III, 14sq.); de orig.l, 8 (III, 139); de luce 1, 3 (IV, 9). 12

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finalis und die causa efficiens aus ihrer Betrachtungsweise aus; sie ist Metaphysik durch diesen Ausschluß. Für unseren Zusammenhang ist jedoch jetzt von gleichem Gewicht, daß Dietrich innerhalb der vier Ursachengattungen einen doppelten ordo essentialis dependentiae ansetzt. Die vier Gattungen von Ursachen hängen voneinander wesentlich ab: Die Materie steht, wie Dietrich sagt, unter der Ordnung der Form; die Form nämlich prägt ( f i g i t ) x s die Materie ins Sein. Die Form wiederum steht unter der Ordnung des agens, welches die Form ins Sein überführt {deducere). Das agens wird aber nun seinerseits zum Agieren vom Zweck bewegt. Genauer und noch vollkommener muß jedoch nach Dietrich folgendermaßen gesagt werden: Die Materie steht unter der Ordnung der Form und diese beiden, Form und Materie, stehen unter der Ordnung des agens und diese drei insgesamt zuletzt unter der Ordnung des finis. Der Zweck ist daher in dem Sinne die erste der Ursachen, als er causa causalitatis ist 19 . Nur deshalb, weil hier eine wesentliche Abhängigkeit unter den Gattungen von Ursachen besteht, kann erstens ausgeschlossen werden, daß sich die Dinge nur äußerlich und zufallig auseinander ergeben und zweitens, daß einzelne Ursachtypen aus diesem Geflecht von Abhängigkeiten wieder herausgebrochen werden. Die zweite Form wesentlicher Abhängigkeit findet sich nach Dietrich innerhalb der einzelnen Gattungen von Ursachen; das gehört nicht unmittelbar zu unserem Thema. Wichtiger ist nämlich die Frage, welche kausalen Verhältnisse überhaupt bei materiefreien Substanzen herrschen. Dietrich sagt nun, daß die zwei Typen der äußeren Ursachen, also agens und finis, ihrem eigentlichen Sinngehalt nach dort ausgeschlossen sind. Eine Wirkursache oder ein Zweck bilden keine Gründe, welche die Metaphysik angibt. Die anderen beiden Gründe werden der Physik zugeordnet. Immerhin darf nicht übersehen werden, daß Dietrich für Effiziens und Finalität konzediert, daß sie bei den unbewegten Substanzen vorkommen secundum quandam proportionem20. Er nennt denn auch ausdrücklich das Motiv dieser Konzession: Ohne eine zumindest analoge Realisierungsweise 18

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Ein im übrigen häufig benutztes Wort Dietrichs, auch im Liber de causis des öfteren zu finden; cf. Eckhart, Eccl.n.45 (LW II, 274). — Zur causa essentialis·. B. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität und Einheit, Hamburg 1983, 24—29; id.,,Causa essentialis' bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, in: Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart, ed. K. Flasch, Hamburg 1984, 1 0 6 - 1 1 4 . De anim. caeli 4, 2 (III, 15): das Voraussetzungsverhältnis der vier causae auch in de cogn. ent. sep. 32, 2 (II, 195 sq.); ähnliche Formulierungen auch anderwärts: Alexander von Hales, sum.theol. I n.104 (I, 183 b); Thomas von Aquin, de princ.nat.4 (ed. Leon.XLIII p. 44, 1.35 — 36): ,finis est causa causarum, quia est causa causalitatis in omnibus causis"·, Philipp der Kanzler, Summa de bono, q. 1 (ed. N. Wicki, Bern 1985, I, 6); Siger v. Brabant, qu.in Phys. II q. 17 (ed. Bazán 177); Duns Scotus, ord.I d.2 n.89 (ed.Vat II, 180); zurückgehend wohl auf Avicenna, Met.VI, 5 (Van Riet, 338). De anim. 5, 2 (III, 16).

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der Ursachen wäre die Einheit des Kosmos nicht zu denken. Es ist aber auch offenkundig, daß ohne diese Konzession jene Deduktion der Ursachearten nachträglich wieder dementiert würde. Wenn Analogie keine Ausflucht sein soll, dann muß entweder die Differenz angegeben oder doch begründet werden, warum sie nicht im einzelnen angebbar ist. Dietrich setzt der Transmutationskausalität ein einfaches Hervorgehen entgegen. Obwohl in seinen Schriften der Schöpfungsgedanke mit Ausnahme der Bemühung, das voraussetzungslose Hervorgehenlassen der immateriellen Substanzen nicht mit dem primum principium koinzidieren zu lassen21, keine sonderliche Rolle spielt, ist doch offenkundig, daß Dietrich sich hiermit einem Konzept anschließt, das auch die creatio noch als ein ursächliches Verhältnis denken wollte. Bei der Unterscheidung von drei Weisen des ursächlichen Hervorgehens (causalium processuum) charakterisiert Dietrich die erste Weise folgendermaßen: „entia per suas essentias emanent modo simp liei ab aliquo principio omnino separato ...; et dico ,modo simp liei', quia non per motum vel quameumque transmutationem, sed per simplicem defiuxum totalis essentiae rei sic emanantis"22. Eine sehr ähnliche Entgegensetzung bringt übrigens auch bereits Thomas von Aquin an einer besonders signifikanten Stelle in seinem Physik-Kommentar: „produetio universalis entis a Deo non sit motus nec mutatio, sed sit quaedam simplex emanatio"23. In beiden Fällen wird die Ebene der Bewegung überschritten. Weder der Hervorgang des Intellektes bei Dietrich noch die Mitteilung von Sein in der ontologischen Metaphysik kann als Transmutation gedacht werden. Aber auch Siger von Brabant und andere kennen diese Unter-

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De subst. spir. 19, 1 (II, 316). De anim. 7, 1 (III, 17). K. Flasch, Einl. op. omn. III p. XXX: „die effiziente Kausalität und die finale finde sich ausschließlich im Bereich der äußeren Natur"; „metaphysische Begründungsverhältnisse" würden nicht „kritiklos nach dem Modell effizienter Kausalität" (ibid.) ausgelegt; in der „Analyse der Hauptformen des Begründens" ergebe sich, „daß die effiziente Kausalität ein Extremfall von Äußerlichkeit und Zufälligkeit" (ibid.) darstelle; cf. XXXII sq. Man fragt sich, aus welcher Perspektive sich diese Einschätzung ergibt: Inwiefern etwas als zufallig gelten kann, ist ja so simpel nicht (cf. Α. Maier, Notwendigkeit, Kontingenz und Zufall, in: Die Vorläufer Galileis im 14. Jahrhundert [Studien zur Naturphilosophie der Spätscholastik I], Rom 1949, 219—250; Thomas, Sum. theol.I, 82, 1); die Entgegensetzung von Bewegungskausalität und einfacher emanatio ist zudem durchaus gängig. In Phys. VIII, 2 (974); Sent.I d.7, 1, 1 ad 3: „agens enim naturale est causa motus·, sed agens divinum est dans esse totum"·, für die zwei Weisen, wie etwas als agens auftreten kann, beruft sich Thomas in Sent. II d.l, 1, 2 ad 4 auf Avicenna, Suff.I, 10 und Met. VI, 1 (Van Riet 292). Bemerkenswert ist etwa auch die schrittweise Umkehrung der aristotelischen Behauptung, der Begriff der Möglichkeit habe zwar im Kontext der Bewegung seine „eigentlichste" Bedeutung, diese sei aber in der metaphysischen Ausweitung auch auf das Nicht-Bewegte nicht die „dienstlichste" (Met.0, 1; 1045b36). Thomas hält in seinem Kommentar dazu (Met. IX, 1; nr. 1170—1772) den Ausgang vom Bewegungsphänomen deshalb für nützlich, weil dieses uns näher ist, die eigentliche Absicht gehe aber auf die Bedeutung von Akt und Potenz beim Seienden ganz allgemein.

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Scheidung. Bei der Frage, ob ewig Dauerndes eine Ursache habe, macht Siger folgende Unterscheidung: Eine Ursache, die durch Veränderung ihre Wirkung hervorbringt, kommt nicht in Frage; nur ist damit nicht der ganze Sinn des Begriffes erschöpft: „ Alio potest intelligi aliquid habere causam efficientem per hoc quod sit causa suae naturae et sui esse dans sibi esse, sic quod non est causa esse vel fieri per transmutationem; et tale non tollit rationem effectus. Et sicpossunt sempiterna habere causam sui esse"24. Aegidius Romanus scheint, um diesen Sachverhalt ausdrücken zu können, den Terminus essefactio geprägt zu haben.

III. Als erster hat m. W. Kurt Flasch auf die Übernahme averroistischer Elemente in Dietrichs Kausalitätskonzeption aufmerksam gemacht. Im Blick auf dessen Unterscheidung der Metaphysik von der Logik nannte er Dietrichs „Abgrenzung von der Physik" eine sehr viel „deutlichere Neuerung" 2 5 . Und schon in der Einleitung zum ersten Band der Opera omnia Dietrichs hatte er auf die entsprechende Übernahme dieses Gedankens bei Meister Eckhart 2 6 hingewiesen und diese Übernahme als einen „Affront gegen den aristotelischen und thomistischen Metaphysikbegriff' 2 7 bezeichnet. Ohne dies im einzelnen diskutieren zu wollen möchte ich vielmehr drei in sich sehr unterschiedliche Ergänzungen hinzufügen; die erste betrifft den Versuch, noch etwas in der Vorgeschichte dieses Gedankens zu sondieren; die zweite betrifft einige Variationen der Rezeptionsgeschichte; die dritte betrifft einen Hinweis auf eine formal gesehen ähnliche, inhaltlich aber nahezu spiegelverkehrte Konzeption. 1. Der Versuch, die Neuerung in ihrer Tragweite genauer zu bestimmen, wird sich zunächst an die einschlägigen Kommentare wenden. Albertus Magnus etwa sagt in seinem Physik-Kommentar (aus den frühen 1250er 24

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Met. II q. 8 (ed. Dunphy 60). Ebenso kennt Siger die Unterscheidung von causa efficiens in esse et in fieri III q. 3 (Dunphy 93) sowie die Formel unde principium esse — unde principium motus III q. 4 (ed. Dunphy 95), eine grundsätzliche wissenschaftstheoretische Konsequenz zieht er daraus aber nicht. — Zu Meister Eckhart, Eccl.48 (LW II, 276); cf. infra n.33. Bemerkungen zu Dietrich von Freiberg, De origine praedicamentalium, in: Von Meister Dietrich zu Meister Eckhart [wie n.18], 34—45; hier p. 44; nochmals das ra»j-a-Thema hat Flasch aufgenommen in: Procedere ut imago. Das Hervorgehen des Intellekts aus seinem göttlichen Grund bei Meister Dietrich, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg, in: K. Ruh (ed.), Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg 1984, Stuttgart 1986, 1 2 5 - 1 3 4 . Gen.I n.4 (LW I, 187 sq.): „metaphjsicus rerum entìtatem considérons nihildemonstratper causas extra, puta efficientem et finalem"·, Sap.n.20 (LW II, 341). Dietrich von Freiberg, opera omnia, Hamburg 1977, I p. XXIV.

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Jahren) zur Frage der Kompetenz für die Ursachenlehre nur, daß der Begriff der causa in den verschiedenen Disziplinen unter je anderem Aspekt vorkommt: In der Ersten Philosophie wird die causa betrachtet, insofern sie eine disjunkte Bestimmung des Seiendseins darstellt; in der Wissenschaft der Zweiten Analytiken, insofern sie das Prinzip der Erkenntnis des Verursachten ist; und in der Physik, insofern sie in der Weise der Bewegung ein Ding hervorbringt 2 8 . In seinem Metaphysik-Kommentar aus der Mitte der 1260er Jahre allerdings findet sich bereits eine Kritik an einem Konzept, in dem — wenn auch in anderer Gruppierung — Physik und Metaphysik durch unterschiedliche causae definiert werden. Im ersten Traktat zum elften Buch heißt es: „nec etiam est dicendum, sicut quidam alii dixerunt, quod physicus consideret efficientem et materiam et metaphysicus formam et finem ... tarnen tarn physicus quam metaphysicus considérant omnes quattuor causas"29. Der Editor Bernhard Geyer hat die Anonymisierungsformel „quidam" leider nicht aufgelöst. Immerhin aber findet sich im späteren MetaphysikKommentar, und zwar ebenfalls zum XI. Buch, des Thomas von Aquin eine der Sache nach sehr ähnliche Bemerkung; die Metaphysik, so sagt er, „considérât dicta genera causarum, et praecipue causam formalem et finalem"30. Es gab also auch schon vor Dietrich andere Versuche, Metaphysik und Physik durch ihren jeweiligen Begriff von Ursache zu scheiden, nur nicht im Sinne von äußeren und inneren Ursachen — eine Unterscheidung, die Thomas und andere gleichwohl kennen 31 . 2. Die Einschränkung des Ursachebegriffs auf die äußeren Ursachen bleibt zunächst für die Fortentwicklung des Metaphysikbegriffes relativ folgenlos. Nichts mit dieser Zusammenstellung von causa efficiens und causa finalis hat Ockhams Lehre zu tun, die besagt, Wissen als Wissen habe nur diese beiden Ursachen (übrigens als causae essentiales bezeichnet!); als Akzidens der Seele fehlt ihm Materie im eigentlichen Sinne und deshalb auch eine Form 3 2 . Meister Eckhart übernimmt zwar, wie eben schon gesagt, jene Einschränkung des Ursachebegriffs 33 ; nur gehört das Problem, wie sich die Wissenschaften einteilen lassen, gewiß nicht zu seinen primären Interessen. Jener Dietrich'sche Begriff von Ursache wird jedoch hochgra28 29 30 31

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Phys. II 2, 1 (ed. Col.IV 1 col.97a). Met. XI, 1, 3 (ed. Col.XVI 1, 462 sq.). Met. XI, 1 (2157). S.theol. I —II, 18, 4 ad 2; ScG II, 31 (1081); cf. Philipp der Kanzler, Summa de bono, II q. 2 (ed. N. Wicki, I, 320); Robert Grosseteste, in Post.Anal.II, 2 (ed. Rossi 330). Expos. Phys., prol. (OPh IV, 7 sq.). Sermo n.511 (LW IV, 425 sq.): „imago proprie est emanatio simplex, formalis transfusiva totius essentiae purae nudae, qualem considérât metaphysicus circumscripta efficiente et fine, sub quibus cadunt naturae in consideratione pbysici". Prinzip und Zweck sind außerhalb: Joh.n.720 (LW III, 630).

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dig wirksam in Eckharts Umsetzung dieses causa-Begriffs in seiner Ethik bzw. seiner spirituellen Protreptik. (Solche Konzepte sind offenbar nicht notwendig an das Problemfeld gebunden, in dem sie entwickelt werden.) Die Transformation zeigt sich nun darin, daß nach Eckhart eine Handlung im strengen Sinne nur insofern eine sittliche genannt werden kann, als deren Zweck mit ihrem Inhalt koinzidiert. Was immer die äußeren Anstöße für ein Handeln sein mögen, es ist doch nur insofern ein sittliches, als diese äußeren Ursachen nicht das Sein des Handelns bestimmen 34 . Es ist also insofern „ohne Warum". Eckhart übernimmt zwar terminologisch die aristotelische Substantivierung des Interrogativpronomens, schränkt jedoch den Sinn des „Warum", aus dessen innerer Differenzierung Aristoteles wie gesagt seine Ursachenlehre entwickelt hatte, auf die beiden äußeren Ursachen ein. Da jedoch — ebenfalls gut aristotelisch — Leben als dasjenige gedacht wird, das den Grund seiner Bewegung „in sich" (!) hat 35 , kann Eckhart nicht bloß die biblische Redeweise von sittlicher und religiöser Defizienz als „Tod" interpretieren, sondern das sittliche Leben und das Lebendigsein als solches als eine Strukturidentität denken und dies zuletzt als göttliches Leben vorstellen, denn auch Gott ist ohne die äußeren Ursachen der Finalität und Wirkursächlichkeit tätig 36 . Wenn die Kurzformel dafür lautet: ohne Warum, sine quare, dann heißt dies, daß Eckhart „Ursache" als etwas Äußeres denkt. Daher trifft sie in diesem Sinn auf das erste Prinzip nicht nur nicht zu, sie ist ihm prinzipiell nicht angemessen. Von daher liegt es wohl auf der Hand, daß ein berühmt gewordene Vers des Angelus Silesius: „Die Ros blüht ohn Warum; sie blühet weil sie blühet" 37 nicht bloß innerhalb der Eckhartschen Analogie von Leben und gutem Leben bleibt, sondern dies auch nur deshalb vermag, weil Angelus Silesius jene Neukonzeption der Ursachenlehre unangetastet läßt. Heidegger hat in seiner letzten Vorlesung über den „Satz vom Grund" diesen silesianischen Vers für eine Einstellung in Anspruch genommen, welche einer Metaphysik entgeht, die sich zur Anerkennung des Prinzips des zureichenden Grundes radikalisiert; dadurch werde an ihr aber nur erst jetzt manifest, was sie je schon war 38 . Ich muß es mir leider versagen, hier genauer zu verfolgen, wie sich jene angedeutete Rezeptionsgeschichte zu Heideggers Inanspruchnahme des silesianischen Verses im einzelnen verhält. Immerhin sollte sich gezeigt haben, daß der Gedanke des „ohne Warum" selbst zuletzt der Metaphysik und ihrer Reflexion auf die für sie spezifische Begründungsform entstammt. 34 35 36

37 38

Pred. 4 (DW I, 66); Pred. 39 (DW II, 259 sq.). De an. II, 1; 412b 1 5 - 1 7 . BgT (DW V, 43 sq.); cf. R. Schönberger, Secundum rationem esse. Zur Ontologisierung der Ethik bei Meister Eckhart, in: Oikeiosis. Festschrift für Robert Spaemann, ed. R. Low, Weinheim 1987, 2 5 1 - 2 7 2 , hier 270 sq. Cherubinischer Wandersmann, I, 289. Der Satz vom Grund, Tübingen 5 1978, 68 sqq.

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3. Trotz der internen Zusammenschließung der vier Ursachen ist Dietrichs Gedanke, die Komplementaritätskonzeption als Basis für eine Trennung von Disziplinen zu benutzen, nicht die einzige Folgerung daraus geblieben. Jene Ursachenlehre hat sich auf seine Weise auch Johannes Duns Scotus zunutze gemacht. Gerade Duns Scotus hat bekanntlich einen der wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Schritte zu einer definitiven Trennung von Metaphysik und Physik getan, eine Trennung, die sich in einer Hinsicht ebenfalls an der Ursachenlehre festmachen läßt. Einer der Anlässe hierfür ist, daß Scotus im „Tractatus de primo principio" den Status der Begründungen dafür anzugeben hat, daß ein ens infinitum existiert und zwar notwendig existiert; diese Notwendigkeit im Resultat schließt es jedoch aus, von bloß „physikalischen" Fakten wie dem Gegebensein von Bewegung auszugehen. Für die terminologische Abhebung von Physik und Metaphysik greift Scotus nun ebenso auf die Unterscheidung von causa extrínseca und causa intrinseca zurück. Allerdings interpretiert er ihr Rangverhältnis gerade umgekehrt wie Dietrich von Freiberg. Auch Scotus kommt es zunächst auf die strikte Zuordnung der beiden äußeren und der beiden inneren Ursachen an. Er geht von dieser Zuordnung nicht aus, sondern sucht diese zwingend zu erweisen. Scotus behauptet: Etwas kann nur zielbestimmt sein, wenn es auch bewirkt ist (eine übrigens nicht unwichtige Korrektur an landläufigen Vorstellungen von vorneuzeitlicher Teleologie). Dies Voraussetzungsverhältnis gilt aber auch umgekehrt. Streng analog dazu ist die Struktur bei den inneren Ursachen gebaut. Hinsichtlich des Vollkommenheitsniveaus sind die beiden Ursachearten jedoch ungleich. Mit den äußeren Ursachen ist keine Unvollkommenheit verbunden, wohl aber mit den beiden inneren — und zwar unvermeidlich 39 . Der Grund hierfür ist ein ganz simpler: Die innere Ursächlichkeit von Form und Stoff kann als solche nur fungieren, wenn sie zugleich gewissermaßen zu Teilen eines Ganzen werden. Dies schließt ein Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit ein, welches seinerseits wiederum ausschließt, daß die innere Ursächlichkeit zu einem Kandidaten für schlechthinnige Universalisierung werden könnte. Es ist deshalb unmöglich, den inneren Ursachen den Status von „reinen", soll heißen nicht mehr innerspezifischen Vollkommenheiten zuzuschreiben. Darüberhinaus sind die inneren Ursachen ihrerseits abhängig davon, daß die äußeren Ursachen in Funktion treten. Ohne ein final bestimmtes agens vermag keine Form eine Materie zu formieren. Aus dieser allgemein anerkannten Zuordnung der causae, der sich auch, wie vorher referiert, Dietrich von Freiberg anschließt, zieht Scotus also genau die entgegengesetzten Folgerungen hinsichtlich ihres Status.

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Tract, de pr. princ. II n.15 (Kluxen, 18).

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Um etwaigen Zweifeln an der Echtheit des Traktates zu entgehen 40 , sei der Gedanke nochmals im Zusammenhang aus der Ordinatio zitiert: „cuius non est causa extrínseca, nec intrinseca, quia causalitas causae extrinsecae dicit perfectionem sine imperfectione, causalitas vero causae intrinsecae necessario dicit imperfectionem annexam, quia causa intrinseca est pars causati; igitur ratio causae extrinsecae est naturaliter prior ratione causae intrinsecae ... Probantur etiam eaedem consequentiae, quia causae intrinsecae sunt causatae ab extrinsecis vel secundum esse earum vel inquantum causant compositum, vel utroque modo, quia causae intrinsecae non se ipsis sine agente constituunt compositum"^. Die vier Ursachen betreffen zunächst die Verhältnisse der Bewegung und Veränderung, doch nicht in einem exklusiven Sinne. Als metaphysische causae abstrahieren sie, wie Duns Scotus sich ausdrückt, von sich selbst: „et sic abstrahunt a seipsis ut pertinent ad considerationem physici"42. Was Duns Scotus hier eine Abstraktion nennt, heißt bei Dietrich eine nicht-eindeutige, sondern analoge Gemeinschaft. In beiden Fällen handelt es sich jedoch um eine Ermöglichung von höherer Universalität als es die Ursachen von natürlichen Werdeprozessen erreichen können. V. Die Ausdifferenzierung des aristotelischen Begriffs der Ursache ergibt nicht als solche eine nachträgliche Neuansetzung der Metaphysik, vielmehr wird jetzt die Metaphysik als diejenige Disziplin gefaßt, die ihrem eigenen Anspruch als Form des allgemeinsten Wissens genügt und daher Gründe in ihrer allgemeinsten Form anführt. Was allerdings die Problemlage tiefgreifend verändert hat, war der Umstand, daß es eine gegenüber Aristoteles neue Dimension an Allgemeinheit zu berücksichtigen galt. Der Anspruch, eine unüberbietbare Allgemeinheit des Bewirktwerdens zu denken, erwächst nämlich nun auch, wie unschwer zu sehen ist, aus dem Gedanken der Schöpfung. Dies jedoch in mehrerer Hinsicht: Zunächst in dem Sinne, daß alles, was nicht Gott ist, durch ihn ist, wie Augustinus sagt und seither oftmals wiederholt worden ist 43 . Dann aber auch in einem 40

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Cf. V. Richter, Studien zum literarischen Werk von Johannes Duns Scotus, München 1988. Ord.I d.2 p.l q.l —2 n.57 (ed. Vat.II, 163 sq.); dieselbe, aber stark verkürzte Argumentation mit dem Begriff des Teilseins in Rep.Par.I d.2 q.2 n.3 (XII, 64 a); n.6 (65 b): „esse effectivum nullam imperfectionem importât de se". Tract. II n.12 (Kluxen, 14). Augustinus, De Trinitate I 6, 9 (CCSL 50, 38): „Omnis enim substantia quae Deus non est creatura est, et quae creatura non est Deus est", Anselm von Canterbury, De casu diaboli, 1 (I p. 233); Thomas von Aquin, ScG II, 15 (922): „nihil praeter ipsum nisi ab ipso"·, De aeternitate mundi, ed. Leon. XLIII p. 85 1.10—13: „...philosophas, qui confitentur et probant omne quod est quocumque modo esse non posse, nisi sit causatum ab eo qui maxime et verissime esse habet". Für Buridan ist dies ein Argument gegen die Lehre vom complexe significabile·. Soph. I, 5 (Scatt 24).

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Sinne, der es unmöglich macht, den creator als einen, wenn auch vielleicht höchsten Fall der aristotelischen causa efficiens zu fassen. Daß hier eine Unmöglichkeit vorliegt, zeigt sich schon daran, daß der uns so geläufig und selbstverständlich gewordene Ausdruck causa efficiens zwar ein scholastischer, nicht aber der aristotelische ist. Wenn Aristoteles von derjenigen Ursache spricht, die etwas hervorbringt, nennt er sie durchweg όθεν ή άρχή της κινήσεως, das Woher des Anfanges der Bewegung 44 . Für Aristoteles besagt die sog. Wirkursache soviel wie Bewegungsursache; wie immer über die ursächliche Funktion der platonischen Ideen zu denken ist, sie sind für Aristoteles insbesondere deswegen nicht hinreichend, weil sie für Veränderung nicht aufkommen können; die Idee der Gesundheit als solche macht nicht gesund. Wenn dagegen nun der Sinn von Grund die Bewegung miteinschließen muß, dann ist der erste Grund ebenfalls ein Bewegendes, aber dadurch und darin ein erster, daß er unbewegt ist. Da jedoch, so kann man auch Aristoteles-immanent einwenden, das Unbewegt-sein auch ein Prädikat inner-kosmischer Instanzen sein kann, kann einerseits das Unbewegte nicht als etwas angesetzt werden, das der ursächlichen Begründung nicht bedürftig wäre, und andererseits Bewegung nicht als die universelle Weise der Hervorbringung verstanden werden. Hier war es wohl Etienne Gilson, der als erster darauf aufmerksam gemacht hat 45 , daß Albertus Magnus ohne Zögern, aber auch ohne den Schritt in seiner grundsätzlichen Bedeutung eigens hervorzuheben, von fünf Ursachen spricht: „quidam dixerunt causas esse quinqué"46. Gemeint ist damit eindeutig nicht etwa eine aus Konkordanzgründen integrierte causa exemplaris — die übrigens später, bei Duns Scotus in die causa efficiens47 und bei Buridan in die causa formalis zurückgenommen wurde —, sondern eine interne Aufspaltung der Wirkursächlichkeit selbst. Diese hat in weiten Kreisen eine Fortsetzung gefunden. Man findet diese Aufspaltung bei Siger von Brabant, bei Petrus von Alvernia etc. Analog zur lateinisch gefaßten aristotelischen Formel der Wirkursächlichkeit als unde principium 44

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Met. I, 2; 983a30; c.4; 985al3 c.7; 988a33; c.9; 991a26; V, 2; 1013b23-25; etc. - W. Wieland hat im (n.5) genannten Buch auch auf den Umstand aufmerksam gemacht, daß Aristoteles „immer nur ein Ding auf seine Ursachen hin befragt, niemals aber im Ausgang von gegebenen Ursachen nach ,Wirkungen' [ge]forscht. Man sieht das schon daran, daß ein der modernen ,Wirkung' entsprechender Grundbegriff in der aristotelischen Physik fehlt." (266) Es besteht also weder eine eineindeutige Relation zwischen Ursache und Verursachtem, noch stehen sie überhaupt „auf derselben begrifflichen Ebene", die eine ist die von Dingen, die andere die von Prinzipien. Notes pour l'histoire de la cause efficiente, in: AHDLMA 37 (1962), 7—31; mehrfach weitergeführt bei W. Dunphy, Peter of Auvergne and the twofold efficient cause, in: Med.Stud.28 (1966), 1 - 2 1 ; id., Albert and the five causes, in: AHDLMA 41 (1966), 7 21. Met. V, 1, 3 (ed. Col. XVI,1 p. 214, 4 1 - 4 2 ) . Ord.I d.36 q. un. n.23 (ed. Vat.VI, 280): „causa exemplaris non est nisi quoddam efficiens"·, Ockham, ord.I d.35 q. 5 (OTh IV, 501): „idea vel exemplar non est proprie causa".

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motus sprechen diese von einem unde principium esse. Dies geht zuletzt wohl auf Avicenna zurück; den Text werde ich noch zitieren. Wichtig ist für unsere Fragestellung, daß auch diese innere Dissoziierung der Wirkursächlichkeit mit dazu dient, die Disziplinen des theoretischen Denkens voneinander abzugrenzen; bei Petrus von Alvernia heißt es: „primum efficiens usitatur in naturalibus, secundum autem in mathematicis et divinis"48. Die Bewegungsursächlichkeit der Naturphilosophie und die Seinsursächlichkeit der Ersten Philosophie zuzuschreiben scheint ein so zwingender Gedanke zu sein, daß er auch jenseits von Schulgrenzen akzeptiert wird; trotz aller Variationen läßt er sich bei sonst so verschiedenen Denkergestalten wie Ulrich von Straßburg 49 , Heinrich von Gent 50 und selbst bei Johannes Buridan 51 belegen. Erst jetzt ist es einer theologischen Wissenschaft möglich, Schöpfung nicht als einen halb-mythologischen Prozeß zu denken; sowohl Thomas 52 wie Duns Scotus 53 — und übrigens auch der Savoyardische Vikar 54 — haben nämlich bestritten, daß Schöpfung eine Veränderung und mithin eine Bewegung sei. Thomas allerdings fügt diese ausdifferenzierte Seinskausalität in eine umfassendere Seinslehre ein. Insbesondere in den Kapiteln 15 und 16 des zweiten Buches der „Summa contra gentiles" widmet er diesem Versuch eine ausgedehnte Argumentation. An dieser wird merklich, daß es sich nicht bloß um eine Absetzbewegung vom Bewegungspara48 49 50

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In Met. III, 3 (ed. W. Dunphy, in: Med.Stud.26, 1964, 291). De summo bono II, 2, 2 (CPTMA I, 2.1 p. 30 sqq.). Sum. 24, 6 (141 rN); dort wird die Rangordnung zwar nicht ausdrücklich gemacht, aber offenkundig deswegen, weil sie schon bei ihm selbstverständlich ist; cf. Sum.22, 5 (135rEF); ganz ähnliche Einschätzung bei E. Gilson, History of Christian Philosophy in the Middle Ages, London 1955, 448. cf. qdl.l, 7 — 8 (V, 37): „cum omnis transitus factionis de non esse sit transmutatio et haec transmutatio naturalis quando est circa subiectum praeexistens, actus creationis, etsi non sit vera transmutatio ut est ilia quae est naturalis, quia tamen est de non esse in esse, modum mutationis habet, non motus, ad modum actionis qua rei acquiritur esse per generationem naturalem." Von diesen Quaestionen aus könnte auch ein Licht auf die Motive für die Verurteilung des Satzes fallen: ,£¿uod creatio non debet dici mutatio ad esse ..." (217) Eine mutationslose Hervorbringung gilt von den trinitarischen Prozessen, nicht aber von der Erschaffung; sie würden also ununterscheidbar. Met. I, 4 (5va): „nec valet etiam quod dicebatur, scilicet quod phjsica etiam considérât primam causam. Dico quod verum est, licet hoc non est modo quidditativo, immo solum respective ad motum et iste modus considerandi est posterior, quia est respectivus ad posteriora. Metaphysica autem modo priori scilicet quidditative considérât Deum et intelligentias [Ed.: intelligendas]. Ideo ipsa metaphysica est simpliciterprima. IV, 3 (14vb): „physicus considérât de omnibus entibus, non quomodo sunt, sed quomodo movent". Cf. n.23; ScG II, 37 (1131); Sum.theol.I, 45, 2 ad 2; ad 3; 45, 3; 46, 3 ad 2; de pot.3, 2. Rep.Par. I d.l q.6 n.22 (ed. Vivès XXII, 558a). - zu Bonaventura, Sent. II p.l a.l q.2 ad 1 (II, 23 b): „loquendo autem de mutatione supernaturali, per quam ipsum mobile processif in esse ..."; Sent. II d.l p.l a.3 q.l (II, 32b); E. Gilson, La philosophie de Saint Bonaventure, Paris 3 1953, 164. Profession de foi du vicaire savoyard, 1914, 255; cf. H. Deku, De nihilo [1974], in: Wahrheit und Unwahrheit der Tradition, St. Ottilien 1986, 224 sq.

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digma des Aristoteles handelt, sondern natürlich auch um eine Auseinandersetzung mit denjenigen, die meinen, auf eine solche Distanzierung verzichten zu können 55 . Ich muß es mir hier versagen, die Argumente des Thomas im einzelnen zu erläutern und zu diskutieren, in denen er diesen Gedanken einsichtig zu machen sucht. Nur soviel: Die erste Ursache kann solange nicht als eine universelle gedacht werden, als sie lediglich als Bewegungsprinzip, malitiös gesagt als Kosmosmotor gedacht wird. Begründungsbedürftig ist aber nicht erst das bloße Bewegtsein, sondern schon, daß etwas ist. Thomas sagt ausdrücklich: „esse autem est universalins quam moveri"i6 und das soll zugleich heißen, es ist auch nichts allgemeiner als das Seiendsein. Wenn der kreativen Hervorbringung des ersten Prinzips aber schlechthin alles unterworfen sein muß, so ergibt doch auch die Reflexion auf das Phänomen der Bewegung selbst, daß es das zu Bewegende bereits voraussetzt. Ein erstes Prinzip ist daher kein bloßer Beweger (936). Die Urhebung von Sein läßt sich nicht denken als Veränderung des Nichtseins. Diese damit zusammenhängende Unterscheidung von causa essendi und causa fienài könnte man auch weit außerhalb der thomistischen Schulrichtung vielfach belegen und kehrt mit den alten Schulbeispielen sogar noch bei Descartes wieder. Merkwürdig bleibt freilich, daß im wohl berühmtesten Text der Scholastik, den quinqué viae, dieses Gesichtspunkt völlig ausgespart bleibt. Dort heißt es, der Ansatz ex motu sei der eindrücklichste und selbst ein Heinrich von Gent wird dies wiederholen 57 . Von der Reflexionsstufe des contragentiles-Kapitels her wird es noch problematischer, vom primum movens immotum zu sagen, „et hoc dicimus omnes Deum". Das Unbewegtsein ist für

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Vom Sentenzen-Kommentar (Sent. II d.l, 1, 5 ad 1: „sicut dicit Commentator in lib. De substantia orbis, cap. 2, Aristoteles nunquam intendit quod Deus esset causa motus caeli tantum, sed etiam quod esset causa substantiae eius, dans sibi esse.") bis zu den späten AristotelesKommentaren hat Thomas daran festgehalten, daß es nicht der Meinung des Aristoteles entspricht, die Begründungskompetenz des ersten Prinzips bloß auf die Bewegung einzuschränken: in Phys.VIII, 3 (996); VIII, 21 (1154); in Met. II, 2 (295); VI, 1 (1164); in de cael.I, 8 (91). ScG II, 16 (935); in de causis 18 (342): „moveri praesupponit esse"; weit strikter Duns Scotus, ord.II d.l q.3 n.115 (ed. Vat. VII, 57): „efficiens in plus est quam movens-, dazu allerdings n.153 (p. 77); Met. I q.l n.25 (ed. Vivès VII, 23 a): „quatuor causae, inquantum quaelibet in suo genere dat esse circumscribendo rationem motus et mutationis, pertinet ad Metaphysicum\ materia et forma, inquantum sunt partes essentiae-, efficiens, inquantum dat esse circumscibendo motum, licet enim non ageret nisi movendo, tamen ratio dantis esse, prior est ratione moventis ..." cf. E. Gilson, Jean Duns Scot, Paris 1952, 82 n.l: „Ne se plaçant pas, comme avait fait Thomas d'Aquin, au point de vue de l'existence même du mouvement, Duns Scot a le droit d'admettre que le ,premier moteur' n'est pas nécessairement le ,premier être'." Sum.theol.I, 2, 3; in Phys.VIII,1 (970); Heinrich, Sum.22, 4 (132vM): „... et sunt tres in via causae efficientis. Quarum prima et manifestior est ilia ..."

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sich allein genommen gerade nicht dazu hinreichend, sich als Begriff eines schlechthin Ersten zu prädestinieren 58 . Zwei Dinge sind hier allerdings zu beachten: Zum einen liegt darin nicht eine Inanspruchnahme des Ursachebegriffs über die naturalen, also quoad nos zunächst begründungsbedürftigen Verhältnisse, sondern es wird die schon neuplatonische Behauptung fortgeführt, das erste Prinzip sei sogar im eigentlichsten Sinne Ursache 59 . Zum anderen aber wird dieser Status als eines Inbegriffs neu interpretiert: Die theologische Richtung denkt Gott selbst als Grund von Ursächlichkeit, als causa causalitatis. Thomas von Aquin integriert dies in den Gedanken, daß das ens als solches eines Grundes bedürftig sei und dieser im ipsum esse subsistens liege. Vor dem Hintergrund der eingangs angestellten Überlegungen zur aristotelischen Lehre von den vier Ursachen kann man also gerade an diesem Kernbestand des Aristotelismus die Transformationskraft der Scholastik eindrücklich machen. Ein solches Vorgehen ergibt sich zum einen aus einem Konkordanzinteresse: Durch die Distinktion wird ein Gedanke eingeführt, den Aristoteles als solchen weder affirmieren noch bestreiten konnte; in seiner partikularen Geltungsform braucht er jedoch vom Exegeten auch nicht zurückgewiesen zu werden. Diese gedankliche Bewegung nimmt sich wie ein Fortschritt in der Wissenschaft: Aus einer universelleren Perspektive wird eine andere sowohl als partikulare erkannt, wie dann auch in die universellere integriert. Allerdings ist diese Theorie der Verursachung von Seiendsein nicht unwidersprochen geblieben. Zwei Kritiker und Kritikpunkte seien genannt: Siger von Brabant verwirft völlig den Gedanken einer Verursachung von Seiendsein. In seinem Metaphysik-Kommentar bringt Siger die — unvermeidlich an Leibniz erinnernde — Frage auf, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts: „quare magis est aliquid in rerum natura quam nihil?"60. Interessant daran ist weniger die vielleicht kuriose Vorwegnahme, als vielmehr der Umstand, daß Siger die Frage als solche für sinnlos hält. So wie sie gestellt ist, kann sie als Antwort nur selbst wieder ein Seiendes anzielen, die Frage läßt sich also in dieser Allgemeinheit gar nicht stellen. Die Warum-Frage setzt somit ein zumindest in irgendeiner Hinsicht spezifiziertes Seiendes voraus. Bekanntlich hat Thomas von Aquin die Frage nach dem Grund des Seiendseins nicht nur für sinnvoll gehalten, sondern 58

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Wenn man diese Texte gegeneinanderhält, fallt auf die thomistischen und neuscholastischen Rehabilitierungsversuche der prima via ein seltsames Licht; ob der Beweisgang argumentationstheoretisch vergeblich ist, dies zu untersuchen ist nicht mein Thema; jene Rehabilitierungsversuche haben jedoch nur zu oft kein Verhältnis zu der zuletzt genannten Perspektive des Thomas. Auch schon Ps.-Platon, Epinomis 981 a: αρχή τήζ άρχήξ. In Met. IV, comm.; ed. Dunphy, 170; cf. Introd. q. 2 (Dunphy, 37).

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als definitorische Bestimmung des Gegenstandes der Metaphysik angeführt; bezeichnenderweise aber nur deshalb, weil dieser Grund selbst gerade nicht als ein Seiendes gedacht wird. In anderer Weise wird diese wohl „ontologisch" zu nennende Differenz bei Meister Eckhart angesetzt, wenn er als Grund des Seienden das reine Nichts zu denken versucht. Es ist deutlich, daß Leibniz sich von beiden Konzeptionen unterscheidet. Wenn auch die an Leibniz gemahnende Formulierung Sigers zu verlokkend ist, um sie hier zu übergehen, muß doch der historischen Angemessenheit wegen gesagt werden, daß Sigers Ablehnung keine singuläre Ausnahme bildet. Ähnlich argumentieren nämlich beispielsweise Heinrich von Gent 61 und Duns Scotus 62 . In allen Fällen ist es dasselbe Argument wie schon bei Avicenna: „Deinde principium non estprincipium omnium entium. Si enim omnium entium esset principium, tunc esset principium sui ipsius; ens autem in se absolute non habet principium; sed habet principium unumquodque esse quod scitur"63. Die Universalierung des Begriffes von Grund führt auf den widerspruchsvollen Begriff der causa sui. Nur in Parenthese sei dazu angemerkt: Von dieser Argumentation her kann man verstehen, warum im 17. Jahrhundert, wo das Prinzip des zureichenden Grundes, welches als universell geltendes Prinzip für alles Seiende schlechthin einen Grund fordert, explizit formuliert wurde, dies überall die Verwendung des Begriffes causa sui nach sich gezogen hat. Schon Avicenna hat gesehen, daß hier ein Implikationsverhältnis vorliegt. Nur war man jetzt bereit, den vormals widersprüchlich scheinenden Begriff der causa sui zu verwenden. Dies gilt sowohl für Spinoza wie für Descartes; aber auch für Leibniz. Hatte sich dieser in seinen Anmerkungen zur Ethik des Spinoza eher zurückhaltend gezeigt, so finden sich anderwärts auch bei ihm durchaus Ausdrucksweisen, die den Gedanken der causa sui enthalten. Zurück zum scholastischen Zusammenhang. Der im Kontext des Unmöglichkeitsargumentes erwähnte Duns Scotus hat auch noch ein anderes spezifisches Argument vorgebracht: Der Gedanke einer causa essendi universalis mache zuletzt doch die causae secundae redundant. Wenn nicht diese Sein hervorbringen, sondern lediglich die causa prima, so fragt sich, welche kausale Funktion den causae secundae noch verbleibt. Bekanntlich hat Thomas der Begründung endlicher Kausalität seine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Das Etwas-hervorbringen-können, das Wirksam-werden-kön61

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Sum.quaest. 6, 2 ad 4 (115vL): „prima philosophia, quae est de ente simpliciter ut de subiecto, non considérât principia aliqua subiecti, quia non habet ulta. Ens enim simpliciter ... non habet principium, sed est principium aliquibus entibus." Ord.I prol. p.3 q.l —3 n.191 (ed. Vat. I, 128): „entis inquantum ens, quodponitur subiectum metaphysicae, nulla sunt principia, quia tunc essent cuiuslibet entis"·, so auch Suarez, Disp. met.I 5, 38 (XXV, col.48 a). Met. I, 2 (Van Riet, 14); auf die zuletzt zitierten Stellen hat bereits Albert Zimmermann aufmerksam gemacht: Die „Grundfrage" in der Metaphysik des Mittelalters, in: Arch. Gesch. Philos. 47 (1967), 1 4 1 - 1 5 6 .

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nen ist für ihn das stärkste Indiz für Wirklichkeit überhaupt 64 . Zwar bestreitet Thomas nicht — wie manche der Artes-Lehrer 65 —, daß causae secundae aufgrund ihres instrumentellen Status in der unmittelbaren Wirksamkeit der causa prima ersetzt werden können; dies hat jedoch lediglich die Form eines Zugeständnisses, denn die dignitas causalitatis, die Würde, etwas hervorbringen zu können — ein Ausdruck, den Thomas mehrfach verwendet 66 (und übrigens auch noch Pascal) — gehört selbst zum Gehalt der Schöpfung. Die Ersetzbarkeit ist daher lediglich eine supranaturale Möglichkeit, nicht etwas, das aus Gründen der Ökonomie genutzt würde! Ockham wird freilich die Frage stellen, ob wir darüber Gewißheit gewinnen können, wann ein Fall natürlicher Kausalität und wann deren supranaturale Ersetzung vorliegt. Seine Antwort ist, daß es darüber bei natürlichen Ursachen keine absolute Gewißheit geben kann; ohne davon besonderes Aufheben zu machen, nimmt Ockham allerdings den Willen davon aus: Mein Wollen ist zwar eine sekundäre Ursache, jedoch nicht in einem sittlich relevanten Sinne ersetzbar, auch nicht durch den Schöpfer des Willens: „omnis actus alius a volúntate potest fieri a solo Deo .,."67. Läßt sich aus all dem am Ende noch ein philosophisches Resümee ziehen? Die verschiedenen, hier durchgegangenen Versuche, Metaphysik und Physik zu differenzieren, sind insgesamt betrachtet nur ein Stadium in der komplexen Geschichte des Verhältnisses von Metaphysik und Physik, das nicht zu einer völligen Scheidung beider Disziplinen führt. War der aristotelische Bewegungsbegriff einer, der nicht allein durch seine antieleatische Intention, sondern auch durch die verwendeten Modalbegriffe offenkundig meta-physisch ist, so ist doch ebenso offenkundig auch bei den hier betrachteten Autoren die qualitative Physik in Kraft geblieben. Diese erhält jedoch einen neuen Status. Insofern eine Scheidung von Physik und Metaphysik unter dem Gesichtspunkt der Kontingenz unternommen wurde, ergibt sich daraus zweierlei: Der Metaphysik wird nicht allein — wie auch schon bei Aristoteles — eine andere Ebene zugewiesen, sondern diese Ebene überhaupt wird neu definiert: Sie ist erstens von größerer, ja 64

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ScG III, 69; im cap. 66 hatte es geheißen, daß was immer Sein verleiht, dies in virtute divina tut. Es handelt sich ja nicht um zwei toto coelo verschiedene Leistungen, vielmehr spezifizieren und determinieren die secunda agentia das vom primum agens verliehene Sein: III, 66 (2412). Siger von Brabant, qu. de causis, q. 2 (ed. A. Marlasca 41); auch in einem anonymen Physikkommentar (Paris, BN 16 297), der vielleicht von Siger stammt: in Phys.I q. 13 (ed. A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles, Berlin 1968, 25); Johannes Wacfeld, in Phys; cod. Gonville and Caius 344, £271 va (cit. ap. Zimmermann, Ein Kommentar, XXXIX); cf. R. Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Paris le 7 Mars 1277, Louvain—Paris 1977, 128 sq.; auch ein Dietrich von Freiberg bestreitet die Berechtigung der Berufung auf die prop.l des L.de causis: de acc.23, 3 sqq. (III, 86 sq.). Sent. II d.l, 1, 4; sum.theol.I, 23, 8 ad 2. Qdl. 3, 14 (OTh IX, 254).

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jetzt sogar von größtmöglicher Universalität und zweitens von höherer und jetzt sogar von grundsätzlicherer Unabhängigkeit von der Physik. Vielleicht darf man so weit gehen zu sagen, hier bahne sich zumindest die Möglichkeit an, die Physik als ein Unternehmen zu betrachten, dessen Resultate unvermeidlich die Züge der Kontingenz tragen. Kontingenz wird also durch Kausalität nicht an sich beseitigt oder bewältigt. Immerhin werden dann schon im 14. Jahrhundert die aristotelischen Notwendigkeitsansprüche für seine Kosmologie (gegen die des Timaios) auf breiter Basis eingezogen 68 . Umgekehrt hat die Metaphysik in dieser Phase die äußerste Anstrengung unternommen, ihre Begründungsform mit dem ihrer Disziplin immanenten Allgemeinheitsanspruch zur Konsistenz zu bringen. Insofern sie dies erreicht, emanzipiert sie sich von einer Naturphilosophie, für die sie nicht nur einmal die spekulativen Voraussetzungen bereitgestellt hat, von der aber auch in dieser Zeit zunehmend durchschaubar wird, daß sie auch andere, nämlich kosmologische Voraussetzungen macht, deren Kontingenz der Selbstbehauptung der Metaphysik eine zusätzliche Selbstreflexion mit neuen Resultaten abverlangt.

68

Cf. vom Vf., Eigenrecht und Relativität des Natürlichen bei Johannes Buridanus, in: Mise. Med. XXI, 1 (Mensch und Natur im Mittelalter), ed. A. Zimmermann/A. Speer,

1991, 216-233.

Die Naturphilosophie als „ s c i e n t i a bei Wilhelm von Ockham HANS-ULRICH WÖHLER

realis"

(Dresden)

Der Ockhamsche Wissenschaftsbegriff hat eine grundsätzliche Bedeutung für alle vier Teile des umfangreichen Werkes des Philosophen. Sowohl in den theologischen, den naturphilosophischen, den logischen als auch den kirchenpolitisch-sozialtheoretischen Schriften äußerte er sich zu diesem Thema. Traditionale Gesichtspunkte (z. B. die These von der Magdrolle aller Wissenschaften gegenüber der Theologie) 1 wie auch die These von der Logik als universellem Organon der Wissenschaften 2 sind dabei genauso zu finden wie zugespitzt Polemisches (z. B. die Leugnung bzw. Einschränkung des Wissenschaftscharakters von Theologie) 3 und konzeptionell Neuartiges (wie die Fassung der „scientia realis" im Gesamtrahmen einer nominalistischen Erkenntnistheorie und Ontologie in den naturphilosophischen Schriften) 4 . Der Grammatik und der Logik hatte Ockham selbst in seinem politischen Schrifttum aus seiner letzten Lebensphase überragende Bedeutung beigemessen, ohne sich jemals völlig von einer als Wissenschaft verstandenen Metaphysik und Theologie losgesagt zu haben 5 . Auch eine als Wissenschaft verstandene Ethik gehört zu den ausgezeichneten Disziplinen im Verständnis Ockhams, denn er maß dieser ein hohes Niveau an Präzision, Nützlichkeit und Evidenz zu 6 . Insgesamt gesehen begegnet uns also ein leicht modifizierter traditioneller aristote1

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Guillelmus de Ockham, In Sent. I, prol., qu. VII, in: Opera theologica, Vol. 1, St. Bonaventure 1967, 200. Ibid., 201. Ibid., 1 8 3 - 2 0 6 . Cf. „Expositio in libros Physicorum" (Opera philosophica, Vol. IV, V; „Brevis Summa libri Physicorum" (Opera philos., Vol. VI); „Summula philosophiae naturalis" (Opera philos., Vol. VI). Sekundärliteratur zur Ockhamschen Wissenschaftsauffassung ist in der Ockham-Bibliographie aufzufinden (ed. J. P. Beckmann, Ockham-Bibliographie 1986 — 1990, Hamburg, Felix Meiner Verlag 1992). Cf. G. de Ockham, Opus nonaginta dierum, Vol. II, cap. 71, ed. R. F. Bennett/J. G. Sikes/H.S. Offler, Manchester 1963, 596: „Nullus enim, ut dicmt, est quaestionum intricatarum theologiae facultatis determinator idoneus, nisi fuerit in grammatica, maxime quantum ad tropos et figurativas locutiones, quae docentur in ea, et logica et metapbysica et theologia perfectus. Aliae enim scientiae prosunt, sed parum respectu praedictarum." Cf. G. de Ockham, Quodlibeta Septem, Quodlibet II, qu. 14, in: Opera theologica, Voi. IX, St. Bonaventure 1980, 177 sq.

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lischer Wissenschaftskanon. Ockham hat allerdings die einzelnen Teile sowohl in ihrem Umfang als auch ihrer Wertigkeit nicht gleich stark beachtet. Zwar macht sich in verschiedenen Arbeiten eine Aufwertung der „praktischen Wissenschaften" bemerkbar, doch es fehlen ausgearbeitete Kommentare zu den Ethiken und der „Politik" des Aristoteles. Auch in der Naturphilosophie blieb vieles nur angetippt 7 . Die Logik erhielt demgegenüber die überragende Rolle einer „scientia scientiarum et ars artium"8 oder „scientia communis"'*. Im historischen Rückblick ist denn auch weniger das erkennbare System der Wissenschaften als Ockhams systematische Anwendung der Methoden von Sprach- und Metaphysikkritik in der Theologie, der Naturphilosophie und den politischen Streitschriften bedeutsam geworden. Es ist A. Goddu unbedingt zuzustimmen, daß eine separate Abhandlung der Ockhamschen Naturphilosophie von seiner Logik und Erkenntnistheorie nicht opportun ist 10 . Die Akten aus dem Prozeß gegen Ockham in Avignon belegen, daß schon zu seinen Lebzeiten der genannte Akzent im Ockhamschen Wissenschaftsverständnis auf Sprachund Erkenntniskritik auffiel 11 . Um Ockhams Ansatz in der Naturphilosophie richtig werten zu können, muß sein Verständnis von „scientia realis" besonders ins Auge gefaßt werden. Im Sentenzenkommentar hatte er die Meinung vertreten, daß in jeder Wissenschaft — egal, ob sie Außermentales oder Gedankliches zum Gegenstand hat — lediglich Aussagen gewußt werden; eine Wissenschaft mit Realien als Gegenstand, zumal solchen mit Allgemeinheitscharakter wie in der Theorie des Aristoteles, betreffe primär die Termini und die aus ihnen gebildeten Aussagen, welche für die Dinge supponieren 12 . Auch in den naturphilosophischen Schriften wird auf den notwendig durch Logik bzw. logische Funktionen der Sprache vermittelten und nicht unmittelbaren Bezug der „scientia realis" auf die Dingwirklichkeit verwiesen 13 . 7

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Cf. G. de Ockham, Summula philosophiae naturalis, praeambula, in: Opera philosophica, Vol. VI, St. Bonaventure 1984, 155. Hier kündigt Ockham u.a. die Abhandlung von Astronomie, Psychologie, Zoologie etc. an. G. de Ockham, Tractatus minor logicae, in: Opera philosophica. Vol. VII, St. Bonaventure 1988, prologus, 4. Id., Brevis summa libri Physicorum, in: Opera philosophica, Vol. VI, St. Bonaventure 1984, lib. I, 21. Α. Goddu, The physica of William of Ockham, Leiden-Köln 1984, 19. Cf. J. Koch, Neue Aktenstücke zu dem gegen Wilhelm von Ockham in Avignon geführten Prozeß (Teil III—V), in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 8 (1936), Louvain, 171 sq. (hier im Artikel 13 des Theologengutachtens wird Ockhams Auffassung der „scientia realis" in Sent. I, dist. 2, qu. 4 angegriffen). G. de Ockham, In Sent. I, dist. 2, qu. 4, in: Opera theologica, Vol. II, St. Bonaventure 1970, 134 u. 137. Cf. Expositio in libros Physic., prol., § 4, a.a.O., 11 sq.; Brevis summa libri Physicorum, prol., cap. 2, I.e., 5sq.; Summula philosophiae naturalis, lib. I, cap. 5, I.e., 167.

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Ockham hat sich damit in erster Linie einem universalienrealistischen Wissenschaftsverständnis widersetzt. Einem solchen Verständnis hing zum Beispiel Walter Burley an, der in seinem Physikkommentar den unmittelbaren „Dinggehalt" wissenschaftlicher Aussagen unterstellt hatte 14 . Für den Nominalisten Ockham war ein anderes Konzept maßgeblich: Die Wissenschaften beziehen sich auf das nicht-verdinglichte Allgemeine und durch Vermittlung logischer Sprachfunktionen sekundär auf das Singuläre in der Naturwirklichkeit. Das Singuläre ist so zwar nicht unmittelbares Wissensobjekt, wohl aber Bezeichnungsgegenstand der universalen Termini 15 . Indessen sichert aber nicht schon die isolierte Bezeichnungsfunktion einzelner Termini, sondern erst die identische Supposition von Subjekt- und Prädikatterminus bestimmter Aussagen den Bezug von Wissenschaft auf die Dingwirklichkeit bzw. die Konstituierung einer „scientia realis" ab 16 . Wissenschaft, einschließlich der „scientia realis" ist für Ockham damit wesentlich als logisch widerspruchsfreies Aussagesystem konstituiert. Aktual tritt dieses System als ein Kollektivum aus bewußt gewordenen Prinzipien, Schlußsätzen, Definitionen, Entgegnungen und Widerlegungen irriger Argumentationen auf 17 . In diesem Sinn faßte er Wissenschaft auch als einen geordneten Bewußtseinskomplex auf. Man kann also berechtigt von einer „Propositionalisierung" 18 und Mentalisierung des Ockhamschen Wissenschaftskonzepts sprechen. Dies bedeutet aber nicht, daß Ockham den Unterschied zwischen Methode und Inhalt von Wissenschaft mißachtete oder reduktionistisch Wissenschaft als logische Sprachanalyse auffaßte. Die Logik war für ihn zwar eine Art Universal-, aber keine Superwissenschaft. Er hatte auch Metaphysik als Wissenschaft von der Art und Weise der Prädikation des Seienden als Seiendem ausdrücklich gelten lassen 19 . In der Gestalt der Quidditäten-Metaphysik hatte er sie jedoch fallengelassen. Dementsprechend ist für ihn Naturwissenschaft als „scientia realis"

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Cf. Gualterus de Burley, Expositio in libros octo de physico auditu Aristotelis, Pavia 1488, lib. I, fol. a5r: „... arguo et pono duas conclusiones. Quarum prima est, quod aliquid est extra animam, quod non est singulare. Secunda conclusio est, quod non omne universale est conceptus animae." Burley folgt einem scotistisch inspirierten Universalienrealismus. Uber das Konzept von Johannes Duns Scotus hinausgehend hatte er jedoch eine Realdistinktion von Individuum und Universale unterstellt. Cf. G. de Ockham, In Sent. I, dist. 2, qu. 4, 1. c., 137 sq. Cf. G. de Ockham, In Sent. I, dist. 27, qu. 3, in: Opera theologica. Bd. 4, St. Bonaventure 1979, 255. Cf. G. de Ockham, Expositio in libros Physicorum Aristotelis, prol., § 2, in: Opera philosophica, Vol. IV, 6. Cf. R. Imbach (Ed.), Wilhelm von Ockham. Texte zur Theorie der Erkenntnis, lat.-dt., Stuttgart 1984, 183. Cf. D. Perler, Kopulatheorie und Seinsbegriff. Zum Verhältnis von Logik und Metaphysik bei Wilhelm von Ockham, in: Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, ed. B. Mojsisch/O. Pluta, Amsterdam/Philadelphia 1991, 805-829.

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sowohl methodisch als auch inhaltlich mit logischer Sprachanalyse und -kritik am Essentialismus und der herkömmlichen Quidditätenmetaphysik verbunden. Konstitutiv für das Ockhamsche Verständnis von Naturphilosophie sind ferner sein berühmtes „Rasiermesser" und die nominalistisch transformierte Ontologie. Der Venerabiiis inceptor hatte sich aber auch bemüht, die Spezifik von Naturphilosophie als Disziplin zu bestimmen, als er über das „subiectum" und die „causae" dieser Wissenschaft reflektierte 20 . Er war der Überzeugung, daß ein bloßer „modus diversus considerandi nihil facit ad diversitates scientiae"2X. Vielmehr waren für ihn die propositionalen Inhalte der „conclusiones'' der entscheidende Maßstab für die Unterscheidung der einzelnen Wissenschaften. Die Verschiedenheit dieser „conclusiones" sollte sich eindeutig in jeweils verschiedenen „subiecta" bei gleichen „praedicata" oder umgekehrt oder bei sowohl verschiedenen „subiecta" als auch verschiedenen „praedicata" ausdrücken 22 . Wilhelm von Ockham ging von einer Pluralität von „subiecta" und „praedicata" in der Naturwissenschaft aus. Dabei verstand er die Naturwissenschaft als ein gegliedertes Ganzes, das durchaus auch gemeinsame Inhalte mit anderen Wissensgebieten haben kann. In seiner „Expositio in libros Physicorum Aristotelis" nannte er die „substantiae sensibiles et compositae ex materia et forma" als einen spezifischen Inhalt der Naturphilosophie 23 . Nur im übertragenen und uneigentlichen Sinn ließ er gelten, daß das prozeßhaft Veränderliche {„res corruptibiles et generabiles et mobiles") Gegenstand der Naturwissenschaft sei, da ja in erster Linie Aussagen und deren Bestandteile primärer Wissensgegenstand seien 24 . Dennoch läßt Ockham in allen seinen naturphilosophischen Schriften erkennen, daß Bewegung und Materie die universellen konstitutiven Merkmale der Objekte von Naturwissenschaft sind und damit wesentlich ihren Inhalt ausmachen. Damit blieb er der aristotelischen-boethianischen Tradition treu. Indem er Materie und Bewegung jedoch nicht als universelle Hypostasen behandelt, die lediglich abbildhaft wiedergegeben werden, sondern als zu reproduzierende Inhalte funktionaler Beziehungen in der 20

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Cf. G. de Ockham, Expositio in libros Physic. Arist., prol., §§ 3—4, I.e., 6 — 14; Brevis summa, prol., I.e., 5sqq.; Summula..., praeambula, I.e., 140—152. G. de Ockham, In Sent. I, prol., q. IX, in: Opera theologica, Vol. I, St. Bonaventure 1967, 260. G. de Ockham, Expositio in libros Physic. Arist., prol., 1. c., 14, and lib. II, cap, 3, § 5, I.e., 259sqq.; Id., Summula..., praeambula, I.e., 142sq. G. de Ockham, Expositio ..., prol., 1. c., 10 sq.: „Circa primum dicendum est quodphilosophia naturalis considérât de substantiis sensibilibus et compositis ex materia et forma principaliter, et secundario de aliquibus substantiis separatis". Ibid., 11: ,Et ideo proprie loquendo scientia naturalis non est de rebus corruptibilibus et generabilibus nec de substantiis naturalibus nec de rebus mobilibus, quia tales res in nulla conclusione scita per scientiam naturalem subiciuntur vel praedicantur. ... Tarnen metaphorice et improprie loquendo dicitur scientia naturalis esse de corruptibilibus et mobilibus, quia est de Ulis terminis qui pro talibus supponunt."

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Wirklichkeit, kommen interessante Aspekte seiner nominalistischen Weltsicht und Erkenntnistheorie zur Geltung. In seinem Kommentar der „Physik" widersprach Ockham allen Auffassungen von „Bewegung" als einer „res distincta" oder „res respectiva". Für ihn gilt folgendes grundsätzlich: „Es bleibt also zu konstatieren, daß die Bewegung kein Ding ist, welches als ganzes von jedem dauerhaften Ding wohlunterschieden ist. Denn unnützerweise kommt etwas durch mehr zustande, das durch weniger zustande kommen kann. Wir können ohne jedes solche gesonderte Ding eine hinreichende Erklärung der Bewegung und alles dessen geben, was über die Bewegung ausgesagt wird. Demzufolge nimmt man solch ein Ding unnützerweise an" 25 . Offenbar bedeutet diese Ablehnung einer verdinglichenden Auffassung von Bewegung nicht zugleich auch, daß ihre Existenz in Abrede gestellt wird. Dazu führt Ockham folgendes aus: „... somit genügen zur Verifizierung des Satzes ,Bewegung ist' gewisse affirmative und gewisse negative Sätze, wobei weder durch die affirmativen noch durch die negativen irgendein besonderes Ding als gegeben angenommen oder angezeigt wird, das von den beständigen verschieden da sein soll" 26 . Er läßt demzufolge für „Bewegung" auch nur eine Nominal-, jedoch keine Realdefinition zu, d. h. daß „Bewegung" nur als Zeichen von Zeichen, nicht aber als Zeichen von Dingen ein Terminus in der Naturwissenschaft sein kann 27 . Die Gewißheit über das Dasein von Bewegung ist für Ockham darüber hinaus generell keine rein theoretische Frage, sondern ist primär nur über die Erfahrung zu erlangen 28 . In ihrer Darstellung der scholastischen Diskussion über den kategorialen und ontologischen Status von „Bewegung" kommt A. Maier zu dem Schluß, daß die Replik Walter Burleys, die von universalienrealistischer Seite kam, zwar begründet war, aber nichts Positives an die Stelle der Ockhamschen Position zu setzen vermochte 29 . Ockham hatte mit seinem Verständnis von „Bewegung" oder Prozessualität in der Natur nicht die

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G. de Ockham, Expositio..., lib. III, cap. 2, I.e., 432: „Ideo dicendum est quod motus non est talis res dìstincta secundum se totam ab omni re permanente. Quia frustra fit per plura quod potest fieri per pauciora, sed sine omni tali alia re possumus salvare motum et omnia quae dicuntur de motu, ergo talis alia res frustra ponitur." Ibid., 435: „...ad veritatem istius ,motus est' sufficiunt quaedam affirmativae et quaedam negativae et quod nec per affirmativas nec per negativas ponitur vel denotatur aliqua alia res esse a rebus permanentibus. " Ibid., 439. Ibid., lib. I, cap. 3, 45 sq.: „Unde etiam motum esse non est per se notum, quia si esset aliquis qui nunquam percepisset aliquid moveri, ipse posset dubitare an sit motus possibilis. Et ideo motum esse non est notum nisi per experientiam tantum quod tamen supponendum est in scientia naturali, sicut experientia est praesupponenda in sdenta naturali." Α. Maier, Zwischen Philosophie und Mechanik, Rom 1958, 117.

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Naturwissenschaft zerstört, wie Burley meinte 30 , sondern versucht, sie ohne eine Quidditätenmetaphysik zu betreiben. Zugleich blieb er aber der traditionellen aristotelischen Substanzenmetaphysik verpflichtet. Metaphysikkritik und Transformation von Metaphysik auf aristotelischer Basis kommen bei ihm nebeneinander vor und machen die Ambivalenz seines naturphilosophischen Ansatzes aus. Die Charakter der Naturphilosophie als „scientia realis" fußt im Ockhamschen Verständnis wesentlich auf dem Dasein von substantiellen MaterieForm-Einheiten und bewegten Körpern, wobei er den traditionellen Dualismus aus sublunarer und supralunarer Welt beibehielt. Darüber hinaus ließ er auch immaterielle intelligente Wesen als Substanzen gelten 31 . Für die Ockhamsche Konzeption von „Materie" ist ihre Fassung als eine „res positiva" charakteristisch 32 . Diese ist jedoch aktual immer mit der Form vereinigt 33 und zugleich ist sie körperlich 34 . In diesen inhaltlichen Bestimmungen von „Materie" kommt ihre Geltung als fundamentales Prinzip von Naturwirklichkeit mit eigener strukturbestimmender Potenz zum Ausdruck. Ähnlich wie im Falle von „Bewegung" verzichtete Ockham auch bei der „Materie" darauf, sie zu einer selbständigen Entität zu machen.

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Gualterus de Burley, Expositio in libros octo de physico auditu Aristotelis, Pavia 1488, fol. 5vb: „... illa positio est falsa, quae destruit motum esse, sed positio est huiusmodi; ergo etc. Maior patet, quia motum esse est supponendum a naturali tamquam principium cognitionis, et ideo negare motum esse est destruere scientiam naturalem ..." G. de Ockham, Expositio in libros Physic. Arist., lib. VI, cap. 1, § 2, in: Opera philosophica, vol. V, St. Bonaventure 1985, 454: „... omnis substantia vel est materia vel forma vel compositum vel intelligentia abstracta a materia." Ibid., lib. I, cap. 15, § 8, in: Opera philos., Vol. IV, 161: „Dicendum est quod ,materia' dupliciter accipitur, sicut tactum est super prologum, scilicet large et stricte. Stricte dicitur de re positiva habente in se formam distinctam realiter." Ibid., lib. V, cap. 2, § 2, in: Opera philos., Vol. V, 343 sq.: „Et ideo propter verba Aristotelis et Commentatoris, non est neganda ista Veritas: materia est ens actualiter existens in rerum natura, quamvis non sine forma. Sicut nec forma existit sine materia, et tarnen forma est in actu." Ibid., lib. IV, cap. 9, § 1, 106.

Ethica

L'éducation morale et les arts chez Aristote et Thomas d'Aquin GERARD VERBERE

(Brüssel)

L'Éthique à Nicomaque d'Aristote est un chef-d'œuvre de la pensée grecque: le traité préconise un idéal de vie harmonieux et équilibré, où les passions et les émotions sont soumises à la direction judicieuse de la raison. Ce type de comportement n'a pas cessé de fasciner les esprits jusqu'à nos jours: il s'est répandu d'abord dans les écoles du monde hellénique et byzantin, pour conquérir ensuite les universités médiévales et se diffuser finalement dans la culture moderne. Aristote a réalisé de la sorte une contribution décisive à l'esprit européen. Plusieurs commentateurs grecs, dont Aspasius, se sont efforcés d'expliquer le sens de cet ouvrage et de le mettre à la portée des intellectuels de leur temps 1 . Après des traductions partielles en latin, Robert Grosseteste, évêque de Lincoln, en a fait une version complète, à laquelle il a ajouté la traduction de certains commentaires grecs 2 . Thomas d'Aquin a composé un commentaire très pénétrant de cet écrit et il en a repris les idées dans ses œuvres théologiques tout en les adaptant à la vision chrétienne 3 . A l'époque moderne, le traité a été rendu en plusieurs langues et il est devenu un texte classique dans l'enseignement universitaire. Comment expliquer l'impact exceptionnel de cet ouvrage, écrit par un auteur grec (macédonien) du quatrième siècle avant notre ère? Quel est le secret de ce penseur, fils d'un médecin, précepteur

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H. P. F. Mercken, The Greek Commentators on Aristotle's Ethics, dans: Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and their Influence, ed. by Richard Sorabji. London, 1990, 407—443; 408. «The composite commentary thus comprises texts from five authors, spread over eleven centuries: Aspasius, Michael of Ephesus, Eustratius of Nicaea, and two anonymous scholiasts». H. F. P. Mercken, The Greek Commentaries on the Nicomachean Ethics in the Latin Translation of Robert Grosseteste, Bishop of Lincoln ( + 1253), vol. I: Eustratius on Book I and the Anonymous Scholia on Books II, III and IV. Critical edition with an Introductory Study (Corpus latinum commentariorum in Aristotelem graecorum, VI, 1). Leiden, 1973, vol. Ill: The Anonymous Commentator on Book VII, Aspasius on Book VIII and Michael of Ephesus on Books IX and X. Leuven, 1991. Ayant à sa disposition la version latine de l'Éthique d'Aristote, Thomas d'Aquin ne critique pas les doctrines qui y sont développées: il n'insiste pas sur la différence profonde entre une morale chrétienne et une éthique préchrétienne. En exposant les théories de son prédécesseur, il les interprète cependant dans un sens conforme à la foi chrétienne.

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Gerard Verbeke

d'Alexandre le Grand, chercheur inlassable, s'intéressant aussi bien à des questions scientifiques qu'à des problèmes philosophiques? Au cours de son exposé et en vue de faire comprendre la nature propre de la formation morale, Aristote fait souvent appel à des exemples empruntés au domaine des arts et métiers. L'auteur est persuadé que l'étude de l'éthique n'est pas à la portée des jeunes: ils sont certes capables d'apprendre les mathématiques, malgré le caractère abstrait de cette matière, mais ils ne peuvent aborder avec fruit l'examen de questions morales, parce qu'ils n'ont pas l'expérience nécessaire 4 . Thomas d'Aquin adopte le même point de vue: l'étude de l'éthique n'appartient pas au curriculum des arts libéraux, elle ne fait pas partie du trivium ni du quadrivium. En fait, elle se situe à la quatrième place du programme d'éducation, après l'étude de la nature et avant celle de la métaphysique 5 . On comprend dès lors qu'Aristote fasse appel à des exemples de la vie quotidienne pour expliquer son enseignement sur la conduite morale. Un de ces exemples est emprunté à l'art de la construction: on admire encore maintenant les somptueux édifices de la Grèce ancienne, que notre auteur pouvait contempler tous les jours durant les années passées à Athènes. Les constructeurs de ces édifices avaient dû apprendre leur métier par des exercices prolongés et sous l'œil vigilant d'un maître 6 . Un autre exemple est celui du jeu de la guitare: ayant passé dix-neuf ans dans l'Académie de Platon, notre auteur connaît l'importance attribuée par son maître à la musique dans l'éducation morale. Selon le caractère d'une œuvre musicale celle-ci peut avoir une influence bienfaisante sur la vie morale ou bien un impact néfaste. Les joueurs de la guitare ne possèdent pas leur art par nature, ils ont dû l'apprendre par la pratique 7 . Étant fils d'un médecin Aristote rappelle aussi l'exemple de la médecine: celle-ci ne présuppose pas seulement une bonne connaissance de l'organisme humain dans sa structure et son fonctionnement, mais aussi beaucoup d'expérience et de pratique. Chaque malade est

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Arist., Eth. Nie., I, 3, 1095 a 2: άπειρος y à p τ ω ν κ α τ ά τ ό ν βίον πράξεων. Il s'agit des actions qui se rapportent à la conduite de la vie et qui mènent à des conséquences heureuses ou désastreuses. G. Verbeke, Arts libéraux et morale d'après saint Thomas, dans: Arts libéraux et philosophie au moyen âge (Actes du quatrième congrès international de philosophie médiévale, 27 août—2 sept. 1967). Montréal-Paris, 1969, 6 5 4 - 5 5 . Arist., Eth. Nie., II, 1, 1103a 26 — 34. Il y a une différence frappante entre l'exercice d'actes sensitifs et l'accomplissement d'actions morales: les premiers ne doivent pas s'apprendre, on en possède la capacité par nature, alors que le comportement vertueux est le résultat d'un entraînement prolongé. On ne doit pas apprendre à voir ni à entendre, mais on ne peut poser des actes vertueux sans un apprentissage préalable. Arist., Eth. Nie., II, 1, 1103 a 34—bl2. L'habitus qu'on acquiert grâce à la répétition d'actes semblables, correspond à la valeur des actes qui l'ont préparé. Si ceux-ci sont plutôt défectueux, ils ne pourront conduire qu'à un habitus du même genre: Aristote en conclut qu'il est important d'être guidé par un bon maître.

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un cas spécial, qui demande un traitement adapté: dans la formation d'un médecin la pratique intervient pour une large part 8 . Citons encore l'exemple de la navigation: Athènes était une puissance maritime dont l'influence s'étendait au delà de la mer Egée jusqu'à la côte de l'Asie Mineure. Le pilotage des navires était un métier important dont l'apprentissage ne pouvait se faire que lentement et progressivement. En rapport avec la médecine, les affaires et la navigation et contrairement à ce qui se passe dans le domaine des autres arts, Aristote signale que la délibération y joue un rôle considérable. On se trouve souvent devant des situations imprévues pour lesquelles il importe de découvrir une solution: celle-ci exige qu'on tienne compte de tous les facteurs en cause 9 . Par contre il n'y a guère de délibération dans le domaine de la grammaire: les règles sont établies et il suffit de les appliquer. Ceci ne veut pas dire qu'il est facile de s'exprimer correctement. L'étude de la grammaire se situe dans le trivium et elle requiert un entraînement prolongé 10 . Tous ces exemples n'impliquent pas cependant qu'Aristote met sur le même pied l'apprentissage d'un art et l'initiation à la vie morale. L'auteur est pleinement conscient des différences qui caractérisent les deux domaines: il suffit de les rappeler brièvement, car elles ont fait l'objet d'un exposé antérieur se rapportant à la doctrine morale de Thomas d'Aquin 11 . Il y a d'abord la différence essentielle entre agir et faire: l'action morale n'est pas orientée à la production d'une œuvre extérieure, elle trouve sa finalité en elle-même et dans le bien-être de l'agent 12 . Ce bien-être visé n'est d'ailleurs pas partiel, comme la santé ou le savoir, c'est la perfection de la vie humaine dans son ensemble qui est en cause 13 . En outre la 8

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Arist., Eth. Nie., II, 2, 1104a 5 —10. Dans le cas de la médecine on doit prendre en considération les circonstances particulières de chaque malade (τά irpôç τόν καιρόν σκοττεΐν). Il ne suffit pas d'appliquer des règles générales à des cas concrets. Arist., Eth. Nie., III, 3, 1112b 2—8. Dans son commentaire Thomas d'Aquin signale que l'importance de la délibération augmente avec l'incertitude et la complexité des situations dans lesquelles on se trouve (Sententia libri Ethicorum, ed. R. A. Gauthier, 1969; ed. Leonina, XLII, 2 vol.; III, 1. 7, η. 468: «Et quanto praedktae artes sunt minus certae, tanto magìs in ipsìs est consiliandum»), Arist., Eth. Nie., III, 3, 1112a 34—b 2. Thomas d'Aquin explique le point de vue d'Aristote: «Et huius ratio est quia non consiliamur nisi in dubiis. Non est autem dubium qualiter debeat scribi, quia certus est modus scribendi et non est dubius, et non dependet effectus scripturae nisi ex arte et manu scribentis» (Sententia Ethic., III, 1. 7, η. 467). G. Verbeke, Arts libéraux et morale d'après saint Thomas, 654: «Ainsi donc les arts libéraux se situent à mi-chemin entre les arts mécaniques et les sciences spéculatives: comme les premiers ils visent à réaliser une œuvre et comme les secondes, ils tendent au développement du savoir». G. Verbeke, art. cit., 656: dans le vocabulaire de Thomas d'Aquin il s'agit de la distinction entre Vagibile et 1 efactibile. G. Verbeke, art. cit., 657: «L'art ne s'intéresse pas à la destinée ultime de l'homme, et ne s'interroge pas sur le sens dernier de ce morceau d'histoire que constitue chaque vie humaine».

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capacité de l'artisan ne garantit pas l'usage qu'il fera de son art: il a besoin de la vertu morale pour assurer la bonne utilisation qui en sera faite 14 . Quant au jugement moral il n'appartient pas au domaine spéculatif, mais il relève de l'ordre pratique: c'est pourquoi il n'est pas indépendant du comportement de l'homme, il subit sans cesse l'influence de la conduite morale; si les mouvements passionnels ne sont pas subordonnés à la raison, le jugement moral en sera perverti 15 . Il y a une connexion entre les vertus morales, du moins quand elles ont atteint leur plein développement: la prudence requiert la présence des vertus morales pour pouvoir s'exercer correctement et celles-ci ne peuvent se développer sans la prudence: il y a donc une interaction constante qui assure l'unité et la cohésion de la vie morale 16 . Enfin il reste à signaler que l'importance de la délibération est bien plus grande dans la conduite morale que dans l'activité des arts: comme on l'a dit ci-dessus, le grammarien applique des règles qui sont nettement fixées, alors que dans le comportement éthique le choix se fait entre des possibilités très variées et en tenant compte de facteurs multiples. L'agent peut avoir besoin de beaucoup de réflexion pour découvrir le chemin à suivre 17 . Tout en étant conscient de ces divergences Aristote fait appel à l'exemple de l'activité des arts pour illustrer sa conception de l'éducation morale: quelle est la raison qui est à l'origine du choix de ce modèle? Aristote (et Thomas d'Aquin adoptera la même attitude) veut montrer avant tout que la conduite humaine n'est pas le résultat d'une poussée aveugle et instinctive, mais la réalisation d'un choix personnel et responsable. L'auteur donne l'exemple de la pierre qui tombe et du feu qui remonte en haut: on peut jeter la pierre en haut et pousser le feu vers le bas, et on peut répéter ces actes indéfiniment, on ne parviendra pas à changer la tendance naturelle de ces objets. La pierre continuera à se diriger vers le bas et le feu vers le haut 18 : il n'en est pas ainsi du comportement humain. Les actes successifs qui traduisent un même type de conduite, introduisent dans le comportement une orientation déterminée, qui permet d'exercer ces activités avec plus de facilité et de perfection: de cette façon l'homme est capable d'acquérir des habitus qui lui appartiennent réellement, étant la conséquence d'actes antérieurs librement 14 15

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G. Verbeke, art. cit., 6 5 7 - 5 8 . G. Verbeke, art. cit., 658: «Pour saint Thomas le jugement moral droit requiert la rectitude de l'appétit, en d'autres mots, si les passions ne sont pas maîtrisées, elles troubleront le jugement moral». G. Verbeke, art. cit., 6 5 9 - 6 0 . G. Verbeke, art. cit., 659: «Mais la tâche est rendue particulièrement délicate par le fait qu'il faut juger d'une expérience complexe à la lumière de certaines intuitions très générales». Arise., Eth. Nie., II, 1, 1103a 1 8 - 2 3 .

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consentis. Ces habitus ne sont pas simplement l'œuvre de la nature comme la tendance des éléments à leur lieu naturel; ils ne sont pas non plus opposés à la nature, puisqu'ils répondent à une inclination fondamentale de l'être humain qui aspire au bien 19 ; en somme ces habitus sont une contribution personnelle de chaque individu, rendue possible suite à une orientation et une capacité originelles. La position d'Aristote est importante et équilibrée, surtout si l'on tient compte du cadre culturel dans lequel elle se situe: dans les croyances anciennes de la Grèce le fatalisme était très répandu, le sens de la responsabilité individuelle n'était guère développé. Qu'on se rappelle l'épisode de l'Iliade où Agamemnon devant l'assemblée explique qu'il n'est pas responsable de sa conduite à l'égard d'Achille: «C'est Zeus, c'est le Destin, c'est Erinys qui marche dans la brume, qui, à l'assemblée, soudain m'ont mis dans l'âme une folle erreur, le jour, où de mon chef, j'ai dépouillé Achille de sa part d'honneur. Qu'eussé-je pu? Le Ciel seul achève tout» 20 . Décidément Aristote rejette cette ancienne croyance: l'homme est l'auteur de son propre destin, il est responsable de son caractère moral, de ses habitus, il est même à l'origine de ses jugements éthiques, étant donné que ceux-ci sont dépendants de son comportement 21 . Le terme «eudémonie» est démythologisé et dépouillé de son sens étymologique: la perfection de l'homme n'est pas l'œuvre de puissances supérieures, elle est une conquête qui est à mettre sur le compte de chaque personne. Ce courant fataliste dans la culture grecque s'est maintenu pendant des siècles: quand Némésius, évêque d'Émèse, vers 400 a. D. écrit son traité De natura hominis il consacre une partie importante de son exposé à la réfutation du fatalisme et il s'inspire de l'éthique d'Aristote 22 . La position du Stagirite a 19

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Arist., Eth. Nie., II, 1, 1103 a 23—26. Thomas d'Aquin reprend la position d'Aristote: «Sic igitur patet quod virtutes morales non sunt in nobis a natura, ñeque sunt nobis contra naturam. Sed inest nobis naturalis aptitudo ad suscipiendum eas, inquantum scilicet appetitiva vis in nobis nata est obedire rationi.» La vie vertueuse n'est pas contre nature, parce que la puissance appétitive est naturellement inclinée à se soumettre à la raison (Sententia Ethic., II, 1. 1, n. 249). Homère, Iliade, tome IV. Texte établi et traduit par P. Mazon. Paris, 1945, chant XIX, 87-90. Selon Aristote chacun est à l'origine des habitus qu'il acquiert: il en résulte que chaque homme détermine en quelque mesure ce qui se présente à lui comme un bien ou un mal. Il est faux de croire que chacun se lance à la poursuite de ce qui lui paraît être un bien, sans que sa responsabilité personnelle soit engagée. Les jugements de valeur dans des situations concrètes dépendent de la conduite antérieure et sont conditionnés par des attitudes adoptées auparavant (Arist., Eth. Nie., III, 5, 1114a 31—b 16). Cf. S.Thomas, Sententia Ethic., III, 1. 13, η. 525: «Ergo si virtutes sunt voluntariae, ex eo quod nos sumus causae habituum, ex quibus disponimur ad hoc quod talem finem ponamus, sequitur quod etiam malitiae sunt voluntariae, quia similis ratio est de utrisque.» Némésius d'Émèse, De natura hominis, trad, de Burgundio de Pise, ed. G. Verbeke et J. R. Moncho. Leiden, 1978, p. L X I I - L X X X V . Cf. G. Verbeke, Fatalism and Freedom according to Nemesius and Thomas Aquinas, in: St. Thomas Aquinas 1274—1974.

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donc été adoptée très tôt par les milieux chrétiens et quand le fatalisme a été défendu au treizième siècle par les Averroïstes, il fut combattu catégoriquement par Thomas d'Aquin 23 . En recourant à l'exemple des arts Aristote a voulu s'opposer à une morale purement naturaliste. L'agir moral n'est pas comparable au mouvement des éléments vers leur lieu naturel. En un sens la vie morale est «le lieu naturel» de l'homme, mais il n'y est pas porté de façon nécessaire et inamovible: il est vrai cependant qu'il y trouve le plein épanouissement de ses possibilités. Il y a une autre raison qui entraîne Aristote à recourir au modèle des arts pour expliquer l'éducation morale, c'est son opposition à l'intellectualisme éthique. Aristote connaît la doctrine de Socrate sur ce point et il ne s'y rallie pas; néanmoins il serait faux de croire que son attitude est tout à fait négative. Quand il écrit dans son Ethique à Nicomaque que le savoir ne contribue que peu ou même pas du tout à la vie vertueuse, il faut se demander de quel savoir il s'agit 24 . La position du Stagirite vis-à-vis de Socrate est nuancée: il est bien loin de rejeter l'influence de la connaissance sur le développement de la conduite morale. Ce qu'il n'admet pas, c'est qu'il suffit de connaître le bien pour l'accomplir automatiquement et que toute faute morale se réduit en somme à un manque de connaissance, à tel point que ceux qui s'écartent de l'idéal moral, le feraient par ignorance 25 . Si l'on adopte ce point de vue il s'ensuivrait qu'il suffirait d'éclairer les hommes, pour qu'ils se conduisent correctement. Aristote ne pouvait se rallier au point de vue de Socrate, d'autant plus qu'il n'était pas d'accord non plus avec sa théorie de la connaissance: si le développement du savoir chez l'homme se réduit à un processus de réminiscence, il en résultera que toute l'évolution de la vie morale s'inscrira dans le même processus: le

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Commemorative Studies. Toronto, 1974, 283 — 313; 296: «As a whole, the teaching of Nemesíus is a truly positive contribution to the interpretation of Christianity, insofar as it stresses the freedom of human behaviour as well as the liberty of God. One of the main themes of his exposition emphasizes that God cannot be subject to necessity». Dans son commentaire Thomas d'Aquin renvoie à la «positio quorundam mathematicorum ponentium quod homo in sua nativitate disponitur ex virtute caelestium corporum, ut hoc vel illud agat» (Sententia Ethic., III, 1. 13, η. 522). Arist., Eth. Nie., II, 4, 1105: ττρόξ δε τό τάς άρετάς τό μέν είδέναι ουδέν ή μικρόν ισχύει. Thomas d'Aquin adopte le point de vue du Stagirite et insiste sur le rôle de l'entraînement pratique: «Sed scientia, parvum vel nullum habet momentum ad hoc, quod homo sit virtuosus, sed totum consistit in aliis, quae quidem advenimt homini ex frequenti operatione virtuosa, et sic immobiliter se habet» (Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 284). Arist. Eth. Nie., II, 4, 1105b 1 2 - 1 6 . Cf. S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 288: «Arguit quorumdam errorem, qui non operantur opera virtutum, sed confugiendo ad ratiocinandum de virtutibus aestimant se fieri bonos philosophando.» On ne devient pas un homme moral en se livrant à des spéculations théoriques sur la vertu: sur ce point Aristote et Thomas d'Aquin sont parfaitement d'accord.

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progrès du comportement éthique sera conditionné totalement par l'actualisation ou l'éveil des connaissances qui sont latentes dans l'esprit humain depuis la naissance. Travailler à la remémoration du trésor de connaissances présent dans l'esprit, ce serait promouvoir automatiquement l'évolution de la vie éthique. Aux yeux d'Aristote l'homme acquiert sans cesse de nouvelles connaissances grâce à l'expérience sensible. Le point crucial de cette question est de découvrir si, selon Aristote, il peut y avoir un désaccord entre la connaissance du bien et l'agir: l'homme peut-il faire le mal en connaissance de cause? Le Stagirite estime que dans certains cas cette discordance est possible. Il y a d'abord le cas de celui qui possède un savoir habituel et qui ne s'en sert pas dans un cas particulier 26 . Le savoir habituel est de façon permanente présent dans l'esprit: celui qui a appris une langue, possède cette connaissance même s'il ne l'utilise pas. Néanmoins il peut faire des fautes parce qu'il ne met pas en œuvre le savoir qui est en lui: dans ce cas il y aura un désaccord entre ce qu'il fait et la connaissance qu'il possède. Il peut arriver aussi que quelqu'un possède un savoir universel sans qu'il l'applique à un cas particulier 27 . Il est vrai qu'un jugement universel s'étend à toutes les instances qui appartiennent à cette classe: mais dans la vie morale il n'est pas toujours facile de voir si une action concrète doit se ranger dans telle ou telle catégorie. Chacun de nos actes a sa physionomie individuelle: il y a le contexte dans lequel il se situe et qui est différent d'un cas à l'autre, il y a les répercussions éventuelles dont il faut tenir compte, il y a enfin les particularités propres de l'agent qui ne peuvent être négligées. On peut savoir de façon générale que des actes de telle espèce sont mauvais sans qu'on se rende compte que l'action devant laquelle on se trouve se range dans cette classe: les décisions à prendre dans l'agir humain visent toujours des actes particuliers 28 . Il est donc possible d'accomplir un acte dont on sait de façon universelle qu'il est mauvais, mais non de façon concrète. En outre Aristote signale que dans certains cas la connaissance concernant la valeur morale d'un acte est bloquée temporairement par un obstacle; il donne comme exemples l'état d'ivresse, le sommeil ou la présence d'une 26

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Arist., Eth. Nie., VII, 3, 1146 b 31—35. Est-il possible qu'un agent accomplisse un acte mauvais tout en sachant de façon actuelle que cet acte est répréhensible? Aristote répond que pareil désaccord semble être difficile à admettre (τούτο γ α ρ δοκεϊ δεινόν). Cf. S.Thomas, Sententia Ethic., VII, 1. 3, η. 1338: «Hoc enim videtur esse durum, scilicet quod aliquis agat contra id quod actu speculatur.» La question reste ouverte quant à la responsabilité personnelle: l'agent est-il responsable de ce que son savoir habituel ne soit pas actualisé? Arist., Eth. Nie., VII, 3, 1146b 3 5 - 1 1 4 7 a 4 . Cf. S.Thomas, Sententia Ethic., VII, 1. 3, η. 1339: «Et hoc ideo, quia operationes sunt circa singularia. Unde si aliquis non considérât singulare, non est mirum si aliter agat.» Arist., Eth. Nie., VII, 3, 1147 a 3: πρακτά γ ά ρ τ ά καθ'εκαστα. D'où l'importance de la sagesse morale (φρόνησίξ) qui pèse la valeur éthique des actes concrets; celle-ci ne peut guère s'établir par la raison, elle se saisit plutôt par l'intuition du singulier (Eth. Nie., II, 9, 1109 b 23: εν τή αίσθήσει ή κρίσις).

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maladie mentale 29 . Dans ces cas l'agent sera empêché de mettre en œuvre une connaissance qu'il possède. A ce propos le Stagirite fait remarquer que l'influence de passions violentes est plus ou moins comparable aux obstacles mentionnés; des mouvements passionels peuvent, eux aussi, bloquer le fonctionnement normal de la raison et causer un aveuglement passager 30 , qu'on se rappelle la notion de άτή, considérée comme la fille aînée de Zeus: elle joue un rôle décisif dans la tragédie grecque et doit rendre compte de la conduite irrationnelle de certains héros (quem Jupiter perdere vult, dementai). En dehors de tout contexte mythologique, Aristote est persuadé de l'existence de ces obstacles psychiques. Enfin il y a des cas où l'appréciation morale de certains actes est ambiguë: on ne vise pas ici des jugements concrets qui se rapportent à des actes particuliers, mais des appréciations générales de certains comportements. Il arrive que l'agent est confronté avec deux jugements de valeur divergents: il penchera d'un côté ou de l'autre sous l'influence bien souvent de mouvements passionnels. Dans ce cas il agira à l'encontre d'un des jugements de valeur qu'il a devant l'esprit 31 . Dans tous les exemples mentionnés il y a un désaccord entre la manière de se comporter et la connaissance morale de l'agent. Faut-il en conclure qu'Aristote rejette purement et simplement l'intellectualisme de Socrate? Nullement; il est d'accord avec son prédécesseur pour dire que la passion ne peut l'emporter sur le savoir proprement dit, universel et particulier; toutefois elle peut avoir le dessus sur la connaissance sensible 32 . Les choix et les décisions se rapportent à des actes concrets: c'est ici que l'influence des mouvements passionnels se fait sentir; ils feront en sorte que l'application de normes générales à des actes particuliers ne se fasse pas ou ne se fasse pas correctement. Le souci d'Aristote est d'empêcher ce genre de

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Arist., Eth. Nie., VII, 3, 1147 a 1 0 - 1 4 . Arist., Eth. Nie., VII, 3, 1147a 1 4 - 2 4 . Cf. S.Thomas, Sententia Ethic., VII, 1. 3, n. 1343: «Unde sic existimandum est, quod incontinentes dicant huiusmodi verba quasi simulantes, quia scilicet aliud sentiunt corde, aliud proferunt ore.» On peut reproduire des formules tout à fait irréprochables sans saisir vraiment leur contenu: ce qui est inhibé par la passion, c'est le jugement personnel. Arist., Eth. Nie., VII, 3,1147 a 2 4 - b 5. Cf. S. Thomas, Sententia Ethic., VII, 1. 3, n. 1348: «concupiscentia quando est vehemens potest movere quamlibet partem animae, etiam rationem, si non sit solicita ad resistendum. Et sic accidit conclusio operationis, ut scilicet aliquis agat incontinenter contra rationem et opinionem universalem.» Arist., Eth. Nie., VII, 3, 1147 b 1 5 - 1 7 . Cf. S. Thomas, Sententia Ethic., VII, 1. 3, n. 1352: «Patet enim ex praedictis, quod passio non sit in praesentia principalis scientiae quae est circa universale, quum passio sit solum in particulari. Neque universalis scientia trahitur a passione, sed solum existimatio sensibilis quae non est tantae dignitatis.» Selon cette interprétation, c'est l'appréciation particulière d'un acte concret, qui est troublée par la passion. Cf. L'Éthique à Nicomaque. Introduction, traduction et commentaire par R. A. Gauthier et J. Y. Jolif. Louvain—Paris, 1959, t. II, 617: au lieu de lire dans le texte grec δοκούσηξ παρούσης γίνεται, on adopte la correction de Stewart: δοκούσηξ ττεριγίνεται το πάθοζ.

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déviations: c'est pourquoi il a conçu un autre modèle d'éducation morale, calqué sur la pratique des arts. Comme on l'a signalé ci-dessus, le Stagirite est persuadé que les jeunes ne sont pas capables de suivre avec fruit l'enseignement de la morale, alors qu'ils sont parfaitement aptes à l'étude des mathématiques 33 . La raison n'est pas que cette dernière discipline est plus facile: la matière des mathématiques est abstraite et n'est pas toujours facile à comprendre. Toutefois par opposition à l'étude de la morale, cette discipline ne requiert pas une solide expérience de la vie et du comportement des hommes 34 . C'est précisément ce facteur qui fait défaut che2 les jeunes: ceux-ci sont incapables de l'avoir à cause de leur âge et aussi à cause de la complexité du sujet. La conduite humaine se déroule dans un contexte variable et compliqué: les circonstances changent d'un cas à l'autre et les facteurs qui entrent en ligne de compte pour apprécier la valeur morale d'un acte ne sont généralement pas évidents. Il y a l'attitude de l'agent, son intention, sa délibération plus ou moins approfondie, sa décision avec les motifs qui l'entourent, mais il y aussi le contexte objectif dans lequel se situe un acte, les circonstances particulières, les influences sur l'entourage, les conséquences plus ou moins prévisibles d'une conduite déterminée. Comment les jeunes seraient-ils en état de démêler la complexité de l'agir humain qui se déroule sans cesse dans un contexte différent? Tous les actes ont leur physionomie propre, inaliénable et non-interchangeable 35 . Or c'est à ces actes concrets que l'enseignement de la morale se rapporte: il communique sans doute des règles générales pour orienter la conduite, mais il s'efforce surtout à rendre les hommes capables de porter des jugements corrects sur des actes particuliers. C'est ici que surgit la difficulté: un jugement moral sur un acte concret implique nécessairement l'expérience de la conduite humaine 36 . Aristote déclare que cet enseignement ne traite pas seulement de l'agir concret, mais qu'il procède de lui (εκ τούτων) 3 7 . 33 34

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Arist., Eth. Nie., VI, 8, 1142 a 1 1 - 1 3 . Arist., Eth. Nie., VI, 8, 1142a 1 6 - 1 8 . Cf. S.Thomas, Sententia Ethic., VI, 1. 7, n. 1209: «Ad hoc respondet Philosophus, quia haec quidem, scilicet mathematicalia, cognoscmtur per abstractionem a sensibilibus quorum est experietitia; et ideo ad cognoscendum talia non requiritur temporis multitudo.» Arist., Eth. Nie., VII, 8, 1142 a 23: la sagesse morale se distinque nettement du savoir théorique: τ ο υ γ ά ρ εσχάτου εστίν, ώ σ π ε ρ είρηταΐ" τό y à p πρακτόν τοιούτον. Thomas d'Aquin, partant des considérations développées dans ce contexte, propose l'ordre suivant des disciplines dans le programme d'éducation des jeunes: d'abord la logique, ensuite les mathématiques, en troisième lieu la philosophie de la nature; après cela l'étude de la morale (quarto in moralibus quae requirunt experientiam et animum a passionibus liberum, ut in primo habitum est); en dernier lieu la métaphysique qui est la science du divin (Sententia Ethic., VI, 1. 7, n. 1211). Arist., Eth. Nie., I, 3, 1095a 3 - 4 . Cf. S.Thomas, Sententia Ethic., I, 1. 3, n. 38: «Juvenis autem est inexpertus operationum humanas vitae propter temporis brevitatem et tamen rationes moralis scientiae procedunt ex his quae pertinent ad actus humanae vitae, et etiam sunt de his.»

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Pour apprécier correctement l'importance des multiples facteurs qui entrent en ligne de compte il n'y a pas d'autre moyen que l'expérience personnelle. C'est grâce à elle que l'agent parvient à formuler un jugement droit sur les actes particuliers devant lesquels il se trouve: les jeunes n'ont pas cette expérience indispensable. En outre l'enseignement de la morale ne vise pas tellement à l'accroissement de la connaissance, mais à l'amélioration de la conduite. Il s'agit de rendre les hommes meilleurs, et non de les rendre plus instruits 38 . Dans le cas des jeunes auditeurs, il y a un obstacle très difficile à franchir avant qu'ils arrivent à mettre en pratique l'enseignement reçu: selon Aristote la pratique de la vie morale requiert toujours que les passions soient maîtrisées et guidées par la raison. De soi les mouvements passionnels sont irrationnels, mal coordonnés, causes de troubles et d'excès de tout genre. Étant sous l'empire des passions, les jeunes sont incapables de se comporter selon les exigences de la vie morale, ils ne peuvent tirer aucun fruit de l'enseignement qu'ils reçoivent, étant donné que la fin poursuivie est l'agir 39 . Aristote est persuadé que la soumission des passions aux directives de la raison, ne peut être réalisée par un enseignement théorique, qui fasse connaître les valeurs morales. Devant cet échec l'auteur a opté pour un autre modèle d'entraînement, celui qu'il avait constaté dans le domaine des arts et qui consiste à acquérir progressivement des habitus grâce à la répétition fréquente des mêmes actes. En posant souvent des actes similaires, l'agent parvient à les accomplir avec plus d'aisance et de manière de plus en plus parfaite: ceci s'applique aussi à celui qui s'exerce aux actes de vertu; son comportement se perfectionne graduellement et se réalise avec une facilité croissante 40 . C'est le modèle d'apprentissage moral qu' Aristote envisage pour les jeunes: en pratiquant des actes vertueux, ils parviendront à acquérir des habitus moraux et ils seront capables de maîtriser les mouvements irrationnels de l'âme.

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Arist. Eth. Nie., I, 3, 1095 a 5: τό τέλος εστίν ού γνώσιζ αλλά ττράξις. Le commentaire de Thomas d'Aquino est un peu plus nuancé: «Finis buius scientiae non est sola cognitio, ad quam forte pervenire possent passionum sectatores» (Sententia Ethic., I, 1. 3, n. 40). Arist., Eth. Nie., I, 3, 1095a 4 - 5 . Cf. S.Thomas, Sententia Ethic., I, 1. 3, n. 40: «Quia sicut juvenis aetate deficit a fine buius scientiae, qui est cognitio: ita ille qui juvenis est mortbus, deficit a fine, qui est actio: non enim est defectus eius propter tempus, sed propter hoc quod vivit secundum passiones, et sequitur singula, ad quae passiones inclinant.» Vivre selon l'impulsion des passions est considéré comme un manque de maturité: ce manque ne se rattache pas à un âge déterminé. Arist., Eth. Nie., II, 1, 1103 a 31: τάξ δ'άρετάς λαμβάνομευ ενεργήσαντες πρότερον, ώσπερ καί έιτί τ ω ν άλλων τ ε χ ν ώ ν ά yàp δει μαθόνταζ ττοιεΐν, τ α ΰ τ α ττοιοΟντες μανθάνομεν. Il y a évidemment un paradoxe dans cette théorie: pour exercer un métier on doit l'avoir appris et pour l'apprendre on doit l'exercer. Dans le domaine da la morale, comment peut-on accomplir des actes de vertu sans posséder cet habitus? Il y a, bien sûr, l'assistance d'un maître, mais celui-ci ne peut se mettre à la place de l'élève.

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Dans ce contexte Aristote fait remarquer que la jeunesse qu'il a en vue, n'est pas tellement une question d'âge, mais avant tout de maturité: les jeunes sont ceux qui se laissent entraîner par les passions et se lancent à la poursuite de tous les objets de leur convoitise. Ils se conduisent à la façon des incontinents41: au lieu de suivre les directives de la raison, ils se laissent emporter par des impulsions irrationnelles; comme chez les incontinents il y a une rupture entre le savoir moral et la manière de se conduire. Par contre, pour ceux qui ont la maturité requise, qui ne se laissent pas dominer par les passions, l'enseignement de la morale est très utile 42 . Devant ce tableau plutôt sombre l'auteur envisage malgré tout une issue: elle consiste à introduire dans l'éducation morale une phase où la formation est imposée par contrainte. Le but n'est évidemment pas de perpétuer cette condition, mais de la maintenir aussi longtemps qu'elle est nécessaire pour constituer des habitus vertueux, des attitudes telles que l'homme soit capable de se conformer aux directives de la raison 43 . Aristote est persuadé que de soi la passion est irrationnelle, elle n'obéit pas aux injonctions de la raison 44 : pour assurer la formation morale, on doit donc commencer par l'éducation du caractère (τό ήθος), on doit faire en sorte que l'homme soit prêt à s'attacher au bien et à s'écarter du mal. Ce résultat s'obtient le mieux sous l'action des lois de la cité: celles-ci sont l'incorporation de certaines valeurs morales fondamentales sur lesquelles il y a un accord parmi les membres de la société; grâce au langage pareil accord peut se réaliser45. Dans la cité les lois ont une autorité contraignante: elles obligent les subordonnés à se conduire d'une certaine manière et introduisent ainsi dans le comportement habituel les valeurs qu'elles incarnent46. Dès leur 41 42

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Arist., Eth. Nie., I, 3, 1095a 6 - 9 . Arist., Eth. Nie., I, 3, 1095a 10 — 11. ττολυωφελεξ âv είη τό περί τούτων εΐδέναι. Cette déclaration n'est-elle pas en contradiction avec ce qu'Aristote dit sur le peu d'importance du savoir dans l'agir moral? Nous ne le croyons pas: le simple savoir n'est pas capable de rendre quelqu'un vertueux, il ne peut remplacer l'entraînement pratique. Toutefois le savoir moral est très utile chez celui dont les passions sont soumises à la raison. Arist., Eth. Nie., II, 1, 1103 b 2—6. Aristote renvoie à ce qui se passe dans les cités: l'ambition des législateurs est de promouvoir l'éducation morale des citoyens par le moyen du comportement (εθίζοντες); en façonnant d'abord les mœurs des citoyens, ils ont l'intention de les former à une vie morale de plus en plus parfaite. Arist., Eth. Nie., X , 9, 1179 b 28—29: la passion n'obéit pas à la raison, elle ne se soumet qu'à la contrainte (άλλα βίοι). Le but de l'éducation morale est évidemment de transformer cette situation. Arist., Polit., I, 2, 1253a 7 — 18. Parmi les animaux l'homme seul possède le sens du bien et du mal, du juste et de l'injuste et des autres valeurs morales: ή δέ τούτων κοινωνία ποιεί οίκίαν καί ττόλιν. La cité se base sur une conception commune des valeurs morales fondamentales. Arist., Eth. Nie., X , 9,1180a 20. Aristote ne manque pas de justifier la force contraignante de la loi: celle-ci n'est en aucune façon une prescription imposée arbitrairement par l'autorité, elle est une règle rationnelle qui procède de la sagesse morale et de l'intellect (άπό τίνος φρονήσεωζ και voû). Elle est à ses yeux l'expression du sens moral de la

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jeune âge les citoyens sont ainsi entraînés à la pratique de la vertu avant de comprendre le pourquoi de la conduite qui leur est imposée. Celle-ci leur deviendra graduellement plus facile à réaliser, au fur et à mesure qu'une disposition habituelle se formera 47 . Une fois que des habitus vertueux ont été acquis, l'homme pourra suivre l'enseignement de la morale avec fruit et il n'aura plus de peine à se conformer aux instructions de la raison. Par ailleurs, plus l'homme fait des progrès dans la pratique de la vertu, moins il a besoin d'un enseignement sur la matière. La sagesse morale est un savoir pratique, d'abord parce qu'il se rapporte à l'action et fournit des directives concernant la conduite; ensuite parce qu'il dépend du comportement et ne peut se développer que chez quelqu'un qui se conduit conformément à ses convictions éthiques 48 . Le jugement moral dans les circonstances concrètes de la vie est facilement détourné et falsifié par une conduite discordante, alors qu'il sera promu par un comportement conforme à l'idéal moral. Dans la saisie des valeurs éthiques l'expérience personnelle joue un rôle de premier plan 49 . Dans la mesure où on se conduit moralement on devient capable de juger de l'attitude à adopter et des décisions à prendre dans les circonstances variées de l'existence. Aristote (suivi par Thomas d'Aquin) a donc conçu un modèle d'éducation morale où l'accent est mis sur l'exercice et la pratique plutôt que sur la formation intellectuelle, à tel point que celle-ci est considérée comme relevant du comportement. Ici se présente cependant une difficulté sérieuse: comment peut-on jamais acquérir des vertus en accomplissant des actes

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société. L'auteur se plaint de ce que la plupart des états n'ont pas d'intérêt pour ce rôle éducatif de la législation. Cf. G. Verbeke, Moral Education in Aristotle. Washington D. C , 1990, 7 5 - 7 7 . Pour la plupart des hommes il n'est pas agréable de vivre avec modération et courage: c'est surtout le cas des jeunes. Pourtant une fois qu'ils ont été habitués à ce comportement, ils s'y conforment sans peine (Arist., Eth. Nie., X, 9, 1179 b 35: «ούκ Ισται yàp λυπηρά συνήθη γενόμενα»), Arist., Eth. Nie., III, 5, 1114b 22 - 24. Arist., Eth. Nie., VI, 11, 1143b 12: «δια yàp τό εχειν εκ τ η ; εμπειρίας όμμα όρώσιν όρθώξ». Dans la version latine de R. Grosseteste on lit: «Propter habere enim ex experiencia visum, vident principia» (όρθώξ est attesté par les manuscrits Lb Ob). Thomas d'Aquin s'est trouvé devant une version dans laquelle il y avait «visuum» au lieu de «visum»·, voici comment il s'efforce de donner un sens à ce texte: «Huiusmodi enim homines, propter hoc quod habent experientiam visuum, idest rectum judicium de operabilibus, vident principia operabilium. Principia autem sunt certiora conclusionibus demonstrationum» (Sententia Ethic., VI, 1. 9, n. 1254). Ensuite l'auteur continue: «Est autem considerandum circa ea quae hie dicta sunt, quod sicut pertinet ad intellectum in universalibus judicium absolutum de primis principiis, ad rationem autem pertinet discursus a principiis in conclusiones, ita et circa singularia vis cogitativa vocatur intellectus secundum quod habet absolutum judicium de singularibus. Unde ad intellectum dicitur pertinere prudentiam et sjnesim et gnomen.»

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vertueux alors que pour exécuter ces actes les vertus sont requises? 50 Il suffit pour s'en rendre compte, de réfléchir aux conditions à remplir pour l'accomplissement d'un acte vraiment vertueux. La première est que l'agent sache ce qu'il fait: dans son commentaire Thomas d'Aquin explique que l'acte ne peut être le résultat de l'ignorance ni du hasard 51 . Les deux facteurs mentionnés ne sont pas simples: celui qui agit par ignorance n'est pas vraiment conscient de ce qu'il fait et néanmoins il est possible qu'il soit responsable de son ignorance: dans ce dernier cas il porte la responsabilité de ses actes. Il y a donc une ignorance coupable qui est à mettre sur le compte de l'agent, car elle ne supprime pas sa responsabilité 52 . Quant au hasard il est considéré par Aristote comme la cause accidentelle de certains événements exceptionnels qui n'ont pas été voulus consciemment par l'agent: ces événements sont imprévisibles et ne sont donc pas connus ni voulus par l'auteur d'une action. Dans l'éthique moderne, surtout en éthique médicale, on se demandera si une intervention envisagée ne comporte pas trop de risques: s'il en est ainsi, on jugera que l'intervention n'est pas justifiée. Dans ce contexte il faut se demander ce que l'agent doit savoir pour agir moralement: Thomas d'Aquin répond de façon générale qu'il doit savoir ce qu'il fait (sciât quid faciat). Il s'agit manifestement de la valeur morale de l'acte concret devant lequel il se trouve. Que pareille connaissance est difficile, Aristote le souligne fréquemment: le jugement prudentiel doit tenir compte des circonstances particulières dans lesquelles l'action s'incrit 53 . Les règles générales contribuent sans aucun doute à dévoiler la nature morale d'une action, mais elles ne peuvent tenir compte des facteurs de tout genre qui interviennent dans la conduite humaine. C'est d'autant plus vrai que les jugements sur les actes concrets sont influencés par le comportement éthique: la sagesse morale implique la présence des autres vertus; celui qui ne se conduit pas comme il faut, ne pourra juger correctement les actes concrets de la vie, il sera dévié dans ses jugements par la poussée aveuglante des passions 54 . 50

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S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 285: «Sic igitur homines primo operantur justa et temperata, non eodem modo quo justi et temperati utuntur et ex talibus operationibus causatur habitus.» S.Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 283: «ut scilicet qui facit opus virtutis, non operatur ex ignorantia vel a casu, sed sciât quid faciat.» Arist., Eth. Nie., III, 5, 1113b 3 0 - 3 3 . Dans son commentaire sur l'Éthique Thomas d'Aquin souligne le caractère complexe du jugement moral concret: «Et cum sermo moralium etiam in universalibus sit incertus et variabilis, adhuc magis incertus est si quis velit ulterius descendere tradendo doctrinam de singulis in speciali. Hoc enim non cadit sub arte ñeque sub aliqua narratione» (Sententia Ethic., II, 1. 2, n. 259). Le terme «narratio» correspond au grec: π α ρ α γ γ ε λ ί α : il s'agit d'une règle ou d'une prescription (Arist., Eth. Nie., II, 2, 1104a 7). S. Thomas, Sententia Ethic., VI, 1. 11, n. 1285: «Sic igitur manifestum est ex dictis, quod non est possibile aliquem hominem esse bonum principaliter, idest secundum virtutem moralem sine prudentia, neque etiam prudentem sine morali virtute«·, n. 1288: «Et ideo propter prudentiae

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Un autre aspect de l'acte moral est qu'il doit faire l'objet d'un choix: il faut que l'agent se décide consciemment et librement à l'accomplissement de cet acte. Thomas d'Aquin fait remarquer que cette condition n'est pas remplie dans le cas où quelqu'un accomplit un acte vertueux par crainte, car dans cette situation c'est une poussée émotionnelle qui est à l'origine de l'action 55 . Le choix en question est préparé par un temps de réflexion au cours duquel l'agent prend en considération les différents facteurs qui constituent la trame concrète d'un acte. Au lieu de se lancer spontanément dans un sens déterminé on pèse le pour et le contre de différentes alternatives avant de se décider: l'action concrète est en effet un événement unique qui comporte des aspects variés 56 . Quand la décision à prendre est importante, l'homme hésitera avant de s'engager; on ne doit pas avoir le caractère de Hamlet pour prendre un temps de recul avant de se décider. La doctrine d'Aristote sur la délibération est une réaction contre le fatalisme de l'ancienne culture grecque: aux yeux de notre philosophe chaque homme est maître de son destin, il est appelé à réaliser sa perfection par son activité personnelle. Cette doctrine constitue une étape décisive dans le développement de la conscience individuelle tel qu'il s'est réalisé dans l'histoire de l'esprit européen. L'acte moral est un événement vraiment personnel, car il est le résultat d'une délibération qui se situe dans le présent, mais qui tient compte aussi du passé et de l'avenir. Si l'horizon de l'homme se limitait à l'instant présent, il ne serait pas capable de délibérer: en fait, sa perspective temporelle embrasse la vie dans toute son étendue 57 . Pourque le choix réponde vraiment aux conditions de la vie morale, il faut qu'il ait pour objet le bien poursuivi pour lui-même et non pour autre chose, car dans ce cas le bien serait subordonné à une autre fin58. Si l'on

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unitatem omnes virtutes morales sunt sibi connexae.» Cf. O. Lottili, Psychologie et Morale aux XII e et XIII e siècles, t. III, Problèmes de Morale, II, 1, Louvain-Gembloux, 1949, 233 - 252. S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 283: «ut non operetur ex passione, puta cum facìt ex timore aliquod opus virtutis.» S. Thomas, Sententia Ethic., VI, 1. 2, n. 1129: «Quia igitur ad electionem concurrit et ratio et appetitus; si electio debet esse bona, quod requiritur ad rationem virtutis moralis, oportet quod et ratio sit vera, et appetitus sit rectus, ita scilicet quod eadem quae ratio dicit idest affirmat, appetitus prosequatur.» S.Thomas, Sententia Ethic., VI, 1. 4, n. 1162: l'homme prudent considère la vie humaine dans sa totalité: « circa ea quae sunt bona et utilia ad hoc quod tota humana vita sit bona»·, n. 1163: «consequens est, quod ille sit totaliter et simpliciter etiam prudens, qui est bene consiliativus de his quae pertinent ad totam vitam.» Cf. Arist., Eth. Nie., VI, 5, 1140 b 4—6. La perspective temporelle de l'homme s'étend à la vie tout entière: il est capable de juger de la valeur de ses actes dans cette optique englobante. Thomas d'Aquin n'a pas manqué de souligner l'importance de cette dimension temporelle pour la vie morale: le bien de l'homme assure la perfection de la vie dans toute son étendue. Arist., Eth. Nie., II, 4, 1105 a 31: «¡πειτ'έάν ττροαιρούμευοξ, και ττροαιρούμενοζ δι'αύτά.» Cf. S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, η. 283: «ita quod electio operis virtuosi, non sit propter aliquid aliud... sed sit propter ipsum opus virtutis, quod secundum se placet ei qui habet habitum virtutis, tamquam ei conveniens.»

L'éducation morale et les arts

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choisit le bien en vue d'avantages individuels, l'acte ne sera pas vraiment moral: Aristote y insiste que l'homme vertueux pratique le bien parce que c'est le bien, il ne le subordonne pas à autre chose. Ceci concerne directement l'intention de l'agent: celle-ci doit être droite, orientée vers le bien en tant que tel. Si la vertu est considérée comme un habitus qui s'acquiert progressivement, cette condition est capitale: ainsi la volonté de l'agent deviendra de plus en plus droite grâce à des actes par lesquels on poursuit le bien pour lui-même sans le soumettre à d'autres fins59. Enfin la troisième condition d'un acte moral est qu'il procède d'une disposition ferme et constante 60 . On comprend sans difficulté le sens de cette condition: si l'acte vertueux est plutôt exceptionnel dans le comportement général d'un individu, il risque d'être le fruit d'un élan passager et instable, ce qui n'est pas compatible avec l'attachement au bien pour luimême. Un acte occasionnel ne peut pas traduire une orientation ferme et constante. D'où la question de savoir comment on peut acquérir cette attitude habituelle et durable; la réponse d'Aristote ne fait pas de doute: l'homme ne possède pas cette attitude par nature, elle n'est pas innée, bien qu'il soit naturellement orienté vers le bien; il faut donc l'acquérir et on ne peut le faire que par la répétition fréquente d'actes semblables. En posant souvent des actes de vertu, l'homme devient vertueux 61 . C'est donc par l'accomplissement d'actes vertueux que l'agent acquiert des habitus stables. Ne peut-on pas en dire autant des actes non-vertueux? Assurément, celui qui accomplit souvent des actes injustes ou intempérants, se donnera un pli qui correspond à sa conduite. La conséquence sera qu'il lui sera

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Arist., Eth. Nie., VI, 2, 1139 b 2: ή γαρ εϋττραξία τελοζ. Cf. S. Thomas, Sententia Ethic., VI, 1. 2, n. 1136: «Facit enim omnis faciens propter aliquid, quod est alicuius, idest quod habet aliquem usum, sicut usus domus est habitatio; et talis quidem est finis patientis, scilicet factum et non actum. Ideo autem non actum, quia in agibílibus ipsa bona actio es "mis, puta bene concupiscere vel bene irasci.» — Dans un autre passage et sous l'influence d la version latine utilisée, l'auteur exprime la même idée, mais sous une forme moins r jcale: «Sed finis actionis non semper est aliquid alterum ab actione: quia quandoque eupraxia, i st bona operatio est finis ipsi, idest sibimet, vel etiam agenti: quod tarnen non est semper. Nihil enim prohibet actionem ordinari ad aliam sicut adfinem: sicut consideratio effectuum ordinatur ad ·isiderationem causae» (Sententia Ethic., VI, 1. 4, n. 1167). Grâce à son interprétation un ,-ju forcée, Thomas d'Aquin est parvenu à sauver l'essentiel de la doctrine d'Aristote: Γ .ction morale n'est pas orientée à une réalisation extérieure, elle est accomplie pour elle-même, même si elle est subordonnée à une action supérieure. Ainsi la différence fondamentale entre un factibile et un agibile est sauvegardée. S.Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 283: «ut scilicet aliquisfirme idest constanter quantum ad seipsum, immobiliter idest a nullo exteriori ad hoc removeatur, quin habeat electionem virtuosam, et operetur secundum eam.» S.Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 1, n. 249: «Sic igitur patet quod virtutes morales non sunt in nobis a natura, ñeque sunt nobis contra naturam. Sed inest nobis naturalis aptitudo ad suscipiendum eas, inquantum scilicet appetitiva vis in nobis nata est obedire rationi. Perficiuntur autem in nobis per assuetudìnem, inquantum scilicet ex eo quod multoties agimus secundum rationem, imprimitur forma vi rationis in appetitiva. Quae quidem impressio nihil est aliud quam virtus moralis.»

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bien difficile de changer d'attitude. En marge de son exposé Aristote fait remarquer que les trois conditions mentionnées ne sont pas requises dans le domaine des arts: selon lui, la première suffit 62 . Ici surgit le nœud du problème: si toutes ces conditions sont requises pour accomplir un acte moral, comment peut-on jamais acquérir la vertu par la répétition d'actes vertueux? Celui qui a l'intention de réaliser un habitus moral doit le faire par des actes qui ne remplissent pas vraiment les conditions que nous venons d'exposer. Thomas d'Aquin s'est rendu compte de la difficulté: au début de leur entraînement éthique les hommes accomplissent des actes de justice et de tempérance, mais ils ne le font pas de la même façon que ceux qui ont acquis déjà la vertu de justice ou de tempérance. Or ce sont ces actes imparfaits qui sont à l'origine des habitus que l'agent se donne 63 . N'en résulte-t-il pas que le processus de l'éducation morale est impossible? Celui qui ne remplit pas les conditions de l'acte moral, est condamné à produire des habitus du même niveau 64 . Quelqu'un qui est au stade initial de l'entraînement moral n'est pas encore capable de formuler un jugement correct sur la valeur éthique d'un acte concret; il n'est donc pas capable d'agir en connaissance de cause. Est-il en état de procéder à une délibération objective qui prend en considération les différents composants d'un acte et de faire un choix orienté au bien en tant que tel et pour lui-même? Il n'est pas facile d'exclure de la conduite humaine des motifs égoïstes et émotionnels: poursuivre le bien pour luimême en écartant l'influence d'autres facteurs suppose déjà un niveau de vie morale qui n'existe pas chez ceux qui ne sont pas formés 65 . Quant à la stabilité de l'agir moral, il ne peut évidemment pas se rencontrer chez ceux qui se trouvent encore au début de leur formation. Dans le domaine des arts l'éducation est bien plus facile: ce qui compte c'est la prestation et celle-ci s'améliorera progressivement sous la conduite d'un bon maître 66 . Quant à l'entraînement pour la vie morale les conditions mentionnées se 62

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S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 284: «ad artes autem non requiritur nisi primum horum, quod est scire.» Arist., Eth. Nie., II, 4, 1105b 1 — 2. S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 280: «Non ergo videtur verum esse quod dictum est, quod homines faciendo justa fiunt justi, et faciendo temperata fiunt temperati.» Aristote lui-même s'est déjà rendu compte de la difficulté: «si γ α ρ π ρ ά τ τ ο υ σ ι τ α δίκαια και σώφρονα, ήδη εΐσί δίκαιοι και σώφρονες» (Eth. Nie., II, 4, 1105 a 19 — 20). S.Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 1, n. 253: «Et universaliter, ut uno sermone dicatur, ex similibus operationibus fiunt similes habitus.» On pourrait dire que «nos actes nous suivent» (P. Bourget) dans ce sens qu'ils ne se perdent pas dans le vide, mais qu'ils se fixent en nous et conditionnent notre comportement postérieur. Cf. G. Verbeke, Moral Behaviour and Time in Aristotle's Nicomachean Ethics, in: Kephalaion. Studies in Greek Philosophy and its Continuation. Assen, 1975, 78 — 90. S. Thomas, Sententia Ethic., III, 1. 7, n. 469: «In quo tamen minus est necesse consiliari quam in scientiis practicis, circa quae magis dubitamus propter magnam varietatem quae in istis artibus accidit.» S.Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 1, n. 252.

L'éducation morale et les arts

465

rapportent à l'attitude intérieure de l'agent et ne sont certes pas faciles à réaliser. Thomas d'Aquin exprime le problème envisagé dans les catégories de puissance et d'acte: aucun être n'est capable de se faire passer par lui-même de puissance à acte 67 . Pareille transition requiert toujours l'intervention d'un facteur externe. Au niveau de l'éducation morale la question se pose si l'on peut acquérir un habitus vertueux en accomplissant fréquemment des actes qui, du point de vue moral, sont encore imparfaits: ne faut-il pas conclure que l'habitus correspondra forcément aux actes qui lui ont donné naissance? Est-il possible qu'il soit plus parfait que les actes qui l'ont engendré? 68 Thomas d'Aquin croit pouvoir résoudre cette difficulté en signalant que les premiers principes de la connaissance spéculative comme ceux du savoir pratique nous sont connus naturellement (sunt naturaliter nobis indita): la vie morale n'est pas une œuvre purement et simplement réalisée par l'agent. Le fondement de la vie morale appartient à l'équipement naturel de chaque personne humaine 69 . L'homme est par nature un être moral: cela ne veut pas dire que dès sa naissance il est en possession des vertus morales qui assurent un comportement parfaitement éthique dans les circonstances concrètes de la vie. La vie morale est à réaliser par chaque individu, elle est le résultat de choix constants et d'initiatives réitérées: toutefois le fondement de cette activité se trouve dans des dispositions naturelles tant au point de vue du savoir que de celui des tendances. Tout homme est spontanément orienté vers le bien et cette valeur fondamentale lui est connue naturellement: il ne s'agit pas d'un simple innéisme, mais d'un savoir qui est en nous et qui s'actualise au contact avec la réalité concrète et dans les actes particuliers de l'existence 70 . Au début de sa Politique S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 286: «Si quis autem quaerat quomodo est possibile, cum nihil reducat se de potentia ad actum?» 68 S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, n. 280: «Ergo ita se habet in virtutibus, quod quicumque facit opera justa est jam justus, et quicumque facit opera temperata est jam temperatus. Non ergo videtur verum esse quod dictum est, quod homines faciendo justa fiunt justi, et faciendo temperata fiunt temperati.» Cf. Arist., Eth. Nie., II, 4, 1105 a 17—21. 69 S. Thomas, Sententia Ethic., II, 1. 4, η. 286: «Prima autem rationis principia sunt naturaliter nobis indita, ita in operativis sicut in speculativis. Et ideo sicut per principia praecognita facit aliquis inveniendo se scientem in actu: ita agendo secundum principia rationis practicae, facit aliquis se virtuosum in actu.» Il y a en outre une orientation naturelle à la vie morale dans la volonté; quant à la vie appétitive il y a chez certains hommes une disposition naturelle à la modération (Sententia Ethic., VI, 1. 11, n. 1277; cf. II, 1. 1, n. 249: «Sed inest nobis naturalis aptitudo ad suscipiendum eas (scil. virtutes), inquantum scilicet appetitiva vis in nobis nata est obedire rationi).» 70 Dans ce contexte Thomas d'Aquin souligne le rôle de ce qu'il appelle la «ratio particularis»: «Unde et inter partes animae sensitivas ponitur una potentia quae dicitur ratio particularis, sive vis cogitativa quae est collectiva intentionum particularium» (Sententia Ethic., VI, 1. 1, η. 1123). 67

466

Gerard Verbeke

Aristote déclare que l'homme est par nature (φύσει) un être politique et moral: il a le sens des valeurs éthiques; en outre il est doué de la capacité de parler, ce qui lui permet non seulement de désigner un objet, mais de l'expliquer et de le clarifier. Il s'ensuit que les hommes peuvent se mettre d'accord sur les notions fondamentales de la conduite morale 71 . Que résulte-t-il de tout cela pour l'évolution de l'éducation éthique? A la lumière des principes premiers de la raison pratique et des tendances fondamentales de la nature humaine, l'agent est en état de se rendre compte des aspects positifs, mais aussi des lacunes et des déficiences de ses actions morales. Au début de son entraînement éthique il pourra donc en être conscient que tel ou tel aspect de son agir doit être corrigé et perfectionné. Voulant réaliser le bien aussi parfaitement que possible grâce à son orientation naturelle il ne manquera pas de s'interroger sur les progrès à réaliser. C'est grâce à cette conscience de base que l'agent corrigera progressivement son action et la rendra plus parfaite 72 . C'est d'autant plus vrai que dans la vie morale il y a une interaction constante entre l'agir et le savoir: plus l'homme fait des progrès dans la conduite morale et mieux il jugera de la valeur morale d'actions particulières, et inversement au fur et à mesure qu'il progressera dans ses jugements prudentiels, il fera également des progrès dans l'agir vertueux. Il y a donc un parallélisme entre la prudence et les vertus morales: si les passions sont subordonnées à la raison, la correction du jugement moral sera garantie 73 . L'éducation morale est donc une réalisation personnelle, mais sur la base de certaines dispositions naturelles qui font de l'homme un être moral. Aristote et Thomas d'Aquin ont choisi le même modèle d'éducation morale, calqué sur l'entraînement des arts. Ce choix fut d'une importance capitale: il a déterminé dans une large mesure l'esprit européen dans lequel la conscience individuelle et la responsabilité personnelle occupent une place de premier rang. L'homme est considéré comme l'auteur de son destin. Il est par nature un animal moral, mais en même temps il se donne

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Cf. W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin. Mainz, 1964, 36: «Diese Grundverfassung eines «habitus principiorum rationis practicae» — sie entspricht genau dem Habitus principiorum der spekulativen Vernunft — führt den Namen Synderesis... Man kann also sagen, daß die Vernunft in der Synderesis die Ziele der moralischen Tugenden immer gegenwärtig hat, und zwar im Sinne einer allgemeinen Richtweisung, nicht jedoch im Sinne konkreten Wissens um das hier und jetzt zu Tuende». Arist., Polit., I, 2, 1253a 7 - 1 8 . S. Thomas, Sententia Ethic., VI, 1. 10, n. 1273: «sed quod hoc sit optimum non apparsi nisi bono, idest virtuoso, qui habet rectam existimationem de fine, cum virtus moralis faciat rectam intentionem finis. » S. Thomas, In Eth. Nie., VI, 1. 11, η. 1288: «Et ideo propter prudentiae unitatem omnes virtutes morales sunt sibi connexae.» Cf. W. Kluxen, Philosophische Ethik, 35 «Wenn es sich so verhält, so ist die «Rechtheit» unseres «Begriffes von dem, was zu tun ist», nicht eine Rechtheit des bloßen Erkennens, ... sie setzt die moralischen Tugenden voraus».

L'éducation morale et les arts

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la dimension éthique qu'il veut. Chaque homme est responsable de ce qu'il est, bien qu'il ne crée pas de façon autonome ses valeurs morales. La vie morale est comme une œuvre d'art: elle n'est jamais achevée, l'homme y travaille pendant toute sa vie. Aristote et Thomas d'Aquin tout en choisissant ce paradigme, se sont rendus compte des nombreuses différences entre la formation dans les arts et l'éducation morale. L'étude de ces différences a permis de saisir la physionomie particulière de l'agir moral: dans ce domaine ce qui compte n'est pas tellement la prestation, mais l'acte lui-même dans toute sa complexité subjective 74 . Poursuivre le bien pour lui-même, par un choix libre et délibéré et grâce à une disposition stable et assidue, tous ces caractères dévoilent la richesse de l'acte moral, qui se situe surtout dans la dimension intérieure de l'agent.

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S.Thomas, Sententia Ethic., VI, 1. 4, n. 1172: «Unde prudentia, quae est circa humana bona, ex necessitate habet secum adiunctas virtutes morales, tamquam salvantes sua principia; non autem ars quae est circa bona exteriora.»

The Pars moralis of the Summa theologiae as Scientia and as Ars MARK

D.

JORDAN

(Notre Dame)

Among the subtlest tasks that readers must undertake is to discriminate the character of the teaching in a didactic text. By 'character' I mean especially the completeness, clarity, and certainty of the knowing that a text means to induce in its best readers. The discrimination of this character is particularly difficult for modern readers of Aquinas's texts. Whatever else our modernity might be, it is the residue of long debates over the completeness, clarity, and certainty of exemplary knowledge, that is, of 'science'. Thomas has always been counted a decisive figure in those debates. Sometimes he is depicted as the epitome of an anti-scientific Scholasticism, sometimes as the distant forerunner of modern science, sometimes as an alternative to both Scholasticism and science. Whatever he was, Thomas's variable roles in culturally constitutive debates about scientific knowing make it particularly easy to miss what his texts propose about their own character. The characters of Thomas's texts have been mistaken differently, but perhaps nowhere so painfully or so surprisingly as in his moral writings. The mistakes are painful because Thomas's moral teaching is central to his authorship. They are surprising because authors of quite different dispositions seem to mistake Thomas's moral teaching in the same way. The teaching has typically been mistaken for an Aristotelian, hyperAristotelian, or sub-Aristotelian 'science'. One can see this on all sides in 19th-century exegesis. Liberatore, for example, supported his polemic against Kantian ethics by emphasizing how detailed and articulate were the demonstrations to be made from Thomas's notions of natural law 1 . Kleutgen defended Thomas's moral theology against the Tübingen school in part by appeal to its scientific construction, imitated from Aristotle 2 . De Wulf summarized "Scholastic" moral teaching as a properly philosophic system combining theories of human ends and acts with deductions of obligations from natural law 3 . Surprisingly similar assertions can also be 1 2 3

Matteo Liberatore, Istituzioni di etica e diretto naturale, Turin 1865, especially 250—266. Joseph Kleutgen, Die Theologie der Vorzeit, Münster 1853, 5:673—684. Maurice De Wulf, Introduction à la Philosophie Néoscolastique, Louvain 1904, 143 — 145.

The Pars moralis of the Summa theologiae

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found in contemporary scholarship. Nussbaum contrasts the rigidity of Thomas's ethical science unfavorably with Aristotle's own, more humane flexibility4. For Wieland, differently, Thomas stands out among those who rediscovered the scientific character of Aristotelian practical science 5 . To portray these readings fairly and to contest them convincingly would require much more than a short paper. But a paper may perhaps raise questions about any emphasis on the scientific character of Thomas's moral teaching. I will try to raise questions here by beginning with some peculiarities of the uses of 'scientia' and 'ars' in the Summa itself. The most significant of these uses will lead to the Questions on law in the prima secundae. These Questions, much abused as they have been, still provide decisive indications about the completeness, clarity, and certainty that Thomas allows to moral teaching.

1. 'Scientia1

a n d 'ars'

in t h e S u m m a

At several points in the Summa, Thomas invokes an ideal of scientia moralis to settle some problem of textual order. He invokes it first in regard to the location of the discussion of divine providence 6 . The sequence of topics in scientia moralis serves as paradigm or analogue — the relation is not stated — for the sequence of Questions about God. Later, more crucially, Thomas invokes scientia moralis to postpone the discussion of appetitive powers into the second Part 7 . Finally, and most obviously, Thomas recalls the order of consideratio moralis, and the character of sermo moralis, to justify the largest structural features of the prima and secunda secundae8. These appearances of 'scientia' are important, but they must immediately be juxtaposed with two other linguistic facts. The first is that Thomas nowhere speaks of a 'moral theology'. He does, of course, speak of a moral part of theology, and he famously analogizes theology to certain Aristotelian conceptions of scientia. But there is no mention of a 'theologia moralis' as an autonomous body of knowledge. Thomas is selective when appropriating the terminology of scientia practica. The second and equally striking linguistic fact is that 'scientia' does not banish 'ars' from the 4 5

6 1

8

Martha Craven Nussbaum, Aristotle's De Motu Animalium, Princeton 1978, 168 — 169. Georg Wieland, "The Reception and Interpretation of Aristotle's Ethics", in: Cambridge History of Later Medieval Philosophy, ed. Norman Kretzmann et al., Cambridge 1982, 657-672, at 6 6 1 - 6 6 2 . Summa theol. 1.22. prol, "in scientia morali'. Summa theol. 1.84. prol, "ad considerationem moralis scientiae", followed by "de morali materia". Summa theol. 1—2.6 prol, "moralis ... consideratio"·, 2—2. prol, "sermones ... morales".

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Mark D. Jordan

Summa. On the contrary, there are in the Summa many and rather significant appearances of 'ars' as an ideal of moral knowing. The appearances may be surprising to those who remember that Thomas explicitly excludes ars from moral consideration in the prologue to the secunda secundae·. "ars vero nonpertinet adscientiam moralem"'3. Art is concerned, Thomas explains, with things made, not with things done. He reiterates the distinction elsewhere in the Summa 10 . But these passages and the prologue itself are concerned with only one of the analogically linked senses of 'ars'. Thomas recognizes explicitly that there are senses, such as Augustine's, according to which virtue can be called an "art of living rightly" 11 . Indeed, even when expounding the letter of Aristotle, Thomas uses 'ars' interchangeably with 'scientia' 12 . More strikingly, and more importantly, he follows Augustine in calling the Son the ars of the Father 13 . He will cite the precise Aristotelian definition, then expand it to assign ars to the Spirit as giver of gifts 14 . Analogies to art are used at many points in explaining sacramental causality 15 . More throughgoing extensions of the strict Aristotelian definition of art are undertaken specifically in moral matter. Thomas follows Aristotle's own lead in returning to analogies between art and virtue or art and prudence 16 . Indeed, he introduces prudence thematically by working out its distinction from art, which turns out to be a kind of middle between the speculative intellectual virtues and prudence 17 . If art strictly defined is not part of moral matter because not a moral virtue, art understood analogously is an indispensable guide to elements of the moral life. So, for example, an analogy to art is drawn on the way to the conclusion that moral virtue consists in a mean 18 .

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Summa theol. 2—2. prol, "ars vero non pertinet ad moralem". For example, Summa theol. 1 - 2 . 3 4 ad 3, 57.5 ad 1, 68.4 ad 1 & ad 3. The definition of ars as "recta ratio factibilium" is based on Aristotle's Ethics 6.4 (1140a3 — 5); Thomas expounds it literally in his Sententia libri Ethicorum 6.3. Summa theol. 1-2.58.2 ad 1. So, for example, in Sententia libri Metaphysicorum 1.1 (Cathala-Spiazzi no. 32), where Thomas distinguishes practical from theoretical art, which latter comprises the "scientiae logicale*". For example, Summa 1.39.8 and 3.59.1 ad 2 (with explicit reference to De Trinitate 6.10). Summa 1 - 2 . 6 8 . 4 ad 1. Beginning in Summa 1.43.6 ad 4. For the analogy to any virtue, Summa theol. 1—2.9.1, 2—2.23.4 ad 2, 2—2.50.3; for the analogy to prudence outside the thematic discussion of 1—2.57 — 58, see 2—2.47.5, "ars et prudentia circa contingentia". Summa theol. 1 — 2.57.3—4. See the helpful remarks by Wolfgang Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 21980, 26—35. The only qualification to be entered is that Kluxen follows the Aristotelian expositions too assiduously as guides to Thomas's thought about ars. Summa theol. 1—2.64.1, "sicut bonum in artificiatis est ut sequatur regalar» artis".

The Pars moralis of the Summa theologiae

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The reader of the Summa can confirm the importance of art not only in definitional Questions on the virtues, but in constructive Questions about law and justice. Law is, Thomas says, "a certain art for the instructing and ordering of human life" 19 . Thomas counts the analogy solid enough to argue from it: as art is divided into certain rules of practice, so ought laws to be divided. Again, as artifacts stand to art, so do just acts stand to their law 20 . More technically, Thomas quotes from the jurisconsult Celsus a definition of right (Jus) as "ars boni et aequi"21. These passages suggest that the art-like character of Thomas's moral teaching will be best seen by turning to his Questions on the analogous instances of 'law'. To understand law will be to understand what Thomas thinks of one of the most art-like forms of moral intelligibility. Certain cautions should be entered immediately when approaching the Questions on law. Much time has been wasted chewing over particular points in Thomas's remarks on natural law. These points are almost entirely unoriginal. Making them, Thomas rehearses commonplaces from familiar authorities. What is notable in the Questions on the law, what is new, is their structure. In the disposition of the Questions, Thomas clarifies the fundamental ordering among the kinds of law, and so subordinates natural law and human law to the divine. One can see this quickly by regarding the place of the Questions on law within the prima secundae. There is, of course, no "treatise" on law. The Summa is not built out of treatises, but out of clusters of Questions caught up into larger and larger rhythms of investigation. Within the prima secundae, the reader begins with the end, with the goal towards which human life tends. The reader ends with law and grace, which Thomas counts as exterior principles of human acts leading towards the good and given by God. The reader is brought to law and grace from inside the human soul, as it were, from the prior study of the internal starting-points of human action. This does not denigrate God's assistance. Rather, it helps readers by beginning with what is nearer to hand, with what they are accustomed to consider as falling under their control. The entire prima secundae moves forward in response to the pull of the highest human end. The sequence of articles is dictated as a series of steps approaching the end, beginning with the primary possibility of choice and ending with the uniquely efficacious gift of grace 22 . God "instructs by law" and "helps by grace" (1—2.90. p). The laws are ways in which God teaches the human creature about how to reach the end that it most deeply desires. Hence the term "praeceptum", which we 19 20 21 22

Summa Summa Summa Summa

theol. theol. theol. theol.

1-2.104.4. 1.21.2, in an argument for God's justice. 2 - 2 . 7 7 . 1 obj. 1 and ad 1. 1—2.6. prol.

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Mark D. Jordan

English blandly as "precept", should always be heard with teacherly overtones. A "precept" of law is an act of moral teaching, a lesson issuing from counsel and judgment 23 . The lessons of the laws are ordered to the giving of grace as an even more powerful pedagogical means towards beatitude. The natural law is nothing more than a dim and inarticulate anticipation of lessons to be taught more plainly and more forcefully in the divine law and especially in the "law" of grace. We are told this, and we are shown it in the unrolling of Thomas's teaching.

2. L a w s a n d N a t u r a l L a w Thomas is content in discussing the senses of 'law' and natural law to rehearse familiar points from familiar authorities. Medieval readers learned about natural law not from vague intimations in the Latin Stoics, but from specific and detailed legal authorities. Both of the compilations of Roman law commissioned by Justinian begin with remarks on a law of nature and a law of peoples. The law of nature is the law written into all living creatures by which they seek their own survival and procreation 24 . The law of peoples comprises the rationally discoverable rules for human society that are the common ground of all human law 25 . Each is called providential and immutable 26 . The two laws are mixed by Isidore of Seville. For the Etymologiae, natural law includes not only biological imperatives, but social ones as well — among them common property, equal liberty, and simple justice 27 . Texts from Isidore serve as the basis for Gratian's distinguishing types of law. Gratian begins with this note: "The law of nature, which is contained in the law and the Gospel, is that by which each is commanded to do to others what he wants to be done to himself, and is prohibited from inflicting on others what he does not want done to himself' 2 8 . The law of nature is eminently contained in Scripture. Somewhat later, Gratian adds that natural law is first chronologically, since it begins with the creation of national creatures, and that is does not vary over time 29 . Natural law comprises the common principles observed by all and held to be binding on all 30 . It takes clear precedence over any human law 31 . All 23 24 25 26 27 28 2S 30 31

Compare the sequence of acts described Summa theol. 2—2.47.8. Institutes 1.2. [prol]. Institutes 1.2.1. Institutes 1.2.11. Isidore, Etymologiae 5.4 (Lindsay line 25—line 8). Gratian, Concordantia discordantium canonum 1.1 [prol] (Richter-Friedberg 1:1). Gratian, Concordantia 1.5.1 [prol] (Richter-Friedberg 1:7). Gratian, Concordantia 1.8.1 [prol] (Richter-Friedberg 1:12). Gratian, Concordantia 1.9.1 [prol] (Richter-Friedberg 1:16).

The Pars moralis of the Summa theologiae

473

of these points are familiar to readers of Thomas. There is more. Following upon Gratian, directly in the line of Dominican authors that leads to Thomas, comes Raymond of Peñafort. He inaugurates his Summa iuris by listing five meanings of "natural law": it is the power of reproduction, the desire for procreation and rearing of offspring, the common rational principles of equity, every precept of divine law, and finally the law common to all peoples 32 . By the time Thomas began to study theology at Paris, these authoritative legal texts and other had been incorporated into theological teaching, even if their position had not been worked out. The Summa 'of brother Alexander' contains a lengthy treatment of four kinds of law: eternal, natural, Mosaic, and evangelical 33 . There are about four times as many articles as in the corresponding Questions of Thomas's Summa. Moreover, the Franciscan Summa marshals a wider variety and greater quantity of authorities than does Thomas. By contrast, Thomas is laconic. He wants the reader to see through his selection of articles and pruning of authorities to glimpse the deep pedagogy that leads from law to grace. This pedagogy is a sign and consequence of the art-like character of moral teaching. We need now to trace its largest shapes by following Thomas from natural law to divine law. Thomas announces natural law as the rational counterpart of natural tendency to an end. It is "a participation in the rational creature of eternal law" by which the creature has "a natural inclination to the due act and end" 34 . Where lower animals have mute tendencies rational souls appropriate their teleological impulses rationally and recognize them as participations in God's creative wisdom. The "eternal law" from which natural law is participated is nothing other than God as providential maker and governor, as artisan 35 . But the natural law is, at best, an abstract and incomplete guide to action. Human law is needed as the completing specification of natural law, because human law offers particular conclusions drawn from the "common and indemonstrable principles" of natural law. There are two corollaries. The first is that the natural condition of man is to be under a political regime. Human law is a natural supplement to natural law 36 . The second corollary is that natural law is necessarily a limited and imperfect participation of the eternal law 37 . 32 33 34 35 36

37

Raymond of Peñafort, Summa iuris 1.1 (Serra 1 :23). 'Alexander of Hales', Summa theologica 3.2.1—4. Summa theol. 1 - 2 . 9 1 . 2 . Summa theol. 1 - 2 . 9 1 . 1 ad 3. On the historical and political character of human law in Thomas's moral thought, see Bénézet Bujo, Moralautonomie und Normenfinding bei Thomas von Aquinas, The Hague 1979, 287 — 306. Bujo provides a summary of natural law doctrine as it appears in Thomas's scriptural commentaries on 232—283. Summa theol. 1 - 2 . 9 1 . 3 ad 1.

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Mark D. Jordan

The positive content of the natural law, to the extent that it can be articulated, is described in the six Articles of Question 94. Thomas quotes from Aristotle a traditional formulation of the first principle of practical knowledge: "the good is what all desire" 38 . The first precept of the law, then, is "the good is to be done and pursued, and evil is to be avoided" 39 . But the good, the end, is immediately stratified. A first stratum contains the good that human beings share with other natures. This is the good of existence; its precept is survival. The second stratum of good human beings share with animals. This is the good of life; its precept is generation and nurture. The third good is that good which human beings have as rational. Its precepts enjoin living in society and knowing about God 40 . Thomas did not discover these strata. His three kinds of precepts are variations on the first three meanings of "natural law" catalogued by Raymond of Peñafort. Thomas gives a few examples within each stratum. He says, for example, that generation comprises "education of children" and that political life requires "that a human being avoid ignorance and not offend others, with whom he [or she] must share community" 41 . But Thomas does not perform anything like a transcendental deduction of the conditions for the fulfillment of each end. Indeed, in the next Article, he argues that such a complete deduction of the natural virtues cannot be performed 42 . He distinguishes between virtuous acts considered as virtuous and as particular acts. The natural law does include the inclination to act rationally, which is to act virtuously. It does not include a complete list of virtuous acts. Virtuous acts are discovered, rather, in the long political experience of the species 43 . A complete enumeration of entailments under the three branches of the first precept of natural law is not part of the law, but part of the history of human communities 44 . Given the diversity of regimes, the contradictions in the history of conventions, what remains of the kernel of natural law? Is there a common content of practical participation in the law of God? Thomas's reply to 38 39 40

41 42 43 44

Summa theol. 1 - 2 . 9 4 . 2 . Summa theol. 1 - 2 . 9 4 . 2 . Summa theol. 1—2.94.2. As Crowe says, this triplet "cuts across" the older distinction between primary and secondary precepts which had been adopted by Thomas in commenting on the Sentences. See M. B. Crowe, The Changing Profile of the Natural Law, The Hague 1977, 179 and 174—184 generally. R. A. Armstrong finds the older distinction made most strongly within the Summa at 1—2.100, in connection with a discussion of the precepts of the Old Law. See his Primary and Secondary Precepts in Thomistic Natural Law Teaching, The Hague 1966, 8 6 - 1 1 4 . Summa theol. 1 - 2 . 9 4 . 2 . Summa theol. 1 - 2 . 9 4 . 3 . Summa theol. 1 - 2 . 9 4 . 3 . Pamela M. Hall, "Towards a Narrative Understanding of Thomistic Natural Law", in: Medieval Philosophy and Theology 2 (1992), 5 3 - 7 3 .

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such questions, in the fourth Article, requires that he deny any strict parallelism between practical and theoretical reasoning 45 . In speculative matters, the premises are knowable by all equally; the same conclusions are knowable, though not equally. Differences of knowledge with regard to the conclusions are explained by reference to the difficulty of demonstration in various cases. In practical matters, the first principles are known to all. The conclusions, however, are common neither in content nor in clarity of apprehension 46 . The more particular the case, the more difficult it is to arrive at a conclusion on which all will agree. Alternately, the more specific a norm or precept proposed in ethics or law, the more liable it is to justified exception. In many particular cases, the right course of action cannot be rigorously deduced. Matters become even more complicated when one considers the defects to which practical reasoning is liable, whether of passion, of bad habit, or of wicked political convention. Although Thomas does want to urge that the most common principles are the same "among all both as regards Tightness and as regards acquaintance" 47 , he restricts the "common principles" in his examples to such matters as that "one should act according to reason". What is common in the natural law is so abstract that it provokes disagreement when expressed as precept, much more when applied to particular cases. This condition reminds the reader of problems of articulation in the teaching of art.

3. T h e O l d L a w The insufficiency of natural law is the starting point for Thomas's arguments on the need for divine law. Because natural law participates in the eternal law only "according to the proportion of the capacity of human nature" 48 , God generously teaches a more articulate law, the divine law that is eminently contained in the Old and New Testaments. The content of natural law only stands forth with the instruction of the Old Law. The natural law becomes practicable only with the gift of grace in the New. Thomas insists that the law of Moses is an essential moment in God's tutoring of the human race. He finds the law completely in accord with reason. Its deficiencies are not irrationalities so much as incompletions. Mosaic law falls short of the Gospel because it is incomplete, not because 45

46 47 48

See Crowe, Changing Profile, 187 — 191, for similar arguments. The opposite view is represented by Gallus Manser, Das Naturrecht in thomistischer Beleuchtung, Fribourg 1944 (= Thomistische Studien 2), 5 1 - 6 1 . Summa theol. 1-2.94.3. Summa theol. 1-2.94.4. Summa theol. 1—2.91.4 ad 1; compare 5 ad 3.

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it is wicked. What it lacks is not rational instruction about the highest human end. It lacks the principle for reaching that end, which principle is grace. Thomas affirms that there was grace in the time of the Law. He teaches explicitly that many in Israel were saved. Still they were not saved by the Old Law, but by faith in a mediator, just as we are 49 . Much of Thomas's labor in the Questions on the Old Law is spent in explaining how the law constituted a rational pedagogy. Indeed, the Summa's longest articles are those in which Thomas justifies the ceremonial and judicial — that is, the ritual and political — legislation of the Old Testament. He provides enormously detailed explications of Levitical worship and of the political history of Israel. But we are now concerned with the third kind of Old Testament law, the moral precepts. We are concerned with them because Thomas understands them as revelations of aspects of the law of nature 50 . Thomas distinguishes two levels on which Mosaic Law teaches precepts of natural law 51 . First, it makes up for the incapacity of human reasoning to derive particular practical conclusions from universal principles. Second, the Old Law supplies a number of subsidiary principles that human reason could not reliably deduce without mixing in many errors. Somewhat later, Thomas divides cases for moral decision into three groups 52 . The first contains cases that are so clear that they can be approved or reproved after very little consideration by reference to first principles. The second group contains cases that require much longer consideration by someone wise. The third group contains cases that can only be judged with the help of divine instruction. These three groups correspond to three grades of precepts in the natural law. The first grade consists of practical principles known by everyone. Thomas's examples: "Honor your father and mother", "Do not kill", "Do not steal". The second grade contains precepts known only to the wise. Thomas's example: "Rise up before the white head, and honor the person of the agéd" (Leviticus 19.32). The third grade comprises precepts that all human beings must learn from God. Thomas's examples: "Do not make a statue or any image [of God]", "Do not take the name of God in vain". The examples are all Scriptural. Thomas means by them to situate the three grades of moral precepts in relation to the commandments of the decalogue 53 . The ten commandments contain precepts of both the first grade and the third. They are united so far as they are taught to the people directly by God. Some are taught by God through inwardly known first 49 50 51 52 53

Summa Summa Summa Summa Summa

theol. theol. theol. theol. theol.

1 - 2 . 9 8 . 2 ad 4. 1-2.98.5. 1-2.99.2. 1-2.100.1. 1-2.100.3.

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The Pars moralis of the Summa theologiae

principles, others by the infusion of faith. The precepts of the second grade, those known only to the wise, are conclusions from the decalogue rather than principles of it. What Thomas earlier called "first [or primary] precepts" of natural law — the impulse to survival or to community — are deeper grounds behind the decalogue's explicit commands. The division of precepts may well remind one of another set of arguments in Thomas, arguments to justify God's revelation of truths that are philosophically demonstrable 54 . God reveals God's existence, even though it is demonstrable, because human reason is frail and preoccupied. God does not choose to leave so important a truth in the hands of metaphysicians. The same is true of the moral precepts of the Old Law. God reveals certain basic moral truths because they are too important to be left to the contingencies of discovery or deliberation. The analogy between the revelation of metaphysical conclusions and of moral precepts is not identity. There is another reason for the revelation of precepts. Our capacity for moral reasoning has been "darkened" by "the custom of sinning", "by the abundance of sins" 55 . God reveals natural law precepts after human beings have experienced their own humiliating impotence, their failure to achieve human happiness by their own rational powers 56 . The natural law slips further and further into darkness until God speaks to Moses. The reader learns several things about the character of Thomas's teaching here. First, it it impossible that natural law serve as an autonomous, scientific guide to human happiness. A number of precepts of natural law are not knowable, even to the wise, except by divine revelation. Hence, second, Thomas cannot mean by "natural law" something that is known to the human creature in a "state of nature", that is, absent divine intervention. On Thomas's account, the state of nature is, much like prime matter, an hypothetical construct. It exists as an underlying principle of explanation, not as an independent historical reality. Human beings were created in grace, with the gift of what Thomas knows from the tradition as "original justice" 57 . This grace was freely given by God to the human species. If human beings had not fallen through sin, each generation would have been born, by God's intention, into the continuing gift of a supernatural justice 58 . They would thus have been born with a knowledge of what was commanded by the universal requirements of law, and they

54 55

56 57 58

Thomas himself draws the analogy in Summa theol. 1 — 2.99.2. ad 3. Summa theol. 1—2.99.2, "propter consuetudine™ peccandi"·, 98.6, "propter catorum". Summa theol. 1-2.98.6. Summa theol. 1.95.1. Summa theol. 1.100.1.

exuberantiam

pec-

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would have possessed this knowledge "much more fully" than we now do naturally 59 . Human creatures chose sin. They thus fell, not into a pure nature, but into nature deformed. They came to need the revelation of important parts of natural law. More besides. Thomas makes clear from the beginning of his discussion of Mosaic law that its revelation, while complete as doctrine, was not complete as pedagogy. What the Old Law taught, it could not render possible. If the Law could reach so far as to teach the need for acts of caritas, it could not provide the grace by which alone it is possible to act in caritas60. Thomas speaks this limitation of the moral precepts of the Old Law most pointedly in the last article that he devotes to them. The issue is "whether the moral precepts of the Old Law justified" those who observed them 61 . Thomas answers with a double denial. Justice most properly speaking is a virtue infused by God. "This justice could not be caused by moral precepts, which are about human acts. And so moral precepts could not justify in the sense of causing justice" 62 . Moreover, even granted that the moral precepts of Mosaic law taught what was to be done, the sacraments of that law could not confer justifying grace, which is given only through the sacraments of the New Law as applications of Christ's passion 63 . The quest for completion of the natural law leads through the law of Moses to the law of Christ. So too the inquiry into the character of Thomas's teaching.

4. T h e N e w L a w The first thing that ought to strike a reader who turns to the Questions on the New Law is that they are so brief. Thomas devotes four times as many articles to the Old Law as to the New (a ratio of 46:12). While many of the articles on the Old Law bristle with Scriptural quotations and their contested interpretations, the articles on the New Law undertake disputative exegesis of details only once, when defending the Gospel as a 59 60 61 62 63

Summa theol. 1.101.1 ad 3. Summa theol. 1 - 2 . 1 0 0 . 1 0 corpus & ad 3. Summa theol. 1 - 2 . 1 0 1 . 1 2 . Summa theol. 1 - 2 . 1 0 1 . 1 2 . Summa theol. 1—2.101.12. Note an important difference between the Leonine and Piana editions here. The Leonine omits the most interesting sentence:: "Si vero accipiatur iustificatio pro executione iustitiae, sic praecepta moralia iustificabant, inquantum continebant id quod est secundum se iustum; sed sacramenta illa veteris legis gratiam non conferebant sicut confermi sacramenta novae legis, quae propter hoc iustificare dicuntur". For the teaching that the sacraments of the Old Law did not confer grace "per seipsa, idest propria virtute", but only as "protestationes" of the faith of Israel, see Summa theol. 3.62.6.

The Pars moralis of the Summa theologiae

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sufficient guide to interior acts 64 . The reasons for Thomas's brevity are not far to seek. One of them lies in the structural relations between the two divisions of the moral part of the Summa, the prima secundae and the secunda secundae. The detailed working out of Christian living is undertaken, not in the discussion of Gospel as moral law, but in the treatment of the virtues. A similar balance can be found in the theological works before Thomas 65 . Moreover, the careful reader of the Summa will never forget that the general moral considerations of the prima secundae are given their specificity and their full sense only in the more detailed analyses of the secunda. The more important reason for Thomas's brevity is to be found in the very character of the New Law. The New Law is not primarily a written law. The "whole power (tota virtus)" of the Gospel's law consists of "the grace of the Holy Spirit, which is given by faith in Christ. The new law is principally that grace of the Holy Spirit which is given by Christ to the faithful" 66 . The precepts and counsels written down in the New Testament are dispositions to the reception of grace and guides to its right use. Without grace, the words of the Christian revelation are only another set of inefficacious regulations. The "ordinances for human feeling and human acts" contained in the "documents of faith" have no power as such to justify. The letter of the Gospel would also kill, unless there were faith healing inwardly 67 . Thomas is not here espousing some rude anti-nomianism. He knows, of course, that there is content to Christ's moral teaching. Some of the content is clarification of the Old Law; some, intensification of it; some, addition to it by way of counsel 68 . Still the central content of the New Law is a gift of grace, which grace issues in exterior acts by a kind of impulse (ex instinctu). If the Gospel prescribes actions, it does so either as suggesting dispositions to grace or as predicting consequences that will flow from it 69 . That is why Thomas reads most evangelical precepts as referring to what he calls the usus gratiae, the application or appropriation of grace by the human agent. In this way, the New Law seems not only to complete the natural law, but to reaffirm its inward character. Neither the natural law nor the Gospel are primarily written. They are inward participations of directedness to64 65

66 67 68 69

Summa theol. 1-2.108.3. So in the Summa 'fratris Alexandri' the articles on the Old Law outweigh those on the New in the same ratio of 4 : 1 , but the discussion of the New Law leads immediately into the discussion of grace and virtues. See 'Alexander of Hales', Summa theologica 3.2.3, 3.2.4, and 3.3. Summa theol. 1 - 2 . 1 0 6 . 1 . Summa theol. 1-2.106.2. Summa theol. 1-2.107.2. Summa theol. 1 - 2 . 1 0 8 . 1 .

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wards the human end. In our present condition, the natural law participates in the humen teleology darkly, uncertainly, inarticulately. The New Law, that is, the grace given by Christ, participates the teleology luminously and confidently, but still inarticulately. Neither natural law nor New Law resides in a set of propositions. If precepts of natural law are written down, it must be as a means of helping someone understand what she truly desires and how she may begin to attain it. If the Gospel law is written down, it must be to help believers towards a fuller appropriation of the grace that will move them to act as they should. I can say the same point historically. In the narrative of divine pedagogy, written law serves as a way of attaining unwritten law. We end in unwritten law, in fully appropriated inward principles of action. That is one implication of the principle from John Damascene with which Thomas opens the moral part of the Summa: the human creature is the image of God as being "the principle of his [or her] own acts" 70 . Having forfeited dominion over ourselves in sin, we must regain it by the instrumentality of written laws — human law and, especially, divine law. But God reveals written law only in order to bring us to its unwritten origin and end. What has happened to the analogy of law from which all of this part of the Summa unfurls? Thomas had concluded, famously, that law is "nothing other than an ordinance of reason for the common good, promulgated by the one who has care of the community" 71 . Sixteen Questions later, the most important law, the New Law, is described as an unwritten impulse to action which is "promulgated" by grace. The analogy's starting point in human experience has been inverted. The essence of law is indeed expressed in the definition, but only when all of its terms have been radicalized. Law is an "ordinance of reason", that is, an ordering from reason and for reason. It is for the "common good", that is, for the good of the whole species as such and as an element in the cosmos. It it "promulgated by the one who has care of the community", that is, written into the nature of the creature by God, who has artisanal care of all. Our human laws are laws weakly and derivatively, by distant imitation of the eternal law expressed as creation and justification. The inversion of the definition of law brings into final prominence the relation of moral teaching to art. A human law is someting made, the promulgated product of practical reasoning; so Thomas compares it explicitly with the product of an art 72 . When the analogy of art is inverted, the making and the promulgation change. The eternal Law is promulgated by the Word, Who is the divine art. Its consequences for human action are dimly participated by natural law, rendered somewhat clearer in various 70 71 72

Summa theol. 1—2. prol. Summa theol. 1 - 2 . 9 0 . 4 . Summa theol. 1 - 2 . 9 0 . 1 . ad 2.

The Pars moralis of the Summa theologiae

481

human laws, articulated comprehensively in the Old Law, and made attainable at last in the New Law. The divine art expresses itself as a providential pedagogy enacted in history. But the revelation of the divine law is also a making, a making that constitutes the object of the study of theology. Theology is the science of revelation, but especially of the sacra pagina. When Thomas writes of law in the Summa, then, he takes on multiple relations to various arts. He describes the natural law as a dim participation made possible by the divine art in creating. He explains and appropriates the human art of jurisprudence. He narrates and so rehearses the art of divine pedagogy in the history of Israel. He studies and very imperfectly imitates the Scriptural record of that pedagogy. Whatever the role of science in the moral part of the Summa, the text is the description, explanation, narration, and imitation of a hierarchy of arts.

Agere ex

ignorantia

Über die Unwissenheit im praktischen Wissen bei Thomas von Aquin KLAUS HEDWIG

(Kerkrade)

...quae quis scire non tene tur. S.th. Ι/Π, 76, 3. Daß die Philosophie in der Reflexion des Wissens mit nicht geringem kritischen Aufwand immer auch schon die Grenzen des Wissens, das Nichtwissen, zu bestimmen suchte, hat ihr zahlreiche Invektiven eingetragen, die vom Vorwurf der Subversion über die Komplizierung des vermeintlich Unkomplizierten bis hin zur Lächerlichkeit reichen. Es ist bekannt, daß nach Aristoteles alle Menschen „von Natur aus"1 nach Wissen streben und daß — in praktischer Hinsicht — die „Unwissenheit"2 (αγνοία), neben der „Gewalt" (βία), als Ursache eines Handelns angesehen wurde, das „unfreiwillig" (άκούσιον) ist. Diese Tradition war lange, noch bis zu Kant 3 , ungebrochen gültig. Heute, in einer szienti1

2

3

Met. 980 a 1 ff. Es sei mit einer captatio benevolentiae daran erinnert, daß die „Verwunderung" die Menschen zur Philosophie geführt hat, „um der Unwissenheit (άγνοια) zu entgehen" (Met. 982 b 15 sqq.). Auch der Kommentar des Aquinaten nimmt dieses Motiv auf: „Et quia admiratio ex ignorantia proventi, patet quod ad hoc moti sunt ad philosophandum ut ignorantiam effugarent" (In Met. I, lect. 3 n. 55). Aristoteles weist daraufhin (NE, 1110b 20 sqq.), daß die ά γ ν ο ι α einerseits „Unwissenheit" meinen kann, aber auch ein „Nichtwissen" als Fehlen von Wissen überhaupt, so daß etwas „ohne Wissen" geschieht: Έτερον δ' εοικεν και τό δί άγνοιαν π ρ ά τ τ ε ι ν τ ο ΰ ό γ ν ο ο ΰ ν τ α ττοιεΐν • Die άγνοια als „Unwissenheit" läßt den Handelnden im Unklaren darüber, was er „meiden" soll, so daß er „ungerecht und überhaupt schlecht", auch „unfreiwillig" (άκων oder άκούσιον) handelt, aber doch „Schmerz und Reue" darüber empfinden und wegen der Unkenntnis partikulärer Umstände auch auf „Mitleid und Verzeihung" rechnen kann, während dagegen ein Handeln, das „ohne Wissen" geschieht, im strengen Sinn „nicht freiwillig" (οΟχ εκών) ist. — Für die praktischen Auswirkungen der ignorantia bezieht sich Thomas auf Aristoteles (NE 1110a 1 sqq., Met. 1051 b 25 und Anal. Post. 77 a 16 sqq., 79 b 25 sqq., 81 a 35), während für die theologisch-spekulative Annahme, daß Gott als tamquam ignotum erkannt wird, die dionysische Tradition leitend bleibt. Auf Kants etwas pathetische Frage „Was kann ich wissen?" (KrV, B833/A 805) hat L. Oeing-Hanhoff wohl nicht zu unrecht bemerkt: „viel zu viel" (Metaphysik und Freiheit, München 1988, 72).

Agere ex ignorantia

483

stisch-technischen Welt, die darauf zielt, die Natur zunehmend zu reproduzieren, ist nicht nur die Rolle des Wissens, sondern auch das Nichtwissen ambivalent geworden. Es mehren sich die Stimmen, die angesichts der fortschreitenden genetischen, sozialen und kommunikativen Durchsichtigkeit technisch reproduzierbarer Lebensbedingungen ein „Recht auf Unwissenheit"4 einklagen: ein Nichtwissen, das den Menschen in seiner einzigartigen, unersetzbaren Individualität davor schützt, im Kalkül der Faktorenanalyse zu verschwinden. Das kognitive Defizit, das im Nichtwissen zweifellos liegt, scheint daher auch anders interpretierbar zu sein — nämlich als eine Grenze, deren progressive Auflösung eine geänderte Stilform der Anthropologie, auch der Ethik nach sich ziehen würde, eine Lebensform, die aber den Menschen wahrscheinlich überfordern5 würde. Die Probleme sind in ihren Umrissen heute bereits sichtbar. Die folgenden Überlegungen zum Stellenwert der ignorantia6 in der Ethik des Aquinaten sind bewußt antiquiert. Aber gerade der historische Abstand, der uns von Thomas trennt, erlaubt eine nüchterne Darstellung der Kriterien, die die ältere philosophische Tradition bereitgestellt hat, um die Grenzen des praktischen Wissens mit den erforderlichen Nuancierungen nachzuzeichnen und zu bewerten.

I. Das Wissen, auch das Nichtwissen, erweist sich für Thomas in praktischer Hinsicht als relevant, wenn es im Kontext einer Handlungsstruktur 4

5

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Cf. H. Jonas, Technik, Medizin und Ethik, Frankfurt 1984, 190: „Die Anrufung eines Rechtes auf Unwissenheit als auf ein Gut ist, soviel ich sehe, neu in ethischer Theorie, die seit je den Mangel an Wissen als einen Defekt im menschlichen Zustand beklagt hat und als Hindernis auf dem Pfade der Tugend, jedenfalls als etwas, das wir nach besten Kräften überwinden sollten". Es ist durchaus fraglich, ob der Mensch, wie Hegel nahelegt, ein „absolutes Wissen" überhaupt ertragen könnte. Das Nichtwissen, das die Zukunft verhüllt, aber auch im allmählichen Vergessen dem Vergangenen seine scharfen Konturen nimmt, läßt die Grenzen hervortreten, innerhalb derer — wie es scheint — Wissen menschlich integriert werden kann. Diese anthropologische Schutzfunktion des Nichtwissens hat Thomas nicht weiter beachtet; cf. dazu A. Schütz — Th. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, I, Frankfurt 1979, 203 ff. (Über die Struktur des Nichtwissens). Die folgenden Interpretationen stützen sich hauptsächlich auf: In Ethic. Nie. III, lect. 1 - 3 ; In II Sent. 39, 1, 1, 4; 43, 1, 3; De malo 3, 6 - 9 ; S. th. I/II 6, 8; 76, 1 - 4 ; In Anal. Post. I, lect. 27 n. 222 sqq. Die Quellenbasis bei Thomas ist allerdings breiter. Abgesehen von den älteren Ethik-Manualen wurde das Thema nur von Ph. Delhaye, L. Oeing-Hanhoff und R. Mclnerny gestreift. Es ist einigermaßen verwunderlich, daß in neueren Diskussionen, die nicht müde werden, den rationalen Diskurs in der Ethik zu betonen, die Frage nach der Extension der praktischen Rationalität kaum gestellt wird.

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steht, die traditionell als voluntarium oder — weniger präzis übersetzt — als „willentlich", „freiwillig" oder „selbstgewollt" 7 bestimmt wird. Der „selbstgewollte Akt" (voluntarium) geht aus einem Willen hervor, der — negativ gesagt — weder durch äußere Gewalt, noch durch interne vegetative oder sensitive Impulse und auch nicht durch ein vorgegebenes, partikuläres Ziel ohne weiteres aktuiert werden kann. Allerdings bleibt dabei zu beachten, daß nach Thomas alle Handlungen — auch das „selbstgewollte" Handeln — durchaus teleologisch angelegt sind. Aber für den Menschen ist es kennzeichnend, daß das „Ziel", das in der Praxis übrigens als „Prinzip" fungiert, durch die Vernunft in den Handelnden selbst zurückgenommen wird, so daß es „in ihm selbst" (in seipso) „vorgestellt" und als erkanntes Ziel „erstrebt" werden kann oder auch nicht. Der voluntative Ursprung des Handelns (ut agat), die intellektive Vorstellung des Ziels (ut agat propter finem) und die Erkenntnis der Mittel, es zu erreichen, verbleiben daher im Handelnden selbst. Oder, wie Thomas sagt: das „selbstgewollte Handeln" ist ein Akt, „cuius principium est intra, sed cum additione scientiae"8. Da der Handelnde den Anfang, aber auch das Ziel des Handelns wissend in sich 9 trägt, wird er nicht mehr von Außen bewegt, sondern — einzigartig in der Welt — er bewegt „sich selbst" 10 . Daß diese Aktstruktur, weil sich in ihr sehr verschiedene Komponenten kreuzen, äußerst labil ist, hat Thomas durchaus gesehen. Die Selbstbewegung des Willens kann durch zahlreiche Faktoren, durch Gewalt 11 , Furcht 12 , Leidenschaften 13 und ähnliches beeinträchtigt, sogar zerstört werden. Dies sei auch deswegen gesagt, um deutlich zu machen, wie hochstufig und zugleich anfällig die Akte des Menschen sind, die im eigentlichen Sinn „menschlich" genannt werden. Der Faktor nun, der weit mehr als Gewalt, Furcht oder Leidenschaft destruierend in die selbstgewollten Akte eingreift, ist die „Unwissenheit"

Der Akt des voluntarium ist nicht ohne weiteres mit der „freien Entscheidung" (liberum arbritrium) gleichzusetzen: denn während zum voluntarium auch die Akte gehören, die der Wille — etwa im Streben nach „Glück" — durchaus notwendig vollzieht, bleibt in der „freien Entscheidung" des Menschen die indifferentia (S.th. I, 83, 2) der Wahl leitend, auch wenn sich die Freiheit letztlich in der Entscheidung zum „Guten" vollendet. 8 S.th. I/II, 6, 1. 9 S.th. I/II, 6, 1: „cum homo maxime cognoscat finem sui operis et moveat seipsum, in eius actibus maxime voluntarium invenitur". 10 S.th. I/II, 6, 1: „quae vero habent notitiam finis, dicuntur seipsa movere: quia in eis est principium non solum ut agant, sed etiam ut agant propter finem. Et ideo, cum utrumque sit ab intrinseco principio, scilicet quod agunt, et quod propter finem agunt, horum motus et actus dicuntur voluntarii: hoc enim importât nomen voluntarii, quod motus et actus sit a propria inclinatione". " S.th. I/II, 6, 7; 73, 5 - 7 , 78, 2 - 4 . 12 S.th. I/II, 6, 6. 13 S.th. I/II, 6, 4 - 5 . 7

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— die ìgnorantia, die das Wissen14 als Vorbedingung willentlicher Akte ausschaltet und damit radikal, vom Ansatz her, das selbstgewollte Handeln verhindert. „ìgnorantia habet causare involuntarium ea ratione qua privat Cognitionen/, quae praeexigitur ad voluntarium"15. Das heißt, daß das „freiwillige Handeln" in einen Akt umschlägt, den Thomas als involuntarium oder — unter einer anderen Hinsicht — auch als non voluntariumx(s bezeichnet. Das Problem weist eine beträchtliche Brisanz auf: denn wenn die Handlungen des Menschen als moralisch „gut" oder „böse" dadurch legitimiert werden, daß sie „der Vernunft gemäß"17 sind oder nicht, dann wird durch die „Unwissenheit" die Ethik in ihrem Kern — der „Vernunft" (ratio) — getroffen. Aber doch bleibt festzuhalten, daß Thomas im Handlungswissen bestimmte Sektoren abhebt, die eine habituelle und in gewisser Hinsicht sogar aktuelle ignorantia zulassen und moralisch rechtfertigen. Die Unterscheidungen18, die Thomas in das Begriffsfeld des Nichtwissens einführt, sind — wie üblich. — präzis. Während die Unkenntnis in einem neutralen Sinn einfach „Nichtwissen"19 (¡nescientia) besagt, meint sie — in praktischer Hinsicht — als ignorantia20 ein Wissen, das fehlt, aber eigentlich nicht fehlen dürfte. Dieser privative Modus wird sich als ethisch relevant erweisen. Dagegen abgesetzt ist der Irrtum21 (error), der Falsches

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Aristoteles betont, daß der sittlich Handelnde „wissentlich", „mit Vorsatz" und „fest und ohne Schwanken" handelt (NE 1005 a 27 sqq.); cf. den Kommentar des Aquinaten: „qui facit opus virtutis, non operetur ex ignorantia vel a casu, sed sciat quod faciat" (In Ethie. Nie. II, lect. 4 n. 282). S.th. I/II, 6, 8. In Anlehnung an Aristoteles versteht Thomas (In Ethic. Nie. III, lect. 4) ein Handeln als voluntarium, das „freiwillig" ist, als involuntarium, wenn es „unfreiwillig", weil gegen (contra) den Willen geschieht (quod voluntas contrarietur ei quod f i t ) und schließlich als non voluntarium, insofern die Freiwilligkeit „entfernt" wird (per solam remotionem actus voluntatis); cf. auch De malo 3, 8; S.TH. I/II, 76, 3) und die Skizze bei R. Mclnerny, Ethica Thomistica. The Moral Philosophy of Thomas Aquinas, Washington 1982, 63 sqq. — Es sei bemerkt, daß diese aristotelischen Differenzierungen in der gegenwärtigen EuthanasieDiskussion (G. Meggle) wiederkehren; cf. Information Philosophie 3 (1991), 63 sq. S.th. I/II, 18, 5; cf. L. Lehu, La raison — Règle de la moralité d'après s. Thomas, Paris 1930, 44 sqq. Die Übersicht bei L. Schütz (Thomas-Lexikon, Paderborn 1895. ND Stuttgart 1958, 364 sq.) ist durch die Angaben des Index Thomisticus zu ergänzen. S.th. I/II, 76, 2; De malo 3, 7: „Nescientia enim simplicem negationem scientiae importât ... nescientia de se nec rationem culpae nec poenae habet: quod enim aliquis nesciat ea quae ad ipsum non pertinet scire, vel que non est natus scire, nec culpa nec poena est"·, cf. auch In Anal. Post. I, lect. 27 n. 222 sqq. De malo 3, 7: „ignorantia vero quandoque quidem significai scientiae privationem; et tunc ignorantia nihil est aliud quod carere scientia quam qui natus est habere: hoc enim est de ratione privationiscuiuslibet. Quandoque autem ignorantia est aliquid scientiae contrarium, quae dicitur ignorantia perversae dispositionis; puta, cum qui habet habitum falsorum prineipiorum et falsarum opinionum, ex quibus impeditur a scientia veritatis-, cf. De malo 8, 1 ad 7; S.th. I/II, 76, 3; I, 101 1 ad 2; In II Sent. 22, 2, 1 c.; IV 49, 2, 5 ad 8; In Anal. Post I, lect. 27 n. 222 sqq. De malo 3, 7: „error autem est approbare falsa pro veris ... potest enim esse ignorantia sine hoc

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in einem Urteil oder Syllogismus als wahr annimmt. In gleicher Weise von der ignorantia abgehoben sind die Vergeßlichkeit (oblivatio), Nachlässigkeit (negligentia) und Unachtsamkeit iinadvertentia), die scheinbar harmlos nur eine Vorbereitung der Unwissenheit meinen, aber letztlich, weil der Wille nicht mehr auf die praktischen Vernunftregeln „aufmerkt", die wahrscheinlich abgründigste Ursache des „Bösen" 22 anzeigen. Das heißt, daß die Unkenntnis in verschiedenen Hinsichten in das Handeln eingreifen kann. Aus diesen zahlreichen Facetten ist für den ethischen Problembereich nur die ignorantia wichtig, die den Ausfall, die Privation einer Erkenntnis meint, die eigentlich „geschuldet" ist.

II. Ein altes, in der Scholastik vielfach kommentiertes Lehrstück besagt, daß die praktische Unwissenheit den Willensakt „dreifach" 23 (tripliciter) modifizieren kann, insofern sie dem Willen „vorhergeht", ihn „begleitet" oder ihm „nachfolgt" (ignorantia antecedens, concomitans et consequens). Die Unwissenheit wendet zwar in allen Fällen das freigewollte Handeln in einen „unfreiwilligen Akt" ('involuntarium 24 ) um. Aber die ethische Relevanz dieser Unfreiwilligkeit ist verschieden zu bewerten. Das Nichtwissen, das dem Willen „voraufgeht" 25 (antecedens), erstreckt sich auf das breite Handlungsfeld kontingent wechselnder Umstände und Situationen, die in ihrer Komplexität nicht ohne weiteres zu durchschauen sind und daher den Handelnden, obgleich eine gewisse „Sorgfalt" (idiligentia) gefordert wird, nicht ohne weiteres verpflichten: „non tenetur scire". Das Problem, um das es geht, ist das sogenannte „unüberwindliche Nichtwissen" 26 , das sich aus der Kontingenz der Handlungsbedingungen herleitet und dazu berechtigt, das Handeln in gewissen Situationen als schlechthin „unfreiwillig" (simpliciter involuntarium27) zu entschuldigen. Aber diese voraufgehende Unwissenheit — in der Scholastik mit zahlrei-

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quod aliquis de ignotis sententiam ferat; et tunc ignorans est, et non errans; sed quando iam falsam sententiam fert de bis quae nescit, tunc proprie dicitur errare"·, cf. auch In Anal. Post I, lect. 27 n. 222. De malo 1, 3. S.th. I/II, 6, 8. De malo 3, 6; S.th. I/II, 76, 3. S.th. I/II, 6, 8: „antecedenter autem se habet ad voluntatem ignorantia, quando non est voluntaria, et tarnen est causa volendi quod alias homo non vellet. Sicut cum homo ignorât aliquam circumstantiam actus quam non tenebatur scire, et ex hoc aliquid agit, quod non faceret si sciret"·, cf. zur ignorantia praecedens et sequens auch S.th. II/II, 156, 3 ad 1. S.th. I/II, 76, 2. S.th. I/II, 6, 8: „et talis ignorantia causat involuntarium simpliciter"·, S.th. I/II, 76, 3: „... Maliter voluntarium tollit".

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chen Beispielen 28 illustriert — kann durchaus als „Ursache" [causa) des Handelns angesehen werden, da der Handelnde nicht gehandelt hätte, wenn er die Umstände der Handlung gekannt hätte („quod non faceret si sciret"). Die Handlung bleibt daher, weil sich das Nichtwissen quasi-kausal auswirkt, in der Dimension des Ethischen einbehalten. Dagegen ist eine Unkenntnis „begleitend" 29 (ignorantia concomitans), wenn der Handlungsverlauf zwar genau geplant, aber in seinem faktischen Verlauf nicht vorherzusehen war, so daß das Geschehen, weil es „unwissend" geschieht, für den Handelnden letztlich „zufällig" 30 ist: „accidit simul esse aliquid factum et ignoratum". Das etwas sonderbare Beispiel 31 , das Thomas aus der Tradition übernimmt, macht jedoch deutlich, daß rational durchdachte Handlungen durch eine externe, aber in die Handlung eingreifende Zufälligkeit pervertiert werden können. Auch wenn nach Thomas der Mensch „von Natur aus" 32 auf das Wissen angelegt ist, darf nicht übersehen werden, daß das Handlungsgebiet zahlreiche Einzelfaktoren aufweist, die man faktisch nicht wissen kann (,,...ea quae scire non potest") und deren Nichtwissen daher auch nicht als „Nachlässigkeit" (oder „Unterlassung" 33 ) anzurechnen ist. Diese Unwissenheit, die übrigens keine „Ursache" des Handelns ist, qualifiziert den Handlungsakt, wie Thomas in Anlehnung an Aristoteles 34 sagt, als „nichtfreiwillig", als non voluntarium35. Die Handlung, wenn man von der Intention 36 absieht, fällt wegen des fehlenden, aber auch nicht möglichen Kontrolle der äußeren Handlungsbedingungen aus der Dimension ethischer Normierung heraus.

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S.th. I/II, 6, 8: „puta cum aliquis, diligentia adhibita, nesciens aliquem transiré per viam, proicit sagittam, qua interfecit transeuntem". — Eine Untersuchung der Eigenart und methodischen Funktion der exempta bei Thomas fehlt bisher. S.th. I/II, 6, 8: „concomitanter quidem, quando ignorantia est de eo quod agitur, tarnen, etiam si scire tur, nihilominus ageretur". Cf. zum Problem des „Zufalls", der in das menschliche Handeln eingreift: A. D. Sertillanges, Der hl. Thomas von Aquin, Köln 1954, 628 sqq. und zur gegenwärtigen Diskussion des „moralischen Zufalls" (moral tuck)·. Th. Nagel, Uber das Leben, die Seele und den Tod, Königstein 1984, 39 — 54 (Glück gehabt! Zufall als moralisches Problem). S.th. I/II, 6, 8: „... cum aliquis vellet quidem occidere hostem, sed ignorans occidit eum, putans occidere cervum". Es ist bemerkenswert, daß Thomas die Extension des Wissens und Nichtwissens von den „natürlichen" Anlagen des Menschen her bewertet („... scientia eorum quae aptus natus est scire", S.th. I/II, 76, 2). S.th. I/II, 76, 2. Aristoteles, NE 1110b 25; cf. Thomas, In Ethic.Nic. III, lect. 3 n. 406. S.th. I/II, 6, 8: „sedfacit non voluntarium, quìa non potest esse actu volitum quod ignoratum est"·, cf. auch I/II, 76, 1; 76, 4. Die Beispiele, die Thomas in Anlehnung an Aristoteles anführt, machen auf die „Trauer" (tristitia) aufmerksam, die dem ungewollten Handeln folgt (De malo 3, 8; S.th. I/II, 6, 8). Die ignorantia concomitans entschuldigt nicht gänzlich, da die verborgene Intentionalität einer Handlung bewertet werden kann: „tarnen totaliter a peccato non excusat" (I/II, 76, 1; 76, 4).

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Diese Formen der praktischen Unwissenheit — die ignorantia antecedens et concomitans — reichen letztlich nicht oder nur bedingt in das Zentrum der Ethik. Die Unkenntnis, um die es in der Moral geht, ist „gewollt" — sie ist „freiwillig". Dann erst, wenn die Unwissenheit aus dem Willensakt selbst hervorgeht, ihm „folgt" 37 , wenn sie als ignorantia consequens explizit oder implizit freiwillig hingenommen 38 wird, ist sie ethisch qualifizierbar. An genau dieser Stelle wird das Verhältnis zwischen ignorantia und Moral thematisch.

III. Aber doch bleibt zu fragen, warum denn überhaupt das Nichtwissen eine moralische Qualifikation erfahrt, wenn der Defekt, der vorliegt, eindeutig epistemischer Art ist. Die moralische Perspektive der ignorantia wird erst dann deutlich, wenn man beachtet, daß die Handlungen des Menschen, die im eigentlichen Sinn „menschlich" sind, stets aus einem „überlegten Willen" (ex volúntate deliberata39) hervorgehen und in allen Phasen der Leitung der Vernunft unterstellt bleiben. Die Eliminierung des Vernunftwissens, die „freigewollt" ist, schlägt daher auf den Willen selbst zurück, der nicht nur seine „Menschlichkeit" verliert, sondern im Ausschluß der Vernunft auch die Voraussetzungen der ethischen Qualifikation der Handlungen ausschließt. Es ist sicherlich fragwürdig, die Ethik einseitig auf die Vernunft zu reduzieren, doch noch fragwürdiger ist es, moralische Akte aus dem rationalen Diskurs herauszunehmen. Aber gerade diese Ausgrenzung vollzieht die ignorantia, die aus einem Willen „folgt", der das Vernunftwissen, das zum moralischen Handeln gehört, nicht will. Die Interpretationen zur „freigewollten" Unwissenheit verlaufen insofern regressiv, als sie danach fragen, warum der Wille das Wissen nicht will — eine Frage, die sich letztlich ohne Antwort in „Dunkel und Schweigen" verlieren wird. In diesen Analysen, die Thomas mit großer begrifflicher Präzision durchführt, zeigt sich, daß man die Genese des 37

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S.th. I/II, 6, 8: „consequenter autem se habet ignorantia ad voluntatem, inquantum ipsa ignorantia est voluntaria. Et hoc contigit dupliciter, secundum duos modus voluntarii". Die Unwissenheit ist zu verantworten, wenn sie dem Willen untersteht; cf. De malo 3, 8: „Hoc autem contingit tripliciter. Primo quidem quando aliquis directe vult ignorare scientiam salutis, ne retrahatur a peccato quod amat ... Secundo ignorantia dicitur voluntaria indirecte quo non adhibet Studium ad cognoscendum, et haec est ignorantia negligentiae ... Tertio dicitur aliqua ignorantia voluntaria per accidens, ex eo scilicet quod aliquis directe vel indirecte vult aliquid ad quod sequitur ipsum ignorare. Directe quidem sicut apparet in ebrio, qui vult superflue vinum potare, per quod privatur rationis usu; indirecte autem cum aliquis negligit repellere insurgentes passionis motus, qui percrescentes ligant rationis usum in particulari eligibili, secundum quod dicitur omnis malus ignorans"·, cf. auch S.th. I/II, 19, 6; 76, 3 - 4 . S.th. I/II, 1, 1.

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Nichtwissens, ähnlich dem Nichthandeln (non agere40), unter einem zweifachen Gesichtspunkt beurteilen kann. Die Unwissenheit kann nämlich — einerseits — bewußt gewollt werden {„cum aliquis ignorare vult"), sei es als präventive Entschuldigung des Handelns oder als kalkulierter Schutz, um nicht vom Handlungsakt selbst abgehalten zu werden. Diese explizit oder implizit akzeptierte Unwissenheit wird von Thomas als ignorantia affectata41 verstanden, als eine Unwissenheit, die vom Handelnden erstrebt wird und daher uneingeschränkt zu verantworten ist. Aber das Nichtwissen kann — andererseits — auch daraus resultieren, daß das „geforderte" Handlungswissen einfach übersprungen wird („cum aliquis actu non considérât quod considerare postest et debet"). Es geht dabei um die Kenntnisse, die der Handelnde nicht nur haben kann, sondern haben „muß", wenn er „aktuell" (actu) zur Tat fortschreitet — aber faktisch nicht hat. Nur beiläufig sei erwähnt, daß diese epistemische Situation heute nicht selten eine spiegelverkehrte Verfremdung findet 42 . Das geforderte, doch fehlende Wissen versteht Thomas als ignorantia malae electionis43, als eine Unwissenheit, die in die freie Entscheidung dessen fallt, der diese Unwissenheit indirekt, nämlich „nachlässig", gewählt hat. Der kognitive Defekt, der also direkt dem Willensakt oder indirekt der Nachlässigkeit „folgt", kann sich auf faktische und normative Tatbestände (ignorantia iuris et factiderart radikal auswirken, daß ethische Aussagen — wenn die Unwissenheit legitim wäre — nicht mehr zu legitimieren wären. Aber Thomas versteht diese Unwissenheit als durchaus „überwindbar" (vincibilis). Andererseits bleibt zu fragen, wo denn genau die Grenze zwischen einem „überwindbaren" und einem „unüberwindbaren Nichtwissen" verläuft. Es wäre doch — zumindest als Konstruktion — denkbar, daß der Wille im Einverständnis mit der praktischen Vernunft eben diese praktische Vernunft komplett ausschaltet, so daß ein Akt übrigbliebe, der faktisch 40

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Thomas weist für die ignorantia consequens (S.th. I/II, 6, 8) auf die Parallele zum non agere hin (S.th. I/II, 6, 3). S.th. I/II, 6, 8: „actus voluntatis jertur in ignorantiam: sicut cum aliquis ignorare vult ut excusationem peccati habeat, vel ut non retrahatur a peccando". Die ethischen Probleme, die sich in der Informationsgesellschaft für das Handlungswissen ergeben, das durch den Überschuß an Informationen anthropologisch nicht mehr integrierbar ist und damit faktisch in ein Nichtwissen umschlägt, sind bisher kaum beachtet worden. S.th. I/II, 6, 8: „cum aliquis actu non considérât quod considerare potest et debet, quae est ignorantia malae electionis, vel ex passione vel ex habitu proveniens"; cf. auch I/II, 13, 1 ad 3; I/II, 47, 2; I/II, 76, 4 ad 1; I/II, 78, 4 ad 1; I/II, 88, 2; In Ethic. Nie. III, lect. 3; In II Sent. 39, 1, 1, 4. S.th. I/II, 6, 8; I/II, 76, 2; II/II, 59, 4 ad 1.; Ill, 80, 4 ad 5; In II. Sent. 22, 2, 2c., De ver. 17, 4 ad 5; cf. auch Ph. Delhaye, L'ignorantia iuris, in: Etudes d'histoire du droit canonique, II, Paris 1965, 1131 — 1141 und die Diskussion „sur l'ignorance du droit naturel" in: Permanence du droit naturel, Louvain 1967, 137 sqq.

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nicht mehr um sich selbst weiß: dessen Nichtwissen um sich unüberwindbar ist, weil alle epistemischen Kriterien ausgelagert wurden — ein von der praktischen Vernunft bestellter Suizid ihrer selbst. Aber Thomas würde darauf bestehen, daß dieses Gedankenexperiment eigentlich nicht einmal gedacht werden kann, weil das Nichtwissen, wenn es freiwillig 45 ist, konstant gewußt und damit epistemisch vermittelt ist: der Handelnde, der etwas nicht wissen will, w e i ß , daß er etwas nicht wissen will 46 . Die freigewollte Unwissenheit vermag daher die Vernunft als solche nicht „aufzuheben" ( „ i g n o r a n t i a . . . non tarnen tollit ipsam rationem"47). Diese nicht hinterfragbare, aber auch nicht zu eliminierende Faktizität der Vernunft, deren Eigen bezüglichkeit sich sogar noch im Wissen um das Nichtwissen durchhält, geht — nach Thomas — durch alle Willensakte hindurch 48 . Dagegen ließe sich allerdings einwenden, daß Thomas durchaus auch einen Vorrang des Willens 49 kennt, der vom Denken nicht eingeholt werden kann. Alle Akte — auch das Denken — hängen nämlich davon ab, daß der Wille überhaupt agieren w i l l . Aber auch hier gilt, daß genau dann, wenn der Wille etwas will, das k o n k r e t e W o l l e n unausweichlich in das Licht der Vernunft tritt und damit den Kriterien der Unterscheidung zwischen Böse und Gut, zwischen Schuld und Unschuld unterstellt wird. Man kann daher sagen, daß sich in den intellektiven und voluntativen Akte ein Interferenzgebiet 50 konstituiert, in dem das schuldhafte Abgleiten in die Unwissenheit zugleich auch immer durch die Anklage dieser Schuld 51 unterlaufen wird. Auch im gewollten Nichtwissen bleibt daher prinzipiell

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S.th. I/II, 6, 8: „ignorantia voluntaria ... non potest causare simpliciter involuntarium". — Aber Thomas kennt durchaus eine „in gewisser Hinsicht" freigewollte Unfreiwilligkeit: „ignorantia voluntaria ... causat tarnen secundum quid involuntarium, inquantum praecedit motus voluntatis ad aliquid agendum, qui non esset scientia praesente" (S.th. I/II, 6, 8); cf. auch die Argumentation, die die gewollte „Verminderung" des freiwilligen Handelns unterstreicht: „talis ignorantia diminuii voluntarium" (De malo 3, 6 ad 4); cf. ebenso S.th. I/II, 76, 3. De malo 3, 6 ad 9: „licet ignorans non cognoscat illud quod ignorât, cognoscit tarnen vel ignorantiam ipsam vel id propter non refugit ignorantiam". De malo 3, 7 ad 4; S.th. I/II, 76, 3 ad 3. De malo 3, 8: „cum autem ignorantia sit in intellectu, ordo ignorantiae ad voluntarium consideran potest ex ordine intellectus ad actum voluntatis; praecedit enim ex necessitate actus intellectus actum voluntatis, quia bonum intellectus est voluntatis obiectum; et ideo sublata cognitione intellectus per ignorantiam, aufertur voluntatis actus, et sic tollitur voluntarium quantum ad id quod est ignoratum". De malo 3, 8: „sed rursus voluntatis actus potest praecedere actum intellectus, sicut cum aliquis vult se intelligere; et eadem ratione ignorantia sub volúntate cadit, et fit voluntaria"·, cf. Anm. 38. S.th. I/II, 76, 1 ad 3: „si aliquid est secundum aliquid notum et secundum aliquid ignotum, potest voluntas illud velie". Das heißt nicht, daß eine Handlung bereits durch ein fehlendes Schuldbewußtsein legitimiert werden könnte. Der Mangel an Schuldfáhigkeit dürfte daraus resultieren, daß die Einsichten entfallen, die für ein „menschliches" Handeln erforderlich sind. Die Unfähigkeit zur Schuld — nicht nur die „Unfähigkeit zu trauern" — geht auf ein kognitives Defizit zurück, das, wenn es gewollt ist, auch moralisch zu verantworten ist.

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die ratio gegenwärtig, die nicht verblendet, nicht eliminiert 52 werden kann. Die rationalen Implikationen der Ethik sind nicht auslöschbar. Aber dennoch, auch wenn das Vernunftwissen die Dimension der Moral eröffnet und die Differenz zwischen Gut und Böse argumentativ rechtfertigt, bleibt bestehen, daß sich die Ethik auf Wissen oder Unwissen nicht reduzieren läßt. Nicht ohne Grund spricht Thomas davon, daß der Handelnde, wenn er zur Tat fortschreitet, gegenüber den Axiomen des Naturgesetzes nicht in Latenz, nicht in Nachlässigkeit verbleiben dürfe, sondern daß er auf die Normen — hier und jetzt — „aufmerken" 53 muß. Das heißt, daß den rein epistemischen Komponenten der Ethik ein nicht-epistemischer Akt vorausliegt, ein Akt, durch den der Wille agieren, normative Erkenntnisse überhaupt beachten will oder dagegen in der Freiheit seiner selbst — unhinterfragbar — in einem non agere54 verbleibt, das ihn abgründig „böse" werden läßt. Das, was hier thematisch wird, ist eine nackte, dem Begriff sich widersetzende Faktizität, deren „Dunkel und Schweigen" 55 durch das Wissen nicht mehr erhellt werden kann. Die szientistischen Implikationen der Ethik dürften hier — nicht nur für Thomas 56 — eine Grenze zu finden.

IV. Das praktische Wissen wird durch den Aufweis seiner Grenzen nicht relativiert, sondern eher präzisiert. Die Relevanz des begrenzten Handlungswissens zeigt sich gerade darin, daß die ignorantia, obgleich nur ein 52 53

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De malo 3, 8. De malo 1, 3: „non attendere actu ad talem regular» in se consideratum non est malum nec culpa nec poena: sed ex hoc accipit primo rationem culpae, quod sine actuali consideratione regulae procedei ad huiusmodi electionem". Das „Nichthandeln" (non agere') kann einerseits daraus folgen, daß explizit gewollt wird, nicht zu handeln (velie non agere oder nolle) oder — andererseits — daraus, daß überhaupt nicht g e w o l l t wird, irgendeine Handlung auszuführen (non velie agere). Hier, in letzterem Fall, liegt — paradox gesagt — ein fehlender Willensakt vor. Das „Nichtaufmerken" (non attendere) auf die Vernunftregel resultiert aus diesem non velie und wird durch die Freiheit des Menschen ermöglicht: „non uti regula praedicta non oportet aliqam causam quaerere quia ad hoc sufficit ipse libertas voluntatis per quam potest agere vel non agere" (De malo, 1, 3). De malo 1, 3: voluntas est causa peccati inquantum est defìciens; sed ilium defectum [Augustinus] comparât silentio vel tenebris, quia scilicet defectus Ule est negatio sola". Auf den Einwand, daß für Augustinus, ähnlich wie für Thomas von Aquin, die praktische Freiheit zum Bösen in „Dunkel und Schweigen" abgleitet, bemerkt der Rationalist par excellence Κ. O. Apel: „Ich habe keine Lösung dieses Problems anzubieten ... Ich kann soweit mitgehen, daß ich — mit Kant — sage: das ist tatsächlich ein Mysterium. Es ist aber nicht die Aufgabe der Ethikbegründung zu garantieren, daß die einsehbare Begründung vom Menschen auch realisiert wird, sondern man muß zugestehen: hier besteht noch einmal eine Kluft. Hier besteht das, was man das Mysterium der Freiheit nennen könnte" (Concordia 10, 1986, 25).

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Defekt, doch in gewissem Sinn auch als die causa57 dessen verstanden werden kann, was konkret als Schuld oder — theologisch gesagt — als „Sünde" (peccatum^) zu bewerten ist. Allerdings ist nach Thomas die Unwissenheit keine Ursache per se, die aus eigener Kraft etwas „bewegen" (movere), wohl aber aus dem Handlungsverlauf die geforderten intellektiven Komponenten „wegbewegen" (removere) kann. Das heißt, daß in diesem privativen Sinn das Nichtwissen — kategorial gesagt — eine causa per accidens59 ist: „Et hoc modo ignorantia potest esse causa actus peccati: est enim privatio scientiae perficientis rationem, quae prohibet actum peccati, inquantum dirigit actus humanos"60. Der Defekt des Wissens korrumpiert — merkwürdig genug — weniger das Gutsein einer Handlung, sondern vielmehr das Wissen darum, was als malum61 zu meiden ist — die einzige, übrigens nur prohibitive Norm, die in der älteren Ethik eine Generalisierung zuläßt. Diese Privation kann in alle Phasen des Handlungswissens eingreifen — angefangen von den axiomatisch-normativen Grundsätzen des Handelns62 bis hin zum situativen Kontext des konkreten Aktes, der singulär, hier und jetzt63, zu vollziehen ist. Das heißt, daß die ignorantia in die komplexe Rationalität des Handelns oder — logisch gesagt — in die Prämissen des praktischen Syllogismus64 57 58 59

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S.th. I/II, 76, 1; De malo 3, 6. S.th. I/II, 76, 2; De malo 3, 7; Quodl. I, 9, 3. S.th. I/II, 76, 1: „causa ... per accidens autem, sicut removens prohibens: vel sicut ipsa remotio prohibentis"; cf. auch De malo 3, 6: „per accidens autem movet qui removet id quod prohibeat motum". S.th. I/II, 76, 1; De malo 3, 6. S.th. I/II, 78, 1 ad 1: „ignorantia quandoque excludit scientiam qua aliquis simpliciter seit hoc esse malum quod agitur, et tunc dicitur ex ignorantia peccare; quandoque autem excludit scientiam qua homo seit hoc nunc esse malum, sicut cum ex passione peccatur; quandoque autem excludit scientiam qua aliquis seit hoc malum non sustinendum esse propter consecutionem illius boni, seit tarnen simplicter hoc esse malum, et sie dicitur ignorare qui ex malitia peccacf. auch I/II, 76, 3—4; De malo 2, 3 ad 9. Dabei ist allerdings zu beachten, daß der, der ex malitia (I/II, 78, 1) handelt, darum weiß, daß er mit der Entscheidung für ein geringes Gut ein größeres Übel gewählt hat {„quasi scienter malum eligens")\ cf. auch S.th. I/II, 76, 1. De malo 3, 6: „duplex scientia dirigit in aetibus moralibus quae prohibere potest peccatum: una scilicet universalis per quam iudicamus aliquem actum esse rectam vel deformam ... per ignorantiam removetur talis scientia"·, cf. S.th. I/II, 76, 1. De malo 3, 6: „alia vero scientia quae dirigit in moralibus aetibus et prohibere potest peccatum, est scientia particularis, scilicet circumstantiarum ipsius actus; universalis enim scientia non movet sine particulari ... Contingit autem per scientiam alieuius circumstantiae, uno modo aliquem revocare a peccato simpliciter; alio modo per scientiam circumstantiae non prohibetur aliquis a peccare simpliciter sed a tali genere peccati"·, cf. auch S.th. I/II, 76, 1; I/II, 17, 7 ad 2. — Kein allgemeines Wissen, auch keine Metaphysik des bonum reicht aus, ohne den Hinblick auf das partikuläre Gute den Willen zu „bewegen": „universalis enim scientia non movet sine particulari" (De malo 3, 6); cf. dazu Aristoteles, De an. III, 10 sqq. S.th. I/II, 76, 1: „Conferens autem de agendis, utitur quodam syllogismo, cuius conclusio est iudicium seu electio vel operatio. Unde conclusio syllogismi operativi est singularis. Singularis autem propositio non concluditur ex universali nisi mediante aliqua propositione singulari: sicut homo prohibetur ab

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eingeht. Aber doch problematisiert Thomas die Handlungsbedingungen nicht derart, daß die Normativität der praktischen Vernunft zurückgenommen werden müßte. Die Normen oder Verpflichtungen des Wissens — quod aliquis scire tenetur65 — bleiben vielmehr in den allgemeinen Rahmenbedingungen der naturgesetzlichen Axiomatik des Handelns einbehalten und abgesichert. Diese Sicherheit läßt sich, wenngleich nur abgestuft, bis in die konkreten Sachkenntnisse verfolgen, die erforderlich sind, um eine Handlung „richtig" auszuführen. Nach Thomas, der noch aus dem christlichen orbis des Mittelalters spricht, gilt für „alle" (omnes), daß sie um die Glaubensartikel {„quae sunt fidei"66) wissen und in natürlichen Belangen die universalia praecepta iuris kennen. Diese Verpflichtungen betreffen, auf die Philosophie eingeschränkt, zunächst die „allgemeinen Rechtsprinzipien", die im Rekurs auf natürlich evidente Einsichten als „gewisse Regeln der Vernunft" (quaedam regulae rationis) „konstituiert" werden und zum „Naturgesetz" gehören. Nicht ohne Grund taucht daher das Thema des Wissens und der Unwissenheit — was häufig übersehen wird — in der /ex-Lehre67 auf, deren Grundaxiom darin besteht, das Gute zu erstreben und das Böse zu meiden. Diese praktische Normativität ist — allerdings in anderer Weise als die theoretische Axiomatik 68 — von „allen Menschen" als „wahr" erkennbar, während dagegen die partikulären Vorschriften, die am Leitfaden der einzelnen „Neigungen" (inclinationes) abgeleitet werden, nicht mehr dieselbe Stringenz der Geltung aufweisen. Die praktische Vernunft, die den Neigungen des Menschen folgt, hebt in der Stufenfolge von esse, vivere und intelligere gewisse „menschliche Güter" (bona humana) ab, zu denen auch das „Wissen" (scientia) als ein „Gut" 69 des Intellektes gehört, das der Mensch „von Natur aus" zu erlangen strebt („inclinatio ad bonum secundum naturam rationis"), während die „Unwissenheit" (ignorantia) im Hinblick auf die Dinge der Welt, auch in der Erkenntnis Gottes zu meiden ist („utpote homo ignorantiam vitet"10). Oder — positiv gesagt — der Vernunftgebrauch ist für den Menschen schon deswegen strikt verpflichtend, da

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actu paricidii per hoc quod seit patrem non esse occidendum, et per hoc quod seit hunc esse patrem. Utriusque ergo ignorantia potest causare paricidii actum; scilicet et universalis prineipii, quod est quaedam regula rationis, et singularis circumstantiae". S.th. I/II, 76, 2: „... quaedam aliquis scire tenetur: ilia scilicet quorum scientia non potest debitum actum recte exercere. Unde omnes tenentur scire communiter ea quae sunt fidei, et univeralia iuris praecepta: singuli autem, ea quae ad eorum statum vel officium spectant". S.th. I/II, 76, 2. S.th. I/II, 94, 2. Cf. zur epistemischen Asymmetrie theoretischer und praktischer Gesetze: A. Zimmermann, Die Erkennbarkeit des natürlichen Gesetzes gemäß Thomas von Aquin, in: Studi Tomistici 30 (1987), 56 sqq. Cf. auch De malo 3, 6 ad 2. S.th. I/II, 94, 2.

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nichts, das gedacht oder getan wird, ohne den Rekurs auf die Rationalität des Erkennens oder Handelns als „wahr" oder „gut" ausgewiesen werden kann. Nicht weniger verpflichtend, allerdings vielschichtiger vermittelt sind die Sachkenntnisse, die die „Einzelnen" (singult) besitzen müssen, um das, was ihr Stand (status) und ihre spezifischen „Pflichten" ( o f f i c i a ) fordern, angemessen ausführen zu können. Ein Arzt, der praktiziert, darf sich vom Fachwissen nicht dispensieren. Es ist zwar richtig, daß der Handelnde vieles nicht weiß und auch „nicht immer" aktuell wissen muß, etwa mathematische Theoreme oder auch die unübersehbare Fülle der contingentia particularia. Aber wenn faktisch zur Tat fortgeschritten wird, dann — in casulx — sind die Handlungsbedingungen mit äußerster „Sorgfalt" (diligentia) zu prüfen. Die hier geltenden „Verpflichtungen" besagen — prohibitiv — nichts zu unterlassen, „quod debuit dici vel fieri vel concupisci ad scientiam debitam acquirendam"12. Auch wenn sich die Kontingenz des Handelns durch die Vernunft nicht gänzlich einholen läßt, wird der Anspruch des praktischen Wissens auf Einsicht, auf Orientierung und Normativität nicht prinzipiell aufgegeben, sondern vielmehr auf die konkrete Handlungssituation — „jetzt" 73 — zentriert. Das heißt, daß die vorausgesetzten oder abgeleitet verpflichtenden Erkenntnisse in den Handlungsakt integriert werden müssen, damit der Einzelne in dem, was er tut, nicht irrt. An genau diesem Punkt greift das Thema der ignorantia in die bekannte, viel diskutierte Frage des irrenden Gewissens 74 ein. Dabei ist grundsätzlich zu beachten, daß für Thomas das „Objekt" 75 des moralischen Handelns nicht seiner „Natur" nach zu beurteilen ist {„non ... secundum sui naturam"), sondern gemäß der Weise, wie es von der Vernunft aufgefaßt und daher in kategorial durchaus akzidenteller Hinsicht 76 dem Willen „vorgestellt" 71

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S.th. I/II, 76, 2: „... quaedam vero sunt quae etsi aliquis natus est scire, non tarnen ea scire tenetur: sicut theoremata geometriae, et contingentia particularia, nisi in casti'. S.th. I/II, 76, 2 ad 1. S.th. I/II, 6 prol.: „quia operationes et actus circa singularia sunt, ideo omnis operativa scientia in particulari considerations perficitur". S.th. I/II, 19, 6. — In der gegenwärtigen Diskussion hat nur F. Ricken (Allgemeine Ethik, Stuttgart 1983, 156) auf das Verhältnis zwischen „irrendem Gewissen" und ignorantia affectata aufmerksam gemacht. Das obiectum ist logisch ein Relationsbegriff, der — anders als das „Ding" {res) — stets einen Rekurs auf die vegetativen, sensitiven oder intellektiven Vermögen des Menschen — Verstand und Wille — voraussetzt (S.th. I/II, 19, 3). Es sei darauf hingewiesen, daß Thomas im Moraltraktat (S.th. I/II, 1 — 18) nie von der res spricht, sondern stets von obiectum, das in Korrelation zur „Vernunft" {ratio) thematisiert wird. Die Reduktion der Ethik auf die Metaphysik oder — noch simpler — auf eine Physik der Naturdinge {res) kann sich nicht auf Thomas stützen. Es sei ausdrücklich bemerkt, daß die moralische Güte oder Bosheit für ein „Ding" (res), das zum „Objekt" des Handelns wird, kategorial nur „akzidentell" ist: „... malum per accidens, propter apprehensionem rationis" (S.th. I/II, 19, 5; vgl. auch S.th. I/II, 3 ad 3). In einem vergleichbaren Zusammenhang spricht Thomas von conditiones morales

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wird. Dieser Vorrang der „Vernunft" vor der Natur ist für den Einzelnen 77 , der handelt, derart strikt bindend, daß der Wille von der Vernunftregel — sei sie richtig oder falsch — „nicht abweichen" darf. Daß Thomas die Vernunft als Norm auch für das irrende Gewissen überaus stark macht, ist bekannt. Aber dabei darf nicht übersehen werden, daß es gerade diese Prävalenz der Vernunft ist, die dazu führt, das Gewissen auf das ihm inhärente Wissen oder Unwissen zu prüfen, seine kognitive Transparenz einzufordern. Dann, wenn eine „Unwissenheit" (ignorantia 7 8 ) direkt „gewollt" ist oder indirekt sich aus „Nachlässigkeit" ergibt, ist der „Irrtum" nicht zu entschuldigen, sondern im Rekurs auf die Vernunft, letztlich auf ihre Prinzipien und Gesetze aufzuklären. Auf dieser axiomatischen Ebene, die „allen Menschen" (omnes) in gleicher Weise offensteht, gibt es nach Thomas keine prinzipiell unüberwindbare Unwissenheit, keinen unauflösbaren Irrtum 79 , der den Handelnden zum homo perplexusi0 werden ließe. Der Irrtum, auch wenn er kulturell, politisch oder religiös vehement verteidigt wird, ist der Vernunft gegenüber letztlich machtlos. Nicht zuletzt die Geschichte demonstriert dies, obgleich sie nicht die Tränen derer trocknet, die Opfer des Wahns geworden sind. Die Ansprüche, die Thomas an die praktische Vernunft stellt, sind daher nicht naiv optimistisch. Das Wissen besitzt im Handeln zwar einen eindeutigen Vorrang 81 , aber es ist auf Grenzen verwiesen, an denen eine praktische Unwissenheit beginnt, die Thomas durchaus respektiert und in moralischen Belangen auch legitimiert. Das, was aus der Sicht der Praxis über die ignorantia gesagt werden kann, ist daher letztlich auch entlastend. Das Nichtwissen, wenn es „unüberwindlich" ist, kann den Handelnden „entschuldigen" 82 , seine Verantwortung „verringern" 83 und — vielleicht noch wichtiger — es klagt nicht an.

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supervenientes (I/II, 18, 7 ad 1). Wie es für eine Sache epistemologisch „akzidentell" ist, ob über sie ein „wahres" Urteil gefallt wird oder nicht (In V Met. lec. 9 n. 896), ähnlich bleiben die „moralischen Ziele" dem Naturding akzidentell: „Fines autem morales accidunt rei naturali, et e converso ratio naturalis finis accidit morali. Et ideo nihil prohibet actus qui sunt iidem secundum speciem naturae, esse diversos secundum speciem morís et e converso" (S.th. I/II, 1, 3 ad 3). Die Differenz zwischen Natur und Moral läßt sich nicht wegdiskutieren. Cf. R. Heinzmann, Der Mensch als Person. Zum Verständnis des Gewissens bei Thomas von Aquin, in: J. Gründel (Ed.), Das Gewissen, Düsseldorf 1990, 34—52. S.th. I/II, 19, 6: „et dico ignorantiam directe voluntariam, in quam actus voluntatisfertur; indirecte autem propter negligentiam ex eo quod aliquis non vult scire quod scire tenetur ... Si igitur ratio vel conscientia erret errore voluntario vel directe vel indirecte propter negligentiam quia est error circa id quod quis scire tenetur, tunc talis error rationis vel conscientiae non excusat quin voluntas concordans rationi vel conscientiae sic erranti, sit mala". S.th. I/II, 19, 6: „... error iste proventi ex ignorantia legis Dei, quam scire tenetur". S.th. I/II, 19, 6 ad 3: „nec tamen est homo perplexus: quia potest ab errore recedere, cum ignorantia sit vincibilis et voluntaria". De malo 3, 8: „praecedit enim ex necessitate actus intellectus actum voluntatis, quia bonum intellectum est voluntatis obiectum; et ideo sublata cognitione intellectus per ignorantiam, aufertur voluntatis actus; et sic tollitur volmtatium quantum ad id quod est ignoratum". S.th. I/II, 76, 3; De malo 3, 8; 3, 6 ad 6; Quodl. 8, 6, 5. S.th. I/II, 76, 4; De malo 3, 8 ad 5.

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Klaus Hedwig V.

Die Grenzen, die der Vernunft des Menschen vorgegeben sind, wirken sich auch in der Theorie aus. Daß das Vernunftwissen nicht alles vermag, zeigt sich in theoretischer Hinsicht spätestens dann, wenn es um die Erkenntnis der „wesenhaften" Strukturen der Dinge geht, der formae substantiates, die uns nach Thomas letztlich „unbekannt" bleiben. Auch wenn das „Sein" (esse) als die Aktualität aller Akte — metaphorisch gesagt — einem „Licht" 84 (lumen) vergleichbar ist, daß die geschaffenen Dinge aus dem „Dunkel" 8 5 (tenebrae) des Nichts hervortreten und in ihrer Intelligibilität aufleuchten läßt, so daß der Verstand in sie eindringen kann („intellectus ... pénétrât usque ad rei essentiam"86), bleibt doch bestehen, daß das Wesen eines Dinges — selbst einer Mücke 87 — an sich nicht erkannt wird. Die substantiellen Formen, da sie in die „Materie" eingebunden sind, bleiben uns „unbekannt" („nobis ignotae sunt"). „Formae substantiales per se ipsas sunt ignotae, sed innotescunt nobis per accidentia propria"88. Nur indirekt, über die eigentümlichen Akzidentien vermittelt, sind die Grundordnungen der Dingwelt explizierbar und daher in gewisser Weise der Vernunft auch zugänglich. Aber die Tiefenstruktur der Wirklichkeit bleibt uns unbekannt. Auf eine ähnliche, aber noch radikalere Grenze, die letztlich im Nichtwissen endet, führt der Versuch, Gott zu erkennen. Auch wenn auf einigen „Wegen" 89 Gott in seinem Dasein (quia est) argumentativ erschlossen werden kann, bleibt er doch, seinem „Wesen" nach, für uns tamquam ignotum90. Die Metaphern, Bilder, Analogien oder auch die transzendentalen Begriffe, die über die via triplex91 auf Gott zugreifen, enthalten eine Negativität, die sich nicht eliminieren läßt. Das theologische Wissen erweist sich daher letztlich als ein „Nichtwissen", in dem wir zwar erkennen, daß Gott ist, aber nicht wissen, was Gott ist, da er alle Begriffe unbegriffen übersteigt 92 . „Illud est ultimum cognitionis humanae de Deo quod sciât se Deum

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In lib. de caus. prop. 6, η. 168: „ipsa actualitas rei est quoddam lumen ipsius"; cf. Β. Lakebrink, Perfectio omnium perfectionum, Rom 1984, 38 sqq. De ver. 18, 2 ad 5. S.th. I/II, 31, 5. Symb. Apost. prol. n. 864: „cognitio nostra est adeo debilis quod nullusphilosophuspotuit urnquam perfecte in investigare naturarti unius muscae". Quaest. de spir. creat. 11, 3; In De an. I, 1 n. 15; De ver. 4, 1 ad 8; S.th. I, 57, 2; III, 76, 7; In VII Mt. lec. 2 n. 1304. Cf. zur Logik der quinqué viae die Einwände von J. Bochenski, Die fünf Wege, in: F Z P h T h , 36, 1989, 235 — 265 und zur systematisch eher sekundären Stellung der Gottesbeweise: W. Kluxen, Der Übergang von der Physik zur Metaphysik im thomistischen Gottesbeweis, in: F. O'Rourke, At the Heart of the Real, Dublin 1992, 113 sqq. EBT, I, 2 ad 1; S.c.g. Ill, 49; cf. J. Pieper, Philosophia negativa, München 1953, 36 ff. De pot. 5, 7, 2. S.th. I, 3 prol.: „quia de Deo scire non possumus quid sit, sed quid non sit, non possumus considerare de Deo quomodo sit, sed potius quomodo non sit".

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nescire, inquantum cognoscit illud quod Deus est omne ipsum quod de eo intelligimus excedere"93. Die kognitiven Ansprüche, die Thomas im Hinblick auf den Ursprung der Dinge — Gott — stets vertreten hat, wurden, wie wir wissen, am Ende seines Lebens zurückgenommen. Die Worte, in denen sich das philosophische Wissen über Gott ausspricht, gingen in Schweigen über. VI. Es fallt auf, daß dort, wo das engere Gebiet der Philosophie verlassen wird, gegenüber der Praxis die spekulativ-theologische Aufklärung der „Ursachen" 94 der Unwissenheit einen deutlichen Vorrang gewinnt. Die Theologie als spekulative Wissenschaft hebt für Thomas die praktischen Disziplinen zwar auf, aber sie bleibt ihnen — auch in explikativer Hinsicht — überlegen. Auf der Linie der theologischen Spekulation ist das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen für den „Ursprung", den „Fall" und die „Restitution" der Kreatur durchaus verschieden zu bewerten. Es scheint, daß für den status der „gefallenen Natur" — um nur diesen Punkt zu berühren — sich zwei Begriffe des Nichtwissens überschneiden, die strukturell getrennt, aber faktisch verbunden sind. Das Nichtwissen verweist — zunächst — als nescientia auf eine natürliche, der Kreatur „als Kreatur" mitgegebene Negation, die daher auch der Vernunft des Menschen eigen ist. Aber dieses begrenzte Vernunftwissen läßt nicht nur eine philosophische, sondern auch eine theologische Deutung zu. Die Vernunft des Menschen, die durch die Ursünde ihre sichere Hinordnung auf die Wahrheit verloren hat, ist konstant der Gefahr ausgesetzt, im Verlust der Wahrheit durch die „Unwissenheit" verwundet zu werden. „Inquantum ergo ratio destutitur suo ordine ad verum, est vulnus ignorantiae"95. Das heißt, daß das natürliche „Nichtwissen" (nescientia) durchaus von einer privativen, durch eine Urschuld bedingten Unwissenheit unterlaufen werden kann, die sich als ignorantia96 vor allem dort auswirkt, wo eine Erkenntnis verpflichtend ist, aber fehlt. Das Nichtwissen ist von seinen endlichen Kontexten her mehrdeutig. Das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen, das in seinen theoretischen und praktischen Aspekten für den Menschen zahlreiche, wahrscheinlich 93 94

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De pot. 7, 5 ad 14; S.c.g. III, 49. Diese thematische Verlagerung müßte durch die Auswertung der Belege des Index Thomisticus weiter differenziert werden. S.th. I/II, 85, 3. De malo 3, 6 ad 8: „... nihilprohibet ignoratiam esse effectum alicuiuspeccati, et causam alterius; sicut et concupiscentia fomitis est in nobis causata ex peccato primi parentis, et tarnen est causa multorum actualium peccatorum".

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auch nicht lösbare Spannungen aufweist, findet eine weitere Reflexion in der Theologie, nicht ohne Grund in der Christologie 97 , die dieses Thema ausdrücklich aufnimmt. Da in Christus „Gott" die „Natur des Menschen" annahm, ist es konsequent, daß sich in ihm göttliche Vollkommenheit und kreatürliche Grenzen kreuzen. Das heißt, daß Christus einerseits die sciential aus der „Fülle des Wissens" besitzt, ex unione ad hypostasim divinar», die perfecta scientia Gottes, während dagegen die ignorantia einen „Defekt" 99 der menschlichen Natur bezeichnet, der nicht ohne weitere Qualifikationen auf Christus übertragen werden darf. Diese Defizienz ist unter verschiedenen Hinsichten interpretierbar 100 . Dem natürlichen Wissen des Menschen sind einerseits Grenzen gesetzt, an denen eine Unwissenheit (tiescentia') auftaucht, die zum menschlichen Leben selbst gehört und daher in ihrer Negativität einfach hinzunehmen ist. Diese natürliche Begrenztheit des Wissens gilt für alle Vernunftwesen, insofern sie „kreatürlich" sind — für den Menschen 101 , den Engel 102 und in gewisser Weise auch für Christus 103 , insofern er die „Natur des Menschen" angenommen hat. Dagegen entfallt für Christus die privative Unwissenheit, die ignorantia, die ein Wissen bezeichnet, das für die Praxis eigentlich gefordert wird, doch in unserem Handeln häufig „schuldhaft" fehlt. 97 98

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S.th. III, 15, 3; In III Sent. 3, 15, 1, 2; De ver. 20, 4 ad 1 1 - 1 2 ; Comp, theol. c. 226. S.th. III, 9 — 12. Ph. Kaiser (Das Wissen Jesu Christi in der lat. Theologie, Regensburg 1981, 141 sq.) hat darauf hingewiesen, daß die menschliche Dimension, die dem Wissen Christi eigen ist, im MA zweitrangig war und mit Zurückhaltung behandelt wurde. Die Frage der „Unwissenheit" (Utrum in Christo fuerit ignorantia) gehört zu der größeren Problematik, ob und inwieweit Christus mit der menschlichen Natur „alle Defekte außer der Sünde" angenommen habe. Die Antwort des Aquianten ist differenziert, aber eindeutig: „duo genera defectuum non assumpsit, illa scilicet quae non universaliter humanam naturaiη consequuntur ... Item illa non assumpsit quae ad imperfectionem gratiae pertinent, sicut ignorantiam" (In III Sent. 15, 1, 2); vgl. auch S.th. III, 15, 3); De ver. 20, 4 ad 1 1 - 1 2 ; Comp, theol. c. 226). Dazu bemerkt Thomas (S.th. I, 12, 4 ad 2), übrigens im Blick auf das Wissen der Engel, daß Gott gegenüber jegliche Kreatur als deficiens anzusehen ist („quaelibet creatura invenitur deficiens"), wobei der defectus als Negation oder Privation zu interpretieren ist: „Aliqua negatio vel defectus dicitur esse ex natura dupliciter: Uno modo quasi sit naturae debitum talem negationem habere, sicut non habere rationem est naturale asino ... Alio modo, quasi non est naturae debitum talem perfectionem habere, dicitur esse negatio ex natura, et praecipue quando naturae facultas non sufficit ad huiusmodi perfectionem acquirendam. Et talis naturalis defectus tollitur: sicut de ignorantia quam pueri habent" (De ver. 9, 3 ad 2); cf. generell dazu A. Zimmermann, Gedanken des Thomas von Aquin über defectus naturalis und timor, in: Miscellanea Mediaevalia 19, Berlin 1987, 43 sqq. S.th. I/II, 76, 2 ad 5; cf. Anm. 19. S.th. I/II, 76, 2: „... in angelis nescientia"; cf. auch S.th. I, 12, 4 ad 2; De malo 8, 1 ad 7. Auf einen Einwand des Damascenus (PL 94, 1084) antwortet Thomas, indem er die „Unwissenheit" auf die „doppelte Natur Christi" bezieht: „uno modo secundum rationem speciei: Et secundum hoc dicit Damascenus >eam esse ignorantem et servilem < ...Alio modo potest considerari secundum illud quod habet ex unione ad hypostasim divinam, ex qua habet plenitudinem scientiae et gratiae ... Et hoc modo natura humana in Christo ignorantiam non habuit" (S.th. III, 15, 3 ad 1).

Kunstwissen und sittliches Wissen in der Philosophie des Nominalismus T H E O KOBUSCH

(Bochum)

Mit guten Gründen können zwei Wege der philosophischen Ethik unterschieden werden, die einander entgegengesetzt sind und nichts Gemeinsames zu haben scheinen: die aristotelische Ethik des Ethos und der kantische Weg des ethischen Formalismus 1 . Und doch stellt sich die Frage, wie das eine sich zum anderen historisch hat entwickeln können. Wie konnte es nach der Nikomachischen Ethik, ihrer ungeheuren Ausstrahlungskraft und der vollkommenen Form ihrer Rezeption in der philosophischen Ethik des Thomas von Aquin zu einer derartigen Revolution, wie sie die kantische Moralphilosophie darstellt, kommen? Ziel des folgenden Beitrags ist es, Ockhams Konzeption des Handlungs- und Kunstwissens als einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Problems und als Wegbereitung der kantischen Problematik darzustellen. Zu diesem Zweck muß zunächst die Geschichte dieses Problems vergegenwärtigt werden. Das ist Inhalt des 1. Abschnitts. Der 2. Abschnitt widmet sich Ockhams Auseinandersetzung mit Duns Scotus. Abschließend soll ein Blick auf die Wirkungsgeschichte zeigen, daß Ockhams neue Interpretation der alten aristotelischen Lehre wegweisend war.

I. Philosophie war von Anfang an immer auch die Reflexion über die verschiedenen Arten des Wissens. Besonders der Unterschied zwischen Kunst- und Handlungswissen oder zwischen technischem und sittlichem Wissen war schon immer bewußt. Schon immer, d. h. spätestens seit Piaton. In der platonischen Philosophie ist die Unterscheidung zwischen technischem und sittlichem Wissen ein ganz wichtiges Element, in welchem der Charakter der Aporie der platonischen Dialoge in vielen Fällen begründet liegt. Nachdem sich Sokrates — das ist die Stimme der Philosophie — von den Naturphilosophen und den alles wissenden Sophisten durch 1

Cf. H.-G. Gadamer, Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik, in: Kleine Schriften I (1967), 179-191.

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Theo Kobusch

ironischen Lobspruch distanziert hat, sucht er in der „Apologie" bei den Staatsmännern und Dichtern nach einem vertretbaren Sinn jenes Orakels, das sagt, er, Sokrates, sei weiser als alle anderen. Nach den Dichtern, an denen Piaton schon hier so scharf Kritik übt wie in der Politela, wendet sich Sokrates auch an die Handwerker: „Denn von mir selbst wußte ich, daß ich gar nichts weiß, um es geradeheraus zu sagen, von diesen aber wußte ich doch, daß ich sie vielerlei Schönes wissend finden würde. Und darin betrog ich mich nun auch nicht; sondern sie wußten wirklich, was ich nicht wußte, und waren insofern weiser. Aber, ihr Athener, denselben Fehler wie die Dichter, dünkte mich, hatten auch diese trefflichen Meister. Weil er seine Kunst gründlich erlernt hatte, wollte jeder auch in den anderen wichtigsten Dingen sehr weise sein" (Apol. 22 d.). Hier wird zugleich der Wert des technischen Wissens anerkannt wie auch auf die Begrenztheit seiner Geltung hingewiesen. Die Handwerker haben tatsächlich ein vernünftiges, sachbezogenes, präzises Wissen; deswegen gebraucht es Piaton oft als Modell, um ein ebenso genaues sittliches Wissen zu erreichen, das freilich zuletzt von ganz anderer Art ist. Deswegen kritisiert Piaton auch zugleich diese Art des Wissens, weil es zu dem Irrtum verleitet, daß man mit ihm auch das sittliche Wissen selbst schon besitze. So kann das technische Wissen nur in begrenzter Form als Analogie zum sittlichen Wissen verstanden werden. Die Aporie in den aporetischen Dialogen, die notwendig und unvermeidlich ist, beruht auf dieser Begrenztheit des technischen Wissens 2 . Das geht vor allem aus dem an dieser Stelle repäsentativ für das Werk Piatons stehenden kleinen Kunstwerk des „Hippias minor" hervor. Dieser Dialog endet mit der für den Alltagsverstand inakzeptablen Bemerkung: „Offensichtlich ist wohl derjenige, der freiwillig fehlt und freiwillig Unanständiges und Ungerechtes tut, wenn es diesen denn gibt, kein anderer als der Gute." Der Dialog endet aporetisch, weil dieser Satz völlig unsinnig zu sein scheint. Und doch folgte er notwendig aufgrund des Gedankenganges. Dieser Logos, das Gespräch vorher, hatte bestimmte Fälle technischer Fähigkeiten vorgeführt, die als Analogie zum paradoxen Sachverhalt des sittlichen Wissens gelten sollen. So etwa aus dem Bereich des Sports: Der schlechte Läufer kann aus Mangel an Übung und Laufvermögen nur schlecht laufen, der gute Läufer aber kann sowohl gut wie auch in besonderen Fällen schlecht laufen. Dasselbe gilt für alle Leistungen unserer Körperorgane und Körperteile. Wenn sie gut in Form sind, können sie Gutes und Schlechtes je nach unserem Wollen hervorbringen. Auch Leistungen, die durch Werkzeuge erzeugt werden, müssen so bewertet werden. Schließlich können auch die technischen Fähigkeiten unserer Seele nur dann, wenn sie gut sind, absichtliche Fehlleistungen erbringen, sonst wären sie nämlich zu Fehlleistungen gezwungen und nicht

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Cf. dazu bes. M. Erler, Der Sinn der Aporien bei Piaton, Berlin/New York 1987, 13 sqq.

Kunstwissen und sittliches Wissen

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freiwillig. Die gute wie auch die schlechte Leistung im Bereich des Technischen beruht so auf dem Wissen, das ein Können ist, und beide sind freiwillig. Diese Erkenntnis aus dem Bereich des technischen Wissens wird am Schluß des Dialogs auf das sittliche Wissen übertragen, so daß sich die zitierte Paradoxie ergibt: Wie derjenige in einer technischen Disziplin der wahrhaft Gute ist, der souverän von seinem Können Gebrauch macht oder nicht, so ist auch derjenige der wahrhaft sittlich Gute, der das sittlich Gute wie das Schlechte zu tun in der Lage ist. Piaton hat solche Fälle, in denen das Böse zu tun sittlich geboten ist, in der Politela erwähnt und erörtert 3 . Der Kürze halber beziehe ich mich auf Xenophons Memorabilien IV, 13 — 20, wo ähnliche Fälle gebotenen Lügens, Betrügens und Stehlens von Sokrates erwähnt werden: Der Feldherr darf seine entmutigte Mannschaft durch die Lüge, Hilfe sei unterwegs, wieder kampfesmutig machen; der Vater kann den kranken Sohn betrügen, indem er ihm eine verschmähte Medizin, verkleidet als Nahrungsmittel, gibt; der Freund darf schließlich dem Freund die Waffe stehlen, wenn er die berechtigte Befürchtung hat, er wolle sich damit umbringen. Zum sittlichen Wissen gehört somit jene Souveränität, aus der heraus der sittlich gut Handelnde mit Absicht etwas, das normalerweise als böse gilt, tut oder tun muß. Die Analogie zwischen technischem und sittlichem Wissen zeigt auch im Hippias minor zugleich die Parallele und die Grenze der Parallele. Denn mögen die vielen Beispiele aus dem technischen Bereich auch tatsächlich auf die analoge Struktur des sittlichen Wissens hinweisen, insofern auch ihm jenes souveräne Können zukommt, so kann doch niemals aufgrund des technischen Wissens gewußt werden, wann solche Ausnahmefalle gegeben sind, in denen das Schlechte bzw. das Böse zu tun ist. Das allein kann das sittliche Wissen leisten. Hält man sich diese Implikationen vor Augen, dann entpuppt sich die scheinbare Paradoxie des Schlusses als platonische Wahrheit. G. Müller hat sie in seiner bahnbrechenden Interpretation des Hippias minor so ausgedrückt: „Freiwilliges Unrechttun kann nur ein aus sittlichem Wissen vollzogenes sein; denn nur dieses Wissen ... ist fähig, echte Verantwortung zu tragen. Nun ist aber die so verstandene Paradoxie nur ein anderer Ausdruck für die These: niemand sündigt freiwillig" 4 . 3 4

Cf. M. Erler, I.e., 139 sqq. In der Interpretation des Kleineren Hippias folge ich G. Müller, Platonische Freiwilligkeit im Dialoge Hippias Elatton (1979), in: Platonische Studien, edd. A. Graeser u. D. Maue, Heidelberg 1986, 3 4 - 5 2 ; Zitat: 46. Cf. auch M. Erler, Der Sinn der Aporien bei Piaton, 121-144. J. Jantzen sagt in seiner „Einleitung" zum Dialog (Piaton Hippias minor oder Der Falsche Wahre. Über den Ursprung der moralischen Bedeutung von „gut". Komm, von Jörg Jantzen mit der Übersetzung von F. Schleiermacher, Weinheim 1989) in Übereinstimmung damit: „In Frage steht die sokratische Analogie des technischen mit dem sog. sittlichen Handeln" (XIII). Im folgenden distanziert er sich freilich von der „metaphysischen Deutung" Müllers und Erlers, obgleich das „zu wissende Selbst-Verhältnis", von dem Jantzen (XXIII) als Besonderheit des Menschen spricht, selbst metaphysischer Natur zu sein scheint. Cf. dazu G. Müller, Philosophische Dialogkunst Piatons (am Beispiel des Charmides), I.e., besonders 78 — 89.

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Was so beispielhaft am Hippias minor erkannt werden kann, liegt allen aporetischen Dialogen, besonders auch dem Charmides, Laches und Lysis zugrunde: Das sittliche Wissen, das im Charmides das Wissen des Wissens genannt wird und Wissen des Guten und Bösen ist, hat bis zu einem gewissen Grade eine parallele Struktur zum technischen Wissen, aber im entscheidenden Punkte, der in der Selbstbezüglichkeit und der daraus resultierenden Befähigung zur verantwortlichen Entscheidung liegt, gibt es keine Analogie im Bereich des technischen Wissens 5 . Dafür, daß der platonische Hippias minor tatsächlich für unser Problem, das Verhältnis zwischen technischem und sittlichem Wissen, sozusagen die Initialzündung war, gibt es einen unverdächtigen Zeugen: Aristoteles. Er kritisiert nämlich die These dieses Dialoges an zwei Stellen seines Werkes. In der Metaphysik heißt es (1025 a 7 ff.): „Daher täuscht der im Hippias gegebene Beweis, daß derselbe falsch und wahr sei. Denn als falsch nimmt er den an, welcher Falsches beibringen kann, und dies ist der Kundige und Verständige; ferner setzt er voraus, daß, wer freiwillig schlecht ist, besser sei als wer unfreiwillig. Diese falsche Annahme wird durch eine Induktion bewiesen; denn der freiwillig Hinkende, heißt es, ist besser als der unfreiwillig Hinkende, wobei unter Hinken die Nachahmung des Hinkens verstanden ist; denn wenn jemand wirklich freiwillig hinkte, so würde er wohl, wie dies auch im Sittlichen der Fall ist, noch schlechter sein." Und ähnlich heißt es bezeichnenderweise im VI. Buch der Nikomachischen Ethik, da wo die dianoetischen Tugenden, zu denen auch das technische Wissen (techne) und das sittliche Wissen (phronesis) gehören, abgehandelt werden: „Und einer, der im Rahmen des technischen Wissens mit Absicht einen Fehler macht, ist einigermaßen erträglich, im Bereich sittlichen Wissens jedoch, wie auch bei den übrigen Formen sittlicher Tugend eher weniger." (EN 1040 b 22 ff.) Was Aristoteles an Piatons Theorie kritisiert, ist der Mangel einer deutlichen Unterscheidung zwischen beiden Wissensarten. Piaton hat nach Aristoteles das sittliche Wissen im Sinne eines technischen Könnens aufgefaßt, das nach Belieben eingesetzt werden kann. Nach Aristoteles' Kritik, über deren historische Berechtigung hier nicht zu spekulieren ist, läuft die These des Hippias minor so auf eine Instrumentalisierung des Sittlichen hinaus. Eine solche Position verkennt, daß es im sittlichen Wissen nicht um das Sichauskennen im Hinblick auf einen äußeren Gegenstand geht, sondern um das sittliche Subjekt selbst, oder vielmehr: um die Mittel und Wege zu einem guten und glücklichen Leben. Aus diesem Grunde muß zwischen dem technischen Wissen, dessen Prinzip die keine bestimmte sittliche Verfassung voraussetzende technische Vernunft und dessen Ge5

G. Müller hat in seinen Arbeiten die Verschiedenheit des technischen und sittlichen Wissens bei Piaton am deutlichsten herausgearbeitet. Cf. Platonische Studien 9 sq., 21, 23, 27, 58, 63, 85, 88 sq. Cf. auch M. Erler i.e., 129.

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genstand das vom Subjekt losgelöste äußere Produkt der Herstellung ist, und dem sittlichen Wissen (Phronesis), dem es um das Glück des Subjekts im Zusammenhang mit anderem geht, streng unterschieden werden. Oder schlicht: Das sittliche Wissen setzt eine bestimmte sittliche Verfassung der Seele voraus, das technische Wissen nicht. Auf diese Weise hat Aristoteles den Unterschied zwischen beiden Wissensarten auch in terminologischer Hinsicht klassisch festgelegt. Die seitdem übliche Unterscheidung zwischen Techne und Phronesis, zwischen Poiesis und Praxis, zwischen instrumenteller und sittlicher Vernunft, verdankt sich aber einer Kritik an Piaton — daran sei erinnert —, die möglicherweise auf einem Mißverständnis des Dialogs Hippias minor beruht. Was nun die weitere Geschichte unseres Problems betrifft, so ist sie vor allem durch jene Aussage Senecas im 88. Brief an Lucilius bestimmt, nach der das Wissen der Künste zwar manchen Vorteil für die äußere Lebensform bringe, zur Tugend aber nichts beitrage. Terminologisch schlägt sich dieses Unverhältnis beider Wissensarten so nieder, daß „prudentia" als Gegenbegriff zu „ars" weitgehend verschwindet und durch andere Begriffe wie disciplina u. dgl. ersetzt wird 6 . Wenn gleichwohl besonders im 12. Jh. das ethische Wissen im Zusammenhang mit der „Grammatik" behandelt wird, ist das nur der angestrengte Versuch, diese Wissensart unter allen Umständen in das Gesamte des Wissens der sieben freien Künste einzugliedern. Aristotelisches Niveau in dieser Problematik erreicht erst wieder Thomas von Aquin. Durch Thomas ist die Eigenständigkeit des sittlichen Wissens gegenüber dem Kunstwissen im Mittelalter erst wieder bewußt geworden. Äußerlich ist dieser Vorgang daran erkennbar, daß die Moralwissenschaft dem Zyklus der freien Künste nicht integriert werden kann. Wie bei Aristoteles tritt jetzt wieder der recta ratio factibilium die recta ratio agibilium gegenüber, dem transeunten das immanente Wirken, dem Herstellungswissen das sittliche Wissen, und mit ihm das eigentliche Prinzip des Praktischen: die sittliche Vernunft oder die Klugheit. Thomas hat wie keiner vor ihm die aristotelische Unterscheidung zwischen Kunstwissen und sittlichem Wissen dem mittelalterlichen Denken verdeutlicht, und den Eigencharakter beider Wissensarten begründet 7 .

6 7

Cf. H. Merle, „Ars", Bull. Philos. Méd. 28 (1986), 9 5 - 1 3 1 . Cf. dazu W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Mainz 1964, bes. 30 sqq., Β. Wald, Thomas von Aquin und die Formen des moralischen Wissens. Zur Unterscheidung des Praktischen in der Rezeption der aristotelischen Klugheitslehre, Prima Philosophia 1 (1988), 467—481, und bes. G. Verbéke, Arts libéraux et Philosophie au moyen-age, Actes du 4 e Congrès. Intern, de philosophie médievale, Montréal/Paris 1969, 6 5 3 - 6 6 1 .

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II. Die Frage nach dem eigenen Charakter des Kunst- und Handlungswissens wird in neuer Weise behandelt bei Duns Scotus oder vielmehr in der kritischen Auseinandersetzung mit ihm. Es ist noch immer das alte, von Piaton im Hippias minor aufgeworfene Problem, das die Erörterungen vor allem der nominalistischen Autoren bestimmt. Erkennbar ist das auch daran, daß der aristotelische Satz aus der Nikomachischen Ethik in lateinischer Form: „Arte quidem volens peccans eligibilior, circa prudentiam autem minus" in der Philosophie des 13. und 14. Jh. und darüber hinaus geradezu omnipräsent ist 8 . Das Neuartige ist an der veränderten Terminologie zu erkennen, die ihrerseits auf eine veränderte Fragestellung hinweist. Duns Scotus hat versucht, die aristotelische Unterscheidung zwischen der Kunst und der Erfahrung, die für die Entwicklung des theoretischen Wissens von fundamentaler Bedeutung ist, auch für das Wissen der praktischen Vernunft fruchtbar zu machen. „Unde ars se habet circa factibilia ad habitum experti, ita circa agibilia se habet scientia m oralis ad habitum prudentiae" 9. Was das Kunstwissen im Bereich des Herstellbaren ist, das bedeutet das Wissen des Moralphilosophen im Bereich des Moralischen; dem „Experten" im technischen Bereich aber entspricht der „Kluge". Jenem ist ein allgemeines Wissen eigen, das gewissermaßen noch weit entfernt ist von der Leitung oder Anordnung konkreter Akte. Diese aber, also der Habitus der Klugheit und der Sachverstand des Experten, beinhalten ein partikuläres Wissen, das unmittelbar dirigierenden Charakter hat 10 . Da nun das Allgemeinere eher in den Bereich des spekulativen Wissens gehört, erscheint auch hier der jeweils allgemeinere Habitus im Verhältnis zu jenem unmittelbar das Handeln dirigierenden Wissen als „spekulativ". Mit anderen Worten: Das Kunstwissen hat im Vergleich zum Wissen des sachverständigen Experten theoretischen Charakter. Erläutert werden kann das durch einen Blick auf die seit Avicenna in diesem Zusammenhang immer wieder genannte Medizin: Als allgemeines Wissen von den Ursachen und möglichen Behandlungsarten bestimmter Krankheiten erscheint sie als theoretische Wissenschaft im Vergleich zu jenem Wissen des Arztes, das dem Kranken im konkreten Krankheitsfalle eine bestimmte Medizin verschreibt. Andererseits können so traditionell rein theoretische Sätze in ihrer praktischen Relevanz erscheinen, wie z. B. die theologischen Wahrheiten „Gott ist dreifaltig" oder „der Vater zeugt den Sohn", weil sie 8

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10

Cf. e.g. Thomas von Aquin, S. Theol. II —II, 47,8 und Johannes a S. Thoma, Cursus Philosophicus Thomisticus I, ed. B. Reiser (Marietti) 1930, 2 1948, 284 a. Duns Scotus, Ord. prol. p.5 q . 1 - 2 , n.351, ed. Vat. I 228. Cf. auch Ord. III, d.36, in: A. Wolter, Duns Scotus on the Will and Morality, Selected and Transi, with an Introduction by Allan B. Wolter, Washington 1986, 4 0 6 - 4 0 8 . Duns Scotus, Lectura prol. p.4, q.l — 2, n.174 (ed. Vat. X V I 58); cf. auch Ord. prol. p.5, q . 1 - 2 , n.351 (ed. Vat. I 228).

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virtuell den Begriff der Rechtheit des Willens und damit ein praktisches Element enthalten. In dieser Weise kann alles Wissen im Vergleich als eher „theoretisch" oder „praktisch" erscheinen, wobei ich hier den Scotischen Praxisbegriff nicht zu erläutern brauche 11 . Bei Scotus können wir somit die Relativierung der Begriffe des Theoretischen und Praktischen beobachten. Das Wissen der Kunst hat in diesem Sinne einen theoretischen Charakter im Vergleich zum Wissen des „Experten" 12 . Dementsprechend ist auch das Wissen des Moralphilosophen, verglichen mit dem Wissen des „Experten" im Bereich des Moralischen, also mit dem Wissen der „Klugheit", theoretischer Natur. Diese Theorie des Duns Scotus wird Gegenstand der Ockhamschen Kritik. Sie bezieht sich vor allem auf die zu enge Bedeutung des Begriffs der directio. In der Scotischen Lehre ist nach Ockham impliziert, daß die Moralwissenschaft nur durch die Vermittlung der Klugheit, d. h. die Tätigkeit der sittlich engagierten Vernunft, die der „Erfahrung" im Bereich des Herstellbaren entspricht, direktiven Charakter haben kann. Aber es ist denkbar, daß jemand ganz ohne dieses Element der sittlichen Erfahrung zur Erkenntnis eines partikulären Satzes gelangt, der unmittelbar zur Praxis hinleitet. Jemand kann z. B. die evidente Erkenntnis des allgemeinen Satzes „jedem Wohltäter ist Gutes zu tun" (omni benefactori est benefaciendum) allein durch „Belehrung", d. h. als eine selbstevidente Wahrheit haben. Wenn er dann aufgrund sinnlicher, nicht sittlicher Erfahrung zur evidenten Erkenntnis eines kontingenten Satzes gelangt von der Art: „Dieser da ist ein Wohltäter", weil er ihn z. B. Gutes tun sieht, dann ergibt sich für ihn notwendig, daß er ihm seinerseits Wohltaten erweisen muß. So ist nach Ockham die evidente Erkenntnis einer praktischen Konklusion ohne die Vermittlung der „Klugheit", d.h. der Erfahrung der sittlichen Vernunft möglich (per doctrinam et non per experientiam)13. Außerdem unterstellt die Scotische Theorie, daß die Erkenntnis eines partikulären Satzes sozusagen „unmittelbarer" zur Praxis hinleite, als die eines allgemeinen Satzes. In Wirklichkeit sind die Maior und die Minor eines Syllogismus die Teilursachen der partikulären Konklusion und haben als solche beide in gleicher Weise direktiven Charakter 14 . In diesem Sinne könnte nach Ockham einer, der Moralphilosophie studiert, ohne jeden Akt der „Klugheit", ja ohne jedes Engagement der sittlichen Vernunft, sich die Kenntnis aller allgemeinen praktischen Sätze erwerben, die ein anderer aufgrund der Erfahrung seiner sittlichen Vernunft hat, und so einen ebenso

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Cf. „Praxis", Hist. Wb. Philos. 7, ed. J. Ritter und K. Gründer, Basel 1989, 1 2 8 7 - 1 2 9 5 . Cf. Duns Scotus, Ord. prol. p.5, q.l —2, n.361 (ed. Vat. I 234): „Ita posset ars poni habitus speculativa respecta habitus experti, quia ars ... non ita immediate est directiva, ..." Guillelmi de Ockham, Quaestiones Variae q.VI, a.X, OTh Vili, ed. G. J. Etzkorn, F. E. Kelley, J. C. Wey, St. Bonaventure N. Y. 1984, 283. G. de Ockham, Quaestiones Variae q.VI, a.X, OTh Vili, 284.

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vollkommenen Habitus des sittlichen Wissens besitzen wie jeder andere, wenngleich — wie Ockham hinzufügt — nur mit Mühe 15 . Wie leicht erkannt werden kann, verbirgt sich hinter solchen Gedanken ein anderer Begriff des Praktischen und des praktischen Wissens, als er uns bei Scotus begegnete. Nach Ockham ist all jenes Wissen praktischer Natur, das uns etwas als von uns selbst Tubares (aliquid operabile a nobis) vorstellt, im Unterschied zu einem rein spekulativen Erkennen unserer Handlungen, das keinerlei Anweisung enthält 16 . Deswegen ist der Begriff der notitia practica mit dem der notitia directiva gleichbedeutend. Darunter fallt sowohl das Kunst- wie auch das Handlungswissen. Ockham unterscheidet sie als die notitia ostensiva und notitia dictativa, ein Begriffspaar, das schon Duns Scotus benutzte, aber zur Unterscheidung zwischen theoretischem und praktischem Wissen 17 . Das Wissen der Künste ist nach Ockham eine notitia ostensiva, insofern es nur den Weg weist, w i e etwas gemacht werden kann. Das sittliche Wissen dagegen ist eine notitia dictativa, weil nur es sagen kann, d a ß etwas zur rechten Zeit gemacht werden soll. Die Hausbaukunst z. B. zeigt, daß ein Haus aus Holz und Steinen, mit einem bestimmten Fundament, den geeigneten Wänden und einem passenden Dach gebaut werden muß — wenn es gebaut werden soll. Ob es aber gebaut wird, wann und wann noch nicht, das entscheidet die sittlich engagierte Vernunft, die Klugheit. In diesem Sinne ist das Wissen aller Künste, der Grammatik, Rhetorik, Logik, aller mechanischen Künste, aufzeigendes Wissen, das Wissen, wie etwas gemacht wird und so dirigierendes Wissen. Das Handlungswissen ist dagegen direktiv, insofern es zu bestimmter Zeit die entsprechende Handlung diktiert. Ockham kann deswegen den Unterschied kurz so zusammenfassen: Gegenstand des Kunstwissens ist das herzustellende Produkt der Tätigkeit, Gegenstand des Handlungswissens aber ist die Tätigkeit selbst 18 . An dieser Stelle ist gut zu erkennen, inwiefern Ockhams Konzeption des praktischen Wissens ein Bindeglied zwischen der aristotelischen und der modernen, sprich: kantischen Auffassung darstellt. Denn zweifellos bringt Ockham einerseits durch die Unterscheidung zwischen notitia ostensiva und notitia dictativa das auf den Begriff, was Aristoteles mit Techne und Phronesis meinte. Andererseits aber deutet diese Unterscheidung zugleich auch nach vorne. Die moderne Forschung hat mit Recht darauf hingewiesen, daß darin eine gewisse Verwandtschaft

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G. de Ockham, Scriptum in Librum Primum Sent. Ord. prol. q.ll, OTh I, ed. G. Gài et S. Brown, St. Bonaventure N. Y. 1967, 320, 14 sqq. Cf. G. de Ockham, Ord. prol. q.ll, OTh I, 315, 20sqq. Ord. prol. q.5, q.l—2, n.301 (ed. Vat. I 198): notitia ostensiva, non directiva-, cf. ibid. n.330 (I, 2 1 6 ) .

18

G. de Ockham, Ord. prol. q.ll, OTh I 315, 6 - 3 1 7 , 5 . Cf. ferner Quaestiones in Librum Tertium Sent. (Reportatio) q.12, OTh VI, ed. F. E. Kelley et G. J. Etzkorn, St. Bonaventure, N. Y. 1982, 420. Und Summula Phil. Nat. Praeambula OP VI, ed. S. Brown, St. Bonaventure, N.Y. 1984, 149, 2 9 8 - 1 5 0 , 321.

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zu Kants berühmter Unterscheidung zwischen dem hypothetischen und kategorischen Imperativ zu erkennen ist 19 . So enthält in der Tat die notifia ostensiva, d. h. das Kunstwissen eine bedingte Aufforderung. Es ist eine bedingte Praxisanweisung nach der Art: „Wenn du ein Haus bauen oder wenn du einen Syllogismus konstruieren willst, dann mußt du es so oder so machen" 20 . Das sittliche Wissen dagegen gebietet ganz ohne Rücksicht auf anderes Gewolltes und in diesem Sinne unbedingt oder kategorisch. „Ethics, then, like the categorical imperative, directs human action without conditions" 21 . Man muß freilich hinzufügen, daß nach Kant der kategorische Imperativ (zumindest in seiner ersten Form) ein einziger ist, ganz ohne Inhalt und nur zur Prüfung des in den Maximen Gegebenen geeignet, während es nach Ockham vielerlei derartig kategorisch Gebotenes, d. h. viele inhaltlich gefüllten kategorisch gebietenden notitiae dictativae gibt 22 . Während Ockhams Unterscheidung zwischen notifia ostensiva und notifia dictativa auf diese Weise Elemente der modernen Lehre des Sollens vorzubereiten scheint, ist seine Charakterisierung der Moralwissenschaft selbst als einer notifia dictativa von einem modernen Selbstverständnis des praktischen Wissens weit entfernt. Denn Kant hat seine Theorie vom kategorischen Imperativ nicht — weder die „Kritik der praktischen Vernunft" noch die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" — als praktisches Wissen verstanden. Wie weit die Ockhamsche Auffassung von der praktischen Wissenschaft als einer notifia dictativa von einem modernen Verständnis der Moralphilosophie entfernt ist, zeigt jener berühmte Satz, den M. Scheler einem Schüler als Antwort gab, als der auf den Widerspruch hinwies, daß der Begründer der materialen Wertethik zwar die Ordnung der Werte so überzeugend darzustellen wisse, ihr aber selber in seiner Lebensführung nicht entspreche: „Geht denn der Wegweiser in die Rich19

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Cf. T. M. Holopainen, William Ockham's Theory of the Foundations of Ethics, Helsinki 1991, 50 ff. L. Freppert, The Basis of Morality Accordung to William Ockham, Chicago 1988 und A. Donagan, The Theory of Morality, Chicago 1977 und S. Knuuttila, Über praktische Argumentation und Logik des Wollens im Mittelalter, wird erscheinen, in: Argumentationen, ed. K. Jacobi. G. de Ockham, Summula phil. nat. praeambula, OB VI 149, 305: „Et sie artes mecbanicae sunt practicae: numquam enim ars aedificatoria dictât quod modo est faciendum, sed hoc pertinet ad prudentiam vel ad moralem philosophiam; sed tantum docet quod si aliquis vult aedificare debet ex talibus et taliter debet aedificare. Et isto secundo modo accipiendo notitiam practicam, logica, grammatica et rhetorica sunt notitiae practicae non primo modo. Numquam enim logica docet quod est sjllogi^andum sed docet quod si quis velit syllogi\are debet primo praemittere maiorem, secundo minorem debitam et tertio conclusionem." Cf. T. Holopainen, I.e., 55/56. Cf. I Ord. prol. q.12, OTh I 338,12: „... et aliquae veritates sunt practicae, sicut ,Deus est diligendus ex toto corde' etc., ,sabbatum est sanctificandum', ,orandum est pro loco et tempore' et huiusmodi." Ibid. I 367, 15: „Et ideo notitia qua cognoscitur quod Deo est oboediendum, Deus est diligendus, est notitia practica; similiter ilia est practica qua cognoscitur quod non est moechandus, quod parentes sunt honorandi propter Deum et sic de aliis."

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tung, die er zeigt?" 23 Offenkundig ist — wenn das als eine für modernes Denken repräsentative Auffassung genommen werden darf — die Moralwissenschaft nach moderner Auffassung eine notitia ostensiva. Der actus dictandi, der beim Begriff der notitia dictativa mitgedacht werden muß, ist seiner formalen Bestimmung nach — gemäß der Ockhamschen Lehre — die Zustimmung oder Ablehnung eines schon gebildeten Satzes, und muß als Wesenselement eines jeden sittlichen Aktes gedacht werden. Denn nach Ockham besteht das Sittliche eines sittlichen Aktes gerade darin, daß der Wille das von der rechten Vernunft Gebotene will, allein weil es von ihr geboten ist 24 . Diese These ist im Nominalismus aufgenommen und z. T. verschärft worden. Nach Pierre dAilly z. B. ist das sittlich Gute oder Schlechte nicht deswegen (vom göttlichen Gesetz) geboten oder verboten, weil es in sich schon gut oder schlecht ist, sondern umgekehrt ist es dadurch gut oder schlecht, weil es geboten bzw. verboten ist 25 . Würde der Wille das von der rechten Vernunft Gebotene akzeptieren, weil es in sich schon z. B. erfreulich ist oder aus einem anderen Grunde, so würde ja eine notitia ostensiva ganz ohne ein Gebot der rechten Vernunft genügen. Die Konformität mit der rechten Vernunft ist nun aber das Kriterium für die Sittlichkeit des Aktes und damit das Wollen des von der rechten Vernunft Gebotenen, insofern es von ihr geboten ist 26 . Während die praktische Vernunft nach aristotelisch-scholastischem Verständnis ihre Entscheidungen trifft vor dem Hintergrund eines schon eingeübten, habituellen Verhaltens, also moralischer Tugenden, die — nach allgemein scholastischer Lehre — garantieren, daß das Handeln „prompt" und „mit Freude" erfolgt, wird hier bei Ockham — so scheint es — die Kantische Lehre von der kategorischen Strenge des Moralischen vorbereitet. Ganz richtig charakterisiert B. Wald den „Wandel des aristotelischen Begriffs praktischer Vernunft" bei Ockham: „Der Wille empfangt den Spruch der sittlichen Einsicht nicht als etwas ihm gleichsam vom Wesen her Vertrautes, ... sondern der Anspruch des Sittlichen im Urteil der recta ratio trifft auf ihn wie ein nackter Imperativ" 27 . Tatsächlich ist in der Ockhamschen 23 24

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Zu dieser Geschichte cf. H.-G. Gadamer, I.e., 180. Das von der rechten Vernunft Gebotene und der Inhalt des göttlichen Gesetzes fallen nach Ockham freilich zusammen. Deswegen sind auch der Gehorsam gegenüber dem Diktat der rechten Vernunft und die Liebe zu Gott identische Motive des sitdichen Handelns. Cf. e. g. OTh Vili 335; dazu das letzte Kapitel der Arbeit von T. Holopainen. Cf. Petrus de Ailliaco, Quaestiones super libros sententiarum, Straßburg 1490 (ND Ffm 1968) I d.14, a.l, B: „Nec ideo preeipit (seil. Deus) bona quia bona sint velprohibet mala quia mala sint, sed ... ideo bona sunt quia preeipiuntur, et mala quia prohibentur." Cf. auch Principium in secundum Sent. D: „nullum est ex se peccatum sed precise quia lege prohibitum" Cf. G. de Ockham, Quaestiones Variae q.VII, a.4, OTh VII, ed. G. J. Etzkorn, F. E. Kelley, J. C. Wey, St. Bonaventure N. Y. 1984, 395, 451 sqq. B. Wald, Genitrix Virtutum. Zum Wandel des aristotelischen Begriffs praktischer Vernunft, Münster 1986, 127.

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Bestimmung des Sittlichen die kantische Unterscheidung des pflichtgemäßen Handelns und des Handelns „aus Pflicht" schon angelegt. Es bleibt einer späteren Untersuchung vorbehalten zu zeigen, inwiefern Kants ethischer Rigorismus Elemente einer ganz bestimmten, hier bei Ockham beginnenden Tradition, insbesondere auch der Lehre von der sogenannten virtus heroica aufgreift und seiner kritischen praktischen Philosophie integriert. Aber hinter der Kritik Ockhams an der scotischen These steckt noch mehr als nur eine Veränderung des Begriffs des Praktischen. Im Hintergrund steht das Problem, das die Philosophie des 14. Jh. insgesamt bewegte. Wie ist die Evidenz und Gewißheit menschlicher Kenntnis möglich? Ockham bezieht diese Frage gerade auch auf das praktische Wissen. Wie ist Evidenz und Gewißheit im Bereich des Praktischen möglich, das ist die Frage, die seine Konzeption der Ethik bestimmt und deren Beantwortung in wichtigen Punkten eine Distanzierung von der aristotelischen Tradition darstellt. Wenn Ockham den Begriff der scientia moralis gebraucht, meint er das Wissen im strengen Sinne. Nach der berühmten Definition ist das Wissen die evidente Erkenntnis eines notwendigen und bezweifelbaren Satzes, der in einem syllogistischen Diskurs durch notwendige, evidente Sätze selbst evident gemacht werden kann 28 . Während durch die Bestimmungen der Notwendigkeit und der Bezweifelbarkeit alle kontingenten und selbstevidenten Sätze ausgeschieden werden, macht die letzte Bestimmung den Unterschied eines wissenschaftlichen Satzes zu „gewissen ersten Prinzipien, die nicht selbstevident und folglich bezweifelbar sind" kenntlich 29 . Damit kommt eine Unterscheidung ins Spiel, die für das Denken Ockhams und den gesamten Nominalismus von grundlegender Bedeutung ist: die Unterscheidung zwischen principia per se nota und principia per experientiam nota. Die „letzte Analyse" eines Satzes aus dem Bereich der „Kunst" oder der „Wissenschaft" führt in einigen Fällen zu selbstevidenten, in anderen zu durch Erfahrung bekannten Prinzipien. Mit anderen Worten: Nicht jede Kunst und jede Wissenschaft hat selbstevidente Prinzipien, manche von ihnen haben Prinzipien, die nur durch Erfahrung bekannt sein können 30 . Wie an anderer Stelle besonders im Hinblick auf die theoretische Philosophie dargelegt worden ist, richtet sich diese Unterscheidung Ock28 29

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Cf. G. de Ockham, Ord. I prol. q.2, OTh I 76, 13 sqq. und 87,20 sqq. Cf. Summa Logicae III—2 cap. 9, OP I 522,31: „Unde omnia quae nomisi per experientiam cognoscipossunt dubitabilia sunt, ..." Cf. Ord. I prol. q.2, OTh I 84,9 sqq, Zur Bedeutung der principia per experientiam nota für den Ockhamschen Wissenschaftsbegriff cf. J. Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphilosophie, Berlin 1969, 250 sqq. und vom Verf., „Der Experte und der Künstler. Das Verhältnis zwischen Erfahrung und Vernunft in der spätscholastischen Philosophie und der neuzeitliche Wissensbegriff', in: Philos. Jb. 90 (1983), 57 — 82 und „Luther und die scholastische Prinzipienlehre", in: Medioevo XIII (1987), 303 — 340.

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hams gegen entsprechende Vorstellungen des Duns Scotus 31 . Es gibt — das ist die im Nominalismus allgemein übernommene These 32 — neben den selbstevidenten auch allein durch Erfahrung erwerbbare, erste, unmittelbare Prinzipien von der Art wie „calor est calefactivas". Dieser Satz ergibt sich nicht schon — wie Duns Scotus annahm — aufgrund der evidenten Erkenntnis des Wesens des calor, sondern erst die Erfahrung macht diesen Satz evident. Wichtig ist die Annahme solcher nur durch Erfahrung bekannt werdender Sätze auch deswegen, weil davon der für Ockham so wichtige Begriff des „notwendigen Satzes" mitbetroffen ist. Ein notwendiger Satz ist nach Ockham immer eine propositio per se primo modo oder eine propositio per se secundo modo33. Die letztere Art der Sätze, für die beispielhaft ,Jhomo est risibilis" steht, kann nach Ockham — und auch das ist gegen Duns Scotus gesagt — nur durch Erfahrung gewußt werden 34 . Von daher ist das ockhamsche Diktum gut zu verstehen, daß alles evident Erkannte entweder selbst evidenter Natur ist oder auf Sätze zurückgeführt werden kann, die entweder selbstevident oder durch Erfahrung bekannt sind 35 . Für die theoretische Philosophie ergibt sich so, daß neben den selbstevidenten Sätzen andere allgemeine Sätze als Prinzipien der Kunst und Wissenschaft anzunehmen sind — und dafür beruft sich Ockham auf den Schluß der aristotelischen Zweiten Analytiken und den Beginn der Metaphysik —, die nur durch Erfahrung evident erkannt werden können 36 . Diese besondere im Bereich der theoretischen Philosophie entwickelte Prinzipienlehre überträgt Ockham auf die praktische Philosophie: „Ita in practicis aliquando sunt principia per se nota et aliquando tantum nota per experientiam" ίΊ. Eben dadurch wurde nun die Moralphilosophie als strenge Wissenschaft möglich. Ockham hat deswegen die positive Morallehre von der nichtpositiven unterschieden. Jene ist die Wissenschaft der Juristen, die auf positiven Gesetzen beruht, welche den Menschen nicht aufgrund ihrer Selbstevidenz verpflichten, sondern nur weil sie gebieten oder verbieten. Sie ist deswegen keine Wissenschaft im strengen Sinne (scientia demonstrativa). Die nichtpositive Moralwissenschaft dagegen ist allein

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Cf. die in der vorigen Anmerkung angegebenen Arbeiten vom Verf. Zu Buridan cf. e. g. G. Krieger, Der Begriff der praktischen Vernunft nach Johannes Buridanus, BGPhThMA NF 28, Münster 1986, 69 sqq. G. de Ockham, Ord. prol. q.6, OTh I 178,2. Ibid. prol. q.9, OTh I 245, 19-246,3. Ibid. prol. q.7, OTh I 187,21 sqq. OTh I 318,15: „... ista miversalia non possunt evidenter cognosci nisi per experientiam et per consequens praesupponitur experientia, ..." Cf. I 350,11 : „Assumptum patetper Philos. I Met. et II Post., quodper experientiam adquiritur universale quod est principium artis et scientiae ..." Cf. auch Summa Logicae, OP I 511,3 sqq. Cf. OTh I 319.

Kunstwissen und sittliches Wissen

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strenge Wissenschaft, weil sie nicht auf undurchschaubaren Befehlen eines Höheren, sondern auf Prinzipien beruhen, die entweder selbstevident oder durch Erfahrung bekannt sind 38 . Deswegen hat der Begriff der scientia moralis bei Ockham auch einen doppelten Sinn: Er bezeichnet einmal jenes evidente, durch Belehrung vermittelbare Wissen, das auf solchen selbstevidenten Prinzipien beruht wie: Der Wille muß sich der rechten Vernunft angleichen, alles Böse ist zu tadeln und zu fliehen, oder, was am häufigsten vorkommt: Jedem Wohltäter ist Gutes zu tun. Zum anderen aber kann die Evidenz moralphilosophischen Wissens auch auf durch Erfahrung bekannten Prinzipien beruhen wie z. B.: Der Zornige ist durch schöne Worte zu besänftigen u. dgl. Solche durch Erfahrung gewonnenen praktischen Prinzipien entsprechen dem Wissen der Klugheit, d. h. der sittlichen Erfahrung, die in den einzelnen Lebenssituationen Entscheidungen trifft. In diesem Zusammenhang muß auf die gegenüber der aristotelischen Tradition völlig veränderte Bedeutung und Funktion des Klugheitsbegriffs bei Ockham hingewiesen werden. Klugheit in des Wortes eigentlicher, d. h. aristotelischer Bedeutung, wonach sie eine aus der Erfahrung genommene unmittelbar anleitende Erkenntnis eines zu Tuenden ist 39 , muß nicht in jedem Falle mit moralischer Tugend verbunden sein. Der Satz „dieser Zornige muß durch schöne Worte besänftigt werden", der auf der Erfahrung beruht, daß das die rechte Art ist mit ihm umzugehen, kann in evidenter Weise erkannt werden, „ohne jede moralische Tugend", denn derjenige, der ihn erkennt, kann es trotzdem ablehnen, diesen Menschen zu besänftigen. Logisch gesehen liegt das darin begründet, daß — wie Ockham oft betont — eine Prämisse des praktischen Syllogismus durchaus rein spekulativer Natur sein kann. So ist z. B. in dem Syllogismus: „Eltern sind zu ehren, das da sind Eltern, also sind sie zu verehren" die Minor offenkundig ein theoretischer Satz 40 . Etwas anderes ist es mit Sätzen, die aufgrund der Erfahrung der eigenen Akte gewonnen werden. Sätze wie z. B. „derjenige, der Gott vollkommen liebt und den Akt der Selbstbeherrschung um Gottes willen, der verachtet leicht die Akte der Maßlosigkeit" u. ä. können evident in ihrer Wahrheit in der Tat nur dann erkannt werden, wenn der Erkennende zuvor die Tugend der Selbstbeherrschung geübt und so die Erfahrung der Wahrheit dieses Satzes sozusagen am eigenen Leibe gemacht hat. Die sittliche Erfahrung, soweit sie Grundlage eines evidenten praktischen Wissens ist, wird somit beschränkt auf die Erfahrung der eigenen Akte. Wie im Bereich des Theoretischen die „innere Erfahrung", d. h. die theoretische Erkenntnis der eigenen Akte (neben den principia per se nota) die sicherste, weil 38

39 40

G. de Ockham, Quodlibeta Septem II q.14, OTh IX, ed. J. C. Wey, St. Bonaventure N.Y. 1980, 177. Cf. G. de Ockham, Quaestiones Variae q.VII, a.l, OTh VIII 330. Cf. Summula ... Praeambula OP VI 150, 329 sqq.

512

Theo Kobusch

unbezweifelbare Grundlage des Wissens darstellt, so macht auch im Bereich des Praktischen die auf die eigenen Akte beschränkte Erfahrung das praktische Wissen gewisser als anderes, weswegen Ockham es das bei weitem subtile, nützliche und evidente Wissen nennt 41 . An anderer Stelle sagt Ockham sogar: „Ich behaupte, daß die Klugheit ohne moralische Tugenden sein kann, ohne irgendeinen Widerspruch." Denn der Wille kann „das Gegenteil dessen tun, was geboten ist von der Vernunft". Damit ist die Bedeutung des Tugendwissens, das sich aus dem Engagement der Vernunft, aus der sittlichen Erfahrung ergibt, als einer Bedingung für die praktische Erkenntnis auf ein Minimum reduziert. Die evidente Erkenntnis praktischer Sätze gründet sich somit nur noch in jenen Fällen auf die sittliche Erfahrung, in denen die Erkenntnis der eigenen Akte impliziert ist. Sonst aber handelt es sich um selbstevidente Prinzipien, auf denen die evidente Erkenntnis des zu Tuenden beruht.

III. Die Wirkungsgeschichte dieser bedeutsamen ockhamschen Veränderung im Verständnis der Moralphilosophie kann hier nicht dargelegt, sondern nur angedeutet werden. Während die ockhamsche Unterscheidung zwischen den principia per se nota und den principia per experientiam nota bald zum Allgemeingut der nominalistischen Autoren gehörte, ist der Einfluß seiner Konzeption der Moralphilosophie viel schwerer festzustellen. Obwohl Gregor von Rimini genau wie Ockham den historisch vorgegebenen Begriff der Praxis und der notitia practica (Scotus und Petrus Aureoli) kritisiert, bleibt die Unterscheidung zwischen sittlichem und technischem Wissen bei ihm doch einigermaßen verschwommen; sie sind bei Gregor unter dem Begriff des praktischen Wissens zusammengefaßt 42 . Viel deutlicher ist die Rezeption der Ockhamschen Position bei G. Biel zu beobachten. Sie betrifft nicht nur die Unterscheidung zwischen den beiden Prinzipienarten, sondern auch die Konzeption der Moralphilosophie selbst. Auch nach dem „letzten Scholastiker" ist die „Klugheit" ein diktatives Wissen, durch das gewußt wird, wann etwas getan werden muß und wann es nicht getan werden darf, wo, zu welchem Zweck usw., d. h. es ist ein Wissen von den „Umständen" der Handlung. Dementsprechend muß das Wissen der Künste, der freien wie der mechanischen, als „osten-

41

42

Quodl. II q.14, OTh IX 177. Zur Unableitbarkeit und Unbezweifelbarkeit der Sätze innerer Erfahrung cf. Ord. I prol. q.l, OTh I 40,4—41,3. Dazu vom Verf., „Der Experte und der Künstler", 62sq. Gregorii Ariminensis OESA, in: 1 Sent. prol. q.5, a.2, edd. W. Eckermann coll. M. Schulze, Berlin/New York 1981, 155 sqq.

Kunstwissen und sittliches Wissen

513

sives" Wissen verstanden werden, weil durch sie nur der Modus der Tätigkeit aufgezeigt wird 43 . Aber nicht nur diese formale Unterscheidung zwischen Kunst- und Handlungswissen hat G. Biel übernommen, sondern auch die ockhamsche Bestimmung des Sittlichen, nach der der Wille das von der rechten Vernunft Gebotene will, allein weil und insofern es geboten ist 44 . Schließlich wird die rechte Vernunft im Sinne derjenigen „Klugheit" verstanden, die von der Zustimmung des Willens unabhängig ist, so daß die „Klugheit" jene Instanz darstellt, die den Befehl über das „Daß" oder „Daß nicht" des zu Tuenden gibt, ohne durch eine moralische Tugend vorgeprägt zu sein. Im Gegenteil: Wenn die Vernunft erkannt hat, was hier und jetzt zu tun oder zu lassen ist und die Klugheit einen entsprechenden Befehl gibt, kann der Wille noch immer das Gegenteil davon wollen. Nur eine Art der Klugheit kann nach G. Biel wie nach Ockham nicht ohne das aktuell moralische Wollen, also nicht ohne moralische Tugend gedacht werden: die evidente Erkenntnis des eigenen Willensaktes. Derjenige, der Gott über alles liebt, beachtet gerne alles, was dem göttlichen Gesetz entgegengesetzt ist. Diese Erkenntnis kann nur derjenige haben, der eine eigene Erfahrung der Gottesliebe hat. G. Biel hat auf diese Weise die ockhamsche These von der diktierenden Klugheit wiederholt, die — mit einer Ausnahme — ohne moralische Tugend sagen kann, daß etwas getan oder gelassen werden soll, wenngleich der Wille diesem Befehl nicht notwendig zu folgen braucht. Offenkundig beginnt hier die Verabschiedung der aristotelisch-scholastischen Tugendlehre. Sie wird vollendet in dem bei Luther offen ausgesprochenen „Bruch" 45 mit der aristotelischen Tradition.

43

44

45

G. Biel, Collectorium circa quattuor libros Sent. Prol. q.ll, a.2 (edd. W. Werbeck et U. Hofmann) Tübingen 1973, I 7 0 - 7 1 . G. Biel, Collectorium ... Liber tertius, d.36, q. un., Tübingen 1979, 605,20: „Nam actus voluntatis non est virtuosus, nisi eliciatur propter hoc, quia sic dictatum est;" 605,29: „Omne dictatum a ratione recta est faciendum propter hoc, quia sic dictatum est." Cf. dazu Β. Wald, Genitrix virtutum. Zum Wandel des aristotelischen Begriffs praktischer Vernunft, Münster 1986, 253 sqq.

Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter

w DE

G

Miscellanea Mediaevalia Veröffentlichungen des Thomas-Instituts der Universität zu Köln

Herausgegeben von Albert Zimmermann

Band 22/2

Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1994

Scientia und ars im Hochund Spätmittelalter 2. Halbband

Herausgegeben von Ingrid Craemer-Ruegenberg und Andreas Speer Für den Druck besorgt von Andreas Speer

Walter de Gruyter · Berlin · New York

1994

Die Deutsche Bibliothek —

CIP-Einheitsaufnahme

Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelaltei / hrsg. von Ingrid Craemer-Ruegenberg und Andreas Speer. — Berlin ; New York : de Gruyter. (Miscellanea mediaevalia ; Bd. 22) ISBN 3-11-014058-6 NE: Craemer-Ruegenberg, Ingrid [Hrsg.]; GT Halbbd. 2 (1993)

ISSN 0544-4128 © Copyright 1993 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin

Inhaltsverzeichnis (2. Halbband)

Theologica (Tübingen) Theologie zwischen Weisheit und Wissenschaft

GEORG W I E L A N D

(Pisa) Theologie und menschliche Wissenschaften in den principia Aegidius Romanus

517

CONCETTA L U N A

des 528

(Bochum) Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit in der Summa des Heinrich von Gent (f 1293)

548

(Jena) Erkennen als Erkennen Gottes, Epistemologische Aspekte der Intellekttheorie Meister Eckharts

569

LUDWIG HÖDL

UDO KERN

Mystica (Hannover) Kontemplation und Konstruktion. Zum Verhältnis von Mystik und Wissenschaft bei Hugo von St. Viktor

589

(Bonn) „Theologica perscrutatio labi debet ad inflammationem affectus". Der Zusammenhang von mystischer Theologie und Philosophie bei Johannes Gerson

605

(Eichstätt) Vera scientia christianae philosophiae. rologium sapientiae" II.l und 3

620

GÜNTHER MENSCHING

GERHARD KRIEGER

RÜDIGER B L U M R I C H

Zu Heinrich Seuses „Ho-

(Wuppertal) Vom Abgrund des Wissens. Denken und Mystik bei Tauler

JOHANN KREUZER

633

VI

Inhaltsverzeichnis

Judaica (Hannover) Der Begriff der scientia bei Levi ben Gerson

653

(Paris) Scientia bifrons. Les ambivalence de la 'hokhmâh (sapientia / scientia) dans la pensée juive du moyen âge occidental après Maïmonide

667

SUSANNE M Ö B U S S

JEAN-PIERRE ROTHSCHILD

Arabica (Tübingen) Al-Farabis Kommentar zu „De interpretatione" des Aristoteles. Ein Beitrag zur Entwicklung der Sprachphilosophie im Mittelalter

687

(Montréal) Rôle des traductions dans l'évolution de ars et scientia au haut moyen âge et à la fin du moyen âge

739

(Moskau) Begründung des rational-wahrheitstreuen Wissens in der mittelalterlichen arabisch-moslemischen Philosophie

755

JAKOB H A N S JOSEF SCHNEIDER

ALBERT NADER

EUGENIE FROLOWA

Studium (Prag) Artes und Bildung im mittelalterlichen Böhmen (vor der Gründung der Prager Universität)

777

(Prag) Zum böhmischen Bildungs- und Bibliothekswesen in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Vom Versuch der Errichtung der Prager Universität durch Wenzel II. zu ihrer Gründung durch Karl IV.

795

(Erfurt) Zum Prüfungsstoff ad gradum baccalaureatus in artibus liberalibus an der Universität Erfurt nach der collectio von 1420

807

M A R I E BLÁHOVÁ

IVAN H L A V Á C E K

JOHANNES K A D E N B A C H

Inhaltsverzeichnis

VII

Histórica (Köln) Imago Mundi. Marginalien zum „Weltbild" des Honorius Augustodunensis (insbes. Imago Mundi, 1,1 und 5 — 7)

A N N A - D O R O T H E E VON DEN B R I N C K E N

819

(Düsseldorf) „Ars" und „scientia" in der Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts

829

(Sofia) Das Naturalisieren der Geschichtsschreibung nach dem 12. Jahrhundert (Der Bedeutungswandel von persona, tempus und locus)

846

VERENA E P P

GEORGI K A P R I E V

Canonica G. W A L T H E R (Jena) Canonica sapiencia und civilis sciencia: Die Nutzung des aristotelischen Wissenschaftsbegriffs durch den Kanonisten Johannes von Legnano (1320—1393) im Kampf der Disziplinen . .

863

(Bonn) Universität und Konzil. Verfassungsrechtliche und wissenschaftstheoretische Einflüsse der Universitäten auf die Konzilien von Konstanz und Basel

877

HELMUT

JOSEF W O H L M U T H

Litterae (Heidelberg) Deutsche theologische Literatur des 12. Jahrhunderts und der Umbruch des Wissenschaftsverständnisses

895

(Bonn) Henri d'Andeli, La Bataille de VII Arts — ein Streit um den Niedergang des Studiums der Grammatik und Rhetorik an der Pariser Universität

900

(Heidelberg/Köln) Erkenntnis des Menschen in der Kunst des Archimimen. Zu Juan Luis Vives' Fabula de homine

918

ROSWITHA WISNIEWSKI

BRIGITTE STARK

H A N S G E R H A R D SENGER

Vili

Inhaltsverzeichnis

Aesthetica (Köln) Kunst und Schönheit. Kritische Überlegungen zur mittelalterlichen Ästhetik

945

(Köln) Ein Beitrag zum Verständnis von usus und ars im 11./12. Jahrhundert

967

(Köln) Ars aedificandi — ars celebrandi. Zum pulchritudo-Yetstinànìs in den Kirchweihbeschreibungen des Abtes Suger von SaintDenis

981

(Braunschweig) Humana inventa. Zur künstlerischen Darstellung der artes mechanicae

1008

(North Easton) Music as Art and Science in the Fourteenth Century

1023

A N D R E A S SPEER

GÜNTHER BINDING

HANNS PETER NEUHEUSER

JOHANNES ZAHLTEN

ANDRÉ GODDU

Namenregister

1047

Inhaltsverzeichnis (1. Halbband) INGRID C R A E M E R RUEGENBERG

(Köln) — A N D R E A S

SPEER

(Köln)

Vorwort

IX

(Köln) Bibliographie Prof. Dr. Albert Zimmermann

WOLFRAM KLATT

XXIII

Scientia & Ars HANNS M A R T I N KLINKENBERG

(Aachen)

Divisto philosophiae

3

(Sofia) The Rearrangement of the Liberal Arts in the First Half of the 13th Century: Grammar and Dialectics

20

(Louvain-la-Neuve) Scientia et ars dans les «Libri Sententiarum» de Pierre Lombard. Approche lexicographique

29

(Québec) Scientia et ars dans les introductions à la philosophie des maîtres ès arts de l'Université de Paris au XHIe siècle

45

O L E G GEORGIEV

JACQUELINE H A M E S S E

CLAUDE L A F L E U R

GEORGE M O L L A N D

The Quadrivium

(Aberdeen) in the Universities: Four Questions

66

(Krakau) Von den mittelalterlichen Ansätzen eines Wandels zum kopernikanischen Umbruch im Wissenschaftsverständnis

79

(Paris) De l'art des conjectures à la science divine selon Nicolas de Cues

95

MIECZYSLAW MARKOWSKI

JEANNINE Q U I L L E T

χ

Inhaltsverzeichnis

(Wiesbaden) Scientia signorum und Ars scribendi. Nikolaus von Kues

DETLEF THIEL

Zur Zeichentheorie des

(Fribourg) Dante Aligheri ou la convergence des arts et de la science . .

107

TIZIANA SUAREZ-NANI

126

Theorica (Bonn) Regularmethode und Axiomatik. Wissenschaftliche Methodik im Horizont der artes-Tradition des 12. Jahrhunderts

145

(Hildesheim) „Theophanie celestis emblema". Zu einem Theorematabegriff bei Alain de Lille

158

(Köln) Experientia — ars — scientia — sapientia. Zu Weisen und Arten des Wissens im Anschluß an Aristoteles und Thomas von Aquin

171

MECHTHILD DREYER

JOHANNES K Ö H L E R

NOTKER SCHNEIDER

GIUSEPPE G A L V A N

(Rom)

„Modus quo aliqua discutiuntur, debet congruere et rebus et nobis". II concetto di modus scientiae nella filosofia di San Tommaso d'Aquino

189

(Bonn) Scientia in se — scientia in nobis. Zur philosophischen Bedeutung einer wissenschaftstheoretischen Unterscheidung

204

LUDGER HONNEFELDER

Metaphysica (Amsterdam) Was heißt Metaphysik bei Thomas von Aquin?

217

(Leuven) Autour du commentaire (Ρ) de Siger de Brabant à la métaphysique

240

JAN A . AERTSEN

ROBERT WIELOCKX

Inhaltsverzeichnis

XI

(Krakau) L'art et la science dans les commentaires médiévaux cracoviens sur la Métaphysique d'Aristote

257

(Hagen) Nihil notum nisi complexum. Von der Sach- zur Satzwissenschaft am Beispiel der Metaphysik

266

(Mheer) John Buridan on Man's Capability of Grasping the Truth . . .

281

SOPHIE W L O D E K

J A N P. B E C K M A N N

LAMBERT M A R I E DE R I J K

Logica K L A U S JACOBI

Diale(c)tica

(Freiburg i. Br.) est ars artium, scientia scientiarum

(Paderborn) Wissenschaftstheoretische Differenzierungen zur Logik bei Johannes Buridan

307

CHRISTOPH K A N N

329

Mathematica (Pisa) An Aspect of Medieval Mathematics: Infinity in Number in Some English Commentaries of the XHIth Century

343

(Köln) Die Struktur mathematischer Urteile nach Thomas von Aquin, Expositio super librum Boethii De Trinitate, qu. 5 art. 3 und qu. 6 art. 1

354

CECILIA T R I F O G L I

GUDRUN SCHULZ

Physica (Sofia) Die Naturwissenschaft als Metaphysik der Natur bei Wilhelm von Conches

369

(Warschau) One more semi-Averroistic Physics-Commentary of the Late Thirteenth Century

381

TZOTCHO BOIADJIEV

ZDZISLAW K U K S E W I C Z

XII

Inhaltsverzeichnis

(Köln/Pisa) Wissenschaft und Glaube bei der Frage nach dem Ursprung der Materie in einigen ungedruckten Physikkommentaren aus dem 13. bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts

399

(München) Zur Funktion der aristotelischen Ursachenlehre in der Scholastik

421

(Dresden) Die Naturphilosophie als „scientia Ockham

440

S I L V I A DONATI

R O L F SCHÖNBERGER

HANS-ULRICH WÖHLER

realis"

bei Wilhelm von

Ethica (Brüssel) L'éducation morale et les arts chez Aristote et Thomas d'Aquin

449

D. JORDAN (Notre Dame) The Pars moralis of the Summa theologiae as Scientia and as Ars

468

(Kerkrade) Agere ex ignorantia. Uber die Unwissenheit im praktischen Wissen bei Thomas von Aquin

482

(Bochum) Kunstwissen und sittliches Wissen in der Philosophie des Nominalismus

499

G E R A R D VERBEKE

MARK

KLAUS HEDWIG

T H E O KOBUSCH

Theologica

Theologie zwischen Weisheit und Wissenschaft GEORG WIELAND

(Tübingen)

Wenn man mit Aristoteles 1 unter Weisheit jenes Wissen versteht, das aufs Allgemeine und Höchste und deshalb nicht auf das vor Augen Liegende und Selbstverständliche, sondern auf das Schwierige und nicht leicht Erkennbare zielt, ein Wissen, das um seiner selbst willen gesucht wird und für andere Formen des Wissens maßgeblich ist, dann liegt es auf der Hand, daß die Theologie sich in einem solchen Begriff wiedererkennen kann. Denn sie geht auf das schwer zu erkennende Höchste und begreift sich von daher als maßgebende Weise des Wissens. So nimmt ζ. B. Thomas von Aquin 2 den aristotelischen Gedanken auf und bestimmt den Weisen als den, der die höchste Ursache betrachtet und deshalb über alles andere mit größter Gewißheit urteilt und alles ordnet. Erkenntnis des Höchsten und die darin begründete umfassende Urteils- und Ordnungskompetenz bilden die wesentlichen Elemente bei der Bestimmung der Theologie als Weisheit, wie Thomas sie in der ersten Quaestio seiner Summa theologiae vorlegt 3 . Doch man muß sich bei dieser Bestimmung immer gegenwärtig halten, daß er dabei Weisheit nicht gegen Wissenschaft setzt sicut oppositum contra oppositum, sondern Theologie zugleich als Weisheit u n d Wissenschaft begreift 4 . Eine solche Auskunft läßt sich ihrer sachlichen Bedeutsamkeit leicht entkleiden, wenn man dabei — wie viele Zeitgenossen des Thomas 5 — Wissenschaft in einem so weiten Sinne versteht, daß darunter nicht nur das methodisch begründete Ursachenwissen, sondern auch sinnliche Wahrnehmung, innere Erfahrung, Meinungen und Glauben fallen können. Die Kennzeichnung der Theologie als Wissenschaft verliert dann nämlich ihre eigentliche Pointe und wird zu der baren Selbstverständlichkeit, daß das Wissen vom Höchsten immer auch mit Wissen um das Menschliche und Irdische einhergeht, während es im eigentlichen und strengen Sinne doch Weisheit bleibt.

1 2 3 4 5

Met. A 2. S. th. I I - I I 45, 1. S.th. I 1,6. In Boeth. De Trin. 2,2 ad 1. Cf. U. Köpf, Die Anfange der theologischen Wissenschaftstheorie, Tübingen 1974, 150— 154, 2 1 9 - 2 2 2 .

518

Georg Wieland

Alexander von Hales 6 hat diese Position auf die Formel gebracht, Theologie sei Weisheit als solche (sapientia ut sapientia), während die mit den ersten Ursachen befaßte Philosophie nur als Weisheit in der Form der Wissenschaft (sapientia ut scientia) gelten könne; denn sie vollende die menschliche Erkenntnis — und man muß hinzufügen: nur sie — nach den Regeln der Kunst und des vernünftigen Schließens, während die theologische Weisheit den Menschen durch Liebe und Furcht zur Vollendung führe. Mit dieser Unterscheidung läßt sich die These von der Theologie als Wissenschaft im eigentlichen Sinne, wie Thomas sie vertritt, in ihrer Bedeutung genauer bestimmen. Für ihn nämlich sind die „Regeln der Kunst und des vernünftigen Schließens" nicht bloß nützliche Instrumente zur Erschließung der heiligen Texte, für ihn ist die Theologie selbst nach den Gesetzmäßigkeiten der Wissenschaft konstruiert. Im Anschluß an Aristoteles beschreibt er den wissenschaftlichen Prozeß als ein „Fortschreiten von den Prinzipien zu den Schlußfolgerungen" 7 , also als ein Verfahren, bei dem die eine Wissenschaft konstituierenden Grundsätze in methodisch geregelter Beweisführung in ihrem Sinn, ihrer Bedeutung und ihren Folgen entfaltet und einsichtig gemacht werden. Bekanntlich unterscheidet Thomas 8 — wiederum mit Aristoteles — im Blick auf die Prinzipienebene zwei Wissenschaftstypen, einen, der die Gültigkeit seiner Prinzipien selbst verwaltet, und einen zweiten, für den diese Gültigkeit aus den Leistungen einer anderen Wissenschaft resultiert. Da die Theologie Gott nicht in sich, sondern nur als geoffenbarten erfassen kann und ihr folglich ihre Prinzipien nur im Glauben präsent sind, gehört sie zum zweiten Typus von Wissenschaft. Der kritische Punkt der Subalternationstheorie liegt in dem Umstand, daß der Theologe unter den für ihn unabweisbaren Erkenntnisbedingungen grundsätzlich nicht in der Lage ist, die für seine Disziplin geltenden Prinzipien in einem rationalen Verfahren selbst noch einmal einsichtig zu machen, eine Möglichkeit, die nach aristotelischem Verständnis jedenfalls prinzipiell gegeben sein muß, um von Wissenschaft reden zu können. Es scheint vor allem diese Problematik gewesen zu sein, die später — z.B. bei Duns Scotus 9 — zu Kritik und Ablehnung der Subalternationstheorie geführt hat. Doch zunächst ist mit ihr die Wissenschaftlichkeit der Theologie auf aristotelischer Grundlage gesichert. Es fragt sich jedoch, was mit diesem Ergebnis gewonnen ist und ob der Verwissenschaftlichungsprozeß nicht größeren Schaden als Nutzen bringt. Derartige Fragen und Besorgnisse begleiten den Vorgang. Ich nenne zwei Beispiele. 1228 6 7 8 9

S. th., Introd. qu. 1, cap. 1. In Post. Anal. I 36 (318): „Nam scientia est per decursum a principiis ad conclusiones." S.th. I 1,2 Cf. e. g. J. Finkenzeller, Offenbarung und Theologie nach der Lehre des Johannes Duns Scotus, Münster 1961, 2 1 1 - 2 1 5 .

Theologie zwischen Weisheit und Wissenschaft

519

mahnt Gregor IX. 10 die Pariser Theologen, ihr Fach ohne das Ferment, den Gärstoff, weltlicher Wissenschaft zu betreiben und das Wort Gottes nicht mit Dichtungen von Philosophen zu verfalschen. 1247 klagt der päpstliche Legat Odo von Chateauroux 11 über Theologen in Paris, die in ihren Disputationen philosophisch vorgehen und das christliche Erbe mit fremden Bestandteilen vermengen und so Verwirrung stiften, statt sich mit den bewährten Begriffen der Tradition zu begnügen. Die Frage, ob derartige Bedenken nicht selbst hinter den Standards und der Praxis einer etwa von Augustinus und dann von Hugo von St. Viktor repräsentierten Tradition zurückbleiben, kann hier vernachlässigt werden. Eine andere Frage drängt sich auf, und ihr soll im folgenden die Aufmerksamkeit gelten, warum nämlich die Theologie sich überhaupt auf den Weg zur Wissenschaft begeben und nicht an dem über Jahrhunderte bewährten, vor allem von Augustinus entwickelten Modell der sapientia Christiana festgehalten hat? Dieses Modell läßt sich beschreiben als den Versuch, alles Wissen, das sich vom Glauben her als sinnvoll erweist — es gibt nämlich auch Gegenstände des Wissens, die das menschliche Heil nicht betreffen, demnach außerhalb des Glaubensinteresses liegen und daher dem Verdikt der curiositas verfallen — also alles sinnvolle Wissen als ein geordnetes Ganzes zu begreifen. Als Prinzip dieser Ordnung fungiert der Glaube selbst, der als höchste Stufe der Erkenntnis zugleich alles sinnvolle weltliche Wissen in sich aufhebt und integriert. Die gängige Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Verwissenschaftlichung von Theologie ist die Aristoteles-Rezeption 12 . Durch den autonomen und universalen Anspruch der Philosophie, vor allem der Aristotelischen Metaphysik, wird die Theologie gezwungen, ihr Verhältnis zur Philosophie neu zu bestimmen, weil das augustinische Einheitsmodell der legitimen Selbständigkeit der Philosophie nicht gerecht werden kann. Diese historische Antwort ist sicher zutreffend, reicht aber nicht aus, weil sie der inneren Entwicklung der Theologie des 12. Jahrhunderts — vor der Rezeption der Analytica posteriora und der Metaphysik — nur ungenügend Rechnung trägt. Am Beispiel Abailards möchte ich zeigen, daß das sapientiale Einheitsmodell bereits in der ersten Hälfe des 12. Jahrhunderts in die Krise gerät, und zwar vornehmlich durch binnentheologische Verwerfungen. Abailard berichtet in der Historia calamitatum über die Anfange seiner theologischen Arbeit. Dort heißt es: „Ich befaßte mich damals zum ersten Mal 10 11 12

Chartularium Universitatis Parisiensis I nr. 59. Ibid. nr. 176. Cf. e. g. L. Honnefelder, Weisheit durch den Weg zur Wissenschaft. Theologie und Philosophie bei Augustinus und Thomas von Aquin, in: W. Oelmiiller (Ed.), Philosophie und Weisheit, Paderborn 1989, 69 sq.

520

Georg Wieland

damit, die Grundlagen unseres Glaubens durch Analogien aus dem Gebiet der menschlichen Vernunft zu erläutern." Und er nennt im gleichen Zusammenhang sein Motiv: er habe dies für seine Schüler getan, „die menschliche und philosophische Gründe begehrten und nicht bloß Worte, sondern Einsicht verlangten". Der Grund für diese Forderung wird gleich mitgeliefert: „Die vielen Worte, bei denen man sich nichts denken könne, seien überflüssig, wenn ihnen nicht die Einsicht folge" 13 . Also das klassische Programm der fides quaerens intellectum — der die Theologie von ihrem Anfang an begleitende, ja sie kennzeichnende Wille zur Einsicht und Erkenntnis der im Glauben angenommenen Inhalte. Dieses Programm und ein solcher Wille stehen immer wieder unter dem Verdacht, etwas zu erklären, was sich der Einsicht letztlich entzieht. Auch gegen Abailard werden derartige Vermutungen laut, und zwar nicht nur bei seinen Gegnern, die ihm vorwerfen 14 , er glaube Gott ganz mit der menschlichen Vernunft erfassen zu können, sondern auch bei seinen Schülern 15 , die von ihm behaupten, er erkenne die Geheimnisse der Dreifaltigkeit vollkommen und vollständig (perfecte et ad plenum ) und pflege sie ebenso vollständig zu erörtern und anderen verständlich zu machen. Es liegt nahe, die Genese der Verwissenschaftlichung von Theologie in einem Zusammenhang zu suchen, der der menschlichen Vernunft ein Höchstmaß an Wirksamkeit einräumt, also auf einer Linie wachsender Einsicht und Rationalität. Demgegenüber lautet meine These, daß die Theologie deshalb zur Wissenschaft wird, weil die Vernunft sich — auch im Zusammenhang des Glaubens — ihrer Grenzen zunehmend bewußt wird; die Verwissenschaftlichung der Theologie ist der Sache nach Anerkennung dieser Lage, also ein Resultat der Kritik der Vernunft. Am Beispiel Abailards läßt sich deutlich machen, was ich im Auge habe. Für ihn hat — um mit einer äußeren Beobachtung zu beginnen 16 — die in den Texten greifbare Autorität der Alten eine zentrale Bedeutung, jedenfalls eine stärkere als z. B. für Anselm von Canterbury oder Hugo von St. Viktor. Als ein Zeichen dafür mag der von Portalié 17 beobachtete Umstand gelten, daß erst Abailard die Zitation patristischer Autoren in die Theologie einführt. Diesen Rückgriff auf die Alten darf man nicht einfach als einen Vorgang deuten, der das Gewicht der Tradition unmittelbar und naiv neu zur Geltung bringt; gegen eine solche Deutung spricht 13

14

15

16 17

Historia calamitatimi. Texte critique avec une introduction, ed. J. Monfrin, Paris 4 1978, 690 sqq.; Übers, im Anschluß an E. Brost, Abaelard. Die Leidensgeschichte und der Briefwechsel mit Heloisa, Heidelberg 4 1979, 35. Bernhard von Clairvaux, Epist. 191 ad Innoc., Opera VIII, ed. J. Leclercq/H. M. Rochais, Rom 1977, 41: „totum quod Deus est, humana rations arbitratur se posse comprehendere." So Walter von Mortagne in der Epistula ad Petrum Abaelardum, ed. H. Ostlender, in: Florilegium Patristicum, fase. XIX, Bonn 1929, 34. Cf. dazu J. Jolivet, Arts du langage et théologie chez Abélard, Paris 2 1982, 231. E. Portalié, École théologique d'Abélard, in: Dictionnaire de théologie catholique I, 54.

Theologie zwischen Weisheit und Wissenschaft

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das im Prolog zu Sic et non formulierte hermeneutische Bewußtsein Abailards, der mit der Einsicht in die Traditionsabhängigkeit von Glaube und Theologie zugleich die Notwendigkeit ihrer methodischen Vermittlung erkennt 18 . Darin unterscheidet er sich von Zeitgenossen, die sich nicht um die menschliche Vernunft und die Meinung der Interpreten kümmern, „sondern allein um die Worte der Autorität" 19 , ein Anspruch, der die Vermitteltheit der Tradition nicht zur Kenntnis nimmt und sich deshalb als naiv erweist. Abailard geht noch einen Schritt weiter, wenn er den Vermittlungsgedanken auf den Glauben selbst anwendet. Der bekannteste Text zu diesem Gegenstand findet sich im Dialogus; dort sagt der Christ zum Philosophen: „zur Begründung des Glaubens trägt nicht die Wahrheit der Sache bei, sondern dasjenige, was Gegenstand der Überzeugung werden kann {quid in opinionem possit venire). Und die meisten Fragen entstehen bezüglich der Worte der Autorität, so daß man erst sie selbst beurteilen muß (de ipsis), bevor man sich ihrer im Urteil bedient (per ipsa)"20. Anscheinend ein radikaler, in jedem Fall ein mißverständlicher Text. Man versteht, daß Abailards zeitgenössische Gegner auf der sicheren und festen Wahrheit des Glaubens bestehen und gegen die Verknüpfung von Glauben und Meinung (opinio) polemisieren 21 , um von ihm alle Beliebigkeit und Willkür fernzuhalten. Der Vorwurf trifft Abailard jedoch nicht, er hat sich nie als Herr der Tradition und des Glaubens begriffen. Sein Interesse zielt vielmehr auf die Frage, wie die Inhalte des Glaubens, die uns der Sache nach nicht einsichtig sind und deshalb dem Zweifel unterliegen, zugänglich werden. Wenn der Glaube ein argumentum non apparentium oder — wie Abailard diese Paulus-Stelle (1 Kor 13,8) auslegt — ein „Beweis dafür ist, daß es etwas gibt, das man nicht sieht" 22 , dann meint argumentum oder probatio hier nicht das Beweisverfahren der aristotelischen Analytiken, sondern das durch Cicero und Boethius bekannte Verfahren der Rhetorik: Als Argument gilt dann „eine Begründung, die geeignet ist, Vertrauen in eine dem Zweifel unterliegende Sache zu bewirken" 23 . Der rhetorische Hintergrund macht die eben zitierte Stelle aus dem Dialogus verständlich. Glaube meint nicht Erkenntnis der Sache selbst, sondern Vertrauen in

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Sic et non. A critical edition, ed. Β. Β. Boyer and R. McKeon, Chicago — London 1976, 89-96. So läßt Abailard seinen Widersacher, Alberich von Reims, sprechen: Historia calamitatimi (Anm. 13), 7 5 7 - 7 5 9 . Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum, ed. R. Thomas, Stuttgart 1970, 1485 sqq.; cf. dazu Jolivet (Anm. 16), 232. So Walter von Mortagne in einem Brief an Abailard (Anm. 15), 35; Bernhard von Clairvaux, Epist. 190 (Anm. 14), 24 sq. Theologia Scholarium I 11, Opera theologica III, ed. E. M. Buytaert/C. J. Mews, Turnhout 1987, 322. Boethius, De diff. top., PL 64 1174 C.

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etwas, das uns als solches nicht zugänglich ist. Abailards Interesse konzentriert sich hier also auf die subjektive oder psychologische Seite des Glaubens, ein Vorgang, der mit der wachsenden Einsicht in die Unzugänglichkeit der Glaubensinhalte auf das engste zusammenhängt: In dem Maße, in dem die Überzeugung von der unmittelbaren Einsichtigkeit der Wahrheit der Glaubenslehren schwindet, wächst das Interesse am Subjekt des Glaubens. Der gleiche Zusammenhang zeigt sich übrigens auch im Verhältnis zur Tradition: In dem Maße, in dem die unmittelbare Überzeugungskraft der Tradition zurückgeht — z. B. deshalb weil sie sich in vielen Hinsichten als widersprüchlich erweist —, wächst das Interesse an der sprachlichen Gestalt, in der die Tradition sich äußert. Abailard hat diesen Gedanken so formuliert: „Die meisten Fragen entstehen bezüglich der Worte der Autorität, so daß man erst sie selbst beurteilen muß, bevor man sich ihrer im Urteil bedient" 24 . Aus der Unzugänglichkeit der Glaubenslehren zieht Abailard Konsequenzen für die Theologie. Er geht davon aus, daß die Wahrheit selbst den Menschen verborgen ist: „Wir machen uns nicht anheischig, die Wahrheit zu lehren, von der wir bekennen, daß wir sie nicht wissen können" 25 ; Gött allein kennt die Wahrheit. Daraus folgt jedoch kein Verzicht auf Theologie. Daraus folgt vielmehr — und das ist ein für unsere Fragestellung bedeutsamer Gedanke —, daß der Mensch von Gott nur auf menschliche Weise handeln kann. Deshalb begnügt sich Abailard damit, „wenigstens etwas Wahrscheinliches (verisimile) und der menschlichen Vernunft Verwandtes (humanae rationi vicinum) vorzutragen" 2 6 . Mit dieser Absicht und der sie tragenden Überlegung ist ein entscheidender Schritt zur Verwissenschaftlichung der Theologie getan. Wenn man nicht — wie Abailards zeitgenössische Gegner — damit rechnet, die Wahrheit selbst zu haben, muß man sich mit dem Wahrscheinlichen begnügen. Diese Bescheidung betrifft die dem Menschen erreichbaren Resultate, nicht die zu diesem Zweck angewandten Mittel. Im Gegenteil, es läßt sich eine geradezu gegenläufige Bewegung ausmachen: Die Anforderungen an das methodische Instrumentarium und die rationale Qualität der Argumentation wachsen in demselben Maße wie die Einsicht in die Unvollkommenheit der zu gewinnenden Erkenntnisse. Zwischen Abailard und Anselms Anspruch, rationes necessariae für die Glaubenswahrheiten anführen zu können, liegt deshalb ein weiter Abstand. Bei Abailard läßt sich noch ein weiteres Moment beobachten, das für die Verwissenschaftlichung der Theologie von Belang ist. Im Zusammenhang der sapientia Christiana hat der Rückgriff auf die weltlichen Wissen24 25 26

Cf. Anm. 20. Theologia Summi boni III 5, ed. H. Ostlender, Münster 1939, 107. Ibid. II, ed. Ostlender, 36.

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Schäften und die Philosophie letztlich den Charakter eines Gnadenerweises, bei dem der Höhere sich dem Niederen in dem Bewußtsein zuneigt, es doch eigentlich immer schon besser zu wissen: „Mag der Mensch außerhalb der Heiligen Schrift gelernt haben, was er will: dieses sein Wissen wird dort verurteilt, sobald es schädlich ist; ist es aber nützlich, dann findet es sich auch in der Heiligen Schrift" 27 . Anders bei Abailard: Hier erscheint der Rückgriff auf die weltlichen Wissenschaften und die Philosophie deshalb als notwendig, weil die heiligen Texte in sich nicht das argumentative Potential enthalten, das „den Gegnern des heiligen Glaubens" gerecht würde: „Wir können auf keine andere Weise vorgehen als so, daß wir ihnen mit menschlichen Argumenten {per humanas rationes) Genüge leisten" 28 . Die Notwendigkeit des theologischen Rückgriffs auf die Philosophie steht also in einem engen Zusammenhang mit dem Gewicht, das man den „Gegnern des heiligen Glaubens" zuzuerkennen bereit ist. Von diesem Gesichtspunkt aus läßt sich die Verwissenschaftlichung der Theologie auch begreifen als Ausdruck eines wachsenden Bewußtseins für die eigenständige Bedeutung des Anderen, hier also des Nicht-Christlichen, Nicht-Gläubigen, des nicht zur lateinischen Tradition Gehörigen. In einer Welt unangefochtener Identität bedarf es keiner Theologie, die sich als Wissenschaft versteht. Ich darf jetzt noch einmal an die These erinnern: Theologie wird Wissenschaft, weil die Vernunft sich ihrer Grenzen zunehmend bewußt wird. Bei Abailard hatte sich — wenigstens ansatzweise — gezeigt, was das bedeutet. Glaube heißt bei ihm nicht mehr unmittelbare Kontinuität zur göttlichen Wahrheit, sondern Teilhabe an ihr auf menschliche, also begrenzte und vermittelte Weise; entsprechend realisiert sich auch Glaubenseinsicht auf menschliche Weise, mit menschlichen Mitteln und mit bescheidenen Ergebnissen: „Was immer wir über diese erhabenste Philosophie darlegen, ist eingestandenermaßen nur ein Schatten, nicht die Wahrheit, nur eine Art von Gleichnis, nicht die Sache selbst" 29 . Daß Abailard nicht über die Mittel verfügt, die in seinem Ansatz liegenden Konsequenzen selbst umfassend zu ziehen, ist bekannt. Erst die Rezeption des aristotelischen Wissenschaftsverständnisses und der aristotelischen Metaphysik eröffnen die Möglichkeit, Theologie systematisch als Wissenschaft zu konzipieren, wie man das bei Thomas von Aquin in einer Gestalt antrifft, die eine historische Entwicklung zu einem gewissen Abschluß bringt. Um sichtbar zu machen, wie sehr die von Abailard entwickelten Motive weiterwirken, ohne daß man von einer unmittelbaren literarischen Wirkung bzw. Abhängigkeit sprechen kann, möchte ich zunächst einen Ge27 28 29

Augustinus, D e doctrina Christiana II, 42. Theologia Summi boni II (Anm. 25), 36. Ibidem.

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danken vorstellen, den Thomas in seinem Kommentar zu des Boethius Schrift De- Trinitate entwickelt hat 30 . Es geht um die Frage, ob es vom Göttlichen eine Wissenschaft im aristotelischen Sinne geben könne, nämlich eine Erkenntnis, die im Ausgang von bekannten als Prinzipien fungierenden Voraussetzungen Unbekanntes erschließt. Thomas bejaht die Frage, indem er zwei Weisen von Theologie unterscheidet, die der Philosophen und die der Gläubigen. Bei der philosophischen Theologie dienen die vor Augen liegenden Gegebenheiten als Ausgangspunkt zur Erschließung des uns zunächst unbekannten Göttlichen. Umgekehrt steht es bei dem anderen Typus von Theologie. Hier ist das Göttliche nicht Resultat, sondern selbst Ausgangspunkt; es erschließt sich uns nicht von der sinnlich gegebenen Wirklichkeit aus, sondern ist uns unmittelbar als solches gegeben (divina secundum seipsa capiuntur), jedoch nicht auf vollkommene Weise, sondern nur in der Form der Teilhabe und Annäherung. Thomas benennt an dieser Stelle die in der Unvollkommenheit des Glaubens liegende Konsequenz nicht ausdrücklich. In einem ganz anderen Zusammenhang geht er später auf dieses Thema ein 31 : Wegen der Diskursivität menschlichen Erkennens hat auch der Gegenstand des Glaubens eine dieser Bedingung entsprechende Form, nämlich die des Urteils, des complexum per modum enuntiabilis. Der die Glaubensgegenstände formulierende Satz ist zwar nicht Ziel, wohl aber unumgängliches Mittel des Glaubens: „Wir bilden nur deshalb Sätze, um mit ihrer Hilfe die Dinge zu erkennen; das gilt sowohl für die Wissenschaft als auch für den Glauben" 32 . Bereits in dessen Innern kommt also die genuin menschliche Weise des Erkennens zur Geltung, wenngleich dies nicht das einzige und letzte Wort über das Phänomen des Glaubens ist. Der Text des Boethius-Kommentars zielt jedoch nicht auf die Frage, wie die Prinzipien der Glaubenstheologie erfaßt, sondern darauf, daß die in ihnen liegenden Bedeutungen und Konsequenzen nur auf menschliche Weise, nämlich diskursiv gewonnen werden (secundum modum nostrum, scilicet discurrendo de principiis ad conclusiones'). Im Grundsatz also das gleiche Ergebnis wie bei Abailard: Wegen der in der menschlichen Natur angelegten Schwäche der Vernunft, die das Göttliche nicht in einem einfachen Hinblick (simplici intuitu) zu erfassen vermag, muß der Mensch auch in der Theologie die dieser Lage entsprechenden Mittel einsetzen, wenn er Einsicht in den Glauben gewinnen will. Welche Folgen der Verwissenschaftlichungsprozeß der Theologie nach sich zieht, läßt sich besonders deutlich von einer Außenbetrachtung her erfassen, die Thomas selbst anstellt. In der während der Fastenzeit 1270 disputierten Quaestio de qualibet III erörtert er auch die Frage, ob jemand 30 31 32

In Boeth. De Trin. 2, 2 c. S.th. I I - I I 1, 2. S.th. I I - I I 1, 2 ad 2.

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für sich selbst um die Lehrerlaubnis (licentia docendi) für die Theologie bitten dürfe. Thomas bejaht die Frage und begründet seine Antwort durch einen Vergleich zwischen dem akademischen und dem bischöflichen Amt. Dabei hebt er drei Unterschiede hervor, von denen mir zwei von besonderem Belang zu sein scheinen: a) die Lehrerlaubnis ist ein Rechtsakt, durch den einer Person mit dem entsprechenden Wissen die Möglichkeit eingeräumt wird, ihr Wissen anderen mitzuteilen, während der Bischofskandidat etwas erhält, was er vorher nicht besaß, nämlich Machtvollkommenheit; b) die Eignung für das Bischofsamt resultiert aus besonderer Gottesliebe, die für das akademische Amt aus hinreichendem Wissen; die entscheidende Differenz liegt darin, daß sich kein Mensch seiner Gottesliebe sicher sein kann und sich deshalb auch niemand um das Bischofsamt bewerben darf, während man sich seines für das akademische Lehramt erforderlichen Wissens durchaus sicher sein kann, weshalb die Bewerbung um ein solches Amt nichts Tadelnswertes an sich hat. — Wir wissen, daß der historische Hintergrund für diese Frage im Pariser Bettelordensstreit zu suchen ist. Dennoch läßt sich aus ihrer Behandlung auch Einsicht in die durch die Verwissenschaftlichung veränderte Bedeutsamkeit der Theologie gewinnen. Ihre Qualität hängt zu einem wesentlichen Teil ab von der individuellen Begabung und wissenschaftlichen Ausbildung des Theologen; Theologie ist also Menschenwerk und mit dessen Eigenschaften ausgestattet. Der Vergleich mit dem Bischofsamt macht deutlich, wie sehr die Theologie bei Thomas aus dem sakralen Zusammenhang herausgetreten ist. Für ihn ist Theologie so sehr eine Sache des Studiums und der Vernunft, daß sie auch cum peccato — also ohne Gottesliebe — möglich ist 33 . Ein Gedanke, der nicht nur für die Gegner Abailards jenseits aller Vorstellungen liegt; Bernhard von Clairvaux sieht in Gebet und Heiligkeit den eigentlichen Schlüssel zur Erkenntnis der göttlichen Geheimnisse: „Nicht durch Disputieren, sondern durch Heiligkeit begreifen wir sie. ... Wenn du heilig bist, dann hast du begriffen und weißt auch, wie" 34 . — Auch ein so sehr auf Vernunft setzender Autor wie Thierry von Chartres kann sich nicht vorstellen, daß es wirkliche Erkenntnis der Wahrheit ohne Liebe geben kann: „ohne Liebe erreicht man sie nicht oder doch kaum" 35 . Diese Hinweise auf das traditionelle Weisheitsverständnis, für das Theorie und Praxis, Sakralität und Profanität eine umfassende Einheit bilden, dürfen nicht zu der Annahme führen, daß mit der Verwissenschaftlichung der Theologie der Gedanke der Weisheit obsolet geworden sei. Davon kann keine Rede sein. Selbstverständlich bleibt auch für Thomas die Theologie Weisheit: „Diese Lehre ist unter allen menschlichen Weisheiten 33 34 35

S.th. I I - I I 45, 4 ad 3; I I - I I 45, 1 ad 2; I 1, 6 ad 3. De consideratione V 30, Opera III, ed. J. Leclercq/H. M. Rochais, Rom 1963, 492. Le „Prologus in Eptatheucon" de Thierry de Chartres, ed. E. Jeauneau, in: Mediaeval Studies 16 (1954), 174.

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am meisten Weisheit, und zwar nicht nur in einer Gattung, sondern schlechthin" 36 . Doch Theologie kann dies unter den veränderten Bedingungen nicht mehr nach dem Muster sapientialen Einheitswissens sein, für das die Differenz zwischen Prinzipienebene und Erfahrung schon immer durch die Prinzipien und in ihnen aufgehoben ist. Der Sache nach erhebt die sapientiale Einheitstheologie den Anspruch, alles unter dem Gesichtspunkt Gottes erfassen und beurteilen zu können. Dieser Anspruch bleibt auch in der wissenschaftlichen Theologie erhalten, aber verbunden mit dem Bewußtsein, daß der Gesichtspunkt Gottes nur auf menschliche Weise zugänglich ist, nämlich vermittelt durch eine Mehrzahl von Sätzen (Glaubensartikel), die der Glaube nur in verhüllter Weise erfaßt. Dies schließt nicht aus, daß Gott Menschen mit „gottförmiger" und müheloser Einsicht in die Glaubenslehren auszeichnet 37 . Eine solche Form der Erkenntnis ist göttliches Geschenk, nicht Resultat menschlichen Wissens und Mühens wie die Theologie. Deshalb unterscheidet Thomas innerhalb des Glaubens zwei Arten von Weisheit 38 : Die von Gott gegebene Weisheit, die jenseits der Möglichkeiten des Menschen liegt und zu den Gaben des Geistes gehört, und die sich menschlicher Mühewaltung verdankende Glaubenserkenntnis oder Theologie. Es gehört zu den Kennzeichen des traditionellen Weisheitsverständnisses, daß diese Unterscheidung dort keine Bedeutung hat und daß deshalb dem Theologen immer auch die „Gottförmigkeit" angesonnen wird. — Über die dritte Art der Weisheit, die Philosophie — genauer die Metaphysik — und ihren Bezug zur Theologie, wie Thomas ihn versteht, ist schon so viel und so erhellend geschrieben worden 39 , daß ich mich hier auf einige Bemerkungen beschränken kann: Nach dem Konzept des Thomas ist die legitime Eigenständigkeit der Philosophie vorauszusetzen; sie verdankt ihren Ursprung, ihre Ordnung und Gestalt nicht theologischem Interesse, sondern demjenigen menschlicher Vernunft. Umgekehrt ist die Theologie an sich nicht notwendig auf Philosophie angewiesen; sobald sie sich aber als Wissenschaft versteht, die sich nicht mit dem bloßen „Daß" ihrer Gegenstände begnügt, sondern auch ihr „Warum" wissen will 40 , kann sie auf die Philosophie nicht verzichten. Thomas führt diese Angewiesenheit nicht auf das Ungenügen der Theologie zurück 41 , der durch ihre Teilhabe am göttlichen Wissen an sich „der Himmel offen" steht, sondern auf die Schwäche unserer Vernunft, die sich ohne natürliche Begründungen nicht leicht zufriedenstellen läßt. 36 37 38 39

40 41

S.th. I 1, 6. III Sent. 35, 2, 1, qla. 1 ad 1. S.th. I I - I I 45, 2. Cf. e.g. W. Kluxen, Philosophische Ethik bei Thomas von Aquin, Hamburg 2 1980, 1 - 2 1 ; L. Honnefelder (Anm. 12). Quodl. IV 9, 3. S.th. I 1, 5 ad 2.

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Die Verwissenschaftlichung der Theologie steht auch — und damit möchte ich einen letzten Gedanken erwähnen — in einem engen Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutsamkeit von Individualität. Das hier zum Vorschein kommende Phänomen läßt sich auf die seine interne Gegenläufigkeit bezeichnende Formel bringen: Je größer die Einsicht in den Überzeugungscharakter des Glaubens wird, um so mehr wächst die Notwendigkeit seiner universalen und rationalen Vermittlung. Diese Bewegung interner Gegenläufigkeit scheint mir ein die kulturelle Veränderung des 12. und 13. Jahrhunderts insgesamt bestimmender Faktor zu sein. Während die sapientiale Einheitstheologie „die herrschende Tradition", „die soziale Autorität der Vielen" und „die erprobte Weisheit der Vergangenheit" 42 ungeschieden von den spezifischen Inhalten der Offenbarung als die einheitliche und universale Grundlage ihrer Reflexion betrachtet, führt die Verwissenschaftlichung der Theologie zu einer deutlichen Unterscheidung von offenbarungsabhängigen Glaubensinhalten und traditions- und kulturbestimmten Auffassungen. Diese Differenzierung bedeutet — auch bezogen auf die Einheit der lateinisch christlichen Kultur — eine kulturelle Partikularisierung des Glaubens. Und hier kommt die interne Gegenläufigkeit wieder zum Vorschein: Die kulturelle oder geschichtliche Partikularität des Glaubens erfordert dessen rationale Universalisierung, die zugleich den Probierstein seiner Universalitätsfahigkeit darstellt. Die Verwissenschaftlichung der Theologie kann — so betrachtet — deshalb auch als der Versuch gelten, die Eignung und Bedeutsamkeit des Christentums über die lateinische Kultur hinaus zu erweisen.

42

A. Lang, Die theologische Prinzipienlehre der mittelalterlichen Scholastik, Freiburg 1964, 107.

Theologie und menschliche Wissenschaften in den principia des Aegidius Romanus CONCETTA L U N A

(Pisa)

1. E i n f ü h r u n g * Das Ziel dieses Beitrages ist, drei ungedruckte Texte des Aegidius Romanus über das Wesen der Theologie vorzustellen. Es handelt sich um zwei biblische principia und ein principium zu den Sentenzen1. In den mittelalterlichen Universitäten bezeichnet das Wort , p r i n c i p i u m " die Rede, die der baccalarius biblicus und der baccalarius sententiarius vor dem Beginn ihrer Vorlesungen hielten. Das Thema dieser principia ist das Lob der Heiligen Schrift (commendati/) Sacre Scripture). Es wird durch die allegorische Auslegung eines Bibelspruches behandelt. Das Thema des Lobes der Heiligen Schrift kennzeichnet nicht nur die principia der baccalarii. Denn es wird auch vom neuen magister während der inceptio ausgearbeitet, zuerst in der sogenannten aulica, sodann in der resumpta, d. h. in seiner ersten Vorlesung. Die commendatio Sacre Scripture begleitet also alle bedeutenden Ereignisse des mittelalterlichen akademischen Lebens2. Die principia sind deshalb ziemlich stereotype Texte, in denen es nicht einfach ist, die charakteristischen Merkmale des Verfassers zu erfassen3. Der Mangel an

* Ich danke Sabine Schäfer, die diesen Text für mich durchgesehen hat. 1 Cf. Aegidii Romani Opera Omnia, 1.6, Repertorio dei sermoni, a c. di C. Luna, Firenze 1990, 3 0 2 - 3 1 8 ( = Corpus Philosophorum Medii Aevi - Testi e Studi XI). 2 Zum principium cf. P. Glorieux, L'enseignement au Moyen Age. Techniques et méthodes en usage à la Faculté de Théologie de Paris, au XIII e siècle, in: Archives d'histoire doctrinale et littéraire du Moyen Age 35 (1968), 65 — 186, insbes. 137 — 141; B. C. Bazàn, Les questions disputées, principalement dans les facultés de théologie, in: Les questions disputées et les questions quodlibétiques dans les facultés de théologie, de droit et de médecine, par B . C . Bazàn, J.W. Wippel, G.Fransen, D. Jacquart, Turnhout 1985, 1 3 - 1 4 9 , insbes. 73, 100, 102-105; O.Weijers, Terminologie des Universités au ΧΙΙΓ siècle, Roma 1987, 4 1 3 - 4 2 0 . 3 Zu dieser Aufgabe des Historikers cf. W. J. Courtenay, Schools and Scholars in Fourteenth-Century England, Princeton 1987, 46: „As the art of letter writing in the Middle Ages followed the rules of the ars dictaminis, so sermons, or commentaries, or disputations followed the rules of their genres. One must be careful, therefore, to separate the required structure and formulas from the individual character of the work".

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Studien über die principia ist vielleicht auch darauf zurückzuführen 4 . Dennoch können die principia zur Bibel und zu den Sentenzen wichtige Quellen für die Analyse der Lehre eines Theologen über das Wesen der Theologie und deren Verhältnisse zu den anderen Wissenschaften sein. Die methodische Bedeutung der principia geht auch aus dem engen Zusammenhang hervor, der zwischen ihnen und den Prologen zu Bibel- und Sentenzenkommentaren besteht, insofern die Prologe denselben Aufbau wie die principia zeigen und oft die Neubearbeitung der principia darstellen. Denn bei der schriftlichen Redaktion seines Kommentars kann ein Verfasser sein principium als Prolog zum Kommentar verwenden 5 . Die Lehre des Aegidius Romanus über das Wesen der Theologie wurde vor allem anhand des Prologs zum Sentenzenkommentar, des Quodlibets III, q. 2 und des Tractatus de subiecto theologie rekonstruiert 6 . Diesen Werken können jetzt die drei neugefundenen principia hinzugefügt werden. Da diese Texte die älteste Periode der akademischen Aktivität des Aegidius widerspiegeln, bietet sich der Vergleich zwischen ihnen und dem Prolog zum Sentenzenkommentar an. Denn wenn die Redaktion des Kommentars zum ersten Buch der Sentenzen auf die Jahre 1271 —73 7 und die lectura über die vier Bücher der Sentenzen auf die Jahre 1269 — 71 8 zurückgeht, müssen die beiden biblischen principia in dem Zeitraum 1267 — 69 datiert werden 9 , während das principium zu den Sentenzen in die Zeit der lectura fällt. Man muß aber folgende Beiträge erwähnen: M.-D. Chenu, Maîtres et bacheliers de l'université de Paris v. 1240, in: Études d'histoire littéraire et doctrinale du ΧΙΙΓ siècle, Paris —Ottawa 1932, 10 — 39 ( = Pubi, de l'Institut d'Études médiévales d'Ottawa I); M. Grabmann, Romanus de Roma O.P. (f 1273) und der Prolog seines Sentenzenkommentares. Ein Beitrag zur Geschichte der scholastischen prologi und principia, in: Divus Thomas (Freib.) 19 (1941), 1 6 6 - 1 9 4 ; P. Glorieux, Les années 1242-1247 à la Faculté de Théologie de Paris, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 29 (1962), 234 — 249; J. G. Bougerol, Les sermons dans les „studia" des mendiants, in: Le scuole degli ordini mendicanti (secoli X I I I - X I V ) , Todi 1978, 2 5 1 - 2 8 0 , insbes. 2 7 1 - 2 7 5 . 5 Dazu cf. Grabmann, Romanus de Roma, 179. 6 Dazu cf. R. Egenter, Vernunft und Glaubenswahrheit im Aufbau der theologischen Wissenschaft nach Aegidius Romanus, in: Philosophia perennis. Festgabe F. Geyser, ed. F.-J. von Rintelen, Regensburg 1930, 195—208; J. Beumer, Augustinismus und Thomismus in der theologischen Prinzipienlehre des Aegidius Romanus, in: Scholastik 32 (1957), 542 — 560; P. Prassel, Das Theologieverständnis des Ägidius Romanus O.E.S.A. (1243/ 7 - 1 3 1 6 ) , Frankfurt a. M . - B e r n 1983 ( = Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII, Theologie). Zur Frage nach dem Subjekt der Theologie cf. P. Prassel, Das Subjekt der Theologie nach Ägidius Romanus (1243/7 — 1316), in: Trierer theologische Zeitschrift 92 (1983), 323 — 330; C. Luna, Una nuova questione di Egidio Romano „De subiecto theologiae", in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 37 (1990), 397—439, 38 (1991), 1 2 9 - 1 7 3 . 7 Cf. Aegidii Romani Opera Omnia, III.l, Apologia, par R. Wielockx, Firenze 1985, 236—240 ( = Corpus Philosophorum Medii Aevi — Testi e Studi IV). 8 Cf. C. Luna, La Reportatio della lettura di Egidio Romano sul Libro III delle Sentenze (Clm. 8005) e il problema dell'autenticità dell'Ordinatio, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 1 (1990), 1 1 3 - 2 2 5 , insbes. 1 1 9 - 1 2 9 ; 2 (1991), 7 5 - 1 4 6 . ' Der baccalarius biblicus mußte für zwei Jahre einen Kurs über die Bibel abhalten (dazu cf. Glorieux, L'enseignement au Moyen Age, 96). 4

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2. R e t r a c t a t i o Vor Beginn der Analyse müssen wir einige Angaben unseres „Repertorio dei sermoni" verbessern 10 . Darin sind sechs principia (Nr. 69 — 74) verzeichnet, vier zur Bibel und zwei zu den Sentenzen: Nr. 69: super Bibliam (ad commendationem Sacre Scripture): „Penetrabo inferiores partes terre ... (Eccli. 24, 45 — 46). In hits verbis ...". Nr. 70: super Bibliam (ad distinctionem verborum Bibite) : „Penetrabo inferiores partes terre ... Consueverunt incipientes ...". Nr. 71: super Bibliam: ,£)uis dabit michi pennas ... (Ps. 54, 7). Quilibet predicator ...". Nr. 72: super Bibliam (et specialiter super Epístolas Canónicas): „Perrexerunt cursores ... (II Paral. 30, 6), quod secundum quod dicit Apostolus ...". Nr. 73: super Sententias: „Adulterine plantationes ... (Sap. 4, 3). Scientia theologie ...". Nr. 74: super Sententias: „Vidit Petrus ... (Act. 10, 11). Verba ista ...". Folgende Verbesserungen müssen vorgenommen werden: (I) Die principia 69 und 70 bilden einen einzigen Text, weil die commendatio und partitio der Heiligen Schrift, die sich in den principia 69 — 70 finden, zwei Bestandteile des biblischen principium sind. Dieses Thema wird im nächsten Paragraphen eingehender behandelt werden. (II) Das principium 72 ist Aegidius aus den folgenden stilistischen und inhaltlichen Gründen nicht zuzuschreiben: 1. Es fehlen typisch aegidianische Redewendungen 11 . 2. Es sind viele Ketten von biblischen Zitaten ohne Einführungsformel zu beobachten, während Aegidius sich auf ein einziges durch iuxta illud oder ut dicitur usw. eingeführtes Zitat zu beschränken pflegt 12 . 3. Es fehlt die Redewendung sacra pagina, die in den principia 69 — 70, 71 und 73 (beziehungsweise fünf, dreizehn- und dreimal) vorkommt und auch in den Prologen zu den Kommentaren zu den Sentenzen, zum Hohenlied und zum Römerbrief vorhanden ist 13 . 10 11 12

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Cf. Anm. 1. Z u diesen Redewendungen cf. Luna, Repertorio dei sermoni, 79—95. Cf. ζ. Β. die folgenden Zitate: „Unde secundo Paralipomenon XXX: cursorespergebant velociter de civitate in civitatem, et Hester IUI: festinabant cursores, qui misst erant explere regis Imperium ... et Marchi ultimo: Uli autem profecti predicaverunt ubique" (Padova, Bibl. uniy. 844 ( = Hs. P), Fol. 217ra, lin. 24—31). Zum aegidianischen Gebrauch cf. die im Repertorio dei sermoni veröffentlichten Sermonen (op. cit., 341 — 513). Cf. Sent., ProL, ed. Venetiis 1521, Nachdruck Frankfurt 1968, Fol. 3ra C; In Cant., ed. Romae 1554/55, Nachdruck Frankfurt 1968, Fol. 2rb C und 2va B; In Rom., ibid., Fol. Ira Β. Zur Bedeutung der Redewendung sacra pagina cf. M.-D. Chenu, La théologie comme science au Χ Ι Ι Γ siècle, Paris 1969, 21, 23.

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4. Zwei mnemotechnische gereimte Hexameter über die vier Sinne der Heiligen Schrift sind zu lesen: „Littera gesta docet, quid credas allegoria / Moralis quid agas, quid speres anagogia"14. Dies stellt zwar keinen entscheidenden Grund gegen die Authentizität dieses Textes, stimmt aber doch mit dem philosophischen, strengen Stil des Aegidius keineswegs überein. 5. Um die instrumentale Ursache zu bezeichnen, wird zweimal die Redewendung artifices secundarii et ministeriales verwendet, die sich in den anderen aegidianischen Werken nicht findet. Dort benutzt Aegidius immer causa instrumentalisxs. 6. Bei der Erörterung der materiellen Ursache wird die Tatsache nicht erwähnt, daß Gott das Subjekt der Theologie ist, wie es der Fall in den principia 69, 71, 73 und in den Prologen der Kommentaren zum Hohenlied und zum Römerbrief ist 16 . 7. Der instrumentalen Ursache wird zu große Bedeutung beigemessen. Aegidius hingegen behauptet im principium 73 und im Prolog zum Hohenliedkommentar, daß der menschliche Verfasser der theologischen Texte unerheblich sei. Darüber hinaus im Prolog zum 2. Buch der Sentenzen erwähnt er Petrus Lombardus nicht einmal17.

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Cf. Hs. P, Fol. 217va, lin. 5 - 3 ab imo. Cf. Hs. Ρ, Fol. 216vb, lin. 2 8 - 2 9 und 217ra, lin. 2 3 - 2 4 . Zu den echten aegidianischen Werken cf. Sent., Prol., ed. cit., Fol. Ivb N; In Cant., ed. cit., Fol. 2rb D; principium 73, Hs. P, Fol. 196rb, lin. 7. Cf. principium 69, Hs. P, Fol. 59ra, lin. 23—24: „Cum enim Deus ipse sit subiectum in ista scientia ..."; principium 71, ibid., Fol. 18vb, lin. 7 — 8: „Nam ibi (seil, in scriptura sacra) materia et subiectum est ipse Deus"·, zum principium 73 cf. Luna, Repertorio dei sermoni, 315; In Cant., ed. cit., Fol. 2rb C - D ; In Rom., ed. cit., Fol. Iva C. Cf. principium 72, Hs. P, Fol. 217ra, lin. 21—37: „Per hoc quod dicitur: Perrexerunt cursores et principes, intelliguntur apostoli, qui fuerunt artifices, secundarii tarnen et ministeriales, harum epistolarum. Unde secundo Paralipomenon XXX: cursores pergebant velociter ...et Hester IUI: festinabant cursores ...et Marchi ultimo: Uli autem profecti predicaverunt ubique, domino cooperante — et non dicitur „operante" — et sermonem confirmante sequentibus signis. Et per hoc quod dicitur „domino cooperante" et non dicitur „operante", bene insinuatur apostolos cooperatores Dei fuisse in scriptione et predicanone huius scientie ..."; principium 73, Hs. P, Fol. 196rb, lin. 5—21: „Ex quo apparet que sit causa efficiens huius doctrine et etiam huius operis, quia Deus ipse. Causa tamen Instrumentalis huius libri quem habemus pre manibus fuit Magister Petrus Lumbardus Parisiensis episcopus. Que sì in auctoritate tacta non fuit nec directe nec per remotionem, non sit nobis cure, quia sacri doctores respectu huius doctrine fuerunt quasi thalamus Spiritus Sancti, qui huius scientie est scriba velociter scribens propter eorum infirmitatem. Hoc cognoscens, David dicebat in Psalmo: lìngua mea calamus scribe velociter scribens. Sicut vanum est sollicitum esse cum qua penna scriptus est liber, ideo sollicitamur quodammodo frustra qui fuit actor Instrumentalis alicuius libri Sacre Scripture, cum constet de vero in Scriptura scriba"·, In Cant., ed. cit., Fol. 2rb D: „De causa vero instrumentali non sit nobis curae, quia huiusmodi causae se habent respectu doctrinae sicut instrumenta et sicut penna, iuxta il lud Ρ salmi: Lingua mea calamus scribe. Sicut ergo superstitiosum esset, cum quaereret de authore alicuius libri, quaerere cum qua penna scriptus fuisset liber, sic quodammodo superstitiosum videtur quod aliquis sit multum solicitus inquirere causas instrumentales scripturae sacrae. Nam si constat de veritate quod liber sit a Spiritu Sancto, non est magna cura adhibenda ad inveniendum authorem alium".

532 (II) Das principium zuzuschreiben:

Concetta Luna 74 ist Aegidius aus den folgenden Gründen nicht

1. Es sind viele Ketten v o n biblischen Zitaten ohne Einführungsformeln zu beobachten 1 8 . 2. Es fehlt die Redewendung sacra pagina. 3. Der Verfasser benutzt o f t die erste Person in solchen Redewendungen wie „Dico primo quod ... Secundo dico quod... Tertio dico quod ... r ' 1 9 , was dem Gebrauch des Aegidius kaum entspricht. 4. U m vier biblische Zitate einzuführen, die sich auf die vier Eigenschaften der Heiligen Schrift beziehen, ist Folgendes zu lesen: „De primo ... De secundo ... De tertio ... De quarto ...". Das widerspricht der Schreibweise des Aegidius 2 0 . 5. Bei der Erörterung der formalen Ursache wird, wie üblich, zwischen forma tractandi und forma tractatus unterschieden. Während aber die principia 69, 71 und 73 und die Prologe der K o m m e n t a r e zu den Sentenzen, zum Hohenlied und zum Römerbrief die forma tractandi, beziehungsweise die causa formalis mit dem modus agendijprocedendi, d. h. mit der Methode, gleichsetzen, erwähnt das principium 7 4 keineswegs den modus agendi und erklärt die forma tractandi als die vier Sinne der Heiligen Schrift 2 1 . Für die forma tractatus w i r d keine Erläuterung gegeben, während Aegidius, jedes-

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Cf. e. g. das folgende Zitat, München, Bayerische Staatsbibl. Clm. 8005 ( = Hs. M), Fol. 141ra, lin. 6 ab imo — 141rb, lin. 6: „Secundo, dico quod sublimitas Dei comparator celo propter activitatem, quam habet per motum, quia in Deo est plenitudo sapientie, per quam omnia producuntur, Psalmo: omnia in sapientia fecisti. Hanc plenitudinem divine sapientie noverai Ule fortis adolescens qui ... ait: E celo ¡sta possideo, 2 Machabeorum VII. Λb hac plenitudine sapientie actoris sui habet ista scientia quod sit omnibus verior quantum ad promissum, Matthei V et Luce XVI: facilius est celum et terram transiré quam de lege unum apicem cadere". Cf. Hs. M, Fol. 141ra, lin. 35 und 48, 141rb, lin. 6, 141va, lin. 10 und 22. Cf. ibid., Fol. 140vb, lin. 10 ab imo und 3 ab imo, 141ra, lin. 4 und 12. Cf. principium 69, Hs. P, Fol. 59vb, lin. 11 — 17: „Nam alie scientie habite sunt discurrendo et arguendo et sillogi^ando, ita quod causa formalis et modus agendi in eis est probativus, improbativus, discursivus et argumentativus. Sed ista habita est per inspirationem. Unde modus procedendi in ista scientia est inspirativus et revelativus"; principium 71, ibid., Fol. 19rb, lin. 4 ab imo — 19va, lin. 2: „Possumus etiam dicere modum procedendi in hac scientia tripliciter esse stabiliorem modo procedendi in scientiis aliis humanitus adquisitis. Propter quod hanc scientiam quantum ad modum procedendi et quantum adformam nobiliorem ceteris aliis tripliciter esse contingit"\ principium Ti, ibid., Fol. 196va, lin. 19—23: „Consuevit autem distingui duplex forma: forma tractatus, que est ordinatio capitulorum vel Itbrorum ad invicem, et forma tractandi, que est modus agendi"·, Sent., Prol., ed. cit., Fol. Ivb N—O; In Cant., ed. cit., Fol. 2va A: „Consuevit enim distingui duplex forma, scilicet forma tractandi, quae est modus agendi, et forma tractatus, quae est ordinatio capitulorum ad invicem" (bemerkenswert ist die Ähnlichkeit mit dem principium 73); In Rom., ed. cit., Fol. Iva C; principium 74, Hs. M, Fol. 141va, lin. 11 — 5 ab imo: „Forma autem huius scientie sicut et aliarum in duobus consistit, scilicet in forma tractandi et forma que complectitur numerum quaternarium et forma tractatus que hic intelligitur per initium. In forma tractandi scientia ista excellit alias in communitate. De pluralitate sensuum sacre scripture dicitur per figuram Genesis II: fluvius egrediebatur ...".

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mal wenn von ihr die Rede ist, erklärt, die forma tractatus sei die Folge der Themen und der Teile des Werkes 22 . 6. Im principium 74 wird eine dreifache causa efficiens der Sentenzen des Petrus Lombardus erwähnt: prima et principalis, d. h. Gott, secundaria atque mediata, d. h. Propheten und Apostel, propinqua et immediata, d. h. Petrus Lombardus 23 . Diese Dreiteilung und die entsprechenden Ausdrücke sind jedoch bei Aegidius nirgends zu beobachten. Denn im principium 73 spricht er von causa efficiens, d. h. Gott, und causa Instrumentalis, d. h. Petrus Lombardus; im Prolog zum Sentenzenkommentar ist die Rede von causa efficiens principalis, d. h. der ungeschaffenen Weisheit, und causa Instrumentalis, d. h. Petrus Lombardus; im Prolog zum 2. Buch der Sentenzen wird der Name des Petrus Lombardus nicht erwähnt, und Aegidius beschränkt sich auf die causa efficiens principalis, d. h. Gott24. 7. Bei der Abfassung der Sentenzen wird Petrus Lombardus eine zu wichtige Rolle zugeteilt, insofern er mit einer bestimmten Aufgabe betraut, der Bibelspruch Apk 4, 1 auf seine Aktivität als Verfasser bezogen und ein kurzer Abschnitt aus seinem Prolog zu den Sentenzen angeführt wird 25 . Dies widerspricht der Tatsache, daß Aegidius ihn im principium 73 und im Prolog zum Sentenzenkommentar als bloße instrumentale Ursache ansieht und stillschweigend über seinen Namen im Prolog zum 2. Buch der Sentenzen hinweggeht 26 .

3. I n s t i t u t i o n e l l e P r o b l e m e Aufgrund der Überlegungen des vorhergehenden Paragraphen darf man Aegidius mit Sicherheit drei principia zuschreiben: zwei zur Bibel (Nr. 69 — 70 und 71) und eins zu den Sentenzen (Nr. 73). Wie aber beziehen sich diese Texte auf die akademische Aktivität des Aegidius? Leider sind wir weder über die Ausbildung des Aegidius noch über die erste Schulenorganisation des Eremitenordens zureichend unterrichtet 27 . Aegidius scheint der erste Augustiner gewesen zu sein, der das Bakkalaureat erlangte. Wir sind aber nicht imstande zu sagen, unter der Leitung welchen Lehrers er diese Tätigkeit ausübte, weil den Augustinern vor 1285 (als 22

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Cf. In Cant., ed. cit., Fol. 2va A; Sent., Prol., ed. cit., Fol. Ivb O. Im Kommentar zum Römerbrief wird das Problem der Reihe der Briefe als ein Problem der causa formalis gesehen (cf. ed. cit., Fol. 3rb—va). Zum principium 73 cf. Anm. 21. Cf. Hs. M, Fol. 142ra, lin. 4 ab imo sqq. Zum principium 73 cf. Anm. 17; Sent., Prol., ed. cit., Fol. Ivb N; Sent. II, ed. Venetiis 1581, Nachdruck Frankfurt 1968, I, 3a D - 4 a A. Cf. Hs. M, Fol. 142rb, lin. 4 sqq. Cf. Anm. 17 und 24. Dazu cf. E. Ypma, La formation des professeurs chez les Ermites de Saint-Augustin de 1256 à 1354, Paris 1956.

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Aegidius zum magister theologie promovierte) kein Theologielehrstuhl zur Verfügung stand. Das bedeutet, daß Aegidius, wie alle Augustiner, die vor diesem Jahr zum Studium nach Paris geschickt wurden, den Vorlesungen eines dem Eremitenorden nicht angehörigen Lehrers beiwohnen mußte. Nach dem Zeugnis des Wilhelm von Tocco besuchte Aegidius eine Zeitlang die Vorlesungen des Thomas von Aquin 28 . Wenn diese Nachricht wahr ist, muß sie sich auf den zweiten Pariser Aufenthalt des Thomas (1269 — 72) beziehen. Denn während des ersten Aufenthalt des Thomas (1252—59) wäre Aegidius, zwischen 1243 und 1247 geboren, zu jung gewesen (fünf- bis zwölf- bzw. neun- bis sechzehnjährig), um die theologische Fakultät zu besuchen, die ein Alter von mindestens siebzehn Jahren erforderte 29 . Aus der Analyse der reportatio der lectura des Aegidius über die vier Bücher der Sentenzen geht hervor, daß diese lectura sehr wahrscheinlich in den Jahren 1269 — 71 stattfand 30 . Das hätte zur Folge, daß Aegidius die Vorlesungen des Thomas gerade zu der Zeit besuchte, als er baccalarius sententiarius war. Muß man daraus schließen, daß Aegidius ein baccalarius sententiarius des Thomas war? Es ist meines Erachtens schwierig, diese Folgerung zu ziehen, wenn man die Kritik betrachtet, die Aegidius in seiner lectura gegen Thomas übte 31 . Sollte man deswegen die Zuverlässigkeit des Zeugnisses von Wilhelm von Tocco bezweifeln 32 ? Auf jeden Fall ist klar, daß das principium ΊΊ> in die Zeit der in der reportatio erhaltenen lectura fällt. Da die baccalarii sententiarii dazu verpflichtet waren, ein principium am Anfang jedes Buches der Sentenzen zu halten, und das principium 73 keinen Hinweis auf ein bestimmtes Buch enthält, darf man vielleicht daraus schließen, daß Aegidius dieses principium zu Beginn seiner Vorlesungen hielt, d. h. bevor er die lectura der vier Bücher unternahm. Ist also die Datierung der lectura (1269 — 71) richtig, so sollte das principium 73 auf die Zeit von September bis Oktober 1269 zurückgehen 33 . Es ist außerdem bemerkenswert, daß Aegidius bei der endgültigen Redaktion seines Prologs zum Sentenzenkommentar, die nach wenigen Jahren (um 1271—73) statt-

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33

Cf. P. Mandonnet, La Carrière Scolaire de Gilles de Rome (1276 — 1291), in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 4 (1910), 480—499, insbes. 482—483. Cf. Glorieux, L'enseignement, 95. Cf. Anm. 8. Cf. C. Luna, La lecture de Gilles de Rome sur le quatrième livre des Sentences. Les extraits du Clm. 8005, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 57 (1990), 183—255, insbes. 202—214; Id., Fragments d'une reportation du commentaire de Gilles de Rome sur le premier livre des Sentences, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 74 (1990), 2 0 5 - 2 5 4 , 4 3 7 - 4 5 6 , insbes. 217, 2 2 4 - 2 3 0 ; Id., La Reportatio, passim. Für Mandonnet war es unproblematisch, dieses Zeugnis anzunehmen, weil er dachte, Aegidius sei baccalarius in den Jahren 1276 — 77 gewesen, als Thomas schon gestorben sei (cf. Mandonnet, La Carrière, 483). In der Tat fanden die principia der baccalarii vom 14. September bis 10. Oktober statt (cf. Glorieux, L'enseignement, 138).

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fand, das principium 73 nicht verwandt, sondern einen davon verschiedenen Prolog zum Thema Weish 7, 26 — 27: „Candor est enim lucis eterne ..." verfaßt hat34. Wenn Aegidius seinen Kurs über die Sentenzen 1269 — 71 abgehalten hat, so müßte er seine Tätigkeit als baccalarius biblicus zwei Jahre zuvor, d. h. 1267 — 69, ausgeübt haben. Auf diesen Zeitraum geht das principium 69 — 70 gewiß zurück. Denn dieser Text besteht, wie gesagt, aus zwei Teilen, von denen der erste die commendatio der Heiligen Schrift, und der zweite die partitio der Bibel sowie ein systematisches Verzeichnis ihrer Bücher enthält. Beide Elemente, die commendatio und die partitio, werden ausdrücklich in den Pariser Universitätsstatuten von 1335 — 66 als Bestandteile des principium des baccalarius biblicus erwähnt 35 . Diese Praxis muß aber ein viel älterer Brauch gewesen sein, weil das incipit des principium 70 lautet: „Consueverunt incipientes in sacra pagina duo principia facere: unum ad commendationem scripture sacre et aliud ad distinctionem librorum contentorum in sacro canone"36. Während diese besondere Unterteilung den Ursprung des principium 69 — 70 deutlich zeigt, erweist sich der Ursprung des principium 71 aus zwei Gründen als nicht ebenso klar. Die Struktur dieses principium ist zum einen ziemlich sonderbar. Denn es zeigt keine Teilung in commendatio und partitio und ist das einzige aegidianische principium, das ein prothema enthält. Was den Mangel bezüglich commendatio und partitio betrifft, so handelt es sich um ein schwer einschätzbares Element. In der Tat ist es unklar, ob diese Teilung in der Weise eine notwendige Eigentümlichkeit jedes biblischen principium ist, daß ihr Mangel es mit sich bringt, daß man es mit keinem

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Cf. ed. cit., Fol. l r - v . Der Text der Statuten wird von Glorieux, L'enseignement, 138, angeführt. Bemerkenswert ist, daß auch das principium des Thomas von Aquin „Hic est liber mandatorum Dei" (cf. S. Thomae Aquinatis Opuscula theologica, I, ed. R. A. Verardo, Taurini—Romae 1954, 435—439) gleichermaßen aufgeteilt ist. Dieser Text wird als das biblische principium des Thomas angesehen, das 1252 in Paris gehalten, wurde. Diese These aber wird von Weisheipl bestritten, der behauptet, Thomas sei nie in Paris baccalarius biblicus gewesen; deshalb solle das principium „Hic est liber" vielmehr als die bei der resumpta stattfindende Fortsetzung der bei der aulica gehaltenen commendatio Sacre Scripture „Rigans montes" (ed. cit., 441—443) gelten (cf. J. A. Weisheipl, Friar Thomas d'Aquino. His Life, Thought and Works, Oxford 1975, 50, 66, 7 1 - 7 2 , 101-104). Die Hypothese von Weisheipl ist aber meiner Meinung nach nicht überzeugend, weil die Teilung in commendatio und partitio eine typische Eigenschaft der biblischen principia ist. In der Tat wäre es merkwürdig, wenn der neue magister in seinem ersten dies legibilis so die Teilung der Bibel erklärt hätte. Was den Zusammenhang betrifft, den Weisheipl zwischen den beiden principia des Thomas zu sehen glaubt, so ist dieser auf die Ähnlichkeit all der principia zurückzuführen, die, wie schon festgestellt, stereotype Texte sind und dasselbe Thema betrachten. Darüber hinaus, wenn Thomas kein baccalarius biblicus in Paris war, dann folgt daraus, daß er die Sentenzen von 1252 bis 1256 kommentierte, d. h. vier Jahre, statt zwei Jahre lang, wie es damals üblich war (dazu cf. Glorieux, L'enseignement, 116—117). Cf. Luna, Repertorio dei sermoni, 305.

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biblischen principium zu tun hat. Unsere Kenntnisse davon sind aber zu fragmentarisch, um die Gesetze dieser Gattung präzise zu rekonstruieren. Was die Anwesenheit eines prothema angeht, verleiht sie dem principium 71 zweifellos eher den Charakter einer Predigt als eines Prologs. Denn dieses prothema enthält keinen Hinweis auf den akademischen Anlaß, d. h. auf die Einführung in einen biblischen Kurs. Aegidius stellt sich hingegen als predicator et annunciator verbi Dei vor und erbittet göttliche Hilfe, um drei Eigenschaften zu bekommen, die für jeden Prediger notwendig sind, und zwar devotio in contemplando, subtilitas in intelligendo, fructuositas in docendo37. Obwohl dies dem eigenen Charakter des principium nicht widerspricht, ist es doch verblüffend, daß ein baccalarius biblicus ein prothema verfaßt, um sich über die Aufgaben des Predigers zu äußern. Die sonderbare Inhaltsverwandtschaft zwischen dem principium und dem Prolog zum Sentenzenkommentar des Aegidius (princ. 3, q. 2) muß zum andern angesichts des Themas der Erkenntnissicherheit der Theologie in Betracht gezogen werden. Wie wir später sehen werden, benutzen die beiden Texte dieselben Argumente, um zu beweisen, daß die Theologie im Bezug auf die Erkenntnis sicherer ist als die menschlichen Wissenschaften 38 . Die drei Argumente des principium finden sich auch im Prolog, der weitere zwei im principium fehlende Argumente hinzufügt. Darüber hinaus bemerkt man im Aufbau der Argumente einige Unterschiede, die aber die Verwandtschaft zwischen den beiden Texten keineswegs gefährden. Wie ist denn eine solche Verwandtschaft zu erklären? Wenn der Sermon 71 ein echtes biblisches principium ist, geht er natürlich dem Prolog zum Sentenzenkommentar voran, der in diesem Fall das principium 71 verwandt hätte. Wenn aber der Sermon 71 den Prolog benutzt, dann folgt daraus, daß er kein biblisches principium ist, weil ein biblisches principium immer dem Sentenzenkommentar desselben Verfassers vorangehen muß. Ist aber der Sermon 71 kein biblisches principium, dann ist die Frage, wie er zu betrachten und auf welchen Anlaß er zurückzuführen ist. Leider enthält dieser Text keinen Hinweis auf ein mögliches entweder liturgisches oder akademisches Ereignis. Man könnte natürlich an eine Inceptio-Rede denken, weil eine vom neuen magister gehaltene commendatio Sacre Scripture für die inceptio vorgesehen war 39 . Trotzdem erlaubt es der totale Mangel an Kenntnissen der Promotion des Aegidius zum magister theologie im Jahre 1285 nicht, diese Hypothese anzunehmen. In all den aegidianischen principia geht drittens das Lob der Heiligen Schrift nach dem Schema der vier aristotelischen Ursachen vor 40 . Denn aus der causa materialis, formalis, efficiens und finalis schließt Aegidius auf 37 38 35 40

Cf. ibid., 308. Cf. infra, 5 4 4 - 5 4 6 . Cf. Glorieux, L'enseignement, 145. Dazu cf. den folgenden Paragraphen.

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die Erhabenheit der Theologie sowohl im principium 69 — 70 zur Bibel als auch im principium 71 zu den Sentenzen. Obwohl das principium 71 dasselbe Schema bietet, beweist dieser Text ausführlich, daß die Würde einer Wissenschaft nur auf der causa materialis und formalis, d. h. auf ihrem Subjekt und ihrer Methode, beruht und deshalb von der causa efficiens und finalis abgesehen werden darf. Aus diesem Grund bezieht sich das Lob der Heiligen Schrift im principium 71 nur auf die materiale und formale Ursache. Wenn aber dieser Sermon ein biblisches principium ist und infolgedessen dem principium 73, das ein principium zu den Sentenzen ist, vorangeht, wie ist dann zu erklären, daß Aegidius im principium 73 die Heilige Schrift anhand der vier Ursachen lobt, ohne sich daran zu erinnern, was er ein oder zwei Jahre zuvor behauptet hatte? Darüber hinaus wird die These, daß die Würde einer Wissenschaft nur auf die Form und die Materie zurückzuführen sei, auch im Prolog zum Sentenzenkommentar aufgestellt. Infolgedessen könnte darüber hinaus die Hypothese gewissermaßen bestätigt werden, daß das principium 71 später einzuordnen ist als die principia 69 — 70 und 73. Dies würde es also mit sich bringen, daß der Sermon 71 kein biblisches principium ist, ohne trotzdem sein Wesen und seinen Ursprung aufzuhellen. 4. Das S c h e m a der v i e r U r s a c h e n Die aegidianischen principia benutzen, wie schon festgestellt, ein und dasselbe Schema, das die Analyse sowohl der Theologie als Wissenschaft als auch des zu kommentierenden Werkes (der Bibel und der Sentenzen) anhand der vier aristotelischen Ursachen vorsieht. Deshalb fragt sich der Verfasser danach, was die causa materialis,formalis, efficiens und finalis sowohl der theologie als auch des Werkes ist, das er in seinem Kurs kommentieren wird. Dieses Einführungsschema ist keine aegidianische Erfindung. Denn es geht auf die Jahre 1230 — 40 im Anschluß an die endgültige Durchsetzung der aristotelischen Lehre zurück 41 . Das neue Schema wird zuerst in der Artistenfakultät angewandt, verbreitet sich aber bald darauf auch in der theologischen Fakultät 42 . Es ist dementsprechend in den Prologen zu den 41

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Dazu cf. R. W. Hunt, The Introductions to the „Artes" in the Twelfth Century, in: Studia mediaevalia in honorem ... Raymundi Josephi Martin, Brugis Flandrorum 1948, 85 — 112, insbes. 1 0 7 - 1 0 9 . Hunt, ibid., erwähnt die Notule super Priscianum minorem des Robert Kilwardby, die Postilla super Isaiam des Guerricus de S. Quintino, die Postilla super XII Prophetas des Wilhelm von Middleton und die Postilla super Genesim des Wilhelm von Alton. Was die Artistenfakultät angeht, so kann man auch die Accessus philosophorum hinzufügen, die um 1230—40 in der Pariser Artistenfakultät verfaßt wurden (cf. C. Lafleur, Quatre introductions à la philosophie au XIII e siècle, Montréal—Paris 1988, 184sqq. ( = Pubi, de l'Institut d'Études médiévales XXIII)).

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Sentenzenkommentaren (ζ. Β. bei Bonaventura, Petrus von Tarantasia, Walter von Brügge und Aegidius 43 ) und in zahlreichen principia zur Bibel und zu den Sentenzen zu finden44. Bei den Aristoteleskommentaren hingegen hat das neue Schema das sechs Punkte enthaltende Schema des Boethius nicht ersetzt, das in mehr oder weniger abgekürzten und gemischten Formen bis ins 14. Jahrhundert hinaus fortdauert 45 . Unter diesem Gesichtspunkt ist Aegidius ein bedeutendes Beispiel. In der Tat hat seine Tätigkeit als Kommentator zehn Aristoteleskommentare und sechs theologische Kommentare hervorgebracht 46 (wozu die principia hinzuzufügen sind, die als theologische Kommentare gelten, weil sie im wesentlichen Prologe zu theologischen Kommentaren sind). Untersucht man die Prologe all dieser Werke, die die ganze akademische Aktivität des Aegidius widerspiegeln, bemerkt man, daß das Schema der vier Ursachen in allen theologischen Kommentaren, d. h. in den principia, den Kommen43

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Cf. S. Bonaventurae Opera theologica selecta, editio minor, I, Liber I Sententiarum, Ad Claras Aquas 1934, 1 — 12; Innocentii Quinti Pontificis Maximi In IV libros Sententiarum Commentarla, Tolosae 1652, Nachdruck Ridgewood, New Jersey 1964, 1 — 3. Zum Sentenzenkommentar des Walter von Brügge cf. J. Beumer, Die vier Ursachen der Theologie nach dem unedierten Sentenzenkommentar des Walter von Brügge OFM, in: Franziskanische Studien 40 (1938), 3 6 1 - 3 8 1 . Man kann die folgenden principia zu den Sentenzen erwähnen: Albertus Magnus (cf. F. Stegmüller, Repertorium commentariorum in Sententias Petri Lombardi, Würzburg 1947, Nr. 51, 1), Bertrandus Strabo de Bayonne (ibid., Nr. 105), Matthaeus ab Aquasparta (cf. V. Doucet, Commentaires sur les Sentences. Supplément au répertoire de M. F. Stegmüller, Ad Claras Aquas 1954, 60). Außerdem gibt es einige Sammlungen von solchen Texten, wie z. B. die Hss. Clm. 13501 und Neapel, Bibl. Nazionale, VII. F. 21 (zur Hs. Clm. 13501 cf. Grabmann, Romanus de Roma, 180—183; zur Hs. Neapel, VII. F. 21, cf. C. Cenci, Manoscritti francescani della Biblioteca Nazionale di Napoli, II, Grottaferrata 1971, 547-552). Dieses Schema entwickelt die folgenden Punkte: eperii intentio, utilitas, ordo, si eius cuius esse opus dicitur germanus propriusque liber est (d. h. die Authentizität), operis inscriptio, cui parti philosophiae supponitur (cf. Hunt, The Introductions, 95). Zu diesem Schema, das all den neuplatonischen Kommentatoren des Aristoteles eigen ist, cf. I. Hadot, Les introductions aux commentaires exégétiques chez les auteurs néoplatoniciens et les auteurs chrétiens, in: Les règles de l'interprétation, éd. par M. Tardieu, Paris 1987, 99 — 122; Id., Simplicius, Commentaire sur les Catégories, I, Leiden—New York—Kobenhavn—Köln 1990, 2 1 - 4 7 . Nach der chronologischen Ordnung verfaßte Aegidius die folgenden Aristoteleskommentare: Quaestiones metaphysicales, Super libros Rhetoricorum, Super De generatione, Quaestiones super librum I De generatione, Super Physicam, Super libros Elenchorum, Super De bona fortuna, Super De anima, Super Posteriora Analytica, Super De causis. Die Quaestiones metaphysicales und die Quaestiones super librum I De generatione haben keinen Prolog. Die theologischen Kommentare sind folgende: Super librum I Sententiarum, Super Canticum Canticorum, Super decretalem „Firmiter", Super decretalem „Cum Marthe", Super epistulam Ad Romanos, Super librum II Sententiarum. Die beiden Kommentare zu den Dekretalen haben keinen Prolog. Zur Chronologie der Aristoteleskommentare cf. S. Donati, Studi per una cronologia delle opere di Egidio Romano. I: Le opere prima del 1285 — I commenti aristotelici, in: Documenti e studi sulla tradizione filosofica medievale 1 (1990), 1 - 1 1 1 , 2 (1991), 1 - 7 4 .

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taren zu den Sentenzen, zum Hohenlied und zum Römerbrief, und nur in einem Aristoteleskommentar, nämlich im De causis-Kommentar, angewandt wird. Diese Tatsache läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß Aegidius diesen Kommentar nicht unter die aristotelischen, sondern unter die theologischen Werke gerechnet hat. Die Prologe zu den anderen aristotelischen Kommentaren hingegen zeigen kein bestimmtes Schema, obwohl sie sich in einigen Punkten an dem boethianischen Schema orientieren; so finden sich in ihnen der ordo des Werkes im aristotelischen corpus, der Titel und die Zugehörigkeit des Werkes zu einem bestimmten Teil der Philosophie 47 . Dennoch vermischen sich in einigen Prologen die beiden Schemata. Im Prolog des Hoheliedkommentars geht ein langer Abschnitt über den Titel, der einer der sechs boethianischen Unterpunkte war, der Abhandlung der vier Ursachen voran. Im De causis-Kommentar ist der Großteil des Prologs dem Beweis der Würde der hier behandelten Disziplin gewidmet; danach folgen ein kurzer Abschnitt über die vier Ursachen und die Erörterung des Titels und der Frage „cui parti philosophie supponatur", die die zwei letzten Punkte des boethianischen Schemas sind. Anderseits zeigen die Prologe der Kommentare zu den Elenchi Sophistici, zur Schrift De bona fortuna und zu den Analytica Posteriora Kontaminationen mit dem Schema der vier Ursachen 48 . Es wird also in echter und vollständiger Form in den principia49 und in den Prologen der Kommentare zu den Sentenzen und zum Römerbrief angewandt. Es ist also klar, daß zwei Traditionen im Hinblick auf die Einführungsschemata bei Aegidius eine Rolle spielen: eine ältere, die durch Boethius auf das 3. Jahrhundert nach Chr. zurückgeht, und eine jüngere, die ein typisches Erzeugnis des mittelalterlichen Aristotelismus und der mittelalterlichen Universität ist.

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Den ordo betrachten die Prologe der Kommentare Super De generatione (cf. ed. Venetiis 1505, Nachdruck Frankfurt 1970, Fol. 2ra-b), Super Physicam (cf. ed. Venetiis 1502, Nachdruck Frankfurt 1968, Fol. 2rb) und Super De anima (cf. ed. Venetiis 1500, Nachdruck Frankfurt 1982, Fol. aa2rb). Den Titel betrachten die Prologe der Kommentare Super Physicam (ibid.) und Super De bona fortuna (cf. ed. Venetiis 1551, Fol. 72vb). Den Punkt „cui parti phiíosophiae supponatur" betrachten die Prologe der Kommentare Super libros Rhetoricorum (cf. ed. Venetiis 1515, Nachdruck Frankfurt 1968, Fol. Ira) und Super De bona fortuna (ibid.). Cf. Super libros Elenchorum, ed. Venetiis 1500, Fol. 2va; Super De bona fortuna, ed. cit., Fol. 72vb (nur die causa formalis)·, Super Analytica Posteriora, ed. Venetiis 1496, Nachdruck Frankfurt 1967, Fol. a2va. Es ist bemerkenswert, daß in den principia keine Spur des von Boethius in der Schrift De differentiis topicis ausgearbeiteten Schemas zu beobachten ist, das als Einführung zu einer Disziplin statt zu einem Werk, diente (cf. Hunt, The Introductions, 87, 97). Dies wäre vielleicht dadurch zu erklären, daß die principia in keine Disziplin, d. h. die Theologie, sondern in ein Werk, d. h. die Bibel und die Sentenzen, einführten.

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5. D i e E r h a b e n h e i t d e r T h e o l o g i e : e i n V e r g l e i c h z w i s c h e n d e n principia und dem P r o l o g zum S e n t e n z e n k o m m e n t a r Auf die zwischen den principia und dem Prolog zum Sentenzenkommentar bestehende Verwandtschaft haben wir schon hingewiesen. Denn diese Texte haben nicht nur denselben Ursprung, d. h. die Vorlesungen des baccalarius, sie sind auch einander inhaltlich und chronologisch sehr nahe. Ein Vergleich kann deshalb interessant sein und dazu beitragen, einige Eigentümlichkeiten der aegidianischen Lehre über das Wesen der Theologie hervorzuheben. Damit man unserer Analyse folgen kann, fassen wir hier kurz das Schema der principia und des Prologs zusammen. Was die principia angeht, so möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die principia 69 und 71 einige prerogative oder excellentie der Theologie auf Grund ihrer Ursachen beimessen, während das principium 73 aus einem Vergleich zwischen der Theologie und den menschlichen Wissenschaften im Hinblick auf die vier Ursachen besteht. Der Prolog zum Sentenzenkommentar enthält ein Proömium, das Weish 7, 26—27 erläutert und daraus die vier Ursachen der vier Bücher der Sentenzen erschließt, und darüber hinaus dreizehn Quästionen, die die vier Ursachen der Theologie erforschen. Auf diese Weise wird in dem Prolog das, was einen einzigen Text in den principia bildet, nämlich die Analyse des zu kommentierenden Werkes (das Proömium) und die Analyse der Theologie im allgemeinen (die Quästionen), in zwei Abschnitte geteilt.

Principium 69 Γ facilitas causa formalis ·< universalitas stabilitas auctoritas causa efficiens •< infallibilitas L sensuum multiplicitas

Principium 71

causa formalis intelligentie profunditas

{ stabilitas

Theologie und menschliche Wissenschaften

541

Principium 73 scientie vente

humanitus

in- theologia

adulterine et ancillative

causa finalis

domina et libera

causa efficiens

homo

Deus

causa materialis

sensibilia

Deus

causa formalis: 1. forma tractatus

prius de sensibilibus postea de intelligibilibus

primo de intelligibilibus quam de sensibilibus

2. forma tractandi

discursiva vel probativa vel improbativa

innititur lumini divino

Prolog zum Sentenzenkommentar Principalis 1 (de subiecto, seil, de causa materiali) q. 1: Utrum idem sit aliquid esse subiectum scientie et esse de consideratione scientie. q. 2: Utrum theologia sit scientia communis vel specialis, q. 3: Quid sit subiectum in sacra pagina.

Principalis 2 (de his que consequitur scientia ex subiecto: ordine, dignitate, unitate, necessitate) q. 1 ( = ordo), art. 1: Utrum theologia subalternetur alicui scientie humane. art. 2: Utrum theologia subalternetur alicui alii scientie. art. 3: Utrum theologia subalternet sibi alias scientias humanas, q. 2 ( = dignitas): Utrum theologia sit dignior aliis scientiis humanis. q. 3 ( = unitas): Utrum theologia sit una. q. 4 ( = necessitas): Utrum sit aliqua scientia necessaria preter physicas disciplinas.

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Concetta Luna

Principalis 3 (de causa formali) q. 1: Utrum theologia sit sapientia vel scientia. q. 2: Utrum theologia habeat modum certiorem aliis scientiis. Principalis 4 (de causa efficiente) q. un.: Utrum solus Deus doceat earn. Principalis 5 (de causa finali) q. un.: Utrum theologia sit practica vel speculativa. Wenn man das Schema des Prologs betrachtet, so beeindruckt die große Anzahl der Quästionen, und es fallt der philosophische Charakter der hier geführten Forschung auf. Im Vergleich zum Prolog zeigen die principia den der Bibelexegese eigenen weniger technischen Gedankengang 50 . Da der Prolog umfangreicher und komplizierter ist als die principia, werden einige seiner Themen in den principia nicht einmal erwähnt und andere nur flüchtig behandelt. Wenn man sich an das Schema des Prologs hält, führt der Vergleich zu folgenden Ergebnissen: (I) Die causa materialis·. Aegidius beschäftigte sich intensiv mit dem Problem des Subjekts der Theologie. Er behandelte es nicht nur in diesem Prolog, sondern auch in der Quaestio de subiecto theologie, in Quodl. III, q. 2, im Tractatus de subiecto theologie und im Prolog zum 2. Buch der Sentenzen51. Wie allgemein bekannt, vertrat Aegidius die Ansicht, daß Gott in sich selbst kein Subjekt der Theologie sei, weil der Mensch seiner Beschränktheit wegen eines begrenzten und bestimmten Gesichtspunkts bedürfe, vom welchem aus er Gott betrachten könne. Also lautet die aegidianische Formel: Das Subjekt der Theologie ist Gott, insofern er der Ursprung unserer Erneuerung und die Vollendung unserer Verherrlichung ist (principium nostre restaurationis et consummatio nostre glorificationis). Die Erörterung dieses Themas, der die erste quaestio principalis gewidmet ist, hat fast keine Spur in den principia hinterlassen. Denn in den principia 69 und 71 sagt Aegidius nur, daß das Subjekt der Theologie Gott sei, und ausschließlich im principium 73 begegnen wir der typischen aegidianischen

50

51

Zum Unterschied zwischen dem Stil der Sermonen und dem des Sentenzenkommentars des Aegidius cf. C. Luna, Théologie trinitaire et prédication dans les sermons de Gilles de Rome, in: Archives d'histoire littéraire et doctrinale du Moyen Age 58 (1991), 99 — 195. Zum Problem des Subjekts der Theologie cf. Anm. 6.

Theologie und menschliche Wissenschaften

543

Formel, die aber keineswegs bewiesen wird 52 . Es ist doch bemerkenswert, daß Aegidius diese Formel schon in seiner Vorrede zum Sentenzenkommentar benutzt hat. Was die zweite quaestio principalis des Prologs angeht, ist sie den vier Eigentümlichkeiten gewidmet, die einer Wissenschaft auf Grund ihres Subjekts zukommen: ordo, dignitas, imitas und necessitas. Davon ist in den principia keine Rede, wo überhaupt jeder Hinweis auf die Einheit und Notwendigkeit der Theologie fehlt. Es besteht aber eine gewisse Ähnlichkeit in bezug auf den ordo und die dignitas. In diesem Bereich bezeichnet das Wort ordo die Hierarchie der Wissenschaften. Diesem Thema ist der Prolog, princ. 2, q. 1, art. 1—3, gewidmet, in dem die bekannte Frage nach der Unterordnung der menschlichen Wissenschaften unter der Theologie und der Theologie unter der göttlichen Wissenschaft diskutiert wird 53 . Obwohl in den principia eine ex professo Erörterung dieses Themas fehlt, behauptet das principium 73 die Erhabenheit der Theologie im Vergleich zu den menschlichen Wissenschaften auf Grund der Tatsache, daß die Theologie „attingit optimum", d. h. sich mit dem höchsten Seienden beschäftigt. Die Auffassung, daß die menschlichen Wissenschaften der Theologie untergeordnet sind, weil die Theologie attingit optimum, wird im dritten Artikel erläutert. Trotz der beachtlichen Verwandtschaft zwischen den beiden Texten54 muß man bemerken, daß der Prolog das Thema der Unterordnung bei der Erörterung der causa materialis behandelt, während es im principium 73 zu der Erörterung der causa finalis gehört. Es kann also nicht ohne Grund auf den äußerlichen und formalen Charakter dieses Schemas geschlossen werden 55 . Was die dignitas angeht, haben wir schon auf die zwischen dem principium 71 und dem Prolog, princ. 2, q. 2 bestehende Verwandtschaft hingewiesen. Denn in diesen beiden Texten behauptet Aegidius, die dignitas einer Wissenschaft gehe aus ihrem Subjekt und ihrer Methode, d. h. aus ihrer causa materialis und formalis hervor. Deshalb verweist die princ. 2, q. 2, die die 52 53 54

55

Cf. Luna, Repertorio dei sermoni, 315. Zur Frage nach der subalternatio der Wissenschaften cf. Chenu, La théologie comme science, 71—85. Cf. principium 73, Hs. Ρ, Fol. 195rb, lin. 32—42: „Cum autem magis sit de Deo (eo Hs.) vel de prima causa theologia quam metaphysica, in comparatione ad alias est dea ipsarum. Ipsa enim metaphysica in comparatione ad istam ancillatur. Nam sicut quod attingit (contingit Hs.) optimum dominatur hiis que non attingunt, sic quod magis attingit dominatur ei quod minus. Et quia theologia magis attingit Optimum quam metaphjsica, ei metaphysica ancillatur. Singule ergo scientie respectu huius anelile et adulterine sunt et ista quasi libera omnibus dominatur"·, Prolog, princ. 2, q. 1, art. 3, ed. cit., Fol. 4vb Q: „Et quia magis attingit optimum theologia quam metaphysica, ..., magis ancillabuntur theologie singule scientie quam metaphysice, immo ipsa metaphysica, ad theologiam comparata, non erit libera, sed cum minus attingat optimum quam ipsa, debet ei merito ancillari". Ein weiteres Beispiel besteht darin, daß die sensuum multiplicitas im principium 69 bei der Erörterung der causa efficiens und im principium 71 bei der Erörterung der causa materialis behandelt wird.

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Concetta Luna

aus dem Subjekt hervorgehende Würde erläutert, auf die princ. 3, q. 2, wo die höhere Erkenntnissicherheit der Theologie gegenüber den anderen Wissenschaften bewiesen wird. In diesem Fall ist der Text des principium erheblich länger und tiefgehender als der des Prologs. Denn während Aegidius im Prolog sich darauf beschränkt, diese These durch ein Zitat aus De anima I zu bestätigen, eröffnet er im principium 71 eine echte quaestio56. In der Lösung erklärt er, die causa finalis und die causa efficiens könnten den spekulativen Wissenschaften keine besondere Würde beimessen. Denn in diesen Wissenschaften (einschließlich der Theologie) sei das Ziel mit der Materie gleichzusetzen. Was die causa efficiens angehe, so sei sie bei der Theologie mit der Materie gleichzusetzen und bei den menschlichen Wissenschaften unerheblich, weil zufallig. Betrachtet man aber die in den principia ausgeführte Erörterung der causa materialis, so ist sie weit weniger technisch als im Prolog. Im principium 69 behauptet Aegidius, daß die Theologie aus ihrem Subjekt, d. h. Gott, subtilitas, sublimitas und difficultas ziehe, weil Gott das einfachste, edelste und uns verborgenste Seiende sei. Ebenfalls dreifach ist die Erhabenheit, die die causa materialis der Heiligen Schrift im principium 71 beimißt: die Mehrheit der exegetischen Sinne, das Freisein von Fehlern und die Gedankentiefe der Themen, die aber mit einfachen und allen verständlichen Worten behandelt werden. (II) Die causa formalis: Während die im Prolog, princ. 3, q. 1 ausgeführte Erörterung über die Frage, ob die Theologie Wissenschaft oder Weisheit sei57, keine Entsprechung in den principia findet, bemerkt man eine bedeutende Verwandtschaft zwischen dem Prolog, princ. 3, q. 2, und dem principium 71 im Hinblick auf die Erkenntnissicherheit der Theologie. Im principium 71 wird die Erkenntnissicherheit stabilitas benannt und als die der Theologie auf Grund der causa formalis beigemessene excellentia angesehen. Um auf diese stabilitas Licht zu werfen, beweist das principium 71, daß die Theologie im Unterschied zu den menschlichen Wissenschaften keine der drei Instabilitätsbedingungen erfülle, und zwar: 1. si non est certificativa, 2. si est discursiva, 3. si non est finalis et terminativa. Diese drei Bedingungen werden mit drei Elementen der menschlichen Erkenntnis verbunden: 1. phantasma, 2. species intelligibilis, 3. lumen intellectus agentis. Die Erörterung über diese drei Bedingungen kann wie folgt zusammengefaßt werden:

56

57

Cf. principium 71, Hs. P, Fol. 18va, lin. 12—5 ab imo: „Sed si sic dicimus, quedam rationabilis questio nobis obviare videtur. Nam cum excellentia et nobilitas rei ex suis causis sit accipienda, cum sacre pagine et etiam aliarum scientiarum non solum sit assignare causam materialem et formalem, sed etiam efficientem et finalem, non solum excellentia scripture sacre et aliarum scientiarum accipietur ex materia et ex forma, sed etiam ex efficiente et ex fine". Zu dieser Frage cf. Chenu, La théologie comme science, 39, 68, 93 — 100.

Theologie und menschliche Wissenschaften

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(1) Die menschlichen Wissenschaften verleihen keine Sicherheit, weil ihr Subjekt zusammengesetzt und vom phantasma abhängig ist. Die Theologie hingegen hat ein sehr einfaches Subjekt, im Vergleich zu dem alle anderen Wissenschaften „se habent per appositionem". (2) Die menschlichen Wissenschaften sind diskursiv, weil sie auf dem lumen intellectus agentis beruhen. Wegen der Schwäche dieses lumen kann der Mensch weder die Folgerungen gleichzeitig mit den Grundsätzen noch die Prädikate gleichzeitig mit dem Subjekt erfassen. Deshalb wird der menschliche Verstand dazu gezwungen, von den Grundsätzen zu den Folgerungen überzugehen (discurrere) und das Subjekt mit seinen Prädikaten zu verbinden. Die Theologie hingegen, die keineswegs auf dem lumen naturale, sondern auf dem göttlichen Licht beruht, ist einem solchen discurrere nicht unterworfen. Außerdem muß man darauf aufmerksam machen, daß die Idee, die „Instabilität" der menschlichen Wissenschaften sei auf ihren diskursiven Charakter zurückzuführen, der seinerseits eine Folge der Schwäche des lumen intellectus agentis sei, sich auch im principium 73 findet, das dem Prolog zum Sentenzenkommentar zweifellos vorangeht 58 . (3) Die menschlichen Wissenschaften sind nicht terminative, d. h. sie befriedigen den Verstand nicht, weil sie von den Sinnen abhängig sind. Denn die menschlichen Wissenschaften beruhen auf den species intelligibiles, die aus den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen abstrahiert werden. Die Theologie hingegen, die eine göttliche Emanation ist, hängt keineswegs von solchen Gegenständen ab. Diese drei Argumente finden sich auch im Prolog, princ. 3, q. 2, wo Aegidius die certitude der Theologie wie folgt beweist: (1) Ex ipsis rebus de quibus considérât: Dieses Argument enthält drei verschiedene Punkte. (1 a) Eine Wissenschaft ist weniger sicher als eine andere, wenn sie von Gegenständen „que se habent per appositionem" handelt. Dies bedeutet, daß eine Wissenschaft desto sicherer ist, je einfacher ihr Subjekt ist. Die Geometrie z. B. ist weniger sicher als die Mathematik, weil ihr Subjekt, nämlich der Punkt, zum Subjekt der Mathematik, nämlich der Einheit, den Begriff einer Raumanordnung hinzufügt. Deswegen sind die die Prinzipien betrachtenden Wissenschaften am sichersten. Infolgedessen ist die Theologie die sicherste all der Wissenschaften, weil sie Gott betrachtet, der das Prinzip aller Dinge ist. Offenbar entspricht dieses Argument dem ersten des principium. (1 b) Die Wissenschaft ist sicherer, die sich mit dem weniger Sensiblen beschäftigt. Dieses Argument entspricht dem dritten des principium. (1 c) Die Wissenschaft, die das propter quid erklärt, ist sicherer als die Wissenschaft, die nur das quia beweist. Diesem Argument entspricht nichts

58

Cf. Luna, Repertorio dei sermoni, 310.

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im principium. Aegidius behauptet, die Argumente (1 b) und (1 c) könnten auf das Argument (1 a) zurückgeführt werden, insofern die weniger abstrakte Wissenschaft gegenüber der abstrakteren (1 b) und die quia-Wissenschaft gegenüber der propter-quid- Wissenschaft (1 c) „se habet per appositionem". (2) Ex lumine cui innititur: Die auf dem übernatürlichen Licht beruhende Wissenschaft, nämlich die Theologie, ist sicherer als die auf dem Licht der Vernunft, d. h. dem lumen intellectus agentis, beruhende Wissenschaft. Dieses Argument entspricht dem zweiten des principium^. (3) Ex proportione scientie ad scientes: Zieht man die certitude adhesionis in Betracht, ist die Theologie die sicherste Wissenschaft, weil die Gläubigen für sie bereit sind, sich aufzuopfern. Berücksichtigt man dagegen die certitudo speculations, ist sie nicht die sicherste Wissenschaft, weil sie von ungesehenen Gegenständen handelt 60 . Im principium kommt kein ähnliches Argument vor. Das Verhältnis zwischen dem Prolog und dem principium kann wie folgt dargestellt werden, wenn man auf die Nummern der Argumente verweist: Prolog, princ. 3, q. 2 (la) (1 b) (lc) (2) (3)

(2)

Es ist, wie schon gesagt, sehr schwierig, das chronologische Verhältnis der beiden Texte genau zu bestimmen, und man beschränkt sich besser darauf, ihre erhebliche Verwandtschaft festzustellen, die von der methodologischen Bedeutung der aegidianischen principia zeugt. (III) Die causa efficiens·. Bei der Erörterung dieser Ursache liegt keine Affinität zwischen dem Prolog und den principia vor. Denn diesem Thema widmet der Prolog nur eine quaestio, die die Frage erörtert, ob die Theologie nur von Gott belehrt werden könne. Dieses Problem hingegen betrachten die principia überhaupt nicht. Abgesehen vom principium 71, das weder die causa efficiens noch die causa finalis in den Blick nimmt, beharrt Aegidius in den principia vor allem auf dem Begriff von auctoritas, der ziemlich oft in den commendationes Sacre Scripture vorkommt 61 . 59 60

61

Es wird auch von Thomas von Aquin, Summa th., Ia, q. 1, art. 5, entwickelt. Zum Unterschied zwischen der certitudo adhesionis und der certitudo speculations cf. Prassel, Das Theologieverständnis, 65—66. Cf. e. g. das biblische principium „Hic est liber" des Thomas von Aquin (ed. cit., 435—436).

Theologie und menschliche Wissenschaften

547

(IV) Die causa finalis·. Angesichts dieses Themas besteht gleichfalls keine Verwandtschaft zwischen den principia und dem Prolog. Denn mit der causa finalis verbindet Aegidius im Prolog die Erörterung über den spekulativen oder praktischen Charakter der Theologie. Von diesem Problem, das eine ausführlich debattierte Frage bildete, findet man in den principia keine Spur, in denen Aegidius seine These des affektiven Charakters der Theologie vielleicht noch nicht aufgestellt hatte. Auf die causa finalis führt das principium 69 die Eigenschaften von claritas, suavitas und bonitas zurück, ohne dieses aber genau zu erklären. Bedeutender ist dagegen die im principium 73 ausgeführte Erörterung, die auf dem herkömmlichen Begriff der menschlichen Wissenschaften als ancille theologie beruht. Trotzdem entspricht dieser Abschnitt, wie gesagt, der Erörterung über die Unterordnung der Wissenschaften, die sich im Prolog im Bereich der causa materialis findet.

Der vorhergehende kurze Vergleich läßt meines Erachtens zwei Schlüsse zu. Die aegidianischen principia zeigen erstens schon eine gewisse Reife und Sicherheit bei der Erörterung der Frage nach dem Wesen der Theologie, obwohl sie die ältesten Zeugnisse seiner akademischen Aktivität sind. Die Analyse der aegidianischen principia beweist zweitens, daß einige Texte, die oft als „kleinere Werke" gelten, für das Verständnis der sogenannten Hauptwerke manchmal unentbehrlich und immer sehr nützlich sein können.

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit in der Summa des Heinrich von Gent (f 1293) LUDWIG HÖDL

(Bochum)

In der bekannten Wette „Unendlichkeit — Nichts" analysierte Blaise Pascal in seinen „Pensées" das Wagnis des Glaubens für den Denkenden 1 . Wenn es einen Gott gibt, dann ist er unendlich und von unendlicher Unbegreiflichkeit. Die Glaubensentscheidung für ihn ist ein Wagnis und kommt einer Wette gleich in einem Spiel, das man gezwungenerweise mitspielen muß. Soll man auf die Vernunft verzichten, um das Leben zu wahren, das ewige, selige Leben? Es geht um Unendlichkeit und Nichts. Im 17. Jh., in dem Pascal lebte und schrieb, war das UnendlichkeitsPrädikat längst zu einem Attribut Gottes geworden, und zwar, wie Pascals Pensée zeigt, zu einem grundlegenden. Dies war aber in der Geschichte der Theologie nicht immer so. Die lateinische Bibel des Neuen Testaments kennt dieses Gottesprädikat nicht. In der Vätertheologie, vor allem in der lateinischen, wurde es nur sporadisch gebraucht, und zwar im Sinne der unbegrenzten Vollkommenheit 2 . Bei den griechischen Theologen Gregor v. Nyssa, Gregor v. Nazianz und Johannes v. Damaskus erlangte dieses Attribut für die Gotteserkenntnis erhöhte Bedeutung 3 . In den Sentenzenbüchern des Petrus Lombardus ist nur en passant, in einem Augustinus-Zitat, von der vollkommenen und unendlichen Natur Gottes die Rede 4 . Im Wortindex taucht der Begriff nicht auf. Abaelard und die Porretani verwendeten ihn, ebenso auch (gelegentlich) Stephan Langton 5 . Im 13. Jh. handelte Thomas v. Aquin von der Unendlichkeit Gottes in Kontext der Ausführungen über die 1 2

3

4 5

Bl. Pascal, Gedanken, übers, von W. Rüttenauer, Leipzig 1941, 39. Cf. Augustinus, D e natura boni, η. 22, CSEL 25.2, 864: „... ne finis eius dici putetur..."; cf. E n c h P Index: Essentia Dei et attributa. Gregorios ν. Nyssa, Contra E u n o m i u m c. 3, P G 45, 601: „...hoc solum profitentes, quod infinitum secundum naturam conceptu aliquo vocum comprehendi nequit." Joannes Damascenus, D e fide orthodoxa I c. 4, P G 94, 797. Petrus Lombardus, Sententiae, I d. 8 c. 8 n. 1, ed. Romae I, 101. Peter Abaelard, Theologia „Scholarium" II n. 10, PL 178, 1057C: „...sed totum vita est, natura scilicet perfecta et infinita...". Cf. Stephan Langton, Sent. I d. 8, ed. A. M. Landgraf B G P h T h M A X X X V I I . 1, 1952, 9. Gottes Weisheit und Güte heißen unendlich, weil sie unvergleichbar sind. Cf. auch die Zwettler Summe, I n. 16, ed. N. M. Häring, ibid. N F 15, 1977, 29.

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit

549

göttliche Vollkommenheit 6 und sicherte fortan dem Begriff seinen Ort in der Theologie. Duns Scotus machte in seiner bekannten „Abhandlung über das erste Prinzip" den Unendlichkeitsbegriff zum Fundament seiner philosophischen Gotteserkenntnis 7 . Wegbereiter dieser Erkenntnis war Heinrich von Gent, dessen Todestag am 29. Juni 1293 im 700jährigen Gedenken wiederkehrt. In der Summa seiner Quaestiones ordinariae kam er zweimal auf das Thema ausführlich zu sprechen: Im Rahmen des 35. Hauptstückes, in dem er über das Wesen und die Kraft göttlichen Erkennens disputierte, stellte er die Frage nach der Unendlichkeit dieser Potenz 8 . In Artikel 45, den ich zusammen mit Art. 41 —46 für die kritische Edition vorbereite, erörtert er in zwei umfangreichen Quästionen Begriff und Bedeutung der göttlichen Unendlichkeit 9 . Diese wichtige Thematik ist schon wiederholt untersucht worden. D. E. Dubrule untersuchte in seiner Dissertation „Divine Infinity in the Writings of Henry of Ghent" Heinrichs Analyse des Unendlichkeitsbegriffes und würdigte vor allem die philosophische Leistung dieser Analyse 10 . In dem Maße, in dem der Magister aus Gent die Begriffsanalyse aus dem Kontext der aristotelischen Physik herausnahm und in den theologischen Kontext rückte, gewann der Begriff des Unendlichen seine eigentliche, positive Bedeutung. In einem sehr kurzen, aber gedankenreichen Beitrag zum Pariser Augustinus-Kongreß 1954 würdigte E. Gilson Heinrichs Begriff der göttlichen Unendlichkeit als Wiederentdeckung der Theologie Augustine, in der Gottes Vollkommenheit als je noch größere, unendlich sich steigernde Wirklichkeit verstanden wird 11 . Was kann eine zusätzliche Studie noch leisten? Im 13. Jh. befand sich der Begriff des Unendlichen im Gewahrsam der aristotelischen Naturphilosophie. Thomas v. Aquin und Heinrich v. Gent — gerade dieser letztere — haben den Begriff zur theologischen Bedeutung gebracht und aus dem philosophischen Gewahrsam befreit. In dieser theologischen Neukonstruierung ging aber dem Unendlichkeitsbegriff keineswegs seine philosophische Bedeutsamkeit verloren, im Gegenteil: Duns Scotus machte ihn zum Schlüsselbegriff der philosophischen Gotteslehre. Das Wechselspiel zwischen philosophischer und theologischer Begriffsarbeit ist keine Einbahnstraße. Die Erforschung der Begriffsgeschichte von Thomas über Heinrich v. Gent bis Duns Scotus ist noch keineswegs bewältigt. Die eigentliche Leistung des Heinrich v. Gent in dieser Geschichte wird vor allem dadurch beleuchtet, daß die Vorarbeit des Thomas, dessen Werke 6 I 8 9 10 II

Thomas v. Aquin, S. Th. I q. 7: De infinítate Dei. Cf. Anm. 76. Summa, art. 35 q. 6, ed. 1520, fol. 226A-229Z. Ibid., art. 44 q. 1 - 2 , ed. 1520 II, fol. l l v A - 1 6 r H . D. E. Dubrule, Divine Infinity in the Writings of Henry of Ghent. Diss. Abstr. 30A, 1969-70, 762. E. Gilson, L'infinite divine chez s. Augustin, in: Aug. Mag. I, 1954, 569 — 574.

550

Ludwig Hödl

Heinrich genauestens kannte, skizzenhaft eingeholt wird, und daß ebenso im Ausgriff auf die Theologie des Duns Scotus dessen Nacharbeit und Nach-Denken der Gedanken des Genter Magisters begründet wird. So ergibt sich die Gliederung dieses Aufsatzes: 1.) Das Problem des Unendlichen in der thomasischen Gotteserkenntnis, 2.) Die Quaestiones (ordinariae) des Heinrich v. Gent über die Unendlichkeit Gottes, 3.) Die Vorarbeit des Heinrich v. Gent zu des Duns Scotus Traktat „De primo principio".

1. D a s P r o b l e m des U n e n d l i c h e n in der t h o m a s i s c h e n Gotteserkenntnis Die scholastische Diskussion über das Unendliche hat ihren angestammten Ort in der Auslegung des 3. Buches der Physik, Kapitel 4—8, und des 10 (11) Buches der Metaphysik, Kapitel 10, des Aristoteles. Diese Diskussion ging von der Voraussetzung aus, daß das Unendliche eine Bestimmung der (unbegrenzten) Quantität sei 12 . Das weithin nicht reflektierte Verständnis des Unendlichen durch das Unbegrenzte, Grenzenlose brachte es mit sich, daß die Philosophen auf das Problem stießen, daß es einerseits das Unbegrenzte, den Punkt gibt, das nicht formal und wesentlich unendlich ist, und daß es andererseits das Unendliche gibt, die Linie und Fläche, das begrenzt ist. Aus dieser begrifflichen Unscharfe resultierte in der Kosmologie das immer wieder diskutierte Problem, daß und wie ein begrenzter Körper mit endlicher Bewegkraft eine unbegrenzte, unendliche Bewegung wirken könne, wie im Rahmen der antiken Weltewigkeits-Lehre allgemein angenommen wurde. Umgekehrt standen aber die Theologen in der christlichen Schöpfungslehre vor dem Problem, daß und wie eine unendliche, geist-schöpferische Kraft Endlich-Begrenztes wirken könne. Das Quantitativ-Unendliche ist unendlich teilbar und addierbar; es muß

darum definiert werden als das, „cuius semper aliquid est extra"13.

Dadurch

unterscheidet sich das Unendliche vom Vollkommenen und Ganzen, daß es g e r a d e als d a s d e f i n i e r t w e r d e n m u ß , „cuius ...

nihil est extra...",

wie

wiederum Albert mit Aristoteles lehrte14. Nun waren aber bereits die antiken Philosophen der Meinung, daß das Unendliche dem Ganzen und Vollkommenen ähnlich sei. Erst recht mußten die christlichen Theologen von dieser Identität der unendlichen Vollkommenheit und vollkommenen Unendlichkeit in ihrem Gottesverständnis ausgehen. Dieses Unendliche 12

13

14

Albertus M., Physica III tr. 2 c. 4, ed. P. Hossfeld 177, 83 sq.: „... quia ratio infiniti quantitati congruit et extra quantitatem non invenitur." Aristoteles, Physik III c. 6, 206b33-207al; Albertus M., Phys. III tr. 2 c. 14, ed. P. Hossfeld, 193. Ibid., 207a9 —10.

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit

551

darf aber dann gerade nicht als das (quantitativ) umfassende Contentum gedacht werden, denn es ist Continens. Angesichts dieser Schwierigkeiten mußten die Theologen allererst den naturphilosophischen Begriff des Unendlichen überprüfen. Für Thomas v. Aquin stand bei der Erklärung des 3. Buches der Physik des Aristoteles, die er Ende der sechziger Jahre des 13. Jh. in Paris in Angriff nahm, fest, daß alle Naturphilosophen der Vorzeit dem Unendlichen prinzipielle Bedeutung zumaßen, in der (substanzialen) Bestimmung dieses Unendlichen als Materie oder Intellekt weit auseinander gingen 15 . Wenn aber kein Körper, der aus bestimmten Elementen zusammengesetzt ist, unendlich sein kann, dann kann auch das ganze Universum nicht unendlich sein16. Andernfalls müßte es auch einen unendlichen Raum geben 17 . Das Quantitative ist nur der Potenz nach unendlich, nicht der Sache nach. Es kann je noch größer oder je noch kleiner gedacht werden, sofern es sich aber um das konkrete Quantum handelt, so ist dieses im je noch größeren enthalten. So gesehen hat das Quantum eher den Charakter des Teiles als des Ganzen. Aus diesen Überlegungen erhellt, daß es sinnlos ist anzunehmen, das prinzipiell Unendliche sei die Materie. In Lectio 10 zum 10. (in der lat. Zählweise: 11) Buch der Metaphysik faßte Thomas die naturphilosophischen Erkenntnisse des (quantitativ) Unendlichen zusammen und machte die Grenzen der Naturphilosophie geltend: Das Unendliche ist das „indivisibile" und darum gerade nicht mehr quantitativ. In prinzipieller Bedeutung darf es auch nicht akzidentell verstanden werden; seine Erkenntnis übersteigt die naturphilosophische Betrachtung 18 . Der Begriff des Quantitativ-Unendlichen ist sehr vieldeutig, wie Thomas abschließend bemerkt 19 : Bei der Betrachtung der Größe, der Bewegung oder der Zeit erscheint das jeweils Spätere im Vergleich zum Früheren als unendlich. Der Begriff hat aber jeweils seine unterschiedliche Bedeutung. In den Quaestiones ordinariae De potentia hat sich Thomas im Rahmen der schöpfungstheologischen Frage nach der unendlichen Kraft Gottes mit dem Unendlichkeitsbegriff der aristotelischen Physik auseinandergesetzt20. Die von ihm geschätzten Theologen Johannes v. Damaskus und Hilarius, brachten ihn auf dieses Thema. Mit der Unterscheidung einer negativen und privativen Unendlichkeit machte er sofort deutlich, daß der naturphilosophische Begriff des Quantitativ-Unendlichen in der Theologie unbrauchbar ist. In privativer Bedeutung bezeichnet der Begriff das Quan-

15 16 17 13 15 20

Thomas v. Aquin, In Physic. III c. 4, lect. 6 n. 355, ed. Marietti, 166. Ibid., lect. 9 n. 368, p. 181. Ibid., n. 363, p. 180. Thomas v. Aquin, In Metaphys. XI(X), lect. 10 n. 2326, ed. Marietti, p. 551. Ibid., η. 2354, p. 554. Thomas ν. Aquin, Quaest. disp. De potentia, q. 1 a. 2: „Utrum potentia Dei sit

infinita."

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titative, das zwar keine Grenze hat, aber nur begrenzt vorfindbar ist 21 . Dieser Begriff kann nicht auf Gott angewendet werden. Theologisch kann darum nur in negativer Bedeutung vom Unendlichen gesprochen werden: Was immer von Gott ausgesagt wird, Weisheit und Kraft, ist in ihm unendlich. Er ist unendlich weise, unendlich mächtig, gütig usw. In dieser Ausdrucksweise bedeutet unendlich, daß alle Vollkommenheiten Gottes in grenzenloser Unendlichkeit verstanden werden müssen, so zwar, daß alle Grenzen des Soseins und Daseins negiert werden. Die positiv-inhaltlichen Aussagen über Gott — er ist weise und mächtig — betreffen die Weise unseres Erkennens, nicht aber das Wesen Gottes, das unerkennbar ist. Thomas begründete Gottes Unendlichkeit aus der Vollkommenheit seines (göttlichen) Seins und Wesens. Dasein und Wesen des Menschen sind in zweifacher Weise eingegrenzt, einerseits durch Gattung und Art, andererseits durch das naturale Dasein in konkreter Individualität. Das Sein Gottes darf weder von einem bestimmten Wesen her noch in einem bestimmten naturalen Dasein begrenzt gedacht werden. „Totum esse in se habet"22. Wenn aber Gottes Erkennen und Wollen unendliche, vollkommene Kraft sind, wie kann Endliches, Vielfaches und Verschiedenes von Gott geschaffen werden? Unbeschadet der Unendlichkeit der göttlichen Macht ist die Intensität dieser Macht in den verschiedenen Wirkungen unterschiedlich. Es ist ein und dieselbe unendliche Kraft Gottes, die in den verschiedenen Schöpfungswerken unterschiedlich wirksam ist. Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen, vergleicht Thomas die extensive und intensive Unendlichkeit. Jedes unendliche Quantum ist eine stetig fortschreitende, diskrete Größe, die sich in ihren Teilen unterschiedlich je größer oder kleiner ins Unendliche erstreckt. Die unendliche göttliche Kraft erstreckt sich ebenso in unterschiedlicher Intensität auf das Größere und das Kleinere. Aus diesem Vergleich wird deutlich, wie sehr Thomas auch im theologischen Denken den naturphilosophischen Begriff des Unendlichen im Auge behält. Wenn auch letzterer in der Theologie nicht voll anwendbar ist, muß er dennoch in der Diskussion bleiben. Die Inhalte des philosophischen und des theologischen Begriffes müssen aufeinander bezogen bleiben, weil sie im Kontext desselben Themas verwendet werden. In der Schöpfungstheologie ist der Begriff des Unendlichen wichtig, weil er die schöpferische Kraft Gottes nicht nur von allem Endlichen absetzt, sondern zugleich auch in Beziehung setzt. In zeitlicher und thematischer Nähe zu den Quaestiones disputatae De potentia schrieb Thomas auch die Prima pars seiner Summe für die Studenten im Ordensstudium in Rom (um 1265/67). In der Reihe der 21 22

Ibid., corp. art. Ibid.

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit

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Gottesprädikate behandelt er nach der Einfachheit und Vollkommenheit Gottes in Quaestio 7 die göttliche Unendlichkeit und schließt daran die Betrachtung der Inexistenz Gottes in der Schöpfung, seine Unveränderlichkeit, Ewigkeit und Einheit an. Der Kontext, in dem die Frage nach der Unendlichkeit Gottes steht, ist bemerkenswert. Die Frage nach der Einfachheit und Vollkommenheit Gottes gibt die Frage nach seiner Unendlichkeit auf, weil alle göttlichen Vollkommenheiten im Unendlichen konvergieren und diesem unendlich Vollkommenen nichts fremd und fern sein kann. Und darum fragt Thomas sofort in Quaestio 8 nach der Inexistenz Gottes in den Dingen. Unter den 9 Quästionen, welche die Seinsvollkommenheit Gottes betrachten, bildet die 7. über die Unendlichkeit nicht nur äußerlich den Scheitelpunkt der Darlegungen des Thomas 23 . Im 1. Artikel dieser (7.) Quästion über den unendlichen Gott hält Thomas eine geistesgeschichtliche Klarstellung für notwendig, die Heinrich v. Gent für außerordentlich wichtig erachtete, wie zu zeigen ist. Bereits Aristoteles mußte im 1. Buch der Physik eine Reihe von philosophischen Irrtümern bezüglich der Unendlichkeit des ersten Prinzips anmerken, und auch Thomas muß feststellen: Wer die Materie als Urprinzip geltend macht, muß diesem quantitative Unendlichkeit zusprechen 24 . Dadurch wird aber die Diskussion über die Unendlichkeit der Erstursache gerade für den Theologen über die Maße belastet: Bereits im 1. Artikel muß darum Thomas gegen den naturphilosophischen Begriff des (material) Unendlichen den der formal-wesentlichen Unendlichkeit klarstellen. Und er versteht diese Klarstellung als eine philosophische. So wie die Form durch die Materia nicht vollendet wird, vielmehr durch sie in ihrer Weite und Fülle eingegrenzt und zusammengezogen wird, so kann das Formal-Unendliche nur für sich und nicht in der Bindung durch das MaterialUnendliche das Wesen des Unendlichen offenbaren 25 . Die stoffgebundenen Wesensformen sind schlechthin endlich, nicht nur begrenzt in ihrem naturalen Hersein und Dasein, sondern auch in ihrem Wesen, das sie nicht ausschöpfen, an dem sie nur Anteil haben. Wir, die Theologen, kennen aber auch die stoff-freien Wesensformen, die Engel, die vollkommen in ihrem Wesen gründen, und dieses ganz und vollkommen sind. Der Engel ist insofern unendlich, als er sein Wesen ganz und vollkommen ist und in diesem Sein wesenhaft nicht begrenzt ist. Der Engel muß aber sein Sein empfangen, und so gesehen ist er nicht schlechthin unendlich. Das göttliche Sein hingegen ist absolut unendlich, weil er

23 24 25

Ibid., q. 3 Introducilo. Cf. Ibid., q. 7 a. 1: „... consequenter attribuerunt primo principio infinitatem materialem; dicentes aliquod corpus infinitum esse primum principium." Ibid.: „Forma autem non perficitur per materiam, sed magis per earn eius amplitudo contrahitur; unde infinitum secundum quod se tenet ex parte formas non determinatae per materiam, habet rationem perfecti."

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ganz und vollkommen und aus sich das Wesen ist. Gott besitzt das Sein in seiner Ganzheit und Vollkommenheit, allein aus sich selber, und darum ist er der Unendliche26. Thomas verweilt aber nur in einem kurzen Artikel bei diesem Aufweis der formalen, wesentlichen Unendlichkeit. Er wandte sich in den folgenden zwei Artikeln wiederum den Problemen des Quantitativ-Unendlichen zu und suchte mit den Überlegungen der Aristoteles nachzuweisen, daß es keinen realen unendlichen Körper geben könne und keine unendliche reale Menge 27 . Alles Quantitative ist nur der Potenz nach unendlich. Am Ende steht Thomas ganz und gar wiederum in der Auseinandersetzung um den naturphilosophischen Begriff des Unendlichen. Er zeigte zwar in der Summa den Weg zum Verständnis des Wesen-Unendlichen an, er schritt aber auf diesem Weg nicht aus. Es war Heinrich v. Gent, der im Gespräch und in der Auseinandersetzung mit Thomas diesen Weg weiter verfolgte. Die einleitenden Sätze, mit denen beide Theologen — Heinrich von Gent in der Abhängigkeit von Thomas — ihre Ausführungen eröffneten, sind aufschlußreich für ihre Lehrabsicht. Thomas v. Aquin, S. th. I q. 7 a. 1, corp.: „Respondeo dicendum quod omnes antiqui philosophi attribuunt infinitum primo principio, ut dicitur in III Physic. : et hoc rationabiliter, considerantes res effluere a primo principio in infinitum. Sed, quia quidam erraverunt circa naturam primi principii, consequens fuit ut errarent circa infinitatem ipsius. Quia enim ponebant primum principium materiam, consequenter attribuerunt primo principio infinitatem materialam, dicentes aliquod corpus infinitum esse primum principium rerum". Heinrich v. Gent, Summa, art. 35 q. 6 ed. 1520, fol. 226rB: „Dicendum quod quantumcumque antiqui philosophantes errabant in natura et substantia primi principii, quod nos Deum appellamus, in hoc tarnen concordabant, quod esset infinitum potentia et virtute. Dicentes enim ipsum esse primam materiam attribuebant ipsi potentiam infinitam passivam, receptibilitate scilicet omnium formarum in infinitum ... Dicentes vero Deum esse substantiam corpoream infinitam dicebant ipsum habere potentiam infinitam activam, cum in corpore infinito non potest esse nisi virtus infinita. Nos vero qui primum principium quod Deus est, non ponimus nisi formam simplicem et puram secundum supra determinata infinitatem potentiae non debemus ei attribuere, nisi quae conventi formae purae." Id., ibid., art. 44 q. 1, ed. 1520, fol. llvB—C: „Dicendum ad hoc quod, etsi multi philosophantium errabant in natura et substantia primi principii, in hoc tamen fere omnes concordabant, quod primum principium omnium esset infinitum in substantia sua. Et hoc diversimode ponebant diversi, secundum quod diversa sentiebant de natura primi principii. Dicentes enim primum principium materiam esse secundum quod supra determinantum est, attribuebant primo principio infinitatem materialem et esse chaos quoddam in infinitum externum. Dicentes vero primum principium esse aliquod corpus infinitum vel extensione ... vel continentia... Et sic concordabant in infinítate substantiae primi principii. Nos igitur id quod falsum ponebant circa naturam primi principii quod Deus est, respuentes et veritatem, cuius modicam resplendentiam videbant, acceptantes, dicimus quod Deus tamquam primum

26 27

Ibidem. Ibid., art. 3 and 4.

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit

omnium prìncipium, a quo est omne finttum substantia infinitus."

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in substantia, necessario ponendus est esse in

Die aufmerksame Lektüre der drei Texte zeigt (1.), daß sie zusammengehören. Heinrich v. Gent hat den Text des Thomas zweimal ausgeschrieben, und zwar in unterschiedlicher Weise. Wenn wir davon ausgehen, daß die Summa eine Sammlung der quaestiones ordinariae sind, die der Magister in seiner Schule regelmäßig veranstaltet hat, ist die wiederholte Bezugnahme auf denselben Text des Thomas keine Überraschung. Dieser Text war für ihn wichtig. Ließ aber der Magister bei der Veröffentlichung der Summa die gleichlautenden Textstellen (im verhältnismäßig kurzen Abstand von art. 35 und 44) absichtlich stehen, oder hat er die Veröffentlichung der Summa nicht mehr selber betreut? Auch in den Artikeln 22 q. 5 und 25 q. 3 finden sich doktrinäre Dubletten, von denen sofort die Rede sein wird. Die Entstehung und Veröffentlichung der (unvollendeten) Summa des Heinrich v. Gent gibt der Forschung noch immer Fragen auf. Ferner wird deutlich (2.): Thomas ging von der übereinstimmenden Lehrmeinung der Philosophen über die Unendlichkeit des primum principium aus und merkt den Irrtum einiger (quidam) an, die sich über die Natur des Prinzips täuschten, weil sie die Materie dafür hielten. Diesen Irrtum mußte er korrigieren, indem er die Unendlichkeit des göttlichen Wesens aufwies. Die beiden Textstellen aus der Summa des Heinrich v. Gent zeigen aber (3.), daß der Genter Magister von den Irrtümern der (vielen) antiken Philosophen ausging, welche die Natur des primum principium als materiale Substanz bestimmten und dieser eine unendliche Kraft zuerkannten. Seine Aufgabe ist es, die Irrtümer der Philosophen auszuräumen und ihren bescheidenen Betrag zur Wahrheitsfindung aufzunehmen, um die volle Wahrheit zur Geltung zu bringen. Das primum principium kann nicht nach dem Begriff der quantitativen, sondern nur nach dem der formalen Unendlichkeit bestimmt werden.

2. Die Q u a e s t i o n e s ( o r d i n a r i a e ) des H e i n r i c h v. Gent ü b e r die U n e n d l i c h k e i t G o t t e s Heinrich v. Gent hat in verhältnismäßig kurzem Abstand zweimal über das Problem der unendlichen Vollkommenheit Gottes in seiner Schule disputiert. Im Zusammenhang mit der Frage nach der göttlichen Erkenntnis- und Willlenskraft mußte er auch das grundsätzliche Problem der „potentia Dei" erörtern 28 . Selbstredend stellte sich dabei auch die Frage nach der Unendlichkeit dieser Kraft. Später, im Kontext der Ausführungen über die Vollkommenheiten des göttlichen Wesens kam der Magister eigens 28

Heinrich v. Gent, Summa, art. 35 q. 1 - 8 , ed. 1520 I, fol. 221rI-232rX.

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und ausführlich auf das Thema der Unendlichkeit zurück. Diese beiden umfangreichen Quästionen über die unendliche Vollkommenheit Gottes gehören zu den wichtigsten Beiträgen über den Begriff der formal-wesentlichen Unendlichkeit im 13. Jh. 2 9 1.) Nicht nur die bereits erwähnte einleitende Bemerkung über die Irrtümer der Philosophen, die Heinrich aus der Summa des Thomas exzerpierte, zeigt seine Nähe zu Thomas an, auch der Vergleich der Argumentenliste in Art. 35 q. 6 mit der des Thomas in De potentia q. 1 a. 2 macht deutlich, daß Heinrich v. Gent die einschlägigen Werke des Thomas kannte und benutzte 30 , nicht nur die Summa und die Quaestiones disputatae, sondern auch die Erklärungen der Physik und Metaphysik. Wichtiger als diese literarische Abhängigkeit, die selten die Schwelle zur wörtlichen Übereinstimmung überschreitet, ist die sachliche, doktrinäre Nähe. Heinrich v. Gent nahm den Begriff der formal-wesentlichen Unendlichkeit von Thomas auf und entwickelte ihn in der 6. Quästion des 35. Artikels in zweifacher Hinsicht sehr selbständig. Er diskutierte in dieser Quästion ebenso wie Thomas die Probleme des Unendlichkeitsverständnisses in der aristotelischen Physik und machte in dieser Diskussion aber immer sofort den Unterschied geltend zwischen einer materialen Größe und der ihr eigenen Masse und einer geistigen Größe und der ihr eigenen intensiven Kraft. „In einer körperlichen Größe mit unendlicher Masse kann es keine körperliche Kraft (Potenz) mit endlicher Stärke oder Intensität geben, wie der Philosoph am Ende des 8. Buches der Physik beweist; ebenso kann es in einer geistigen Größe mit unendlicher Unermeßlichkeit keine geistige Kraft mit endlicher Intensität oder Stärke geben" 31 . Für die These führte er zwei umfangreiche Argumente aus der Physik an. (Quantitative) Größe und Kraft, Bewegung und Zeit werden in Beziehung gesetzt. Ein endlicher Körper kann nicht die Kraft besitzen, in unendlicher Zeit zu bewegen. Was in unendlicher Zeit bewegen kann, muß selber unendlich sein, und zwar der Kraft und dem Wesen nach. Der Erstbeweger ist darum kein Körper und auch keine stoffliche Kraft, denn nichts Endliches kann mit körperlicher oder geistiger Kraft in unendlicher Zeit bewegen 32 . In einer endlichen Größe kann es keine unendliche Kraft geben. Nicht nur der „catholicus", jeder Philosoph muß dies erkennen: Im Schöpfer-Gott kann man keine endliche Kraft

29

30

31 32

Ibid. II. fol. (Die Folioangaben stammen aus der unkritischen Ausgabe von 1520; ich benutze aber den kritischen Text aus der Vorarbeit zur Edition!) Cf. Heinrich v. Gent, Summa, art. 35 q. 6, arg. 1, 2 und sed contra mit Thomas v. Aquin, De potentia q. 1 a. 2, arg. 1, 2 und sed contra. Heinrich v. Gent, Summa art. 35 q. 6, fol. 227rL. Ibid., fol. 228vR.

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annehmen. Er muß in seiner Substanz unbegrenzt, unermeßlich und unendlich sein. Darüber wollte er aber später eigens handeln 33 . Der Aufweis der Unendlichkeit des 1. Prinzips kann aber nicht allein aus dem Kausalnexus zwischen Bewegkraft—Zeit—Bewegung erschlossen werden. Heinrich v. Gent machte neben dem Beweis a posteriori den apriorischen geltend, der vom göttlichen Wesen ausgeht, das in primärer Hinsicht nicht das Ziel im Woraufhin einer Bewegung ist, sondern das Ziel-Ende jedweden Endzieles sein muß. „...Deus non habet aliquem finem ad quem, sed est finis ad quem est totus ordo universi et bonum omnium entium ... " 34. Später wird es der Magister so formulieren: das göttliche Wesen ist ,finis consummans et consumens", Endziel und Zielende. Im göttlichen Wesen müssen nicht nur alle kreatürlichen Vollkommenheiten beschlossen sein; es muß seinerseits ganz und vollkommen sein. Diese apriorische Wesenserkenntnis ist die Grundlage unserer Gotteserkenntnis, wie sie Avicenna im 1. Buch seiner Metaphysik („De scientia divina") verstand 35 . Heinrich v. Gent kam wiederholt auf das Unterscheidende dieser apriorischen Gotteserkenntnis zu sprechen, vor allem in Art. 22 q. 5: „Utrum esse Deum possit fieri notum homini alia via quam ex creaturis"3S und in Art. 25 q. 3: „Utrum sit possibile esse plures deos quam unum"31. Der apriorische Aufweis geschieht nicht „via testificationis sensibilium", sondern „via propositionum universalium intelligibilium"38. Nicht die Erfahrung und das naturale Wissen können unsere Gotteserkenntnis begründen, sondern die Einsicht in das wesentliche Sein Gottes. Das göttliche Wesen schließt das Sein ein. Es kann nur als das Sein schlechthin in seinem Wahr- und Gutsein gedacht werden, als „necessario subsistens quid in se"39, das weder abhängiges, noch Sein durch Teilhabe ist. Im 1. Kapitel des 4. Traktates der „Philosophia prima" handelte Avicenna ausführlich über den Unterschied von aposteriorischer und apriorischer Erkenntnis 40 . Er sondierte zunächst die vielfachen Sprechweisen vom Zeitlich- und Örtlich-Früheren und konzentrierte sich dann auf das Begründungsverhältnis, das in der Konjunktion ,cumc zum Ausdruck kommt 41 . Was einem anderen Sein verleiht, ist nicht schon deshalb früher, weil das Andere abhängig ist; der Kausalnexus stiftet noch nicht die Beziehung des Früheren und Späteren. Das Denk-Notwendige ist das Frühere. Nicht auf Grund der Verursachung kommt dem Grund apriori33 34 35 36 37 38 39 40 41

Ibid., fol. 228vS. Ibid., fol. 229rV. Avicenna, Metaph. I c. 8, ed. S. Van Riet, 55 — 64. Ibid., fol. 134rA—135vl. Ibid., fol. 152rA—157rZ. Ibid., fol. 134rB —135rF. Ibid., fol. 134vD. Ed. S. Van Riet 1 8 4 - 1 9 3 . Ibid., 1 9 0 - 1 9 3 .

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sehe Bedeutung zu, sondern kraft der Wesensordnung. Das Wesenhafte ist das Frühere und das Formal-Wesentliche ist auch das Denknotwendige. Weil Avicenna deutlich das Real-Mögliche vom Wesens-Möglichen unterschied, sah er auch deutlich das Unterscheidende des Denk- und WesensNotwendigen. Avicenna wurde von Averroes am Ende seiner Erklärung des 1. Buches der Physik scharf getadelt: „peccavit (Avicenna) maxime", „peccavit peccato manifesto"'"'7,. Nach Averroes haben wir keinen anderen Weg des Erkennens Gottes als den über die natürliche, erfahrungsbezogene Erkenntnis. Heinrich v. Gent verteidigte Avicenna und begründete seinerseits die Notwendigkeit der apriorischen Wesenserkenntnis, denn die Erkenntnis der Prinzipien kann nicht wieder durch vorgängige, notwendige Begriffe begründet werden. Prinzipien müssen als solche einsichtig gemacht werden, allerdings so, wie Heinrich in Art. 22 und 25 ausführt 43 , daß die prinzipiellen Sätze, die „propositiones", in der Ordnung des Früheren und des Späteren dargestellt werden. In seiner Totalität ist das Vollkommen-Gute auch das Formal-Unendliche. 2.) Die Unendlichkeit gehört für Heinrich v. Gent ebenso wie für Thomas zu den Gottesprädikaten. Thomas behandelte sie in der Summa in der Folge von Einfachheit, Vollkommenheit, Unendlichkeit, Unveränderlichkeit und Einheit 44 . Heinrich v. Gent stellte die Unendlichkeit Gottes als Vollkommenheit des freien göttlichen Wollens im Zusammenhang von Gottes Gutsein, Vollkommenheit, Ganzheit („totalitas") und Unendlichkeit dar 45 . Im Anschluß daran handelt er in Artikel 45 vom freien göttlichen Wollen. Während das Attribut der Unendlichkeit bereits in der Summa des Thomas einen festen Ort hat, reicherte Heinrich v. Gent die Liste dieser Attribute noch durch die Bestimmung der „totalitas" Gottes an 46 . In der üblichen Liste der Gottesattribute hat dieses keinen Platz gefunden; für die Theologie Heinrichs ist dieses Attribut wichtig, wie zu zeigen sein wird. Heinrich v. Gent hat in seiner Theologie der Lehre von den göttlichen Eigenschaften, Attributen immer seine besondere Aufmerksamkeit zugewendet. Auf keinen anderen Traktat verweist er so oft in der Summa wie auf diesen. Er war für ihn auch nie erledigt, er kam wiederholt darauf zu sprechen 47 . Dieses war für ihn das Paradigma einer apriorischen „Wesens42 43 44 45 46 47

Averroes, Phys. I c. 5, comm. 83, ed. Iunt. IV, fol. 47r—ν. Heinrich v. Gent, Summa, art. 22 q. 5 und 25 q. 3, ed. fol. 134vB, 154rG. S. th. I q . 3 - 1 1 . Summa, art. 4 1 - 4 4 , ed. 1520 II, fol. 1 - 1 6 . Ibid., art. 43, ed. fol. 8 r A - l l v Z . Ibid., art. 5 1 - 5 2 , ed. fol. 5 2 r A - 6 0 r T ; cf. L. Hödl, Die philosophische Gotteslehre des Thomas v. Aquin O P in der Diskussion der Schulen um die Wende des 13. zum 14. Jh., in: RFNS 70, 1978, 1 1 3 - 1 3 4 .

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schau" Gottes. Die Attribute sind nicht nur menschliche Denkformen des unerkennbaren Wesens Gottes, die in ihrer Bedeutung aus der Schöpfungswirklichkeit stammen und im je noch größeren Unterschied auf Gottes Wesen übertragen werden, diese Attribute sind in der Acht und Aufmerksamkeit („intentio") auf das göttliche Wesen vom menschlichen Intellekt konzipiert und haben intentionale Bedeutung. Alle göttlichen Attribute und jedes einzelne kommen Gott zu und fallen in der Unendlichkeit Gottes zusammen, weil alle Vollkommenheiten zusammen das unendlich-vollkommene Wesen Gottes ausmachen. In diesem seinem Verständnis der göttlichen Vollkommenheiten unterscheidet sich Heinrich sehr grundsätzlich von Thomas. Heinrich verwandte in diesem Zusammenhang auch den durch Nikolaus v. Kues bekannt und berühmt gewordenen Begriff „coincidere", und zwar in der Bedeutung der Koinzidenz aller Vollkommenheiten im unendlichen göttlichen Wesen 48 . Wie oben erwähnt, begann Heinrich die neue Diskussion über Gottes Unendlichkeit in Artikel 44 q. 1 mit dem Hinweis auf die philosophischen Irrtümer bezüglich des naturphilosophischen Unendlichkeitsbegriffes, mit dem er sich auch in diesem Atikel auseinandersetzen mußte. Alle 6 Argumente, die er gegen seine These von der göttlichen Unendlichkeit anführte, stammen aus der Physik des Aristoteles, vier aus dem 3. Buch 49 . Er konstruierte den Begriff der formal-wesentlichen Unendlichkeit in der ständigen Auseinandersetzung mit der aristotelischen Philosophie. Im „sed contra" definiert er im Vorgriff auf seinen theologischen Begriff des Unendlichen mit Aristoteles (Phys. III c. 6 207 a 19 f.) dieses als das Allumfassende, das alles in sich hat 50 . Der Begriff der formal-wesentlichen Unendlichkeit Gottes, von dem auch Thomas sprach, muß theologisch hinterfragt werden, denn das göttliche Wesen unterscheidet sich von jedem anderen Wesen dadurch, daß es einmalig und einzigartig ist. Jedes andere Wesen ist in sich bestimmt und begrenzt und als materiales Wesen individuell kontrahiert und konkretisiert 51 . Das göttliche Wesen aber ist allumfassend; es ist ganz geistig und kennt darum keine äußere und auch keine innere Grenze: „perfectum " und „totum" fallen im Wesen Gottes wirklich zusammen 52 . Im geschöpflichen Bereich hat das (quantitativ) Unendliche immer den Charakter des Unvollkommenen und Teilhaften. Das Stofflich-Unendliche muß gerade als solches definiert werden, daß es als je und je anderes potentiell immer etwas außer sich hat. Das Wesensunendliche ist in sich vollkommen, enthält

48 49 50 51 52

Heinrich v. Gent, Summa, art. 35 q. 3, ed. 1520 I, fol. 2 2 4 r K - L . Ibid., art. 44 q. 1, ed. 1520 II, fol. l l v A . Ibidem. Ibid., fol. 12vF. Ibid., fol. 12rF: "... infinitum in Deo habet rationem totius etperfecti..."

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alles, ohne selbst enthalten zu sein. Nichts Vollkommenes kann ihm fern und fremd sein. Die Unendlichkeit des göttlichen Wesens ist zugleich seine „totalitas", seine allumfassende Ganzheit. Einen ganzen Artikel widmete Heinrich v. Gent diesem göttlichen Attribut 5 3 . Das göttliche Wesen ist nicht einfach universal, weil es Gattung und Arten übersteigt, sondern es umfangt und erfaßt alle Vollkommenheiten in Gänze und Unendlichkeit. In ihrer Gänze sind die Vollkommenheiten des göttlichen Wesens (Weisheit, Macht, Liebe usw.) unendlich und in ihrer Unendlichkeit sind sie das ganze Wesen in seiner Einzigkeit und Einzigartigkeit. Die Singularität des göttlichen Wesens stellt dessen Einheit und Einzigkeit unter Beweis. Es kann darum nicht mehrere Gottheiten geben. Heinrich v. Gent kam wiederholt in seiner Summa auf diesen Gedanken zurück 5 4 , und zwar weniger aus apologetischen Gründen gegen eine heidnischen Götterglauben als vielmehr aus trinitätstheologischen Überlegungen. Die Singularität des göttlichen Wesens in den drei göttlichen Personen ist zugleich die unendliche Vollkommenheit und die Ganzheit des Wesens Gottes. Z u m Begriff des Ganzen gehört aber nach dessen Definition in Metaph. V c. 26 auch die Idee der Vollständigkeit („complementum"). Das Vollendet-Vollkommene ist zugleich das Vollständige, dem nichts fehlen kann. Wäre die Erde unendlich, so könnte nichts (z. B. das Feuer) außerhalb ihrer sein, und es könnte auch innerhalb ihrer nichts Erdhaftes geben, das nicht zu ihr gehörte 5 5 . Und beides könnte ihr auch nicht fehlen. In den Kommentaren zu De caelo et mundo wurde diese Überlegung dahingehend ausgeführt, daß auch die endliche Welt eine und einzige ist und daß es keine andere Welt mit einem anderen Welt-Raum geben könne 5 6 . Auch diese unsere Welt ist ganz, vollkommen und vollständig. Wenn aber das unendliche Quantum kein anderes Quantum neben sich haben kann, dann muß die Theologie klarstellen, warum neben der unendlichen göttlichen Substanz endliche, geschöpfliche Substanzen bestehen können. Dieses Argument gegen die Unendlichkeit Gottes mußte Heinrich v. Gent außerordentlich ausführlich behandeln. Seine Antwort kommt einer eigenen Abhandlung gleich 57 . Wir kennen diese Methode, daß der Magister innerhalb der Antworten auf die Argumente mitunter weit ausholt und eine lange Diskussion anstellt 58 . Ich sehe darin einen Hinweis, daß die Summa des Heinrich von Gent in der Tat eine Sammlung von Quaestiones disputatae ist. Zur Beantwortung des vorliegenden Problems mußte der Magister wiederum den Unterschied 53 54

55 56 57 58

Art. 43 q. 1 - 4 , fol. 8 A - 1 1 Z . Cf. art. 25 q. 3, ed. 1520 I, fol. 153vD; art. 28 q. 5, fol. 169rD; art. 29 q. 7, fol. 177rE; art. 44 q. 1, ed. 1520 II, fol. 12vF. Art. 44 q. 1, fol. 13rM. Cf. Albertus M., De caelo et mundo, I tr. 3 c. 4, ed. P. Hossfeld, 61—65. Heinrich v. Gent, Summa, art. 44 q. 1 ad 4, fol. 13rM—14rO. Cf. Heinrich v. Gent, Quodl. XII q. 31 (Tractatus), Opera omnia 17, 1989.

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der quantitativen und wesenhaften Unendlichkeit deutlich machen. Erstere läßt das je andere Quantitativum als Teil seiner selbst zu, und es kann darum kein anderes Quantum außerhalb desselben Unendlichen geben. Das göttliche Wesen umfaßt aber vollkommen, geeint und unvermischt, wie Dionysius sagt, alles Wirkliche und Wahre und kann darum auch die andere geschöpfliche Substanz bestehen lassen, nicht als Teil seiner selbst, wie manche meinen, und auch nicht so, daß er in seinem Wesen das Sein des Seienden wäre, wie wiederum fälschlicherweise behauptet wurde, sondern in der Weise, daß er die „ratio essendi" ist 59 . Diese überströmende, schöpferische Unendlichkeit des göttlichen Wesens muß von dessen Vollkommenheit her näher begründet werden. Sie ist nicht nur in dem Sinne unendlich, daß sie alles Vollkommene als deren Vollendung und Endziel erfaßt und umfaßt, sondern daß sie auch alles Vollkommene in sein unendliches Ziel zielendlich gelangen läßt. Der Magister las zum Begriff des Unendlichen nicht nur die Philosophen, sondern auch die Hl. Schriften und deren Auslegung. Mit dem unnachahmlichen Wortspiel ,finis consummans" — , finis consumens", das er aus der Sprache der Bibel gewann, macht er deutlich, daß das Unendliche nicht nur vollendendes Ziel ist, sondern zugleich entgrenzende Grenze ist 60 . Im entgrenzten und entgrenzenden Vollenden ist Gott der Unendliche. Der Unendliche kommt nie an seine Grenze, nicht weil er noch nicht vollkommen wäre, sondern gerade weil er der Vollkommene ist. Im Psalm 144(145),3 heißt es: „Der Herr ist groß und sehr löblich und seine Größe ist unerforschlich" (M. Luther). Die Glosse erklärt dazu: Weil er unerfaßlich und unerforschlich ist, darum darf man nicht aufhören zu loben 61 . Der staunende Blick auf Gottes unendliches Wesen kommt an kein Ende und erfahrt in dieser endlosen Erstreckung des Lobens und Preisens die Unendlichkeit Gottes. Das nicht endende Lob der Engel und Menschen ist nicht Zeichen der menschlichen Unzulänglichkeit, sondern Offenbarung der Unendlichkeit Gottes. Indem Heinrich v. Gent die Begriffskonstruktion im Biblisch-Theologischen vollendet, nimmt er von der philosophischen Anstrengung nichts zurück. Er mußte das Denkmodell des quantitativ Unendlichen in der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Naturphilosophie zerbrechen, um mit den Bauelementen dieses 59

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Heinrich v. Gent, Summa, art. 44 q. 1, fol 13rM: „Deus enim ex quo est ipsum esse subsistens in suo esse habet omnem rationem essendi, non ut universaliter ... ñeque distincte secundum rem sicut infinitum quantum ... sed ... inconfusibiliter ...et unite..." Ibid., fol. 12vG: " P r o p t e r quod etiam non dat nisi esse finitum non solum a fine consummante rem in esse, sed et a fine consúmente et consummationem limitante." Die Ed. von 1520 ist hier falsch! Auch Nikolaus von Kues versteht in seinem Traktat De visione Dei den finisBegriff in dieser doppelten (nicht: zweifachen) Bedeutung: vollendendes — verzehrendentgrenzendes Ziel. Ibid., fol. 12vG: "Quia enim non est finis magnitudinis eius, non potest eius laudem finire. Ex qua glossa manifeste nobis insinuatur ratio infinitatis eius."

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philosophischen Begriffes den theologischen zu konstruieren. Das eine, einzige und einzigartige göttliche Wesen erfaßt in der entgrenzenden vollendenden Unendlichkeit, geeint und unvermischt, alle Vollkommenheiten in ihrer Gänze und Vollständigkeit. Nun kann Heinrich v. Gent als Theologe weiter fragen: „Bezeichnet Unendlichkeit im Hinblick auf Gott etwas Positives oder Privates bzw. Negatives"? 62 3.) „Infinitum autem dictum negative conventi Deo ...", schreibt Thomas in den Quaestiones disputatae de potentia 63 . Im Unterschied zum Privativ-Unendlichen, das als solches eine Grenze (wie das Quantitative) und doch unbegrenzt, unendlich ist, verneint das Negativ-Unendliche jede Grenze. Der Punkt ist schlechthin unbegrenzt. Wie alle göttlichen Prädikate nur in der Weise der Negation von Gott ausgesagt werden können, muß nach Thomas auch das Prädikat .unendlich' in der negativen Bedeutung vom göttlichen Wesen verstanden werden. Heinrich v. Gent wandte sich gegen diese Schuldoktrin, wie sie auch von Thomas vertreten wurde. Er faßte aber diese Kritik sehr vorsichtig: Das Prädikat bedeutet, auf Gott angewendet, nicht nur (wenngleich auch) etwas Negatives 64 . Zur Begründung dieser These analysierte er zunächst die verschiedenen Modi des Unendlichen und argumentierte anschließend mit drei sprachlogischen Überlegungen. In der Modalanalyse des Unendlichen geht er von seinem Begriff des Prozessual-Unendlichen aus, den er in der arabisch-lateinischen Übersetzung der Physik und im Kommentar des Averroes las 65 . Er unterscheidet drei Modi des Unendlichen: Jenes, das keine Erstreckung kennt und das man so wenig als unendlich bezeichnen kann, wie den Sprachlaut unsichtbar. Das Schulbeispiel dafür ist der (ausdehnungslose) Punkt. In dieser Bedeutung sprechen „aliqui" (d. h. Thomas), daß Gott unendlich sei66. Der 2. Modus ist das Quantitativ-Unendliche, das sich endlos erstreckt, dennoch aber (quantitativ) bestimmt und begrenzt ist. Diesen Modus kann man auf keinen Fall auf Gott anwenden. Der 3. Modus ist das „ProgressivUnendliche", das keine Grenze hat und nicht begrenzt werden kann. Den 1. Modus bezeichnet der Magister als negativ, den 2. als privativ und den 3. als positiv. Auch diese Modalanalyse steht noch unter dem Einfluß der aristotelischen Naturphilosophie. Es lassen sich aber auch sprachliche und sachliche Übereinstimmungen mit Heinrichs v. Gent eigenem und mit des Thomas 62 63 64

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Ibid., art. 44 q. 2, ed. fol. 14rQ-16rH. Thomas v. Aquin, De potentia q. 1 a. 2, corp. art. Heinrich v. Gent, Summa, art. 44 q. 2, sed contra, fol 14rQ: „... sed Deus rationem omnis finiti excedit in positivo et non in privativo, quia id in quo excedit, aliquid dignitatis importât." Aristoteles, Physik, III c. 4, in Averroes, ibid., comm. 34, ed. Iunt. lOOrF—101 vi. In der griech.-lat. Übersetzung steht ,transitus\ Heinrich v. Gent, Summa art. 44 q. 2, fol. 14rR.

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit

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Physikkommentar beobachten 67 . Die Echtheit der in der Überlieferung Heinrich von Gent zugesprochenen Quästionen zur aristotelischen Physik wird heute allgemein angenommen. In der 1. Quästion des 3. Buches verwandte er ebenfalls den averroischen Begriff des Prozessual-Unendlichen. Die Beziehungen zwischen der Summa Heinrichs und den ihm zugesprochenen Aristoteles-Kommentaren müssen aber noch eingehend untersucht werden, sobald letztere in kritischer Edition vorliegen. Die Gegenthese von der nur negativen Bedeutung des Unendlichkeitsprädikates hat zwei verschiedene Versionen gefunden: Die einen („quidam") meinen, Gott heiße unendlich, weil er nicht (äußerlich) durch Raum und Zeit und durch unser Erkennen begrenzt werden kann. Diese Meinung erwähnt auch Bonaventura 68 . Die andere, bedeutendere These (des Thomas v. Aquin) besagt, daß Gottes Weisheit, Güte und Macht wesenhaft unendlich sind, d. h. in sich unbegrenzt. Gegen diese letztere richtet sich seine Kritik, die er mit drei sprachlogischen Überlegungen zu begründen sucht. Sie betreffen 1.) die Bedeutung der Negation, 2.) die Bezeichnung der Sache und 3.) den Modus der Benennung 69 . Hier argumentiert der Sprachlogiker und Magister der artes\ Die Negation, so führt der Magister zuerst aus, kann sich nur am Subjekt behaupten im Sinne einer privatio desselben. Würde das Prädikat mit und neben der Negation nicht auch etwas Positives bedeuten, könnte es überhaupt nicht auf Gott angewendet werden 70 . Wenn ich von etwas Unkörperlichem spreche, dann meine ich neben der Negation zugleich auch etwas Positives, das miterkannt wird. Gott ist unendlich, denn es ist sein Wesen, alles Begrenzende zu überschreiten. Um diese komplexe, negativ-positive Bedeutung des Prädikates zu analysieren, muß der Magister noch einmal auf die sachliche Bezeichnung und die bezeichnete Sache eingehen. Das Prädikat ,unendlich' steht bereits für die Philosophie im Wortfeld von „bonum-totum-perfectum-infinitum"11. Das Gute ist das umfassende Ziel, das alles Vollkommene enthält und das in seiner Unendlichkeit immer nur im Vorgriff auf das Ganze und im Ausgriff auf das je noch Vollkommenere erfaßt werden kann. Seine volle Bedeutung 67

68 69

70 71

Heinrich v. Gent, Quaestiones super VIII libros Physicorum, III q. 1, (vorläufige Edition, die ich dank der freundl. Vermittlung Dr. Mackens einsehen konnte): „Secundo modo dicitur infinitum quantum interminatum secundum dimensiones; quod dicitur infinitum secundum Auctorem, quia processus eius non habet finitum." Cf. auch Thomas v. Aquin, in Physic. Ill c. 4, lect. 7 n. 344, ed. Marietti, 170. In den Physik-Quästionen unterscheidet Heinrich v. Gent (mit Averroes) 5 Modi des Unendlichen; in der Summa unterscheidet er nur 3 (ebenso auch Thomas). Bonaventura, Sent. I d. 43 art. un. q. 2. Heinrich v.Gent, Summa, art. 44 q. 2, fol. 14vV: „...hoc non videtur: Primo ex natura negationis quam importât hoc nomen finitum, secundo ex natura ret significatae per nomen, tertio ex modo impositionis ipsius nomini." Ibid., fol. 14vV: „Si ergo solum negative praedicaretur infinitum et nihil positive significaret circa Deum, tunc nihil dignitatis et perfectionis diceret infinitum circa ipsum ...". Ibid., fol. 15rX.

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Ludwig Hödl

erlangt aber der Begriff des Unendlich-Guten in der Theologie in der Sprache über den lebendigen Gott, dem je noch größere Vervollkommnung in der Vollendung und je noch größere Vollendung in seiner Vollkommenheit wesenseigen sind. Bibelstellen, Glossentexte und philosophische Überlegungen führt Heinrich v. Gent zusammen, um deutlich zu machen, daß wir in unserer Sprache über Gott alle uns vertrauten Worte und Bilder brauchen, damit wir sie in der Negierung für die Gotteserkenntnis brauchbar machen. Dem Terminus ,unendlich' haftet die Negation an, aber nicht primär und hauptsächlich, wie „illi" — Thomas ist gemeint! — meinen, sondern nur sekundär und mitfolgend 72 . Die sachliche Benennung ,unendlich' weist zwei unterschiedliche, aber gleichermaßen gewichtige Deuteelemente auf: die Ziel-Vollendung, Jinis consummans', die alle Vollkommenheit besitzt, und das Ziel-Ende, Jinis consumens', das keine Begrenzung zuläßt 73 . Wenn wir mit Aristoteles das Welt-All als ganz und höchst vollkommen bezeichnen, aber nicht als unendlich, so meinen wir mit All nicht nur das Endliche und Begrenzte, sondern wir bedeuten das All positiv in negativer Rücksicht der Nicht-Unendlichkeit; bezeichnen wir aber Gott als unendlich, so bedeuten wir ihn ebenfalls positiv in negativer Rücksicht seiner NichtEndlichkeit 74 . Mit seiner Textstelle aus De divinis nominibus des Ps.-Dionysius beschließt der Magister seine wohlüberlegten Ausführungen über die Gotteserkenntnis im positiv-negativen Duktus unserer Sprache 75 . Er möchte auch den Lehrmeister der „mystischen" Gotteserkenntnis für sich in Anspruch nehmen, so wie dies viele Vertreter der sog. spekulativen Mystik versucht haben. Wer wollte in diesem Zusammenhang nicht an Nikolaus von Kues denken, dem Heinrich v. Gent nicht nur mit der Idee der „prozessualen" Erkenntnis nahesteht. Wir müssen aber diesen Vergleich einer anderen Studie vorbehalten, denn wenn die Wirkungsgeschichte der Theologie des Heinrich v. Gent von der Unendlichkeit Gottes angesprochen werden soll, dann muß der Traktat des Johannes Duns Scotus „De primo principio" erwähnt werden.

72

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75

Ibid., fol. 15rB: „Bene tarnen verum est quod in hoc nomine infinitum positivo huic annexa est negatio, quam significai ex ratione impositionis nominis, et hoc non primo et principaliter sicut illt dicunt, sed secundario et ex conséquente ..." Ibid., fol. 14rC. Ibid., fol. 15vD: „Propter quod non est mirum, si e contrario infinitum tarn in Deo quam in creaturis realiter importet affirmationem, licet imponatur a modo negationis vel privationis, quia negatio, per quam via remotionis a Deo quod est in creaturis cognoscimus aliquid in Deo, nobis notior est quam affirmatio absoluta eius quod secundum veritatem est in Deo." Ibid., fol. 15vD.

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit

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3. D i e V o r a r b e i t d e s H e i n r i c h v. G e n t zu des D u n s S c o t u s Traktat „De primo principio" Das Opusculum „De primo principio" wird allgemein als authentische Schrift des Duns Scotus betrachtet 76 . Die Entstehungsgeschichte desselben ist aber völlig ungeklärt. Wenn fast die Hälfte des Traktates auch in den Distinktionen II, III und VIII des 1. Buches der Sentenzenerklärung (Ordinatio) zu lesen ist, dann fallen die textgeschichtlichen Probleme der Ordinatio auch auf den Traktat zurück. Da Aufbau und Gliederung desselben sehr konsequent und geschlossen wirken, muß Scotus selber die Bauteile (aus der Ordinatio) ausgewählt, zusammengestellt und zum Traktat ausgeführt haben. Dem Traktat über das Erstprinzip wollte Duns Scotus einen weiteren folgen lassen über die Glaubens Wahrheiten 77 , in dem er die Inhalte des 1. Glaubenartikels — Gott, der Drei-eine, der Schöpfer des Himmels und der Erde — behandeln wollte. In der Folge der beiden Traktate kommt dem ersten die Bedeutung der Prolegomena, der Begründung zu. Das Erstprinzip, das wir Gott nennen, wie die mittelalterlichen Theologen zu sagen pflegten, ist der Schöpfer-Gott. In die Begründung des Erstprinzips dachte Scotus den Gottes-Begriff (der Offenbarung) hinein. Dieser kommt nicht von außen oder oben zum Begriff des Erstprinzips hinzu, sondern hat in ihm seinen Ort, nicht den Ursprungs-, wohl aber den Bestimmungsort. Die Identifizierung des Schöpfer-Gottes als Erstprinzip und dessen Verifizierung im Gottesbegriff ist die eigentliche Leistung des Traktates. Als christlicher Denker, als „catholicus", nahm Scotus die Diskussion um das Erstprinzip auf, dem allgemein von den Philosophen und Theologen die Unendlichkeit zuerkannt wurde 78 . In seinen Darlegungen ging er nicht von den transzendentalen Bestimmungen des Seins aus, die auch einen Zugang zum Thema eröffneten 79 , vielmehr wählte er den Weg der (apriorischen) Analyse der Ordnungen des Früheren und Späteren, Vorgängigen und Abhängigen, des näher und entfernter Verursachten, des final und kausal, material und formal Verursachten 80 . In diesem weitausholenden Ordnungsgefüge haben die bekannten vier Ursachen der aristotelischen Philosophie nur mehr eine untergeordnete Bedeutung. In den Kommentaren zum Liber de causis hatte die Vier-Ursachen-Lehre längst ihre dominierende Geltung eingebüßt 81 . 76

77 78 79 80 81

Johannes Duns Scotus, Abhandlung über das erste Prinzip. Hrg. u. übers, v. W. Kluxen, TzF 20, WB 1974. Ibid., n. 85, p. 112 „de creditis", bzw. n. 93 p. 126 „credibilia". Ibid., Aristoteles, Physik III c. 4. Johannes Scotus, Abhandlung über das erste Prinzip, c. 1 n. 2, ed. 2. Ibid., c. 1, 2 - 9 . Cf. Albertus M., Liber de causis et processu universitatis, II c. 2, ed. Borgnet, Paris 1891, 436 sq.: ,J2uatuor autem sunt causae primariae in una rattone causalitatis sumptae. Non enim

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Ludwig Hödl

Im 2. Kapitel bringt Scotus das Gefüge der Grund-Ordnungen auf den stringenten Begriff und legt es in Propositionen dar, die schlußfolgernd bewiesen werden 82 . In dieser Ordnung des Abhängigen, des näher und ferner Verursachten, des Vorrangigen und Übertroffenen gibt es eine dreifache Erstheit, die im 3. Kapitel näher begründet wird: das Erste ist das Aktuellste, das Beste, das Vollkommenste 83 . Und dieses Erste ist seiner Natur nach das Einfache, Unendliche und Geistmächtige 84 . In der Analyse der Natur des Erstprinzips widmet Scotus seine ganze Aufmerksamkeit dem Attribut der Unendlichkeit 85 , das auch in der Gotteslehre des Sentenzenkommentars fundamentale Bedeutung hat. In diesem Traktat ist Scotus Schüler des Heinrich v. Gent, der thematische und methodische Vorarbeit dazu geleistet hat. Der Theologe aus Gent konnte nur so nach dem unendlichen Gott fragen, daß er nach dem unendlichen Erstprinzip fragte und diese philosophische Frage, die von Aristoteles her in einer langen philosophischen Tradition stand, konnte er nur so beantworten, daß er sie als Frage nach Gott verstand. In der 1. Quästion über Gottes Unendlichkeit, von der bereits die Rede war 86 , führte er einleitend aus: „Wenngleich viele Philosophen bezüglich der Natur und Substanz des Erstprinzips irrten, darin kamen sie überein: Das Erstprinzip von allem ist in seiner Natur unendlich. Diese (Unendlichkeit) bestimmten die verschiedenen (Philosophen) sehr verschieden, je nachdem sie Verschiedenes von der Natur des Erstprinzips ausmachten. Sie sagten nämlich, das Erstprinzip sei die Materie und sprachen dem Erstprinzip materiale Unendlichkeit zu, das Sein des Chaos, das sich unendlich erstreckt. Hielten sie das Erstprinzip für eine körperliche Substanz, so behaupteten sie, das Prinzip sei irgendein unendlicher Körper, sei es durch Ausdehnung ..., sei es aufgrund des In-sich-Enthaltens des Unendlichen ... Bezüglich der Unendlichkeit des substanzialen Erstprinzips stimmten sie überein. Was sie hinsichtlich der Natur des Erstprinzips, das Gott ist, falsch behaupteten, weisen wir zurück, nehmen aber die Wahrheit auf, mag deren Widerschein noch so bescheiden sein, und lehren, Gott, das Erstprinzip, von dem alles Endliche herkommt, ist notwendigerweise in seiner Substanz unendlich, und zwar nicht in materialer Unendlichkeit..., auch nicht unendlich in extensiver, körperlicher Unendlichkeit oder kontentativer Unendlichkeit... sondern nach Maßgabe seiner Natur, in seiner

82 83 84 85 86

intendimus hic de gemribus causarum quae ... in quatuor causarum genera dividuntur, scilicet efficientem, materialem, et formalem et finalem. Tales enim secundum se primariae esse non possmt, quoniam materiales sunt, materiales autem primariae esse non possunt." Johannes Scotus, Abhandlung über das erste Prinzip, c. 2, 10—31. Ibid., c. 3, 3 2 - 5 9 , bes. 54. Ibid., c. 4, 6 0 - 1 3 1 . Ibid., cf. 4, η. 6 7 - 9 8 , ed. 8 5 - 1 3 1 . Cf. Anm. 2 3 - 2 5 .

Der Begriff der göttlichen Unendlichkeit

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Form und Wirklichkeit, ist ihm der Wesensgrund des Unendlichen eigen"87· Allein schon in seiner Sprachgestalt ist dieser Text außerordentlich komplex, dicht und erfüllt. Zehnmal fallt das Stichwort „primumprincipium" und ebenso oft der Begriff „unendlich". In etwas kürzerer Form stehen diese Ausführungen in Artikel 35 q. 6, wie oben bereits ausgeführt wurde 88 . Der Traktat des Scotus nimmt das Thema auf und führt es auf der Grundlage der Sprachlogik streng wissenschaftlich durch. Zwischen dem Traktat und den Quästionen der Summa des Heinrich v. Gent lassen sich keine wörtlichen Übereinstimmungen anführen. Scotus hatte wohl kein Exemplar derselben zur Verfügung. Zum Verständnis der Abhandlung des Scotus muß aber die Summa des Heinrich herangezogen werden, vor allem für die Ausführungen über die Unendlichkeit. Diese beginnt er im 4. Kapitel mit der Konklusion: „Du bist unendlich und unbegreiflich von einem Endlichen" 89 . Heinrich v. Gent übernahm den Satz aus den „Auctoritates Aristotelis" in die Argumentenliste seiner Quästion über die göttliche Unendlichkeit 90 . Für beide Theologen war dieser Satz „höchst fruchtbar", wie Scotus schreibt, weil er zu einem vertieften Verständnis der Unendlichkeit Gottes anhielt. In der Schule des Heinrich v. Gent, die Scotus während seines Pariser Studienaufenthaltes Ende der achtziger Jahre des 13. Jh. ohne Zweifel auch besucht hat, empfing er auch die Anregungen zur Methode der apriorischen, sprachlogischen Argumentation. Zur Erkenntnis des Erstprinzips, das Gott ist, genügt nicht das Erfahrungswissen, wie Heinrich v. Gent wiederholt ausführte 91 . Bereits die frühen Philosophen beschritten den umgekehrten Weg „a priori et a causa", vom Begründenden zum Begründeten 92 . „Dies erkannte auch Avicenna", schreibt Heinrich v. Gent, „wenn er im 1. Buch seiner Metaphysik sagt: Wir werden einen Weg zum Erweis des Erstprinzips haben, der nicht aus dem Sinneszeugnis folgt, sondern aus allgemein einsichtigen Sätzen („propositionum")"91. Aufgrund der Schwachheit unserer Geistseele können wir aber diesen Weg der Prinzipiendemonstration nicht geradewegs im schlüssigen Denken verfolgen, sondern wir müssen die Grund-Ordnungen der gesamten Wirklichkeit

87 88 89 90

91 92 93

Heinrich v. Gent, Summa, art. 44 q. 1, ed. 1520 II, fol. l l v B - 1 2 r C . Cf. Anm. 2 3 - 2 5 . Johannes Scotus, Abhandlung über das erste Prinzip, c. 4, nona conclusio, ed. 86. Heinrich v. Gent, Summa, art. 44 q. 1, fol. l l v A : „secundo sic: Ibidem dicit Philosophas: infinitum inquantum infinitum incognitum." Cf. Aristoteles, Physik, I c. 4, 187b7. J. Hamesse, Les Auctoritates Aristotelis. Une florilège médiéval. Etude historique et édition critique, 1974, 148. Cf. Anm. 3 6 - 3 9 . Heinrich v. Gent, Summa, art. 25 q. 3, ed. 1520 I, fol. 153vF. Ibidem.

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in acht nehmen: „... aliquibus ordinibus universitatis eorum quae sunt ,.." 94 . Wie er in Art. 22 q. 5 näher ausführte, orientierte er diese Grund-Sätze an den transzendentalen Bestimmungen des Seins, des Wahren und des Guten 95 . Seine Methode ist aber deshalb keineswegs metaphysisch, denn die eigentlichen Beweismittel sind die schlüssigen Propositionen. Heinrich v. Gent wählt gerne diesen Weg der apriorischen Beweisführung. In Artikel 35 q. 6 argumentiert er in dieser Weise für die unendliche göttliche Geisteskraft 96 . Diese Ausführungen sind wiederum für das Verständnis des Traktates des Scotus bedeutsam 97 . Die argumentative Leistung dieser Methode hat Duns Scotus unter Beweis gestellt.

54 95 96 97

Ibid., fol. 154rF. Ibid., fol. 134vD. Ibid., fol. 227rK—vN. Cf. Johannes Scotus, Abhandlung über das erste Prinzip, c. 4 decima conclusio, ed. 116.

Erkennen als Erkennen Gottes Epistemologische Aspekte der Intellekttheorie Meister Eckharts UDO KERN

1. homo

— animal

(Jena)

rationale

Meister Eckhart definiert das Wesen des Menschen — geprägt durch starke griechische und scholastische Traditionen 1 — als ein Vernunftwesen. „Est enim homo animal rationale"2. Der Mensch wird durch den intellectus zum Menschen: „homo ab intellectu et ratione homo est"3. „Intellectus enim, per quem homo est homo" 4 . Was der Mensch ist, das ist er clare et distincte durch den intellectus. Das Menschsein des Menschen wird fundamental durch den Intellekt definiert. Der Mensch ist in seinem Menschsein auf Vernunft hin entworfen. Es gehört zur analytischen Bestimmung des Menschsein, daß der Mensch ein ens rationale ist. Es entspricht der Natur des Menschen, daß alle Menschen auf Erkenntnis aus sind, „alle menschen begernt von natûre bekantnisse" 5 . Alles vernünftige Erkennen ist so wesentlich für den Menschen, weil es gründend der Natur des Menschen korreliert. Mit seinem „homo = animal rationale" konzipiert Eckhart nicht rationale idealistische Anthropologie im Sinne neuzeitlicher Subjektivität 6 . Nicht idealistischer Verabsolutierung verdankt sich Eckharts Bestimmung des Menschen vom Intellekt aus. Für Eckhart ist der Mensch als animal rationale definiert durch den Intellekt, allein und grundsätzlich von dem „intelligere

1

2 3 4 5 6

Meister Eckhart, Die deutschen und lateinischen Werke. Herausgegeben im Auftrage der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Stuttgart 1936 sq. (zit. DW bzw. LW), hier: Cf. LW III, 10 Anm. 6. LW III, 10,12; vgl. D W I, 250,5; LW III, 82,8 f. LW III, 265,12. LW I, 358,10 sq. V, 116,11. Eckhard Wulf (Das Aufkommen neuzeitlicher Subjektivität im Vernunftbegriff Meister Eckharts, philos. Diss., Tübingen 1972,6) kann ich mit seiner These nicht folgen, daß im Eckhartschen Denken „sich ein Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken" „im Sinne neuzeitlicher Subjektivität" vollziehe.

570

Udo Kern

dei" her bestimmt. Diese strenge theologische Definition des durch den Intellekt geprägten Menschseins ermöglicht für Meister Eckhart erst den unbegrenzten, weiten Horizont des Menschen, der als animal rationale vom intellectus ausgelegt wird. In Anlehnung an Aristoteles aber in der ihm eignenden Originalität interpretiert Eckhart das „homo ab intellectu et ratione homo est"1·. „... ¡hominem , scilicet rationalem, ah intellect^, qui est ,separatus' ah hic et nunc, a materia, jmpermixtus' "9. Der Mensch als ens rationale ist geschieden von Absolutsetzung der Dinge das „hic et nunc". Er ist nicht in letzteres versklavt. Mit den knechtenden Versklavungen an das „hic et nunc", an die materia hat er nichts gemeinsam, „secundum genus suum nulli nihil habet commune" w. Er läuft sich nicht fest in die materia, das „hic et nunc". Impermixtus und separatus ist der Intellekt 11 . Als ens rationale, als durch den Intellekt geprägter vernünftiger Mensch ist der Mensch „abgescheiden ... von allen materien und formen ... von allen dingen vnd in sich selber gekeret", d. h. auf intelligere aus und vom intelligere her12. Je mehr der Mensch seiner Bestimmung als ens rationale entspricht, je mehr er im intelligere wird, was er eigentlich in principio ist, desto freier wird er von den Versklavungen an die Dinge. Je mehr der Mensch sich selbst als erkennend begreift, desto mehr ist er „ein Mensch" 13 . Als der Abgeschiedene wird er der Erkennende. Der in sich freie, von den Absolutierungen des „hic et nunc" abgeschiedene ist nicht der agnostische, sondern der erkennende Mensch. Dieser so abgeschiedene vernünftige Mensch erkennt aller Kreaturen Urbilder und Formen in ihrer Unterschiedenheit 14 . In diesem Fundamentalerkennen wird der Mensch zum Menschen. „... dis gab Aristoteles dem mentschen, das der mentsch da von ain mentsch si, das er aellu bild vnd form verstat; darum si ain mentsch ain mentsch" 15 .

2. Intellectus

— unbegrenzte Offenheit und Weite

Der intellectus ist also nicht definiert vom „hic et nunc". Er ist von diesem abstrahiert, abgeschieden, hat nichts mit diesem gemeinsam 16 . Meister 7 8 9

10 11 12 13 14 15 16

LW III, 265,12. Cf. Aristoteles, Met. I t. 1 (A 1 980 b 27), cf. LW IV, 200 Anm. 2. Aristoteles, De an. III t. 4.6.7 (Γ 5 429 a 18.24; b 5), cf. LW IV, 200 Anm. 3; LW IV, 200,1 sq.; LW III, 2 6 5 , 1 2 - 2 6 6 , 1 . LW III, 2 6 5 , 1 3 - 2 6 6 , 1 . Cf. Aristoteles, De an. III t. 12 (Γ 4 4 2 9 b 23). LW IV, 200,2 sq. D W I, 2 5 0 , 6 - 9 . D W I, 2 5 0 , 6 - 1 0 . D W I, 249,10 sq. D W I, 2 4 9 , 1 1 - 2 5 0 , 2 . LW III, 2 6 5 , 1 2 - 2 6 6 , 1 ; D W I, 182,10 sq.

Erkennen als Erkennen Gottes

571

Eckhart 17 beruft sich hier auf das 3. Buch des Aristoteles über die Seele18, das sich seinerseits auf Anaxogoras 19 stützt. Der intellectus unterliegt keiner Beschränkung. Der Intellekt ist nicht irgendein Sein, ein „aliquod esse"20. Er ist ein „nihil", ein Nichts 21 . Und weil er Nichts ist, ist er „per consequens" nicht ein aliquod esse22. Reine, unbegrenzte Offenheit und Weite gibt und ist nach Meister Eckhart der Intellekt. Er kann dieses aber nur sein, weil er Nichts ist. Auch hier ist Aristoteles Eckharts Gewährsmann. Eckhart bezieht sich auf Aristoteles' De anima 23 ; wo in bezug auf den Gesichtssinn gesagt wird: „Est autem coloris susceptivum quod sine colore." Mehrfach bezieht sich Eckhart hierauf 24 . „Sol min auge sehen die varwe, sô muoz ez ledic sin aller varwe" 25 . „oculus, si haberet aliquem colorem, sive aliquid coloris, nec illum videret colorem nec aliquem"26. Das Auge als der Gesichtssinn, als das Seh-Vermögen ist hier, wie Bernhard Welte zurecht sagt, „als Modell aller aufnehmenden Vermögen" verstanden: „Nur insofern das Auge in sich selber und für sich selber nichts ist und sich nicht auf sich selber bezieht, nur insofern es reine Offenheit und Klarheit und Bereitschaft ist für sein Anderes, nur insofern es in diesem Sinne ,Nichts' ist, vermag es wirklich die Erscheinungen der Welt zu sehen" 27 . Dieses exemplarische Modell des Auges, des Gesichtssinnes — entschränkt — bezieht Eckhart mit Aristoteles auf den intellectus. „Sicut enim dicit Aristoteles28 quod oportet visum esse abscolorem, ut omnem colorem videat, et intellectum non esse formarum naturalium, ut omnes intelligat"29. Wäre der intellectus seiendes Sein, ein aliquod-esse, wäre ihm universales Erkennen unmöglich. Er verstellte durch sein aliquod-esse sich den Zugang zum lauteren, vernehmenden Erkennen. Erst dadurch, daß aliquod-esse dem Intellekt nicht eignet, erst dadurch, daß der intellectus „Nichts" ist — vergleichbar der berühmten leeren und „nackten" aristotelischen Tafel 30 , auf der nichts geschrieben ist, aber darum gerade alles 17 18

15 20 21 22 23 24

25 26 27 28 29 30

LW III, 266,1 sq. De an. III, t. 12 (c. 4 429b 23), t. 4 u. t. 6 (429a 18.24) u. t. 7 429b 5). Cf. Bernhard Welte, Der mystische Weg des Meister Eckhart und sein spekulativer Hintergrund, in: Udo Kern (Ed.), Freiheit und Gelassenheit. Meister Eckhart heute, München/Mainz 1980,97-102, hier: 101. Cf. LW I, 501,1 sq. LW V, 50,5. LW V, 50,5. LW V, 50,5. II, t. 71 (B c. 7, 418 b 26), zitiert LW III, 86 Anm. 4. Cf. Β. Welte, 1. c., 100. LW V, 47,14-18,1. Parallelen sind angegeben in LW V, 47 Anm. 4; D W V, 80 Anm. 89; D W I, 201 Anm. 1. D W I, 201,2 sq. LW III, 86,10 sq. B. Welte, 1. c., 100. De an. II t. 71 (B c. 7 418 b 27); III t. 5 (c. 4 429 a 24). Cf. LW V, 47 Anm. 4. LW V, 47,15-48,2. LW I, 501,3: „Aristoteles dicit intellectum esse sicut tabular» rasam, id est nudam".

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Udo Kern

geschrieben werden kann 31 oder dem wahrnehmenden Auge, das in sich selbst aller Farbe bloß und deshalb alle Farben erkennt 32 oder dem Nichtgefärbten, das gerade so alle Farben aufnehmen kann 33 —, öffnet sich der unendliche Horizont und weite Offenheit, kann der intellectus offen für alles sein. Das reine intelligere als reines Nichts führt in unbegrenzte Dimension. Das Feld des unbegrenzten Erkennens ist offen. Der intellectus34 bleibt nicht bei den Dingen selbst stehen {„non sistit in re ipsa in se ipsa"). Er steht und ruht nicht in den Dingen. „Accipit... intellectus non res ipsa", sondern nimmt sie in den ihr zugrundeliegenden Prinzipien und Ideen. Der intellectus bleibt nicht im verweilenden, ruhenden Stehen. Er dringt ein in die Wurzel, den Ursprung von allem 35 und erkennt so die principia substantialia36. „Intelligere enim quoddam pati est"37. Intelligere als universale Offenheit ist nach Eckhart an Erleiden gebunden. Er stützt sich hier auf das aristotelische „intelligere pati aliquid est"38. Das diesem Erleiden Proprietäre ist das „nudum esse"39. Intelligere als Erleiden offenbart das „nudum esse", das Nichts des intellectus. Als reines Nichts geht {„vadit") das intelligere reinigend {„depurando") den Weg zum reinen Seinsgehalt der Dinge {„ad nudam entitatem rei")*0. Das „pati est" des intelligere*1, die „Passivität", vollkommene Transparenz des intellectus befähigt das Erkennen, „das andere anwesen zu lassen" 42 . Es fangt und verbiegt nicht, sondern bricht dem reinen Seinsgehalt der Dinge Bahn. Durch seine „Interdetermination" wird alles in unbegrenzte Dimension gestellt, freie Bahn eröffnet. Der intellectus transzendiert. Ihm eignet ein dreifaches Transzendieren. Er transzendiert 1. die Phainomena, die „imaginabilia", 2. die „intelligibi-

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32 33 34 35

36

37 38 39 40 41 42

Aristoteles, De an. III t. 7 ( 4 2 9 b - 4 3 0 a ) . Cf. auch die LW I, 501 Anm. 2 angegebene Stelle De an. III, t. 14 (Γ 4 429 b 31): „Oportet autem sie, sicut in tabula nihil est actu scriptum, quod quiddem accidit in intellectu". D W V, 28,9 sqq. LW IV, 329,16. Vgl. zum folgenden LW II, 213,12-214,3. „sed iuxta nomen intellectus intrat ad ipsa rei principia et ibi rem accipit in prineipiis suis in radice et origine." (LW II, 213,13 sq.). LW III, 380,5. Vgl. LW III, 1 0 , 1 - 3 : „proprium intellectus est obiectum suum, intelligibile scilicet, aeeipere non in se, ut totum quoddam perfectum et bonum est, sed aeeipere in suis prineipiis". LW III, 86,16-87,1. De an. III, t. 12 (429 b 25), zitiert LW III, 87 Anm. 1. LW III, 87,1. LW V, 60,6 sq. LW III, 86,16-87,1. Ruedi Imbach, Deus est intelligere. Das Verhältnis von Sein und Denken in seiner Bedeutung für das Gottesverständnis bei Thomas von Aquin und in den Pariser Quaestionen Meister Eckharts, Freiburg/Schweiz 1976, 208.

Erkennen als Erkennen Gottes

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lia"*3, d. h. 3.: er übersteigt sich selbst 44 . Das Transzendieren des eigenen intelligere durch den intellectus ermöglicht qua Intellekt das Führen zum Sein („resolvat ad esse")45.

3. Increabilitas

intellectus

Meister Eckhart wagt den verwegen erscheinenden Satz: „intelligere est increabile"46. Wie kommt Eckhart zu dieser kühnen Aussage, die ihm in seinem Inquisitionsprozeß als Häresie interpretiert wurde 47 ? Um hier nicht wie die Inquisition und manch anderes Mißverstehen dieses Eckhartschen topos in die Irre zu gehen, ist es wichtig, die fundamentale Differenz, die Eckhart hier gründend voraussetzt, zu benennen. Diese substantielle Differenz gilt nach Eckhart zwischen intelligere und esse. Während die erste Wesensbestimmung (ratio) des esse das creabilis ist, gilt für das intelligere die Wesensbestimmtheit „non ... creabilis"48. „Omne esse praeter intellectum, extra intellectum creatura est, creabile est"49. Alles Geschaffene ist nicht reines Sein („purum [esse]" ) und nicht totus intellectus50. Reines Sein und Denken kommt allein Gott zu 51 . Das reine Sein Gottes besteht dadurch, daß es, negativ gesehen kein Sein auf Grund eines Seins neben dem intellectus ist, sondern, positiv gesehen, allein (ohne Differenz) intellectus ist 52 . — Was totum intelligere ist, ist nicht „creabile"5*. Vernünftigkeit ist „ungeschaffen und ungeschepflich" 54 . Denn der eine Gott, der „intellectus et intelligere" ist {„est"), ist als creator „non creabilis"55. Ihm gilt ausschließlich das intelligere: „Deus enim unus est intellectus, et intellectus est deus unus"56. Für Eckhart ergibt sich als strenge Implikation: „deus nunquam et nusquam est ut deus nisi in intellectu"51. Die increabilitas intellectus hat nach Eckhart theologischen Grund, ist keine autochtone (idealistische) Verabsolutierung des Denkens. Reines 43 44 45 46

47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57

LW IV, 226,2 sq. LW IV, 226,2. LW IV, 226,3 sq. LW IV, 268,9. Cf. LW V, 41,10; LW V, 41,13 sq.; LW IV, 267,8sqq.; LW II, 344,7-9; LW IV, 270,1-8; DW I, 220,4-10; DW I, 220-222 Anm. 2. DW I, 220-222 Anm. 2. LW V, 41,7-11. LW IV, 270,5 sq. LW IV, 267,9 sq. LW IV, 268,7 sq. LW IV, 268,4 sqq. LW IV, 267,10. DW I, 220,5. DW V, 41,13. LW IV, 270,1 sq. LW IV, 270,2 sq.

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Denken ist eo ipso an Gott gebunden. Dem entspricht die völlige Transparenz des intelligere. Dem intellectus west als Proprietät die unitas58. Die unitas resp. simplícitas ist die Wurzel {„radix") des intelligere59. Simplicitas und intellectualitas sind einander vertauschbar {„convertibiliter")60. Das Einssein, die unitas, gilt nicht den entia materialia, den stofflichen Wesen, da diese ausgedehnt {„quanta") und zusammengesetzt {„composita") aus Form und Materie sind 61 , und auch nicht von den entia immaterialia sive intellectualia, da bei ihnen Sein und Denken nicht identisch ist {„esse non est intelligere"), sondern sie aus esse und intelligere zusammengesetzt sind 62 . Die unitas intellectus ist alleine im deus unus. Der deus unus ist „intellectus se toto"63. Kein Geschaffenes ist das wahre Eine {„vere unum"), weil es nicht purum esse und totus intellectus ist64. Nur der eine Gott entspricht der unitas-intelligere, ist intelligereùi. Eckharts „intelligere est increabile" ^ gigkeit" des intelligere von Gott 6 7 . proprietären unitas „west" einzig und einen Gott. Diesem verdankt sich die Offenheit des intelligere.

zeigt also gerade „die totale AbhänDie increabilitas intellectus in ihrer allein und ausschließlich aus dem offene Weite und die unbegrenzte

4. E i n f ä l t i g e s E r k e n n e n Erkennen gewinnt nach Eckhart höchste Qualität im einfältigen Erkennen. „Ain einueltig verstantniss ist so luter in im selber, das es begriffet das luter bios goetlich wesen sunder mittel" 68 . Das einfaltige Erkennen — entfernt und entfremdet aller Mannigfaltigkeit, das heißt nicht Desavouierung der Mannigfaltigkeit, sondern Verstehen derselben von der Einfaltigkeit her 69 — ist rein, lauter und klar in sich 70 , da es in dem einen Gott entworfen ist. Da dem intellectus die unitas wesentlich und nicht substituierbar ist, muß nach Eckhart Erkennen als unum-intelligere verstanden werden. Für Erkennen und Nicht-Erkennen ist fundamental entscheidend, ob es zum unum-intelligere kommt oder nicht. Das unum-intelligere trifft den 58 55 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70

LW IV, 266,11 sq. LW II, 326,6 sq. LW II, 326,6. LW IV, 266,12-14. LW IV, 266,14-267,2. LW IV, 267,4. Vgl. LW IV, 267,8-10. LW IV, 270,1 sq. Cf. oben Anm. 46. Cf. R. Imbach, I.e., 209. DW I, 250,17 sq. Vgl. DW I, 250,13-15. DW I, 251,2 sq.

Erkennen als Erkennen Gottes

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gründenden Ort und das Ziel des intelligere. Hier korreliert das Erkennen seinem substantialen theologischen Grund. Erkennen ist nur dann Erkennen, wenn es Erkennen des Einen, wenn es Erkennen Gottes ist. Erkennen vorbei am unum-intelligere führt nicht zum Erkennen, da es nicht aus dem einen substantialen Grund west, sondern entfremdet sich zerstörerisch an den Absolutsetzungen der pluralen Mannigfaltigkeit der entia materialia und entia immaterialia. Erkennen des Einen dagegen ist wahrhaft notwendiges Erkennen, da es Erkennen des Gott-gesetzten Grundes und damit Erkennen des ontotheologischen Fundamentes als intelligere ist. Das Gott entsprechende intelligere ist das unum-intelligere. „Erkenten zwêne got ,ein(en)', und der eine erkente tûsent, und der ander erkente got mê ,eine(n)', swie kleine daz waere, der erkente (got) mê ,eine(n)', dan der tûsent erkente. le mê got wirt ein erkant, ie mê er wirt ál erkant" 71 . Das unum-intelligere korrespondiert ursprünglich dem Grund in Gott. Es ist die unbedingte Konzentration auf das essentielle Fundament. Einfaltiges Erkennen als unum-intelligere wird Gott und in ihm dem Sein des Seienden und damit dem Menschsein des Menschen gerecht. „Deum enim unus est, extra numerum et super numerum est necponit in numerum cum aliquo"72. Das wahre Eine ist nicht numerisch, nicht von der Zahl. (Das inkludierte ja das Eine als Resultat von der Zahl her konzipiert.) Als Nicht-Quantität {„non quantitas" ) 73 und Nicht-Qualität {„non qualitas")74 sperrt es sich additiver Majorisierung in bezug auf die Quantität und die Qualität. Gott als der Eine ist „extra numerum et super numerum". Er kann nicht als numerisches Resultat erkannt werden. Das Einssein Gottes ist nicht zahlenmäßige Einheit, „non est unitas, quae numerum faciat aut sit principium numerum constitutens"76. Maimonides 77 hat recht, wenn er aus dem prinzipiellen und generellen Einssein Gottes {„deus est unus ,omnibus modis et secundum omnem rationem' ") generaliter die Vielheit {multitude) „ ,in intellectu vel extra intellectum' " in bezug auf Gott ausschließt. Das intelligere hinterfragt nicht das Einsein. Es partizipiert an diesem, es in der Relation zum und im Einssein Gottes. Es korrespondiert dem „deus est unus". Das Einssein Gottes bestimmt den Grund des intelligere. Daher kann Meister Eckhart Vemünftigkeit ( = intelligere) und Seele miteinander in Beziehung setzen, vom vernünftigen, erkennenden Sein („vernünftle bekenneliche wesen") 78 der Seele sprechen. Das unum intelligere 71 72

73 74 75 76 77 78

DW II, 559,2-4. LW II, 65,5 sq. Eckhart stützt sich hier auf Boethius, De trin. c. 2 (ed. R. Peiper 153,39), zitiert in LW II, 53,4f.: „Hoc enim vere unum est, in quo nullus numerus est". LW II, 65,7. LW II, 65,8. LW II, 65,5 sq. LW II, 65,11-66,1. Maimonides, Dux neutrorum I, c. 50 (18v 18). Cf. LW II, 5 3 , 5 - 8 ; LW II, 6 5 , 2 - 6 . DW I, 173,7 sq.

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dei, das die Vernunft auszeichnet, macht es möglich, vom vernünftigen Sein der Seele zu reden. Alle Kräfte der Seele sind „ein in dem innersten der verniinfticheit" 79 . Vernünftigkeit ist „das oberste teil der sele" 80 , „der „erste üzbruch von der sêle" 81 , „der man in der sêle" 82 , das Innerste der Seele 83 . Der Grund der Seele ist intelligibel 84 . Erkennen und in dem Grunde der Seele wohnen sind nicht gegenwendig konträr, sondern eins in dem einen Gott gesetzten Grund. So ist das einfältige Erkennen, das unum-intelligere, auch das Fundament der Seele. Durch die intelligible Kraft der Seele „würket diu sêle in Unwesens und volget gote, der in unwesene würket" 85 . Vernünftigkeit der Seele ist die korrespondierende Folge aus dem Erkennen des Einen, die völlige Transparenz des Wirkens Gottes, der das Nichtsein zum Sein ruft. Die intelligible Kraft der Seele erkennt sich nicht aus sich, sondern durch dieses qua intellectu dei im Nichtsein setzende Sein Gottes. Der Tag und die Zeit der Vernünftigkeit 86 sind der Tag und die Zeit Gottes. Eckharts Wunsch ist es: „Daz wir uns inne vinden in dem tage und in der zît der vemünfticheit und in dem tage der wîsheit und in dem tage der gerechticheit und in dem tage der seelicheit, das helfe uns der vater und der sun und der heilige geist. Amen." 87 Die oberste Kraft der Seele, die Vernünftigkeit, erkennt Gott im einfaltigen Erkennen, im unum-intelligere. Sie nimmt „Gott nicht unter dem ,Kleid' seiner inhaltlichen Attribute ,gut', ,wahr' usw." 88 , sondern „gründet und suochet vort und nimet got in siner einunge und in sîner einoede; si nimet got in sîner wüestunge und in sînem eigenen gründe" 89 . Eckharts Verstehen der Vernünftigkeit als „daz oberste teil der sêle" 90 scheint im Gegensatz zu stehen zu Eckharts Aussagen über die dreifache Erkenntnis („drier nande bekantnisse" 91 ). Eckhart unterscheidet die sinnliche, die vernünftige und die Erkenntnis der edlen Kraft der Seele 92 . Sie sind durch folgendes charakterisiert: „Daz eine (sc. bekantnisse) ist sinnelich. Daz ouge sihet gar verre diu dine, diu ûz im sint. Daz ander ist vernünftic und ist vil hoeher" 93 . Aber das „dritte" „bekantnisse" ist 79 80 81 82 83 84 85 84 87 88 89 90 91 92 93

DW I, 304,7. DW I, 304/5 Anm. 1. Ibidem. DW I, 304,8. DW I, 173,11. Cf. DW I, 173,10 sq.; DW I, 151,8. DW I, 151,11 sq. DW I, 174,6. DW I, 1 7 4 , 6 - 8 . J. Quint in DW I, 172 Anm. 1. Cf. DW I, 171,12sq. DW I, 171,14 sq. DW I, 304/5 Anm. 1. DW I, 182,7. DW I, 1 8 2 , 7 - 1 0 . DW I, 1 8 2 , 7 - 9 .

Erkennen als Erkennen Gottes

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exklusiver Art, es „enhät mit nihte niht gemeine" 94 : „in homine est una virtus que ita alta est et nobilis quod ipsa accipit deum in suo proprio et nudo esse vel essentia, non in sua veste, ut ipse est misericors vel Veritas; accipit ipsum in sua propria medulla secundum quod ipse est nudus"95. — Diese D i f f e r e n z i e r u n g

zwischen vernünftigem Erkennen 9 6 und Erkennen der edlen Kraft der Seele stellt die Vernünftigkeit als oberste Kraft der Seele nicht in Frage. Eckhart bleibt auch hier bei dieser Feststellung. Es ist gleichsam eine Hervorhebung und Intensivierung dieser. Hier wird noch einmal nachdrücklich das intelligere als unum-intelligere, als Erkenntnis Gottes, betont und einem autochtonen, isoliertem Verstand gewahrt. „Das Licht aber, das von der Vernunft ausfließt, ist der (diskursive) Verstand, und es ist recht wie ein Ausfluß und ein Ausbruch oder ein Strom gegenüber dem, was die Vernunft in sich selbst, in ihrem Wesen ist. Und dieser Ausbruch (des Verstandes aus der Vernunft) ist so weit davon (d. h. von der Vernunft) entfernt wie der Himmel über der Erde" 9 7 . Die oberste Kraft der Seele ist die Vernunft, der intellectus9%. Das verdeutlicht Eckhart sehr schön in seiner Expositio a. evangelii sec. Iohannem: „Intellectus ... abstrahlt ab hic et nunc et secundum genus suum nulli nihil habet commune, impermixtus est, separatus est... Esto talis: humilis, scilicet subiectus deo, separatus a tempore et continuo, impermixtus, nulli nihil habens commune: venis ad deum et deus ad te"99.

Eckhart fragt, wie es möglich ist, daß erkennendes In-sich-selbst Erkennen ohne Nach-außen-Gekehrtsein („sunder uskeren") und ohne Hervorkehren von Selbstischem („Verwandlung sin selbes") Erkennen ist 100 ? Eckharts Antwort: „Ich sprich, es kum von seiner ainualtikait; wan ie luter ainualtiger der mentsch sein selbes in im selber ist, ie ainualteklicher er alle manigualtikait in im selber verstat und belibt vnwandelber in im selber" 101 . Erkennen ist auf „ainualtikait", auf Einfaltigkeit orientiert. Der Erkennende wird frei von der Mannigfaltigkeit seines Selbst und der Dinge. Erkennen von der Einfaltigkeit her ist Erkennen Gottes. Einfältiges Erkennen ist vom intelligere dei geprägtes Erkennen. „Ain ainualtig verstantniss ist so luter in im selber, das es begriffet das luter blos goetlich wesen sunder mittel" 102 . Das „In-ihm-selber-Sein" des einfaltigen Erkennens ist nicht anthropologische ursächliche Mächtigkeit (potentia). Es verdankt sich dem „Faktum", daß im einfaltigen Erkennen Gott durch

94 95 96 97

98 99 100 101 102

D W I, 182,11. Proc. Col. II η. 11, zitiert in D W I, 183 Anm. 1. Cf. D W I, 182,9 sqq. D. h. hier Verstand. - Cf. B.Welte, I.e., 101. So lautet zurecht die interpretierende Übersetzung J. Quints (DW III, 261 sq. Anm. 1) von D W III, 2 6 1 , 8 - 1 2 . Cf. D W I, 183 Anm. 1. LW III, 265,12-266,7. D W I, 250,11-13. D W I, 250,13-15. D W I, 250,17 sq.

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Gott erkannt wird. Das ist für den Erkennenden in seiner Lauterkeit und Klarheit große Freude 103 . In der großen Freude des Erkennens wird der Mensch, indem er dem theologischen Grund entspricht, zum Menschen. 5. G o t t — totum

intelligere

Gott ist „intellectus purus". Gottes Sein ist „totale" intelligere10*. Gott wohnt in der „vernünfticheit" 105 , im intellectus. Gott ist Gott nur im intellectus, niemals („nunquam") und nirgends (nusquam") außer im intellectus™. Erkennen ist Leben, „intelligere proprie vivere est"107. Der sich selbst denkende Gott ist das Leben, da Gottes „esse et vivere" intelligere ist108. Der eine Gott ist das reine Sein als totus intellectus10^. Gottes intelligere verursacht das Sein der Dinge 110 . Gott ist höher („altius") als das Sein des Seienden, ihm kommt Sein in diesem Sinne nicht zu 111 . „ego [nego] ipsi deo ipsum esse et talia (UK, d. i. andere Transzendentalien), ut sit causa omnis esse et omnia praehabeat, ut sicut non negatur deo quod suurn est, sic negetur eidem [quod suum non est]"n2. Gott enthält im voraus in sich vor dem Sein omnis. esse voraus. Dieses alles „Vorausenthalten" Gottes113 ist ursächlich der intellectus dei. Gottes intelligere, scientia dei, ist causa und radix von allem 114 . Bei Gott selbst ist das Fundament seines Seins das intelligere115. Johannes 1,1: „in principio erat verbum, et verbum erat apud deum, et deus erat verbum" (wobei hier für Eckhart verbum gleich intellectus ist) — erweist für Eckhart die gründende Vorgängigkeit des intelligere vor dem esse Gottes; denn es heißt ja nicht: „ ,in principio erat ens et deus erat ens' " resp. esse116, „wan an verstantnisse ist got im selben offenbaere, an verstantnisse vervliuzet got in sich selber, an verstantnisse vliuzet got ûz in alliu dine, an verstantnisse schuof got alliu dine. Und enwaere an gote niht verstantnisse, sô enmöhte diu drîvalticheit niht gesìn; so enwaere ouch nie créature uzgevlozzen" 117 . Vgl. DW I, 250,19-251,3. LW I, 314,4f. Cf. DW I, 1 5 0 , 1 - 7 und Anm. 1; LW V, 3 7 - 4 8 Quaestio, utrum in deo sit idem esse et intelligere. 105 DW I, 150,3 sq. 106 LW IV, 270,2 sq. 107 LW IV, 445,8. 108 LW IV, 445,9 sq. 109 LW IV, 267,6 sqq. 1,0 LW V, 44,11. 111 LW V, 47,14q. «2 LW V, 4 8 , 2 - 4 . 1.3 LW V, 49,3.6. 1.4 LW V, 44,11; LW V, 48,7. 1.5 LW V, 40,6 f. 1.6 LW V, 4 0 , 7 - 1 1 . 1.7 DW III, 379,4-7. 103

104

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Durch den intellectus setzt Gott also den Dingen das Sein 118 . Aber es ist der intellectus Gottes. Das Sein ins Leben führende Erkennen ist nicht nebulös anonym. Gott bleibt und ist hier Gott. Er ist der Handelnde. Das intelligere ist für Eckhart nur dann intelligere, wenn es transparent ist für den theologischen Grund. Weil Gott hier ganz und gar Subjekt bleibt, ist er to tum intelligere. Dieses intelligere führt so zu keiner idealistischen Apotheose des menschlichen Geistes. Eckhart kennt die große Differenz zwischen göttlichem und menschlichen Wissen und Erkennen: „scientia dei est causa rerum et scientia nostra est causata a rebus" Eckhart, der hier ähnlich wie Averroes 120 und Thomas von Aquin 121 argumentiert, sieht den großen Unterschied zwischen göttlichem und menschlichem intelligere darin, daß das göttliche intelligere das ens, die Dinge verursacht, während menschliche intelligere nicht causa des Seiendenden ist, sondern durch das Seiende verursacht wird. Unser Wissen aber ist nicht adäquate Korrespondenz zum Seienden. Es fallt ab („cadat sub ente") von dem es verursachenden Seienden 122 . Es rezipiert und repetiert in anderer Modalität die Relation des Seienden zur scientia dei. Als kreatürliches Seiendes fallt es ab von dieser 123 . Der Grund eröffnet sich adäquat nur dem to tum intelligere dei. Erkennen in universaler grenzenloser Offenheit propriiert dem intelligere dei. Erkennen als intelligere dei durchstößt den äußeren Hof des Seins des Seienden und dringt ein in die gründenden principia}2''. Gott definiert in dem Sich-selbst-Erkennen das intelligere. Nicht ist für Eckhart eine dem intelligere an sich eigende Qualität bestimmender Ausgangspunkt. Ruedi Imbach 125 ist also zu widersprechen, wenn er dem natürlichen Begriff des intelligere zunächst Qualitäten wie Unendlichkeit und Transzendieren aller natürlichen Begrenztheiten zuspricht und dann auf Grund dieser Qualitäten den so definierten Intellectush&gúíí für die Gottesinterpretation verwendet. Hier werden gründender Ausgangspunkt und Folge verkehrt. Bei Eckhart ist unbedingt und ausschließlich und überhaupt das intelligere dei (genitivus subjectivus) das Erste, und von ihm aus ist dann Erkennen erst und überhaupt Erkennen.

1.8 1.9 120

121 122 123 124 125

LW IV, 268,6 sq. LW V, 4 4 , 1 0 - 1 2 . Cf. LW V, 44 Anm. 5; LW I, 528,10-12. Met. XII com. 51 (in Λ 9, 1074b 15 —1075a 10): „sua (sc. dei) enim scientia est causa entis, ens autem est causa nostrae scientiae"\ zitiert LW V, 44, Anm. 5. S. theol. I q 14 a 8; S.c. gent. I. c. 61; zit. LW V, 44 Anm. 5. LW V, 44,12. LW V, 44,12 sq. Cf. LW I, 561,11 sq. L.C., 207.

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6. E r k e n n e n und E r k e n n t n i s l o s i g k e i t des M e n s c h e n Eckhart benennt eindeutig und klar die fundamentale Teleologie des Erkennens (Beachtet man diese nicht oder substituiert man sie durch anderes, kommt es zur Erkenntnislosigkeit.): „Also spriche ich, daz der edel mensche nimet und schepfet allez sin wesen, leben und saelicheit von gote, an gote und in gote blôz alleine, niht von got bekennenne, schouwenne oder minnenne oder swasz dem glich ist. Dar umbe sprichet unser herre herzichliche wol, daz daz êwic leben ist: bekennen got aleine einen wären got, niht: bekennen, daz man got bekennet. Wie solte der mensche bekennen sich got bekennende, der sich selben niht einbekennet. Wan sicherlîche, der mensche der bekennet sich selben und anderiu dine zemâle niht dan got aleine, jâ, in dem, dà er saelic wirt und saelic ist: in der wurzeln und in dem gründe der saelicheit. Sô aber diu sêle bekennet, daz si got bekennet, so bekennet sie von gote und sich" 126 . Zum Erkennen kommt es nur als G o t t-Erkennen, nicht als Gott-Erkennen, denn nur ersteres entspricht und kongruiert dem intelligere dei. Das Erkennen beachtet grundsätzlich das „solus dei" des Erkennens. Das „got aleine" setzt Erkennen, ja ewiges Leben. Nachdrücklich insistiert Eckhart die absolute Gründung durch Gott in bezug auf das Erkennen. Nicht Erkennen, um Gott zu erkennen, ist Fundament und Telos des Erkennens, sondern entscheidend ist das „Gott-alleine" des Erkennens. Der eine wahre, lebendige Gott ist der Grund, nicht das E r k e n n e n Gottes, betont Eckhart mit Bezug auf Johannes 17,3. Nicht das eigene Erkennen des Menschen mit dem Ziel Gott ist universal und offen. Es verstellt und begrenzt sich durch die eigenen selbstgestellten Bilder durch sich selbst. Nur das Erkennen Gottes durch Gott selbst ist Erkennen, Erkennen ohne Grenzen, ist Weite. Der „deus solus" ist der einzige Grund. Der Mensch, in dem durch die Gottesgeburt in der Seele Gott durch Gott erkannt wird, wird herausgebrochen aus dem entfremdeten, in seinen eigenen Bildern gefangenen Nicht-Erkennen, dem Gott-Erkennen und als Gott-Erkennender hineingestellt in die offene, schrankenlose Weite des Gott-Erkennens. In dem Gott-Erkennen wird durch Gott Gott und Mensch erkannt. Alles, was menschliches Erkennen aus sich heraus vermag, so Großes es auch sei, das ist nicht Gott127. Menschliches Unendlichkeitstreben hat nicht als krönenden und gründenden Endpunkt, zu dem es gelangt, Gott. Gott ist nicht Produkt unseres Erkennens. Vielmehr gilt für Meister Eckhart: „Da diu Verständnisse und diu b e g e r u n g e endet, dà ist es vinster,

dà liuhtet got" 128 . „Gott ist in sich selbst so hoch, daß kein Erkennen

126 127 128

DW V, 117,19-27. DW II, 303,7-304,1. DW II, 304,1 sq.

Erkennen als Erkennen Gottes

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noch Begehren dahin zu gelangen vermag" 129 . „Gotes schouwen und unser schouwen ist zemâle verre und unglîch einander" 130 . Die Kreatur, der Mensch kann Gott, der „sunder namen", „sunder wise", „sunder werk", der „überwesentlich", „überlobelich", „Überredelich und überverstentlich, daz natiurlich verstân ist", der „ein vber swebende wesen vnd ein vberwesende mitheit" 131 ist, in seiner „unbekantheit" und „verborgenen stilheit" nicht erkennen 132 . So soll der Mensch auch Gott nicht erkennen wollen, denn das Erkennenwollen erkennt Gott nicht. Auch dann, wenn es „etwas" von Gott zu erkennen meint, ist dieses nicht Gott, sondern ein vergötztes „aliud", dem gegenüber Gott Maliter aliter ist. Ja, dieses Erkennenwollen Gottes, das Gott nicht erkennen kann, führt zur Erkenntnislosigkeit, deren Folge Meister Eckhart als „vihelicheit" („Tierischkeit" 133 ) bezeichnet. Dem „vihelich werden" als Folge der Erkenntnislosigkeit, die durch das Erkennenwollen Gottes durch den Menschen verursacht ist, kann der Mensch nur entgehen, wenn er nichts aus sich selbst „von dem vngeworteten gote" erkennt. „Dv solt och nit verstan von gotte, wand got ist vber allis verstan. ... Hette ich einen got, den ich verstan mochte, ich wolt in niemer vvr got gehan. verstast dv nv iht von ime, des en ist er nit, vnde mit dem, so dv iht von ime verstast, so kvmest [dv] in ein vnverstandenheit, vnd von der vnverstandenheit kvmest dv in eine vihelicheit; wan swas vnverstendig ist an den creaturen, das ist vichelich. wiltv nv nit vihelich werden, so verstand nvt von dem vngeworteten gote" 134 . Wie das Sein des Menschen nicht als Für-sich-sein („esse non sibi esse"), sondern in seinem Ursprung Zu-Gott-sein („deo esse") ist, so ist auch das Erkennen nicht Wissen-für-sich-selbst — ein Nichtwissen von sich selbst und anderen —, sondern erweist sich erst im Gott gesetzten Gott-Erkennen als Erkennen 135 . — Auch die Seele in ihrem Erkennen bewirkt nicht, Gott zu erkennen, da „alle die namen, die ihm (sc. got) diu sêle gibet, die nimet si in ir selbes verstantnisse" 136 . Die Seele erkennt von Außen („von ûzen"), dagegen Gott in und durch sich selber 137 . Mit Dionysius Areopagita 138 nennt Eckhart das Schweigen das schönste Erkennen in bezug auf Gott: „Das schoneste, do der mensche gesprechen 129 130 131 132 133 134 135

136 137 138

D W II, 303,3 sq. Übersetzung D W II, 694. D W V, 118,18 sq. DW III, 442,1 sq. D W III, 3 8 0 , 1 - 3 8 2 , 7 . Cf. D W III, 441,1 sqq. So übersetzt J. Quint (DW III, 585) „vihelicheit". DW III, 4 4 2 , 5 - 4 4 3 , 4 . LW III, 9 2 , 9 - 1 3 . Eckhart verweist auf Augustinus, Conf. V. c. 4 n. 7, CSEL XXXIII 93,20-23. DW III, 380,1 sq. D W I, 409,1 sq. Cf. D W I, 364,8 sqq. De myst. theol. c. 1 § 1, PG 3, 997. Dionysiaca I, 5 6 6 , 1 - 4 , zit. D W III, 42 Anm. 2.

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mag von gotte, do ist, das er von wisheit inners richtvomes swigen kvnne" 139 . Das Schweigen legitimiert sich aus der von Gott herkommenden Relation des Erkennens. Das „letzte Ende" Gottes, in dem alles ruht, ist die Finsternis („vinsterniss"), das Nichterkennen („vnbekantniss") „der verborgenen gothait", der das Licht scheint 140 . Der „vinsterniss" 141 und „vnbekantniss der verborgenen gothait" 142 entspricht als „wisheit inners richtvomes" das Schweigen, widerspricht aber das „claffen", das geschwätzige Reden in seiner Erkenntnislosigkeit 143 . Wie aber kann der Mensch bewahrt werden von dem „vihelich werden" der Erkenntnislosigkeit, die (wie erörtert) ihre Ursache im ErkennenWollen Gottes durch den Menschen hat 144 ? „Dv solt alzemal entzinken diner dinisheit vnd solt zer fliesen in sine sinesheit vnd sol din din vnd sin sin ein min werden als genzlich, das dv mit ime verstandest ewiklich sin vngewordene istikeit vnd sin vngenanten nitheit." 145 Notwendig für das Erkennen ist „Entsinken" eigener verstellender „dinisheit" des Menschen, des „egoistischen" Beharrens und Absolutsetzens des eigenen Erkenntnisvermögens und Wollens. Grundlegend ist, daß der Mensch mit Gott Gott in seiner „vngewordene(n) istikeit", „vngenanten nitheit", ungeahnten Größe erkennt. Durch dieses gnädigliche Erkennen („gnaediclîche verstânne") 146 kommt der Mensch zum Erkennen, wird er ein Erkennender. Sich auf Augustin und Thomas 147 stützend spricht Meister Eckhart von Abend- und Morgenerkenntnis und Erkenntnis des lichten Mittags. „Nun sagen die Meister: Wenn man die Kreatur in ihrem eigenen Wesen erkennt, so heißt das eine ,Abenderkenntnis', und da sieht man die Kreaturen in Bildern mannigfaltiger Unterschiedenheit; wenn man aber die Kreaturen in Gott erkennt, so ... ist das eine ,Morgenerkenntnis', und auf diese Weise schaut man die Kreaturen ohne alle Unterschiede und aller Bilder entbildet und aller Gleichheit entkleidet in dem Einen, das Gott selbst ist" 148 . Das Gotterkennen, „als er aleine in im (sc. got) selben wesen ist, das ist der lichte mittac" 149 . Das Erkennen des lichten Mittags ist für Eckhart das Erkennen katéxochen. Es ist das eigentliche, wahre universale Erkennen. Von dem Erkennen des lichten Mittags ist 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149

DW III, 442,2 sq. und Anm. 2. DW I, 252,7-253,2. DW II, 304,2. DW I, 253,1. DW III, 442,3 sqq. Cf. DW III, 442,7 sqq. DW III, 4 4 3 , 5 - 7 . DW III, 3 8 1 , 1 - 4 . Vgl. DW V, 130/1 Anm. 46; DW I, 133 Anm. 1. DW V, 116,12-17; 502. DW I, 133,4 f.

583

Erkennen als Erkennen Gottes

Morgenerkenntnis, Erkennen des wesentlichen Einen in aller Kreatur möglich. Abenderkenntnis ist für Eckhart nicht Erkennen gemäß und und auf Grund des mit Gott in Gott gesetzten Erkennens. Sie partizipiert nicht an der universalen Offenheit des Erkennens des Einen. Sie hat aber viatorischen Wert als Instrumentarium der Mannigfaltigkeit, ist aber untauglich als teleologische Fundamentalorientierung des Erkennens. Wird sie als solche mißbraucht, führt das in „viheliche" Erkenntnislosigkeit. Entscheidend aber für das Erkennen ist das Erkennen des Einen mit und durch den Einen.

7. Intelligere

— quaedam

deiformitas

vel

deiformatio

Die ausgezeichnete, hervorgehobene Stellung des intelligere ergibt sich für Eckhart durch die Definition des intelligere durch den einen Gott. Die Privilegierung des Denkens ergibt sich durch seine Auszeichnung als „Privileg Gottes" 150 . Denn für Eckhart gilt: „intelligere (sc. est) quaedam deiformitas vel deformatio, quia ipse deus est ipsum intelligere"151. Die „quaedam deiformitas vel deiformatio" hat ihre Basis im intelligere dei. Bestimmt das intelligere dei, dann kommt es im Menschen zur deiformatio. Der Autor des intelligere und der deiformatio ist Gott und nicht der Mensch. Deiformatio hängt also unbedingt daran, daß Gott ihr Subjekt ist und nicht durch Göttliches oder Menschliches substituiert wird. Durch das intelligere dei wird das intelligere hominis durch fortschreitende Reinigung befähigt, die nuda entitas rei zu erkennen: „intelligere vadit depurando et pertingit usque ad nudam entitatem rei"i52. Das intelligere durchbricht auf dem Weg fortschreitender Reinigung die gestellten verstellenden Bilder und zielt auf die nuda entitas rei. Die Versklavungen des „hinc et nunc" werden abgeschüttelt und zurückgelassen. Dem intelligere gemäß zu verfahren, heißt so frei zu sein. „Intellectus solus est liber"Der intellectus hominis wird durch das intelligere dei unbedingt auf Freiheit, Freisein ausgerichtet. Der homo intellectus ist der homo liber. Das ist Der homo intellectus ist durch das intelligere dei, durch die qua dieses gesetzte deiformatio, auch der Weise. Es streben zwar alle Menschen nach Weisheit, aber vielfach wird der Mensch in seine die Weisheit destruierende „kleinheit" zurückgeworfen 154 . Auch im Modus des Habens zu 150 151 152 153 154

Gegen Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1987, 410. LW V, 60,8 sq. LW V, 60,6 sq. Col. II n. 49, in: LW IV, 160 Anm. 3. Cf. LW IV, 160,11. Cf. DW I, 164,15 sqq.

584

Udo Kern

sein verunmöglicht, der Weisheit an-sichtig zu werden. Per „Kaufmannschaft" kann man nicht zum Weisen werden. Durch den Modus des Habens kann Weisheit nicht gebaut oder festgehalten werden. „Daz ich ein richer mensche bin, dar umbe enbin ich niht wis" 155 . Nur dadurch, daß dem Menschen die Weisheit durch Gott „eingeformt" wird, kommt es zur Weisheit. Indem der Mensch in der lichten Morgenerkenntnis steht, d. h. durch das intelligere dei erkennend am Werke ist, wird er zum Weisen. Der weise Mensch ist der gottförmige, der durch die quaedam deiformitas geprägte, „aber dasz mir das wesen der wîsheit und der natûre einförmic ist und ich diu wîsheit selber bin, sô bin ich ein wiser mensche" 156 . Der wissende Mensch ist für Eckhart der glaubende Mensch. Glauben ist ihm nicht Vermuten, Meinen, sondern „wahres Wissen", „ein ganz glouben ist vil mêr dan ein waenen in dem menschen. In im sô han wir ein war wizzen" 157 . Der glaubende Mensch steht im wahren Wissen und Erkennen; nur indem er sich als ein Wissender erweist, ist er ein Glaubender. Ein vom wahren Wissen getrennter Glaubende ist für Eckhart eine contradictio in adjecto. Indem der Glaubende Gott erkennt, ist er der Wissende, der alles erkennt. Not ist dem Menschen der wahre Glaube, der als wahres Wissen durch und in Gott Gott und Kreatur erkennt. „In der wârheit, uns engebrichet nihtes dan eines wären glouben" 158 . Dem durch die deiformitas geformten Menschen wird ein „duplex praetnium" zuteil: 1. ein praemium essentielle und 2. ein praemium accidentale^. Das praemium essentiale besteht in der cognitio divinitatis, das praemium accidentale in der cognitio creaturarumx(Ss. Die Eckhartsche Erkenntnislehre, wie sie vom intelligere dei her entworfen sich uns zeigt, korreliert der fundamentalen theologischen Basis der Eckhartschen Anthropologie überhaupt. Von dem Erkennen Gottes her wird der erkennende Mensch substantiell gestaltet, „potentia cognoscens aeeipit esse a cognito et ipsum esse cogniti"161. Das Erkennen ist vom Erkannten. Wenn der Mensch Gott erkennt, ist er von Gott. Idealität von Sein und Erkennen 162 wird durch das intelligere dei gebaut, das den Menschen auf deiformitas orientiert. In dem Erkennen Gottes wird der Mensch allem Sein 155 156 157 158 159

160 161 162

D W I, 1 6 4 , 1 9 - 1 6 5 , 1 . D W I, 165,1 sq. D W V, 2 7 0 , 2 - 4 . D W V, 270,4 sq. LW III, 491,4 sq. und Anm. 5, wo auch auf Thomas, S. theol. I q. 95 a. 4, verwiesen wird. LW III, 491,5 sq. LW III, 94,2. Cf. Heribert Fischer, Meister Eckhart. Einführung in sein philosophisches Denken, Freiburg/München 1974,99.

Erkennen als Erkennen Gottes

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im Erkennen gerecht. Die Freiheit des weiten universalen Erkennens, die aus dem ìntelligere dei west, qualifiziert den Erkennenden allem gegenüber (auch sich selbst gegenüber) dazu, die nuda entitas rerum frei, d. h. ohne verstellende tötende Bilder, zu erkennen. Ungeheuer weit, unauslotbar, grenzenlos ist für Meister Eckhart die Freiheit des Erkennenden. Orientiert am intellectus purus kann er das Sein Sein lassen 163 .

„... der ,intellectus purus' ... ist das reine Seinlassen". (Erwin Waldschütz, Denken und Erfahren des Grundes. Zur philosophischen Deutung Meister Eckharts, Wien/Freiburg/ Basel 1989, 237.)

Mystica

Kontemplation und Konstruktion Zum Verhältnis von Mystik und Wissenschaft bei Hugo von St. Viktor GÜNTHER MENSCHING

(Hannover)

Am Ende der „Kritik der reinen Vernunft" entwirft Kant den systematischen Gedanken einer Architektonik der reinen Vernunft. Danach steht die Wissenschaft, die mehr als eine bloße Sammlung empirischer Daten sein will, unter der Idee eines Ganzen, in dem die einzelnen Teile ihre Stellung zueinander nach apriorischen Vernunftgründen erhalten. Eine solche Idee aber „bedarf zur Ausführung ein Schema, d. i. eine a priori aus dem Prinzip des Zwecks bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile. Das Schema, welches nicht nach einer Idee, d. i. aus dem Hauptzwecke der Vernunft, sondern empirisch nach zufällig sich darbietenden Absichten [...] entworfen wird, gibt technische, dasjenige aber was nur zufolge einer Idee entspringt (wo die Vernunft die Zwecke a priori aufgibt und nicht empirisch erwartet), gründet architektonische, nicht technische Einheit" 1 . Kant zieht in diesen Bemerkungen nicht allein den Schluß aus seiner eigenen spekulativen Anstrengung, die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft zu bestimmen, vielmehr spricht er hier aus, was lange vor ihm bereits Movens wissenschaftssystematischer Entwürfe war. Von der alexandrinischen εγκυκλος παιδεία bis zur Enzyklopädie von d'Alembert und Diderot war das Interesse an der Darstellung des Wissens in seiner Totalität wirksam. Die ersten Versuche, die architektonische im Unterschied zu einer bloß technischen Einheit im Sinne Kants auszuführen, also von der Kompilation relativ willkürlich klassifizierten Stoffes zu dessen innerlich Einheit stiftenden Prinzipien überzugehen, sind indessen erst in der Früh- und Hochscholastik unternommen worden. Die Reflexion auf die Einheit der Wissenschaft erhält im 12. Jahrhundert einen neuen Akzent, der sich seither eigenständig zur modernen Wissenschaftskonzeption entwickelt hat. Was bei Martianus Capeila noch den Charakter einer Sammlung des Stoffes hatte, der mit der antiken Bildung unterzugehen drohte, nimmt bei Dominicus Gundissalinus und mehr noch bei Hugo von St. Viktor die Gestalt einer projektierten Neubegründung 1

I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β 861.

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Günther Mensching

von Wissenschaft an 2 . Diese Entwürfe des 12. Jahrhunderts beginnen freilich nicht an einem fiktiven Nullpunkt. Sie leisten vielmehr eine Besinnung auf die theologische und philosophische Tradition, in deren Kontinuität sie noch ungebrochen stehen. Der epochal neue Einfluß der arabischen Zivilisation und Wissenschaft, der sich in den vielfaltigen Schulbildungen der Zeit schon geltend machte, beförderte eine neue geistige Orientierung und nötigte zu einer Neubestimmung der wissenschaftlichen Bildung. Die Ordnung des Studiums und seiner Gegenstände war aus der Idee einer Einheit zu begründen, welche das Wissen von der vielfaltiger werdenden profanen Welt der aufstrebenden Städte ebenso unter sich begriff wie die traditionellen Spekulationen der monastischen Theologie. Die Synthesis, die hier zu leisten war, brachte bei Hugo von St. Viktor die Einheit der Gegenstände und die des sie erforschenden Subjekts zum ersten Mal explizit in eine Konstellation. Die Vielheit der Wissenschaften und Künste ist nicht mehr ungebrochen aus der reinen Einheit des göttlichen Urbildes alles Seienden herzuleiten, denn die Gegenstände der sdentine und artes sind in Hugos Konzeption Elemente der für die Menschen gemachten Welt. Sie sind deshalb nicht rein ansichseiende Dinge, sondern durch die menschliche Subjektivität so bestimmt, daß sie Objekte ihres Interesses sein können. Vorhergegangene Erkenntnis und gegenständliche Tätigkeit haben nach Hugos Einsicht die Welt dem menschlichen Geist so erschlossen, daß er sie fortschreitend nach eigenen Schemata aneignen kann. Sdentine und artes sind also die habitus, durch deren Begriffe und Techniken hindurch die Welt für die materielle Reproduktion der Menschen allein verfügbar und zugleich mittelbar zum Medium der Kontemplation ihres göttlichen Ursprungs wird. Die Wissenschaften verbinden sich also nicht nur nach der Ordnung der Schöpfung zum System, sondern zugleich nach einem für Hugos Zeit neuartigen Selbstbewußtsein, das sich seinerseits methodisch reflektiert und damit selbst zum Gegenstand der Wissenschaft wird. Dieses im Kern neue Selbstverständnis von Wissenschaft, das bei Hugo noch als getreue Fortsetzung alter Traditionen auftritt, ist an einigen Besonderheiten seiner Wissenschaftseinteilung und an der mystischen Spekulation auf das Verhältnis des endlichen Subjekts zur Welt, zum göttlichen Geist und zu sich selbst zu verdeutlichen. Die Wissenschaftslehre Hugos von St. Viktor ist vor allem in seinem „Didascalicon. De studio legendi" niedergelegt 3 . Die Komposition der 2

3

Cf. hierzu das 3. Kapitel der Untersuchung von L. Baut in: id. (ed.), Dominicus Gundissalinus, De divisione philosophiae, Münster 1903, 316 sqq. ( = Beitr. z. Gesch. d. Phil, d. Mittelalters, IV, 2 - 3 ) . Hugo de Sancto Victore, Didascalicon. De studio legendi, ed. C. H. Buttimer, Washington 1939 ( = Studies in Medieval and Renaissance Latin 10). Außer diesem wichtigsten Text hat Hugo zwei kürzere Traktate zur Thematik verfaßt: De tribus diebus, PI 176, 811 — 838.

Kontemplation und Konstruktion

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Abhandlung, die letzthin eine didaktische Anweisung zur Lektüre der Heiligen Schrift sein will 4 , ist selbst Ausdruck ihrer theoretischen Zielrichtung. Das „Didascalicon" beginnt in den ersten Kapiteln mit einigen Bemerkungen über die subjektiven Bedingungen für das Studium der Wissenschaft, bestimmt dann ausführlich deren vielfältige Gebiete und setzt sie zueinander in Beziehung, um schließlich der cohaerentia der Wissenschaften eigens sich zuzuwenden. Das theologische Studium, auf das alle anderen hingeordnet sind, gilt somit zugleich dem Grund der Einheit der mannigfaltigen scientiae und artes. Die Lektüre der biblischen Schriften führt das Subjekt zum Inbegriff von Objektivität und damit zum Grunde seiner selbst. Die mystische Spekulation, in der Hugos Wissenschaftstheorie sich letzthin erst vollendet, ist hier angelegt. Alle Wissenschaften und Künste tragen, recht verstanden, zur reparatio hominis bei. Sie haben ihr Telos in der Aufhebung des durch den Sündenfall verursachten Unheils der Menschheit: „Omnium autem humanarum actionum seu studiorum, quae sapientia moderatur, finis et intentio ad hoc spedare debet, ut vel naturae nostrae reparetur integritas vel defectuum, quibus praesens subiacet vita, temperetur nécessitas"^. Die reparatio vollzieht sich nach Hugo in einem langen welthistorischen Prozeß, dessen drei Stadien deutlich an die geschichtsphilosophische Spekulation zur Trinitätslehre bei Joachim von Fiore erinnern 6 . Sosehr dieser Aspekt sich der augustinischen Tradition verdankt, sosehr bedeutet er im Denken Hugos eine für die spätere Entwicklung entscheidende Modifikation der Heilslehre. Diesseitige praktische Tätigkeit und auf das jenseitige Heil gerichtete Kontemplation sind nicht strikt einander entgegengesetzt, sondern im Telos eines. Die Vereinigung der verschiedenen menschlichen actiones, die handwerkliche Tätigkeit ebenso umfaßt wie die philosophische Theorie, setzt ein Subjekt voraus, in dem das Verschiedene zur Einheit gebracht wird.

4

5 6

(Die Schrift wurde lange falschlich als das 7. Buch des Didascalicon angesehen.) Zudem: Epitome Dindimi in philosophiam, ed. R.Baron, in: Traditio, 11 (1955) 91 — 148. Im übrigen enthält auch das theologische Hauptwerk Hugos „De sacramentis christianae fidei" wissenschaftstheoretische Passagen, so besonders im Prologus (Cf. PL 176, 183-186). Dieser Aspekt ist kürzlich hervorgehoben worden von I. Mich, Du lisible au visible: La naissance du texte. Un commentaire du Didascalicon de Hugues de St. Victor, Paris 1991. Illich macht unter Bezugnahme auf gegenwärtige Tendenzen zu einem postliterarischen Analphabetentum plastisch, daß zu Hugos Zeiten die über die Klöster hinausgehende Verbreitung des Bücherlesens eine zivilisatorische Neuerung war. Dieser Sachverhalt beeinflußt den historischen Stellenwert von Hugos Wissenschaftslehre. Didascalicon, 1. c., 12. Dieses Motiv in Hugos Denken hat eingehend dargestellt: J. Ehlers, Hugo von St. Viktor. Studien zum Geschichtsdenken und zur Geschichtsschreibung des 12. Jahrhunderts, Wiesbaden 1973 ( = Frankfurter hist. Abh. 7). Dieses Buch demonstriert an seinem thematischen Zentrum, was hier in immanenter Rekonstruktion deutlich werden soll: die Kohärenz des Denkens Hugos von St. Viktor. Die geschichtstheologischen und wissenschaftssystematischen Motive lassen sich in fast allen Stücken seines Œuvres finden.

592

Günther Mensching

Hugo beginnt daher seine Wissenschaftstheorie mit einer Reflexion auf die Subjektivität: „Sapientia illuminât hominem ut seipsum agnoscat, qui ceteris similis fuit cum se prae ceteris factum esse non intellexit. Immortalis quippe animus sapientia illustra tus respicit principium suum et quam sit indecorum agnoscit, ut extra se quidquam quaerat, cui quod ipse est, satis esse poterat1. Die Stelle g r e i f t das augustinische Modell von Erkenntnis durch vorgängige g ö t t l i c h e Illumination auf, das sich aber hier nur auf die primäre Fähigkeit zur Selbsterkenntnis bezieht. Alles weitere Wissen findet in dem einmal illuminierten Subjekt seinen systematischen Einheitspunkt. Schärfer noch als im Didascalicon kommt dies in der „Epitome Dindimi in philosophiam" z u m Ausdruck: „Tria sunt in quibus omnem operam philosophia exercet. Nam prima investigate hominis hec esse debet, ut sciat seipsum et agnoscat quod factus est. Deinde cum semetipsum agnoscere ceperit, investiget quid sit a quo factus est. Postremo opera quoque factoris sui mirabilia in exercitationem meditari incipiat, ut intelligat et hoc pariter quid sit quod secum et propter se factum est"8. Hugo b e g i n n t seine Wissenschaftslehre mit der Selbstreflexion eines Bewußtseins d a s sich ein substantielles Gegenüber der bloßen Vielfalt der empirischen Gegenstände erst gewinnen muß. Das traditionelle Modell dieser R e f l e x i o n ist im Mittelalter die Aszese. Deren äußerer Form, der notificatio, steht eine für die theoretische Tradition wesentlich bedeutsamere innere g e g e n ü b e r : Nur das Subjekt, das sich unter Abstraktion von allen wandelbaren D i n g e n selbst gefunden hat, kann Wissenschaft treiben. Es setzt sich als d a s Substantielle dem Wandelbaren als einem Nichts entgegen. Seine eigene Endlichkeit transzendiert es, indem es sich auf seinen unendlichen U r s p r u n g bezieht: „Scriptum legitur in tripode Apollonis: gnoti seauton, id est, cognosce te ipsum, quia nimirum homo si non originis suae immemor esset, omne quod mutabilitati obnoxium est, quam sit nihil, agnosceret"^. Das aszetische Subjekt ist also weder am Anfang noch im Ergebnis von Hugos Theorie primär das der demütigen Selbstzernichtung; im Gegenteil, die Seele als d i e Potenz des Bewußtseins ist potentiell der Träger aller verschiedenen Bestimmungen, die den empirischen Dingen begriffslos inhärieren: „Sic nimirum mens, rerum omnium similitudine insignita, omnia esse dicitur, atque esc omnibus compositionem suscipere, non integrali ter, sed virtuali ter atque potentialiter continere, et haec est ilia naturae nostrae dignitas quam omnes aeque naturaliter habent, sed non omnes aeque noverunt"10. Die substantielle Gleichheit aller individuellen Verstandesseelen ist ebenso ausgesprochen wie der faktisch verschiedene Grad von Bewußtheit. 7 8

9 10

Didascalicon, 1. c., 4. Epitome D i n d i m i in philosophiam, 1. c., 107. Zu diesem Problem cf. auch H. Ostler, Die Psychologie H u g o s von St. Viktor. Ein Beitrag zur Geschichte der Psychologie in der Frühscholastik, Münster 1906, 136 sqq. (Beitr. ζ. Gesch. d. Phil. d. Mittelalters, VI, 1) Didascalicon, 1. c., 4. L.C., 5 sq.

Kontemplation und Konstruktion

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Der aszetische Sinn des ersten Kapitels des Didascalicon zielt deshalb auf die kollektive Einheit des Verstandes, in der die empirische Subjektivität von ihrer zufalligen Bestimmtheit absehen muß. Die Reflexion geht dieser Einheit auf den Grund und ermöglicht damit erst die positiven Wissenschaften und Künste. Das ist zugleich eine Bedingung des Heils der Menschen: „Reparamur autem per doctrinam, ut nostram agnoscamus naturam, et ut dicamus extra non quaerere quod in nobis possumus invenire. Sum mus igitur in vita solamen est Studium sapientiae, quam qui invenit felix est, et qui possidet beatus"u. Wissenschaft, die es mit den allgemeinen und notwendigen Bestimmungen der Dinge zu tun hat, kann sich mit dem bloßen Sinnenschein nicht begnügen. Sie ist deshalb ein Habitus, den das Subjekt nur durch eine Abstraktion erwirbt, welche nicht allein im Fortlassen beiherspielender Merkmale der untersuchten Dinge besteht, sondern zugleich in einer spezifischen Formung des Intellekts, der mit den Gegenständen umgeht. Anachronistisch ausgedrückt: Die Konzentration des Geistes auf das was die Gegenstände als innerlich intelligible bestimmt, ist bedingt durch die reflektierte Identität des erkennenden Subjekts 12 . In diesem Sinne steht im Didascalicon zunächst die Philosophie an der Spitze der Wissenschaften, deren Einteilung anschließend betrachtet wird. Nach Hugos Definition umschließt sie sowohl die profanen menschlichen Handlungen und deren Gegenstände als auch die Theologie: „Philosopbia est disciplina omnium humanar um atque divinar um rat iones piene investigans"13. Als Wissenschaft von den Gründen des Seienden ist Philosophie die Theorie nicht nur aller anderen Wissenschaften, sondern sogar aller Künste. Gegenstände, die in der klassischen Antike kaum der Theorie für wert befunden waren, wie die Landwirtschaft, haben nach Hugo ihre philosophische Grundlage. Daher gibt es so viele Teile der Philosophie wie es wesenhaft verschiedene Dinge gibt: „Vides iam qua ratione cogimur philosophiam in omnes actus hominum diffundere, et iam necesse sit tot esse philosophiae partes quot sunt rerum diversitates, ad quas ipsam pertinere constiterit" u . 11 12

13

14

L.C., 6. Dies ist eine Implikation der von Hugo verwendeten Begriffe meditatio und disciplina. Cf. M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, Bd. II, Freiburg 1911, 245. Die ausführlichste Darstellung von Hugos Bildungsideal findet sich bei: D. Lasic, Hugonis de S. Victore theologia perfectiva. Eius fundamentum philosophicum ac theologicum, Rom 1956. Didascalicon, 1. c., 11. Die Definition ist womöglich eine charakteristische Variation eines Satzes von Cassiodor: „Philosophia est divinarum humanarumque rerum in quantum homini possibile est probabilis scientia." Cf. J. Taylor, The Didascalicon of Hugh of St. Victor. A Mediaval Guide to the Arts, New York/London 1961, 183. (= Records of Civilization. Sources and Studies LXIV) Die Differenz der Zitate bezeugt das im 12. Jahrhundert enorm gestiegene Selbstbewußtsein der Philosophie. Didascalicon, 1. c.

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Günther Mensching

Die auffallige Prävalenz der Philosophie in einem theologischen Traktat des 12. Jahrhunderts motiviert sogleich die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen. Vorab steht hierzu für Hugo von St. Viktor fest, daß es keinen ausschließenden Gegensatz zwischen beiden Objektivationen des Geistes gibt. Die Einteilung der Wissenschaften ist zwar eine Spezifikation des menschlichen Geistes, aber diese Gliederung geschieht selbst innerhalb der göttlichen Schöpfung. Von diesem Sachverhalt kann sich die philosophisch gebildete Vernunft eine klare Gewißheit verschaffen. Der Glaube ist deshalb auch nicht, wie bei spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Theologen, eine von der philosophischen Rationalität ganz getrennte Erkenntnisweise. Glauben und Wissen sind vielmehr materialiter eines: „Fides est certitudo quaedam animi de rebus absentibus supra opinionem et infra scientiam constituta"15. Das kosmologische Modell, das Hugo kurz skizziert 16 , macht deutlich, daß er die menschliche Subjektivität ontologisch als Moment einer sie fundierenden Seinsordnung begreift. Seine Stellung gestattet es dem Menschen indessen nicht, ein unverstelltes Bild dieser Ordnung zu gewinnen, denn er gehört selbst einesteils zur veränderlichen sublunaren Welt. Zugleich aber kann er dies mit Gewißheit erkennen, denn er trägt ja das unvergängliche Licht der göttlichen sapientia in sich. Deshalb kann er Wissenschaft betreiben, die sich einerseits auf das Transzendent-Göttliche richtet, andererseits den Notwendigkeiten des profanen Daseins dient. Denn die reparatio naturae hominis gelingt umso eher, je mehr der Mensch sich von der Kontingenz der Naturübel durch scientia und ars befreit hat: „Haec paulo latius prosecuti sumus ut ostendamus hominem, qua in parte mutabilitatis particeps est, in ea quoque necessitati esse obnoxium, in ea vero, qua immortalis est, divinitati esse cognatum. Ex quo colligi potest id [•••], quod videlicet omnium humanarum actionum ad hunc finem concurrit intentio, ut vel divinae imaginis similitudo in nobis restauretur, vel huius vitae necessitudini consulatur, quae facilius laedi potest adver sis, eo magis foveri et conservan indiget"11. Unter diesem Gesichtspunkt wäre die menschliche Selbsterhaltung durch eine produktive, ihren Umkreis erweiternde Aneignung der Natur geradezu eine aszetische Pflicht, denn sie gestattete dem Menschen erst die kontemplative Rückwendung aus der Vielfalt der natürlichen Zwänge zu sich selbst. Die qualifizierte Erhaltung der species humana durch die Anwendung der Wissenschaft ist so die reale Bedingung für die reparatio. Umgekehrt ist — was noch zu zeigen ist — diese contemplatio der Schlußstein der architektonischen Einheit der Wissenschaft wie das Didascalicion sie entwirft. Hugos Konstruktion der Wissenschaft in ihrer Totalität folgt aus diesem Gedanken der reparatio. Die erste große Distinktion, die er einführt, setzt 15 16 17

De sacramentis christianae fidei, 1. c., 330. Cf. Didascalicon I, 6—7, I.e., 12sqq. L.C., 15.

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Kontemplation und Konstruktion

die intelligentia der scientia entgegen. Erstere bezieht sich auf das spekulative Vermögen, durch das die menschliche Vernunft sich auf sich selbst und damit auf ihren Grund bezieht, die letztere ist die Anwendung des Verstandes auf die empirischen Dinge. Beide aber haben ihre Einheit in der sapientia. Da sie an Gegenstände gebunden ist, die vermöge ihrer Endlichkeit bestimmt sind, nennt Hugo hier jede scientia eine mechanische: „Scientia vero, quia opera humana prosequitur, congrue mechanica, id est, adulterina vocatur"w. Mit „mechanisch" bezeichnet Hugo das Verfahren der imitatio naturae. Damit hat er, ohne es voraussehen zu können, ein zentrales Moment der modernen Naturwissenschaft getroffen, die freilich im 12. Jahrhundert noch nicht spezifisch präformiert war. In der Wissenschaft kann nämlich eine Naturerscheinung erst dann mit Gewißheit erkannt werden, wenn sie unter theoretisch bestimmten Randbedingungen im Laboratorium planmäßig reproduzierbar ist. Hugo von St. Viktor hat indessen die handwerkliche Produktion im Sinne, die in ihrer Weise die Naturgegebenheiten zum gewünschten Zweck aufeinander wirken läßt, um Dinge hervorzubringen, die von Natur aus nicht existieren: „Opus artificis est disgregata coniungere et coniuncta segregare"19. Das Ergebnis dieser Tätigkeit ist, daß die Menschen sich selbst zu wesentlichen Teilen die Bedingungen schaffen, unter denen sie leben: „Homini autem ex hoc etiam maior experiendi occasio praestaretur, cum ilia, quae ceteris naturaliter data sunt, propria ratione sibi inveniret"20. Alle mechanischen Künste sind aus der physischen Not entstanden, der sie durch das für Hugo letzthin auch hier göttliche ingenium abhelfen sollen. Diese Imitation der Natur durch die mechanischen Wissenschaften und Künste ist als spezifisch menschliches Werk dem opus Dei und dem opus naturae entgegengesetzt. Göttliches Werk ist hier außer der Schöpfung auch die menschliche Befähigung, die Natur durch die mechanische Kunst zu erschließen wie ein Schloß durch einen Nachschlüssel21. Am Ende seiner Einteilung der Wissenschaften hebt Hugo von St. Viktor die besondere Bedeutung der Logik hervor. Im ersten Buch des Didascalicon ebenso wie im zweiten reflektiert er den Sachverhalt, daß die Logik historisch als letzte Wissenschaft entwickelt wurde, nachdem die übrigen scientiae und artes schon längst betrieben wurden. Die Logik leistet die nachträgliche Reflexion auf die allgemeinen und notwendigen Regeln, die der Intellekt immer schon befolgt, wenn er die ihm erscheinenden Dinge auf ihr Wesen hin untersucht. In der Logik stellt also der Intellekt 18

19 20 21

L. c. Zu der eigenartigen Verwendung der Worte adulterina Kontext cf. J.Taylor, I.e., 191. Didascalicon, I.e., 16. L.C., 17. L.C., 16.

und adulterium

in diesem

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eine reine Beziehung zu sich selbst her, die für Hugo schon implizit die Bedingung der Möglichkeit jeglicher spezifisch menschlichen Tätigkeit ist. Das Bildungsziel, das er im „Didascalicon" verfolgt, erfordert freilich die Umkehrung der historischen Reihenfolge, in der die Wissenschaften und Künste sich entwickelten. Die bloße consuetudo der logischen und allgemein-methodischen Regeln genügt nicht für eine dem Heilsziel entsprechende Wissenschaft. Die Regeln sind vielmehr im Prozeß des Lernens zum Bewußtsein zu erheben, um Theorie und Praxis planmäßig voranzubringen. Die Logik als entfaltete Wissenschaft erlaubt erst die methodische Konstruktion einer architektonischen Einheit des Wissens, die in der Theologie ihren abschließenden Ausdruck findet. Die reparatio naturae hominis ist dennoch für Hugo strikt an die kontinuierliche Schulung in den theoretischen Disziplinen gebunden, und zwar so, daß Mathematik und Logik als erste die Autonomie des Denkens gegenüber den kontingent bestimmten Gegenständen bewußt machen. Sie liefern die Instrumente, durch die der menschliche Intellekt sich die Schöpfung geistig verfügbar machen kann. In dieser Beziehung des Geistes auf sich selbst liegt das notwendige Komplement zu der in Hugos Wissenschaftseinteilung bereits deutlich projektierten Arbeitsteilung: „Quia enim logica et mathematica priores sunt ordine discendi quam phjsica, et ad earn quodammodo instrumenti vice funguntur quibus unumquemque prim um inform ari oportet antequam phjsicae spéculât ioni operam det, necesse fuit ut non in actibus rerum, ubi fallax experimentum est, sed in sola ratione, ubi inconcussa peritas manet, suam considerationem ponerent, deinde ipsa ratione praevia ad experientiam rerum descenderent"22. Die Entfaltung des methodischen Selbstbewußtseins hat nicht allein Bedeutung im Bereich des theoretischen Wissens, sondern auch in dem der mechanischen Künste, die Hugo analog zu den artes liberales in sieben Bereiche teilt. Die Bestimmung dieser artes im Didascalicon zeigt deutlich, wie im 12. Jahrhundert die Arbeit gegenüber der Antike und dem früheren Mittelalter neu bewertet wird, so daß die Herstellung von Woll- und Leinenstoffen, Waffen und Handwerksgerät, der überseeische Handel, die Landwirtschaft und sogar die Kochkunst sowie schließlich die Theaterkunst der Betrachtung wert sind. Die Unterteilung der practica in Ethik, Oekonomie und Politik 23 läßt erkennen, daß die arbeitsteilig sich differenzierende profane Tätigkeit zum Gegenstand der Theorie wird. Hugos enzyklopädischer Entwurf vereinigt Elemente, die in früheren Zeiten sich nicht architektonisch zur Einheit der menschlichen Tätigkeiten verbinden ließen. So waren die der Erhaltung der menschlichen Gattung dienenden Aktivitäten dem Heilsziel der auf der Pilgerschaft durch das Diesseits befindlichen Menschheit nur dann förderlich, wenn sie als Bußübung 22 23

L. c„ 36. Cf. 1. c., 37.

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verstanden wurden und sich im gleichbleibenden frugalen Rahmen vollzogen. Bei Hugo von St. Viktor zeichnet sich dem traditionellen Verständnis der Aszese gegenüber eine Tendenz ab, in deren späterem Verlauf die Einheit des Wissens säkular neu in der menschlichen Subjektivität begründet wurde. Hugo bezieht die profanen Künste in die Konstruktion der Wissenschaft ein und fundiert sie in der Theologie. Das ist ein der Tradition erwachsener Gedanke, aber die Rolle, die dem organisierenden Subjekt bei der Disposition über die Wissensgebiete zuerkannt wird, ist unübersehbar neu. Die Systematik der Wissenschaften, die das Didascalicon in der Tradition des Martianus Capeila und anderer Autoren dartut, ist nicht unmittelbar die des göttlichen Gedankens, der sich in der Welt entäußert hat, sondern die des lernenden und seine Kenntnisse ordnenden menschlichen Subjekts, das die Natur nicht nur kontemplativ betrachten, sondern auch beherrschen will 24 . Das Didascalicon skizziert die Konstruktion der rezeptiven und produktiven menschlichen Potenzen. Es ist nicht eine Ontologie, nicht einmal ungebrochen Theologie. Diese auch für Hugo höchste Wissenschaft richtet sich vielmehr auf den Grund der Einheit, die der menschliche Intellekt in der Vielfalt seiner Gegenstände reflektierend konzipieren kann. Der Grund und seine Bestimmungen sind dann aber selbst nicht unmittelbar gegeben, sondern durch eine Reflexion erschlossen, die die architektonische Einheit des Wissens zugleich vollenden und transzendieren soll. Der leitende Gesichtspunkt ist hier die Kohärenz des Systems der freien Künste, die nur als Teile eines virtuellen Ganzen zu verstehen sind, vermöge dessen die menschliche Subjektivität nach dem Urbild der göttlichen die geschaffene Natur in der Erkenntnis und deren praktischer Anwendung reproduzieren kann: „1Verumtamen in Septem liberalibus artibus fundamentum est omnis doctrinae, quae prae ceteris omnibus ad manum habendae sunt, utpote sine quibus nihil solet aut potest disciplina philosophica explicare et definire. Hae quidem ita sibi cohaerent et al ternis vicissim rationibus indigent, ut 24

In diesem Zug ist das Didascalicon bereits mit dem Grundgedanken der Enzyklopädie von d'Alembert und Diderot verwandt. Der Stammbaum der Wissenschaften, der hier zugrundegelegt wird, entwickelt die Disziplinen aus den Vermögen des menschlichen Subjekts. Das objektive Gebäude, das Hugo entwirft, ist dem nur scheinbar entgegengesetzt, denn gerade er rekurriert auf die subjektiven Bedingungen, die für die Wissenschaft notwendig sind. Beide Konstruktionen sind aber nicht psychologisch intendiert. Die zufällige Verfassung des empirischen Subjekts wird transzendiert und die Rede ist von einem menschlichen Subjekt überhaupt. Was freilich bei Hugo noch ein schematischer Entwurf ist, wird in der Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts zu einem riesigen Kollektivwerk, zu dem die Intelligenz einer ganzen Epoche beigetragen hat. Cf. G. Mensching, Die Enzyklopädie und das Subjekt der Geschichte, in: J. Le Rond d'Alembert, Einleitung zur Enzyklopädie, Frankfurt 1989, 138 sqq.

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si vel una defuerit, ceterae philosophum facere non possunt"25. Das Urbild dieses Ganzen ist zwar der göttliche Geist, aber die menschliche Subjektivität, die sich durch die sukzessive Entfaltung des Kontinuums der Wissenschaften zu ihm erhebt, ist in der Reflexion auf die cohaerentia zunächst auf sich selbst verwiesen, bevor sie den Grund ihrer Selbstgewißheit erschließt. Um diesen Grund im göttlichen Absoluten zu erreichen, muß die menschliche Subjektivität von ihrer empirischen und als solcher stets zufälligen Bestimmtheit absehen. Dies ist der Sinn der aszetischen Tugenden, die Hugo im dritten Buch des „Didascalicon" angibt. Sie laufen sämtlich darauf hinaus, daß das individuelle Subjekt in der wissenschaftlichen Erkenntnis von den zufälligen Strebungen absieht, die es an der Einsicht in die objektive Totalität des Wißbaren hindern. So fordert Hugo neben anderen Qualitäten die humilitas. Sie besteht in der Bereitschaft, keine rationale Erkenntnis gering zu achten und von jedem Lehrer zu lernen, denn jede Wissenschaft ist gut: „Sapientior omnibus eris, si ab omnibus discere volueris. Qui ab omnibus accipiunt, omnibus ditiores sunt. Nullam denique scientiam teneas, quia omnis scientia bona est"26. Dem vollen Sinne dieser Forderung kann freilich nur ein überindividuelles Subjekt entsprechen, das keine partikulären passiones kennt. Diese Konzeption des Wissenschaft treibenden Subjekts hat bei Hugo ihr Komplement in einer traditionell neuplatonischen Theorie von der Subsistenz der Dinge 27 . Hiernach haben die Dinge nur im göttlichen Geist wahrhafte Subsistenz; als ansichseiende sind sie schlechthin vergänglich, während sie im menschlichen Intellekt zwar nicht unveränderlich sind, aber dennoch in der Gestalt des Wissens in der Zeit bestehen: „Tribus modis res subsistere habent: in actu, in intellectu, in mente divina; hoc est in ratione divina, in ratione hominis, in seipsis. In seipsis sine subsistentia transeunt, in intellectu hominis subsistunt quidem, sed tarnen immutabiles non sunt, in mente divina sine omni mutabilitate subsistunt"2i. Die radikal platonische These, daß die geschaffenen empirischen Dinge an sich gar keine Subsistenz besitzen, motiviert die gesamte Wissenschaftslehre Hugos und führt sie zugleich über die platonische Denkweise hinaus. Denn der These zufolge verhilft erst die Wissenschaft den Dingen zu einer Subsistenz, deren Medium der menschliche Geist ist, welcher sich kohärent im System der scientiae und artes objektiviert und seiner Zufälligkeit fortschreitend entledigt. Damit bezieht Hugo rudimentär eine Position, die erst im deutschen Idealismus mit vollem Bewußtsein formuliert wurde, 25 26 27

28

Didascalicon, 1. c., 55. L. c., 63. Diese Theorie liegt bei Hugo am schärfsten formuliert in der Appendix des Didascalicon vor. Der Text hat im Corpus dieser Schrift keinen bestimmten Platz. Es handelt sich vermutlich um eine Ergänzung, die Hugo nach Vollendung des Werkes verfaßt aber nicht mehr in den Text integriert hat. Cf. hierzu J. Taylor, 1. c., 152. Didascalicon, 1. c., 134.

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freilich ohne die Kenntnis ihrer mittelalterlichen Quellen. Bei Hugo hat die Wissenschaft indessen den Ursprung ihrer Objektivität im göttlichen Geist, dem Urbild des menschlichen. Diese Entsprechung hat aber durch den Sündenfall ihre Unmittelbarkeit verloren und ist von menschlicher Seite nur durch aszetisch-mystische Kontemplation unvollkommen wiederherzustellen. Auf der anderen Seite ist die Objektivität der empirischen Dinge gleichsam durch den menschlichen Intellekt gesetzt. Denn nur indem die Wesenheiten in den wissenschaftlichen Intellekt aufgenommen sind, können sie ihre flüchtige sinnliche Präsenz in den physischen Dingen überdauern. Somit stiftet die mens humana im Vollzug ihrer Ähnlichkeit mit dem göttlichen Geist das System der erscheinenden Natur: ,£)uod est in actu imago est eius quod est in mente hominis, et quod est in mente hominis imago est eius quod est in mente divina. Ad mentem divinam jacta est creatura rationalis. Ad creaturam rationalem facta est creatura visibilis"29. Sind hiernach die empirischen Dinge nicht der Maßstab der Objektivität des Wissens, so muß der menschliche Intellekt sich ihrer auf andere Weise versichern. An dieser Stelle hat Hugos Mystik ihre systematische Bedeutung für die Architektonik der Wissenschaften. Zum Prinzip der Einheit der scientiae und artes, das in der Verwandtschaft des menschlichen und göttlichen Geistes liegt, gelangt das Subjekt durch die mystische Kontemplation, die aus der reflektierenden Beziehung auf sich selbst ihren eigenen transzendenten Grund erschließt 30 . Denn jedes Selbstverhältnis schließt virtuell die Differenz von Betrachtendem und Betrachtetem in sich, die in einem weiteren Schritt als Momente nur einer Relation erkannt werden. Hugo hat hier die Verwandtschaft der trinitarischen Relation in Gott zur Struktur der Reflexion erkannt. Die Operationsweise des menschlichen Intellekts weist eine trinitarische Struktur auf: „Considera ergo tria haec, mentem, intellectum, amorem. De mente intellectus nascitur, de mente pariter et intellectu amor oritur. De sola mente intellectus, quia mens de se intellectum gignit. Amor vero nec de sola mente, quia nec de solo intellectu, quia ab utriusque procedit"ix. Das trinitarische Verhältnis entspricht nach Hugo der Selbsterfahrung der menschlichen Subjektivität. Aber diese ist endlich, denn sie hat notwendig ihre Beziehung auf die kontingenten Dinge. Sie ist real als Bewußtsein von etwas, das sie nicht als Seiendes gesetzt hat. Die Betrachtung immer weiterer Beziehungen des Intellekts zu immer anderen Seinsbereichen führt nie auf den Grund dieser Verhältnisse, sondern auf ein un29 30

31

L.c. Die zentrale Rolle der Kontemplation im Denken Hugos von St. Viktor hat bereits ausführlich dargelegt R. Baron, Science et sagesse chez Hugues de Saint-Victor, Paris 1957, 167 sqq. Das Buch, bis heute die umfassendste Monographie über Hugo, nähert sich seinem Denken aus theologischem Interesse, verbindet dieses aber nicht konstruktiv mit einer Interpretation der tragenden Motive. Diese kommen vielmehr im Rahmen deskriptiver, aber sehr eingehender Darstellungen zur Sprache. De tribus diebus, I.e., 831.

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überschaubares Meer, dem die erkennende Seele hilflos preisgegeben ist. Das menschliche Denken gelangt also nur zur geordneten Struktur der Wissenschaft von der Welt, zum ordo conditionis, wenn es sich zunächst auf sich und auf den ordo cognitionis richtet: ¡Quisquís ergo via investigationis de visibilibus ad invisibilia transit, primum a corporea creatura ad rationalem creaturam, deinde a rationali creatura ad considerationem sui Creatoris mentis ducere debet. Revertens autem de invisibilibus ad visibilia primum a Creatore ad rationalem creaturam, deinde a rationali creatura ad corpoream creaturam descendit. Ordo autem cognitionis in mente humana semper praecedit ordine m contidionis; quia nos qui Joris sumus redire ab intimis non possumus, nisi prius oculo mentis intima penetremus"32. Hugo von St. Viktor nimmt in seiner Lehre von der wissenschaftlichen Erkenntnis ganz traditionelle neuplatonische Denkmodelle in Anspruch. Schon für Piaton waren die αισθητά keine Quelle allgemeiner und notwendiger Erkenntnis, sondern nur die νοητά, derer sich der Verstand durch die άνάμνησις vergewissert. Auch bei Hugo ist der ordo cognitionis nicht als ein System subjektiver Begriffe intendiert, sondern als unvollkommenes Abbild des wahrhaft wirklichen ordo conditionis im göttlichen Geist. Danach ist die neuplatonische Metaphysik der Erkenntnis bei Hugo von St. Viktor von einer neuen Orientierung getragen, die mit dem frühen Nominalismus seiner Zeitgenossen Roscelin und Abaelard trotz des Gegensatzes der Doktrinen konvergiert. Die für die Epoche neue Wendung zur denkenden Subjektivität, die sich in der produktiven Entwicklung der Logik deutlich kundtut, hat im Denken Hugos von St. Viktor ihre Entsprechung 33 . Die Aufnahme der artes mechanicae in die Enzyklopädie der Wissenschaften ist ein Indiz dafür, daß das monastische Denken nicht mehr ungebrochen dem contemptus mundi früherer Epochen verpflichtet ist. Tiefer als in dem Schema der Wissenschaften ist die implizite Modernität in jenem Teil des Hugoschen Œuvres wirksam, der neuzeitlicher Rationalität ganz entgegengesetzt zu sein scheint. Die mystische Spekulation, die Hugos Theologie geprägt hat, will — wie die weltlichen scientiae und artes — der restauratio hominis dienen. Die Kontemplation, die schon das Ziel des Didascalicon ist, bildet in der Konstruktion des Systems der Wissenschaften den Schlußstein 34 . In ihr wird sich der menschliche Geist seiner selbst mehr und anders bewußt als in der Logik. Denn diese Wissenschaft, wiewohl Voraussetzung aller anderen, umfaßt ja nur die 32 33

34

L.C., 835. Cf. hierzu: G. Mensching, Das Allgemeine und das Besondere. Der Ursprung des modernen Denkens im Mittelalter, Stuttgart 1992, 166 sqq. Diese These findet sich unausgeführt auch bei P. Sicard, Hugues de Saint-Victor et son Ecole, Turnhout, 1992, 29 sqq.

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Formen des Geistes; in der Mystik gewinnt sich dieser als sein eigener Gegenstand, dessen Ursprung er bestrebt ist zu bestimmen. Im 27. Kapitel von „De tribus diebus" bezeichnet Hugo direkt den Weg, der von der Erkenntnis sinnlicher weltlicher Dinge zum Grunde dieser Erkenntnis führen soll. Es ist dies ein Prozeß, der zunächst zur Gewißheit des Subjekts von sich selbst als eines von seiner eigenen räumlich-materiellen Erscheinung verschiedenen Agens führt. Der reflexive Akt der Unterscheidung des denkenden Prinzips vom Körper ist das Modell des aszetisch gewonnenen Selbstbewußtseins, die systematische Voraussetzung von Hugos mystischer Spekulation, die sich in eigener Konsequenz nochmals über sich selbst zu ihrem absoluten Grunde erheben soll: „Nemo enim est sane sapiens, qui se esse non videat. Et tamen homo si vere quod ipse est attendere coeperit, omnium quae in se vel videntur, vel videri possunt, nihil esse intelligit. Illud namque quod in nobis rationis capax est, quamvis, ut ita dicam infusum et commistum carni sit; ipsum tamen se a substantia carnis propria ratione secernit et alienum esse intelligit"35. Auf dem aszetischen Wege vollzieht das Subjekt die Abstraktion an seiner empirischen Bestimmtheit, um die Gründe wahrer Erkenntnis offenzulegen. Denn was es nur als dieses Individuum erkennt, ist zufallig, wenn es nicht an sich selbst zwischen schlechthin Notwendigem und Kontingentem scheidet. Der Weg, den die Reflexion hier nimmt, ist besonders eindringlich in der Schrift „De vanitate mundi" dargestellt. Der affirmative Grund allen Wissens und allen Denkens, also aller Beziehung des Intellekts auf Gegenstände, ist nur via negationis bestimmbar. Das Wahre ist so die Negation des Falschen, so wie das Glück nicht in der Fülle der Güter, sondern in der Abwesenheit des Mangels besteht. Schon im Didascalicon hat Hugo seine mystische Reflexion angelegt. Als eine notwendige Bedingung der Erkenntnis gibt er hier an, daß der Erkennende zur Welt in Distanz tritt und die enge Verschlungenheit seiner Interessen mit der Welt aufgibt. Die gesamte Welt wird ihm so zum Exil: „Omnis mundusphilosophantibus exsilium est. [...] Magnum virtutis principium est, ut discat paulatim exercitatus animus visibilia haec et transitoria primum commutare, ut postmodum possit etiam derelinquere. Delicatus ille est adhuc cui patria dulcís est; fortis autem iam, cui omne solum patria est; perfectus vero, cui mundus totus exsilium est. Ille mundo amorem fixit, iste spar sit, hic extinxit"36. Das Subjekt, das die Liebe zur Welt in sich auslöscht, kann das Diesseits aus eigener Kraft freilich nicht fliehen. Es bildet vielmehr durch die Negation der diversitas ein Bewußtsein von Einheit aus, als deren Zentrum es sich selbst weiß. Die aszetische Übung des Rückzugs der Seele aus der weltlichen Verstrickung ist somit nur zum einen Teil die Verwirklichung frommer Demut; sie stellt vielmehr zum anderen ein Selbstbewußtsein her, 35 36

De tribus diebus, 1. c., 825. Didascalicon, 1. c., 69.

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das sich selbst als das affirmativ Seiende gegenüber einer gan2en Welt nichtigen Scheins setzt. Wahre Wissenschaft kann deshalb auch nur von einem solcherart seiner selbst gewissen Subjekt getrieben werden, von einem idealen Subjekt also, von dem die sinnlich-empirischen Individuen scharf geschieden sind und an dem sie doch als vernünftige Wesen notwendig partizipieren. „De vanitate mundi" beschreibt im Dialog zwischen Ratio und Anima den Weg durch verschiedene Bereiche des weltlichen Lebens, die in fortschreitender Desillusionierung als unsubstantiell, negativ sich herausstellen. Diese via negationis führt unter anderem durch den Reichtum, den Handel, die Ehe und die Schulen. Dem ersten Blick, den regelmäßig die Seele auf diese Bereiche wirft, erscheint alles was sich ihr darbietet als positiv und erstrebenswert, während die Vernunft stets die negative Kehrseite hervorhebt, wodurch die vermeintliche reine Güte des Betrachteten aufgehoben ist. So zerstört die Ratio den Schein, der die Anima täuscht. Das Verdikt der Eitelkeit trifft auch die Wissenschaft, die nur den Schein der Wahrheit statt dieser selbst zum Ergebnis hat. Der Kritik verfällt ein Wissenschaftsbetrieb, der wahllos vermeintliches Wissen aufhäuft und dem Publikum in betrügerischer Absicht eingängig macht: „Imago veritatis fallit te. Nam et ista est consuetudo mundi huius, ut id quod magis ad ánimos hominum illaqueandos praeparat ne caveri aut vitari valeat, quadam similitudine veritatis intexat. Error enim quanto manifestius agnoscitur, tanto citius reprobatur. Occultus autem dum Joris speciem veritatis erexit, intus venenum falsitatis infundit. Talia sunt ista non sapientiae, sed dementiae humanae studia, quibus imprudentes et stulti tam inutili quam pertinaci labore naturas rerum inquirunt'>yi. In diesem wissenschaftskritischen Abschnitt kommt zum Ausdruck, daß planloses Vielwissen den Begriff der scientia in sein Gegenteil verkehrt, da es die Selbstreflexion des Subjekts verhindert, ohne die es keine Wahrheit geben kann. Nachdem so die Welt und die übliche Art, sie gedanklich eher zu verfehlen als zu begreifen, negiert sind, gelangt Hugo im zweiten Buch von „De vanitate mundi" zu einer Bestimmung des mystischen Sinnes der Aszese. Die Welt erscheint hier wie auch in den anderen Schriften Hugos als die vernichtende regellose Flut 38 , der die menschlichen Individuen schutzlos ausgesetzt sind, wenn sie der Zerstreuung hingegeben sind, statt ihrer selbst bewußte Subjekte zu sein: „Ratio: Interim considera mundum hunc universum, propter mutabilitatem rerum omnium quasi diluvium quoddam decurrentium aquarum. Anima: Video plane nihil esse stabile, sed omnia ire in praeceps.

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38

De vanitate mundi, ed. Κ. Müller, Bonn 1913, 34 sq. ( = Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 123). Cf. besonders: De arca Noe morali, PL 176, 617 sqq. In Anlehnung an die biblische Erzählung von der Sintflut wird auch hier die Arche zur Metapher für die in sich geordnete Seele.

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R.: Deinde cogita amatores huius mundi quasi quosdam naufrages qui mer si in huius sali profundo deorsum rapiuntur. Α.: Nihil convenientius dici potest: sic sunt omnes qui transitoria diligunt; cum his quibus inhaerent defluunt'>y). Der Sintflut der Distraktion setzt Hugo das Subjekt entgegen, das sich zur Einheit sammelt und damit seine restauratio befördert: „ Anima: Quam pericolosa est ista distractio! Et scire velim, si quisquam ita late dispersus rursum colligi possi t. Ratio: Potest omnino, si iterum se erexerit et haec infima excutiens rursus secum esse didicerit. Tanto denique amplius quisque animo in unum colligitur, quanto magis ima deserens cogitatione desiderio sursum elevatur, donee tandem omnino immutabilis sit, cum ad illam unam et summam immutabilitatem pervenerit"40. Ganz traditionell ist hier der Sinn der Aszese als deificatio hominis bestimmt. Aber bei Hugo erhält dieses in vielen neuplatonischen Theorien analog erscheinende Motiv eine neue Wendung zum Subjekt. Die Aszese besteht also zunächst in einem Rückgang des Subjekts in sich selbst. Durch diese Besinnung auf die eigene wahre Identität gelangt das Subjekt zu Gott. Die Schiffbrüchigen, die in der Sintflut der Welt unterzugehen drohen, können sich kontemplativ auf das Unwandelbare in ihnen selbst besinnen. Sie finden Zuflucht in der Arche, welche ihre eigene selbstbewußte Seele ist: „Video itaque haec tria, in imo quasi diluvium quoddam mundum istum, in medio quasi arcam quandam cor hominum, in supremo gubernatorem Deum"41. Diese Arche des Selbstbewußtseins trägt das Göttliche in sich, so daß der Rückgang des Subjekts in sich im selben Akt der Aufstieg zu Gott ist: „Ascendere ergo ad Deum, hoc est intrare ad semetipsum, et non solum ad se intrare, sed ineffabili quodam modo in intim is etiam seipsum transiré. Qui ergo seipsum, ut ita dicam, interius intrans et intrinsecus penetrans transcendit, ille veraciter ad Deum ascendit"42. Den Schritt, durch den das reflektierte Selbstbewußtsein Gottes gewahr wird, hat Hugo nicht näher bestimmt; er war ihm in der Tat unaussprechlich. Wie die Seele, nachdem sie sich selbst als reinen Gegenstand gewonnen hat, zugleich das ganz Andere, Göttliche erfassen kann, wird nicht ausgeführt. Aus dem Kontext der Theologie Hugos läßt sich nur erschließen, daß die ihrer selbst gewisse Seele sich durch die Kontemplation des Grundes transzendieren soll, dessen Wirkung ihre Vernunft ist. Die Fähigkeit, sich denkend auf sich zu beziehen, hat hiernach nicht in sich selbst ihren zureichenden Grund; die Andersheit, die das Selbstverhältnis notwendig einschließt, wäre von Gott bewirkt 43 . 39 40 41

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De vanitate mundi, I.e., 38sq. L.C., 39. L. c., 40. Das Motiv der Arche findet in nahezu gleicher Bedeutung auch in „De arca Noe Mystica". L.C., 41. Hugos Theorie der drei Augen weist in diese Richtung. Cf. De sacramentis christianae fidei, 1. c., 329 sq. Das Auge des Fleisches ist danach nur auf die planlose Verschiedenheit der sinnlichen Dinge gerichtet, durch das Auge der Vernunft konnte der Mensch sich selbst erkennen, während das Auge der Kontemplation Gott schauen konnte. Aber es

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Der aszetische Weg sollte die beschränkte menschliche Subjektivität über die Grenze ihres empirischen Daseins hinausführen zu einem schlechthin notwendigen Sein. Dieses muß das einzelne denkende Subjekt in sich finden, denn sonst wäre es mit dessen Bewußtsein gar nicht kompatibel. Das schlechthin Notwendige aber, das das Subjekt in seinem Bewußtsein ausfindig machen kann, sind die obersten Bedingungen von Denken und damit von Wissenschaft. In dieser Perspektive war der Weg von der Mystik Hugos zur Kantischen Transzendentalphilosophie systematisch in einigen Motiven vorgeprägt. Freilich mußte die Erschütterung, die der ungebrochene Neuplatonismus durch Hugos Zeitgenossen Abaelard erfuhr, im Aristotelismus der Hochscholastik und in der verschärften nominalistischen Kritik erst produktiv gewendet werden, um die neuzeitliche Wissenschaft zu ermöglichen. Ohne die mittelalterliche Aszese und ihre reflektierte Gestalt in der Mystik hätte Kants Kopernikanische Wende zum Subjekt nicht stattfinden können. Kants scharfe Unterscheidung des transzendentalen vom empirischen Subjekt ist das objektive historische Resultat der aszetisch-mystischen Abkehr der Seele von ihrer Verstrickung in die kontingenten Erscheinungen der sinnlichen Welt. In der Nachfolge Kants tritt aber hervor, was bei Hugo von St. Viktor noch gar kein eigenes Thema sein konnte: Die Transzendenz des Absoluten ist in die überempirische Subjektivität eingezogen und das Selbstbewußtsein wird durch seine Omnipräsenz in jedem Denken zum Grund seiner selbst. Damit bezieht sich letzthin nur Geist auf Geist, und der Ursprung von dessen immanenter Andersheit bleibt unbegriffen.

ist durch den Sündenfall erloschen. Die Wiederherstellung der Kontemplation kann daher nur durch die nicht vollends verblendete Vernunft geschehen, die sich ihrer Grenze bewußt wird und sie damit zugleich transzendiert. Cf. hierzu auch H. Ostler, 1. c., 121 sqq.

Theologie a perscrutatìo

labi debet ad ìnflammationem

affectus"

Der Zusammenhang von mystischer Theologie und Philosophie bei Johannes Gerson G E R H A R D KRIEGER

(Bonn)

Zu den allgemein anerkannten Ergebnissen historisch-kritischer Historiographie mittelalterlicher Philosophie zählt die Einsicht, daß Meister Eckhart als einer der herausragenden Vertreter der Mystik wissenschaftliche und mystische Betrachtungsweise vereint hat 1 . Schon der Umstand, daß sein lateinisches Werk im Zusammenhang seines Wirkens als Professor entstanden ist, verweist angesichts der Bedeutung des universitären Entstehungsortes für den wissenschaftlichen Charakter seiner Schriften darauf, daß für das Verhältnis von mystischem und wissenschaftlichem Denken, von Mystik also und Philosophie 2 die Vorstellung der Trennung oder gar des Gegensatzes nicht angemessen ist. 1

2

Ich folge damit der allgemeinen Redeweise, der das Denken Eckharts zweifellos als mystisch gilt und für die, wenigstens soweit sie in neueren Gesamtdarstellungen mittelalterlicher Philosophie geübt wird, weder eine Trennung noch gar ein Gegensatz zwischen mystischer und wissenschaftlicher Betrachtungweise besteht, cf. etwa die Eckhart betreffenden Ausführungen in: Karl Vorländer, Geschichte der Philosophie, neu hrsg. von H. Schnädelbach, Bd. II Mittelalter und Renaissance, Teil I Mittelalter, vollständig neu verfaßt und mit Literaturhinweisen und ausgewählten Texten versehen von J. P. Beckmann, Hamburg 1990, 109 sqq. Ob, wie B. Mojsisch, „Dynamik der Vernunft" bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart, in: K. Ruh (ed.), Abendländische Mystik im Mittelalter: Symposion Kloster Engelbert 1984, Stuttgart 1986, 143 Anm. 39, ausführt, erlaubt ist zu sagen, daß Eckhart, soll Mystik den Versuch bezeichnen, „einen mehr oder weniger scharfen Gegensatz zwischen Gott und Mensch in einer cognitio dei experimentalis (Bonaventura) zu überwinden, ... kein Mystiker" ist, kann hier unentschieden bleiben. Vorsichtiger urteilt K. Flasch, der aufgrund des skizzierten Zusammenhangs zwischen der wissenschaftlichen Tätigkeit Eckharts und seiner Mystik eine nähere Erläuterung dafür fordert, Eckharts Denken als mystisch zu kennzeichnen, in: Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt 1987, 166 sq. Hinsichtlich dieser Gleichsetzung von Wissenschaft und Philosophie beziehe ich mich auf den historischen Begriff der Scholastik als der mittelalterlichen Gestalt von Wissenschaft, cf. zu der entsprechenden Diskussion G. Schrimpf, Bausteine für einen historischen Begriff der scholastischen Philosophie, in: J. P. Beckmann u. a. (ed.) Philosophie im Mittelalter. Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1990, 1—25, bes. 1—5, 24sq. Die Beiträge von R.Schönberger, Scholastik, Hildesheim 1991, bes. 41—51, und R. Heinzmann, Philosophie des Mittelalters, Stuttgart Berlin Köln 1992, 141 sq. scheinen

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Ähnlich wie Meister Eckhart ist Johannes Gerson ein Autor, dessen wissenschaftliche Tätigkeit ausschließen läßt, daß bei ihm mystische Theologie und Philosophie getrennt werden müssen oder sich gar gegensätzlich zueinander verhalten 3 . Was die Besonderheit des Gersonschen Verständnisses dieses Verhältnisses betrifft, kommt hinzu, daß das Werk dieses Autors auf dem Hintergrund jener Auseinandersetzungen gesehen werden muß, die gemeinhin als Wegestreit bezeichnet werden und die in erster Linie die Begründung und das Selbstverständnis von Philosophie und Wissenschaft betrafen. Gerson war nicht bloß an der Verbindung von mystischen und philosophischem Denken interessiert; zudem bemühte er sich um die Vermittlung im philosophischen Streit zwischen der via antiqua und der via moderna, um die, wie Gerson selbst sagt, „Konkordanz zwischen Formalisten und Terministen" 4 . Gemeinhin nimmt man für Gersons letztgenannten Vermittlungsversuch an, daß zwar eine „Nähe zu den Formalizantes (besteht), Gersons eigener Standpunkt aber den Terministen zugerechnet werden muß" 5 . Im Blick auf das Verhältnis von mystischer Theologie und Philosophie gelangt man zu der Auffassung, daß Gerson versuche, mit Hilfe der mystischen Betrachtungsweise über die dem terministischen Ansatz entsprechende „Beschränkung des Intellekts auf die Begriffe hinauszugehen, in dem Gott durch den mystischen Aufstieg unmittelbar erfaßt" wird 6 . Nun stellt sich freilich zum einen die Frage, ob Gersons Bemühen um die „Konkordanz von Logik und Metaphysik" lediglich als Annäherung an die Betrachtungsweise der Formalisten, d. h. der Scotischen Metaphysik verstanden werden kann. Daß Gerson sich für die „resolutio entis" ausspricht, d. h. für die Rückführung aller erkennbaren Gehalte auf ein Ersterkanntes, und daß er die Weigerung, dies zu tun und bei der seman-

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mir über den bei Schrimpf erreichten Diskussionsstand nicht hinauszuführen, da beide den Aspekt der Methode akzentuieren. Dem historischen Begriff der Scholastik stimmen im übrigen auch die Autoren zu, die ansonsten die Gleichsetzung von scholastischer und mittelalterlicher Philosophie kritisieren, wie etwa K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart 1986, 75 sq. Von grundlegender Bedeutung in Fragen der Biographie und der Chronologie ist nach wie vor der Artikel von P. Glorieux, La vie et les œuvres de Gerson. Essai chronologique, in: AHDLMA 25/26 (1950/51), 1 4 9 - 1 9 2 . De concordia metaphysicae cum logica, ed. P. Glorieux (Jean Gerson, Œuvres complètes, IX L'œuvre doctrinale, Paris 1973) 632: ,£)uae consideratio clavis est ad concordiam formali^antiurti cum terministis si perspieiati ter nec proterve videatur." M. Bauer, Die Erkenntnislehre und der Conceptus entis nach vier Spätschriften des Johannes Gerson, (Monographien zur philosophischen Forschung, Bd. 117) Meisenheim 1973, 315. Bauers Untersuchung stellt die bisher ausführlichste Darstellung der Philosophie Gersons dar; der Autor gibt zu Beginn einen Überblick zum Forschungsstand, XVIII —XXVIII. Zu der hier diskutierten Fragestellung cf. ferner K. Flasch, Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Problemgeschichtliche Stellung und systematische Bedeutung, Leiden 1973, 21—34. M. Bauer, Die Erkenntnislehre, 1. c. 387.

Theologie und Philosophie bei Johannes Gerson

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tischen Betrachtung stehen zu bleiben, als „ruditas" bezeichnet7, gibt jedenfalls Grund zu der Frage, inwieweit Gerson bei seinem Vermittlungsversuch von Logik und Metaphysik den terministischen Standpunkt verläßt oder doch zumindest modifiziert. In dem Maße, wie dies tatsächlich geschieht, wird dann aber auch das Verhältnis von Philosophie und Mystik bei Gerson neu bedacht werden müssen. Für die Beantwortung dieser Fragen legt sich folgendes Vorgehen nahe: Als Ausgangspunkt ist eine knappe Skizze sowohl des Ansatzes der Ersten Philosophie im Scotischen Verständnis als auch des terministischen Standpunktes, d. h. des logisch-semantischen Ansatzes Ockhams erforderlich. Im zweiten Schritt wird Gersons Vermittlungsversuch der logischen und metaphysischen Betrachtungsweise geprüft. Abschließend erfolgt die Diskussion des Verhältnisses von Philosophie und mystischer Theologie 8 . I. Über jede an epochenspezifische Konstellationen gebundene Differenzierungen hinaus ist Metaphysik als „Erste Philosophie" durch die Frage nach einem schlechthin Ersten gekennzeichnet. Die Besonderheit ihrer Scotischen Beantwortung sei hier im Ausgang von jener Auffassung verdeutlicht, an der sich Scotus seinerseits ein Stück weit orientiert, um dann in der für sein Verständnis von Metaphysik charakteristischen Weise über sie hinauszugehen9. Und zwar ist die Scotische Auffassung ganz 7

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De concordia metaphysicae cum logica 21, ed. P. Glorieux IX, 635: „Subtilitas metaphyskantium si vera sit, consistit in actúa resolutione entis secundum esse suum obiectale personaliter seu formaliter acceptum; ruditas autem terministarum, si consistere velint in significatis seu modis significandi solum materialiter, inde provenit vel consurgit quod a metaphjsica rationabiliter contemnuntur." Hinsichtlich des angesprochenen Verständnisses der „resolutio entis" cf. die Ausführungen zum Ansatz der Scotischen Metaphysik in I. Textgrundlage der folgenden Ausführungen sind im wesentlichen die beiden Traktate De modis significandi und De concordia metaphysicae cum logica; was das Verhältnis von Philosophie und mystischer Theologie betrifft, kann diese Beschränkung als gerechtfertigt gelten, da Gerson seinerseits dort auf diesen Punkt zu sprechen kommt. Im übrigen sind die genannten beiden Traktate wohl als zwei Teile einer Schrift und nicht als zwei eigene Werke zu betrachten, cf. De concordia, 1. c., 632. In der Darstellung der Scotischen Position folge ich im wesentlichen den Interpretationen W. Kluxens und L. Honnefelders, wie sie diese in verschiedenen Beiträgen vorgetragen haben, cf. W. Kluxen, Die Originalität der Skotischen Metaphysik. Eine typologische Betrachtung. In: C. Bérubé (ed.), Regnum Hominis et Regnum Dei. Acta Quarta Congressus Scotistici Internationalis, Roma 1978 (Studia scholastica-scotistica 6), 303 — 313, bes. 307 sq.; L. Honnefelder, Der zweite Anfang der Metaphysik. Voraussetzungen, Ansätze und Folgen der Wiederbegründung der Metaphysik im 13./14. Jahrhundert. In: J. P. Beckmann e. a. (ed.), Philosophie im Mittelalter, Entwicklungslinien und Paradigmen, Hamburg 1990, 165 — 186, insbes. 177 — 181; id., Metaphysik und Transzendenz. Überlegungen zu Johannes Duns Scotus im Blick auf Thomas von Aquin und Anselm von Canterbury. In: Id., W. Schüßler (ed.), Transzendenz. Zu einem Grundwort der klassischen Metaphysik, Paderborn 1992, 1—21, bes. 1—7.

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wesentlich von der These des Avicenna her zu verstehen, nach der ,seiend' oder ,das Seiende' (ens) als das in der Metaphysik intendierte Erste dadurch zugänglich wird, daß man unsere Denkinhalte auf ihre ersten oder letzten Grundbestandteile hin analysiert 10 . Das Erste ist für Avicenna also Ersterkanntes, und als solches ist es, da Erkanntes allgemeiner Natur ist, zugleich das Allgemeinste. Setzt man auf diese Weise das ersterkannte allgemeine , Seiende' als das in der Metaphysik intendierte Erste an, fragt es sich zum einen, wie das Erste gegenüber dieser Erkenntnis Erstes zu sein vermag, d. h. wie ,seiend' als ein gegenüber seiner Erkenntnis vorgängiger und unabhängiger erster Sachverhalt verstanden werden kann. Die Allgemeinheit des Ersterkannten verhindert nämlich, daß dieses durch ein Erstes erkannt wird, das seinerseits nicht unter diesem ersterkannten Allgemeinen erfaßt ist. Damit aber scheint ausgeschlossen, daß es eine Erkenntnis eines ersten ausgezeichneten Seienden, d. h. eine Erkenntnis Gottes geben kann, die nicht bereits die Erkenntnis des ersterkannten Allgemeinen voraussetzt. Denn auch von Gott als der ersten Ursache gilt ja, wie etwa Thomas von Aquin betont, daß er als „Seiendes" erkannt wird 11 . Auf dem Hintergrund der Aristotelischen Metaphysik bedeutet dies, daß Erkenntnis Gottes im Sinne einer ersten, unverursachten Ursache nur auf der Grundlage des ersterkannten allgemeinen Seienden möglich ist. Die Physik führt also nicht zur Metaphysik, sondern umgekehrt setzt die Physik die Metaphysik bereits voraus. Die zweite Frage, die die skizzierte Identifizierung des in der Metaphysik intendierten Ersten mit dem ersterkannten allgemeinen Seienden aufwirft, besteht darin, wie die Verschiedenheit zwischen dem ersterkannten allgemeinen Seienden und jedem anderen, davon unterschiedenen Gehalt zu kennzeichnen ist. Hier droht die Gefahr, alle übrigen Inhalte außer dem Seienden als nichtseiend bezeichnen zu müssen, eine Aporie, die Aristoteles durch die Unterscheidung der verschiedenen Aussageweise von ,seiend' zu vermeiden sucht 12 . Die Scotische Antwort auf diese beiden Fragen läßt sich unter die Begriffe „Transkategorialität" bzw. „Transzendentalität" und „Formalität" zusammenfassen. Durch den Begriff der Transkategorialität bzw. Transzendentalität des Seienden ist zunächst der Schritt bezeichnet, der darin besteht, daß die Metaphysik, wie Scotus sagt, „de transcendentibus", von den übersteigenden Bestimmungen handelt 13 . Auf diese Weise vermag die Metaphysik für Scotus zweierlei zu gewährleisten: zum einen, daß ,seiend' ein Inhalt ist, der in allen anderen, sinnlich erschließbaren Gehalten ent10 11

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Avicenna, Philosophia prima, tr. 1 c. 2, ed. Van Riet, Löwen—Leiden 1977, 12 f. Cf. ScG I 30, ed. K. Albert, P. Engelhardt, Darmstadt 1974, 126: „de solo Deo dicuntur ,primum ens', et alia huiusmodi." Cf. Met. VI 2, ed. Bekker 1026a 3 3 - b 3. Met. prol. n. 5, ed. Viv. VII 5.

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halten und von ihnen aussagbar ist, der aber seinerseits nicht in etwas anderem enthalten ist, das vom Seienden als etwas noch Allgemeineres ausgesagt werden könnte. Alles wird zwar ,als seiend' erkannt, ,seiend' seinerseits aber wird, wie Scotus sagt, „durch nichts Bekannteres entfaltet" {per nihil notius explicatur)u, d. h. ,seiend' kann selbst nicht noch einmal ,als etwas' erfaßt werden. Das Zweite, was nach Scotus mit dem transkategorialen oder transzendentalen Verständnis des Seienden gewährleistet wird, ist, daß mit .seiend' nicht ein Gehalt gemeint ist, der über die skizzierte Gemeinsamkeit mit allen anderen Gehalten hinaus in völliger Verschiedenheit von diesen Bestand hat. Denn wäre dies der Fall, gäbe es gegenüber dem ersterkannten, allgemeinen Seienden doch ein erstes, ausgezeichnetes ,Seiendes'; dann aber bliebe der Widerspruch zwischen der Priorität der Allgemeinheit des ersterkannten ,Seienden' und dessen Erstheit als eines ausgezeichneten Seienden bestehen. Sucht Scotus mit dem Hinweis auf die transkategoriale Hinsicht der Metaphysik den aus dem Charakter des Erkanntseins oder der Allgemeinheit des ersterkannten Seienden resultierenden Erfordernissen zu genügen, so soll der formale Charakter des ersterkannten Seienden den Zusammenhang zwischen dem , Seienden' und allen übrigen, vom Seienden selbst unterschiedenen, aber gleichwohl nicht nichtseienden Gehalten gewährleisten. Die Formalität von ,seiend' besagt deswegen, daß es sich dabei um einen Sachverhalt handelt, der sich zum einen zu allen übrigen Gehalten verhält wie Bestimmbares zu Bestimmendem; zum anderen gilt freilich von den letztgenannten, bestimmenden Momenten, daß sie ebenso ,seiend' sind, insofern sie stets in etwas enthalten sind, das seinerseits nicht wiederum in etwas anderem enthalten und insofern ,seiend' im genannten Sinn der Bestimmbarkeit ist. Technisch ausgedrückt besagt dies: Die rein qualifizierenden Bestimmungen sind im denominativen Sinne ,seiend', weil sie „in quale" von etwas ausgesagt werden, von dem .seiend' „in quid" prädiziert wird 15 . Von daher bezeichnet .seiend' die grundlegende formale ratio der Seiendheit oder Realität, die nur vom bloßen Nichts unterschieden werden kann und deren Prädizierung lediglich besagt, daß das, von dem sie ausgesagt wird, „dasjenige ist, dem das Sein nicht widerstreitet" {hoc, cui non répugnât esse)16. Auch vom terministischen Ansatz Ockhams kann man sagen, daß für ihn die Priorität der Allgemeinerkenntnis den leitenden Gesichtspunkt in der Diskussion um die Frage eines Ersten darstellt. Was in dieser Hinsicht bei Ockham in bis dahin nicht gekannter Schärfe zum Tragen kommt, ist das Bewußtsein für die Schwierigkeit, die die Begründung der Allgemein14 15 16

Ord. I d. 2 p. 1 q. 1 - 2 n. 132, ed. Vat. II 207. Vgl. Ord. I d. 3 p. 1 q. 3 nn. 1 3 1 - 1 5 1 , ed. Vat. III 8 1 - 9 4 . Ord. IV d. 1 q. 2 n. 8, ed. Viv. X V I 109.

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heit der Erkenntnis aufwirft. Diese Begründung, so glaubt Ockham, ist nur möglich, sofern das Gewußte ein „complexum" darstellt, d. h. die Verbindung eines Subjekts- mit einem Prädikatsterm vermittels der Kopula; daher heißen „complexa" durchaus auch „propositiones", Satzinhalte also oder kürzer: Sätze. Ockhams These besagt, daß Gewußtes ausschließlich komplexer Natur (nihil scitum nisi complexum)17 ist und daß Allgemeinheit die Funktion der Bedeutung oder eines Zeichens ist und nicht die Eigenschaft der bezeichneten Sache (non est universale nisi per signifieatio)™. Ockham bindet auf diese Weise die Vorstellung allgemeiner Erkenntnis daran, daß das Erkannte als Glied eines Beweises fungiert. Historisch betrachtet bewegt er sich so auf den durch den aristotelischen Wissenschaftsbegriff der Zweiten Analytik 19 vorgezeichneten Bahnen. Der Sache nach bedeutet dies, daß das, was erkannt wird, Prinzip oder Schlußfolgerung ist. Das Kriterium, das es nach Ockham erlaubt, die allgemeine Geltung des Erkannten zu beanspruchen, ist demnach seine Verwendbarkeit in einem Beweis oder seine Notwendigkeit. Von daher gibt es für Ockham in dem Maße allgemeine Erkenntnis, wie „Sätze {propositiones) aufgestellt werden, die im strengen Sinne von Wissenschaft", d. h. im Sinne des Beweiswissens „gewußt zu werden vermögen" 20 . Das besagt zunächst, daß eine Erkenntnis, die bewiesen und deswegen notwendig ist, zugleich allgemein gilt. Weiter kann es für das Allgemeine keine andere Begründung geben als die, die seine Verwendbarkeit in einem Beweis betrifft. Die fragliche Begründung kann sich nur auf der Ebene der Sätze selbst vollziehen, im Blick also auf die tatsächliche Verwendung der infragestehenden Prädikate. Das aber bedeutet, daß es für die Erkenntnis und die in ihr verwendeten Prädikate insgesamt keine vorgängigontologische Rechtfertigung gibt, sondern nur noch eine auf das sprachliche Feld beschränkte. Denn die fragliche vorgängige Ebene des Allgemeinen müßte, um wirklich für die Erkenntnis bestimmend zu sein, ihrerseits vollbestimmt sein; zugleich aber müßte sie in ihrer Bestimmtheit eingeschränkt, also noch bestimmbar sein. Denn das Allgemeine käme nicht kraft seiner eigenen Natur, d. h. kraft seiner Allgemeinheit, sondern

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Ord. d. 2 q. 4, ed. G. Gài, S. Brown, St. Bonaventura N. Y. (OT II) 1970, 134. Cf. dazu und zu der folgenden Skizze des ockhamschen Ansatzes J. P. Beckmann, Wilhelm von Ockham: Die Philosophie unter dem Anspruch strenger Wissenschaftlichkeit. In: W. Kluxen (ed.), Thomas von Aquin im philosophischen Gespräch, Freiburg 1975, 2 4 5 - 2 5 5 ; R. Imbach, Wilhelm von Ockham. In: O. Höffe (ed.), Klassiker der Philosophie Bd. I, München 21985, 220—244; ferner in diesem Band J. P. Beckmann, „Nihil scitum nisi complexum". Von der Sach- zur Satzwissenschaft. Summa log. I 14, ed. Boehner et a., St. Bonaventure N.Y. (OP I) 1974, 48. An. post. I 2, 71 b 1 7 - 2 2 ; ähnlich Eth. Nie. VI 3, 1139 b 3 1 - 3 5 . Summa log. III-2, 5, ed. Boehner et a., 1. c. 513: „non obstante quod genera et species et quaecumque universalia distinca a cognitione Dei sunt simpliciter corruptibilia ... tarnen de eis possunt firmari propositiomnes necessariae, quae possunt sciri scientia proprie dicta."

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aufgrund eines von ihm verschiedenen Prinzips der Vielheit der unter dem Allgemeinen faßbaren Einzelnen zu, und insoweit wäre es noch bestimmbar. Dann aber verliert das Allgemeine seine eigentliche Bestimmungsfunktion. Konkret gesagt: Wenn die humanitas in Sokrates nicht allein durch sich auch die humanitas in Piaton ist, wenn also die humanitas in Sokrates und in Piaton nicht dieselbe, sondern real verschieden ist, weil ansonsten Sokrates und Piaton dieselben wären, dann ist die humanitas an sich selbst weder real noch im positiven Sinne eine allgemeine21. Oder im Blick auf die Prädikatsfunktion des Allgemeinen formuliert: Besäße das Universale eine Realität unabhängig und vorgängig zu seiner Aussagefunktion, d. h. zu seiner Verwendung als ein von Mehreren aussagbares Prädikat, wäre die Einheit des Begriffs und infolgedessen seine Aussagbarkeit von vielem zerstört. Denn dann würde jedes Prädikat dieses Allgemeine bezeichnen, nicht aber das singuläre Ding22. Das eigentlich Erkannte ist nicht ein außerhalb liegender Gegenstand, sondern die Sätze selbst: „Nihil scitum nisi complexum"23. Beziehen sich die Begriffe (conceptas, intentio) auf der Ebene des Denkens oder die Termini auf der Ebene der Aussage nicht auf Allgemeines außerhalb der Seele, liegt es nahe, sie als Zeichen anzusehen, die singuläre, extramentale Gegenstände meinen können. Der Realitätsbezug der (Real-)Wissenschaft ist durch ein semantisches Verhältnis der Begriffe oder der Termini vermittelt. Wissenschaftliche Aussagen können aufgrund der signifikativen Verwendung sprachlicher Ausdrücke von den real existierenden Einzeldingen handeln24; Allgemeinheit ist nicht die Eigenschaft 21

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Ord. I d. 2 q. 6, ed. S. Brown, G. Gài, St. Bonaventure N. Y. (OT II) 1970, 179 sq.: „omne universale realiter, sive sit complete universale sive non, est realiter commune pluribus vel saltern potest esse realiter commune pluribus; sed nulla res est realiter communis pluribus; igitur nulla res est universalis quocumque modo. Maior est manifesta, quia per hoc distinguitur universale a singulari quod singulare et determinatum ad unum, universale autem est indifferens ad multa, ilio modo quo est universale. Minor est manifesta, quia nulla res realiter singularis est communis pluribus; sed omnis res, secundum istos est realiter singularis; igitur etc. Similiter si aliqua res importata per hominem est communis pluribus, aut natura quae est in Sorte, aut natura quae est in Piatone, aut aliqua tertia ab istis. Non natura Sortis, quia illa ex quo est realiter singularis non potest esse in Platone; nec natura Piatonis, propter idem; nec natura tertia, quia nulla talis est extra animan, quia secundum eos, omnis res extra animam est realiter singularis." Ord. I d. 2 q. 6, ed. S. Brown, G. Gài, 1. c., 197: ,£)uod enim non sit distinctum tantum formaliter patet, quid tunc quandocumque praedicaretur superius de inferiori, praedicaretur idem de se, quia superius et inferius essent eadem res; consequens est falsum, quia tunc numquam idem genus praedicaretur de diver sis speciebus, sed esset aliud et aliud praedicatum, quod videtur inconveniens." Cf. Anm. 17. Expos, sup. VIII libr. phys. prol., ed. G. Leibold, V. Richter, St. Bonaventure N. Y. (OP IV) 1985, 11: „complexa quae sciuntur per scientiam naturalem, non componuntur ex rebus sensibilibus nec ex substantiis, sed componuntur ex intentionibus seu conceptionibus animae communibus talibus rebus. Et ideo proprie loquendo scientia naturalis non est de rebus corruptibilibus et generabiltbus nec de substantiis naturalibus nec de rebus mobilibus, quia tales res in nulla conclusione scita per scientiam naturalem subiiciuntur vel praedicantur. Sed proprie loquendo scientia naturalis est de intentionibus animae communibus talibus rebus et suppositionibus praecise pro talibus rebus in multis propositionibus."

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der bezeichneten Sache, sondern die Funktion der Bedeutung oder des sprachlichen Zeichens 25 . Entsprechend erfolgt die Entscheidung über die Wahrheit dieses objektiven Bezugs der Erkenntnis durch die Betrachtung der Verwendung sprachlicher Ausdrücke im Satz, durch die sogenannte Suppositionstheorie 26 . Auf diesem Hintergrund des „transzendentalen" Ansatzes der Scotischen Metaphysik und der ockhamschen Kritik der Ontologie ergibt sich für Gersons Bemühen um die Konkordanz zwischen formalistischer und terministischer Betrachtungsweise folgende sachliche Problemstellung: Im Interesse der Fragestellung des Scotischen Ansatzes stellt sich Gerson die Aufgabe einer Betrachtung des „Seienden", das zwar nicht ein erstes Seiendes im Sinne eines ausgezeichnet Ersten meint, das gleichwohl aber ein erster Gehalt ist, der sich vorgängig und unabhängig zu jeder weiteren Bestimmung einschließlich des Erkanntseins verhält und insoweit Erstheit und Allgemeinheit in sich zu verbinden vermag. Im Blick auf den terministischen Ansatz stellt sich dabei die Frage, inwieweit die Begrenzung durch das semantische Verständnis des Allgemeinen überschritten und dessen Vorgängigkeit und Unabhängigkeit gegenüber aller sprachlichen Erschließung aufgezeigt werden kann.

II. Wenn Gerson auch keinen Zweifel daran läßt, daß Logik (und Grammatik) ihr „Wissen aus der Metaphysik gewinnen" (a Metaphysico trahunt scientiarnf1, so ist für ihn doch ebenso selbstverständlich, daß der Objektbezug der Erkenntnis allein durch Zeichengebung {significatici) zustande kommt. Da sich diese ihrerseits ausschließlich dem menschlichen Intellekt verdankt, sieht Gerson in der Zeichengebung eine Konstitutionleistung des Intellekts (constitutio intellectus), durch den dieser sich den Erkenntnisgegenstand aktuiert, formiert und adaptiert. Daher erfolgt im Akt des Bezeichnens die eigentliche Repräsentation des Erkenntnisobjektes 28 . 25 26

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Cf. Anm. 18. Cf. dazu die Beiträge von L. M. De Rijk, V. Spade und G. Nuchelmanns in: N. Kretzmann, A. Kenny, J. Pinborg (Ed.), The Cambridge history of later medieval philosophy, Cambridge et a. 1982; ferner insbes. zu Ockham die Hinweise und Erläuterungen von P. Kunze in der von ihm besorgten Textsammlung: Wilhelm von Ockham, Summe der Logik, Hamburg 1984, insbesondere X I - X V I , 1 4 1 - 1 4 5 ; M. McCord Adams, William Ockham, 2 Vol. Notre Dame, Indiana 1987, Vol. I, 3 2 7 - 3 5 2 . Centilogium de conceptibus 96, ed. P. Glorieux IV, 805: „... sciri debet a Logico vel Grammatico, qui a Metaphysico trahunt scientiam." De modis significando 1, ed. P. Glorieux IX, 625: „Significatio nec proprie nec convenienter accipitur nisi per respectum ad naturam intellectualem quae potest uti signo per comparationem seu deductionem unius rei ad alteram. Propterea significatio dici potest intellectus constitutio vel actuatio seu formatto vel adaptatio. Unde significare est aliquid repraesentare."

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Gemäß diesem Zeichencharakter der Begriffe leugnet Gerson denn auch mit Ockham die extramentale Realität allgemeiner Entitäten; die Realität der Universalien beschränkt sich auf jenes Sein, das ihrer repräsentativen Funktion entspricht, d. h. auf ein „esse apud intellectum" w. Wie vermag Gerson dann aber an einer Begründung der Logik durch die Metaphysik festzuhalten, d. h. wie vermag er die Grenze des semantischen Verständnisses des Allgemeinen zugunsten einer gegenüber aller Zeichenhaftigkeit der Erkenntnis vorgängigen und unabhängigen Begründung des Allgemeinen zu überschreiten30? Den Ansatzpunkt dafür bietet Gerson jenes der repräsentativen Funktion des Universale entsprechende Sein im Intellekt. Bereits Ockham faßt eine solche Möglichkeit ins Auge und spricht hier vom „esse obiektivum", vom Sein des Allgemeinen, das ihm zukommt gemäß seiner Abhängigkeit von jenem Akt des Verstandes, durch welchen das Universale aktuell erkannt wird. Gemeint ist also das reine Vorgestelltsein eines Allgemeinen31. Gerson nennt dies „esse objectale", das dem Allgemeinen in seiner repräsentativen Funktion zukommt32 und an dem ansetzend er die angestrebte Übereinstimmung zwischen Formalisten und Terministen zu erreichen können glaubt33. Die Probleme, die sich mit dieser Auffassung verbinden, seien an jenen Schwierigkeiten illustriert, die Ockham in seiner Diskussion dieser Möglichkeit formuliert34. Eine Schwierigkeit besteht nach Ockham in dem 29

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De concordia metaphysicae cum logica 32, ed. P. Glorieux IX, 639: „Concedendum est tarnen, quod universalia sunt apud intellectum, non in essendo, sed in repraesentando." Diese Frage stellt auch W. Hübener, wenn er einwendet, daß Gerson „den Nachweis schuldig (bleibt), welche logischen Lehrstücke denn ... bestimmten metaphysischen Wesenseinsichten ihre Entstehung verdanken", in: Der theologisch-philosophische Konservatismus des Jean Gerson. In: A. Zimmermann (ed.), Antiqui und Moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, Berlin, New York (Mise. Med. 9) 1974, 1 7 1 - 2 0 0 , das Zitat 199 sq. Ord. I d. 2 q. 8, ed. S. Brown, G. Gài, 1. c., 271 sq.: „Ideo potest aliter diciprobabiliter quod universale ... tantum habet esse obiectivum in anima ..." Im Anschluß an diese Äußerungen ist es zu einer Diskussion über eine mögliche Entwicklung in Ockhams Auffassung bezüglich der Natur des Allgemeinen gekommen, cf. P. Boehner, The realistic conceptualism of William of Ockham, in: id., Collected articles on Ockham, ed. b. E. M. Buytaert, St. Bonaventure N.Y. (Franc. Institute Pubi. 12) 1958, 1 5 6 - 1 7 4 ; V. Richter, Zu Ockhams Entwicklung in der Universalienfrage, in: Ph Jb 82, (1975), 177—187. Zu dieser Frage und zur Geschichte des Begriffs des „objektiven Seins" ferner T. Kobusch, Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache, Leiden, New York 1987, zu Gerson 163 sqq., sowie die in Anm. 36 angegebene Literatur. De concordia metaphysicae cum logica 1, ed. P. Glorieux IX, 632: „Ens quodlibet dici potest habere esse ... prout habet esse objectale seu repraesentativum in ordine ad intellectum creatum vel increatum." Die in Anm. 4 zitierte Stelle folgt im Anschluß an den Hinweis auf das „esse objectale" des Allgemeinen. Expositio in libr. perihermenias Aristot. 1. I prooem., ed. A. Gambatese, S. Brown, St. Bonaventure N. Y. 1978, 360: „difficile est imaginari aliquid posse intelligi intellectione reali ab

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Verhältnis der Realität von Vorstellung und Vorgestelltem; das die Vorstellung ihrerseits Realität besitzt, begründet noch nicht den Realitätsgehalt (also die, wie wir sagen würden, objektive Gültigkeit) des Vorgestellten. Das erste Problem besteht also in der Frage nach dem Grund der (gültigen) Prädizierbarkeit des in einer Vorstellung gedachten Gehaltes. Das zweite Problem, das die skizzierte Seinsweise des Allgemeinen aufwirft, ergibt sich daraus, daß in dem Maße, wie das Vorgestelltsein das Vorgeteilte nicht zu begründen vermag, diese Realität des Universale ihre Funktion verliert, also überflüssig erscheint 35 . Dieser Kritikpunkt wird im übrigen nicht bloß von Ockham selbst angeführt, sondern auch von Walter Chatton 36 . Die nähere Bestimmung des „esse objectale" bei Gerson läßt sich nun als Versuch der Lösung dieser beiden Schwierigkeiten verstehen. Zunächst betont Gerson freilich gemäß seiner Zurückweisung der extramentalen Realität allgemeiner Entitäten, daß es keine Erkenntnis eines Gegenstandes in seinem „esse reale" gibt, die nicht berücksichtigt, daß jedwede Bestimmung eines Gegenstandes auf der Ebene des Erkennens erfolgt und sich nicht unmittelbar auf ein reales Bestimmtsein des Gegenstandes bezieht. Eine Leugnung dieses Tatbestandes käme einer Erkenntnis ohne Verstand gleich {quasi si quis vellet intelligere sine intellectu)31. Hinsichtlich des Problems des Verhältnisses der Realität der Erkenntnis zur Realität des Erkannten besagt Gersons Stellungnahme, daß, soweit es die Erkenntnis des realen Bestimmtseins des Seienden oder des Gegenstands betrifft (ens consideratum prout quid absolutum seu res quaedam in seipsa) die „rationes objectales" nicht für sich oder materialiter genommen werden können, sondern insoweit, als sie den Gegenstand auf eine formale Weise repräsentieren {pro rebus quasi formaliter)3*. Indem Gerson hier von der „ratio" der Vorstellung spricht, bezieht er sich auf ihren Sinn- oder Sach-

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intellectu, et tarnen quod nec ipsum nec aliqua pars sui nee aliquid ipsius potest esse rerum natura, nec potest esse substantia nec accidens, quale poneretur tale fictum." Op. cit., 361 sq.: „tale fictum plus differret a re quacumque quam quaecumque res ab alia, quia ens reale et ens rationis plus differunt quam quaecumque duo entia realia; ...et per consequens minus erit communis rei extra ... et minus habebit rationem universalis ... Igitur ... videtur ... quod superflue ponitur tale idolum sive fictum." Cf. G. Gài, Gualteri de Chatton et Guillmi de Ockham controversia de natura conceptus universalis, in: Franc. Stud. 27 (1967), 1 9 1 - 2 1 2 ; C. Knudsen, Walter Chattons Kritik an Wilhelm von Ockhams Wissenschaftslehre, Bonn (Diss.) 1976, 37 — 50. De concordia metaphysicae cum logica 4, ed. P. Glorieux IX, 633: „Ens non mutatur in suo esse reali, ñeque diversificatur per mutationem vel diversitatem sui esse objectalis. Et hic est lapsus volentium formalizare vel metaphysicare de rebus in suo esse reali, secludendo illud esse quod habent objectale, quasi si quis vellet intelligere sine intellectu, vel ratiocinari sine ratione. Res enim non ratiocinatur in seipsis ... quoniam istae sunt operationes intellectus, non rerum ipsarum ..." Op. cit. 2, 632: „Ens consideratum seu relictum prout quid absolutum, seu res quaedam in seipsa, plurimum d i f f e r t ab esse quod habet objectabiliter apud intellectum ... etiam prout rationes objectales non accipiuntur pro seipsis materialiter; sed pro rebus quasi formaliter ..."

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gehalt; und indem er diesen Gehalt in der Vorstellung auf formale Weise repräsentiert sieht 39 , faßt er ihn entsprechend jener Formalität, durch die Scotus die Verschiedenheit sachhaltiger Bestimmungen zu wahren sucht, ohne deswegen ihre reale Verschiedenheit anzunehmen. Im Falle der formalen Betrachtung von „seiend" führt dies zu der skizzierten Auffassung, nach der „seiend" jene Bestimmtheit meint, die als grundlegender Gehalt jeder darüber hinausgehenden Bestimmung nur vom bloßen Nichts unterschieden werden kann. Inwiefern eröffnet Gersons Bezugnahme auf die „ratio objectalis" die Möglichkeit, von der Realität des Gedankens auf die Realität des Gedachten zurückzugehen, d. h. inwiefern bietet die Vorstellung ihrem Sinngehalt nach die Möglichkeit zur Begründung der Prädizierung des vorgestellten Sachverhaltes? Daß Gerson dies jedenfalls intendiert, zeigt sich daran, daß er diesen Vorstellungsgehalt verknüpft mit der signifikativen Verwendung sprachlicher Ausdrücke, d. h. mit dem Gebrauch von Prädikaten als Bezeichnung real existierender Einzeldinge, der sogenannten suppostilo personalisv>. Indem Gerson so verfahrt, spricht er der „ratio objectalis" in der Tat die Aufgabe zu, Grund der Prädizierung zu sein; und in dem Maße, wie dies der Fall ist, erweist sich die Hinsicht auf das Vorgestelltsein nicht bloß nicht als überflüssig, sondern vielmehr sogar als unumgänglich. Daß Gerson dies tatsächlich so sieht, zeigt sich an seiner Verhältnisbestimmung von Logik und Metaphysik. Denn da die Vorstellung ihrem Gehalt nach auf die „res extra mentem" als das ursprünglich Bezeichnete {principale significatum) verweist, ist sie nicht bloß ein „ens secundum impositions vel intentionis", d. h. ein rein logisches Gebilde 41 . Die „ratio objectalis" besitzt vielmehr eine Relation sowohl nach innen wie nach außen 42 . Inwiefern zeigt diese Abgrenzung von Logik und Metaphysik und die entsprechende Zurückführung des logischen auf metaphysisches Wissen 43 die Begründungsfunktion des Sachgehaltes einer Vorstellung für die Prädizierung eines im Sinne der suppositio personalis, d. h. signifikativ verwen39

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Op. cit. 28, 637: „Et haec objectalis ratio vocatur ab aliis distinctio rei seu formalis vel quaedam non identitas." Cf. dazu die in Anm. 26 angegebene Literatur, zur suppositio personalis bei Ockham Summ, log. I 6 3 - 6 5 , 69. Zum Begriff der „intentio secunda" grundlegend A. Maurer, Ens diminutum·. a note on its origin and meaning. In: Med. Stud. 12 (1950), 216—222: ferner C. Knudsen: Intentions and impositions. In: N. Kretzmann e. a. (Ed.) The Cambridge history of later medieval philosophy, (cf. Anm. 26), 479—495; L. A. Hickmann, Logical second intentions: Late scholastic theories of higher level predicates. Diss. University of Texas, Austin, 1975. De concordia metaphysicae cum logica 35, ed. P. Glorieux IX, 639: „ratio objectalis non sistit in solo intellectu aut conceptibus sed tendit in rem extra tamquam in suum principale significatum vel objectum vel subtractum, alioquin diceretur ens secundae impositionis vel intentionis vel rationis logicalis. Et ita ratio objectalis habet quodammodo duas fades vel respectus, ad intra scilicet et extra." Cf. Anm. 27.

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deten sprachlichen Ausdrucks? Als Beispiel sei hier der Terminus „homo" gewählt. Als „ratio" oder Sinngehalt dieser Vorstellung in ihrem formalen Verständnis kann die „humanitas" gelten, deren Terminus wegen der Formalität dieses Gehaltes seinerseits nicht signifikativ, zur Bezeichnung eines extramentalen Einzelgegenstandes gebraucht werden kann. Soll dieser Sinngehalt die signifikative Verwendung des Terminus „Mensch" in dem Satz „Ein Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen" begründen — die Verwendung also der Ausdrücke „Mensch" und „vernunftbegabtes Lebewesen" für ein und denselben extramentalen Gegenstand —, dann ist auf diese Weise zugleich der Satz „Der Mensch ist eine Art der Gattung Lebewesen" begründet. Dann aber fungiert der genannte Sinngehalt als Grund der Kennzeichnung der Prädikatsfunktion des Terminus „Mensch". Denn indem in der letztgenannten Aussage über die Art- und Gattungsnatur des Menschen geurteilt wird, wird das Prädikat „Mensch" gemäß zwei Prädikationsweisen charakterisiert, die zu den von Porphyrius aus der Aristotelischen Kategorienlehre entwickelten allgemeinsten Weisen gezählt werden, in denen etwas von etwas aussagbar ist, den sogenannten Prädikabilien 44 . Dies besagt zugleich, das infragestehende Prädikat nach einer Einteilung jener Relationen zu kennzeichnen, die überhaupt zwischen Prädikaten möglich sind, entsprechend also jenen „entia impositionis vel secundae intentionis", die den Gegenstand der Logik bilden. Indem Gerson die Aussagbarkeit eines Prädikats an dessen „ratio objectalis formaliter considerata" , an den in seiner Formalität betrachteten Sinngehalt eines Prädikats bindet, sucht er also die Verwendung eines Terminus als Zeichen, d. h. die Extension des Begriffs auf seine Intension zurückzuführen 45 . Wie die Vorstellung des Menschen auf den ihr zugrundeliegenden Sinngehalt des Menschseins verweist und dadurch die Prädizierung des Prädikats „Mensch" ermöglicht, so verweist die Realität der Vorstellung ihrerseits auf den ihr vorausliegenden Sachverhalt; entsprechend seiner 44

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Εισαγωγή εις τάς 'Αριστοτέλους κατηγορίας, ed. Α. Busse, CAG 4/1 (1887), 1—22; cf. dazu H. M. Baumgartner, P. Kolmer, Prädikabilien, Prädikabilienlehre. In: HWP Bd. 7, Darmstadt 1989, 1 1 7 8 - 1 1 8 6 . Diese Lösung Gersons kommt der Kritik F. Inciartes an Ockhams Suppositionstheorie nahe, die dieser in: Die Suppositionstheorie und die Anfange der extensionalen Semantik vorgetragen hat, in: A. Zimmermann (e.d), Antiqui und moderni. Traditionsbewußtsein und Fortschrittsbewußtsein im späten Mittelalter, 1. c. (Anm. 30), 126 — 141. Systematisch gesehen liegt die Übereinstimmung darin, daß der mit Ockhams Auffassung verbundenen Begrenzung auf eine rein extensionale Logik mit Hilfe einer intensionalen, „bedeutungstheoretischen" Logik begegnet werden könne. Darin stimmt auch der Entgegnungsversuch überein, der von Scotistischer Seite gegenüber der Kritik Ockhams unternommen wird, cf. dazu meinen Beitrag „Homo" supponit simpliciterpro natura — Der Zusammenhang von Logik und Metaphysik im spätmittelalterlichen Scotismus (Petrus Tartaretus). In: S. Knuuttila e. a. (Ed.), Knowledge and the Sciences in Medieval Philosophy. Proceedings of the VIII. International Congress of Medieval Philosophy, Bd. 2 (Publications of LutherAgricola Society, Bd. 19) Helsinki 1990, 5 2 1 - 5 3 4 .

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Vorgängigkeit gegenüber der Realität der Vorstellung kommt ihm „reales Sein" (esse reale) zu; gemäß seiner formal gefaßten Sachhaltigkeit handelt es sich um den dem allgemeinsten oder ersten Prädikat zugrundeliegenden Sinngehalt, um die in transzendentaler Weise betrachtete Natur von „seiend" (ens sumendo transcendenter pro natura rei in seipsa)46. Wegen des Verweisungscharakters der Vorstellung ihrem Sinngehalt nach wird ihr Sein zum Ansatzpunkt der Metaphysik. Die „resolutio entis" der Metaphysik nimmt ihren Ausgang von der Betrachtung der „ratio" des „esse object ale" 47. Da jedoch jedwede Bestimmung eines Gegenstandes auf der Ebene des Erkennens erfolgt und sich nicht unmittelbar auf ein reales Bestimmtsein des Gegenstandes zu beziehen vermag 48 , bleibt die Differenz zwischen dem „esse objectale" und dem „esse reale" für den menschlichen Verstand unaufhebbar. Andernfalls nähme der Metaphysiker „die Ähnlichkeiten der res für die res selbst" 49 . Insoweit, als es keine gegenüber aller Erkenntnis vorgängige Begründung allgemeiner Entitäten geben kann, folgt Gerson also der Kritik Ockhams an der Ontologie. Daß Gerson der signifikativen Verwendung sprachlicher Ausdrücke eine intensionale oder „bedeutungstheoretische" Begründung zu geben sucht, stellt gleichzeitig eine Modifizierung des terministischen Standpunktes dar, die über die Intellektabhängigkeit des Erkannten hinaus auf dessen sachliche Bestimmtheit und insoweit auf das objektive Bestimmtsein des Erkennens verweist. Zweifellos besteht aber für die Hinwendung an das sachliche Bestimmtsein jenes Problem grundsätzlich weiter, das Ockham im Blick auf diese Möglichkeit der Begründung allgemeiner Entitäten formuliert, wenn er die Entsprechung zwischen der Realität des Erkennens und des Erkannten infrage stellt 50 . Denn da keine unmittelbare Bezugnahme auf das objektive Bestimmtsein möglich ist, bleibt die Frage nach dem Grund der Wahrheit dieser Entsprechung, d. h. nach den Kriterien zur Beurteilung des Verhältnisses von Erkennen und Erkanntem. Wie verhält sich nun dazu der Umstand, daß Gerson auf eine die „transzendentale" Erkenntnis übersteigende Einsicht rekurriert, die allein 46

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De concordia metaphysicae cum logica 2, ed. P. Glorieux IX, 632: „Ens quodlibet dici potest habere duplex esse, sumendo esse valde transcendenter: uno modo ens sumitur pro natura rei in se ipsa." Op. cit. 50, 642: „si consideretur generalis ratio objectalis entis ... spectat ad Metaphjsicam. " Op. cit. 21, 635: „Subtilitas metapbysicantium si vera sit, consistit in actua resolutione entis secundum esse suum objectale personaliter seu formaliter acceptum." Cf. Anm. 37. De concordia metaphysicae cum logica 22. ed. P. Glorieux IX, 635: „Subtilitas metaphysicantium si quaerit reprerire in rebus ipsis secundum suum esse reale tale esse quale habent in suo esse objectait, ... similitudines rerum pro rebus accipiunt." Aufgrund dieser und der in Anm. 37 zitierten Bemerkungen Gersons trifft auch nicht zu, was K. Flasch, op. cit. (cf. Anm. 5), 29, behauptet, daß Gerson davor „zurückscheut (zu) sagen, der Vergleich unseres esse objectale mit dem esse reale finde nur innerhalb des esse objectale statt". Cf. Anm. 34 und 35.

618

Gerhard Krieger

dem Sinngehalt des Schöpfergottes angemessen {ratio objectalis solius creatoris) und in der Tradition der mystischen Theologie überliefert sei 51 ? Sucht Gerson also nach einer Lösung des ski2zierten Problems durch einen Schritt, der ihn über die Grenzen der Wissenschaft hinausführt? Welcher Zusammenhang besteht für ihn zwischen Philosophie und mystischer Theologie?

III. Z u m Ausgangspunkt der Diskussion dieser Frage sei hier Gersons Feststellung gewählt, daß die mystische Theologie die Ergebnisse der metaphysischen Untersuchung nicht abweisen dürfe, wohl aber mit Vorsicht, d. h. nach Maßgabe von wahr und falsch anzunehmen habe 52 . Danach hat die mystische Theologie nicht primär die Aufgabe, der philosophischen Betrachtung die Grundlagen zu schaffen, als vielmehr umgekehrt philosophisch erkannte Wahrheit aufzunehmen. Gerson spricht weiter davon, daß die mystische Theologie die Wissenschaften in Dienst nehmen und deren Ergebnisse für ihre eigenen Untersuchungen nutzen soll, wobei er insbesondere auf die Logik verweist 5 3 . In Verbindung damit, daß Gerson der kritischen Funktion der logischen Betrachtungsweise, wie sie bei Ockham zur Geltung gebracht wird, in der skizzierten, positiven Weise Rechnung trägt und im Blick darauf Ansatzpunkt und Aufgabe der Metaphysik zu bestimmen sucht, stellt dieser Hinweis auf die Logik ebenfalls ein Argument dafür dar, daß Gerson Philosophie und Wissenschaft nicht oder jedenfalls nicht primär in Abhängigkeit von der mystischen Theologie sieht, sondern eher die wissenschaftliche Betrachtungsweise in ihrer Autonomie anerkennt. Ein weiterer Gesichtspunkt hinsichtlich der Beurteilung des hier infrage stehenden Verhältnisses ergibt sich aus folgendem Umstand. Z u m einen warnt Gerson davor, „unter dem Anschein der Frömmmigkeit" (sub specie devotionis) die Metaphysik Frauen, Kindern und ungebildeten Leuten vor-

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53

Op. cit. 36, 639 sq.: „Univocatio entis transcendentis ad deum Creatorem cum suis propriis seu proprietatibus transcendentibus, quae sunt unum, verum, bonum, plurimum conferí viris contemplativis et intelligentibus; dum tarnen statim ut intellexerunt ens illud in sua communitate, confestim denudent ab omni ratione objectait creaturae, et transfèrent ad rationem propriam objectalem, generalem, puram et liquidam solius creatoris. Docet Augustinus ita facere ... Sic Dionysius docet facere in mystica Theologia ..." Op. cit. 42, 640sq.: „Theologica perscrutatio ... pervenit ad intelligentiam multarum sublimium «eritatum, ... fiunt solerter et caute metaphysica philosophorum discussa, separando pretiosum a vili, hoc est verum et falsum." Op. cit. 44, 641: „Theologica perscrutatio ... acquisitiones aliarum scientiarum ... assumit ...ut ancillas sapientiae in obsequium suum. Unde per logicam multae et altissimae veritates ... docet."

Theologie und Philosophie bei Johannes Gerson

619

zutragen 54 . Zum anderen betont er, daß die mystische Theologie über die Metaphysik hinausgehe, da sie sich nicht allein auf die intellektiven Kräfte stütze, sondern darauf hindrängen müsse, „die Regungen des Herzens zu entflammen" (labi debet et liquefieri ad Inflam mattone m affectus)55. Historisch betrachtet legt sich zunächst eine Parallele zu H. Seuse nahe, der ebenfalls den affectus in den Vordergrund der mystischen Theologie stellt 56 . Diese Betonung der Affektivität steht im Zusammenhang mit einer spirituellen Ausrichtung der Philosophie, durch die Seuse das „vorscholastische (monastisch orientierte) Konzept der Philosophie mit der Idee einer konsequenten Nachfolge des leidenden Gottessohnes verknüpft" 57 . Was wiederum Gersons Zielausrichtung der mystischen Theologie auf die affektive Natur betrifft, wird man Folgendes sagen können: Im Lichte dessen betrachtet, daß die Philosophie von der mystischen Theologie unabhängig ist, soweit es die an der Realität des Erkennens ansetzende und die Begründung der Verwendung sprachlicher Ausdrücke, d. h. des Erkannten intendierende Metaphysik angeht, erscheint diese „praktische" Ausrichtung der Theologia mystica als der Versuch, jene für die Philosophie gegebene Distanz von den frommen Bedürfnissen und Interessen zu überwinden, wie sie in der genannten Begrenzung des Adressatenkreises der Metaphysik zum Ausdruck kommt und wie sie auch für die Theologie besteht, soweit diese Wissenschaft ist. Daß im übrigen die Realisierung der „praktischen" Zielrichtung durchaus auf Erkenntnis beruht und die mystische Theologie insoweit mit einem theoretischen Anspruch verknüpft ist, zeigt sich schon daran, daß diese (neben dem praktischen) einen spekulativen Teil umfaßt und daß die unter ihrer Anleitung zu erreichende Vereinigung mit Gott in dem spekulativen Teil, also als ein wesentlich durch Erkenntnis bestimmtes Geschehen beschrieben wird 58 .

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Op. cit. 38, 640: „Metaphysicalis inquisitio et subtilis non est primitas ingerenda pueris vel hominibus radis ingenii nec mulierculis sub specie devotionis ..." Op. cit. 43, 641: „Theologica perscrutati)) sistere non debet in sola intelligentia vel illuminatione intellectus sed labi debet et liquefieri ad inflammationem affectus ..." P. Künzle (ed.) Heinrich Seuses Horologium Sapientiae, Freiburg 1977, 388: „Notum tibi sit, quod non datar pervenni ad divinitatis altitudinem ..., nisi tractis pro quodam fidet ac dilectionis affectu per humanitatis et passionis meae amaritudinem." R. Imbach, Die deutsche Dominikanerschule: Drei Modelle einer Theologia mystica, 164. In: O. Pluta (ed.), Die Philosophie im 14. und 15. Jahrhundert, Amsterdam 1990, 159 — 172. Zur Mystik Senses jetzt auch M. Enders, Das mystische Wissen bei Heinrich Sense, Paderborn—Wien—Zürich 1993. Cf. Ioannis Carlerii de Gerson De mystica Theologia, tract, primus speculativus, quadragesima prima considerano, ed. A. Combes, Verona 1957, 103 — 112.

Vera scientia christianae

philosophiae

Zu Heinrich Seuses „Horologium sapientiae" II. 1 and 3 RÜDIGER BLUMRICH

(Eichstätt)*

Was ist von dem deutschen Dominikaner Heinrich Seuse in Hinblick auf die Problematik von scientia und ars im Spätmittelalter zu erwarten? Seine deutschen Schriften werden gemeinhin unter die Rubrik „Mystik" eingeordnet, die die Unterweisung vor allem der Nonnen in eine Lehre der Vollkommenheit intendieren 1 . Und auch sein einziges lateinisches Werk, das ,Horologium sapientiae' (Hör.) ist — so die opinio communis — für die Ordensbrüder geschrieben, um eine individuelle Spiritualität zu vermitteln und gleichzeitig zur Erneuerung des Ordenslebens beizutragen 2 . Wenn Seuse hier seine doctrina mit Nachdruck als scientia, ja als philosophia kennzeichnet, so sei dies im Sinn eines Gegenentwurfs zur Wissenschaft, wie sie an den Universitäten und Hochschulen der Zeit betrieben werden, zu verstehen. Zuletzt hat Ruedi Imbach bemerkt, daß Seuses Begriff der Philosophie „die als eine den ganzen Menschen verwandelnde, durch geistliche Übungen eingeübte, ständige Bekehrung interpretiert werden kann, auf ein altes Verständnis der Philosophie verweist, das durch die Aristoteles-Rezeption ganz aus der Mode gekommen war. Es ist jener Begriff der Philosophie, der den Mönch mit dem Philosophen identifiziert, welcher aus dem alten Monachismus stammt und im XII. Jahrhundert eine neue Blüte erlebt" 3 . * Dieser Beitrag ist aus der Arbeit des Sonderforschungsbereichs 226 Würzburg/Eichstätt („Wissenorganisierende und wissensvermittelnde Literatur im Mittelalter"), Teilprojekt B1 („Philosophia spiritualis-Literatur") erwachsen. 1 Cf. W. Williams-Krapp, Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der ,Vita' Heinrich Seuses, in: Festschrift W. Haug, B. Wachinger, Tübingen 1933, 407—421; Textausgabe: Heinrich Seuse, Deutsche Schriften, ed. K. Bihlmeyer, Stuttgart 1907. Nachdruck Frankfurt/Main 1961 [cit.: Bihlmeyer]. 2 Heinrich Seuses Horologium sapientiae, ed. P. Künzle, Freiburg/Schweiz 1977 [ = Spicilegium Friburgense 23) [cit.: Hör.], 47: Seuse werde „im Hör. für die geschulten Leser theologisch präziser". Cf. Williams-Krapp (Anm. 1), 411; W. Senner, Heinrich Seuse und der Dominikanerorden, in: Heinrich Seuses philosophia spiritualis. Quellen Konzept, Formen und Rezeption, Tagung Eichstätt 2 . - 4 . Oktober 1991, ed. R. Blumrich, Ph. Kaiser, i. Dr. 3 R. Imbach, Die deutsche Dominikanerschule: Drei Modelle einer Theologia mystica, in: Grundfragen christlicher Mystik. Wissenschaftliche Studientagung Theologia mystica in Weingarten vom 7. —10 November 1985, ed. M. Schmidt, Stuttgart/Bad Cannstatt 1987, 1 5 7 - 1 7 2 , hier 163sq.

Vera scientia christianae

pbilosophiae

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Nun ist es zweifellos richtig, daß zentrale Quellen Seuses aus der monastischen Tradition stammen, wie der Herausgeber der kritischen Ausgabe, Pius Künzle, eindrucksvoll dokumentiert hat 4 . Aber beschreitet Seuse damit gegenüber der Diskussion um die Lehre Dietrichs von Freibergs und Meister Eckharts einen „anderen Weg" 5 ? Der zentrale Text für diese Diskussion ist der Beginn des zweiten Buches der Hör., wird hier doch explizit die philosophia spiritualis thematisiert. Dieser wird nun in der Regel autobiographisch interpretiert — ähnlich wie weitere Passagen des Hör. und der ,Vita'. So meint Georg Misch, Seuse handle „von seiner akademischen Studienzeit auf der Ordenshochschule zu Köln in Form einer Allegorie, die er dazu benutzt, scharfe Kritik an dem gewöhnlichen Lehrbetrieb zu üben", und begründe „seinen Entschluß, ein schlichter Mönch zu bleiben und auf die ,weltliche', akademische oder regimentale Laufbahn zu verzichten, die sich nach seinem langen Studium eröffnete" 6 . Also ein autobiographischer Schlüsseltext eines Autors, der am Kölner Studium generale ausgebildet wurde, eine wissenschaftliche Laufbahn begann, sich aber dann der literarischen Tätigkeit und vor allem der Seelsorge widmete — sei es aufgrund einer Maßregelung durch den Orden, weil er Eckhart verteidigt hatte (so Winfried Trusen), sei es aufgrund eines Ekels über Lehrstreitigkeiten in seinem Orden als Rückkehr zur vera scientia christianae philosophiae (Hör. 547,14) der Mönche, so Georg Misch und zuletzt Walter Senner? 7 Die Forschung hat sich — außer für die autobiographischen Aussagen — vor allem für die theologisch-philosophische Auseinandersetzung Seuses mit seiner Zeit, insbesondere als Beitrag zur Diskussion um die Lehre des Thomas von Aquin, interessiert 8 . Das bedeutet, daß der Text in der Regel gewissermaßen von außen, von einem bestimmten Problem aus betrachtet wurde. Ich will dagegen hier eine Analyse des literarischen Charakters des Textes versuchen: seiner Form, seines Aufbaus, seiner Funktion im Hör., um von da aus seine Quellen, seine Inhalte und seine Intention zu erschließen. Auf formaler Ebene sind die hier zu behandelnden Ausführungen „Über die wundersame Vielfalt der Lehren und der Schüler" (so die Überschrift eben jener Materia prima des zweiten Buches) und ein Teil der formula compendiosa des geistlichen Lebens (die in Hör. II.3 vorgestellt wird) ein 4 5 6

7 8

Cf. Künzle, Hör., 8 4 - 1 0 4 . Imbach (Anm. 3), 164. W. Trusen, Der Prozeß gegen Meister Eckhart. Vorgeschichte, Verlauf und Folgen, Paderborn/München/Wien/Zürich 1988,154—160 ( = Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Neue Folge 54). G. Misch, Geschichte der Autobiographie IV. 1, Frankfurt 1967, 205. Misch (Anm. 6), 2 0 5 - 2 0 9 ; Senner (Anm. 2). Bihlmeyer, 87* sq.; J.-A. Bizet, Henri Suso et le déclin de la scolastique, Paris 1946, 3 0 3 - 3 0 7 ; Künzle, Hör., 48 sq.; Imbach (Anm. 3).

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Rüdiger Blumrich

eigenständiger Teil des Werkes. Der bisherige Dialog zwischen der sapientia und dem discipulus wird zugunsten einer Erzählstruktur durchbrochen. Als ihr Protagonist wird „ein Schüler" eingeführt — als quidam discipulus nicht mit dem bisherigen Gesprächspartner der sapientia zu identifizieren — und als wißbegierig, genauer als avidus sapientiae qualifiziert. Seine Suche nach der höchsten Philosophie ist das Thema dieses Kapitels. Der unterbrochene Dialog wird im folgenden (Hör. II.2) fortgesetzt, dessen Thema die scientia utilissima ist, die darin besteht, um den Tod zu wissen. Anschließend erhält der discipulus eine Einweisung in das richtige geistliche Leben. Hier wird die Erzählung über den vorgenannten Schüler (praedictus discipulus) wiederaufgenommen (Hör. 545 — 547). Diese Unterbrechung des Dialogs ist ein Zusatz gegenüber dem ,Büchlein der ewigen Weisheit', das Seuse zuvor in deutscher Sprache, ebenfalls in Dialogform, verfaßt hatte 9 . Beide Werke bestehen aus zwei Teilen; der erste hat die Gotteserkenntnis aus der Erkenntnis und Nachfolge des leidenden und gekreuzigten Jesus zum Thema 10 ; der zweite bietet eine entsprechende Lebenslehre, die im Büchlein der ewigen Weisheit' folgendermaßen eingeführt wird: Ich mil dich leren sterben (ausgeführt in c. 21); und ich ivil dich leren leben (c. 22); ich wil dich leren mich minneklich enphahen (c. 23) und ich wil dich leren mich minneklichen loben (c. 24; Bihlmeyer 279,13 — 15). Das Hör. folgt im Kern dem ,Büchlein der ewigen Weisheit', ist aber nicht nur Übersetzung, sondern vollständige Neubearbeitung. So wird an den Beginn des zweiten Teils, vor die ars moriendi (Hör. II.2), die genannte Erzählung eingefügt und in der Materia tertia fortgesetzt. Damit wird die aus dem ,Büchlein der ewigen Weisheit' übernommene Lehre unter dem Anspruch der summa philosophia neu formuliert. Umgekehrt erhält der gesamte zweite Teil eine präzise Thematik, eben als Ausgestaltung jener philosophia, die in II.l eingeführt wird. Betont wird die Stellung der Lehre des richtigen Lebens (,Büchlein der ewigen Weisheit', c. 22), da hier die Erzählung fortgeführt und der Anspruch der höchsten Philosophie erneut erhoben wird (Hör. II.3).

Sphaera

aurea

— Zur Struktur von Hör. I I . l

Schauen wir uns die Struktur dieser Erzählung nun genauer an. Ziel des nicht näher bestimmten Schülers ist die Erkenntnis der wahren und höchsten Philosophie, die er bisher in verschiedenen Studia vergeblich gesucht hat (520,2—6). Einstmals sieht er nun eine goldene Kugel, in der sich unzählige Lehrer und Schüler der verschiedenen Wissenschaften {cunctar um artium et scientiarum) aufhalten (6 — 11). Diese Vision wird — mit 9 10

Zum Verhältnis der beiden Werke cf. Künzle, Hör., 28—54. Zu Ansatz und Intention cf. R. Blumrich, Die gemeinú 1er des ,Büchleins der ewigen Weisheit'. Quellen und Konzept, in: Heinrich Seuses philosophia spiritualis (Anm. 2).

Vera scientia Christianas

philosophiae

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vielfachen Brechungen — dezidiert als literarische eingeführt: quadam vice, einstmals, videre sibi videbatur — schien es ihm, daß er sähe — quasi quandam sphaeram auream — gewissermaßen (ein Schlüsselwort des folgenden Textes) eine gewisse goldene Kugel; gesehen von einem gewissen Schüler (quidam — ein weiteres literarisches Schlüsselsignal). Den fiktionalen Charakter der dargestellten Visionen betont der Autor bereits in der Einleitung des Werkes unmißverständlich: Sie seien nicht nach dem Buchstaben, secundum litteram, sondern als figurata locutio (366,20 — 22), als metaphorische Sprechweise zu verstehen. Im ,Büchlein der ewigen Weisheit' heißt der entsprechende Terminus usgeleitú bischaft, das bedeutet belehrende Beispiele, Parabeln mit jeweiliger Deutung (Bihlmeyer 197,23). Das folgende ist also nicht autobiographischer Bericht, sondern fiktionale Literatur, die eine Lehre vermitteln will; ihren Schlüssel hat sie in sich selber bzw. liefert ihn selber. Diese Aussage soll hier ernstgenommen werden. Der Schüler findet in der goldenen Kugel zwei Wohnungen {mansiones) vor. In der unteren sind die artes liberales angesiedelt — genannt werden Astrologie, Physik, Geometrie und Musik —, die artes mechanicae (Medizin, Handwerkskunst) sowie die verschiedenen Philosophen. Die hier Versammelten haben gewissermaßen {quasi) einen Schleier vor den Augen und trinken einen Trank, der ihren Durst nicht löscht, sondern verstärkt, und der beim Schüler einen Ekel hervorruft (520,12 — 23). Es handelt sich hier aber nicht um das Studium artium et naturarum, wie es zu dieser Zeit im Orden üblich war 11 , vielmehr werden verschiedene artes — ohne erkennbare Systematik — aus der Perspektive des Schülers, also aus der Suche nach der wahren Philosophie, dahingehend zusammengefaßt, daß sie auf sich selbst, auf ihre facultas begrenzt bleiben. Der Schüler steigt deshalb zur zweiten Wohnung auf, in der die Theologen angesiedelt sind: der schola theologicae veritatis. Lehrerin ist hier die Ewige Weisheit, Lehrinhalt die Wahrheit, Lernziel die ewige Glückseligkeit. Das ist es, was der Schüler sucht (520,24—521,2). In dieser Wohnung befinden sich drei Klassen {ordines) von Lehrern und Schülern, die durch ihre Nähe zur magistra zu untescheiden sind. Die einen sitzen auf der Erde nahe bei der Tür und blicken nach draußen (521,4 sq.); die anderen scheinen in sich selbst {in statu proprio) zu verharren (525,13 sq.), und nur die dritten sitzen nahe bei der Ewigen Weisheit (525,14). Entsprechend unterschiedlich ist auch ihre Beziehung zur magistra·. Im Mund der Lehrenden und Lernenden des ersten ordo werden die Honigworte der Weisheit in Gallensaft verkehrt (521,5 sq.). Die zweite Gruppe verhält sich offenbar indifferent, denn über sie wird nichts weiter gesagt, als daß sie im Eigenen verharrt n

Cf. I. M. Frank, Zur Studienorganisation der Dominikanerprovinz Teutonia in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts und zum Studiengang des Seligen Heinrich Seuse OP, in: Heinrich Seuse, Studien zum 600. Todestag. 1366 — 1966, ed. E. M. Filthaut, Köln 1966, 3 9 - 7 0 , hier 5 2 - 5 8 .

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Rüdiger Blumrich

(525,13 sq.), während die dritte Gruppe aus vom Wasser der Weisheit Trunkenen besteht, die, sich selbst und alles andere vergessend, nach oben streben (sursum tenderent) und durch die divina contemplatio fortgerissen werden (14 — 19). Am ausführlichsten ist die Darstellung des ersten ordo. Hier findet sich die von der Forschung auf den Wissenschaftsbetrieb der Dominikaner bezogene Kritik. Zunächst werden diejenigen gescholten, die nur nach Ansehen, nachpraelaturas etgradus diversos ... acpromotiones streben (521,7 — 10), die sich nur für das Wißbare interessieren (speculationi scibilium solum intendebant), aber im Affekt kalt bleiben (10 sq.), und die zwar die Weisheit studieren, aber unweise leben (21 sq.). Für sie alle gelte: Eratque omnium istorum unus labor et intentio, ascendere et apparere — sie wollen nur aufsteigen und nach außen glänzen (23). Danach werden drei Gruppen geschildert. Zunächst sieht der Schüler ein Spiel mit einer silbernen Kugel (pila argentea), die der egregius doctor, dessen Lehre rein in die Welt leuchtete — nach übereinstimmender Forschungsmeinung Thomas von Aquin — noch in der Hand hatte. Jetzt aber versuchen viele, diese Kugel den anderen zu entreißen oder zu beweisen, daß der andere sie nicht besitze (522,3 — 24). Dieser Teil wird hier sofort gedeutet, während im übrigen die Erzählung erst nach ihrem Abschluß als ganze ausgelegt wird. Der Schüler erfährt von den Umstehenden, daß die Kugel die Wahrheit der Heiligen Schrift bezeichne, um die ein heftiger Streit unter gewissen moderni entbrannt sei (522,25 — 523,10). Ruedi Imbach hat das überzeugend als „bildhafte Darstellung des Streites um die Lehre des Aquinaten" interpretiert, wie er zu dieser Zeit in Deutschland namentlich um die Thesen Dietrichs von Freiberg geführt wurde 12 . Die zweite Gruppe zeichnet sich dadurch aus, daß ihre Lehre nicht durch ihr Leben gedeckt ist. Ihnen fehlt die Haltung der rechten devotio, wie sie etwa durch die ,Collationes patrum' Cassians repräsentiert wird (523,11 — 33). Die dritte Gruppe besteht aus denjenigen, die zwar nach außen ein ehrenhaftes Leben führen, aber durch ihre Eigenliebe ihr geistliches Leben zerstören (524,1—525,13). Damit werden offensichtlich verschiedene Funktionsgruppen — etwa des Dominikanerordens — angesprochen: Theologen, die sich nur um novitates mirabiles, nicht aber um die utilitas für ihre Zuhörer kümmern (523,6 sq.); Prediger, denen die rechte devotio fehlt, und Führungskräfte {rectores), die sich nicht um eine entsprechende vita spiritualis sorgen. Als positiv wird in dieser Vision einzig die dritte Klasse der zweiten mansio wahrgenommen: Nur wer sich um diephilosophia spiritualis kümmert, ist für Leitungsfunktionen geeignet: Tales quoque ad praelationes et regimina assumpti erant utilissimi (525,21 sq.). Damit ist die Darstellung der Vision abgeschlossen, und es folgt — wiederum in Form figurativer Rede — die Deutung: Intellexit quasi vocem 12

Imbach (Anrn. 3), 159.

Vera scientia

Christianas

philosophiae

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— der Erkenntnisprozeß kommt zu seinem Abschluß. Er erkennt drei modi des Studiums der Heiligen Schrift. Der erste ist carnalis, dem Bereich des Fleisches zugehörig, bei dessen Vertretern der Buchstabe den Geist verdrängt. Der Studienmodus der zweiten Klasse ist animalis, dem Bereich der Seeele zugehörig; hier wird nur nach dem gefragt, was zum Heil unmittelbar notwendig ist: „est in his, qui simplici oculo in actu scolastico ea, quae ad salutem necessario sunt, quaerunt."' Der dritte, der modus spiritualis, dem Bereich des Geistes zugehörig, zielt auf die perfectio. In ihm finden Intellekt und Affekt in scientia und sapientia ihre Erfüllung. Er bedeutet cognitio veri und amor summt boni. Das ist die wahre und höchste Philosophie (525,24 — 526,11). Ihre Konturen werden in den folgenden Kapiteln ausgeführt. Es läßt sich jedoch bereits hier feststellen, von welcher Art diese gesuchte Philosophie ist. Ihre Repräsentanten werden beschrieben als nach oben gerichtet (sursum tenderent) in den Abgrund der Schau des Göttlichen eingetaucht (in abyssum divinae speculationis ... immersi) und in seine Kontemplation fortgerissen (ad divina contemplando raperentur. 525,17—19). Es sind dies Zentralbegriffe einer Theologia mystica. In ihr wird erreicht, was im Prolog als Ziel des Werkes formuliert wurde: „reaccendere exstinctos, frígidos infiammare, movere tepidos, indevotos ad devotionem provocare ac somno neglegentiae torpentes ad virtutum vigilantiam excitare" (364,11 — 13). Die im ordo der philosophia spiritualis Weilenden sind Entflammte und Entflammende; „velut ardens facula sursum tendentes, in se ardebant ex proximos quosque in Dei amore accendebant" (525,20 sq.). Problematisch erscheint im Hinblick auf die Struktur der Erzählung eine schnelle historische Einordnung der ersten Klasse, also derjenigen, die ein fleischliches Studium betreiben. Sind hier wirklich konkrete Konstellationen beschrieben? Ist der egregius doctor wirklich Thomas von Aquin? Lassen sich die moderni namhaft machen?13 Seuse stellt hier Typen vor: Wissenschaftler, Prediger, Vorgesetzte. Er nennt zwei positive Gegenbilder: Das erste ist der egregius doctor als Vertreter der reinen Lehre, das zweite Cassian, in dessen ,Collationes patrum' die Fundamente der devotio, die spiritualis scientia und die Summe der Vollkommenheit enthalten seien und die den Menschen zur Selbsterkenntnis und zum fervor divinus führen (523,15—19). Das zweite Gegenbild betrifft das Anliegen der philosophia spiritualis. Selbst wenn der egregius doctor Thomas ist, so geht es Seuse doch nicht um eine Wiederherstellung seiner Lehre, sondern um jene Dimension, die für ihn Cassian und seine ,Collationes patrum' vertreten.

13

Zuletzt hat R. Imbach angefragt, ob mit dem egregius doctor „überhaupt eine historische Person gemeint ist" und „wer die moderni sind": R. Imbach, Anmerkungen zu den thomistischen Quellen des ,Horologium sapientiae', in: Heinrich Seuses philosophia spiritualis (Anm. 2).

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Rüdiger Blumrich

D i e A r s e n i u s v i s i o n in H ö r . I I . 3 Die gesuchte Philosophie ist eine Lebenslehre 14 . Sie kulminiert in einer Sentenz des Wüstenvaters Arsenius aus den ,Vitas patrum': „Fuge, et tace, et quiesce, haec inquiens sunt principia salutis. Die Prinzipien des Heiles sind: fliehen, schweigen und ein Leben der Ruhe führen" (545,10 sq.) 15 . Mit ihr wird die Fortsetzung der Erzählung in Hör. II.3 eingeleitet: „Diese klare und deutliche Lehre offenbarte die göttliche Weisheit einem gewissen Schüler von ihr, den du kennst, als sie ihn über seinen status, den ihm zugehörigen Ort informierte" (11 — 13). Dabei wird folgende Episode über den praedictus discipulus vermittelt: Als sich dieser noch mit menschlichen Wissenschaften beschäftigte, war er über Gebühr auf seine Karriere bedacht; und als er endlich die von ihm ersehnte Stelle erhalten sollte, prüfte er in einer Reflexion, was nun das für ihn und vor Gott Richtige sei. Auch hier wird also ein Erkenntnisprozeß literarisch umgesetzt, und zwar erneut als Vision — vidit in visione·. Ein schöner Jüngling führt ihn zu einer Kirche, in der in einer Zelle ein Einsiedler lebt. Er wird nicht namentlich genannt, aber er ist beschrieben wie der Anachoret Arsenius in den ,Vitas patrum': "...hic erat grandaevus et canus, prolixam habens barbam" (545,26 sq.) 16 . Und in Anlehnung an die dortige Vergleichung mit Jakob steht bei Seuses Arsenius eine Himmelsleiter, auf der der Jüngling spielend auf- und absteigt und den Schüler zu einer Lectio herbeiruft. Daß dieser dabei als frater tituliert wird, ist ein Beispiel für die Stileigentümlichkeit Seuses, die nach B. Vollmann dadurch gekennzeichnet ist, daß die Dinge bewußt in der Schwebe gelassen werden 17 . Aus einem alten, kleinen, unscheinbaren und offensichtlich nicht mehr in Gebrauch befindlichen Buch liest er nur einen Satz: „Fons et origo omnium bonorum homini spirituali est in cella sua iugiter commorari·. Quelle und Ursprung alles Guten ist für einen geistlichen Menschen das beständige Verweilen in der Zelle" (546,2 sq.). Als Urheber dieser nützlichen und heilsbringenden Lehre wird der summus ille philosophus Arsenius genannt (14). Um eine weitere Lesung gebeten, folgt nur eine Variation des ersten Satzes: „Econverso, Jons et origo omnium malorum sunt discursus inútiles evangeli^antium·. Umgekehrt ist die Quelle und der Ursprung aller Übel das unnütze Umherschweifen der Verkündiger" (16 sq.). Auf den Einwand, daß auch die Apostel sich bei der Verkündigung des Evangeliums in die ganze Welt verstreut hätten [discurrebanf), erfolgt die Bekräftigung durch die gesamte mansio, also durch 14

15 16

17

Cf. jetzt Ph. Kaiser, Die Christozentrik Heinrich Seuses, in: Heinrich Seuses philosophia spiritualis (Anm. 2). Vitae patrum 111,190; PL 73, 801. Cf. ibid. V, 15,10; PL 73, 955: „Erat enim visio eius angelica, sicut Jacob, cams ornatus, elegans corpore ... Habebai autem barbam prolixam". B. K. Vollmann, Stil und Anspruch des .Horologium sapientiae', in: Heinrich Seuses philosophia spiritualis (Anm. 2).

Vera scientia christianae

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die Schule der theologischen Wahrheit: „Scias frater, quod inutiles discursus praedictusphilosophus multum detestatur·. Eben jener Philosoph hat das unnütze Umherschweifen oft verflucht" (27 sq.). Damit ist die Vision beendet. Die Auslegung hat diesmal der Schüler selbst zu leisten; er erschließt sie sich in einer Reflexion, in der er sich erinnert, von Arsenius, dem famossisimus philosophus der christliche Lehre, in den „ Vitae sanctorum patrum et eorum collationes" gelesen zu haben. Darin sei der Kern der Vollkommenheit (nucleus totius perfectionis) und die vera scientia christianae philosophiae zu finden. Er holt sich aus der Bibliothek jene ,Vitas patrum', findet darin sofort die gesuchte Sentenz und verläßt die Schulen, um sich ganz jenem Philosophen anzuschließen (547,6 — 24). Diese scheinbar so klare und eindeutige Erzählung ist nun aber m. E. weder vordergründig autobiographisch noch als zeitgeschichtliche Polemik zu lesen. Denn hier wird weder die Umkehr von der Wissenschaftslaufbahn zur Seelsorge beschrieben 18 , noch läßt sich eine grundsätzliche Kritik des Wissenschaftsbetriebs feststellen. Das Verweilen in der Zelle soll schließlich auch den Intellekt befriedigen und zur cognitio summi boni beitragen. Eine buchstäbliche Interpretation könnte nur die Aufforderung zum allgemeinen Eremitentum konstatieren. Die literarische Analyse darf aber nicht bei dieser Oberfläche stehenbleiben. Auch hier handelt es sich um fiktionale Literatur. Zwar sind die Beschreibung und die erste Sentenz des Arsenius {fuge, et tace, et quiesce...) in den ,Vitas patrum' belegbar; die in der Vision dem Schüler zu Gehör gebrachten und von ihm in den ,Vitas patrum' identifizierten Sätze {Jons et origo...) sind aber in dieser Form eine Schöpfung Seuses. Ähnliches läßt sich auch in den deutschen Werken feststellen: Während für viele Altvätersprüche des 35. Kapitels der ,Vita' die Quelle identifizierbar ist, ist doch für einige andere der Autor verantwortlich. So ist das krönende Schlußwort — Cassianus: Ellú vollkomenheit endet da, wenn du sele mit allen iren kreften ist ingenomen in das^ einig ein, da% got ist (Bihlmeyer 106,34 sq.) — nicht von Cassian, sondern von Seuse. Im Hintergrund steht die Lehre von der puritas cordis als der intentio der geistlichen Übungen und dem ewigen Leben als dessen finis19. Cassian wird hier zwar genannt, aber nicht zitiert. Vielmehr ist ingenomen ein Seusescher Terminus technicus für die Rückkehr, und zwar in jene vollkommene Einheit, die Seuse mit Eckhart mit dem Begriff «»/V ein faßt 20 .

18 19

20

So Misch und Senner: Anm. 7. Coni. I: Iohannis Cassiani Conlationes XXIIII, ed. M. Petschenig, Wien 1886 (= CSEL 13), 10 sq. Das innemen ist zentrales Thema im ,Buch der Wahrheit': Bihlmeyer 343,25 (ingenomen in daχ ewig niht)·, 344,2—4; 346,17 (innemung als Gegenbegriff zum usschlag) u. ö. — ernie ein bei Eckhart: Q. 2, Deutsche Werke [= DW] I, 31,8; 43,2.6. Q. 22, DW I, 381,1. Q 25, DW II, 11,1. Q 66, DW III, 118,7.

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Rüdiger Blumrich

Ρhilosophia

spiritualis

Die im Werk Seuses vorkommenden Personen treten nicht als historische auf. Sein Arsenius ist ein imaginärer Arsenius. Die Quelle liefert das Vorbild, das aber, wie die zeitgeschichtlichen oder autobiographischen Hintergründe, in einer literarischen Transformation aufgehoben wird. Dargestellt ist nun ein quidam Arsenius, quidam Cassianus, ein quidam doctor egregias, ein quidam frater. also imaginäre, fiktionale Personen. Arsenius fungiert hier als Kronzeuge für eine Lehre. Seine Sentenz formuliert den nucleus der dargestellten formula compendiosa vitae spiritualis. Zum Verständnis der Vision ist es also umungänglich, die Funktion der eigenständigen Erzählung als figurata locutio im Kontext des Werkes zu thematisieren. In den vorausgehenden lehrhaften Ausführungen wurden folgende Prinzipien des richtigen Lebens formuliert: — te ipsum abstrahere·. die Welt ist zu fliehen und die Ruhe zu suchen; — puritati cordis studere: kehre dich zu dir selbst hin; — affectum absolvere·, alle Zerstreuungen des Herzen und alle Affekte sind auf das Gute {ad unum verum et simplicissimum bonum) zurückzubinden; — animum sursum elevare·, bemühe dich beständig um die contemplatio divinorum (541,19-543,16). Diese Prinzipien werden abschließend zu einer kurzen Lebenslehre, einer brevis doctrina pro vitae tuae formula mit dem Anspruch einer Summe, nämlich einer summa summarum totius perfectionis (545,5 sq.), zusammengefaßt. Diese wird einem pater pius in den Mund gelegt: „Mein Sohn, kehre zu dir selbst zurück, indem du dich vor allem, soweit möglich, abscheidest. Bewahre dein geistiges Auge immer in Reinheit und Ruhe, indem du deinen Intellekt von allem Sinnlichen freihältst. Löse deinen Willen innerlich von allen irdischen Sorgen, indem du immer dem höchsten Gut mit brennender Liebe anhängst. Halte dein Gedächtnis beständig nach oben erhoben, indem du durch die Betrachtung des Göttlichen aufwärts strebst, so daß deine Seele mit allen ihren Kräften in Gott vereint und ein Geist mit ihm wird, worin wir die höchste Vollkommenheit des Lebens erkennen" 21 . Wer ist dieser pater? Die sentenzenartige Formulierung ( F i l i mi ad cor redeas...) läßt an einen Wüstenvater denken, die Betonung der Seelenkräfte (intellectus, voluntas und memoria) an einen Kirchenlehrer. Zuvor wurde Cassian zitiert 22 . Oder ist der pater Seuse selbst? Seine Identität wird wohl 21

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„Fili mi ad cor redeas, ab omnibus quantum possibile est te ipsum abstrahendo. Mentis oculum semper in puntate et tranquillitate custodias, intellectum a formis rerum infìmarum praeservando. Voluntatis affectum a curis terrenorum penitus absolvas, summo bono amore fervido semper inhaerendo. Memoriam quoque iugiter sursum elevatam habeas; per contemplationem divinorum ad superna tendendo, ita ut tota anima tua cum omnibus potentiis suis et viribus in Deum collecta, unus fìat spiritus cum eo, in qua summa perfectio viae cognoscitur consistere." (Hor. 544,19 — 545,4). Cf. die Nachweise in den Anm. 29 — 31.

Vera sckntia christianae

philosophiae

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bewußt offengelassen. Die inhaltlichen Konturen zielen aber wiederum deutlich auf eine Theologia mystica: ... unusfìat spiritus cum eo, in qua summa perfectio viae cognoscitur consistere (545,3 sq.). Die Passage ist durchsetzt von einem Netz von Anspielungen, von Gedanken- und Textbezügen zu Ps.Dionysius Areopagita. Formulierungen wie quantum possibile est ... sursum elevatam habeas ... contemplatio divinorum erinnern an das — dem philosophisch und theologisch gebildeten mittelalterlichen Leser vertraute — erste Kapitel von ,De mystica theologia' 23 . Auf die dionysische Tradition verweist die wiederholte Betonung des summum bonum. Inhaltlich erscheint die formula wie ein Kommentar zu jener berühmten Stelle zu Beginn von ,De mystica theologia', in der Dionysius seinen Schüler auffordert, alles Sinnliche, alle intellektuellen Tätigkeiten, ja alles Seiende zu lassen und sich als Unwissender zur Einung zu erheben: „Tu autem, o omice Timothee, circa mjsticas visiones forti contritione et sensus derelinque et intellectuales operationes et omnia sensibilia et intelligibilia et omnia non-existentia et existentia et, sicut est possibile, ignote consurge ad eius unitionem qui est super omnem substantiam et cognitionem; etenim excessu tui ipsius et omnium irretentibili et absoluto munde ad supersubstantialem divinarum tenebrarum radium, cuncta auf erens et a cunctis absolutus, sursum ageris"2"'. Dieser Text wird hier nicht zitiert. Es finden sich aber Anspielungen auf ihn — wie bereits in Hör. 1.9 an der Stelle, an der der Begriff der philosophia spiritualis eingeführt wird: „ Tu autem in nostra spiritualiphilosophia aliter institutus consurge, cuncta visibilia mente supergradiendo..." (453,5 — 7). Damit rückt Seuse auf sprachlicher {Tu autem, o amice Timothee...) wie auf inhaltlicher Ebene (consurge ad eius unitionem...) seine Philosophie in den Traditionszusammenhang der dionysischen Theologia mystica 25 . Seine Lebensformel beinhaltet damit zunächst die Aufforderung, sich von allem Sinnlichen zu lösen und nach der puritas cordis zu streben und verweist damit auf die dionysische Vorstellung der Reinigung von allen sinnlichen und intellektuellen Tätigkeiten: „sensus derelinque et intellectuales operationes et omnia sensibilia et intelligibilia et omnia non-existentia et existentia..." Sie beinhaltet sodann die Ausrichtung nach oben, gleichlautend bei Dionysius und Seuse: sursum agere bzw. elevare ...ad superna tendere ... consurgere, um schließlich zur Einung, ad unitionem, zu gelangen: unus fìat spiritus. Ist also der pater Dionysius? Jedenfalls stimmt er nach Seuse sachlich mit der Botschaft des Arsenius überein: „Haec est, f i l i mi, salutis via, quam tuus Arsenius ... servavit" (545,9sq.). Die Aufforderung zum Schweigen

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Dionysius, De myst. theol. 1; PG 3, 997; cf. transi. Sarraceni, in: Albertus Magnus, Super Dionysii Mysticam theologiam et epistulas, ed. P. Simon, Aschendorff 1978, 457 (= Opera omnia 37.2): „... sicut est possibile, ignote consurge ... sursum ageris..." Die contemplatio betont die Paraphrase des Thomas Gallus: Dionysiaca I, Brügge 1937, 709. Transi. Sarraceni (Anm. 23), 457. Cf. Blumrich (Anm. 10).

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Rüdiger Blumrich

und zur Ruhe ist eine Ausformung der dionysischen Theologie. Und umgekehrt werden Cassian und die ,Vitas patrum', die Seuse zur Einheit der „Vitae sanctorum patrum et eorum collationes" zusammenfaßt (547,12), aus der Perspektive der areopagitischen Theologie gelesen. Auch in Hör. 1.9 wird die philosophia spiritualis zunächst mit Cassian eingeführt und dann mit Dionysius interpretiert 26 . Worin besteht nach Seuse der Verbindungspunkt von Cassian und Dionysius? 27 Von Cassian übernimmt er die Frage nach der scientia spiritualis, insbesondere in ihrer Einheit von theoretischer, d. h. kontemplativer, und praktischer, d. h. ethischer Wissenschaft 28 . So verweist er zu Beginn des Kapitels mit Cassian auf die Heiligen, die non solum in actuali, verum etiam theorica virtute flagrabantw. Die Konturierung seiner philosophia spiritualis erfolgt aber durch Dionysius. Von Cassian werden die vier Prinzipien des geistlichen Lebens abgeleitet; so wird wörtlich zitiert, vorrangiges Bemühen solle sein, „ut divinis rebus ac Deo mens semper inhaereat"30. Cassian ist eine Autorität für praktische Fragen, etwa dafür, wie eine beständige Ausrichtung auf die spiritualis theoria bzw. die contemplatio möglich ist31. Und Seuse übernimmt den Cassianschen Begriff der puritas cordis. Seine metaphysische Grundlage aber ist Dionysius. Wie sieht diese Grundlage aus? Einen ersten Hinweis geben die ursprünglichen deutschen Formulierungen der Lebenslehre im ,Büchlein der ewigen Weisheit'. „Halte dich abengescheidenlich" heißt dort (Bihlmeyer, 288,11 sq.), was im Hör. zu debes te ipsum abstrabere wird. Puritas cordis wird mit „luterlich von allen inge^ogenenen bilden" wiedergegeben (12 sq.). Diese Formulierungen lassen an Eckhart denken. Auch hier sind es zunächst nur sprachliche Anklänge; im ,Büchlein der ewigen Weisheit' finden sich zwei winzige Zitate aus Eckharts Traktat ,Von abegescheidenheit' — die immerhin belegen, daß Seuse dieses Werk kennt 32 . Eine Analyse des ,Büchleins der ewigen Weisheit' ergab, daß Seuse das spezifisch eckhartische Konzept der Abgeschiedenheit übernimmt — und das gilt auch für das Hör. Auf den Punkt gebracht wird es in der Hör. 1.11: „... quanto nunc perfectius temporalia cuncta reliquerit, tanto liberius ad contemplationem spiritua-

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Hör. 452,25-453,2 zitiert Cassian (Anm. 9), 154,20-24. Anschließend (Hör. 453,5-14) die bereits erwähnten Anspielungen auf ,De mystica theologia': cf. Anm. 25. Zum Zusammenhang von puritas cordis und Neuplatonismus cf. Κ. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik I. Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München 1990, 126. Cf. Cassian, Coni. 14.1: „cuius quidem duplex scientia est: prima πρακτική, id est actualis, quae emendatione morum et uitiorumpurgatione perficitur: altera θεωρητική, quae in contemplatone dtuinarum rerum et sacratissimorum sensuum cognitione consistit." (Anm. 19, 398,24—399,3). Hör. 541,13 sq.; Cassian, Coni. 1.1; op. cit., 7,15 sq. Hör. 5 4 3 , 3 - 5 ; Cassian, Coni. 1.18; op.cit., 14,20sq. Hör. 543,17-24; Cassian, Coni. 1.12 sq.; op. cit., 18,19 sq.; 18,26-19,6. Bihlmeyer, 207,13 sq. = D W V, 433,2 sq.; Bihlmeyer, 249,23 sq. = D W V, 433,3 sq.

Vera scientìa christianae

philosophìae

lium consurgit" (465,15 sq.). Der Mensch ist eins mit Gott, insofern er alles Akzidentelle, auf Zeit und Sinne Bezogene läßt 33 . Dieser als notwendig gedachte Zusammenhang von Gelassenheit und Einheit ist der metaphysische Hintergrund für die vorgestellte Lehre. Die Cassiansche puritas cordis wird im Sinne der Abgeschiedenheit Meister Eckharts verstanden. Und Arsenius wird zur Kristallisationsfigur verschiedenster Traditionen, die für Seuse zusammengehören. Er ist Schüler von Dionysius und Eckhart — freilich in einer sehr eigenständigen Weise, und darin folgt er seinem Autor. Wenn Seuse in die intellektuelle Landschaft des 14. Jahrhunderts in Deutschland einen Anachoreten als summus philosophus einführt, so bedeutet das nicht eine Negierung der wissenschaftlichen Diskussion und eine Rückkehr in eine heile Welt vor der Zersplitterung der Wissenschaften bzw. zu einer „sapientialen Auffassung von Theologie" (Haas) 34 , sondern ein Weiterdenken einer philosophischen Konzeption, für die die Namen Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart stehen. Deren Lehren vom Intellekt, von der Einheit und von der Gottesgeburt in der Seele sind die Folie der philosophia spiritualis Seuses 35 . Die vorgestellte Vision ist in dieser Perspektive die Darstellung einer durchaus rationalen Reflexion, eines Bewußtwerdens darüber, was es bedeutet, ein abgeschiedener Mensch zu sein bzw. zu werden. Die metaphysischen Dimensionen dieser Frage sind an dieser Stelle vorausgesetzt, es geht jetzt um erkenntnistheoretische, ethische und spirituelle Fragen: Worin liegt der Ansatz einer solchen Philosophie? Was setzt sie auf der Ebene des Lebens dessen, der sie betreibt, voraus? Wie ist sie zu betreiben?36 Die entscheidende Transformation obliegt den Lesern. Sie müssen anfangen zu denken, wenn sie es nicht beim Bestaunen einer mystischen Erfahrung belassen wollen oder den Text als einfache Anweisung zum Mönch-werden bzw. für das monastische Leben lesen. Daß die mittelalterlichen Rezipienten einen solchen eigenständig denkenden Umgang mit den Texten Seuses pflegten, beweist eine anonyme Redigierung von Eckharts ,Von abegescheidenheit': Der Bearbeiter erkannte die Zusammengehörigkeit mit dem Seuseschen Konzept und fügte deshalb die zentrale Stelle des ,Büchleins der ewigen Weisheit' in den Eckharttext ein, weshalb

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Cf. dazu Blumrich (Anm. 10). A. M. Haas, Die deutsche Mystik im Spannungsbereich von Theologie und Spiritualität, in: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit, ed. L. Grenzmann et K. Stackmann, Stuttgart 1984, 604—639, hier 611 sq. Zur konstitutiven Funktion der vernúnftikeit im ,Buch der Wahrheit' cf. L. Sturlese, Einleitung zu: Heinrich Seuse. Das Buch der Wahrheit. (Daz buechli der warheit). Mittelhochdeutsch-deutsch, ed. R. Blumrich, L. Sturlese (PhB 458), i. Dr. — Auch wenn dieser Begriff im ,Büchlein der ewigen Weisheit' und im Hör. zurücktritt, bleibt das sachliche Konzept präsent: cf. Blumrich (10). Zum Philosophiebegriff cf. jetzt L. Sturlese (Anm. 35).

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noch Bihlmeyer, der den sekundären Charakter dieser Textform nicht erkannte, davon ausging, daß Seuse hier Eckhart ausgeschrieben habe 37 . Erst die moderne Forschung hat aus der philosophia spiritualis Seuses Mystik gemacht. Freilich unterscheidet sich diese Philosophie von der an den Universitäten und den Generalstudien betriebenen. Seuse schreibt keinen Kommentar zu Dionysius, sondern ein poetisches Werk. Dabei aber bleibt es Philosophie, die sich selbst als solche versteht, und ist als solche für das spätmittelalterliche Verständnis der Wissenschaften und des Wissens zu berücksichtigen.

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Bihlmeyer, Anm. zu 288,8: „Seuse scheint übrigens die Stelle 288,11 — 298,6 direkt aus Eckhart ... herübergenommen zu haben." Dazu E. Schaefer, Meister Eckharts Traktat ,Von Abegescheidenheit'. Untersuchung und Textneuausgabe, Bonn 1956, 100—133. — Abdruck dieser Fassung in D W V, 434 sq.

Vom Abgrund des Wissens Denken und Mystik bei Tauler* JOHANN KREUZER

(Wuppertal)

Teil 1 der folgenden Überlegungen gilt dem begriffsgeschichtlichen Bezugspunkt der Rede Taulers vom , Seelengrund' als dem ,Abgrund des Wissens' bei Augustin1. Um ,Angst' als ,Aufstieg' in diesen ,Abgrund' geht es in Teil 2. In Teil 3 ist von der Rückkehr aus dem ,Abgrund Angst' die Rede. Es geht um Taulers Begriff der Ewigkeit: die Augenblicke der ,Auferstehung zum Leben'. Sie sind für Tauler — darum geht es in Teil 4 — ,Einleuchtung'. Die Überlegungen zu ,Denken und Mystik bei Tauler'2 schließen (Teil 5) mit Bemerkungen zur ,Gelassenheit' als einem ,Lassen des Lassens'. 1) Zum b e g r i f f s g e s c h i c h t l i c h e n Hintergrund bei A u g u s t i n Der eine Bezugspunkt der Rede Taulers vom , Seelengrund' als dem Abgrund des Wissens ist bei Augustin das „abditum mentis" in „De trinitate"3. Als ,abgründigere Tiefe der Erinnerung' ist die „memoria principalis" * Die Abschnitte 3, 4 und der Schluß des Beitrags wurden beim 4. Symposion der Académie du Midi „Theorien des Lichts und des Sehens" am 12. 6. 1992 in Alet-les Bains, die Abschnitte 1, 2 und 5 bei der 28. Mediaevistentagung „Scientia und ars im Hoch- und Spätmittelalter" am 9. 9. 1992 in Köln vorgetragen. 1 Zu Taulers anderen Quellen cf. P. Wyser, Der Seelengrund in Taulers Predigten, in: Lebendiges Mittelalter. FG für W. Stammler, Fribourg 1958, 2 0 4 - 3 1 1 ; D. Schlüter, Philosophische Grundlagen der Lehren Johannes Taulers, in: Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag, ed. E. Filthaut, Essen 1961, 122—161; W. Beierwaltes, Der Begriff des ,unum in nobis' bei Proklos, in: Die Metaphysik im Mittelalter, ed. P. Wilpert (Miscellanea Mediaevalia 2), Berlin 1963, 255 — 266; L. Sturlese, > Homo divinus < . Der Prokloskommentar Bertholds von Moosburg und die Probleme der nacheckhartschen Zeit, in: Abendländische Mystik im Mittelalter, ed. K. Ruh, Stuttgart 1986, 145 — 61; id.: Tauler im Kontext, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, ed. H. Fromm/P. Ganz/M. Reis (PBB 109), Tübingen 1987, 3 9 0 - 4 2 6 . 2 Gerade bei Tauler zeigt sich, daß ,Mystik' eine ,Lehre von der Relevanz des Innerweltlichen für das als Transzendenz Gedachte' (cf. Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1970, 352), nicht einen Gegensatz des ,Denkens' bedeutet. 3 „( ) admonemur esse nobis in abdito mentis ( ) quasdam notitias ( )" (De trin. XIV, 7,9; ed. J. Mountain ( = CCL 50A), Turnhout 1968, 433).

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Johann Kreuzer

die .Verborgenheit des Geistes' 4 — und das Vermögen, durch das die ¡mens' sich selbst gegenwärtig ist 5 . Die Erkenntnis der Erinnerung ist Selbsterkenntnis — und als diese eine Erkenntnis desjenigen, wovon sich das menschliche Bewußtsein als ,imago' denkt: der Natur, die Gott ist 6 . .Erinnern' ist nicht bloß — etwa als Gedächtnis von Vergangenem — eine ,Kraft' des Gemüts 7 . Die ,abstrusiorprofunditas' der Erinnerung ist vielmehr der Grund (oder ,Abgrund') der Seele (bzw. aller Bewußtseinstätigkeiten) selbst 8 . Der andere Bezugspunkt der Rede Taulers vom ,Abgrund des Wissens' ist Buch X der „Confessiones". Vor ,Gottes Auge liegt der Abgrund des menschlichen Bewußtseins bloß' schreibt Augustin, nachdem er postuliert hat: „Erkennen werde ich dich, der du mich kennst, erkennen werde ich dich, so wie ich erkannt bin" 9 . Die Analyse der ,memoria' ist Selbsterkenntnis. Sie vollzieht sich als Erkenntnis des Abgrunds der Erinnerung. Diese Analyse des Abgrunds des menschlichen Bewußtseins ist zugleich die A n a l y s e einer ,memoria

amans'

— der ,memoria

amans'

der ,pulchritudo',

deren

Erkenntnis Gott ist 10 . Die Erkenntnis des Abgrunds des menschlichen Bewußtseins als Erkenntnis der Selbstgegenwärtigkeit der ,mens' ist ein Erinnern der Gegenwärtigkeit Gottes, deren als ungeschaffener, zeitlos-ewiger gedacht wird. In der Erinnerung als dem Abgrund des Wissens ist beides: die eigene Endlichkeit, die erinnert wird, und die Gegenwärtigkeit eines ungeschaffenen Prinzips, dessen in seiner Unendlichkeit gedacht wird. Hieran knüpft Tauler an: „( ) sánete Augustinus sprichet das die sele habe in ir ein verborgen appetgrunde, daz enhabe mit der zit noch mit aller 4

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Cf. De trin. XV, 21,40/41. Zur Rezeption der Lehre Augustins von der memoria als dem „abditum mentis" unmittelbar vor Tauler cf. Dietrich von Freiberg, De visione beatifica, in: Opera omnia I, mit einer Einl. v. K. Flasch, ed. B. Mojsisch, Hamburg 1977. Cf. Β. Mojsisch, Die Theorie des Intellekts bei Dietrich von Freiberg, Hamburg 1977, 39—44. „( ) sic in re praesenti quod sibi est mens memoria sine absurditate dicenda est qua sibi praesto est ( ) " (De trin. XIV, 11,14; I.e., 442). Cf. XIV, 6,8 (ibid., 432). Cf. De trin. VI, 10,11/12; XIV, 8,11; 9,12; 12,16; XV, 1,1. „Die sele hat drie edele krefte, in den ist sú ein wot bilde der heiigen drivaltikeit, gehugnisse, verstentnisse und frige wille ( )" (V, Pr. 1, 9,9 — 10; H, Pr. 1, 15). Die „gehugnisse" sind die Gedächtnis-Inhalte, die Erinnerung selbst ist „der sèi kraft, diu dà haizt memorialis ( ), als ain sichereu slüzzeltragerin ( ), da gedächtnis ursprünglich alles gedenken, auch an zukünftiges ist ( )" (Grimm'sches Wörterbuch, ND München 1984, Art. „Gedächtnis", 1929/30). Cf. Confessiones X, 17,26; 25,36; De trin. XV, 21,41. „Cognoscam te, cognitor meus, cognoscam, sicut et cognitus sum. ( ) Et tibi quidem, domine, cuius oculis nuda est abyssus humanae conscientiae, quid occultum esset in me, etiamsi nollem confiteri tibi?" (Conf. X, 1,1; 2,2, ed. L. Verheijen ( = CCL 27), Turnhout 1981, 155) Cf. 1 Kor. 13,12; Solil. I, 1; Conf. IV, 4,8; De civ. dei XVIII, 32; En. in Ps. 41,13; 134,16. Zum Zusammenhang zwischen ,memoria amans' und ,pulchritudo' als Gotteserkenntnis cf. vom Verf.: Pulchritudo — Vom Erkennen Gottes bei Augustin. Bemerkungen zu den Büchern IX, X und XI der Confessiones (erscheint voraussichtlich 1994).

Vom Abgrund des Wissens

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dieser weite nút zû tunde ( ). In dem ( ) abgrunde ( ), do ist ir stat eweklichen ( ), wanne Got ist selber gegenwertig ( ) und wurket do und wonet do ( ) " n . Und in der Predigt „SΊ exaltatus fuero, omnia traham ad me ipsum" heißt es von diesem ,abditum mentis'·. „( ) verbirg din verborgen gemute, das S. Augustinus also nemt, in die Verborgenheit des gotlichen abgrúndes ( ). In der Verborgenheit wird der geschaffen geist wider getragen in sin ungeschaffenheit ( ) und bekent sich Got in Gotte und doch an im selber creatur und geschaffen" 12 . Inwiefern hat der ,verborgene Abgrund des Gemüts' 13 weder „mit der zit noch mit aller diser weite" etwas zu tun? Der verborgene Abgrund des sich geschaffen denkenden Gemüts richtet sich auf das zeitlos in der Zeit Gegenwärtige, das als ungeschaffenes gedacht wird. Die Verborgenheit des ,göttlichen Abgrunds' ist die Gegenwärtigkeit des Ewigen in der Zeit. Nicht über den Dingen oder jenseits der Dinge ist es gegenwärtig, sondern als das ,Heute der Ewigkeit' 14 in der Zeit. Beim ,Abgrund des Wissens' geht es um keine ,Hyperphysik', sondern um eine Selbsterkenntnis desjenigen, was „inmitten" des zeitlich Erscheinenden ist 15 . Das ist der Sinn der folgenden Bemerkungen zu ,Denken und Mystik' bei Tauler 16 . Welches sind die Bedingungen einer Erkenntnis, die in der Annahme der eigenen Endlichkeit besteht und deshalb die Erkenntnis des „eigenen Nichts" 17 einschließt? Wie vollzieht sich ein Erkennen, durch das sich der ,Geist' IN seiner Geschaffenheit als ,Gott in Gott' erkennt, worin er sich gleichgültig oder sich selbst gleich wird?

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Johannes Tauler, Predigten, ed. F.Vetter, Dublin/Zürich 1968 (im folgenden: V), Pr. 24, 101,30 — 102,5. Cf. Joh. Tauler, Predigten, übertr. u. hg. v. G. Hofmann, mit einer Einf. v. A. M. Haas, Einsiedeln 3 1987 (im folgenden: H), Pr. 24, 167. V, Pr. 65, 3 5 8 , 7 - 1 3 ; cf. H, Pr. 59, 458. ,Gemüt' tradiert „bis nahe an unsere Zeit heran" (cf. Grimmsches Wörterbuch Art. „Gemüt", 1. c., 3296) Augustins Ternar für die Trinität. Cf. Anm. 7. Cf. Ps. 2,7. Cf. Tauler, V, Pr. 56, 2 6 3 , 3 - 7 ; H, Pr. 70, 539; V, Pr. 69, 380,16/17; H, Pr. 68, 527. Cf. Augustin, Conf. I, 6,10; XI, 13,16. Cf. Anm. 63. Und in diesem Sinn um .Metaphysik': „μετά ( ) „inmitten, innerhalb". (J. B. Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, München 1971, 198/99). Cf. e.g. Ilias, VII, 35; XXIV, 258; Jes Sir 24,7. Taulers Rede vom ,Seelen(ab)grund' ist kein ,Mystizismus', der „gern im Transzendenten etwas wagt" (cf. I. Kant, Das Ende aller Dinge, in: Werke in zwölf Bänden, ed. W. Weischedel, Bd. 11, Frankfurt/M. 1968, 185). „So koment etliche und sagent von also grossen vernünftigen über weselichen úberformlichen dingen, recht als si über die himele sin geflogen, und sie enkamen noch nie einen trit usser sin selber an bekentisse irs eigenen nichts" (V, Pr. 45, 200,6—9); cf. H, Pr. 51, 393. Cf. Augustin, De mor. eccl. cath. 21,38; De trin. IV, 15,20. Cf. Anm. 86.

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2) Der A u f s t i e g in den A b g r u n d : A n g s t In den Predigten über Joh 4,1, Apg 2,4 und Mk 7,37 nennt Tauler die Bedingungen für den ,Aufstieg' der Seele in ihren ,Grund' 18 . Zu diesem Aufstieg, der sich in ,smakender wisheit' erfüllt, gehören Wissen (,kunst') und Wissenschaft (,verstentnisse') 19 . Wo keine ,Wissenschaft' ist, kann auf keine Weise .verkostende Weisheit' sein, heißt es schon bei Augustin 20 . Den ,verstentnissen' und der ,smakenden wisheit' liegt zugrunde, was Tauler ,Rat' nennt 21 . Dieser ist Furcht und Angst. .Furcht' wovor und welche ,Angst'? Durch welche Angst muß hindurchgegangen werden, damit sich die ,Kunst des Wissens' als .verkostende Weisheit' erfüllt? In der Predigt über Joh 6,56 sagt Tauler von dieser Angst: „Kint, soltu in Got geinniget und verwandelt werden, so mûstu an dir selber verwerden ( ) in aller der wise do du dich selber besessen hast ( ); sol Got in, so mus creatúrlichkeit uz und alle besitzunge. ( ) — Die hie inne stont, reht do wurt uz geborn ein unlidelich getrenge von dem entwerdende, das dem menschen diese wite weit zu enge wurt, und die nature wurt so gequetschet und getrucket, und der mensch weis nút was ime ist, und ist ime also wunderlichen enge" 22 . Dem ,Geist' wird, will er sich selbst ,haben', all sein Wissen um sich und diese ,weite Welt zu eng'. Er findet sich in der Erinnerung der eigenen Endlichkeit wieder 23 . ,Angst' ist die Enge des Geistes, wird er sich seiner Endlichkeit bewußt 24 . Dies ist der erste Aspekt der Angst, des ,Rates', dessen der Mensch „harte wol" bedarf. Der zweite besteht in der ,Furcht Gottes' 25 . Als diese ist Angst ein Erkennen der Begrenztheit des eigenen Lebens 26 . Es gilt, diese Angst anzunehmen — im Leben: „( ) lerent die vorchte Götz di wile ir in der zit sint; wenn ir us der koment, so ist es alles getan; da enist dan ab noch zu ze legende ( )", sagt Tauler 27 . Die Annahme der Angst als der Furcht

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Cf. V, Pr. 26, 1 0 6 , 5 - 1 0 9 , 1 6 ; Pr. 44, 1 9 4 , 2 - 2 0 ; Pr. 60d, 3 0 1 , 3 4 - 3 0 2 , 5 ; H, Pr. 26, 181 sqq.; Pr. 49, 381; Pr. 29, 203. Zurecht kritisiert L. Sturlese die „( ) weit verbreitete Vorstellung, Tauler sei ein mystischer > Lebemeister < und >kein spekulativer Denker < gewesen ( )" (Tauler im Kontext, 1. c., 390). Cf. e. g. Β. Mojsisch, Meister Eckhart. Analogie, Univozität, Einheit, Hamburg 1983, 13. Cf. Anm. 2, 17, 45, 68, 84. „Aut quis non videat ubi nulla scientia est nullo modo esse sapientiam." (De trin. XV, 6,10; 1. c., 474). „( ) die fünfte gobe, daz ist der rat; und diser goben bedarf der mensche harte wol ( )" (V, Pr. 26, 108,1/2). V, Pr. 60f, 3 1 4 , 7 - 3 4 ; cf. H, Pr. 31, 220/21. „Ergo animus ad habendum se ipsum angustus est, ut ubi sit quod sui non capiti" (Conf. X, 8,15, 1. c., 162/63). Cf. Grimm'sches Wörterbuch, Art. „Angst", 1. c., 358/59. Cf. Hiob 28,28; Ps. 110,10; Sprichw. 1,7; 9,10. Cf. 1 Thess 5,2, Mt 24,43/44. Cf. V, Pr. 62, 3 4 0 , 1 1 - 1 3 ; H, Pr. 39, 294.

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Gottes im Leben (in der Zeit) ist eine Annahme der eigenen Endlichkeit, d. h. Zeitlichkeit und Nichtigkeit: „( ) dis endet alles in einem nihte: also wir sint kummen von nihte, also werden wir wider zu nihte"28. Nur dadurch, daß das Selbst diese Angst vor dem Tod im Leben annimmt, kann es sie von sich nehmen. Es gilt, im Leben zum Leben aufzuerstehen. Der dritte Aspekt der nach Tauler dem Menschen notwendigen Angst vollzieht sich in einem inwendigen Zugrundegehen aller Weisen einer Vorstellung Gottes 29 . Voraussetzung dafür, daß der ,geschaffene Geist' zu „einikeit" mit dem „istigen" Geist Gottes gelangt, sind „armute des geistes und ein sunderlich in ziehen Götz in einer qwelender beröbunge des geistes ( )"30. Das ,Einziehen Gottes' ist Entziehung Gottes. Erst Gottverlassenheit läßt das Selbst in den Abgrund des Gott-Wissens als den des Sich-selbst-Wissens gelangen. Das Zugrundegehen vorgewußter Weisen der Selbst- und Gotteserkenntnis — ,Armut 31 und Beraubung des Geistes' — ist Voraussetzung dafür, was „man einen weselichen ker mag heissen"32. Gottverlassenheit ist die Voraussetzung wirklicher Gelassenheit. „Aber das ist minne", sagt Tauler, „do man hat ein burnen in darbende und in beröbunge, in einem verlossende, das da stände ein stetes unbeweglich quelen und man dabi bestat in rechter gelossenheit ( )"33. Der Weg in den Abgrund des eigenen Selbst ist ein Weg der Leerwerdung 34 — einer Leerwerdung insbesondere aller Formen eines Gottwissens. „Und al do wirt der mensche als gar ze mole zû im selber gelossen das er von Gotte 28 29

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V, Pr. 60h, 322,23-25; H, Pr. 35, 252. Cf. Anm. 60. Dem Menschen wird „( ) in aller der wise im Got hie für gehalten wirt, als er in disen inwendigen grünt kumet ( ) als gar benomen ( ), und wirt als gar umbekert als er es nie noch nie engewunne ( )" (V, Pr. 37, 144,27-30; cf. H, Pr. 37, 274/75). „( ) in diseme abegrunde verlúret der geist sich selber und enweis von Gotte noch von ime selber ( )" (V, Pr. 28, 117,33/34; cf. H, Pr. 28, 197). „( ) wanne sich das ungenant in der seien erbútet, so erbútet sich alles das domitte das nammen hat in dem ungenanten in Gotte ( )" (V, Pr. 74, 402,9-11; H, Pr. 74, 573). V, Pr. 39, 1 6 0 , 1 - 4 ; cf. H, Pr. 40, 303. Cf. Meister Eckhart, Predigt „Beati pauperes spiritu, quia ipsorum est regnum coelorum"·. „( ) daz ist die armuot des geistes, daz er alsô ledic stâ gotes und aller sîner werke ( )" (DW II, ed. J. Quint, Stuttgart 1971, 500). Cf. V, Pr. 39, 1 6 0 , 4 - 5 ; H, Pr. 40, 303. - Die .wahrhafte Kehre' ist Selbsterkenntnis der Namlosigkeit (cf. V, Pr. 41, 174,14-18; H, Pr. 41, 312) Gottes, mit der sich der Geist in seinen Grund, den er als ungeschaffenen denkt, ,hineinträgt' (cf. V, Pr. 40, 169,10 — 25; H, Pr. 43, 332). — M. Heidegger nennt diese Kehre den Vorübergang des ,letzten Gottes' (cf. Beiträge zur Philosophie, Frankfurt/M. 1989, 4 0 7 - 4 1 5 ; 509). V, Pr. 37, 143,18-21; cf. H, Pr. 37, 273. „Dise italkeit die ist die erst und die groste bereitunge den heiligen geist ze enphahende. ( ) wan sol man ein vas füllen, so mus zem ersten us was dinne was." (V, Pr. 60 e, 305,24-27; cf. H, Pr. 25, 171) Cf. V, Pr. 38, 149,29-34; H, Pr. 38, 282. „Sol ez win haben, man muoz von nôt wazzer ûzgiezen; daz vaz muoz blôz und îtel werden." (Meister Eckhart, Das Buch der göttlichen Tröstung, in: DW V, ed. J. Quint, Stuttgart 1963, 28) Cf. Augustin, En. in Ps. 30,II,s.III,ll: „( ) avertere, ut convertaris; funde, ut impkaris (Unterstreichung, JK)." (Ed. Dekkers-Fraipont ( = CCL 38), Turnhout 1956, 221).

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al zemole nút en weis ( ). Er enbevindet noch enweis sines Gottes ze mole nút ( )" 35 . Das Leerwerden von aller Gottesvorstellung läßt das Selbst zu sich selbst gelangen. In dieser Gelassenheit zu sich selber wird sich das Selbst gleich. Es wird sich gleichgültig. Aus dem Aushalten der eigenen Endlichkeit resultiert Sichselbstgleichheit. Der Weg in den Abgrund des Wissens ist der Weg in einen Abgrund, auf dem die Endlichkeit der eigenen Existenz in der Zeit angenommen wird. Leben lernen heißt, sterben zu lernen 36 . Sterben lernen heißt nicht nur, der eigenen Endlichkeit inne zu werden. Die Auferstehung, von der sich sprechen läßt, will man nicht alle Grenzen der Erfahrung überfliegen, ist intramundan zu vollziehen. Es ist die Rückkehr aus dem Abgrund des Wissens ins Diesseits der Endlichkeit 37 . Wenn die Rückkehr ins Diesseits ,Mystik' bedeutet, dann ist dies die Mystik Taulers. Es ist eine des „absoluten Diesseits" 38 . Sterben lernen heißt, leben zu lernen 39 . Es gilt, aus dem Vorlaufen in die eigene Endlichkeit zurückzukehren 40 . Tauler sagt, daß dem Menschen da „( ) der herre den mantel von den ögen (tût) und ( ) im die worheit (endecket)", und fahrt fort: „( ) das ist dem menschen recht so als ob er in von dem tode hette lebent gemacht. In diesem so fürt recht der herre den menschen usser im selber in sich" 41 . Das In-GottSein ist eine Auferstehung zur Endlichkeit. Es ist ein Zurückkommen aus der Angst ins Leben oder Transzendenz ins Diesseits. Ich fasse Teil 2 zusammen. Wissen — der Wunsch zu wissen — entspringt im Grunde der Angst. Angst ist der Abgrund des Wissens. Diese Angst gilt es auszuhalten. Die Erinnerung der eigenen Endlichkeit ist als Annahme des Todes die Annahme der Natürlichkeit und Zeitlichkeit des Lebens. Der ,Abstieg' in die Angst, in der jede Gottesvorstellung zugrundegeht, ist der .Aufstieg' zur Gottesgeburt 42 . Gottesgeburt ist proleptische Eschatologie 43 . Sie erfüllt sich als Rückkehr zum Leben. „Der Liebe in 35 36

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V, Pr. 39, 1 6 1 , 1 5 - 1 9 ; H, Pr. 40, 305. Cf. e. g. V, Pr. 26, 108,10; H, Pr. 26, 183. Cf. Phaidon 6 7 d - e . Cf. Cicero, Tuse. I, 31,75; Montaigne, Essai I, 20. „( ) das ist ein zeichen eines gûten menschen das alles sin tun alsolich si also er begert zû sinde so der lichame begraben wurt in der erden, das die sele denne werde begraben in der grundelosen gotheit." (V, Pr. 77, 4 1 7 , 1 4 - 1 6 ; cf. H. Pr. 72, 561). Cf. Κ. Nishitani, Was ist Religion?, iibertr. v. D. Fischer-Barnicol, Frankfurt/M. 21986, 182 (cf. ibid., 161 sqq.). Cf. G. Wohlfart, Der Punkt. Ästhetische Meditationen, Freiburg/München 1986, 190/91. Cf. Augustin, ep. 187,X,32: „( ) nullus autem vitam, in qua natus est, bene finiet nisi renatus, antequam finiat ( )" (ed. Al. Goldbacher (= CSEL 57), Wien 1911, 110). V, Pr. 39, 1 6 2 , 1 - 5 ; cf. H, Pr. 40, 305/06. „( ) hoch und tief ist do ein." (V, ibid., 18; cf. H, ibid., 306) Cf. V, Pr. 54, 252,4-10; H, Pr. 52, 403. „( ) diu hoehe und diu tiefe ist einez." (Meister Eckhart, Die rede der unterscheidunge 23, in: DW V, 1. c., 293/94; cf. ibid., 369/70.) Cf. Heraklit, Β 60. Cf. M. Egerding, Johannes Taulers Auffassung vom Menschen, in: Freiburger Zeitschr. f. Philos, u. Theol. 39 (1992), 114/15. Zum Terminus cf. G. Quispel, Zeit und Geschichte im antiken Christentum, in: Eranos-Jahrbuch X X (1951), 140.

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solch abgrundtiefer Vernichtung antwortet", sagt Tauler, „in Wahrheit, das Leben, unbegehrt, ungesucht, ungewollt. Daher ( ), je mehr man hinabsteigt, um so mehr steigt man hinauf ( )'«/¿z-Diskussion zunächst am Beispiel des Wilhelm von Ockham, dann am Beispiel des Levi ben Gerson skizziert. Wilhelm von Ockham Bei der Betrachtung verschiedener Intellekte, wie sie sich auf der Grundlage der aristotelischen Seelenlehre entwickelt haben, ist es erforderlich, zwischen substantieller und operationeller Differenz zu unterscheiden. Wird etwa der aktive Intellekt als kosmische Substanz interpretiert, so ist er natürlich auch substantiell vom menschlichen Verstand getrennt, während operationelle Differenz dann vorliegt, wenn der aktive Intellekt als aktivierende mentale Potenz den übrigen Seelenvermögen subsumiert wird. Keine der beiden Unterscheidungsmöglichkeiten ist aber für Wilhelm von Ockham haltbar, da er konstatiert: „Ideo dico quod pluralitas non est

Der Begriff der scientia bei Levi ben Gerson

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ponenda sine necessitate, ideo intellectus agens et possibilis sunt idem omnino re et ratione"x. Eine Differenz intellektueller Tätigkeiten kann nicht die Differenz der Intellekte bedingen, da es für Ockham überhaupt nur eine einzige Verstandestätigkeit gibt: „Sed idem ... est efficiens et recipiens intellectionem"2. Mit der Aufhebung der Differenz zwischen e f f i c e r e und recipere geht auch die Aufhebung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt der Intellektion einher, so daß Ockham die Bedeutung des extramentalen Objekts für die Initiierung des gesamten Erkenntnisprozesses, wie sie noch in der traditionellen Abstraktionstheorie grundlegend gewesen war, weitgehend reduzieren kann: „Dico ergo quod causa finalis ad hoc quod moveat agens, non requiritur habere entitatem illam in re extra, sed sufficit illam habere in anima"i. Dieser ohnehin schon innovative Ansatz Ockhams wird noch übertroffen, wenn er betont, daß nicht jede intellektuelle Erkenntnis notwendig durch ein real existierendes Objekt verursacht sein muß 4 . Die Eröffnung dieser Möglichkeit wird besonders durch eine modifizierte Interpretation der intuitiven und abstraktiven Erkenntnis verdeutlicht, mit der Ockham sich gegen die Interpretation des Johannes Duns Scotus wendet. Im scotischen Verständnis erfaßt die cognitio intuitiva die faktische Existenz des erkannten Objekts, während die cognitio abstractiva von dieser faktischen Gegebenheit absieht, insofern sie sich auf die Wesenheit des Objekts zu richten vermag 5 . Die Differenz beider Erkenntnisweisen resultiert mithin aus der unterschiedlichen Gegebenheit des Objekts. Für Ockham geht es im Gegensatz hierzu gerade darum, die Möglichkeit zweier differenter Erkenntnisweisen von ein und demselben Objekt zu erweisen, „... quia notitia intuitiva rei est talis notitia virtute cuius potest sciri utrum res sit vel non ... Notitia autem abstractiva est illa virtute cuius de re contingente non potest sciri evidenter utrum sit vel non sit ... Similiter, per notitiam abstractivam nulla Veritas contingens ... potest evidenter cognosci"6. Wenngleich mithin die Erkenntnis, daß ein Ding realiter existiert, Kriterium eines evidenten Wissens über dieses Ding auch im ockhamschen Verständnis bleiben kann 7 , unterscheiden sich abstraktive und intuitive 1

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Quaestiones in secundum librum Sententiarum, q. 20, 442, 23 — 24; zitiert nach der Ausgabe: Guillelmi de Ockham, Opera philosophica et theologica ad fidem codicum manuscriptorum edita, St. Bonaventure, New York, seit 1967. Op. cit., 443, 2 - 3 . Quaestiones variae, q. 4, 114, 339—342. Bezüglich der abstraktiven Erkenntnis betont Ockham: „Cuius ratio est quia stante cognitione intuitiva, licet obiectum totaliter corrumpatur, adhuc stat illa abstractiva. Ergo non requirit obiectum necessario ad eius causationem." Quaestiones in secundum librum Sententiarum, q. 14, 333, 11-12. Auf diese Differenzierung geht detailliert ein: R. Imbach, Wilhelm von Ockham. Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, Stuttgart 1984, 130—131. Ordinatio sive Scriptum in librum primum Sententiarum, q. 1, 31, 10—11 und 32, 4— 11. Die Erkenntnistheorie Ockhams kommentiert besonders: J. E Boler, Ockham on intuitive Cognition, in: Journal of the History of Philosophy, 11 (1973), 95 — 106.

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Erkenntnis doch nicht so, daß erstere sowohl ein Existierendes, als auch ebenso ein Nicht-Existierendes, letztere lediglich ein Existierendes zum Gegenstand haben kann, sondern das Unterscheidungsmerkmal besteht darin, „... quod notitia intuitiva et abstractiva se ipsis differunt et non penes obiecta nec penes causas suas quascumque ..."8. Indem Ockham also die objektiv verursachte Differenz beider Erkenntnisweisen ablehnt, betont er gerade die Funktion des Subjekts in besonderem Maße, insofern dieses zum alleinigen Maßstab wahrer Erkenntnis wird. Der intuitiven Erkenntnis, die sich auch auf emotionale und mentale Akte zu richten vermag, inhäriert die aktuelle Gewißheit dieser Subjektivität, „... quia haec est evidenter mihi nota, ego intelligoi "9. Hinsichtlich der einleitenden Frage nach der Notwendigkeit eines aktiven Verstandes als Garant wahren Wissens erweist sich somit, daß dieser für Ockham tatsächlich überflüssig ist, da wahres Wissen für ihn dann garantiert ist, wenn das wahrnehmende Subjekt sich der Wahrheit seiner Wahrnehmung bewußt ist. Wenn er weiter konstatiert: „... illae veritates quae inter omnes contingentes certius et evidentius cognoscuntur ab intellectu, habent términos vel res importatas maxime notas in particulari et intuitive, sicut notitia veritatis contingentis praesupponit necessario notitiam intuitivam et in particulari."w, so erfolgt damit die Einbeziehung einer sprachtheoretischen Reflexion in die epistemologische Argumentation. Die Wahrheit der Erkenntnis resultiert aus der Erkenntnis der korrekten Supposition der Begriffe für das Ding, denn den Begriff bestimmt Ockham in der Weise: „Illud autem existens in anima quod est signum rei, ex quo propositio mentalis componitur ad modum quo propositio vocalis componitur ex vocibus, aliquando vacatur ... conceptus animae ..."n. Erkannt wird mithin nicht unmittelbar das Bezeichnete, sondern dessen Zeichen. Diese unterscheiden sich insofern, als ihr Verhältnis zum Bezeichneten teils naturaliter, teils ad placitum12 erfolgt. Von den konventionellen Zeichen kann als Namen erster und zweiter Intention gesprochen werden, wobei zu ersteren Begriffe wie animal, homo und Plato zählen, die Dinge, die keine Zeichen sind, bezeichnen, während letztere in ihrer Bedeutung auf natürlich oder konventionell eingesetzte Zeichen verweisen. Solche Begriffe sind etwa genus, species oder universale^. Mit dem Begriff des universale ist nun jener Aspekt der ockhamschen Logik erreicht, durch den er sich radikal von früheren Ansichten distanziert. Denn hatte sich bereits im Zusammenhang einer Diskussion der intuitiven Erkenntnis gezeigt,

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Ordinario sive Scriptum in librum primum Sententiarum, q. 1, 38, 5 — 6. Op. cit., 40, 5 - 6 . Op. cit., 43, 7 - 1 1 . Summa Logicae, I, 12, 41, 1 4 - 4 2 , 17. Op. cit., I, 1, 8, 4 6 - 4 9 . Op. cit., I, 11, 40, 4 9 - 6 8 .

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daß für Ockham die Abstraktionstheorie hinfällig war, da die zum evidenten Wissen um ein Ding führende Erkenntnis bereits im ersten und einzigen Erkenntnisakt geleistet werden kann, so wird diese Theorie nun auch deshalb überflüssig, weil sie nicht mehr die Abstraktion des Universalbegriffes aus dem Gesamt sensitiver Erkenntnisinhalte belegen muß. Der Universalbegriff geht keine reale Verbindung mit dem Singulären, welches ihm entspricht, mehr ein, da er selbst ein Singuläres und allgemein lediglich insofern ist, als er als Zeichen Zeichen einer Vielheit von Entsprechungen zu sein vermag. „Dicendum est igitur quod quodlibet universale est una res singular is, et ideo non est universale nisi per significationem, quia est signum plurium" u. Damit verliert der Universalienrealismus seine Grundlage, da es unmöglich länger angenommen werden kann, daß ein Universale eine extramentale Substanz sei, denn jede Substanz muß der Zahl nach eine sein 15 . Denn wäre des Universale eine bestimmte Substanz in einem bestimmten Individuum, so könnte, laut Ockham, kein weiteres Individuum entstehen16. Nur als Zeichen, nicht als Substanz, kann das Universale signum plurium sein. Ist es damit zwar Zeichen des Singulären, aber nicht mehr dessen letzter allgemeiner Erkenntnisinhalt, der mittels Abstraktion intellektuell wahrgenommen werden kann, so folgt die Möglichkeit: „Etprimo, quod singulare intelligitur. Secundo, quod prima notitia singular is est intuitiva. Tertio, quod singulare primo intelligitur"11. Diese Theorie der Erkenntnis und der Universalien wirkt sich natürlich besonders auf den Wissenschafts-Begriff aus. „Una est quod scientia uno modo est certa notitia alicuius veri ... Aliter accipitur scientia pro evidenti notitia ... Tertio modo dicitur scientia notitia evidens alicuius necessarii ... Quarto modo dicitur scientia notitia evidens veri necessarii nata causari ex notitia evidenti praemissarum necessariarum applicatarum per discursum sjllogisticum"xi. Wie ist jedoch jene Veritas beschaffen, von der Ockham in der ersten Bestimmung spricht? Für die Wahrheit einer evidenten Erkenntnis hatte sich die Forderung ergeben, daß es sich um eine grundsätzlich unbezweifelbare Erkenntnis handeln müsse, die aus der Gewißheit des ego intelligo resultiert. Bezweifelbar hingegen sind alle durch sensitive Perzeption entstandenen Erkenntnisse 19 . Für die Wahrheit einer assertorischen Aussage, die diese evidente Erkenntnis zum Gegenstand haben soll, war aber nicht etwa gefordert worden, daß Subjekt und Prädikat der Aussage dem

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Op. cit., I, 14, 48, 3 1 - 3 3 . Op. cit., I, 15, 53, 7 8 - 8 0 . Op. cit., I, 15, 51, 2 4 - 3 0 . Ordinatio sive Scriptum in librum primum Sententiarum, d. 3, q. 6, 492, 15 — 18. Prologus in expositionem super VIII libros Physicorum, § 2, 5, 29 — 6, 48. „... quamvis posset dubitare de istis sensibilibus, non tarnen de talibus ...", Ordinatio sive Scriptum in librum primum Sententiarum, q. 1, 43, 15 — 16.

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extramentalen Gegenstand der Bezeichnung real inhärieren, sondern „... quod subiectum et praedicatum supponantpro eodem ..."20. Wahr wäre mithin eine Aussage wie Hic est angelus, falsch hingegen die Aussage Humanitas est in Sorte, da sich der Terminus humanitas nicht auf den Terminus Sorte beziehen kann 21 . Nur auf die wahre Aussage kann sich also evidentes Wissen stützen. Dabei kommt dem syllogistischen Verfahren die Bedeutung zu, daß durch dieses eine dritte, unbekannte Wahrheit aus zwei notwendigen Wahrheiten ermittelt werden kann. Doch nicht nur durch die unmittelbare Wahrheit einer evidenten Erkenntnis kann Wissen entstehen, sondern auch durch Erfahrung. So vermag der Verstand auf der Grundlage einer einzigen sensitiv vermittelten Erkenntnis und ihrer singulären Aussage eine allgemeine assertorische Aussage zu bilden, die Gegenstand des Wissens sein kann: „Unde notitia evidens unius talis singularis contingentis ,hic calor calefacit' sufficit sine aliis singularibus ad habendum notitiam evidentem de universali"21. Wenn Ockham aber durch dieses Beispiel die tatsächlichen Bedingungen des Entstehens von Wissen bestimmt, so ist es gerade die Bestimmung der wahren Aussage, die von entscheidender Bedeutung für den Wissenschafts-Begriff sein wird. Denn trifft diese Aussage wirklich keine Entscheidung über die Existenz oder Nicht-Existenz des Objekts, dem sie gilt, sondern nur über die Tatsache der korrekten Supposition, dann ist das Wissen, dessen Bestandteil diese Aussage ist, ein Wissen um Begriffe. Diese sind mithin der ausschließliche Gegenstand der Wissenschaft. Kann dann natürlich die Frage auftreten, ob denn der perzipierende Verstand überhaupt noch eine Beziehung zur faktischen Existenz der perzipierbaren Objekte schaffen kann, so bleibt eine solche Beziehung auch noch bei Ockham gewahrt, insofern der Prozeß der intuitiven Erkenntnis eine Entscheidung über die Existenz des Objekts auch weiterhin ermöglicht. Der ockhamsche Wissenschafts-Begriff trägt somit in extremer Weise der radikalen Kontingenz der Realität Rechnung, indem die Wissenschaft in jedem Moment wahr bleibt, da sie auf Aussagen basiert, die selbst dann noch wahr bleiben, wenn sich die Objekte, die sie bezeichnen, ändern 23 . Wissen ist für Ockham eine real existierende Qualität der Seele 24 , so wie auch den Universalien zwar keine extramentale, wohl aber mentale Existenz tatsächlich zuerkannt werden kann.

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Summa Logicae, II, 2, 250, 1 5 - 1 6 . Op. cit., II, 2, 250, 3 2 - 3 5 . Op. cit., III—2, 10, 523, 2 9 - 3 1 . „Ex praedictis patet quomodo de corruptibilibus et mobitibus potest esse una scientia, nam talibus est unum commune de quo necessario praedicantur propriae passiones." Prologus in expositionem super VIII libros Physicorum, § 4, 12, 64—66. „... quod scientia vel est quaedam qualitas existens subiective in anima vet est collectio aliquarum taliam qualitatum animam informantium ..." Op. cit., § 2, 4, 44—5, 4.

Der Begriff der scientìa bei Levi ben Gerson

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Werden diese Ergebnisse nun auf die Definition einzelner Wissenschaften übertragen, so folgt etwa für die Naturwissenschaft: „Sedproprie loquendo scientia naturalis est de intentionibus anirnae communibus talibus rebus et supponentibus praecise pro talibus rebus in multis propositionibus"25. Gegenstand der Wissenschaften ist der Begriff und die Methode, durch die aus mehreren Begriffen Wissen gewonnen wird, ist der Syllogismus. Folglich können sich die Wissenschaften nicht primär durch ihren Gegenstand unterscheiden, da ihnen prinzipiell ein einziger Gegenstand eignet 26 . Führt Ockham weiter aus, daß die Wissenschaften, gleichwohl sie einen einzigen Gegenstand haben, eine Ansammlung differierender WissensHabitus sein können, so folgert er, daß es nicht ein einziges Subjekt dieser Wissenschaften geben könne: „Tertia conclusio sequens est quod talis scientia una unitate collectionis non habet unum subiectum, sed secundum diversas partes habet subiecta diversa. Quia subiectum scientiae non potest vocari nisi illud de quo scitur aliquid ..."21. Dasjenige, de quo scitur aliquid ist nicht die faktische Realität der Dinge, sondern ihrer Zeichen. Wenn Ockham schließlich weiter fordert, daß das subiectum scientiae dasjenige sei, quod reeipit scientiam et habet scientiam in se subiective28, bleibt nur die Möglichkeit, daß das Subjekt der Wissenschaft ipsemet intellectu sei 29 . Der Intellekt aber ist ein einziger in der Gesamtheit seiner Vermögen, die zur ungehinderten und optimalen Funktion keiner substantiellen Vervielfältigung bedürfen.

L e v i ben G e r s o n An diesem Punkt der Darstellung wird nun wiederum der eminente Unterschied ockhamscher und gersonidischer Theorien deutlich, denn anders als Wilhelm von Ockham stattet Gersonides den aktiven Intellekt mit einer beachtlichen Vielfalt verschiedenartigster Funktionen aus. Noch in der aristotelischen Tradition stehend, geht er von einem aktiven, einem materiellen und, in Ergänzung, von einem erworbenen Intellekt aus, wobei dem ersten Verstand das Attribut der reinen Aktualität, dem zweiten Verstand das Attribut der reinen Potentialität und dem dritten Verstand das Attribut der aktualisierten Potentialität zukommt. Als letzte der Sphären-Intelligenzen ist der aktive Intellekt eine kosmische Substanz, die im 25 26

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Op. cit., §4, 11, 1 8 - 2 0 . „Per idem ad secundum dico quod logica per hoc distinguitur a scientiis realibus quia scientiae reales sunt de intentionibus, quia de universalibus supponentibus pro rebus: quia termini scientiarum realium quamvis sint intentiones, tarnen supponunt pro rebus; sed logica est de intentionibus supponentibus pro intentionibus." Op. cit., § 4, 12, 46 — 50. Op. cit., § 3, 8, 6 4 - 6 7 . Op. cit., §3, 8, 7 1 - 9 , 72. Op. cit., § 3, 9, 7 4 - 7 5 .

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gersonidischen System als stellvertretende Instanz mit Ausnahme der ersten Verursachung des Universums sämtliche Funktionen der Gottheit auszuüben vermag. Die Vielfalt dieser Funktionen reicht von der Formung der Materie über Ermöglichung individueller Providenz bis zur Ausführung der Wunder 30 . Damit erweitert Gersonides die Anzahl und die Qualität der möglichen Aktionen dieser Intelligenz etwa im Vergleich zu seinem Vorgänger Mose ben Maimón um ein vielfaches, was sich durch sein Bestreben erklärt, auch theologische Vorstellungen und Dogmen der rationalen Beweisbarkeit zu eröffnen. Da eine derartige Interpretationsmethode allerdings nicht auf Gott anzuwenden gewesen wäre, nutzt Gersonides die averroistische Konzeption des aktiven Verstandes als irdische Repräsentation Gottes. Für den vorliegenden Kontext ist die Auffassung dieses Verstandes, die sich in den ,Milhamot ha-Shem' findet, von besonderer Bedeutung, da auch die Verursachung aktueller Erkenntnis in die Kompetenz des aktiven Intellekts fällt, wobei er den potentiellen Erkenntnisbestand des materiellen Verstandes mittels operationeller Konjunktion aktualisiert. Mit dieser Theorie steht Gersonides wiederum in unmittelbarer Gefolgschaft des Averroes. Denn wenn es darum geht, die Möglichkeit einer Vereinigung des numerisch einen kosmischen Verstandes mit der Pluralität individueller menschlicher Intellekte zu klären, erweist sich eine substantielle Vereinigung sofort als undenkbar, da dieses für den aktiven Verstand Multiplizierung und damit einhergehend Verlust der substantiellen und wesenhaften Einheit bedeuten würde. Im umgekehrten Verhältnis würde für die individuellen materiellen Intellekte in ihrer Pluralität folgen, daß sie sich sämtlich der einen übergeordneten Substanz des aktiven Verstandes subsumieren müßten, so daß der Verlust ihrer Individualität unumgänglich wäre 31 . Die Lösung dieses Dilemmas formulierte Averroes durch das Konzept der operationeilen Konjunktion, die eine akzidentelle Multiplizierung des aktiven Verstandes bedeutet: „Sunt enim duo per diversitatem actionis eorum; actio enim intellectus agentis est generare, istius autem informari. 30

Zur Formung der Materie durch den aktiven Intellekt: „... rather these individuals acquire their existence from the knowledge that the Agent Intellect possesses of this order." Wars of the Lord, I, IV, 136; zitiert nach der Übersetzung der ,Milhamot haShem' durch S. Feldman, Philadelphia 1984—1987. Diese Übersetzung umfaßt Buch I —IV. Weitere Teilübertragungen des gersonidischen Textes ,Milhamot ha-Shem', Leipzig 1866 liegen vor: B. Kellermann, Die Kämpfe Gottes, Buch I—IV, Schriften der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, Band 3, Berlin 1914; Ch. Touati, Les guerres du Seigneur, Buch III—IV, Études Juives, Band 14, Paris 1968; D. Bleich, Providence in the Philosophy of Gersonides, Buch IV, New York 1973; D. Silverman, Prophecy in Gersonides, Buch II, Columbia University 1973 und N. Samuelson, Gersonides on God's knowledge, Buch III, Toronto 1977.

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Die Problematik einer Vereinigung der verschiedenen Intellekte diskutiert: S. Feldman, Gersonides on the possibility of conjunction with the Agent Intellect, in: Association for Jewish Studies Review 3 (1978), 9 9 - 1 2 0 .

Der Begriff der scientia bei Levi ben Gerson

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Sunt autem unum quia ìntellectus materialis perficitur per agentem et intelligit ipsum"32. Die Einheit der kosmischen Substanz bleibt in diesem Modell ebenso bestehen, wie die Vielheit der menschlichen Verstandesvermögen, denn die Vereinigung erfolgt lediglich im Augenblick der aktualisierten Erkenntnis. Da Gersonides also an der averroistischen Interpretation der überkommenen Dreiteilung des Intellekts festhält, weicht er auch in der Frage der Ermöglichung dieser aktualisierten Erkenntnis nicht von dessen Auffassungen ab. Durch die sensitive Perzeption wird ein materielles Objekt in seiner faktischen Existenz wahrgenommen, durch die vis imaginativa zum potentiellen Intelligiblen abstrahiert und schließlich durch den aktiven Verstand als aktuelle Erkenntnis aktualisiert 33 . Die Summe der aktualisierten Intelligibilia konstituiert den erworbenen Verstand. Bis zu diesem Punkt der Argumentation steht Gersonides mithin uneingeschränkt in der Gefolgschaft des Averroes und es wäre mit Sicherheit nicht zu vermuten gewesen, daß sich gerade auf dieser Basis Theoreme bezüglich der Wissens-Diskussion hätten entwickeln können, die denen des Wilhelm von Ockham vergleichbar wären. Der Umschlag averroistischer in nominalistische Tendenz erfolgt tatsächlich erst bei der detaillierten Darstellung des Wissens und seines Gegenstandes. Von zentraler Bedeutung für die Verdeutlichung dieses sehr eigenartigen Umschlagens sind zwei Partien der ,Milhamot ha-Shem', nämlich das erste und das dritte Buch. Im dritten Buch erfolgt ein Vergleich göttlichen und menschlichen Wissens: „It has been previously shown that these particulars are ordered and determined in one sense, yet contingent in another sense. Accordingly, it is evident that the sense in which God knows these particulars is the sense in which they are ordered and determined, as is the case with the Agent Intellect" 34 . Die Tatsache, daß Gersonides dem göttlichen Verstand die Möglichkeit abspricht, ein Wissen um die kontingenten Dinge der extramentalen Realität zu erwerben, wäre zwar durchaus von theologischer Bedeutung, insofern sie etwa jeglicher individuellen Providenz ihre Grundlage entziehen würde, doch was sie in diesem Zusammenhang interessant erscheinen läßt, ist der Umstand, daß auch dem menschlichen Verstand eine Erkenntnis des Kontingenten offensichtlich unmöglich ist. Denn im Verlauf der Diskussion des dritten Buches erbringt Gersonides den Nachweis, daß göttliches und menschliches Wissen weder aequivok noch univok prädiziert werden, sondern daß beide Erkenntnisweisen und die damit einher-

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Averrois Cordubensis commentarium magnum in Aristotelis De Anima libros, (Corpus Commentariorum Averrois in Aristotelem, Band VI, 1), Cambridge 1953, III, 20, 215 — 219. Zur Einheit des Aktiven Intellekts in diesem Prozeß: Wars of the Lord, I, VI, 147. Op. cit., III, IV, 117.

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gehenden Möglichkeiten des Wissenserwerbs sich ausschließlich durch die priorische und posteriorische Existenz ihrer Verwirklichung und deren Prädikation unterscheiden. „The first of these features — in divine knowledge one piece of knowledge is proper to and encompasses many things different in species — is a feature characteristic of our knowledge as well, (i. e.,) when we know these many things from the aspect by which they are unified" 35 . Damit erlangt die Bestimmung des göttlichen Wissens allgemeine Gültigkeit. Wenn das Wissen aber in diesem Verständnis einheitliches Wissen einer Vielheit von Erscheinungen ist, dann kann es ausschließlich Wissen um einen Allgemeinbegriff sein, denn wie sollte sonst die Vielheit Gegenstand des Wissens sein können? Wenn damit aber auch für Gersonides dieser Gegenstand kein anderer als der Begriff in seiner ihm eigentümlichen Verweisungsfunktion zu sein scheint, so müßten sich in seinen Darlegungen auch diejenigen Theoreme zumindest ansatzweise finden lassen, die für Wilhelm von Ockham aus dieser Bedingung folgten: daß das Singuläre intellektuell wahrnehmbar ist, daß das Universale kein extramentales Ding ist und daß das Wissen unabhängig von einer möglichen Falsifikation durch konkrete Erkenntnisse stets wahr bleibt. Diese letzte Folgerung gilt auch für Gersonides, wenn er konstatiert „... is a feature of our own knowledge when we obtain such knowledge insofar as it is ordered. For even though the opposite of what was predicted actually happens, our original knowledge remains unchanged with respect to the general ordering of these events ..." 3 6 . Gegenüber einer kontingenten Realität bleibt also auch für Gersonides das Wissen in jedem Augenblick wahr, was nur dann der Fall sein kann, wenn es sich u m ein Wissen um Begriffe handelt. „... with respect to God's knowledge of the division of a continuous magnitude. Our hypothesis that God has complete knowledge of the divisibility of a continuous magnitude does not entail that by virtue of this knowledge this division terminates in indivisibles. What it entails, however, is that God knows this division in its true nature, i. e., that anything into which the continuous magnitude has been divided can be divided further indefinitely; but God does not know the end of a division that by nature has no end" 37 . Das Wißbare ist auf das logisch Mögliche begrenzt. Im dritten Buch äußert sich Gersonides ausführlich zur Beschaffenheit dieses Wißbaren: „For individuals are not known as individuals (and this is the sense in which they are infinite) through definitions and universal propositions. Rather ... they are known as a unit, i.e., as (instances of) a common nature ..," 3 8 . 35 36 37 38

Op. Op. Op. Op.

cit., cit., cit., cit.,

III, III, III, III,

V, 132. V, 134. IV, 128. II, 102.

Der Begriff der scientia bei Levi ben Gerson

663

Scheint diese Aussage aber nicht der Feststellung zu widersprechen, daß weder Gott noch Mensch ein Wissen von dem Partikulären erlangen kann? Eine genauere Untersuchung der Aussagen, die Gersonides zum Individuellen, zur Definition und zum Allgemeinen macht, kann durchaus dazu herangezogen werden, diesen scheinbaren Widerspruch zu klären. So wird etwa im zehnten Kapitel des ersten Buches der ,Milhamot ha-Shem' deutlich, daß bei der Verwendung des Begriffes des Individuums eine zweifache Bedeutung zu unterscheiden ist: „Accordingly, it is evident that the object of knowledge as such does not refer to each and every one of an infinite number of individuals; rather it denotes an individual only as any individual whatever, and this is a thing that could exist outside the mind" 39 . Indem Gersonides in dieser Weise zwischen bestimmtem und beliebigem Individuum unterscheidet, scheint er der unübersehbaren Schwierigkeit entgehen zu wollen, die entsteht, wenn die Annahme eines aktiven Verstandes mit der Forderung nach dem singulären Charakter eines Wissensobjektes verknüpft werden soll. Zwischen der uneingeschränkten Immaterialität stets aktueller Intelligibilia im aktiven Verstand und der durch materielle Verursachung bedingten Potentialität des Intelligiblen im individuellen menschlichen Verstand muß er eine Möglichkeit der Erkenntnis und des Wissenserwerbs zu etablieren suchen, die beide Extreme auf das Maß einer Vermittelbarkeit reduziert. Um diese Möglichkeit schaffen zu können, nimmt Gersonides zwei nicht unerhebliche Präzisierungen vor, die zwar die traditionellen Theorien nicht grundlegend verändern, aber doch so weit auf eine bestimmte Lesbarkeit festlegen, daß sie sich seiner gesamten Intention des Nachweises unterordnen: Auch das Wissen im aktiven Verstand ist ein Wissen um das beliebige Individuum 40 und die Abstraktion des Intelligiblen von den materiellen Bestandteilen des faktisch gegebenen Objektes ist nicht mehr der erste, sondern der zweite Schritt im Erkenntnisprozeß: „... for it has been shown that the existence of the object of knowledge is the cause of the existence of the sensible object, which is indeed derived from the object of knowledge as existing in the soul of the Agent Intellect. The existence of the sensible object is, however, responsible for the occurrence of the object of knowledge in us, but not for its existence as such. Hence, it is evident that once we are in possession

39 40

Op. cit., I, X, 194. Dieses kann aus zwei Äußerungen des Gersonides gefolgert werden: „For the image in no way becomes intelligible, since the particular is, as particular, not knowable; rather, what is known is the order corresponding to the image as present in the Agent Intellect." Op. cit., I, X, 206 und „If one cannot know one of the correlatives, he cannot know in any way the other; for correlatives are defined in terms of one another." Op. cit., I, X, 186. Wenn der aktive Intellekt über ein Wissen um die Ordnung verfügt, muß ihm auch die dieser Ordnung korrespondierende Vielheit beliebiger Individuen bekannt sein.

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of an object of knowledge, it is not necessary that a corresponding sensible object also exist" 41 . Damit trägt auch Gersonides der radikalen Kontingenz der extramentalen Realität Rechnung und schafft aus diesem Grund die Möglichkeit eines Wissens, das so weit wie irgend denkbar unabhängig von der tatsächlichen Verursachung durch reale Objekte entstehen kann und sich folglich auch unabhängig von der Existenz dieser Objekte im Zustand der Wahrheit zu erhalten vermag. Dabei bleibt aber bei Gersonides wie auch bei Wilhelm von Ockham natürlich die Tatsache bestehen, daß der Intellektionsvorgang niemals völlig aus der zumindest theoretischen Abhängigkeit von der sensitiven Perzeption entbunden werden kann 42 . Hatte letzterer dessen ungeachtet die Forderung des singulare intelligitur aufgestellt, so gilt diese sicherlich auch für Gersonides, da das singulare bei ihm durch das beliebige Individuum repräsentiert wird. Die zeitliche Priorität der Existenz des perzipierbaren Objektes im aktiven Verstand vor der Existenz in der extramentalen Realität legt es sogar nahe, auch die ockhamsche Formel des singulare primo intelligitur auf das gersonidische Denken zu übertragen, da die erste Erkenntnis für ihn Erkenntnis des beliebigen Individuellen ist, die dem Wissen im aktiven Verstand korrespondiert. „Now that we have demonstrated that the object of knowledge is either a concept or a proposition and that neither is a universal but represents any individual whatever ... it is evident that the claim that the objects of knowledge are universals is false. We have also shown that the universality which is inherent in some sense in the universal proposition does not imply that the object of knowledge is different from what exists" 43 . Das beliebige Individuum ist nicht als solches Gegenstand des Wissens, sondern mittels Repräsentation durch ein sprachliches Zeichen, das in seiner Funktion selbst ein Singuläres ist, da es keine Vielheit bestimmter Individuen im Sinne umgreifender Allgemeinheit darstellen kann 44 . Hat Gersonides aber den Begriff zum tatsächlichen Gegenstand des Wissens gemacht, so verwundert es keineswegs, wenn er in nicht mehr zu übersehender Vergleichbarkeit zu Ockham für das Entstehen einer wahren Aussage als Bestandteil wahren Wissens fordert: „For a (true universal) proposition does not imply the existence of the subject; rather it asserts 41 42

43 44

Op. cit., I, X, 201. „Rather, the correct relationship is that which obtains between light and the visible objects: the former makes the latter, which are potentially visible, actually seen but without the colors ... being actually in it. The Agent Intellect too makes the imaginative forms ... actual objects og knowledge." Op. cit., I, VI, 148. Op. cit., I, X, 195. Exemplarisch zeigt Gersonides dieses an einer Bestimmung der Funktion der Definition: „A definition, however, by its nature informs us of the essence of each one of the individuals that are comprehended by this definition. Hence, it is evident that the definition is not a definition of a universal." Op. cit., I, X, 187.

Der Begriff der scientia bei Levi ben Gerson

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that the predicate is true of the subject, if the latter exists, or it negates this predicate of the subject .,." 4 5 . Auch hier resultiert die Wahrheit einer Aussage aus der Tatsache der korrekten Supposition und die Wahrheit der Wissenschaft aus der Verknüpfung wahrer Aussagen, die nicht universale Aussagen sind 46 . Doch ebensowenig wie bei Ockham bedeutet diese Propositionalisierung des Wissensvollzugs bei Gersonides eine Aufhebung jeglicher Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, da er konstatiert: „If such a proposition is true, there must be a correspondence between what exists extramentally and what is thought ..," 4 7 . Die Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem illustriert Gersonides ein weiteres Mal im dritten Buch der ,Milhamot ha-Shem' im Zusammenhang einer Diskussion göttlicher Attribute: „Upon further reflection it appears ... that there are attributes that can be predicated of God and man in the sense of prior and posterior predication without implying any plurality in Him. For not every proposition about the essence of something implies a plurality in that thing. It does imply a plurality in the thing if one part of (the proposition) serves as a real subject (i.e., genus) for the other part (of the proposition). But if (the former part) is not a real subject, although it is a linguistic subject, the proposition does not imply a plurality. For example, when we say ,this redness is a red color', it does not follow from this assertion that the redness is composed of color and red, for the color is not a thing existing (by itself and serving as) a (real) subject for red. It is only a linguistic subject" 48 . Diese Unterscheidung zwischen real subject und linguistic subject, durch die Gersonides eine reale Pluralität göttlicher Attribute zurückzuweisen sucht, erinnert in ihrer Bezogenheit auf eine zugrundeliegende Aussage über das Wesen des Subjekts selbst sehr stark an eine Argumentation des Wilhelm von Ockham in seiner ,Summa Logicae', wo es heißt: „Sicut si quaeratur ,quid est album', convenienter respondetur quod est coloratum ... Quia sic quaerendo vel demonstras subiectum albedinis, et tunc manifestum est quod non convenienter respondes; vel demonstras albedinem, et manifestum est quod non convenienter respondes per ¡coloratum', nam albedo non est colorata ... vel demonstras ilium terminum, et manifestum est quod ille terminus non est coloratus"49. In beiden Texten bildet die Frage quid est den Hintergrund der Argumentation und beide Texte bieten eine hypothetische Antwort, deren Unkorrektheit anschließend erwiesen wird: „This redness is a red color" und „coloratum". Wenn Gersonides nun daraufhinweist, daß color und red 45 46 47 48 49

Op. cit., I, X, 193. Hierzu nochmals Op. cit., I, X, 195. Op. cit., I, Χ, 189. Op. cit., III, III, 112. Summa Logicae, I, 18, 63, 3 6 - 4 8 .

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ausschließlich sprachliche Zeichen und color ausschließlich ein sprachliches Subjekt sein könne, bestätigt sich damit die Forderung nach einer korrekten Supposition als Grundlage einer wahren Aussage. Analog dazu sind auch bei Ockham albedo und coloratus sprachliche Zeichen und albedo könnte lediglich als sprachliches Subjekt fungieren. Mithin illustrieren beide durch die Wahl des Beispiels die Tatsache, daß die Begriffe als Zeichen für weitere Zeichen und erst danach für real existierende Dinge supponieren. Natürlich ist es keineswegs als innovative Leistung des Gersonides zu verstehen, daß er gerade im Nachweis der essentiellen Einheit Gottes auf sprachtheoretische Aspekte zurückgreift, war doch etwa die Diskussion einer aequivoken Prädikation bereits bei Mose ben Maimón ein Versuch gewesen, diese Einheit zu beweisen. Die Tatsache jedoch, daß Gersonides hier eine Reduktion der Begriffe auf ihre Funktion als Zeichen im sprachlichen Vollzug vornimmt, hat keinerlei Vorbild im Bereich der jüdischen Philosophie des Mittelalters und auch die Tatsache, daß das aktuelle Wissen im aktiven Intellekt ein Wissen um das beliebige Individuelle ist, zeigt keinen Bezug auf Theoreme möglicher Vorgänger unter den jüdischen Philosophen. Es ist zwar mit Sicherheit festzuhalten, daß sich die averroistische und die nominalistische Position in der Universalienfrage nicht grundsätzlich unterscheiden, da beide von einem mentalen Bestand der Universalien ausgehen, doch findet sich in den Schriften des Averroes keine der ockhamschen Suppositionslehre vergleichbare Theorie, was die Vermutung nahelegt, daß Gersonides allein auf der Grundlage und in Kommentierung dieser Schriften nicht zu einer Annahme solcher Vorstellungen hätte gelangen können, die extrem an suppositionslogische Ansätze erinnern. Die Unmöglichkeit eines Versuches, derartige Ansätze auf eine traditionelle Intellektlehre nach aristotelisch-averroistischem Vorbild zu übertragen, bleibt dabei natürlich bestehen und führt zu dem Eindruck der Inkonsequenz, der die Lektüre der gersonidischen Texte zwangsläufig zu begleiten scheint. Für die dieser Darstellung zugrundeliegende Frage nach einem möglichen Pendant zu der Umwandlung des scientia-H&gúífe der christlichen Scholastik innerhalb der jüdischen Philosophie jener Epoche ergibt sich die Überzeugung, daß es ein solches Pendant in den Theorien des Levi ben Gerson tatsächlich gegeben hat, das sich in erster Linie in der Propositionalisierung des Wissens-Begriffs ausdrückt. Deutliche Ansätze einer Suppositionslehre verstärken diesen Eindruck. Ein zweiter Schritt ist es freilich, diese Ansätze mit jenen des Wilhelm von Ockham zu vergleichen und ein dritter Schritt wäre es, aus der Vergleichbarkeit auf eine faktische Beeinflussung zu schließen. Nach dem bislang geprüften Material scheint es legitim zu sein, die ersten beiden Schritte für gegeben, den dritten zumindest für möglich zu halten.

Scientia

bifrons

Les ambivalences de la 'hokhmâh (sapientiaj scientia) dans la pensée juive du moyen âge occidental après Maïmonide JEAN-PIERRE ROTHSCHILD

(Paris)

Nous allons traiter d'une double ambiguïté. Ou plutôt, l'une recouvre l'autre, laquelle la conditionne entièrement, de telle sorte que, pour résoudre l'une, c'est de l'autre qu'il faut parler. L'une regroupe sous un même terme une scientia ou sapientia, science ultime et contemplative, et des scientiae, les disciplines particulières, objet de rationalité discursive; l'autre, qui fera l'essentiel de notre propos, porte sur la nature de la scientia I sapientia. Les relations difficiles entretenues dans le judaïsme médiéval entre les adeptes de la philosophie, les tenants de la spéculation kabbalistique et les partisans exclusifs de l'étude des préceptes de la Loi paraissent avoir été moins atténuées qu'exprimées et entretenues par l'ambiguïté, voire la polyvalence, du terme de 'hokhmâh. La langue biblique conférait surtout à ce terme, quand il était appliqué à l'homme, les sens d'aptitude technique et d'habilité, de ruse; c'est aussi une sagesse morale, tirée de l'expérience méditée, ou déduite de la crainte de Dieu, que celle du roi Salomon et des livres bibliques justement dénommés sapientiaux. Il se peut que, dans l'hébreu michnique (—lile/ + IIIe s. de l'ère chrétienne), le terme ait encore été chargé du sens technique initial et que par 'hakhâmîm, qui désigne les rabbins, docteurs de la Loi, on ait signifié quelque chose comme les periti ou les prudentes chez les jurisconsultes latins: les détenteurs de la science juridique. Dans cette hypothèse, c'est l'identification du savoir juridique relatif à la Loi avec le tout du savoir permis et prescrit aux juifs, qui expliquerait l'évolution ultérieure. Ce qui est sûr en tout cas, c'est que l'hébreu du moyen âge entend par 'hokhmâh un savoir théorique ou sacré: on désigne toujours sous le nom de 'hakhâmîm les rabbins de l'époque de la Michnah et du Talmud, détenteurs d'une connaissance de la Loi d'une profondeur désormais inaccessible dont il est évident, toutefois, qu'elle ne leur confère pas seulement une supériorité technique sur les modernes; on dénomme encore 'hokhmâh — en concurrence avec melâkhâh, qui correspondrait mieux au

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latin ars, mais sans le supplanter jamais dans cet emploi 1 — une discipline du trivium

ou du quadrivium·,

on n o m m e aussi 'hokhmâh

par excellence la

sagesse suprême à laquelle atteint le croyant dont les intentions sont purifiées, ou celui qui a pénétré les secrets de la doctrine ésotérique, ou encore celui qui a suivi les voies de la sagesse philosophique. Cependant, la 'hokhmâh est aussi la sagesse supérieure et opératoire avec laquelle Dieu a créé le monde: on met couramment en rapport les versets be-rê'shît bârâ' Elôqîm 'et ha-shâmayyîm 'hokhmâh y ir'at ha-Shêm (Ps. 111, 7; rê'shît dans lequel, ou par lequel, en

we-'et

hâ-'ârets

( G n . 1, 1) et

Rê'shît

cf. Pr. 1, 7) pour en déduire que le vertu de l'ambivalence du préfixe be-, Dieu créa le monde, est identique à la sagesse divine 2 . C'est encore la Sagesse qui parle au livre de Job (et ailleurs) pour énoncer les maximes sapientielles. Par là, il apparaît que la sagesse humaine puisse être mise en rapport avec la vertu divine de même nom: soit qu'il s'agisse d'un rapport d'identité, comme le portera la doctrine averroïste de l'union avec l'intellect agent ou, selon Paul Kraus 3 , l'interprétation jâbirienne de l'imitation de Dieu, soit d'une «homonymie» au sens de Maïmonide 4 , qui exclut toute conaturalité entre l'une et l'autre et n'admet qu'une similitude dans les effets, soit encore d'une égalité de rapports, dans le cas du philosophe qui constitue et administre la cité d'une manière analogue à ce que Dieu fait à l'échelle du monde 5 . Or le mot de 'hokhmâh apparut d'autre part sous la plume des traducteurs hébreux de la philosophie arabe, d'une part pour rendre le grec sophia, ar. 'hikma, désignant un savoir ayant pour objet les principes 6 : il se passait en hébreu le contraire de ce qui s'était passé en grec, où le terme profane 1

2

3

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Au moyen-âge, les deux mots semblent s'employer indifféremment. V. notamment la définition de 'hokhmâh dans le Peyrush millôt zarôt, l'«Explication des mots difficiles [de sa traduction en hébreu du Guide des égarés]» par Samuel Ibn Tibbon. L'identification est ancienne; be-rê'shît est traduit dans le Targum palestinien (Vile—Ville s.) par be-'hokhmata\ cf. G. Vajda, Recherches sur la philosophie et la kabbale dans la pensée juive du moyen-âge, Paris—La Haye 1962, p. 59; le Talmud de Babylone, 'Hagîgâh 12 a, énonce que le monde fut créé par dix choses, dont la première est la sagesse. L'artisan humain imite le démiurge, créateur de l'Univers, en exerçant lui-même un pouvoir de création. Cf. L. V. Berman, «The Political Interpretation of the Maxim: The Purpose of Philosophy is the Imitation of God», Studia islamica 15 (1961), 53—61 (55). Guide des égarés, Introduction, trad. S. Münk, n"c éd., Paris, 1960, 1.1, 6 — 7; I, 56, ib., 227-230. Telle est selon Berman, art. cit., 57 — 59, la conception d'Al-Fârâbî, notamment exprimée dans la Recherche du bonheur (Tahsîl al-Sa'âda), où le parfait philosophe est défini comme celui qui, ayant acquis les sciences spéculatives, les met en œuvre et s'identifie au roi, au législateur et à l'imâm. Définition classique, d'après Métaph. A, I, 981 b 25 sqq.: e. g. Al-Fârâbî, Fusûl al-madanî, § 49, éd. Dunlop, Cambridge 1961, 48, «Since wisdom {'hikma) is particularly knowledge of the ultimate causes of every late existent»; s. Thomas d'Aquin, ST, la, p., q. 1, 6° ag. 1: «nulla enim doctrina quae supponit sua principia aliunde, digna est nomine sapientiae, quia sapientis est ordinare non ordinari».

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sophia, tout en poursuivant sa carrière philosophique, avait été employé par les Septante pour désigner la Sagesse biblique; cette fois, c'était le mot biblique, 'hokhmâh, qui était laïcisé pour rendre le sens profane de la sophia. Et le même terme, dont nous avons dit la polysémie ancienne, servit aussi à rendre le mot de téchnè. C'est sur la nature de la 'hokhmâh en tant que sapientia, but de la recherche de l'homme, entendue par toutes les parties en présence dans le débat du judaïsme médiéval comme le savoir ultime, que porte l'essentiel des controverses au moment où entrent en conflit les tenants des voies traditionnelles, les adeptes de la philosophie gréco-arabe et les kabbalistes, c'est-à-dire en Espagne, en Provence et en Italie, à partir de la fin du X l l e siècle. Il nous semble significatif, à ce titre, que le dernier chapitre du Guide des égarés de Maïmonide (III, 54) soit consacré à une distinction des différentes définitions de la 'hokhmâh, ou plus précisément à trois niveaux successifs de distinctions. Nous nous attacherons à essayer de les analyser et de préciser les implications de ce chapitre, qui établit clairement que le niveau ultime auquel doit tendre l'homme est un niveau pratique. Nous esquisserons à grands traits quelques-unes des interprétations courantes qui en furent données dans les milieux philosophiques, sans perdre de vue le thème central de notre colloque et donc en ayant à l'esprit les conséquences de ces interprétations quant à l'ordonnancement des différents savoirs humains, — 'hokhmôt —, entre eux et par rapport à la 'hokhmâh. Le ch. III, 54 du Guide des égarés fournit trois classifications successives regardant la 'hokhmâh. La première est générale, au niveau du langage, la deuxième porte sur le point épineux des rapports de la Tôrâh et de la 'hokhmâh, la dernière ordonne les différents types de sagesse aux fins de l'homme. I. — «Le mot 'hokhmâh [dont on ne sait s'il est en hébreu dans le texte original, arabe en caractères hébreux, du Guide, ou bien en arabe 7 ], s'emploie dans la langue hébraïque en quatre sens (tr. Münk, t. III, pp. 457—458): I o II se dit de la perception des vérités (philosophiques) (1A) qui ont pour dernier but la perception de Dieu (1B) ... 2° Il se dit de la possession d'un art (ou d'une industrie) quelconque (2) ... 3° Il s'applique à l'acquisition des vertus morales (3) ... 4° Il s'emploie aussi dans le sens de finesse et de ruse» (4). Le premier sens comporte une ambiguïté qui correspond à l'un des thèmes centraux de l'interrogation sur les notions médiévales de scientia et de sapientia, puisqu'il distingue un 7

S. Pinès, The Guide of the Perplexed, Chicago 1969, 633, η. 10: «It is not quite clear whether Maimonides uses here the Hebrew word 'hokhmah or the Arabic word 'hikma, spelled in the same way. The Arabic word also connotes (philosophy). The Hebrew word may also have this connotation, and if Maimonides used it here, he undoubtedly had this connotation in mind».

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«objet» d'un «but» et des savoirs subordonnés, d'une sapience ultime et totale 8 : même incertitude que dans la sophia d'Aristote 9 sur le point de la science générale qui s'ajoute à, ou se résout dans, l'ensemble des sciences particulières. II. —Second niveau de distinction (Münk, p. 458): «Selon cette explication, celui qui est instruit dans la Loi entière, et qui en connaît le vrai sens, est appelé 'hâkhâm à deux points de vue, parce qu'elle embrasse à la fois les qualités intellectuelles (1) et les qualités morales (2). Mais, comme les vérités intellectuelles de la Loi sont admises traditionnellement, sans être démontrées par des méthodes spéculatives, il arrive que, dans les livres des prophètes et dans les paroles des docteurs, on fait de la science de la Loi (3) une chose à part et de la science absolue une chose à part. Cette science absolue (4) est celle qui fournit des démonstrations pour toutes ces vérités intellectuelles que nous avons traditionnellement apprises par la Loi». La Loi serait ainsi porteuse d'un savoir en quelque sorte refermé sur lui-même (3), à deux modalités, intellectuelle (1) et éthique (2). Il paraît s'y ajouter en (4) une méthode discursive valant à la fois pour parvenir aux démonstrations rationnelles indépendamment de l'enseignement révélé et pour démontrer les conclusions qui sont contenues dans la Loi, méthode différente en tout cas de la possession des «qualités intellectuelles» (l) 1 0 . III. — La troisième distinction présente quatre perfections de l'homme (Münk pp. 460—462): en fait de possession (1), de santé du corps (2), de mœurs (3), de «vertus intellectuelles (4 A), c'est-à-dire ... concevoir des choses intelligibles qui puissent nous donner des idées saines sur des sujets métaphysiques». Cette quatrième perfection est la plus haute, parce qu'alors que les autres «profitent à d'autres et non à toi, quoique, selon les idées vulgaires, elle profitent nécessairement à toi et aux autres ... cette dernière perfection profite à toi seul» 11 . Mais la fin du chapitre pousse plus loin l'analyse de celle-ci: (4 B) «Partout où l'on parle de la sagesse ('hokhmâh) par excellence, il s'agit de la connaissance de Dieu» (Münk pp. 463—464)12; (4 C) «en exposant, dans 8

La même ambiguïté se retrouvera plus loin, lorsqu'au troisième sens se rapportera la troisième espèce de perfection humaine (Münk, op. cit., 461): «C'est la perfection des qualités morales, ce qui veut dire que les mœurs de tel homme sont bonnes au plus haut point» [dans les relations des hommes entre eux]; au premier sens se rapporte la quatrième et dernière espèce de perfection humaine (Münk, op. cit., 461—462): «Elle consiste à acquérir les vertus intellectuelles, c'est-à-dire à concevoir des choses intelligibles qui puissent nous donner des idées saines sur les sujets métaphysiques» (à quoi s'ajoute le double sens de la vertu).

9

Eth. Nie. VI, 7, 1141 a 5 - 1 1 4 1 b 5. II semble que l'on puisse faire correspondre ici (II, 2) à (I, 3) dans la première distinction et (II, 1) à (I, 1 A). On peut ici poser que (III, 3) correspond à (I, 3) et (II, 2) précédents et (III, 4), apparemment, à (I, 1 A ) et (II, 1). Où l'on inclut aussi (I, B).

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ce verset [Jér. 9, 22—24] 13 , quelle est la plus noble des fins, le prophète ne s'est pas borné à la connaissance de Dieu... mais il a dit: , selon ce que nous avons exposé au sujet des treize attributs de Dieu, à savoir que nous devons avoir pour but de les imiter et de régler d'après eux notre conduite» (Münk p. 465). On accède, cette fois, à un nouvel échelon de la moralité, accessible seulement par l'intellection et qui paraît être sans rapport avec la moralité au premier sens, celle de l'homme obéissant simplement à la Loi (I, 3), (II, 2), (III, 3). Nous sommes donc en présence d'une sagesse morale à deux niveaux: pour le simple fidèle, elle consistera en la confiance en Dieu et en la pratique de la Loi, pour le savant, en une pratique plus désintéressée. Ainsi le «détour» philosophique a des conséquences dans l'ordre de la pratique, menant à une vie selon la loi plus austère, car purifiée des aspirations terrestres, que celle du simple fidèle15: en ce sens, la philosophie et les sciences connexes sont bien une sagesse. Leo Strauss soutient même que la sagesse qui est l'objet de ce chapitre ultime du Guide, c'est bien la sage conduite; seulement, il ne faut pas y voir le point suprême d'une recherche de l'homme s'élevant de la tradition à la démonstration, puis au 13

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«Ainsi a parlé l'Éternel: que le sage ne se glorifie pas de sa sagesse, que le fort ne se glorifie pas de sa force, que le riche ne se glorifie pas de ses richesses; mais ce dont il est permis de se glorifier, c'est de l'intelligence et de la connaissance qu'on a de moi. Car je suis l'Éternel, exerçant la bienveillance, la justice et la vertu sur la terre»; Maïmonide interprète apparemment ici le premier «sage» comme celui qui possède la vertu morale désignée par (I, 3), (II, 2) et (III, 3). La suite, bien que sans importance pour la présente étude, est digne d'attention: «Il ajoute ensuite une autre idée essentielle, en disant: