Kultur und Lebensweise der Deutschen aus Ostmitteleuropa: Kontinuitäten und Brüche vor und nach 1945 [1 ed.] 9783412512125, 9783412511180

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Kultur und Lebensweise der Deutschen aus Ostmitteleuropa: Kontinuitäten und Brüche vor und nach 1945 [1 ed.]
 9783412512125, 9783412511180

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FORSCHUNGEN UND QUELLEN Z U R K I R C H E N - U N D K U LT U R G E S C H I C H T E DER DEUTSCHEN IN OSTMITTELU N D S Ü D O S T E U R O PA IM AUFTRAG DES INSTITUTS FÜR KIRCHEN- UND KULTURGESCHICHTE DER DEUTSCHEN IN OSTMITTEL- UND SÜDOSTEUROPA HERAUSGEGEBEN VON RAINER BENDEL Band 50

KU LT U R U N D LEBENSW EISE DER DEUTSCHEN AUS OSTMITTELEU ROPA Kontinuitäten und Brüche vor und nach 1945

Herausgegeben von

Marco Bogade und Elisabeth Fendl

2018 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Erich Schickling (1924–2012), Brennende Basilika (1975). Hinterglastechnik. Foto: René Schrei (© Erich-Schickling-Stiftung. www.schickling-stiftung.de)

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Lindenstraße 14, D-50674 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Satz: Peter Kniesche Mediendesign, Weeze

ISBN 978-3-412-51212-5

INHALT Vorwort der Herausgeber ...................................................................................... 7 Rainer Bendel Zur Einführung ...................................................................................................... 9 Cornelia Eisler Von „Grenz- und Auslandsdeutschen“ zu Flüchtlingen und Vertriebenen. Die Rolle kirchlicher Verbände und die „Rettung des Kulturguts“....................... 20 Robert Schäfer Aus der Not geboren. Die Regnitzau-Siedlung in Hirschaid und die St. Johanniskirche als bauliche Zeugnisse von Flucht und Vertreibung ............... 35 Stefan Samerski Zwischen Wissenschaft und Heimatpflege. Zur Kultgeschichte der Dorothea von Montau vor und nach 1945............................................................................. 53 Marco Bogade Mutter, Brückenbauerin, Landespatronin? Dorothea von Montau und ihr transregionaler Kultreflex in der materiellen Kultur im 20. und 21. Jahrhundert ...................................................................................................... 66 Chris Gerbing Otto Herbert Hajek: Raum – Farbe – Form. Arbeiten für die katholische Kirche .................................................................................................................... 84 Lydia Bendel-Maidl „Traum von Pickau“. Heimatverlust und Mystik in den Werken Erich Schicklings .................................................................................................. 107 Helmut Scheunchen Deutschbaltische Komponisten – Umgesiedelt und nicht mehr angekommen ..... 131 Grzegorz Poźniak Das Schicksal der Orgelbaufirma „Berschdorf“ aus Neisse/Nysa in den Kriegsjahren und der Nachkriegszeit .................................................................... 143

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Inhalt

Michael Hirschfeld Schlesische Komponenten im Liedgut der deutschen Vertriebenen nach 1945 .............................................................................................................. 151 Tafeln ................................................................................................................... 177 Dokumentation ................................................................................................... 170 Martin Kirchbichler Hedwigskirchen in Deutschland vom 18. bis 20. Jahrhundert .............................. 171 Autorenverzeichnis............................................................................................ 199 Orts- und Personenregister.............................................................................. 201

VORWORT DER HERAUSGEBER Die diesem Band zugrundeliegende, international besetzte Tagung des Instituts für Kirchen- und Kulturgeschichte der Deutschen in Ostmittel- und Südosteuropa e.V. (Tübingen) untersuchte multidisziplinär die vielfältigen Wechselbeziehungen von (populärer) Frömmigkeit und Liturgie im Zusammenhang mit Kriegs-, Migrationsund Vertreibungserfahrungen. Im Sinne der Netzwerkforschung sind vor allem die spezifischen Transfer-, Vermittlungs- und Rezeptionsprozesse für die (trans-)regionale Kulturgeschichte von Interesse. Das Jahr 1945 brachte ganz Mittel- und Ostmitteleuropa tiefgreifende politische und wirtschaftliche Veränderungen, mit der eine Zäsur im kirchlichen, kulturellen, künstlerischen und sozialen Leben und Miteinander einherging. Kontinuitäten und Brüche bestimmten nicht nur Erfahrungen, die Migrierte bzw. Vertriebene – individuell oder als soziale Gruppe verstanden – in Folge der politischen Neujustierungen machten und die häufig traumatische Erlebnisse miteinschlossen, sondern die bis heute auch gleichermaßen das soziale Gefüge in den verlassenen, wie auch in den Aufnahme-Regionen prägen. Die Orientierungssuche in neuen geografischen, politischen und sozialen Kontexten sowie der Neuaufbau von kultureller Umgebung im Spannungsfeld von Kontinuität, Tradition und Brüchen wirkten sich nachhaltig auf die materielle wie die immaterielle Kultur aus. Im Zusammenhang mit dem Jahr 1945 sind Kontinuitäten und Brüche kein deutsches, kein polnisches, kein tschechisches, sondern ein transregionales, gesamteuropäisches Phänomen. Der Neuanfang, das soziale, kulturelle und religiöse Zusammenfinden, geschah nach der Zäsur von 1945 auf deutscher Seite auf verschiedenen Ebenen, manifestierte sich in der Gründung nicht nur kirchlicher Verbände und Gemeinschaften (zum Beispiel der Ackermann-Gemeinde), sondern auch im Aufbau von Landsmannschaften und materialisiert sich bis heute in der Gründung und Betreuung spezifischer Museen, wie etwa dem Ost- und Westpreußischen sowie dem Pommerschen Landesmuseum, dem Siebenbürgischen Museum, dem Donauschwäbischen Zentralmuseum, dem Oberschlesischen Landesmuseum, dem Schlesischen Museum zu Görlitz. Die ideellen Grundlagen sind jedoch bis in das 19. Jahrhundert zurückzuverfolgen, wie Cornelia Eisler (Oldenburg) in ihrem Beitrag zur Rolle kirchlicher Verbände bei der „Betreuung“ von Flüchtlingen und Vertriebenen darlegt. Der Neuanfang bzw. die Neufindung manifestiert sich auch im Aufgreifen von und Anknüpfen an kultische(n) und liturgische(n) Traditionen. Stefan Samerski (Berlin) erläutert den deutlich von Seiten der Vertriebenen geprägten Heiligenkult und Kanonisationsprozess der im Jahre 1976 heiliggesprochenen Dorothea von Montau. Die Verehrung Dorotheas fand ihren Niederschlag nicht nur in einer spezifischen materiellen Kultur, sondern auch in der Gründung „kultischer“ Vereinigungen (Dorotheenbund, Dorotheengesellschaft), wie Marco Bogade (Bamberg) in seinem Beitrag zeigt. Hedwig

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von Schlesien nahm in der Nachkriegszeit die führende Rolle als „Vertriebenenheilige“ ein. Als Transferphänomen, das bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, ist auch die Vielzahl der Hedwigspatrozinien zu verstehen, die sich in der Bundesrepublik vor allem im Kirchenbau der 1950er- bis 1970er-Jahre niederschlägt, wie die Dokumentation von Martin Kirchbichler (Münsing am See) belegt. Migration, Heimatverlust und Vertreibung konnten in der bildenden Kunst zum Ausdruck und zur Anklage gebracht werden, waren jedoch nicht ausschließliche die Triebkraft für künstlerisches Schaffen. Lydia Bendel-Maidl (München) macht deutlich, dass das Werk „Der Traum von Pickau“ des in Mährisch-Schlesien geborenen Malers Erich Schickling (1924–2012) als künstlerische Verarbeitung des „Heimatverlusts“ interpretiert werden muss – ein Thema, dass nur in wenigen Werken des Künstlers in derart eindringlicher Form zutage tritt. Das sakrale, zumeist abstrakte und sehr farbige Oeuvre seines Zeitgenossen, des im böhmischen Kaltenbach/Nové Hutě geborenen Malers und Bildhauers Otto Herbert Hajek (1927–2005), ist, so Chris Gerbing (Karlsruhe), inspiriert von einer tiefgehenden Gottesgewissheit; seine Werke sollen als „Wetzsteine für Toleranz“ die interkulturelle Kommunikation und den Dialog fördern. Migration und Vertreibung konnte jedoch auch das Erliegen schöpferischer Kraft und ein „Nicht-Mehr-Ankommen“ bedeuten, wie Helmut Scheunchen (Esslingen) am Beispiel deutschbaltischer Komponisten verdeutlicht. Eine andere Art von Zäsur ergab sich für die seit ihrer Gründung 1877 äußerst erfolgreiche schlesische Orgelbaufirma „Berschdorf“ mit der Auswanderung des Firmenerben Norbert Berschdorf im Jahre 1949 in die USA, der dort zwar als Musikinstrumentenbauer tätig war, jedoch bei weitem nicht mehr die frühere Bedeutung erreichte, wie Grzegorz Poźniak (Oppeln/Opole) aufzeigt. Das zum Teil bis heute sehr emotionsgeladene Spannungsfeld von Integration und Assimilation wird am Beispiel der Notkirchen und der Siedlungsgründungen der 1950er-Jahre (Robert Schäfer, Hirschaid) und der Frage nach der Pflege des schlesischen Liedguts in der Liturgie, die Michael Hirschfeld (Vechta) am Beispiel der vier nordwestdeutschen (Erz-) Diözesen Hildesheim, Osnabrück, Münster und Paderborn illustriert, deutlich. Die Aktualität dieses „historischen Themas“ wird nicht nur beim Blick in die gesamteuropäische Tagespolitik deutlich, sondern manifestiert sich nach jahrzehntelangen öffentlichen Diskussionen und Planungen im Konkreten etwa in dem im Entstehen begriffenen Sudetendeutschen Museum in München, bei dem eben auch Fragen nach Rezeption oder Ablehnung vorgefundener bzw. migrierter (religiöser) Kultur, deren Intensität und Wechselwirkungen vielfältige Anknüpfungspunkte für eine pädagogische Vermittlung anbieten könnten.

Rainer Bendel ZUR EINFÜHRUNG 1. Atmosphärisches 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges griff die Tagung „Kontinuitäten und Brüche“ Spuren auf, die Leid und Schmerz, aber auch Sehnsüchte und Hoffnungen und der Alltag in aller Kontinuität und notwendiger Neuorientierung im religiösen Leben nicht zuletzt in die Werke von Künstlerinnen und Künstlern eingezeichnet haben: Leid und Schmerz über Zerstörung, über den Verlust von Heimat und Angehörigen, nicht selten auch über die Zerstörung des bislang Geschaffenen, über den Verlust der Existenzgrundlage. Not, Entsagungen, Bedrückung, Scham, Enttäuschungen, Suchen und Fragen, Sehnsüchte, Erwartungen, Hoffnungen und Pläne wollten zum Ausdruck gebracht werden. Gefragt wurde also auch nach jeweils sehr subjektiven und situativen Niederschlägen auf die Fragen, nach der Einschätzung der Zeitsituation durch die Betroffenen. Diese Betroffenen kommen aus unterschiedlichen Altersgruppen. Viele von ihnen haben beide Weltkriege erlebt, andere waren 1945 noch Kinder. Die prekäre Situation, in die die Vertriebenen und Flüchtlinge in den Besatzungszonen Deutschlands gekommen waren, wurde vielfach dargestellt1 und erzählt.2 Dennoch muss wenigstens kurz und kursorisch an die Ablehnung, an den Hunger, die Rationierungen, die Erschöpfung, an die Mittellosigkeit, bei vielen auch Hoffnungs-, weil Perspektivlosigkeit erinnert werden, um die Atmosphäre, den Kontext wenigstens anzudeuten. Bei Monika Taubitz lesen wir: „Noch immer kämpften wir erbittert ums Überleben, um die nötigsten Dinge, die es einem ermöglichen, wie ein Mensch zu essen, wie ein Mensch zu trinken, wie ein Mensch auszusehen und sich wie ein Mensch zu fühlen. Wir lebten von der Hand in den Mund, gingen weiterhin auf erniedrigende und immer erfolglosere Betteltouren, standen im Morgengrauen Schlange, viele Stunden, bevor die Geschäfte geöffnet wurden. Jedesmal, wenn im Amtlichen Anzeiger der Militärregierung eine neue Zuteilung bekanntgegeben wurde, machten sich Tausende auf den Weg mit Bezugsscheinen, Berechtigungsausweis oder Lebensmittelkarte. Doch niemand besaß mit den begehrten Unterlagen auch die Garantie, die betreffende Ware wirklich zu erhalten. (...) Wieviele standen hier, die ihre Angehörigen verloren hatten, sich in Ungewissheit um ihre Männer und Söhne ängs1 Beispielsweise von Andreas KOSSERT: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008. 2 Als ein eindringliches Beispiel von vielen sei die Erzählung „Treibgut“ der schlesischen Schriftstellerin Monika Taubitz genannt, die auch die bedrängende Notsituation, den Hunger der Jahre 1946–1948 aus dem Rückblick auf die eigenen Erfahrungen sehr eindrücklich schildert. Monika TAUBITZ: Treibgut, Stuttgart 1983.

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tigten, andere, deren Eltern oder Kinder während eines Bombenangriffs oder bei der Flucht getötet worden waren. Da standen Frauen, krank von den Vergewaltigungen, und Kinder, die dasselbe erduldet hatten, mit unauslöschlichen Spuren des Leidens und der Angst im Gesicht.“3 Es sind nicht nur die Trümmer. Es ist auch die bis ans Äußerste gespannte existenzielle Notlage, die auch die Aufbaujahre in Königstein mit geprägt hat. Pater Werenfried van Straaten hat in seinem Buch „Sie nennen mich Speckpater“ diese Situation ein Jahr später – er kam 1948 im November erstmals nach Königstein – skizziert. Die Theologen, die er 1948 in Königstein antraf, gingen viele noch verschlissen in Uniformen. „All diese (...), die unter Lebensgefahr über die Zonengrenzen gekommen waren – dreihundertfünfzig Seminaristen insgesamt – bevölkerten in jenen Tagen die alte Kaserne, übten sich im geistlichen Kriegsdienst, studierten, beteten, arbeiteten und bereiteten sich auf das Priestertum vor. Sie waren die Priester von morgen. Sie hatten sich ihr Seminar selber bewohnbar gemacht. Sie hatten selbst die harten Stühle und rohen Tische gezimmert. Sie hatten sich selbst mit nackten Oberkörpern in der brennenden Sonne ihre Kapelle gebaut. Wie heilige Narren waren sie gekommen. Sie hatten keine Bücher, keine Kleider, kein Geld und kein Essen. Sie hatten nichts als die Flamme ihrer Berufung (…) Als Tagesration hatten sie zwei Teller Suppe und morgens und abends ein paar Schnitten Schwarzbrot. Bücher, Lehrmittel, Möbel und Hausgerät gab es nicht.“4 In solchen Schilderungen mag manches übertrieben sein; das gehörte beim Speckpater zum ‚Geschäft’. Bücher gab es jedenfalls aus der Prager Bibliothek, die Kindermann im Sommer 1946 für Königstein gerettet hatte; sie war damals noch auf aktuellem Stand.

2. Theologische und pastorale Deutungen. Bischof Maximilian Kaller und Professor Leo Scheffczyk Aus der Vielfalt der Deutungsversuche für die Kriegs- und Vertreibungserfahrungen sei im Folgenden näher auf zwei Beispiele eingegangen: auf Bischof Maximilian Kaller5 und den späteren Dogmatikprofessor Leo Scheffczyk.

3 TAUBITZ (wie Anm. 2), 95 und 97. 4 „Das Haus der Verjagten“, in: Werenfried van STRAATEN: Sie nennen mich Speckpater, Recklinghausen 1961, überarbeitete Neuauflage 1988, 18–20. 5 Rainer BENDEL: Maximilian Kaller. Grundanliegen des Vertriebenenbischofs, in: Maximilian Kaller – Bischof der wandernden Kirche. Flucht und Vertreibung – Integration – Brückenbau, hg. v. Thomas FLAMMER, Hans-Jürgen KARP, Münster 2012, 23–54; vgl. auch Rainer BENDEL/ Hans-Jürgen KARP: Bischof Maximilian Kaller 1880–1947. Seelsorger in den Herausforderungen des 20. Jahrhunderts, Münster 2017 .



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In einer Predigt an die Gläubigen am 10. Juni 19456 legte Maximilian Kaller eine wichtige Grundlage für die Deutung der Situation. Er griff die traurigen Bilder der Zerstörung auf, die man täglich sehe, und insinuierte, dass es kein traurigeres Bild gebe als eine eingestürzte Brücke, sei sie doch zugleich Sinnbild und Gleichnis. Dieses Bild führte er in der weiteren Folge der Ansprache aus und interpretierte es folgendermaßen: Die Brücke stehe für die Verbindung von Dörfern und Städten oder von ganzen Völkern. Sie überwinde Klüfte, das Wasser, Trennungen und Hindernisse, die Menschen auseinander brächten. Über die Brücke vollziehe sich der Verkehr, der Lebensaustausch, die Kommunikation zwischen Städten und Völkern, das Anteilnehmen der Menschen aneinander, das Sich-Ergänzen mit ihren Gütern, also der Handel. „Nun ist diese Brücke eingestürzt – nicht durch Naturgewalten, sondern durch Menschenwillen und Menschenkraft. Anklagend ragen die Bruchstücke sinnlos in die Höhe. Die gesprengte Brücke ist ein Sinnbild und ein Gleichnis für die abgebrochene und zerstörte Verbindung zwischen den Menschen und den Völkern.“7 Nach dem Ende des Krieges und der NS-Herrschaft konnte Kaller also gleich wieder die Enttäuschung über die Zerstörung des Miteinanders, des Austausches, des Handels zwischen Völkern zum Ausdruck bringen. Kaller wollte in seiner Deutung noch weiter gehen und hielt das Bild der Brücke insofern für nicht ausreichend, weil nicht nur die Verbindung zwischen Menschen und Völkern unterbrochen worden sei, sondern überhaupt das Verhältnis des Menschen zum Menschen und das Verhältnis der Völker zueinander an der Wurzel vergiftet und verdorben sei. Kaller suchte in den Stunden des tiefsten Sturzes, in denen Gott den Menschen gezeigt habe, dass Hass und rücksichtslose Selbstsucht nicht nur den anderen, sondern auch einen selbst zerstörten, Menschen, die wieder Brücken bauen könnten. Und zwar nicht nur Brücken aus Stein und Eisen, deren Bau schon mühselig genug sei, sondern Brücken zwischen den Seelen und Herzen der Menschen und Völker: „Und ein Gift wird ja nicht durch Worte überwunden, sondern nur durch eine neue Lebenskraft, durch ein Heilwerden und Gesundwerden von der Wurzel her. Wo sind solche Brückenbauer zu finden? Wo können wir solche neue Lebenskraft gewinnen?“ Kaller suchte Menschen, die herausträten aus dem zerstörenden, eintönigen Kreislauf von Vergeltung und wieder Vergeltung. Ein Humanist, ein Suchender stand ihm vor Augen. Nicht herrschen, sondern dienen, eucharistische Gemeinschaft, urchristlicher Kommunismus in der Apostelgeschichte, das Idealbild der ersten christlichen Gemeinde, das Hohelied der Liebe im Korintherbrief, das wünschte Kaller in dieser trostlosen Gegenwart der ersten Nachkriegswochen herbei. Die immer intensivere Suche dieses fiktiven Humanisten ließ ihn im nächsten Schritt in eine katholische Gemeinde kommen. Da erhob sich für ihn sofort die Frage: 6 Predigt Kallers vom 10. Juni 1945 (Pfingsten), Schreibmaschinenausfertigung, Archiv Ermlandhaus Münster, noch ohne Signatur. 7 Dieses und die folgenden Zitate: Predigt Kallers (wie Anm. 6).

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Wird er finden, was er sucht? Wird er in dieser Gemeinde etwas von diesem ganz Neuen im Verhalten der Menschen zum Menschen finden, von dem er in den Schriften gelesen hat? Hat mit dem Abendmahl etwas ganz Neues unter den Menschen angefangen, wurde ein neues Feuer entzündet, das seitdem nicht mehr erloschen ist? Der Bischof war Optimist genug, festzustellen, dass es auch in der Gegenwart solche Liebe gebe, wenn auch viel zu selten und viel zu schwach. Dabei wollte Kaller keine außerordentlichen Dinge fordern. Er dachte nicht an Meisterwerke der Liebe. Er war Realist genug, zu sehen, dass die Zeitgenossen keine Heiligen sind. Aber wären sie doch alle Anfänger und Lehrlinge. Der erste Schritt sei der, wahr und gut zueinander zu sein, es aufrichtig mit den anderen zu meinen. Die Solidarität miteinander, das Offensein für die Erneuerung des Pfingstgeistes müsste doch wenigstens die Christen der Gegenwart auszeichnen. Kaller forderte im Zusammenbruch einen grundsätzlichen Neuanfang. Krieg sei immer etwas Furchtbares und bringe Furchtbares mit sich. Das eigentlich Erschreckende aber sei nicht, was durch die Notwendigkeit des Krieges gekommen sei, sondern das, wessen der Mensch fähig sei, ohne alle Notwendigkeit. Was der Mensch dem Menschen in sinnloser Grausamkeit antue, in Freude am Schmerz des anderen, in einer kalten, unberührbaren Gleichgültigkeit. Sehr unmittelbar, ohne große Floskeln und mit eindringlichen Worten und Bildern mahnte und deutete Kaller in diesen ersten Nachkriegswochen. Zu dieser Deutung kam die Konfrontation mit der Schuld, die Kaller nicht auf eine bestimmte Gruppe abschob, sondern von der er alle affiziert wusste: „Und wir haben mit Schrecken erfahren, was der Mensch aus dem Menschen machen kann und was aus einem Volke gemacht werden kann durch Zwang und Verlockung mannigfacher Art. Und wir alle sind mit davon betroffen, sind daran beteiligt, sind mit daran schuld. Es ist schon so: so traurig der Anblick der Ruinen der Stätten des Wohnens und der Arbeit uns stimmen mag, so sehr wir trauern mögen vor den Trümmern ehrwürdiger Kirchen und verehrungswürdiger Stätten deutscher Kultur und deutscher Geschichte – sie sind doch nur wie ein Gleichnis, wie ein Schatten und Spiegelbild der Zerstörung, die am Menschen geschehen ist!“ In radikaler Interpretation der Botschaft Jesu forderte Kaller eine grundsätzliche Erneuerung, ein grundsätzliches Umdenken, ein Wirken des Geistes aus der Mitte des Menschen, aus seinem Herzen heraus. Dort müsse er das Ebenbild Gottes im Menschen wieder herstellen. Nach außen hin würde sich zunächst nicht viel ändern, auch mit diesem grundsätzlichen Neuanfang. Die Deutschen würden die Folgen tragen und den Kelch bis zur bitteren Neige leeren müssen. Und doch gelte es, so im Verborgenen zu ändern und zu wirken, dass mitten unter den Trümmern etwas Neues zu wachsen beginnen könne, dass zwischen den Menschentrümmern und Menschenmasken wirklich lebendige Menschen, nach Gottes Ebenbild geschaffen, wirkten. Kaller wusste, welche Aufgaben und Sorgen jeden Tag auf den Menschen lasteten, wie viel Kraft 1945 die Erfüllung der einfachsten Lebensbedürfnisse erforderte, wie



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bedrückend für viele die Sorge und Ungewissheit um Nahestehende war. Er kannte die Ängste und Sorgen der Menschen um ihre Wohnung. „Ich weiß, wie müde und belastet wir alle sind. Aber in all dem könnte doch das wachsen und lebendig sein, was die Apostelgeschichte im Anschluß an den Bericht über das Pfingstereignis schlicht und einfach über das Leben der ersten christlichen Gemeinde sagt, die am Pfingstfest sich bildete: ‘Sie beharrten in der Lehre der Apostel und der Gemeinschaft im Brotbrechen und im Gebet. Sie hielten zusammen und hatten alles gemeinsam.‘“ Mit dieser Utopie des frühchristlichen Gemeindeideals wollte Kaller die aktuelle Situation nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches impfen. Er wollte die Menschen ermutigen, offen zu sein, ihre Sehnsucht zuzulassen im Ungenügen und der Unruhe der Gegenwart, die Suche nach dem Göttlichen und Ewigen zuzulassen, offen und empfänglich zu sein für die Gaben des Heiligen Geistes. Solche Menschen könnten die für die Zukunft fruchtbaren, wissenden, verstehenden, gütigen Menschen werden. Sie sollten nicht nur trauern, sondern ihr Herz wie ein leeres Gefäß nach oben halten. Das waren jesuanische, franziskanische Perspektiven nach dem Schicksal, das Kaller erlebt hatte, und nach dem, was, wie er mitbekommen hatte, sein Bistum mitgemacht hatte, nach seiner Ausweisung durch die Gestapo, nach der Flucht aus Danzig nach Halle und dem sehnsüchtigen Warten, wieder in seine Diözese zurückkehren zu dürfen, das sich den ganzen Sommer 1945 hinzog. In dieses trostlose Land, in diese trostlose Situation, in diese trostlose Suche der Menschen schrieb er diese radikale und christlich einfache Botschaft, diesen Ruf zur Umkehr, zum Neuanfang, diesen Appell, das Kriegsende wirklich als Stunde Null, als Chance zum Neubau zu begreifen und sich nicht nur an die möglichen Kontinuitäten zu klammern. Die Argumentation Leo Scheffczyks in seinem Beitrag über die Theologie und das Kriegserleben, der in die Neuausgabe der ursprünglich für Kardinal Bertram geplanten Festschrift zusätzlich aufgenommen worden war8, stellt das zweite hier zu besprechende Beispiel dar. Scheffczyk war zu dieser Zeit Theologiestudent in Königstein; zuvor war er als Theologiestudent im Kriegseinsatz gewesen. Scheffczyk wehrte sich einerseits gegen eine Verherrlichung des Krieges, wie wir sie bei Theologen im Ersten Weltkrieg finden. Und doch geht er in seinem studentisch jugendlichen Übereifer auf eine Ebene martialischer Sprache – wie wir sie in den Predigten im Ersten Weltkrieg finden –, die aus der Verherrlichung des Kampfes 8 Erich KLEINEIDAM/Otto KUSS/Erich PUZIK (Hg.): Amt und Sendung. Beiträge zu seelsorglichen und religiösen Fragen, Freiburg 1950 – ein Vorgängerband war 1942 in Breslau unter dem Titel „Sacramentum ordinis. Historische und systematische Beiträge als Festschrift für Kardinal Bertram zum sechzigjährigen Priesterjubiläum“ erschienen, später wurde ein weiterer Band geplant, der 1944 erscheinen sollte, dann aber wegen der Kriegsereignisse nicht mehr realisiert werden konnte. Erst fünf Jahre später konnte er vorgelegt werden, dann gewidmet „unserer schlesischen Heimat und dem Priesternachwuchs, der in Neuzelle (Mark Brandenburg) und in Königstein im Taunus herangebildet wird“, eingeführt durch ein Geleitwort von Weihbischof Ferche (Zitat aus dem Geleitwort).

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nicht herauskommt. So lesen wir: „Es ist die Überzeugung des gläubigen Menschen, daß der Hauch des überweltlichen Gottes auf den Schlachtfeldern vernehmlicher zu spüren ist als in den Wohnungen der Bürger. Damit gewinnt das Menschheitsereignis des Krieges eine direkt theologische Wertigkeit.“9 Das Kriegserleben bezeichnete er in seiner von Kampfbegriffen angefüllten Sprache als einen „Feuerofen der Bewährung“: „Am Grund dieses Erlebens lagen Leid und Schmerz. Im Ertragen dieses Schmerzes aber kündigte sich eine verwandelnde Kraft an, die das ganze Leben läutern und zu ernsten Konsequenzen verpflichten konnte.“10 Man könne – so Scheffczyk – eine neue, abgründige Spannweite des Daseins durchmessen, der Zustand des bürgerlichen Lebens sei an seine Grenzen gekommen. Die alte Welt mit ihren vordergründigen Kulissen sei zusammengebrochen. Es gebe keinen Weg mehr zurück in sie. „Der religiöse Mensch vor allem wurde sich im Erleben des Zusammenbruches aller Ordnungen klar, daß der Sinn dieses Geschehens für ihn nur in einer tieferen Erfassung seiner Aufgabe und Erhöhung seiner ganzen Existenz liegen konnte.“11 Paradox klingt bei Scheffczyk das Oszillieren zwischen der metaphysischen Sicherheit und der erkannten Notwendigkeit, dass Theologie die Gegenwart lebendig durchdringen müsse, damit das religiöse Denken in eine neue fruchtbare Verbindung mit dem Leben kommen könne.12 An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum auf der Ebene theologischer Argumentation nicht auch der Ordo-Gedanke zumindest in Frage gestellt werden konnte. Ist dieses Denk- und Deutesystem der Neuscholastik wirklich noch ein zugkräftiges Vokabular für Menschen, die Erfahrungen gemacht haben, wie sie Scheffczyk hier beschreibt, oder ist dies gerade für Menschen mit diesem Erfahrungshintergrund als Stütze wichtig – wo alle menschliche Ordnung zerfällt, sehnt sich der Mensch nach Sicherheit aus einer anderen Ordnung: „So wuchs in der Beunruhigung durch die äußere Gewalt und Dämonie des Irdischen eine Gegenkraft, die aus dem tieferen Wissen um die Gnade und den Bund mit Gott hervorkam. Unter dem Druck dieses Erlebens verdichtete und vereinfachte sich das Weltbild zu jener johanneischen Prägnanz, in der die Urspannung zwischen Licht und Finsternis, Leben und Tod allein bestimmend war und alle Halbheit und Idyllik weichen mußte.“13 Es gab offensichtlich für Scheffczyk nur die heilsame Erschütterung, die das Gespür für eine große Chance wachrüttelte, eine Chance, den Inhalt des Daseins neu aus dem Geschehen herauszuarbeiten. „Sie fühlten oft, wie sie von Gott angerührt und aufgeschreckt waren und wie die alten, selbst gezimmerten Idole nicht mehr zu dem Bilde paßten, das ihnen da aus Not und Feuer entgegenblickte. Die Forderung nach einer 9 Leo SCHEFFCZYK: Der Theologe und das Kriegserleben, in: KLEINEIDAM/KUSS/ PUZIK (wie Anm. 8), 344–377, hier 344. 10 SCHEFFCZYK (wie Anm. 9), 354. 11 Ebd., 355. 12 Ebd., 354. 13 Ebd., 355.



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neuen Wandlung des Seins erhob sich gebieterisch vor den Augen aller, die um die Berufung rangen.“14 Scheffczyk nahm die Anfragen der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg an Seelsorge und religiöse Reflexion sehr wohl wahr. Welche Konsequenzen zog er daraus? Zunächst eine relativierende, nämlich die weise Einsicht, dass der Mensch nicht auf Dauer im Extrem leben könne, sondern sich wieder auf Ebenen des Mittelmaßes zurückziehen müsse. Daraus entstehe die Schwierigkeit, dass das revolutionäre Kriegserleben nicht unverfälscht in die Wirklichkeit hineingeformt werden könne. Seine Kraft könne nicht ungebremst umgeleitet werden auf die „Triebräder des Geistes“.15 Im Kriegserleben liege ein Absolutheitsmoment, das die Beteiligten in ernsthafter Mühe herausarbeiten müssten, wenn sie nicht an der Bedeutung dieses Geschehens und der Zeit vorbei leben wollten. Vor allem die Bedeutung des Zeitgeschehens für das Werden der Persönlichkeit müsse ausgewertet werden. Offensichtlich hat Scheffczyk im Hintergrund sehr viel Ernst Jünger gelesen, wenn der Krieg bei ihm zu einer notwendigen Meditation wird. Das Kriegserleben bedeutete für den Theologen ein großes Gnadengeschehen, in dem sein inneres Wesen und seine geistige Gestalt tiefer geprägt würden – eine Wesensprägung, die sich nur unter der Einwirkung von Leid und Schmerz vollziehen könne. Das Leben des Geistes und der Gnade brauche – so Scheffczyk – Katalysatoren, die die geistigen Wirkungen beschleunigten und vertieften. Wo bleiben in einer derartigen Argumentation die Kriegsteilnehmer, die angesichts der ‚Feuertaufe‘ in Zweifel und Verzweiflung fielen? Mangelte es denen nur an Gottverbundenheit, Glaubenstiefe und Glaubenssicherheit? Alles wird auf dem Hintergrund eines sinnstiftenden ordo gesehen – hier ist nicht wie etwa bei Joseph Bernhart ein Suchen nach neuen Deutungsmustern zu spüren, weil die alten radikal angefragt waren (wie etwa in „Chaos und Dämonie“).16

14 Ebd. 15 Ebd., 356. 16 Ein Vergleich mit Joseph BERNHART: Chaos und Dämonie. Von den göttlichen Schatten der Schöpfung, Weißenhorn 1988 (erste Auflage München 1950) könnte hier sehr aufschlussreich sein. Vgl. dazu auch Rainer BENDEL: Lebensbild Joseph Bernhart, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Diözesangeschichte 39 (2005), 507–525; DERS.: Joseph Bernhart. Die Krisis menschlichen Handelns und der Geschichte, in: Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts. Hg. v. Hans-Rüdiger SCHWAB, Kevelaer 2009, 155–174; Rainer BENDEL/Lydia BENDEL-MAIDL: Geschichte und Theologie in der Krisis. „Vergangenheitsbewältigung“ bei Joseph Bernhart und Michael Schmaus, in: Münchner Theologische Zeitschrift 55 (2004), 168–181.

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3. Ein Ort der Sammlung und Konstituierung. Die Königsteiner Kollegskirche als Wallfahrtsort Die Kollegskirche in Königstein17 war aus einer halb zerfallenen Sporthalle auf einer kleinen Anhöhe hinter dem Seminargebäude restauriert worden. Zu Kriegsende war diese Halle des Reichsarbeitsdienstes noch ein geschlossener Lagerraum gewesen. Danach war das Lager gründlich ausgeräumt worden. Selbst Holzwände, Fenster und Türen waren andernorts gebraucht worden. Aus der offenen Halle wurde unter der Mitarbeit vieler – viele Theologen haben hier mitgeholfen und Ziegel geschleppt, Mörtel gerührt etc. – die Kollegskirche gebaut, die am 30. November 1949 durch den Bischof von Limburg, Wilhelm Kempf, geweiht wurde.

Abb. 1: Schutzmantelmadonna von Erich Jaekel in der Königsteiner Kollegskirche. Foto: Kommission für Zeitgeschichte, Bonn. Archiv, Bestand Königstein.

17 Das Stadtarchiv Königstein besitzt nicht sehr umfangreiche Dokumentationsmappen zur Kollegskirche und deren Umbau und zur Einweihung der Ostakademie; zu Königstein vgl. auch Rainer BENDEL: Hochschule und Priesterseminar Königstein. Ein Beitrag zur Vertriebenenseelsorge der katholischen Kirche, Köln [u. a.] 2014.



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Jetzt erst gab es einen Raum, in dem die ganze Hausgemeinschaft von Königstein gemeinsam Gottesdienst feiern konnte. Bis 1955 sollte dieser größte Raum in den Königsteiner Anlagen auch als Aula für die Schule, als Theatersaal für den Schülerkonvikt, als großer Versammlungsraum für viele Tagungen und als Sitzungssaal dienen. Die Kollegskirche als weite Halle mit einem sehr großzügigen offenen Altarraum, der für vielfache liturgische Gestaltungen offen war, wurde im Lauf der Jahre nur unwesentlich verändert. Diese Kirche, deren Seitenkapellen die Vertriebenen aus den verschiedenen landsmannschaftlichen Gruppen mit bescheidenen Kunstgegenständen ausstatteten, wurde so zu einem Identifikationsort und -raum für viele Gruppen, auch für Vertriebenenwallfahrten. So kam etwa die St. Anna-Wallfahrt der Schlesier nach Königstein. Die Ermländer haben Anfang Juli ihr traditionelles Treffen in Königstein und gedenken dort des Todestages ihres letzten Bischofs, Maximilian Kaller. Die von dem heimatvertriebenen schlesischen Bildhauer Erich Jaekel geschaffene Marienfigur (Abb. 1), die Mutter der Vertriebenen, wurde für viele ein sichtbarer Ausdruck ihres Schicksals und des Aufgehobenseins, auch nach dem Heimatverlust, im Schutz der Mutter Gottes. Sie trägt das Kind auf den Armen, das seinerseits beide Arme geöffnet hat, um alle Suchenden freundlich an- und aufnehmen zu können. Im Schutz des Mantels der Gottesmutter finden die rat- und hilflosen Gestalten der Vertriebenen ihre Zuflucht.

Abb. 2: Kreuz an der Stirnwand der Königsteiner Kollegskirche von Albert Burkart. Foto: Kommission für Zeitgeschichte, Bonn. Archiv, Bestand Königstein.

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Erich Jaekel hatte dieses Kunstwerk, die 1,80 m hohe Schutzmantelmadonna aus Lindenholz, auf Anregung Adolf Kindermanns geschaffen. Er hatte bereits in der Kapelle des Priesterseminars die Theologenmadonna gefertigt, als Erfüllung eines Gelübdes, das er als Soldat in Stalingrad abgelegt hatte: Wenn er Krieg und Gefangenschaft überlebe, dann würde er für eine Kirche eine Muttergottes-Statue schaffen. Die Schutzmantelmadonna wurde 1952 in der Kollegskirche aufgestellt. Eine Großfamilie sucht im Mantel Mariens Schutz. Die Großeltern, Eltern und Kinder, eine heimatvertriebene Familie, deren Schicksal in das Lindenholz gehauen wurde. Einen ebenso offenen, tröstenden Gestus drückt das Kreuz an der Stirnwand der Kirche (Abb. 2) aus – es handelt sich um ein Werk Albert Burkarts aus Frankfurt/Main. Albert Burkart, am 15. April 1898 in Riedlingen geboren, war seit 1949 Professor und dann bis 1963 Direktor der Städel-Schule, der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in Frankfurt. Burkart gilt als Vertreter der Neuen Sachlichkeit und dieser Stil zeigt sich auch in der Darstellung des Gekreuzigten im Chorraum der Kollegskirche in Königstein. Zur Ausstattung der Seitenkapellen trugen, wie bereits erwähnt, die unterschiedlichen landsmannschaftlichen Gruppen der Vertriebenen bei. Der erste Seitenaltar ist der Mutter Anna geweiht, das Relief mit dem Motiv Anna Selbdritt stellt ebenfalls ein Werk von Erich Jaekel dar. Im Hintergrund ist der oberschlesische Annaberg zu erkennen. Auf der linken Seite werden die Besiedlung Schlesiens durch deutsche Kolonisten in Erinnerung gerufen, auf der rechten Seite Flucht und Vertreibung. Auch der zweite und dritte Seitenaltar mit einem Halbrelief der Hl. Hedwig und einer Statue des Hl. Clemens Maria Hofbauer – letztere gestiftet von Sudetendeutschen – wurden von Jaekel gestaltet. Der vierte Seitenaltar ist für die Ungarndeutschen gedacht, die für diesen eine Statue des Hl. König Stefan von Ungarn stifteten. Im anschließenden fünften Raum haben die Ermländer ihre Gedenkstätte. In einem Wandmosaik gedenken sie in sieben Szenen dem Leben der Hl. Dorothea von Montau. Dieses Mosaik war 1978, zwei Jahre nach der Heiligsprechung Dorotheas, begonnen worden. Die Beichtkapelle statteten die Sudetendeutschen aus mit dem Hl. Johannes Nepomuk, dem Märtyrer des Beichtgeheimnisses, und später dann auch einem Bild des Johannes Nepomuk Neumann.18 Die Kollegskirche besaß durch ihre Ausstattung eine hohe identifikatorische Kraft. Mit der Einweihung der Schutzmantelmadonna „Mutter der Vertriebenen“ 1952, die – wie oben beschrieben – von dem aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten schlesischen Bildhauer Erich Jaekel geschaffen worden war, entwickelte sich Königstein zu einem Wallfahrtszentrum für die vertriebenen Katholiken. Die „Königsteiner Rufe“ beteiligten sich intensiv an der Werbung für Wallfahrten, auch an der Werbung für die Königstein-Wallfahrt zur Mutter der Vertriebenen 18 Vgl. dazu auch „Kunst in der Kollegskirche“, in: „Königstein – Stadt des Aufbaus und der Versöhnung“. Festschrift zur Einweihung des Denkmals, 119–125.



Zur Einführung

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jeweils am 6. Juli. Ein Forum, eine Stätte der Geborgenheit und des Trostes wurde hiermit geschaffen, ein Ort, an dem Schmerz und Sorge artikuliert werden konnten. In den Königsteiner Rufen heißt es dazu 1952: „Bereits 1946 begannen die Wallfahrten der Heimatvertriebenen. Immer mehr kamen und immer gewaltiger wurden jene marianischen Kundgebungen. Sie haben auch im Jahre 1952, also sechs Jahre nach der Vertreibung, kaum an Innigkeit und Teilnahmefreudigkeit verloren. Sicherlich konnten die Gnadentage der Wallfahrten viel mit dazu beitragen, daß wir diese schweren Jahre nach der Ausweisung so ruhig und geduldig überstanden. Wirklich ein Wunder der Gnade. Durch die Wallfahrten der Heimatvertriebenen sind viele Gnadenorte neu aufgelebt, andere neu entstanden. Am meisten zog es uns zu den Bildern der Schmerzensmutter, weil uns diese in unserem Leide ganz besonders ansprach. Nun aber, nach so vielen Jahren, ist es an der Zeit, das Verhältnis zwischen der Gottesmutter und den Heimatvertriebenen in einem ganz besonderen Bilde darzustellen. Wir haben die Darstellung der Schutzmantelmadonna gewählt. Sie weist am besten darauf hin, was wir Vertriebenen entbehren – das heimatliche Geborgensein. Und wo hätte dieses Bild besser und passender aufgestellt werden können, wenn nicht in Königstein. Königstein hat seit Beginn der schrecklichen Ausweisung entscheidenden Anteil an der Linderung der furchtbaren Flüchtlingsnot. Hier ruhen die sterblichen Überreste des ersten Flüchtlingsbischofs, Maximilian Kaller, dessen Vorbild uns allen unvergeßlich bleibt (…).“19 Religion und religiöser Praxis gelang es, nach dem Verlust des heimatlichen Territoriums, Heimat zu geben, Heimat zu erhalten, neue Heimat zu schaffen, Kontinuitäten herzustellen. Wallfahren wurde eine Tradition, die Kontinuität stiftete und Gemeinschaft schuf; es war Ausdruck des glaubenden Unterwegs-Seins der Vertriebenen, oft als Sinnbild ihrer Situation verstanden. Gleichzeitig ermöglichten die Feste und Wallfahrten Wiedersehen und erhielten so alte Gemeinschaften aufrecht. Sie boten eine Möglichkeit, aus einer desolaten Situation auszubrechen. Gemeinsame Sprache, gemeinsame Herkunft, gemeinsames Liedgut, Seelsorger, die das nämliche Schicksal erfahren haben, schufen eine Atmosphäre, in der das Vertriebensein identifikatorische Kraft entwickelte, in der Gefühle der Beheimatung aufkommen konnten. Kontinuität in den Formen erschien als äußerst wichtig an neuen Orten. Man traf Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und vergleichbaren Sorgen. Man konnte sich auf den unterschiedlichen Veranstaltungen und mit Hilfe der Mitteilungsblätter, nicht zuletzt im ‚Vaterhaus‘ Königstein austauschen, bestärken, Problemlösungen überlegen und planen. Die Vertriebenen konnten ihre Not nicht nur im Gebet, in religiösen Feiern, sondern auch im politischen Bereich äußern und Abhilfe für die bedrängte Situation fordern – und entfalteten dort wohl mehr innovatorische Kraft als in der Kunst.

19 „Die Mutter der Vertriebenen“, in: Königsteiner Rufe 1952, 241f.

Cornelia Eisler VON „GRENZ- UND AUSLANDSDEUTSCHEN“ ZU FLÜCHTLINGEN UND VERTRIEBENEN Die Rolle kirchlicher Verbände und die „Rettung des Kulturguts“ 1947 tagte in München der Verband ehemaliger Reichenberger Lehrer und Absolventen der Prager Lehrerbildungsanstalt. Die Tagungsteilnehmer verständigten sich darauf, das „gerettete Kulturgut der Ausgewiesenen“,1 also der Flüchtlinge und Vertriebenen, zentral durch das Lehrerkollegium sammeln zu lassen und auszuwerten. Die Ergebnisse sollten als Grundlage für die Gestaltung von sudetendeutschen Heimatabenden dienen und, wie einem Aktenvermerk zu entnehmen ist, dem „Einbau unseres Volksgutes in die heimische bayerische Schultradition und in weiterer Sicht für ein zu errichtendes sudetendeutsches Kulturinstitut“2 zur Verfügung stehen. Dieser Vorschlag stieß auf große Resonanz. Der Umfang an Materialien übertraf die Erwartungen der Initiatoren, weshalb sie zu Beginn des Jahres 1948 die Kirchliche Hilfsstelle München um Unterstützung ersuchten. Gemeinsam planten sie, eine „Sammelstelle des Kulturgutes der Flüchtlinge und Ausgewiesenen“3 zu konstituieren. Die Münchner Hilfsstelle, nicht ausschließlich auf Interessenten aus Böhmen und Mähren ausgerichtet, wie ihr Mitarbeiter Richard Mai betonte, sah sich für eine Vielzahl unterschiedlicher Flüchtlings- und Vertriebenengruppen zuständig.4 Daher erweiterte man den Kreis der an der zukünftigen Sammelstelle Beteiligten und hoffte, die Sammlung und Auswertung der Materialien staatlich finanzieren zu können. Schon die räumliche Unterbringung bereitete jedoch Probleme und offenbar blieben auch die erhofften 1 Bundesarchiv (im Folgenden BArch) Koblenz Z 18/126, Akten der Kirchlichen Hilfsstelle München. 1945–1950, Vermerk zur Errichtung einer Sammelstelle des Kulturgutes der Flüchtlinge und Ausgewiesenen [1947]. 2 Ebd., Rundbrief von Dr. Franz Longin, Prof. Gustav Lassika u. Dr. Hans Kuderna, München, September 1947. – Hans Kuderna war Lehrer und zugleich Politiker. Franz Longin arbeitete vor dem Zweiten Weltkrieg als Pädagoge in Prag und seit 1945 als Referent für vertriebene Lehrer im Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus, wurde später im Adalbert Stifter Verein zuständig für die „Dokumentation und Sammlung volkskundlicher Traditionen“ samt ihrer „Neubelebung“. Vgl. zu den Personen: Tobias WEGER: „Volkstumskampf“ ohne Ende? Sudetendeutsche Organisationen, 1945–1955, Frankfurt/M. 2008 (Die Deutschen und das östliche Europa. Studien und Quellen, 2), 233, 609 ff. 3 BArch Koblenz Z 18/126 (wie Anm. 1), Protokoll über eine Besprechung zur Schaffung einer Sammelstelle des Kulturgutes der Flüchtlinge und Ausgewiesenen, 14.02.1948. 4 „Dr. Mai von der Kirchl. Hilfsstelle (...) lege allerdings Wert darauf, dass diese Sammelstelle für sämtliche Volksgruppen aus dem Südosten und Osten tätig wäre.“ Ebd., Protokoll zur Besprechung über die Schaffung einer Sammelstelle des Kulturgutes der Flüchtlinge und Ausgewiesenen, 14.02.1948.



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Gelder von Seiten des Bayerischen Finanzministeriums aus. Zunächst übernahm deshalb die Kirchliche Hilfsstelle die Arbeits- und Sammelaufgabe für das ‚Kulturgut der Heimatvertriebenen‘ und verwahrte die bereits vorhandenen Erhebungsbögen, Zeitungsausschnitte, das Bildmaterial sowie einige museale Objekte.5 Auf diese frühe Episode der Sammlungsaktivität lässt sich wohl die Aussage von Richard Mai zurückführen, dass die Kirchliche Hilfsstelle als Ausgangspunkt für das bundesweite Phänomen der so genannten Ostdeutschen Heimatstuben, anzusehen sei. In einem Rückblick auf deren Entstehungsgeschichte stellte er fest: „Wer denkt heute noch an die notgeborenen Ursprünge dieser Ideen? Dazu gehören auch die vielen Überlegungen, Versuche und Wege, die Vertriebenen in das Binnendeutschtum materiell und kulturell einzugliedern (...). Von hier [der Kirchlichen Hilfsstelle, C. E.] liefen die Fäden zum Lastenausgleich, zu dessen Vätern Hans Schütz ebenfalls gehört, und zu den zahlreichen Sammlungen ostdeutschen Schrifttums, (...) zur Einrichtung von Heimatstuben.“6 Die Frage, inwiefern die Heimatsammlungen und das Anliegen ihrer Betreuer und Betreuerinnen, das ‚Kulturgut‘ der Flüchtlinge und Vertriebenen zu ‚retten‘, im Zusammenhang mit der Kirchlichen Hilfsstelle München stand, bildet den Ausgangspunkt der folgenden Erörterung. Ein bedeutender Aspekt ist hierbei zunächst, dass die Hilfsstelle im Oktober 1945 im Auftrag der Fuldaer Bischofskonferenz als Zweigstelle der Kirchlichen Hilfsstelle Frankfurt/Main entstand. Diese wiederum war aus dem Reichsverband für das Katholische Deutschtum im Ausland hervorgegangen und personell ebenso wie strukturell an diesen angelehnt.7 Recherchen zu den ‚Ostdeutschen Heimatstuben‘ ergaben ebenfalls, dass einige der Initiatoren und Sammler beziehungsweise der Sammlerinnen an die Thematik ‚Auslandsdeutschtum‘ anknüpften, worauf im Folgenden noch eingegangen wird. Aus diesem Grund scheint mir ein historischer Exkurs zur Entwicklung der Kirch5 Josef HANIKA: Kulturarbeit der Heimatverwiesenen in Bayern, in: Kulturarbeit. Monatszeitschrift für Kultur- und Heimatpflege, 5 (1949), 97–99, hier 97. – „Das gesammelte Material soll zur Bearbeitung einerseits dem Adalbert Stifter Verein, andererseits der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zur Verfügung stehen. Es soll nach Auswertung dann sowohl für die bayerische Volks- und Heimatkunde verwendet werden und den Ausgewiesenen Material für Heimatabende u.ä. liefern.“ BArch Koblenz Z 18/126 (wie Anm. 1), Vermerk zur Errichtung einer Sammelstelle des Kulturgutes der Flüchtlinge und Ausgewiesenen [1947] und Korrespondenzen Hutter und Mai 1950. 6 Richard MAI: Ursprung und Entwicklung der Kirchlichen Hilfsstelle München, in: Ein Leben – Drei Epochen. Festschrift für Hans Schütz zum 70. Geburtstag, hg. v. Horst GLASSL, Otfrid PUSTEJOVSKY, München 1971, 507–512, hier 512. 7 Der Reichsverband wurde laut Beschluss der Fuldaer Bischofskonferenz 1945 zur Kirchlichen Hilfsstelle mit Hauptsitz in Frankfurt/M. und Zweigstellen in München und Köln umorganisiert. Sabine VOSSKAMP: Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945–1972, Stuttgart 2007 (Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte, 40), 66, 101; Die Kirchliche Hilfsstelle in München, in: Stifter Jahrbuch (1949), 124 f.

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lichen Hilfsstelle und insbesondere ihrer Vorgängerorganisation aufschlussreich und zwar hinsichtlich möglicher Kontinuitäten und Brüche. Der Reichsverband für das Katholische Deutschtum im Ausland steht hier exemplarisch für die Institutionalisierung der karitativen und kulturellen Betreuung der Deutschen im Ausland, die im 19. Jahrhundert einsetzte, und in der Zwischenkriegszeit die deutschsprachige Bevölkerung in den Grenzregionen des Reiches einbezog. Im Zuge des Zweiten Weltkrieges waren eben jene Menschen, die in den Jahren zuvor als ‚Grenz- und Auslandsdeutsche‘ tituliert worden waren und die sich selbst häufig dieser Kategorie zuordneten, zu Flüchtlingen und teils Vertriebenen beziehungsweise zu Ausgewiesenen geworden. Ihre karitative Betreuung, so die Ausgangsthese, wurde teilweise nach dem bekannten organisatorischen Vorbild, jedoch unter neuen Vorzeichen, in der Bundesrepublik fortgesetzt.

1. Die ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘ Das Konzept des ‚Auslandsdeutschtums‘ ist im Kontext der Nationalisierungsprozesse im Europa des 19. Jahrhunderts zu verorten. Über den deutschen Staat hinaus, der sich 1871 konstituierte, wurde eine erweiterte deutsche Nation beziehungsweise die Vorstellung eines deutschen Volkes konzipiert, das über seine Staatsgrenzen weit hinausreichte. Die Identifizierung erfolgte über die Abstammung, die Sprache und die Kultur, allerdings ohne dass genauer definiert wurde, was unter letzterer zu verstehen sei. Zum Ende des 19. Jahrhunderts zeigte sich zunehmend die Tendenz, dass sich politische wie akademische Kreise innerhalb des Deutschen Reiches den ‚Auslandsdeutschen‘ zuwandten. Recht unterschiedliche Motivationen bildeten hierfür den Hintergrund. Neben kolonialen und ökonomischen Bestrebungen bestanden nationalistisch-völkische Interessen, aber ebenso kulturell-religiöse sowie karitative Beweggründe. Nach dem Ersten Weltkrieg ist zudem eine umfassende gesellschaftliche Aufmerksamkeit gegenüber den ‚Auslandsdeutschen‘ festzustellen. Im Zuge der neuen Grenzregelungen gemäß dem Versailler Vertrag, erweiterte sich der Begriff ab 1919 zum ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ und die Bezeichnung ‚deutsche Minderheiten‘ fand Verbreitung. Zahlreiche Vereine, die sich der Betreuung der ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘ verschrieben, wurden gegründet. Ältere Organisationen, darunter auch evangelische und katholische Verbände griffen die Thematik gleichfalls auf. Sie setzten voraus, dass es eine Wechselwirkung zwischen Volkstum und Religion gäbe, weshalb ausdrücklich kirchliche Kreise dazu aufgerufen seien, sich dieser Aufgabe zu widmen.8 Ein Beispiel hierfür ist der Evangelische Verein der Gustav-Adolf-Stif8 Richard MAI/Albert BÜTTNER (Hg.): Festbuch zum 20jährigen Bestehen des Reichsverbandes für das katholische Deutschtum im Ausland und zum silbernen Bischofsjubiläum seines Schirmherrn Bischof Dr. Wilhelm Berning, Osnabrück. Berlin 1939, 24; Georg SCHREIBER:



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tung. Dieser war 1832 gegründet worden, um ursprünglich den Widerstand gegen die ‚Katholisierung‘ böhmischer Gemeinden zu organisieren. Seine Vertreter sammelten Spenden für eine „Anstalt zur brüderlichen Unterstützung bedrängter Glaubensgenossen“9 in katholisch dominierten Regionen. Seit 1918 richtete sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf die evangelischen Deutschen im Ausland, die der Verein unter Verweis auf seine jahrelangen Erfahrungen in der Diasporapflege legitimierte. Anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Evangelischen Vereins der Gustav-Adolf-Stiftung im Jahr 1932 kommentierte Hermann Wolfgang Beyer, Professor für Kirchengeschichte in Greifswald, diesen Aspekt mit den folgenden Worten: „Als volkliche Gemeinschaft ist das Deutschtum im Ausland, wo fremde Staaten es auflösen und unterdrücken wollen, dem Untergange geweiht. Als Kirche und nur als Kirche wird es leben.“10 Die potenziell fremdstaatliche Gefährdung hatte die vormalige Bedrohung durch katholische Einflüsse in den Hintergrund rücken lassen. In vergleichbarer Form wandten sich katholische Auswanderervereine, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatten, den katholischen Deutschen im Ausland und den Bewohnern in den Grenzregionen zu. In der Zwischenkriegszeit gehörten dazu unter anderem der St. Raphaels-Verein zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer, der Katholische Mädchenschutzverein und verschiedene Missionsvereine. Ursprünglich waren sie zwecks karitativer Unterstützung der Auswanderer gegründet worden und hatten Missionsaufgaben übernommen. Die vielfältigen Initiativen und Aktivitäten sollten ab 1918 zentral koordiniert werden und man wollte für sie eine gemeinsame Vertretung nach außen schaffen. Für diese Zwecke entstand der eingangs genannte Reichsverband für das Katholische Deutschtum im Ausland. Das Ziel, so seine Gründer, sei es, „eine einheitliche und planmäßige Aufnahme und Durchführung jener Arbeiten zu ermöglichen, welche die katholischen Auslanddeutschen in ihrem Glauben und ihrem Volkstum erhalten und kulturell und wirtschaftlich fördern sollen“.11 Außerhalb des politischen Rahmens waren vier Aufgabenbereiche vorgesehen: die Wohlfahrtspflege, die Kulturpflege (über Schulen, Missionsorden und Katholizismus und Auslanddeutschtum, in: Der Auslanddeutsche. Halbmonatsschrift für Auslanddeutschtum und Auslandkunde, 16 (1925), 446. 9 Hermann Wolfgang BEYER: Die Geschichte des Gustav Adolf-Vereins in ihren kirchen- und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen. Zum hundertjährigen Bestehen des Evangelischen Vereins der Gustav Adolf-Stiftung, Göttingen 1932, 15, 225 f. 10 Ebd., 227. 11 P. Ansgar SINNIGEN: Der Reichsverband für die katholischen Auslanddeutschen. Entstehung und Entwicklung bis zum Jahre 1924, in: Jahrbuch des Reichsverbandes für die katholischen Auslanddeutschen, hg. v. DEMS., Ludwig SCHADE, Münster 1926, 6–19, hier 8; Maximilian KALLER: Geleitwort, in: Jahrbuch des Reichsverbandes für die katholischen Auslanddeutschen, hg. v. Emil Clemens SCHERER, München 1935, 3–5, hier 4. – Vgl. zu den Beschlüssen der Fuldaer Bischofskonferenz im Oktober 1918 und 1920: MAI/BÜTTNER (wie Anm. 8), 20 f. – Im Archiv der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn befindet sich der Aktenbestand zum Reichsverband für das Katholische Deutschtum im Ausland, den es noch auszuwerten gilt.

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durch Bücherversendung), die Seelsorge und die Wirtschaft. Wenige Jahre nach seiner Gründung hatten sich dem Reichsverband bereits 39 Missionsgesellschaften, sieben Missionsvereine sowie 15 weitere Verbände angeschlossen. Er präsentierte sich innerhalb der auslandsdeutschen Organisationsstrukturen in der Weimarer Republik als gut vernetzt, verfügte über einen Sitz im Verwaltungsrat des Deutschen Auslandinstituts in Stuttgart, über Kontakte zum Auswärtigen Amt, war Mitglied im Deutschen Schutzbund und im Verein für das Deutschtum im Ausland (VDA), der in diesem Bereich zentralen Organisation innerhalb des Deutschen Reiches. Offensichtlich suchte der Verbandsvorstand aber nicht nur die Nähe zu säkularen Vereinen. Um seine Bedeutung und Kooperationsfähigkeit zu demonstrieren, hieß es in der Festschrift zum 20. Gründungsjubiläum im Jahr 1939 rückblickend, dass sich katholische und evangelische Verbände in diesem Punkt – der so genannten ‚auslandsdeutschen Aufgabe‘ – zur Zusammenarbeit bekannt hätten.12 In dieser Hinsicht präsentierten katholische und evangelische Vereine in ihren offiziellen Bekundungen Einigkeit, obgleich es in den 1920er- und 1930er-Jahren zwischen ihnen auch zu Spannungen kam.13 Unabhängig davon hatte es während der Zwischenkriegszeit offenbar den Wunsch von Behörden, Parlamentskreisen und Deutschtumsorganisationen gegeben, die internationalen Beziehungen der deutschen Katholiken generell für die Positionierung des Deutschen Reiches in der Weltpolitik im positiven Sinne zu nutzen, denn nach dem Ersten Weltkrieg hatten sich die Rahmenbedingungen deutlich gewandelt.14 Die internationalen Beziehungen, etwa in Bezug auf die Wirtschaft und die Wissenschaft, waren abgebrochen und die Deutschen größtenteils isoliert. Die wissenschaftliche Forschung und kulturpolitische Beratung zum Auslandsdeutschtum hatte auch aus diesem Grund schnell an Bedeutung gewonnen. Durch seine Verbindungen zu Politik und Wissenschaft gleichermaßen sowie seinem Interesse am Auslandsdeutschtum und an Minderheitenfragen wurde der Prälat und Akademiker Georg Schreiber (1882–1963) zu einem einflussreichen Protagonisten aus dem katholischen Milieu. Er hatte Theologie und Philologie studiert, habilitierte sich und war 1917 zum ordentlichen Professor für Kirchengeschichte und historische Caritaswissenschaft an die Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster berufen worden. 1920 ging er als Reichstagsabgeordneter für die Zentrumspartei in Berlin in die Politik und engagierte sich darüber hinaus im Vorstand des Reichsverbandes für das katholische Deutschtum 12 MAI/BÜTTNER (wie Anm. 8), 7, 22, 26; P. Ansgar SINNIGEN: Der Reichsverband für die katholischen Auslanddeutschen e. V., in: Der Auslanddeutsche. Halbmonatsschrift für Auslanddeutschtum und Auslandkunde, 16 (1925), 459 f.; Klemens-August RECKER: „Wem wollt ihr glauben?“ Bischof Berning im Dritten Reich, Paderborn [u. a.] 1998, 16 f. 13 Universitätsarchiv Münster, Best. 4 Nr. 1299, Rektor (1902–1970), Sachakten, 1. Forschungsstelle für Auslandsdeutschtum und Auslandskunde, 2. Katholisches Studentenheim, 3. Deutsche Burse vol. I. 1927–1932. 14 MAI/BÜTTNER (wie Anm. 8), 24.



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im Ausland.15 Nach Auffassung von Schreiber sollte die Nationalidee, die dem Konzept ‚Auslandsdeutschtum‘ zugrunde lag, mit der Idee des Universalismus und mit menschen- und völkerrechtlichen Fragen verbunden werden. Der demokratische Staat ebenso wie seine internationalen Beziehungen und die im Völkerbund verhandelten Minderheitenfragen stellten für ihn hierbei die Grundlagen dar.16 Bis 1933 verfügte Schreiber über Einfluss und sehr gute Beziehungen in die Berliner Ministerien. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verlor er allerdings seine Ämter – auch das im Reichsverband – und wurde zeitweise verfolgt. Die Nationalsozialisten gingen intensiv gegen seine Deutungen vor und hinderten ihn an der weiteren Tätigkeit in Bezug auf die ‚Grenz- und Auslandsdeutschen‘, die ab 1933 die amtliche Bezeichnung ‚Volksdeutsche‘ erhielten. In teils modifizierter personeller Zusammensetzung wurde jedoch das katholische und evangelische Engagement für das ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ in den Verbänden während der Zeit des Nationalsozialismus fortgesetzt. Eine bedeutende, vor allem aber umstrittene führende Rolle spielte dabei der Bischof von Osnabrück, Wilhelm Berning (1877–1955). Er war seit 1921 Präsident des Raphaelsvereins und Schirmherr des Reichsverbandes. Daher bezeichnete Richard Mai ihn als „Apostel der katholischen auslandsdeutschen Missionsarbeit“.17 Auf der Fuldaer Bischofskonferenz 1927 erhielt Berning den amtlichen Auftrag für die religiöse Betreuung und Versorgung der deutschen Katholiken im Ausland. Er trat offenbar auch für Schreiber ein, als dieser von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und seine politisch initiierte Versetzung nach Braunsberg bevorstand. Später wiederum verteidigte Schreiber die Rolle Bernings in der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Publikation „Katholische Kirche und deutsches Volkstum“ von 1934, deren Erstentwurf wahrscheinlich ein Jahr zuvor von Schreiber selbst verfasst worden war.18 Die Herausgabe des Werkes erfolgte durch die Deutsche Akademie München, die 1924/25 als Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums gegründet worden war. Eingeleitet wurde der Band mit den Worten: „Die nationalsozialistische Bewegung, deren Grundgedanken immer mehr Anhänger unter den Völkern der Erde gewinnen, kämpft in Deutschland nach der Eroberung der politischen Macht noch leidenschaftlich um das entschiedene und freudige Anerkenntnis durch Herz und Verstand.“19 15 SINNIGEN (wie Anm. 12). 16 Vgl. hierzu u. a.: Georg SCHREIBER: Das Auslanddeutschtum als Kulturfrage, Münster 1929 (Deutschtum und Ausland: Studien zum Auslanddeutschtum und zur Auslandkultur, 17/18); SCHREIBER (wie Anm. 8). 17 MAI/BÜTTNER (wie Anm. 8), Vorwort; RECKER (wie Anm. 12). 18 Rudolf MORSEY: Georg Schreiber, der Wissenschaftler, Kulturpolitiker und Wissenschaftsorganisator, in: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde, 131/132 (1982), 121–159, hier 146 f.; RECKER (wie Anm. 12), 86, FN 30. 19 Wilhelm BERNING: Katholische Kirche und deutsches Volkstum, München 1934 (Das Neue Reich), Einband. – Berning hatte den Titel eines Senators der Deutschen Akademie inne. Vgl.

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Berning konstatierte in der Publikation eine historische Verbindung zwischen Germanentum und Christentum und argumentierte, dass die katholische Kirche die „Hüterin und Förderin des deutschen Volkstums“ sei – insbesondere „für die Diaspora des Deutschtums im Auslande“.20 Er beabsichtigte möglicherweise, die Deutungshoheit über die Thematik für die katholische Kirche zu wahren, passte sich mit der Publikation aber zugleich den neuen politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten an. Von 1939 bis 1944 erfolgten staatlicherseits im Rahmen der so genannten Umsiedlungen drastische Eingriffe bezüglich der Deutschen im Ausland beziehungsweise der ‚Volksdeutschen‘.21 Mehrheitlich wurden sie zunächst in den besetzten Gebieten im östlichen Europa angesiedelt, nachdem die jeweils dort ansässige polnische, jüdische, serbische oder slowenische Bevölkerung deportiert oder ermordet und ihr Besitz konfisziert worden war. In geheimen Zusatzprotokollen, bi-nationalen Verträgen und Vereinbarungen mit der Sowjetunion, Italien und Rumänien erfolgten die Festlegungen zur Durchführung des jeweiligen Bevölkerungstransfers. Betroffen waren die deutschsprachigen Bewohner unter anderem im Baltikum, in Bessarabien, Galizien, der Dobrudscha, der Gottschee und der Bukowina.22 In den für sie vorgesehenen neuen ‚Siedlungsgebieten‘, also in den vom Deutschen Reich besetzten Regionen, sollten spezielle Heimatmuseen der ‚Volksdeutschen‘ entstehen, wie die beispielhafte Untersuchung zur Konzeption des Museums für die Deutschen aus der Gottschee durch die Volkskundler Olaf und Petra Bockhorn im Detail zeigt. Kulturkommissionen, die der Organisation ‚Das Ahnenerbe‘ angehörten, betrieben in der Gottschee Objektakquise und konfiszierten Sammlungen und ganze Häuser.23 Diese staatlichen ‚Musealisierungen‘ wurden von der Gottscheer Bevölkerung nicht sonderlich begrüßt. In ihren Reihen regte sich Widerstand, insdazu: Edgar HARVOLK: Eichenzweig und Hakenkreuz. Die Deutsche Akademie in München (1924–1962) und ihre volkskundliche Sektion, München 1990 (Münchner Beiträge zur Volkskunde, 11), 80. 20 BERNING (wie Anm. 19), 38. – Zum ‚katholischen Nationalgedanken‘ vgl. Siegfried WEICHLEIN: Nationsbilder und Staatskritik im deutschen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. v. Urs ALTERMATT, Stuttgart 2007 (Religionsforum, 3), 137–151. 21 Dirk JACHOMOWSKI: Die Umsiedlung der Bessarabien-, Bukowina- und Dobrudschadeutschen. Von der Volksgruppe in Rumänien zur „Siedlungsbrücke“ an der Reichsgrenze, München 1984 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission, 32), 24. 22 Dazu gehörten das Geheime Zusatzprotokoll des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrages (‚Hitler-Stalin-Pakt‘ oder ‚Molotow-Ribbentrop-Pakt‘), die Deutsch-Rumänische Vereinbarung von 1940 sowie Anordnungen im Hitler-Mussolini-Abkommen 1939 und der Umsiedlungsvertrag mit Italien von 1941. Vgl. ausführlich zur Zwangsaussiedlung, die der Neuansiedlung der ‚Volksdeutschen‘ vorausging: Ebd., 162 ff., 191; Wolfgang BENZ: Ausgrenzung, Vertreibung, Völkermord. Genozid im 20. Jahrhundert, München 2006, 117–119. 23 Olaf BOCKHORN/Petra BOCKHORN: Das neue „Gottscheer Heimatmuseum“. Zur Geschichte und Ideologie eines nicht verwirklichten Museums, in: Politik der Präsentation. Mu-



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besondere die Pfarrer vor Ort sprachen sich sowohl gegen die Umsiedlung der Menschen als auch die Translozierung der Häuser und die ‚Zwangs‘-Musealisierung ihrer Kultur aus.24 Aufgrund des Zweiten Weltkrieges und des Endes der nationalsozialistischen Diktatur blieben die nur teilweise ausgeführten musealen Maßnahmen in späteren Jahren weitgehend unbekannt. Doch das generelle Bedürfnis, in gewisser Weise ‚Volkstum‘ zu bewahren, nun nicht mehr das ‚Deutschtum im Ausland‘, sondern die regionalspezifischen Charakteristiken der Flüchtlinge und Vertriebenen innerhalb Westdeutschlands, setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg teilweise fort. In der Nachkriegszeit hatten kirchliche Verbände im Vergleich zu anderen Organisationen in den westdeutschen Besatzungszonen größeren Einfluss und Handlungsspielraum. Für sie galt das Koalitionsverbot der Besatzungsmächte nicht, das die Möglichkeiten für politisch-gesellschaftliche Zusammenschlüsse von Flüchtlingen und Vertriebenen beschränkte. 1946 wurde bereits die Katholische Osthilfe gegründet, die in die Arbeitsgemeinschaft der katholischen Vertriebenenorganisationen überging.25 In der Zeit des staatlichen Zusammenbruchs und somit fehlender staatlicher Ordnung und Orientierung boten die christlichen Kirchen oftmals institutionelle wie auch personelle Kontinuitäten.26 Die eingangs erwähnte Kirchliche Hilfsstelle bildete hier keine Ausnahme. Wilhelm Berning, bis in die 1940er Jahre Präsident des Reichsverbandes für das katholische Deutschtum im Ausland, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Protektor der Kirchlichen Hilfsstelle in Frankfurt/Main und der ihr angeschlossenen Zweigstellen. Er blieb somit unter anderem zuständig für die geflüchseum und Ausstellung in Österreich 1918–1945, hg. v. Herbert POSCH, Gottfried FLIEDL, Wien 1996, 261–275, hier 263 ff. 24 Zur Umsiedlung aus der Gottschee und zum allgemeinen Widerstand dagegen vgl. Hans Hermann FRENSING: Die Umsiedlung der Gottscheer Deutschen: Das Ende einer südostdeutschen Volksgruppe, München 1970 (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission, 24), 73–77, 151. 25 Kurt DRÖGE: Hedwig. Zur Konstruktion von Vertriebenensymbolik, in: Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur (30. Deutscher Volkskundekongreß in Karlsruhe vom 25.–29. September 1995), hg. v. Rolf Wilhelm BREDNICH, Heinz SCHMITT, Münster 1997, 450–458, hier 451 f. 26 Ian CONNOR: The Protestant Churches and German Refugees and Expellees in the Western Zones of Germany after 1945, in: Debatte: Journal of Contemporary Central and Eastern Europe, 15 (1) (2007), 43–63. – Die Rolle der Konfessionen und ihrer Einrichtungen für die ‚Heimatvertriebenen‘ in der Nachkriegszeit wurde in den letzten Jahren intensiv untersucht. Es liegen Sammelbände und Publikationen vor, wie u. a.: Rainer BENDEL: Aufbruch aus dem Glauben? Katholische Heimatvertriebene in den gesellschaftlichen Transformationen der Nachkriegsjahre 1945–1965, Köln [u. a.] 2003; DERS./Stephan M. JANKER (Hg.): Vertriebene Katholiken – Impulse für Umbrüche in Kirche und Gesellschaft. Münster 2005 (Beiträge zu Theologie, Kirche und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, 5); VOSSKAMP (wie Anm. 7); Karin POHL: Zwischen Integration und Isolation. Zur kulturellen Dimension der Vertriebenenpolitik in Bayern (1945–1975), München 2009 (Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge, 13).

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teten und vertriebenen ‚Auslandsdeutschen‘.27 Zu den Mitarbeitern der Kirchlichen Hilfsstelle gehörten Albert Büttner, Richard Mai, Hans Schütz und Paulus Sladek. Büttner (1900–1967) gilt als ihr Initiator im Jahr 1945. Seit 1938 hatte er bereits die Leitung des Reichsverbandes für das katholische Deutschtum im Ausland in Berlin inne. Mit dem Verbandsbericht legte Büttner 1945, wie Rainer Bendel nachweist, zugleich den Plan für die Kirchliche Hilfsstelle – den neuen Umständen entsprechend modifiziert – vor.28 Richard Mai, 1900 in Aachen geboren, war in den 1930er-Jahren ein Mitarbeiter von Georg Schreiber, als dieser noch Reichstagsabgeordneter war. Seine Stelle im Reichsverband für das Katholische Deutschtum im Ausland hatte Mai offenbar auf Vermittlung Schreibers 1933 erhalten. Nach eigenen Angaben unterstützte er wiederum Schreiber in den Phasen der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mai selbst gab 1936 die „Auslanddeutsche Quellenkunde“ für den Zeitraum 1924 bis 1933 heraus und wurde nach dem Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg Geschäftsführer der Kirchlichen Hilfsstelle in München.29 Hans Schütz, (1901–1982) engagierte sich in christlichen Gewerkschaften, war in den 1920er Jahren im Reichsbund der Deutschen Katholischen Jugend in der ČSR und von 1926 bis 1938 „Vertrauensmann für die katholischen Auslandsdeutschen der Tschechoslowakei“30 beim Reichsverband in Berlin. Aus dieser Zeit rührte seine Bekanntschaft mit Büttner und Mai. Zunächst Mitglied der Christlich-Sozialen Volkspartei, trat Schütz nach 1938 in die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins ein und der NSDAP bei. In den 1940er Jahren wurde er zum Mitbegründer der Kirchlichen Hilfsstelle und der Ackermann-Gemeinde. Der Historikerin Karin Pohl zufolge wirkte sich das „weitgespannte Netzwerk der katholischen Kirche“31 und ihr nahestehender Institutionen günstig auf seine Nachkriegskarriere aus. Pater Paulus Sladek (1908–2002) führte die Kirchliche Hilfsstelle später weiter als „Katholische Arbeitsstelle für Heimatvertriebene/Süd“.32 Er dürfte durch die Jugendbewegung und den Bund Staffelstein mit dem Reichsverband in Verbindung gestanden haben. Den Bund Staffelstein in der ČSR leitete wiederum Eduard Winter 27 VOSSKAMP (wie Anm. 7), 101. 28 Darüber hinaus gründete Büttner 1946 das Priesterseminar und den Flüchtlingskonvikt in Königstein (Taunus). Vgl. dazu: Rainer BENDEL: Konnten sie das Erbe des Aufbruchs bewahren? Schlesische Katholiken in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und Kirche, in: Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum, hg. v. Joachim KÖHLER, Rainer BENDEL, Münster [u.a.] 2002 (Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa, 1), 843– 925, hier 902. 29 Richard MAI: Mit ...00 fängt‘s an. Ein Mensch erlebt das 20. Jahrhundert, Starnberg-Söcking 1989, 49, 127; DERS.: Auslanddeutsche Quellenkunde. 1924–1933, Berlin 1936. 30 POHL (wie Anm. 26), 549, 192. 31 Ebd., 190; VOSSKAMP (wie Anm. 7), 27. 32 POHL (wie Anm. 26), 550.



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(1896–1982), Professor für Kirchengeschichte, der unter anderem Autor eines Beitrages über die katholische Jugendbewegung in der Tschechoslowakei im Jahrbuch des Reichsverbandes für das Katholische Deutschtum im Ausland im Jahr 1926 war.33 Zudem stand Winter in Verbindung mit Georg Schreiber und gab beispielsweise den ersten Band in Schreibers Schriftenreihe zum Auslandsdeutschtum über die Deutschen in der Slowakei heraus. Sabine Voßkamp geht davon aus, dass nach dem Zweiten Weltkrieg wissentlich an diese eher positiv besetzte Tradition des sudetendeutschen Katholizismus angeknüpft wurde und aus diesem Grunde eine identitätsstiftende Wirkung langfristig möglich war.34 Im Fall der Kirchlichen Hilfsstelle dürften besonders die personellen Kontinuitäten von Bedeutung gewesen sein. Vor dem Zweiten Weltkrieg galten die Betroffenen als Gleichberechtigte und „Brüder im Ausland“35 und so konnte man sich in Abgrenzung zum Bild des so genannten ‚armen Ostflüchtlings‘ offenbar auf alternative Identitätsrepräsentationen verständigen. Die Vertrautheit mit den Betroffenen und ihren Herkunftsregionen in der unmittelbaren Nachkriegszeit dürfte im Prozess des Umbruchs förderlich für die Hilfsstelle gewesen sein und war vermutlich prägend für das Selbstverständnis und von Einfluss für die Identitätsfindung der Betroffenen.

2. Heimatsammlungen Als identitätsstiftend galten ebenso die insgesamt etwa 590 Heimatstuben, die seit dem Ende der 1940er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland von deutschsprachigen Flüchtlingen, Vertriebenen und Spätaussiedlern eingerichtet wurden, welche nur zum Teil als vormals ‚auslandsdeutsch‘ galten. Aus den für die Untersuchung ihres historischen Kontextes analysierten Akten und Unterlagen der Behörden, Verwaltungen und Vertriebenenverbände geht hervor, dass die Heimatsammlungen im Zusammenhang mit kulturellen Maßnahmen entstanden, die den Eingliederungsprozess in den 1950er- und 1960er-Jahren fördern sollten. Sie wurden unter dem Begriff der ‚Ostdeutschen Kulturarbeit‘ organisiert. Zu den wichtigsten Faktoren für ihre Verbreitung und für die hohen Gründungszahlen gehörten die ‚west-ostdeutschen‘ Patenschaften und die Einführung des so genannten Kulturparagraphen, § 96 des Bundesvertriebe33 Eduard WINTER: Die deutsche katholische Jugendbewegung in der Tschechoslowakei, in: Jahrbuch des Reichsverbandes für die katholischen Auslanddeutschen, hg. v. P. Ansgar SINNIGEN, Ludwig SCHADE, Münster 1926, 175–182. – Zur Rolle Eduard Winters vgl. Ota KONRÁD: Geisteswissenschaften an der Deutschen Universität in Prag (1938/39–1945), in: Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, hg. v. Karen BAYER, Frank SPARING, Wolfgang WOELK, Stuttgart 2004, 219–248, hier 231 ff. 34 VOSSKAMP (wie Anm. 7), 27. 35 Richard MAI: Begegnung von Mission und Auslandsdeutschtum, in: DERS./BÜTTNER (wie Anm. 8), 15.

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nengesetzes, der die Förderung von Kultur und Wissenschaft gesetzlich festhielt und dauerhaft in der bundesrepublikanischen Innen- und Kulturpolitik verankerte.36 Die institutionellen Ergebnisse beider Phänomene – der Heimatsammlungen wie der Patenschaften – dienten den Behörden in den Jahren darauf als offensichtlicher Beweis der Anerkennung und der erfolgreichen Eingliederung der Betroffenen in die Gesellschaft der Bundesrepublik. Für beide Phänomene ließen sich Anknüpfungspunkte bezüglich der ‚Auslandsdeutschen‘ nachweisen. Im konkreten Fall wurde beispielsweise eine siebenbürgisch-sächsische Bauernstube im neuen Siebenbürgischen Heimatmuseum in Gundelsheim eingerichtet, die nahezu vollständig erhalten war. Dabei handelte es sich um ein Exemplar, das vor dem Zweiten Weltkrieg vom Deutschen Ausland-Institut (DAI) in Stuttgart akquiriert worden war.37 Als Museum und Institut zur Kunde des Auslanddeutschtums und zur Förderung deutscher Interessen im Ausland 1917 gegründet, hatten seine Mitarbeiter die Stube 1926/27 erworben, um die „museale Darstellung des gesamten Auslanddeutschtum[s]“38 zu bereichern, wie dem zeitgenössischen Institutsbericht zu entnehmen war. Die Musealisierung der ‚auslandsdeutschen Kultur‘ hatte folglich in der Weimarer Republik begonnen und auf sie konnte teilweise zurückgegriffen werden, denn offensichtlich war die damalige Kultur- und Deutschtumspolitik unter Ausblendung ihrer folgenschweren Zuspitzung im Nationalsozialismus als erfolgreich in Erinnerung geblieben. Dieser Aspekt lässt sich ebenso in Bezug auf die west-ostdeutschen Patenschaften erkennen. Die Vertriebenenorganisationen und kommunale Behörden knüpften an die nationalen Solidaritätsbekundungen, Hilfsmaßnahmen und das Selbstverständnis nationalistischer Vereine aus der Vor- und 36 Zur Entstehung und Auslegung des § 96 BVFG vgl. POHL (wie Anm. 26), 319 ff. – Zum Quellenmaterial gehörten u. a. die Akten zur kulturellen Betreuung von Flüchtlingen, Vertriebenen und Aussiedlern in Kommunal- und Landesarchiven sowie im Bundesarchiv. Vgl. dazu: Cornelia EISLER: Verwaltete Erinnerung – symbolische Politik. Die Heimatsammlungen der deutschen Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler, München 2015 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 57), 28 ff., 243 ff. – Die Dokumentation der Heimatsammlungen in der Bundesrepublik Deutschland von 2008 bis 2012 des Seminars für Europäische Ethnologie der Universität Kiel zusammen mit dem Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa in Oldenburg ist online verfügbar, vgl. http://www.bkge.de/Heimatsammlungen/ [Stand: 01.07.2015]. 37 Zur Bewahrung unserer Volkskultur. Das Heimatmuseum der Siebenbürger Sachsen auf Schloß Horneck in Gundelsheim, in: Siebenbürgische Zeitung vom 31.07.1968, 3. – Siehe auch: Frauenarbeit der Landsmannschaft, in: Siebenbürgische Zeitung vom 15.12.1972, 1 f. 38 Zit. nach: Martin SECKENDORF: Kulturelle Deutschtumspflege im Übergang von Weimar zu Hitler am Beispiel des Deutschen Ausland-Instituts (DAI). Eine Fallstudie, in: Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang JACOBEIT, Hannjost LIXFELD, Olaf BOCKHORN, Wien [u. a.] 1994, 115–135, hier 126; Katja GESCHE: Kultur als Instrument der Außenpolitik totalitärer Staaten. Das Deutsche Ausland-Institut 1933–1945, Köln [u. a.] 2006, 84.



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Zwischenkriegszeit an, wenn sie im Rahmen der neu entstehenden Patenschaften auf die Ostpreußenhilfe, die daran anschließend entstandenen ‚Deutschtumspatenschaften‘ und auf die Aktivitäten zum ‚Volkstumsschutz‘ des VDA verwiesen. Die Argumentationen zur Begründung der Pfleg- und Patenschaften der Nachkriegssituationen sowohl in den 1920er als auch in den 1950er Jahren ähnelten sich insofern, als jeweils eine nationale Niederlage zu bewältigen war und die neuen Grenzziehungen von nationalistischen Akteuren nicht anerkannt und folglich Revisionen gefordert wurden – nach dem Versailler Vertrag ebenso wie nach dem Potsdamer Abkommen. Es wurde jeweils die Solidarisierung der deutschen Gemeinschaft in Ost und West angemahnt, um die ‚Krise‘ der Nation zu überwinden. Im Blickfeld der Bemühungen stand folglich, das Verständnis für eine deutsche ‚Schicksalsgemeinschaft‘ zu wecken und somit die nationale Identitätsstiftung zu fördern. Ideologische Parallelen im nationalkonservativen Denken der beteiligten Akteure finden sich zudem in der vermeintlichen Rettung, Erhaltung und Präsentation des ‚Deutschtums‘.39 Der katholische Volkskundler Alfons Perlick aus Oberschlesien rief beispielsweise dazu auf, Gebet- und Gesangbücher „aus dem deutschen Osten“ zu sammeln, die „recht wertvoll“ seien, „da sie den Nachweis bring[en], daß dort deutsch gebetet und gesungen wurde“.40 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand allerdings auch eine Vielzahl an Sammlungen, die der lokalen und regionalen Gemeinschaftsbildung dienen sollten. Zusammengetragen wurden Dinge, die der Mehrheit der ehemaligen Bewohner bekannt waren, wie etwa Gegenstände aus Kirchen, Paramente, liturgisches Gerät, Reliquien, Andachtsbilder, Glocken, Bibeln und Gesangbücher. Die Gegenstände waren von den Verantwortlichen zumeist gut behütet, gewöhnlich leicht zu transportieren und daher mit auf die Flucht genommen worden; zugleich schienen sie notwendig und womöglich zukünftig verwendbar zu sein. Aus diesem Grund blieb ihre Musealisierung über viele Jahre umstritten. Einige Betroffene deuteten den Übergang der zuvor im Gebrauch befindlichen Gegenstände in eine museale Sammlung als endgültige Auflösung ihrer Lebenswelt samt der kulturellen Ausdrucksformen. Alternativ dazu forderten sie, die Wahrung religiöser Kultur 39 EISLER (wie Anm. 36), 208–229. – Von der „Rettung unseres Selbstbestimmungsrechtes“ und der „Vereinigung im großen Deutschen Reiche“ war bereits in der Zwischenkriegszeit die Rede und die Frauengruppe des VDA unterhielt 1914 eine „Hilfsstelle für Vertriebene“, die sich zur Flüchtlingszentrale entwickelte. Vgl. dazu: Erwin BARTA/Karl BELL (Hg.): Geschichte der Schutzarbeit am deutschen Volkstum [Gedenkbuch zum fünfzigjährigen Bestehen der Schutzvereine 1930]. Dresden 1930, 8. – Staatliche Flüchtlingsverteilungsstellen und Heimkehrerlager folgten nach 1920 aufgrund der Auswanderung aus Gebieten, die nach dem Versailler Vertrag abgetreten wurden. Vgl. dazu: Jochen OLTMER: Migration und Politik in der Weimarer Republik, Göttingen 2005, 120 f. 40 Alfons PERLICK: Ostdeutsche Heimatstuben und Heimatsammlungen, in: Ostdeutsche Patenschaften, Heimatstuben, Heimatsammlungen im Lande Nordrhein-Westfalen. Vorträge und Aussprache auf der Patenschaftstagung am 16. Oktober 1964 in Mönchengladbach (Beilage zur Februar-Ausgabe 1965 „Der Wegweiser“), o. O. 1965, 17–23, hier 18.

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und ihrer Formen attraktiv und lebendig im Interesse kommender Generationen, insbesondere für die katholische Jugend zu gestalteten.41 Je stärker aber die Integrationsmaßnahmen griffen und die vormaligen Gemeinden sich auflösten, desto höher stieg die Bedeutung der Heimatstuben als Auffangstätten. Hinzu kam, dass die Verwendung liturgischen Geräts aus den Gemeinden im östlichen Europa in binnendeutschen Kirchen häufig nicht erwünscht war. Marion Wetzel untersuchte diesen Aspekt für evangelische Kirchen in Schleswig-Holstein. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass immaterielle Formen, wie etwa Lieder, durchaus einbezogen wurden, aber die Visualisierung der Ankunft von ‚Ostflüchtlingen‘ anhand der Präsentation sakraler Gegenstände in den Kirchen am Widerstand der schleswig-holsteinischen Gemeinden vornehmlich in ländlichen Regionen oftmals scheiterte.42 Die gewohnte Ausstattung sollte unverändert bleiben. Die ‚ostdeutschen‘ Gerätschaften blieben somit ungenutzt und letztlich stellten die Heimatstuben einen angemessenen Ort der Bewahrung für sie dar. Den nahezu 600 Heimatstuben sind auch einige spezifisch konfessionell geprägte Einrichtungen zugeordnet. Dazu gehört beispielsweise die Sammlung der Benediktinerabtei Braunau in Rohr (Bayern), die unter anderem liturgische Gewänder verwahrt und eine Ausstellung zur ‚Volksfrömmigkeit‘ zeigt sowie die Heimatsammlung Leobschütz des Bischof-Nathan-Werks Eschershausen. Eine vergleichsweise umfangreiche Sammlung befindet sich im Ermlandhaus der Visitatur Ermland und des Historischen Vereins für Ermland e.V. Zusammengeführt mit der Visitatur Breslau und der Visitatur Grafschaft Glatz (Sonderseelsorge) sind sie heute in das Bistum Münster eingegliedert. Die Bestände enthalten das Vereinsarchiv des Historischen Vereins Ermland e.V., eine Personalkartei und die Heimatortskarteien. Von Bedeutung sind zudem die Nachlässe. Kreuz, Bischofsstab und Archivalien zum Seligsprechungsprozess von Bischof Maximilian Kaller (1880–1947) haben sich beispielsweise erhalten. Kaller, im oberschlesischen Beuthen geboren, stellte zudem eine weitere führende Persönlichkeit mit Bezug zu den ‚Auslandsdeutschen‘ dar. Er wurde 1903 zum Priester geweiht und wirkte unter anderem in Bergen auf Rügen und an der Pfarrkirche St. Michael in Berlin. 1926 wurde er Apostolischer Administrator der Apostolischen Administratur Tütz-Schneidemühl und mit den Verhältnissen in der östlichen Grenzregion vertraut. Zum Bischof von Ermland ernannte ihn der Papst im Jahr 1930.43 Kaller 41 BENDEL (wie Anm. 28), 885 f.; VOSSKAMP (wie Anm. 7), 153 ff. 42 Marion Josephin WETZEL: Die Integration von Flüchtlingen in evangelische Kirchengemeinden. Das Beispiel Schleswig-Holstein nach 1945, Münster 2009 (Kieler Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 7), 211. 43 Thomas FLAMMER/Hans-Jürgen KARP (Hg.): Maximilian Kaller, Bischof der wandernden Kirche. Flucht und Vertreibung, Integration, Brückenbau. Münster 2012 (Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands: Beiheft, 20); Hans-Jürgen KARP: Zum Stand der historischen Forschung über Maximilian Kaller, in: Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945, hg. v. Rainer BENDEL, Köln [u. a.] 2008, 107–118.



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verfasste 1935 das Vorwort für das Jahrbuch des Reichsverbandes und zählte darin die historischen ‚Leistungen des Deutschtums‘, etwa „die Vorstöße deutscher Kraft im Mittelalter, nach Osten und Südosten“44 auf, sowie die Siedlungen im Wolgagebiet, Siebenbürgen, Kurland und Livland. Er nationalisierte historische Ereignisse, interpretierte Mission, Kolonisierungen und Wallfahrten als ‚deutsche Sendungen‘ in die Welt. Als grundlegende Motivation sah er hierfür den „wunderbaren Zusammenklang von deutschem Volkstum und katholischem Glauben“ und merkte an: „Katholische Begeisterung und deutsche Schaffenskraft ließen deutsche Kolonien entstehen, die ihresgleichen in der Welt suchen.“45 Wie Schreiber und Berning interpretierte er die vermeintliche Wechselwirkung von Katholizismus und Nationalismus zum Vorteil konfessioneller Entwicklungen. Für die Zukunft erhoffte sich Kaller im Jahr 1935, dass die „beiden erwachenden Kräfte: deutsche katholische Kirche und deutsches Volkstum wiederum ganz und gern Hand in Hand arbeiten“, um „im Inlande und im Auslande Großes“ zu schaffen, „das die Jahrhunderte überdauert“.46 Ende der 1930erJahre distanzierte er sich allerdings vom Nationalsozialismus und gehörte nach dem Zweiten Weltkrieg selbst zu den evakuierten, geflüchteten beziehungsweise vertriebenen Seelsorgern. Kaller wurde 1946 zum Päpstlichen Sonderbeauftragten für die heimatvertriebenen Deutschen berufen.47

3. Fazit Die biographischen Verläufe vieler Protagonisten, die mit dem ‚Grenz- und Auslandsdeutschtum‘ in Verbindung standen, zeigen durchaus Gemeinsamkeiten. Von Flucht, Vertreibung oder Emigration betroffen, fanden sie umgehend wieder einen Einstieg in ihre Tätigkeit, mit karitativem Aspekt und auf die ‚katholischen Deutschen‘ aus dem östlichen Europa fokussiert, die nun in der Bundesrepublik lebten.48 Bezüglich 44 KALLER (wie Anm. 11), 3. – Zur Rolle Kallers in den Plänen zur Ostsiedlung Anfang der 1930er-Jahre vgl. Tillmann BENDIKOWSKI: „Lebensraum für Volk und Kirche“. Kirchliche Ostsiedlung in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“, Stuttgart [u. a.] 2002 (Konfession und Gesellschaft: Beiträge zur Zeitgeschichte, 24). 45 KALLER (wie Anm. 11), 3. 46 Ebd., 5. 47 Rainer BENDEL: Maximilian Kaller – Grundanliegen des „Vertriebenenbischofs“, in: FLAMMER/KARP (wie Anm. 43); Karolina LANG: Identität, Heimat und Vernetzung unter dem Schirm Gottes. Die ermländische Glaubensgemeinschaft in den ersten Nachkriegsjahren, in: BENDEL (wie Anm. 43), 163–174, hier 167 f. 48 Eine Ausnahme stellte Georg Schreiber dar, dessen Interesse am ‚Auslandsdeutschtum‘ keine nachgewiesenen Aktivitäten bezüglich der Flüchtlinge, Vertriebenen und Aussiedler und auch nicht in der Vertriebenenvolkskunde nach sich zog. Cornelia EISLER: Georg Schreiber und die Forschungsstelle für Auslanddeutschtum und Auslandkunde in Münster, in: Kieler Blätter zur Volkskunde, 46 (2014), 69–84.

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der karitativen Betreuung in der Zwischenkriegszeit stellt sich allerdings die Frage, ob man durch die Hinwendung zur deutschsprachigen Bevölkerung im Ausland nicht erst die Notwendigkeit einer solchen Obhut als gesellschaftliche Aufgabe definiert und konstruiert hat, die später aufgrund der politischen Entwicklungen tatsächlich zum Ernstfall wurde, auch, da der nationalsozialistischen Diktatur nicht ausreichend Widerstand geboten wurde. Inwieweit nun Richard Mais Aussage, dass von der Kirchlichen Hilfsstelle München das Phänomen der ‚Ostdeutschen Heimatstuben‘ seinen Ausgang nahm, zutrifft, ist schwierig einzuschätzen. Obgleich die kommunalen Patenschaften und Kreispatenschaften einen wichtigen Bestandteil bezüglich der Verbreitung des Heimatstuben-Phänomens darstellten, fanden sie in Mais Bericht keine Erwähnung.49 Konkrete Belege dafür, dass in München die ‚Ostdeutschen Heimatstuben‘ ihren Anfang genommen hätten, ließen sich bislang nicht finden. Mit Ausnahme der Stellungnahme von Mai sind folglich direkte Bezüge zur Kirchlichen Hilfsstelle nicht festzustellen. Zumindest aber in den Absichten und Planungen der Hilfsstelle und der vielen Initiatoren und Initiatorinnen der Heimatsammlungen lassen sich Übereinstimmungen ausmachen. Hatten die Ziele der kirchlichen Organisationen bis in die 1930er-Jahre hinein noch in der Wahrung der nationalen wie konfessionellen Verhältnisse in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches in situ bestanden, so war die Wahrung des ‚Deutschtums‘ und der konfessionellen Gegebenheiten im Ausland in der Nachkriegszeit freilich in weite Ferne gerückt. Die neue Zielstellung umfasste zunehmend die Erhaltung vermeintlich spezifisch regional und religiös geprägter Kultur(en) in der Bundesrepublik Deutschland und somit aus der Perspektive vieler Beteiligter ex situ. Dazu gehörte die Sicherung des materiellen wie immateriellen ‚Kulturgutes‘ der Flüchtlinge und Vertriebenen.50 Die ‚Ostdeutschen Heimatstuben‘ als semi-museale Institutionen und Ergebnis der politisch-gesellschaftlichen Brüche übernahmen diese Funktion, stellten zugleich aber ein quasi eigenständiges Element der Erinnerungskultur in der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass gewisse Kontinuitäten in kirchlichen Belangen ungeachtet politischer Umbrüche erkennbar waren. Doch zugleich erfolgten – zumindest bis zu einem bestimmten Grad – Anpassungen an die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen.

49 EISLER (wie Anm. 36), 173 ff. 50 Generell forderte der Beauftragte der Fuldaer Bischofskonferenz für die Heimatvertriebenenseelsorge die kulturelle und religiöse Förderung der Heimatvertriebenen. Zur Betreuung etwa der schlesischen Katholiken vgl. BENDEL (wie Anm. 28).

Robert Schäfer AUS DER NOT GEBOREN Die Regnitzau-Siedlung in Hirschaid und die St. Johanniskirche als bauliche Zeugnisse von Flucht und Vertreibung Auf halber Strecke zwischen Bamberg und Forchheim liegt im Tal der Regnitz die Marktgemeinde Hirschaid. Der Ort entwickelte sich seit dem frühen Mittelalter an einer belebten Königs- und Handelsstraße und profitierte im Laufe seiner Geschichte stark von dieser verkehrsgünstigen Lage. Der Bau des Ludwig-Donau-Main-Kanals und vor allem der Ludwig-Süd-Nord-Bahn von Lindau nach Hof begünstigten im 19. Jahrhundert die Industrialisierung Hirschaids und damit einhergehend ein stetiges Bevölkerungswachstum. (Abb. 1)

Abb. 1: Blick über die Regnitzau-Siedlung, 2014. Oben am Bildrand Hirschaid, unten Sassanfahrt, dazwischen der Main-Donau-Kanal sowie der Flusslauf der Regnitz. Foto: Luftbildarchiv Rössler, Altendorf.

Rund 1.400 der heute 12.000 Einwohner Hirschaids leben in der Regnitzau-Siedlung, die seit 1949 auf einem vormals weitgehend unbebauten Gelände westlich des Ortszentrums entstand und bald nach ihrer Gründung zur neuen Heimat für zahlreiche

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Vertriebene wurde, welche sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Hirschaid eine neue Existenz aufbauen mussten. Zum geistlichen und architektonischen Mittelpunkt der Siedlung, die sich in ihrem Kern bis heute einen eigenständigen Charakter bewahrt hat, wurde die evangelische St. Johanniskirche, eine der letzten so genannten Notkirchen aus der Zeit des Wiederaufbaus in Bayern nach 1945. Der Begriff der „Notkirche“ wurde nicht erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geprägt; bereits im 18. Jahrhundert wurde die Bezeichnung für Gottesdiensträume evangelischer Diasporagemeinden verwendet, deren frühere Kirchen durch die Gegenreformation rekatholisiert worden und somit für die betreffenden Gemeinden verloren gegangen waren. Bei diesen ersten Notkirchen konnte es sich um Profanbauten handeln, die bei Bedarf als Gottesdienstraum genutzt wurden (beispielsweise eine Scheune) oder aber um dezidierte Kirchenbauten, die jedoch mit einfachsten Mitteln errichtet wurden. Als Beispiel seien an dieser Stelle die Bethäuser der österreichischen Protestanten genannt, die in der Folge des Toleranzpatents Kaiser Josephs II. vom 13. Oktober 1781 entstanden. Diese Bethäuser, anfangs einfache Holzbauten, mussten wie ein Privathaus aussehen und durften weder über einen Turm noch über Glocken verfügen, als Kirche also nicht erkennbar sein.1 Im 19. Jahrhundert wurde der Begriff „Notkirche“ als Synonym für „Interimskirchen“ verwendet und bezeichnete Gotteshäuser, die in möglichst kurzer Zeit und mit möglichst geringem finanziellen Aufwand zu erbauen waren. Vor allem in den durch die Industrialisierung rasch wachsenden Städten wurden solche Interimskirchen errichtet, auch hier zumeist in Holzbauweise und ohne künstlerischen Anspruch. Es waren Kirchen, die nur für eine begrenzte Zeit genutzt und dann wieder abgebrochen wurden, mitunter auch, um anschließend in einer anderen Gemeinde aufs Neue errichtet zu werden. Beide Formen des Notkirchenbaues – die Umdeutung eines profan genutzten Gebäudes oder aber die Errichtung eines von Anfang an als Übergangslösung gedachten Gottesdienstraumes – waren häufig auch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges anzutreffen. In der Kunstgeschichtsschreibung freilich finden diese Bauten bis heute kaum Beachtung. Eine Ausnahme bilden lediglich die Kirchen Otto Bartnings. 1946 verabschiedete das Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland ein Notkirchenprogramm, in dessen Zuge deutschlandweit eine Reihe von seriell gefertigten Montagekirchen in vier verschiedenen Grundtypen bzw. Größen errichtet wurde. Geistiger Urheber dieser vorgefertigten, seriell erstellten Gotteshäuser war der Architekt Otto Bartning 1 Zu den österreichischen Bethäusern siehe u. a. Günter MERZ: Vom Toleranzpatent bis in die Gegenwart, in: Renaissance und Reformation. OÖ. Landesausstellung 2010, hg. v. Karl VOCELKA, Rudolf LEEB und Andreas SCHEICHL, Linz 2010, 371–379, hier 371 f. Zur Herkunft des Begriffs „Notkirche“ siehe u. a. Chris GERBING: Die Auferstehungskirche in Pforzheim (1945–1948). Otto Bartnings Kirchenbau im Spannungsfeld zwischen Moderne und Traditionalismus, Regensburg 2001, 13 f.



Aus der Not geboren

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(1883–1959). Die Palette seiner Notkirchen reichte dabei von kleinen Diasporakapellen und Gemeindezentren bis hin zu großen städtischen Pfarrkirchen, die mehreren hundert Menschen Platz boten. Die genaue Zahl der von Bartning errichteten Notkirchen ist nicht bekannt; es gibt immer wieder neue Zuschreibungen. Frauke Kohnert zählte in einer Untersuchung aus dem Jahr 2000 allein mindestens 48 Diasporakapellen und Gemeindezentren, von denen etliche bis heute genutzt werden.2 Aber weder Bartning noch andere Initiativen wie die Wooden Church Crusade Inc. konnten den Bedarf an Kirchenbauten in den ersten Nachkriegsjahren auch nur annähernd decken. Viele Gemeinden mussten daher über einen längeren Zeitraum mit provisorischen Lösungen leben, die erst nach und nach durch größere und stabilere Kirchenbauten ersetzt wurden.

Abb. 2: Eingangsbuch des Durchgangslagers Hirschaid, 1945. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelangten zahlreiche Vertriebene nach Hirschaid, die zunächst vermutlich im Schulhaus in der Ortsmitte untergebracht wurden. Foto: Museum Alte Schule, Hirschaid.

Eine in den ersten eineinhalb Jahrzehnten nach Kriegsende häufig zu beobachtende Variante von Notkirchen sind Gotteshäuser, die durch die Umnutzung bzw. den Um2 Frauke KOHNERT: 50 Jahre Otto-Bartning-Kirchenprogramm. Dokumentation der 48 Gemeindezentren und Diaspora-Kapellen, Trier 2000.

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bau bereits bestehender Profanbauten entstanden. Hunderte solcher Notkirchen gab es in den ersten Nachkriegsjahren in ganz Deutschland, die meisten von ihnen sind heute längst verschwunden und vergessen. Die St. Johanniskirche in der Regnitzau stellt folglich ein inzwischen seltenes Beispiel einer Notkirche dar, welche durch den Umbau eines zuvor profan genutzten Bauwerks entstand. Beide, Regnitzau und Johanniskirche, sind untrennbar miteinander verbunden und stellen ein anschauliches Zeugnis der Flucht und Vertreibung, aber auch des Neubeginns und der Integration von Vertriebenen in Bayern dar. (Abb. 2) Die eingangs erwähnte verkehrsgünstige Lage Hirschaids sowie der übrigen Gemeinden des Regnitztales – namentlich Strullendorf, Buttenheim, Altendorf und Sassanfahrt – führte seit dem Frühjahr 1945 zu einem massiven Zustrom von Vertriebenen, insbesondere aus Schlesien, dem Sudetenland, Ostpreußen und Bessarabien. Ein erstes Obdach fanden diese in einem Durchgangslager, das vermutlich im Schulhaus in der Ortsmitte von Hirschaid eingerichtet wurde. Da sich aber bald abzeichnete, dass eine nicht geringe Zahl der hier Einquartierten längerfristig bzw. dauerhaft am Ort bleiben würde, sah sich die Gemeindeverwaltung mit dem Problem konfrontiert, ausreichend Unterkünfte für die unerwarteten Neubürger zur Verfügung stellen zu müssen. Die Schaffung von Wohnraum für Ausgebombte und Vertriebene stellte in den ersten Nachkriegsjahren eine der dringlichsten Aufgaben der Kommunen in allen vier Besatzungszonen Deutschlands dar. Mancherorts machte man sich bestehende Bauten und Infrastrukturen einstiger Militäreinrichtungen zunutze; andernorts wiesen Kommunen, die besonders stark vom Flüchtlingsstrom betroffen waren, neues Bauland aus und erfuhren dadurch eine bisweilen erhebliche Vergrößerung ihres Gemeindegebietes und ihrer Einwohnerzahlen. Auch in Hirschaid begegnete man der seit dem Frühjahr 1945 akuten Wohnungsnot mit der Erschließung neuen Baulands. Am 8. Januar 1949 richteten 63 Baulustige ein Gesuch an den Hirschaider Gemeinderat mit der Bitte, von der Kommune Bauland auf Erbbaurecht zu erhalten. Der Gemeinderat gab dem Antrag zehn Tage später statt und vergab im September 1949 nach zähen Verhandlungen mit den übergeordneten Behörden zunächst an 16 Baulustige die ersten Parzellen.3 Bei der Frage nach einem geeigneten Standort für die geplante neue Siedlung war die Wahl des Gemeinderates bereits am 18. Januar 1949 auf ein bis dahin nur spärlich bebautes Stück Land westlich des alten Ortskerns gefallen. Zwischen dem zu dieser Zeit noch existierenden Werkkanal des Laufwasserkraftwerkes Hirschaid – heute durch den Main-Donau-Kanal überbaut – und dem Flusslauf der Regnitz stellte die Gemeinde den künftigen Hausbesitzern das gewünschte Bauland inmitten der so genannten Regnitzau zur Verfügung. Auf den ersten Blick schien das angedachte Sied3 Rudolf PANZER u. a.: Die Regnitzau. Ein Stück Hirschaider Ortsgeschichte, Hirschaid 1999, 92.



Aus der Not geboren

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lungsgelände alles andere als ideal oder gar attraktiv zu sein. Die Zeitzeugin Maria Paulus beschrieb das Areal in der Rückschau als „öde Gegend mit Hügeln, einzelnen Sträuchern und manntiefen Löchern.“4 (Abb. 3)

Abb. 3: Bebauungsplan für die Regnitzau-Siedlung, erstellt 1949 von Richard Hofmann. Foto: Marktgemeindearchiv Hirschaid.

Trotz des wenig einladenden Umfeldes wurde noch im selben Jahr durch den Hirschaider Architekten Richard Hofmann ein Bebauungsplan erstellt, der nach einer Reihe von Korrekturen durch das zuständige Kreisbauamt Bamberg abgesegnet und in den folgenden Jahren schrittweise umgesetzt wurde. Bis heute lässt sich Hofmanns Entwurf im Kern der Siedlung noch gut erkennen. Vier Straßen bilden das Grundgerüst der Regnitzau: die Jahnstraße, die Alleestraße, die St.-Veit-Straße sowie die Gartenstraße. Um dieses Grundgerüst herum wuchs die Siedlung seit den späten 1950er-Jahren um ein Mehrfaches ihrer ursprünglichen Größe an und weist heute außerhalb ihres Kernbereiches eine Bebauung auf, welche vor allem aus Wohnhäusern der 1960erund 1970er-Jahre besteht. (Abb. 4) 4 Ebd., 245.

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Abb. 4: Nachdem der Hirschaider Gemeinderat dem Antrag zugestimmt hatte, in der Regnitzau Bauland auszuweisen, wurden durch das Kreisbauamt Bamberg mehrere Typen-Pläne für die späteren Siedlungshäuser angefertigt. Foto: Museum Alte Schule, Hirschaid.

Schon im Frühstadium der Planungen fasste der Gemeinderat einen Beschluss, der das Erscheinungsbild der neuen Siedlung nachhaltig prägen sollte. Noch in der Sitzung vom 18. Januar 1949 wurde ein erster Entwurf Richard Hofmanns zurückgestellt, welcher den Bau eines Mehrparteienhauses mit sechs Wohnungen zur Behebung der ärgsten Raumnot vorsah.5 Stattdessen folgte man einem Musterplan, der für die neu zu erschließende Siedlung ausschließlich eine Bebauung mit zweigeschossigen Einzelund Doppelhäusern vorsah. 1953 genehmigte der Gemeinderat zwar die Errichtung eines einzelnen Wohnblocks an der Alleestraße,6 der aber zunächst ein Einzelfall bleiben sollte. Erst in späteren Erweiterungsphasen, vor allem in der jüngeren Vergangenheit, entstanden weitere Mehrfamilienhäuser in der Siedlung, deren Kernbereich von größeren Bauten jedoch auch in der Folgezeit weitgehend ausgenommen blieb. Das Ergebnis ist eine in sich geschlossene, homogene und bewusst kleinteilige Siedlungsstruktur, die sich auch trotz späterer Veränderungen entlang der vier ursprünglichen Straßenzüge noch gut ablesen lässt. Um die umfangreichen Baumaßnahmen der kommenden Jahre zu finanzieren, wurden die Siedler noch 1949 an die Gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft angeschlossen, die als Geldgeber hatte gewonnen werden können.7 (Abb. 5) Die Siedlung wuchs in der Folge schnell; bereits 1953 lebten 352 Menschen in der Regnitzau, verteilt auf 38 Einzel- und sieben Doppelhäuser.8 Parallel zum Bevölke5 6 7 8

Ebd., 93. Ebd., 98. Ebd., 94. Ebd., 97.



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rungswachstum entwickelte sich auch eine eigene Infrastruktur. Neben einigen kleineren Handwerksbetrieben wurden bald schon zwei Gaststätten sowie zwei Lebensmittelläden eröffnet und kurz darauf auch eine eigene Wählergemeinschaft gegründet, die seit 1956 ständig im Hirschaider Marktgemeinderat vertreten ist.

Abb. 5: Rege Bautätigkeit, wie hier in der Gartenstraße, bestimmte in den frühen Fünfzigerjahren das Bild der Regnitzau. Foto: Fotosammlung Rudolf Panzer, Hirschaid.

Bemerkenswerterweise war die Regnitzau von den Gemeindeoberen von Beginn an nicht als reine Vertriebenensiedlung geplant. Vielmehr betonte der Hirschaider Bürgermeister Georg Kügel bei der Durchsetzung der vom Gemeinderat gewünschten Planungen vor allem den bereits seit der Jahrhundertwende kontinuierlich gestiegenen Wohnraumbedarf der in Hirschaid lebenden Industriearbeiter. In einem Schreiben an die Oberste Baubehörde in München vom 30. Mai 1949 argumentierte Kügel, Hirschaid sähe sich angesichts umfangreicher Industrieansiedlungen gezwungen, „Wohnraum für seine Arbeiterschaft zu schaffen.“9 Das Interesse der Arbeiterschaft zur Schaffung von eigenem Wohnraum, so Kügel weiter, sei sehr groß.10 Tatsächlich waren aber bereits unter den ersten Bauwilligen auch einige Vertriebene, die in Hirschaid mittlerweile erste Wurzeln geschlagen hatten, bislang aber 9 Ebd., 93. 10 Ebd.

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lediglich notdürftig hatten untergebracht werden können. Im Verlauf der kommenden Jahre erwarben immer mehr Vertriebene Bauland in der Regnitzau und schufen sich dort – zumeist in weitgehender Eigenleistung – ihren neuen Lebensmittelpunkt. (Abb. 6) Abb. 6: Von der Flucht gezeichnet: Reinhold Gensel um 1946/47, kurz nach seiner Ankunft in Hirschaid. Foto: Privatbesitz Familie Gensel, Hirschaid.

Zu jenen Neubürgern, die sich in der Regnitzau niederließen, zählte auch der Schuhmachermeister Reinhold Gensel. Anfang Februar 1945 war der aus dem schlesischen Klein-Muritsch/Morzęcin Mały stammende Handwerker, der unweit des Breslauer Hauptbahnhofes ein florierendes Schuhmachergeschäft betrieben und einst den ersten nahtlosen Schuh in Deutschland entwickelt hatte, zusammen mit seiner Familie aus der schlesischen Hauptstadt geflohen und nach einer zwei Monate währenden Odyssee in Hirschaid gestrandet. Gensel fand sich in der neuen Umgebung erstaunlich rasch zurecht. Schon im März 1946 wagte er zum zweiten Mal den Sprung in die Selbständigkeit und eröffnete im Ortskern abermals ein Schuhmachergeschäft. 1952



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begann er in der Regnitzauer Alleestraße mit dem Bau eines Eigenheimes. Im Keller seines Hauses richtete er eine neue Schusterwerkstatt ein und begründete somit einen der ersten Handwerksbetriebe in der noch jungen Siedlung. Gensel engagierte sich auf vielfache Weise in seiner neuen Heimat. Schon früh setzte er sich für die Belange der Vertriebenen in Hirschaid ein, war im Bund vertriebener Deutscher aktiv, kandidierte bereits 1948 für die Wählergemeinschaft der überparteilichen Flüchtlinge, Evakuierten, Bomben- und Kriegsgeschädigten für den Hirschaider Gemeinderat und zog schließlich 1956 für die eben bereits erwähnte Wählergemeinschaft Regnitzau in das Gemeindeparlament ein. Insgesamt sieben Jahre lang, bis zu seinem Tod im Jahre 1963, gehörte Reinhold Gensel dem Marktgemeinderat an und leistete dort einen bedeutenden Beitrag zur Integration der Vertriebenen in Hirschaid. (Abb. 7)

Abb. 7: „HEIMAT“ – die Inschrift am Haus Reinhold Gensels in der Alleestraße verweist auf den Neuanfang des Vertriebenen in der Hirschaider Regnitzau-Siedlung. Foto: Annette Schäfer, Hirschaid.

Drei Faktoren verleihen der Regnitzau gegenüber Hirschaid einen eigenständigen und deutlich vom Ortskern abgehobenen Charakter: die Lage jenseits des heutigen MainDonau-Kanals, welcher gleichsam als Trennlinie zwischen Regnitzau und Hirschaid

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fungiert, die in sich geschlossene, einheitliche Bebauung und vor allem das Vorhandensein einer eigenen Kirche, deren Entstehung noch enger mit dem Schicksal der nach Hirschaid gelangten Vertriebenen zusammenhängt als die der Siedlung, deren architektonisches und geistliches Zentrum sie bildet. Der mit dem Flüchtlingsstrom einhergehende sprunghafte Anstieg der Bevölkerungszahlen wirkte sich auch auf die konfessionellen Verhältnisse in Hirschaid und den umliegenden Orten aus. Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war Hirschaid ebenso wie die übrigen Orte des Regnitztales eine nahezu ausschließlich katholisch geprägte Gemeinde gewesen. Vereinzelte Lutheraner zogen erst im Zuge der Industrialisierung des Dorfes im 19. Jahrhundert aus Sachsen und Thüringen zu, bildeten aber neben der dominierenden katholischen und der damals noch existierenden jüdischen Gemeinde lediglich eine unbedeutende Minderheit. 1905 zählte Hirschaid 1.273 Einwohner, von denen 1.146 katholisch, 66 jüdisch und lediglich 61 evangelisch waren.11 Die wenigen Hirschaider Protestanten pfarrten zur 1825 gegründeten Kirchengemeinde Buttenheim, die 1938 gerade einmal 200 Seelen, verstreut auf 28 Orte, umfasste und somit zu den kleinsten evangelischen Kirchengemeinden in Bayern zählte.12 Die sonntäglichen Gottesdienste fanden in der bescheidenen Kapelle des Unteren Schlosses zu Buttenheim statt. Die Struktur der kleinen Diasporagemeinde erfuhr jedoch im Frühjahr 1945 eine einschneidende Zäsur. Die in Hirschaid und Umgebung einquartierten Vertriebenen bewirkten ein rapides Anwachsen der evangelischen Pfarrei. Im Oktober 1946 zählte die Kirchengemeinde Buttenheim insgesamt 1.683 Seelen, von denen lediglich noch elf Prozent Einheimische waren. Mit 367 Evangelischen bildete Hirschaid nunmehr deutlich den Schwerpunkt des Pfarrsprengels, gefolgt von Buttenheim, wo 196 Lutheraner gezählt wurden.13 Angesichts des deutlich höheren Anteils evangelischer Christen an der Gesamtbevölkerung sowie der zunehmenden Verlagerung des Gemeindemittelpunktes nach Hirschaid wurde dort schon bald die Errichtung einer zweiten Predigtstation ins Auge gefasst, zumal die Buttenheimer Schlosskapelle für die zahlreichen Gläubigen längst nicht mehr genügend Platz bot. An einen eigenen Kirchenbau war fürs Erste jedoch nicht gedacht – eher an Gastspiele in unterschiedlichen öffentlichen Räumen. Doch bereits die ersten evangelischen Gottesdienste in Hirschaid führten zu einem Umdenken. Als im Oktober 1949 die Hirschaider Turnhalle zweimal für Gottesdienste genutzt werden konnte, fanden diese einen derart regen Zuspruch, dass am 13. November desselben Jahres die Frage nach einem eigenen Kirchenbau in Hirsch11 Horst SCHARTING: Die Geschichte der katholischen Pfarrei Hirschaid, in: Hirschaid. Chronik einer Gemeinde, hg. v. Markt Hirschaid, Hirschaid 2004, 41–85, hier 64. 12 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Ergänzung zur Pfarrbeschreibung der Ev. Luth. Gemeinde Buttenheim, gefertigt im Juni 1939 (mit Nachtrag vom August 1939 sowie Kriegs-Chronik), 1. 13 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Pfarrbuch IV oder allgemeine Beschreibung des gesamten Kirchenwesens der Evang.-Luth. Pfarrei Buttenheim, begonnen September 1949, 15.



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aid erstmals im Kirchenvorstand diskutiert wurde. Im Protokoll der damaligen Kirchenvorstandssitzung heißt es: „Der Kirchenvorstand sieht seit langem mit Sorge, daß Hirschaid nicht die kirchliche Versorgung erfahren kann, die dem Orte, in dem weitaus die bedeutendste Zahl an Evangelischen wohnt, zukommen müßte. (…) Es wird nachgerade (...) Zeit, daß in H. eigene Gottesdienste für ständig eingerichtet werden. Der sehr starke Besuch, den die gelegentlichen Gottesdienste fanden, die in der Turnhalle stattfanden, beweist, wie sehr alles darauf wartet, daß regelmäßige Gottesdienste in H. stattfinden.“14 Da ein Neubau die wirtschaftlichen Möglichkeiten der Gemeinde bei weitem überstiegen hätte, richtete der Kirchenvorstand von Anfang an sein Hauptaugenmerk darauf, ein bereits bestehendes Gebäude für einen kostengünstigen Umbau ausfindig zu machen. (Abb. 8)

Abb. 8: Geretsried, ehemalige evangelische Bunkerkirche: Als einzige von ursprünglich drei Geretsrieder Notkirchen hat sich das 1951 geweihte und bis 1960 genutzte Gotteshaus bis heute erhalten – wenn auch in veränderter Form und mit neuer Nutzung. Das zwischenzeitlich aufgestockte Gebäude dient heute dem TuS Geretsried als Vereinsheim. Foto: Robert Schäfer, Hirschaid.

14 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen Buttenheim 1945 bis 1953, Protokoll der Kirchenvorstandssitzung vom 13. November 1949.

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Die Idee, einen profanen Raum in eine Kirche umzugestalten, war, wie bereits erwähnt, in den ersten Jahren nach Kriegsende weder ungewöhnlich noch selten. Häufig blieb in Zeiten eines allgegenwärtigen Materialmangels gar nichts anderes übrig als provisorische Kirchenräume durch die Umnutzung vormaliger Wohn- oder Gewerbebauten zu schaffen. Insbesondere jene Gemeinden mussten sich vorübergehend mit solchen Notkirchen behelfen, die durch Kriegszerstörungen ihres früheren Gotteshauses beraubt worden oder durch den Zustrom von Vertriebenen merklich angewachsen bzw. überhaupt erst entstanden waren. In seiner Untersuchung über den katholischen Kirchenbau in Ostdeutschland zwischen 1945 und 1992 stellt Wolfgang Lukassek fest, was so in den ersten Nachkriegsjahren auch für die westlichen Besatzungszonen bzw. die junge Bundesrepublik und natürlich ebenso für den evangelischen Kirchenbau der ersten Nachkriegsjahre gilt: „Für die neuen Gemeinden musste eigener Raum geschaffen werden, vor allem Kirchenräume. (…) Dabei wurden alle örtlichen Möglichkeiten genutzt, Gebäude wurden gekauft, gemietet, ererbt, anschließend um-, an- und ausgebaut. Aus Scheunen, Tanzsälen, Wohnhäusern, Wiegehäuschen, Lokomotivschuppen, Güterwagen usw. wurden mit der Zeit Kirchen und Kapellen. Die liturgische Ausstattung war meist notdürftig. Bildwerke waren kaum vorhanden. Es waren z. T. Sakralräume von kaum vorstellbarer Einfachheit, gezeichnet von der Not der Gemeinde.“15 Allein in Bayern waren es Dutzende Kirchen, die zwischen 1945 und 1955 mit einfachsten Mitteln durch die Umgestaltung vorhandener und halbwegs geeignet erscheinender Räume entstanden. Als „,traurige‘ Bauten“16 bezeichnet Ulrich Kahle diese primitiven Gebetsräume, die oft zunächst nichts anderes waren als „eilig zusammengenagelte Wehrmachtsbaracken.“17 Auf diese ersten hölzernen Barackenkirchen folgten meist bald schon längerfristige Provisorien in massiveren Bauten, etwa in Ställen, Fabrikhallen oder Bunkern. Diese stabileren Notkirchen wurden in der Regel für mehrere Jahre, manche gar für etliche Jahrzehnte genutzt, ehe auch sie nach und nach durch Neubauten ersetzt wurden. Die überwiegende Mehrzahl der ausgedienten Notkirchen wurde in der Folge abgerissen oder aber umgebaut und abermals einer neuen Nutzung zugeführt. Die Bemühungen der evangelischen Gemeinde Buttenheim, die Raumnot in Hirschaid zu lindern, blieben zunächst ohne Erfolg, scheinen allerdings auch nur halbherzig betrieben worden zu sein. Einstweilen begnügte man sich noch mit monatlichen Gottesdiensten in der katholischen Pfarrkirche St. Vitus, deren Nutzung allerdings mit einigen nicht unerheblichen Auflagen verbunden war. Sakristei und Altar durften 15 Wolfgang LUKASSEK: Katholischer Kirchenbau in Ostdeutschland 1945 bis 1992, in: Das Münster 49 (1996), 186-193, hier 188. 16 Ulrich KALHE: Zum evangelischen Kirchenbau in Bayern zwischen 1945 und 1950. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Beispiele, in: Evangelischer Kirchenbau in Bayern seit 1945, hg. v. Hans-Peter HÜBNER und Helmut BRAUN, Berlin–München 2010, 28–37, hier 31. 17 Ebd.



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durch den evangelischen Pfarrer nicht genutzt werden, Glockengeläut war untersagt, und nach Ende der Gottesdienste wurde die Kirche regelmäßig mit Weihwasser ausgesegnet.18 Als im April 1953 Kreisdekan Burkert und Dekan Dietz nach Hirschaid kamen und bei einer Besichtigung der Gegebenheiten einen „untragbaren kirchlichen Notstand“19 konstatierten, nahm die Schaffung einer eigenen Predigtstation allmählich Gestalt an. Im Juni 1954 bot der Markt Hirschaid der Kirchengemeinde ein leer stehendes Werkstattgebäude in der Regnitzauer Jahnstraße zum Kauf und Umbau an.20 Es handelte sich hierbei um die ehemalige Werkhalle der Orgelbauanstalt Gebrüder Mann, die sich 1948 hier angesiedelt, den Ort jedoch nach wenigen Jahren bereits wieder verlassen hatte. Nur einen Monat später entsandte die Evangelisch-lutherische Landeskirche Baurat Albert Köhler nach Hirschaid, um den verwaisten Gewerbebau

Abb. 9: Die ehemalige Werkhalle der Orgelbauanstalt Gebr. Mann während des Umbaus, 1955. Die Planungen des Münchner Architekten Albert Köhler sahen lediglich ein Minimum an Eingriffen in den bestehenden Baukörper vor. Am aufwendigsten gestaltete sich der Anbau eines kleinen Glockenturmes. Foto: Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid. 18 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Schreiben von Pfarrer Beckmann an den Evang.-Luth. Landeskirchenrat München vom 14. November 1951. 19 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen Buttenheim 1945 bis 1953, Protokoll der Kirchenvorstandssitzung vom 12. April 1953. 20 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen Buttenheim 1954 bis 1965, Protokoll der Kirchenvorstandssitzung vom 15. Juni 1954.

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in Augenschein zu nehmen. Köhler wurde von der Landeskirche mit Bedacht für das Bauprojekt in Hirschaid gewählt, betrat er doch mit der Umgestaltung eines gänzlich profanen Gebäudes in einen Gottesdienstraum keineswegs Neuland. Bereits bei seinem ersten Kirchenbau hatte er sein Talent zur Improvisation unter Beweis gestellt, als er in Waldkraiburg einen Sprengstoffbunker zur Kirche umfunktionierte. Die Vertriebenenstadt im Landkreis Mühldorf am Inn war auf dem Gelände des Werkes Kraiburg der Deutschen Sprengchemie GmbH entstanden. Im März 1951 erwarb die evangelische Gemeinde der neuen Siedlung einen Bunker, in welchem während der Kriegsjahre Pulver produziert worden war. Köhler baute diesen Bunker zu einem Gotteshaus für 180 Besucher um, welches im Juni 1951 als „Bunkerkirchlein am Ölberg“ eingeweiht werden konnte.21 (Abb. 9) Zwei Jahre später gestaltete Köhler auch eine Remise mit Pferdestall in Garmisch zur Kirche um.22 Für die geplante Predigtstation in der Regnitzau fertigte er bald nach seinem ersten Besuch in Oberfranken eine Bestandsaufnahme sowie eine Reihe von Skizzen und Modellen an, nach deren Kenntnisnahme der Landeskirchenrat im Oktober 1954 seine Genehmigung zum Erwerb des Gebäudes erteilte.23 Überdies stellte der Landeskirchenrat auch einen Zuschuss in Höhe des Kaufpreises von 2.000 DM in Aussicht. Der Kirchenvorstand nutzte die Gunst der Stunde und beschloss am 11. Oktober 1954 definitiv den Kauf und Umbau der Halle.24 Im Februar 1955 legte Albert Köhler dem Kirchenvorstand den Bauplan für die zu errichtende Kirche vor.25 Seine Entwürfe sahen lediglich ein Minimum an Eingriffen in die vorhandene Bausubstanz der Werkhalle vor. Im Osten beabsichtigte er den Anbau einer Apsis, im Nordwesten die Errichtung eines bescheidenen Glockenturmes. Ferner plante er, im Westen einen Vorbau mit Sakristei und kleinem Gemeinderaum an die Werkhalle anzufügen sowie eine Empore einzubauen. Die Anzahl der Fenster sollte von jeweils sechs an jeder Längsseite auf drei im Norden bzw. zwei im Süden verringert, die verbliebenen Fenster zudem verkleinert, die Trennwände im Inneren entfernt werden. Den Eingang schließlich verlegte Köhler von der West- an die Nordseite des Gebäudes. (Abb. 10, 11) Nach Genehmigung des Bauvorhabens durch den Hirschaider Gemeinderat konnten im Juni 1955 die ersten Aufträge vergeben und einen Monat später schließlich mit dem Bau der Kirche begonnen werden. Die Weihe des zunächst noch namenlosen 21 Hans-Leo PIEPER: Die Pfarrgemeinden in Waldkraiburg, in: Waldkraiburg erzählt. Geschichte einer jungen Stadt, hg. v. Stadt Waldkraiburg, Waldkraiburg 1999, 239–252, hier 250. 22 Manfred DAUB u. a.: Albert Köhler zum 80. Geburtstag, München o. J. (1995), unpaginiert (6). 23 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen Buttenheim 1954 bis 1965, Protokoll der Kirchenvorstandssitzung vom 11. Oktober 1954. 24 Ebd. 25 Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid, Protokolle der Kirchenvorstandssitzungen Buttenheim 1954 bis 1965, Protokoll der Kirchenvorstandssitzung vom 23. Februar 1955.



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Abb. 10 und 11: Die ehemalige Werkhalle der Orgelbauanstalt Gebr. Mann vor (1954) und nach (1956) dem Umbau zur Kirche. Fotos: Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid.

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Gotteshauses fand nach einigen vor allem witterungsbedingten Verzögerungen am 29. April 1956 statt. Erst im weiteren Verlauf des Jahres wurde dem Gotteshaus die Bezeichnung „St. Johanniskirche“ verliehen. Die fertige Kirche unterschied sich nicht wesentlich von anderen Notkirchen dieser Art. Lediglich das verhältnismäßig aufwendige Altarfresko des Münchner Kunstmalers Günther Danco mit einer Darstellung der Anbetung der 24 Ältesten minderte etwas den provisorischen Charakter der Johanniskirche, die doch erkennbar eine Notkirche war und blieb. (Abb. 12, Tafel 1) Abb. 12: Altarraum der St. Johanniskirche mit dem Fresko Günther Dancos, um 1956. Dargestellt ist die Anbetung der 24 Ältesten. Foto: Privatbesitz Gisela Hümmer, Hirschaid.

Das Geschick Köhlers bei der Umgestaltung eines gänzlich „unmystischen“ Ortes in einen durchaus würdevollen Sakralraum fand überregional Beachtung. Ludwig Fischer widmete der Johanniskirche 1957 einen kurzen Beitrag in der renommierten Zeitschrift Kirche und Kunst und charakterisierte das Gotteshaus dabei wie folgt: „Ein schlichtes Kirchlein (…). Es ist alles aufs einfachste gemacht, wie es eine Gemeinde von Flüchtlingen im Diasporagebiet verlangt.“26 26 Ludwig FISCHER: Die Kirche in Hirschaid/Oberfranken, in: Kirche und Kunst 35 (1957), Heft 3, 22 f., hier 22.



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Die Johanniskirche des Jahres 1956 hat sich bis heute annähernd in ihrem Urzustand erhalten, obwohl sich bereits zu Beginn der 1970er-Jahre die provisorische und billige Bauart rächte und sich erste Schäden am Mauerwerk und Risse im Altarfresko zeigten. (Abb. 13)

Abb. 13: Schäden am Altarfresko der St. Johanniskirche im September 1973. Foto: Pfarrarchiv St. Johannis Hirschaid.

Es folgten Ausbesserungsarbeiten und nach einigen Jahren erneute, noch gravierendere Schäden sowie zunehmende statische Probleme, die schließlich dazu führten, dass eine umfassende Sanierung der 2007 in die Denkmalliste aufgenommenen Notkirche unumgänglich wurde. Ende 2008 wurde nach Plänen des Bamberger Architekten Rainer Schröbel mit den Renovierungsarbeiten begonnen, wobei vor allem die Stabilisierung des Untergrundes im Mittelpunkt stand. Der Kirchenraum selbst wurde so weit wie möglich im Originalzustand belassen und lediglich punktuell den geänderten Bedürfnissen der Gemeinde angepasst. Auf gravierende Eingriffe in die Raumgestaltung wurde bewusst verzichtet, um den Charakter des Gebäudes nicht zu beeinflussen. Am Pfingstsonntag des Jahres 2010 konnte das frisch sanierte Gotteshaus nach eineinhalb Jahren Bauzeit wiedergeweiht werden. (Abb. 14)

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Abb. 14: „Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ – das Schriftband unter der Empore der St. Johanniskirche bezieht sich explizit auf die Vertriebenen in der Kirchengemeinde und der Regnitzau-Siedlung. Foto: Robert Schäfer, Hirschaid.

Der, wie Ulrich Kahle schreibt, „wohlerhaltene Kirchenbau“27 stellt mittlerweile eine der letzten noch erhaltenen Notkirchen in Bayern dar, welche durch den Umbau eines bereits bestehenden Profangebäudes entstanden. Die Johanniskirche verdient daher nicht in erster Linie unter kunsthistorischen Aspekten Beachtung. Vor allem als zeitgeschichtlich überregional bedeutendes Denkmal steht sie vielmehr symbolisch für die Integration von tausenden Vertriebenen in Bayern, von denen einige in der Regnitzau-Siedlung heimisch wurden. (Taf. 1) Auf sie bezieht sich auch ein Schriftband, das im Innenraum der Kirche unter der Orgelempore angebracht wurde und ein Bibelwort zitiert, das so in der Tat auf viele Regnitzauer beider Konfessionen zutraf: „Ihr seid nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen.“

27 KAHLE (wie Anm. 16), 31.

Stefan Samerski ZWISCHEN WISSENSCHAFT UND HEIMATPFLEGE Zur Kultgeschichte der Dorothea von Montau vor und nach 1945 Einen Autochthonen als himmlischen Helfer und Patron anzurufen, war von je her das Bestreben einer regionalen christlichen Gemeinschaft. Die Mystikerin Dorothea von Montau1 (1347–1394) war eine solche Autochthone, die ihre letzten Lebensmonate in einer Klause am Dom von Marienwerder unter der Führung des wohl damals bedeutendsten Deutschordenstheologen und Domdekans Johannes2 (1343–1417) verbrachte.

1. Dorothea im Fahrwasser des Deutschen Ordens Schon kurz nach ihrem Tod am 25. Juni 1394 setzte die Verehrung durch die Gläubigen des Bistums Pomesanien ein, so dass nur wenige Wochen später ihre Gebeine 1 Eine moderne, zuverlässige und ausführlich kritische Lebensbeschreibung bietet: Petra HÖRNER: Dorothea von Montau. Überlieferung – Interpretation. Dorothea und die osteuropäische Mystik, Frankfurt/M. u. a. 1993 (Information und Interpretation. Arbeiten zu älteren germanischen, deutschen und nordischen Sprachen und Literaturen 7). Kulthistorisch interessant: Cordelia HESS: Heilige machen im spätmittelalterlichen Ostseeraum. Die Kanonisationsprozesse von Birgitta von Schweden, Nikolaus von Linköping und Dorothea von Montau, Berlin 2008 (Europa im Mittelalter 11), 264–284. Ergänzend und korrigierend dazu: Stefan SAMERSKI: Dorothea und kein Ende. Bemerkungen zur Prozess- und Kultgeschichte der hl. Dorothea von Montau, in: Cura animarum. Seelsorge im Deutschordensland Preußen, hg. von DEMS., Köln u. a. 2013, 200–216. Zuletzt mit den wichtigsten Literaturangaben: Stefan SAMERSKI: Dorothea von Montau, in: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, hg. von Joachim BAHLCKE u. a., Berlin 2013, 609–617. 2 Johannes studierte in Prag, erhielt dort 1373 die Priesterweihe und wurde 1377 Domherr der Prager Allerheiligenkirche. Er erhielt dort 1384 eine Professur für Theologie, bis er wegen der hussitischen Wirren das Land verlassen musste und in seine Heimat Preußen zurückkehrte. Dort trat er 1387 in den Deutschen Orden ein und erhielt wenige Monate später ein Kanonikat im Dom zu Marienwerder. Zwischen 1388 und 1417 ist er dort als Domdekan nachgewiesen. Vgl. immer noch die eingehende biographische Studie: Franz HIPLER: Meister Johannes Marienwerder, Professor der Theologie in Prag und die Klausnerin Dorothea von Montau. Ein Lebensbild aus der Kirchengeschichte des XIV. Jahrhunderts, Braunsberg 1865; Hans WESTPHAL: Marienwerder, Johannes, in: Altpreußische Biographie, Bd. 1, Königsberg 1941, 305–309; Barbara WOLF-DAHM: Johannes Marienwerder, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 3, Hamm 1992, 475–479 (Lit.); Ariane WESTPHÄLINGER: Der Mann hinter der Heiligen. Die Beichtväter der Elisabeth von Schönau, der Elisabeth von Thüringen und der Dorothea von Montau, Krems 2007 (Medium Aevum Quotidianum 20), 39–45, 57–62, 75–80. Kurz tabellarisch: Mario GLAUERT: Das Domkapitel von Pomesanien (1284–1527), Thorn 2003 (Prussia Sacra 1), 486–494.

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erhoben und in einem ausgemauerten Grab der Domkrypta beigesetzt wurden. Das geschah auf Weisung des Deutschen Ordens, wie auch im kommenden Jahr der Ritterorden die Wege für die Kanonisation der Klausnerin in die Wege leitete. Hochmeister Konrad von Jungingen3 (1393–1407) bezeichnete Dorothea in einer entsprechenden Petition von 1395 als „fidelissima adiutrix et patrona“4. Aller Wahrscheinlichkeit nach kam die Initiative von den reformwilligen Kräften des Deutschen Ordens, der den Prozess in Rom betreute und bezahlte.5 Nach einem fulminanten und konstruktiven Prozessauftakt geriet dann das Verfahren durch die politisch-militärischen Auseinandersetzungen von 1410, das Große Abendländische Schisma und den Tod der wichtigsten Propagatoren ins Stocken und blieb schließlich nach 1521 ganz liegen.6 Nachdem die Reformatoren den Dorotheenkult nahezu ausgelöscht und das Grab 1544 beseitigt hatten, verblieb nur noch eine sehr eingeschränkte, regionale Verehrung, vor allem im katholisch gebliebenen Bistumsgebiet Ermland, wo sie als Mutter und Schutzpatronin in der Sterbestunde angerufen wurde.7

2. Dorothea als Objekt der Kulturgeschichte und der Wissenschaft Einen echten Aufschwung, der jetzt bis nach Schlesien und Böhmen reichte, erfuhr das Interesse an Dorothea erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts, und zwar im kulturhistorischen Kontext, weniger im kirchlichen. Im Zuge der enthusiastischen und romantischen Wiederentdeckung des Mittelalters, der Blütezeit des Deutschen Ordens, wurde die sich gerade etablierende historisch-kritische Geschichtsforschung von der fast vergessenen Preußin Dorothea in den Bann gezogen. Denn über sie lag aus den Federn des Ordens zahlreiches authentisches Material vor. So verwundert es nicht, dass die bedeutendsten Historiker Preußens und Protestanten wie Johannes Voigt (1786–1863), sein Schüler Max Toeppen (1822–1893) und der Danziger Theodor Hirsch (1806–1881) zumindest ein Lebensbild der Reklusin zeichneten, das sogar hagiographische Ziel-

3 Biographisch: Bernhart JÄHNIG: Konrad von Jungingen, in: Die Hochmeister des Deutschen Ordens 1190–1994, hg. von Udo ARNOLD, Marburg 1998, 97–104. 4 Die Akten des Kanonisationsprozesses Dorotheas von Montau von 1394 bis 1521, hg. von Richard STACHNIK, Köln–Wien 1978 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 15), 532. 5 Arno MENTZEL-REUTERS: Das pomesanische Domkapitel als literarisches Zentrum. Der Fall des Prager Magisters Johannes Marienwerder, in: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, hg. von Ralf G. PÄSLER/Dietrich SCHMIDTKE, Heidelberg 2006, 157–175. 6 SAMERSKI, Dorothea und kein Ende (wie Anm. 1), 210 f. 7 Ebd., 213 f.



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setzung verfolgte, wie Toeppen 1863 unumwunden zugab.8 So leiteten Romantik und preußische Geschichtswissenschaft, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem vom Historischen Verein für Ermland mit Sitz in Braunsberg/Braniewo getragen wurde,9 zur Volksverehrung und schließlichen Kanonisation über. Vor allem der ermländische Kirchenhistoriker und Domkapitular Franz Hipler (1836–1898),10 selbst Mitglied des Ermlandvereins und seit 1865 in dessen Vorstand,11erwarb sich große Verdienste um die Edition der Dorotheenquellen. Er legte seit 1864 Lebensbilder über die Klausnerin und ihren Beichtvater Johannes Marienwerder vor und schaffte damit den Spagat von der elitären Geschichtswissenschaft zum populären Bistumsblatt.12 Diese Popularisierung war beabsichtigt, denn Hipler sah in Dorothea ein „hervorragendes Denkmal der mittelalterlichen Mystik aus dem preußischen Ordenslande, (…) das weiteren Kreisen zugänglich“13 gemacht werden sollte. Nun griff das Interesse an Dorothea auch auf den genuin religiös-kirchlichen Bereich über, was sich sogar in Gebetserhörungen niederschlug.14 Der zuständige Bischof von Ermland, Andreas Thiel15 (1886–1908), in dessen Diözese die Pfarreien Groß-Montau und Marienwerder seit 1821 lagen, unterstützte diesen religiösen Aufbruch nachhaltig. Denn der gebürtige Ermländer war selbst Mitbegründer des Historischen Vereins für Ermland und dessen Vorsitzender bis 1885; außerdem trat er durch eigene wissenschaftliche Veröffentlichungen aus der Diözesangeschichte hervor. Als Bischof förderte er die wissenschaftliche Klerusausbildung und kirchenhistorische Spezialstudien sowie die allgemeine Schulausbildung seines Sprengels. Das Interesse an Dorothea von Montau expandierte nach dem Ersten Weltkrieg in jeder Hinsicht. Durch den Kriegsausgang war Deutschland verfemt, außenpolitisch 8 Des Leben der zeligen frawen Dorothee clewsenerynne in der thumkyrchen czu Marienwerdir des landes czu Prewszen, hg. von Max TOEPPEN, Leipzig 1863 (Scriptores Rerum Prussicarum 2), 179–350, hier 196. 9 Richard STACHNIK: Zum Geleit, in: Dorothea von Montau. Eine preußische Heilige des 14. Jahrhunderts. Anläßlich ihrer Heiligsprechung im Auftrag des Historischen Vereins für Ermland e.V., hg. von DEMS./Anneliese TRILLER, Münster 1976, 8 f., hier 9. 10 Karl LOHMEYER: Hipler, Franz, in: Allgemeine Deutsche Biographie 50 (1905), 360 f. 11 HÖRNER (wie Anm. 1), 118. 12 Franz WESTPHAL: Dorothea von Montau, Meitingen 1949 (Lebensschule der Gottesfreunde 59), 5. 13 Das Leben der seligen Dorothea von Preußen. Nach der deutschen Lebensbeschreibung des Johannes Marienwerder in neuerer Schriftsprache von Dominikus Korith, hg. von Franz HIPLER, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 10/2 (1893), 297–511, hier 301. 14 Auch zum Folgenden: Stefan SAMERSKI: Gibt es eine Patronin Ost- und Westpreußens? Das Leben und die Verehrung der Dorothea von Montau, in: Weichselland. Mitteilungen der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens e.V., Münster 2/2010, 13 f., hier 14. Vgl. auch WESTPHAL: Dorothea von Montau (wie Anm. 12), 5. 15 Hans-Jürgen KARP: Thiel, Andreas, in: Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1785/1803 bis 1945. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin GATZ, Berlin 1983, 756–758.

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isoliert, wirtschaftlich ruiniert und geographisch amputiert, was besonders der deutsche Osten tiefgreifend zu spüren bekam: Fast das gesamte eigentliche Westpreußen – die Heimat Dorotheas – wurde vom Deutschen Reich abgetrennt und fiel an Polen bzw. die Freie Stadt Danzig.16 Auch Schlesien musste Gebietsverluste hinnehmen; dort war jetzt wieder ein Dorotheenkult greifbar, der sich in etlichen Veröffentlichungen niederschlug.17 Erstaunlich außerdem, dass die neue Bewegung wieder Nichtkatholiken, Gelehrte und Volkskundler erfasste, die dafür sorgten, dass das Interesse an Dorothea von Montau nach 1919 auf mehreren Füßen stand und nicht nur auf kirchlichen. Das erklärt das Aufgreifen der Dorotheenthematik in der Literatur unterschiedlichster Gattungen, die sich gerade in den zwanziger Jahren häufte.18 In dieser revisionsorientierten Gefährdungssituation19 wurde Dorothea nun wieder – wie im Mittelalter – als preußische Heilige und Patronin Preußens tituliert. So beklagte etwa der Danziger Siegfried Rühle (1887–1964) 1924, dass „nur das arme Preußenland, das ja erst im 11./12. Jahrhundert dem Christentum zugeführt wurde, (…) keinen Schutzheiligen [habe], der dort gestorben wäre“20. Mit warmem Patriotismus und stolzer Heimatliebe stellte er die alte deutsche Hansestadt Danzig ausführlich als den Ort dar, an dem Dorothea 28 Jahre ihres kurzen Lebens verbracht hatte. Rühle ließ deutlich werden, wie sehr die Prominenz der Reklusin dem angeschlagenen Selbstbewusstsein der einst stolzen Handelsstadt gut tat. Der heimatliche Kontext war auch das Movens für den damaligen Nestor der Danziger Geschichtsforschung, Erich Keyser (1893–1968),21 Dorothea im Rahmen der 1923 gegründeten Kommission für ost- und westpreußische Landesforschung in etlichen Artikeln zu würdigen.22 In jenen Jahren fand die Mystikerin auch Eingang in die westpreußische Lyrik, etwa durch die Schriften von Bruno Pompecki (1880–1922).23 Auf genuin katholisch-kirchengeschichtlicher Seite fiel die Bilanz dagegen eher dünn aus: Immerhin würdigte der Freiburger Historiker Philipp Funk24 (1884–1937) Dorothea im Kontext der Frömmigkeit im Deutschordensland; 16 Dazu in der Konsequenz für die katholische Kirche: Stefan SAMERSKI: Ostdeutscher Katholizismus im Brennpunkt. Der deutsche Osten im Spannungsfeld von Kirche und Staat nach dem Ersten Weltkrieg, Bonn 1999. 17 SAMERSKI: Dorothea und kein Ende (wie Anm. 1), 214. 18 Überblick: HÖRNER (wie Anm. 1), 123–128. 19 Dazu: Peter KRÜGER: Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung, München 1986; SAMERSKI: Ostdeutscher Katholizismus (wie Anm. 16), 16– 19. 20 Siegfried RÜHLE: Dorothea von Montau, die Heilige des Preußenlandes. Ein Lebensbild einer Danziger Bürgerfrau des 14. Jahrhunderts, Danzig 1924 (Heimatblätter des deutschen Heimatbundes Danzig), 5. 21 Ernst BAHR: Erich Keyser, in: Neue Deutsche Biographie 11 (1977), 562. 22 HÖRNER (wie Anm. 1), 124. 23 Ebd., 126. 24 Oskar KÖHLER: Funk, Philipp, in: Lexikon für Theologie und Kirche3, Bd. 4, 239.



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August Poulain und Martin Grabmann berücksichtigten die Seherin Mitte der zwanziger Jahre kurz im Kontext der weiblichen Mystik.25 Dieses überwiegend rückwärtsgewandte kulturhistorische Interesse wurde von der Amtskirche aufgegriffen und begleitet – mehr noch von ermländischer Seite als von Danziger, obgleich etliche Lebensstationen Dorotheas nun auf dem Gebiet der 1922/25 errichteten Diözese Danzig lagen.26 In den zwanziger Jahren schien aber der Schwerpunkt ihrer Verehrung in Schlesien gelegen zu haben, da dort schon rein zahlenmäßig mehr Katholiken lebten als in der altpreußischen Diasporasituation. Schon 1924 machten sich schlesische Adlige daran, den Kanonisationsprozess in Rom wieder aufzunehmen.27 Im südöstlichen Preußen waren Novenen im Umlauf, und aus dem Jahre 1934 liegt eine Gebetserhörung einer schlesischen Rittergutsbesitzerin vor.28 Mit der Berufung des energischen Maximilian Kaller29 (1880–1947) zum Bischof von Ermland im Jahre 1930 änderte sich die Federführung. Kaller vitalisierte rasch und äußerst umtriebig die Pfarrseelsorge, griff die zaghafte Dorotheenverehrung auf, leitete etliche Bittschriften nach Rom weiter und rief schon 1932 eine Bistumskommission ins Leben, die die Wiederaufnahme des Kanonisationsprozesses vorbereiten sollte.30 Im darauf folgenden Jahr richtete Kaller ein entsprechendes Gesuch an den Papst. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg machten jedoch jeder weiteren Aktivität ein Ende: Die ermländische Kommission war schon 1935 handlungsunfähig, da keine wirksame Verbindung nach Rom mehr bestand.31 Aber sie gab immerhin für die kirchenhistorische Forschung wichtige Anregungen und Initiativen, die der Danziger Richard Stachnik, von dem noch näher zu sprechen sein wird, willig aufgriff. Er selbst hatte „mehrere Male in Frauenburg“32 an jenem Arbeitskreis teilgenommen. Anders die Literaturwissenschaften, die gerade in den dreißiger Jahren die Dorotheenthematik geradezu für sich entdeckt hatten – galt sie doch als authentisch do25 HÖRNER (wie Anm. 1), 126 f. 26 Zur Gründung der Apostolischen Administratur und des Bistums Danzig mit entsprechenden geographischen Angaben: Stefan SAMERSKI: Die Katholische Kirche in der Freien Stadt Danzig 1920–1933. Katholizismus zwischen Libertas und Irredenta, Köln u. a. 1991 (Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 17), 25–189. 27 Der Dorotheenbote – Mitteilungsblatt des Dorotheenbundes, hg. vom Dorotheenbund, Hefte 1–38 (Herne–Coesfeld 1951–1978), hier: 1. Heft, 4. 28 Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 1. Heft, 12. 29 Gerhard FITTKAU: Kaller, Maximilian, in: GATZ (wie Anm. 15), 357–361. 30 Richard STACHNIK: Zum Prozess um die Bestätigung des Kultes der Dienerin Gottes Dorothea von Montau. Ein Bericht über die jüngsten römischen Entscheidungen, in: Dorothea von Montau. Eine preußische Heilige des 14. Jahrhunderts, hg. von DEMS./Anneliese TRILLER, Münster 1976, 105–116, hier: 106. 31 Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 2. Heft, S. 4. 32 Richard STACHNIK: Dies und Das aus meinem langen Leben, Coesfeld 1970–1972 (Typoskript im Besitz des Autors), 120.

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kumentiertes Forschungsdesiderat. So konnte der Leipziger Professor Fritz Karg33 (1892–1970) in seiner 1932 herausgekommenen Studie über die mittelalterliche Literatur des deutschen Osten schreiben: „Der mitteldeutsche Osten ist, was das Mittelalter angeht, lange Zeit hindurch von der Literaturforschung wenig beachtet worden“34. Nun wurde der Deutsche Orden wieder zu einem Movens für die Dorotheenforschung, dem ja nahezu alle Quellen über das Leben und den Heiligsprechungsprozess der Seherin zu verdanken waren. Im Fahrwasser der Deutschordensforschung fand Dorothea nun sehr häufige Erwähnung in der einschlägigen Literatur.35 Deren Autoren hatten allerdings meist einen ostdeutschen Hintergrund. Und noch ein zweites Charakteristikum lässt sich beobachten: Am Kern und der eigentlichen Wirkungsgeschichte von Dorotheas Persönlichkeit, nämlich an Mystik, Visionen und Frömmigkeit, war man kaum interessiert. Dieses Missverhältnis versuchte Richard Stachnik (1894–1982) auszugleichen. Der mit einer Arbeit über die Klerusbildung promovierte Theologe36 war der richtige Mann dafür. Stachnik hatte seit 1920 in Danzig mit Abständen als geistlicher Religionslehrer und Zentrumsabgeordneter gewirkt. Schon kurz nach seinem Eintritt in den Schulbetrieb im Sommer 1930 „begann ich mich einer ‚neuen Liebe’ zuzuwenden“37, wie er in seinen Lebenserinnerungen bekannte. Mit einem befreundeten, kirchenhistorisch interessierten Danziger Geistlichen gab er eine heimatbezogene Reihe über die Heiligen im Preußenland heraus, darunter 1933 ein Heft über Dorothea, ehe die Nazi-Herrschaft diesem Unternehmen ein Ende bereitete.38 Im März jenes Jahres übernahm er den Vorsitz der Danziger Zentrumspartei, den er mit Wirkung vom 1. April 1939 niederlegen musste. 1937 verbüßte er sogar eine halbjährige Gefängnisstrafe, wurde vom Schuldienst suspendiert und 1944 sogar ins KZ Stutthof eingeliefert. Seit 1937 verfügte er also über viel freie Zeit:39 „Nachdem (…) die Verhandlungen mit der Schulbehörde wegen meines Ausscheidens aus dem Schuldienst abgeschlossen waren, war ich ein ganz freier Mann“40. Den von den Nationalsozialisten erzwungenen Wartestand nutzte Stachnik zu kirchenhistorischen Studien über seine Danziger Heimat. 33 Brigitte EMMERICH: Karg, Oskar Fritz, in: Sächsische Biographie, hg. vom Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde e.V., bearb. von Martina Schattkowsky. Online-Ausgabe: http://www.isgv.de/saebi/ (6.3.2018). 34 Fritz KARG: Das literarische Erwachen des deutschen Ostens im Mittelalter, Halle 1932 (Mitteldeutsche Studien 1), 3. 35 HÖRNER (wie Anm. 1), 120–122. 36 Die Bildung des Weltklerus im Frankenreich von Karl Martell bis auf Ludwig den Frommen, Paderborn 1926. 37 STACHNIK: Dies und Das (wie Anm. 32), 94. 38 Ebd. 39 Richard STACHNIK: Danziger Priesterbuch 1920–1945; 1945–1965, Hildesheim 1965, 216– 220. 40 STACHNIK: Dies und Das (wie Anm. 32), 120.



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Bienenfleißig trug er die Quellen zum Leben der Reklusin zusammen und beschäftigte sich vor allem mit den Dokumenten ihrer Verehrung und ihres mittelalterlichen Heiligsprechungsprozesses. So konnte er 1939 einen längeren Artikel über das Schrifttum Dorotheas veröffentlichen und bis 1945 eine Kultgeschichte von immerhin rund 400 Seiten Manuskript anfertigen.41 Sie umfasste die Zeugnisse der Verehrung und bildlichen Darstellung. Auch die gesamten Akten des Kanonisationsprozesses von 1395 bis 1406 trug er zwischen 1938 und 1941 zusammen und bereitete ihre Edition vor – etwa 1.100 Schreibmaschinenseiten, die 1941 druckfertig vorlagen. Diese erste Fassung seiner Manuskripte verbrannte im April 1945 im untergehenden Danzig, wie auch seine Durchschriften in Ostpreußen.42 Wer Stachniks kirchenhistorische Arbeiten kennt, die auf der Höhe der damaligen Zeit waren, wird einen durchgehenden heimatlichen Bezug, einen monastischen Einschlag, eine große Quellennähe und kunstgeschichtliches Interesse bemerken. Seine geplanten Veröffentlichungen sollten als Grundlage und Beitrag für die noch ausstehende Kanonisation dienen. Sein breites kulturhistorisches Interesse stellte er seiner 1978 doch noch zustande gekommenen Prozessedition voran: Die vom Institut für ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte e.V. herausgegebenen Akten bringen „eine Fülle kulturhistorischer Tatsachen“ 43 und stellen damit „eine zeitgeschichtliche Quellen ersten Ranges dar“44. Durch diese Kriegsarbeiten wurde Stachnik zum besten und umfassenden Kenner der Materie Dorothea von Montau.

3. Dorothea nach 1945 Das Ende des Zweiten Weltkriegs veränderte die Beschäftigung mit Dorothea vollständig. Inhaltlich musste man auf eine ganz neue Situation reagieren, technisch geradezu bei Null anfangen. Zuerst ergriff man von amtskirchlicher Seite die Initiative und weniger von kulturhistorisch-wissenschaftlicher. In den ersten Nachkriegsjahren standen jedoch die Beschäftigung mit der eigenen Wohnortsuche und die Existenzsicherung im Vordergrund. Dennoch wurden bereits 1946 erste Weichen gestellt. Maximilian Kaller nahm im Frühjahr 1946 mit Stachnik in Berlin Kontakt auf und bat diesen, den Prozess wieder in Gang zu bringen.45 Durch den frühen Tod des Oberhirten im Jahre 1947 und der Inhaftierung des Danziger Bischofs Carl Maria Splett46 41 STACHNIK: Priesterbuch (wie Anm. 39), 219. 42 Ebd.; Die Akten des Kanonisationsprozesses (wie Anm. 4), XXV Anm. 60. 43 Ebd., VI. 44 Ebd. 45 STACHNIK: Zum Prozess um die Bestätigung des Kultes (wie Anm. 30), 107; DERS.: Dies und Das (wie Anm. 32), 173. 46 Stefan SAMERSKI: Carl Maria Splett, in: Das Bistum Danzig in Lebensbildern. Ordinarien, Weihbischöfe, Generalvikare, Apostolische Visitatoren 1922/25 bis 2000, hg. vom DEMS., Münster u. a. 2003, 61–73 (Lit.).

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(1938–1964) konnte von Bischofsseite keine weitere Förderung erfolgen. Stachnik war im Juni 1946 von Berlin nach Herne gekommen, wo er zunächst gemeinsam mit dem dortigen Klerus den Zentralverein der dortigen Katholiken gründete. Erst Anfang der fünfziger Jahre fand er wieder Zeit, sich seiner „alten Leidenschaft“, der Dorotheenverehrung, zu widmen. Doch schon 1947, zur 600. Wiederkehr des Geburtstages der Reklusin, sammelten sich die alten kirchlichen Akteure in der Bundesrepublik, publizierten in der kirchlichen Presse Artikel und beschlossen, das Prozessverfahren wieder aufzunehmen. Diesen Akteuren ging es vor allem darum, die religiösen und karitativen Kräfte der Gläubigen zu stimulieren sowie eine Identifikationsfigur nach Flucht und Vertreibung zu stilisieren.47 Es waren dann vor allem die vertriebenen Ermländer und die Danziger, die zu diesem Zweck am 1. Oktober 1950 in Königstein/Ts. den Dorotheenbund als Gesinnungs- und Gebetsgemeinschaft ins Leben riefen.48 Die Archivarin Anneliese Triller aus Frauenburg/Frombork, der Pfarrer und Dorotheenexperte49 Hans Westphal und vor allem Richard Stachnik waren die wissenschaftlichen Träger dieses Unternehmens, das deutlich klerikal-kirchlich orientiert war. Vor allem darf Stachnik als Nestor dieser Gesellschaft und ihres Dorotheenboten wie auch des bald wieder einsetzenden Heiligsprechungsprozesses angesehen werden. Er fuhr bereits im September 1951 nach Rom, um mit der zuständigen Ritenkongregation Kontakt aufzunehmen.50 Von 1953 bis 1957 widmete sich Stachnik dem Kanonisationsprozess quasi hauptamtlich und hielt sich dazu seit Anfang 1956 sogar 1 ½ Jahre in Rom auf, um mit der zuständigen Kongregation zusammen zu arbeiten.51 Die Heiligsprechung der Dorothea von Montau als wenig aufwändige Kultbestätigung gelang schließlich am 9. Januar 1976 durch Papst Paul VI. (1963–1978).52 In welche Richtung entwickelte sich nun das Programm der Heiligsprechung bzw. der Dorotheenverehrung in den fünfziger Jahren? Das zentrale publizistische Organ des Nachkriegskults und der Heiligsprechung war der Dorotheenbote, der erstmals im September 1951 am Wohnort Stachniks, in Herne erschien.53 Entsprechend rekrutierte sich der Großteil der Mitglieder anfangs aus dem westfälischen Bereich, vor allem aus dem Kreis der Heimatvertriebenen. Stachnik leistete in über 2 ½ Jahrzehnten die allermeiste Redaktionsarbeit und verfasste einen Großteil der Artikel selbst. Neben 47 SAMERSKI: Dorothea von Montau (wie Anm. 1), 615. 48 Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 1. Heft, 5. In seiner Autobiographie (STACHNIK: Dies und Das [wie Anm. 32], 181) benennt er den 4. Oktober als Gründungsdatum. 49 Stachnik bezeichnet in seinem 5. Dorotheenboten (S. 4) Westphal anonym als den einzigen Dorotheenexperten seiner Zeit. 50 STACHNIK: Dies und Das (wie Anm. 32), 173. 51 STACHNIK: Priesterbuch (wie Anm. 39), 217 f.; DERS.: Dies und Das (wie Anm. 32), 177. 52 Dekret in deutscher Übersetzung: STACHNIK/TRILLER: Dorothea von Montau (wie Anm. 30), 145–148. 53 Der Dorotheenbote (wie Anm. 27).



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dem Informationswert war die geistlich-konfessionelle Prägung des etwa halbjährlich erscheinenden Periodikums unverkennbar. Die erste Nummer gab als vorrangigen Zweck des Dorotheenbundes die Durchführung des Kanonisationsprozesses an, wozu Spenden erbeten wurden.54 Daneben sollte der Bote auch der Verbundenheit der in der Zerstreuung lebenden Ost- und Westpreußen dienen. Denn für sie war Dorothea „Helferin und Schützerin aller treuen Christen, besonders ihrer heimatvertriebenen Landsleute“55, obgleich Stachnik die Devotion auch grundsätzlich für westdeutsche Katholiken offen halten wollte. Dessen ungeachtet wurde Dorothea wie zu Zeiten des Hochmeisters Konrad von Jungingen seit dem ersten Dorotheenboten als Patronin Preußens und des Deutschen Ordens tituliert. Stachnik war der Bezug zum Orden sehr wichtig; so vermerkte er, dass in der Deutschordenspfarrei Sondernohe in Bayern Dorothea schon Anfang der fünfziger Jahre in Marienwallfahrten eingeschlossen und der Hochmeister in Wien von den Absichten des Bundes informiert wurde.56 Der neu verstandene Kult sollte Trost und Hoffnung spenden und helfen, erlittenes Leid theologisch-historisch einzuordnen und zu verarbeiten. So wird schon im ersten Dorotheenboten von der Gebetserhörung einer Frau aus Ostpreußen berichtet, die 1945 vor Vergewaltigung und Tod durch die Russen bewahrt worden war.57 Stachnik zitierte in diesem Zusammenhang die Worte des besagten Hochmeisters Konrad, nach denen Dorothea als Patronin Preußens für den Schutz gegen Angriffe und Beunruhigung der Heiden zuständig gewesen sei. Auch das durch Flucht und Vertreibung verlorene Hab und Gut projizierte Stachnik auf Dorotheas Vita, wenn er im zweiten Boten davon sprach, dass die Klausnerin „opferbereite Gottesliebe und völliges Gottvertrauen [besessen habe], das sich besonders im Verzicht auf alles Irdische und in der Einschließung in die Klause zeige“58. Die Vergangenheitsbewältigung der Dorotheendevotion hatte jedoch auch zukunftsweisende Aspekte: Versteckt, aber für alle lesbar, wurde bereits im ersten Heft der Sühne- und Bußgedanke nach den Schrecken und Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs angesprochen, der an Dorotheas Lebensgeschichte gespiegelt wurde.59 Noch subtiler wirkte ein schon rein optisch hervorgehobenes Zitat der Klausnerin, sie lese beständig drei Buchstaben, einen schwarzen, einen roten und einen goldenen,60 was sich als Bekenntnis zur noch jungen Bundesrepublik und Hinweis zur Integration deuten ließ. Außerdem ging es den Geistlichen des Dorotheenbundes darum, der Verweltlichung und Glaubenskälte entgegenzuwirken, aber auch die eucharistische Ver54 55 56 57 58 59 60

Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 1. Heft, 2 f. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 4. Heft, 1. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 1. Heft, 14 f.; 4. Heft, 4. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 1. Heft, 12. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 2. Heft, 11. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 1. Heft, 6. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 1. Heft, 3.

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ehrung als Sühnegedanken herauszustellen.61 Mit authentischem Bezug zur Vita der Mystikerin konnte Stachnik in diesem Zusammenhang von der Herzenserneuerung sprechen, für die Dorothea aktuell ein Vorbild sei.62 Wenn auch die damalige Situationsbewältigung der heimatvertriebenen Katholiken aus Ost- und Westpreußen im Vordergrund der Verehrung stand, so bemühte sich der Historiker Stachnik immer wieder auffallend, Elemente der historischen Dorotheenverehrung in Erinnerung zu rufen, wie etwa das der Selbstvervollkommnung im 17. Jahrhundert oder der Muttergedanke der Barockzeit.63 Außerdem versuchte der Danziger Geistliche spürbar, den Dorotheenboten populär und volkstümlich zu halten, indem er Lieder, Gebete und bildliche Darstellungen abdruckte und auf Zuschriften einging. Der umtriebige Stachnik setzte ganz auf Werbung und Öffentlichkeitsarbeit. Seine Mittel waren Schriftenapostolat, Multiplikatoren und Vorträge. Bis zum Frühjahr 1952 konnten insgesamt 3.000 Mitglieder gewonnen werden. Das war kurz nach Krieg und Übersiedlung eine enorme Leistung. Die Kassenlage des Dorotheenbundes war allerdings durch solch hohe Aktivität sehr angespannt: 1.350 DM Ausgaben standen in den wirtschaftlich angespannten Nachkriegsjahren 812 DM Einnahmen gegenüber.64 Aber die Aufwendungen machten sich bezahlt, denn schon in den nächsten Jahren konnten zahlreiche neue Interessenten gewonnen werden, darunter auch etliche Schlesier, dann aber auch zahlreiche Nichtvertriebene, die sich vom Frauenund Muttergedanken begeistern ließen.65 Es verwundert daher nicht, dass sich von dort aus eine Linie zu den Genderstudies der achtziger Jahre ziehen lässt, die bis heute Dorothea als ihr Forschungsgebiet entdeckt haben.66 Dieser Spezialforschung kommt der außergewöhnliche Quellenreichtum der Dorotheenthematik stark entgegen. Der theologisch-mystische Zweig wird dabei verständlicherweise stark ausgeblendet. Für den Dorotheenboten war die Klausnerin eine „schlichte Bürgerfrau, die im irdischen Bereich keine großen Taten vollbracht hat“67, was aber nicht den historischen Tatsachen entsprach. Wie kaum eine Zeitgenossin ging sie mit ihrem Mann häufig auf Reisen – Wallfahrten zumeist – und wohnte in den ersten Jahren ihrer Ehe in der prominenten Danziger Langgasse, wo sie einem großen Haushalt mit neun Kindern vorstand. Das passte aber offensichtlich wenig zu einer Identifikationsfigur für das eher unauffällige Leben eines Vertriebenen. Und darauf kam es Stachnik entschieden an, denn Dorothea sollte dem Grundsatz entsprechen: „Trotz Verborgenheit größte 61 62 63 64 65 66 67

WESTPHAL: Dorothea von Montau (wie Anm. 12), 68. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 2. Heft, 10. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 2. Heft, 10. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 2. Heft, 14. Besonders: Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 4. Heft, 1. SAMERSKI: Dorothea von Montau (wie Anm. 1), 615. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 4. Heft, 1.



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Heiligkeit!“68 In seinen ersten Nachkriegsjahren verarbeitete Stachnik die inferiore Situation der Neuankömmlinge in Herne, wie er sie persönlich in der Kommunalpolitik erlebt hatte, folgendermaßen, indem er nämlich darauf bedacht war, „nicht in den Geruch zu kommen, dass wir Heimatvertriebenen ‚etwas wollten‘“69. Innerhalb der Herner CDU war er sorgsam darauf bedacht, „dass wir keine ‚Extrawurst braten‘“70 würden. Eine solch regressiv-bescheidene Zurückhaltung spiegelte sich auch in den Texten des Boten und seiner Darstellung von Dorothea wider. Außerdem versuchte Stachnik über seine Zeitschrift, eine Vielzahl an Unterschriften für den Kanonisationsprozess einzuwerben. Allerdings bemühte er sich beispielsweise im fünften Dorotheenboten darum, dem damaligen Durchschnittskatholiken die weitgehend unzugängliche Welt der Mystik aufzuschließen und verkomplizierte dadurch einen modernen Zugang zur Figur der Dorothea.71 Man merkte ihm 1954 deutlich seine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Causa an, deren vorbereitende Arbeiten in Deutschland bis zum Sommer 1955 beendet waren. Als Stachnik Anfang Oktober 1955 wieder nach Rom fuhr, konnte er dort einen rasch erstellen Antrag für die Bestätigung des Kultes72 vorlegen, der von Vertretern der nordostdeutschen Ordinarien – Ermland, Danzig, Schneidemühl – unterschrieben war.73 Der frühere Breslauer Klerus spielte hier keine nennenswerte Rolle mehr. Das Bild von einer deutschen Mystikerin, das Stachnik in den Dorotheenboten 1953/54 skizzierte und dabei ganz aus seiner Beschäftigung mit den historischen Dokumenten schöpfte, stieß allerdings bei den Gläubigen und Dorotheenverehrern kaum auf Resonanz. Aus dem Kreis der Mitglieder des Bundes hörte man ganz andere Töne. Hier waren es vor allem katholische Frauen, die in Welt, Ehe und Familie fest verwurzelt waren und Dorothea als eine von ihnen ansahen.74 Eine Laiin und Ehefrau zur Ehre der Altäre zu befördern, war damals geradezu revolutionär. Stachnik selbst kam nicht auf diesen Gedanken, sondern griff ihn 1955 aus Leserzuschriften auf. Der Dorotheenkreis war bis 1954 deutlich angewachsen; auffallend viele Namen aus Kleriker-, schlesischen Adels- (Gräfin Henkel-Donnersmarck) und Frauenkreisen fallen jetzt als Spender auf.75 Die umtriebige und vielfältige Werbeaktivität Stachniks trug damit relativ rasch Früchte, vor allem was die deutlich spürbare Erweiterung des Kreises in Richtung Schlesien anbetrifft, die man offensichtlich der Vertriebenenthematik zuschreiben kann. 68 Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 5. Heft, 5. 69 STACHNIK: Dies und Das (wie Anm. 32), 177. 70 Ebd. 71 Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 5. Heft, 2–14. 72 STACHNIK: Zum Prozess um die Bestätigung des Kultes (wie Anm. 30), 107. 73 STACHNIK: Dies und Das (wie Anm. 32), 174; DERS.: Zum Prozess um die Bestätigung des Kultes (wie Anm. 30), 107. 74 Zuschriften an Stachnik: Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 7. Heft, 1. 75 Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 6. Heft, 13 f.

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Mit den Jahren merkt man Richard Stachnik die Erschöpfung bei der Gestaltung des Dorotheenboten an. Da er immer noch fast alle Beiträge selbst verfasste, und die Vorbereitung für den in Rom anstehenden Kanonisationsprozess den Großteil seiner Arbeitskraft beanspruchte, glichen die Hefte einer popularisierten Fassung der historischen Prozessakten. Im Herbst 1955, als die Aufnahme des Verfahrens in Rom bevorstand und sich Stachnik auf eine Übersiedlung in die Ewige Stadt vorbereitete, wurde noch ein anderes Dilemma deutlich: Der Kreis der Dorotheenverehrer war trotz aller Anstrengungen zahlenmäßig immer noch relativ klein und die Absicht, Dorothea als Gestalt der deutschen Mystik zu propagieren, wenig erfolgversprechend. Die Kleriker aus Danzig und Ermland, die immer noch die eigentlichen Träger des Prozesses waren, setzten auf diese zwar wissenschaftlich verantwortbare Karte, wirklich populär war dieses neue Image aber nicht. Im Sommer und Herbst 1955 stellte sich dann ein Bewusstseinswandel bei den ostdeutschen Klerikern ein, der vermutlich in Rom angeregt wurde. Denn viel zugkräftiger für ein jahrelanges Verfahren war der Gedanke, Dorothea „nicht nur im Interesse der Ostdeutschen, der Heimatvertriebenen, sondern im Interesse aller Deutschen [… und eines] aus so vielen Wunden blutenden Vaterlands“76 zu kanonisieren, so Stachniks römischer Mitarbeiter aus dem Ermland. Als eine der ganz wenigen deutschen Causen hielt nämlich auch die Ritenkongregation die Causa Dorothea für zugkräftig.77 Damit wäre Dorothea gewissermaßen zur Patronin der Stunde Null geworden, die ein am Boden liegendes Deutschland reflektierte und diesem nach der Nazihypothek, Flucht, Vertreibung und Zerstörung wieder neues Selbstbewusstsein einflößen sollte. Und in diesem Sinne wurde das entscheidende Gesuch an den Papst abgefasst. Das vordringliche Motiv für die Heiligsprechung blieb aber ihr Bezug zur verlorenen Heimat. Durch die Kanonisation würde Dorothea zur ersten eigenen Heiligen Preußens werden – ganz so, wie es Hochmeister Konrad von Jungingen beabsichtigt hatte.78 Denn das Gesuch führte unter den fünf Motiven der Heiligsprechung auf: „Ganz besonders werden unsere aus ihrer Heimat vertriebenen Diözesanen und alle ostvertriebenen Katholiken erfreut sein und werden sich um so stärker mit der Kirche und dem Papst verbunden wissen“79. Integration durch Identifikation. Da das Spendenaufkommen einigermaßen zufriedenstellend war, stand einem geregelten Prozessgang nun nichts mehr im Weg.80 Gleichsam als Nebeneffekt verstanden die Akteure das Heiligsprechungsverfahren als ein Zeichen der Einheit der Kirche und der Solidarität „mit den christlichen Völkern hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘“81, um durch den preußischen Heimatbezug den damals virulenten Ost-West-Konflikt nicht zu bedienen. Im historischen Preußenland, 76 77 78 79 80 81

Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 8. Heft, 5. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 8. Heft, 3. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 8. Heft, 10. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 8. Heft, 10. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 8. Heft, 14f. Der Dorotheenbote (wie Anm. 27), 8. Heft, 10.



Zwischen Wissenschaft und Heimatpflege

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im heutigen Polen, war nach dem Weltkrieg nur noch in Groß-Montau/Mątowy Wielkie und Marienwerder/Kwidzyn die Dorotheenverehrung lebendig geblieben, die sich auf die dort noch zahlreichen Deutschen stützte (in Groß-Montau anfangs ca. 30 bis 40 %).82 Für sie war und blieb Dorothea eine Identifikationsgestalt deutscher Kultur. Ihre Verehrung kam aber auch dort seit den fünfziger Jahren, vor allem aber in den achtzigern, fast vollständig zum Erliegen, da dann die meisten Deutschstämmigen in die Bundesrepublik ausgereist waren. Daher hatte Polen schon aus verkehrstechnischen Gründen keinen Anteil am Kanonisationsprozess der Dorothea von Montau gehabt. Zusammenfassend lässt sich kurz festhalten: Das Bild der Heiligen bzw. der Kandidatin veränderte sich im Laufe der Zeit deutlich. Die Konstante in der Dorotheendevotion war ihr identitätsstiftendes Patronat, das je nach Epoche variierte: im Mittelalter lokalpolitisch für den Deutschen Orden, in der Barockzeit hauptsächlich zugunsten persönlicher Nöte der Mütter und im 19. und 20. Jahrhundert im Dienste der Heimat – zunächst in kulturhistorisch-wissenschaftlicher Beschäftigung, dann amtskirchlich-liturgisch für die Heimatvertriebenen.

82 Dazu: SAMERSKI: Dorothea von Montau (wie Anm. 1), 615 f.

Marco Bogade MUTTER, BRÜCKENBAUERIN, LANDESPATRONIN? Dorothea von Montau und ihr transregionaler Kultreflex in der materiellen Kultur im 20. und 21. Jahrhundert1 Die Verehrungsgeschichte der Dorothea von Montau, einer in kirchlichen (katholischen) Kreisen vermutlich eher unbekannten Heiligen, ist in ihrer über 600 Jahre langen Geschichte gekennzeichnet von zahlreichen Brüchen und Diskontinuitäten – hinsichtlich des Orts ihrer Verehrung und was den Kreis ihrer Verehrer und Förderer angeht. Das Ende des Zweiten Weltkriegs und die politische und soziale Neuorientierung in Mittel- und Ostmitteleuropa bedingten eine fast abenteuerlich anmutende geografische „Wanderung“ ihrer Verehrung von Großmontau (Mątowy Wielki) in der Nähe von Danzig (Gdańsk) bzw. Marienwerder (Kwidzyn) im heutigen Polen in das Ruhrgebiet und wieder zurück. Der folgende Beitrag behandelt die materiellen Zeugnisse der Dorotheenverehrung und die Ikonografie der Heiligen als Reflex und Manifestation ihres Kultes vor allem im 20. und 21. Jahrhundert mit Bezugnahme zur spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Dorotheenverehrung respektive Dorotheenikonografie. Fast 600 Jahre nach ihrem Tod wurde im Januar 1976 der Kult und damit die kirchliche Verehrung Dorotheas von der Kongregation für Selig- und Heiligsprechungsprozesse in Rom offiziell bestätigt.2 Die Heiligsprechung stellt dabei den Endpunkt eines Prozesses dar, der im Jahre 1955 seinen Anfang, genau genommen seinen Wiederanfang, nahm. Das an den Heiligen Stuhl gerichtete Gesuch um Kanonisierung der seligen Dorothea, das am 6. Oktober 1955 als Prozessmaterial miteingereicht wurde, bezog sich dabei auf die – wie es in dem Schreiben heißt – „Patronin Preußens und des Deutschen Ritterordens“ und wurde von den „Ordinarien der heimatvertriebenen Katholiken aus den (…) Bistümern [Ermland, Danzig]“ unterschrieben.3 Richard 1 Der Beitrag ist eine überarbeitete und ergänzte Fassung folgenden Aufsatzes: Marco BOGADE: Dorothea of Montau (†1394). Remarks on the Cult and the Iconographic Tradition of a Teutonic Knights’, Expelees’ and Poles’ Saint, in: Cuius Patrocinio Tota Gaudet Regio. Saints’ Cults and the Dynamics of Regional Cohesion, ed. by Stanislava KUZMOVÁ, Ana MARINKOVIĆ, Trpimir VEDRIŠ, Zagreb 2014 (Bibliotheca Hagiotheca, Series Colloquia III), 271–283. 2 Ute STARGARDT: The Political and Social Backgrounds of the Canonization of Dorothea von Montau, in: Mystics Quarterly 11, 3 (1985), 107–122, hier 107; Stefan SAMERSKI: Dorothea und kein Ende. Bemerkungen zur Prozess- und Kultgeschichte der hl. Dorothea von Montau, in: Cura animarum. Seelsorge im Deutschordensland Preußen, hg. v. DEMS., Köln–Weimar– Wien 2013 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 45), 200–216. 3 Richard STACHNIK: Das Gesuch um Kanonisierung der seligen Dorothea an den Hl. Vater, in: Der Dorotheenbote 8 (1955), 9–11, hier 9.



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Stachnik formuliert in diesem Zusammenhang ganz deutlich die identitätsstiftende Rolle der „Danziger Landsmännin“ 4 Dorothea für die Vertriebenen und Flüchtlinge: „Ganz besonders werden unsere aus ihrer Heimat vertriebenen Diözesanen und alle ostvertriebenen Katholiken erfreut sein und werden sich umso stärker mit der Kirche und dem Papst verbunden wissen, wenn Dorothea heiliggesprochen wird. Sie haben auch im kirchlichen Bereich so viel von ihrem eigenen Brauchtum verloren. In ihren neuen Wohngebieten, zum Teil Diaspora, werden andere Lieder gesungen, andere Andachten gehalten, sind andere Wallfahrtsorte. Was aber ein alter heidnischer Schriftsteller von den wandernden Völkern des Altertums gesagt hat: ‚sie nehmen ihre Götter mit sich’, das gilt in anderer Bezeichnung auch von unsern heimatvertriebenen Katholiken: sie haben ‚ihre Heiligen’ mit sich genommen und halten treu zu ihnen.“ 5 Als im wörtlichen Sinne „katholisch“ – die Kirche einend – angesehen wurde Dorothea im Kanonisationsgesuch von 1955, wo es entsprechend heißt: „Wie Dorothea zeit ihres Lebens viel für die Einheit der Kirche gebetet und gesühnt hat und besonders unter der sog. Abendländischen Kirchenspaltung (1378–1415) sehr gelitten hat, so wird sie jetzt mit umso größerer Liebe und Inbrunst für die christlichen Völker hinter dem ‚Eisernen Vorhang‘ bei Gott Fürsprecherin sein, daß sie in der Treue zu Kirche und Papst ausharren, sie, die einst nicht bloß von den Deutschen und Preußen ihrer Heimat als Patronin angefleht worden ist, sondern auch von den Litauern, Polen, Schlesiern, Böhmen, Livländern und Schamaiten hochverehrt worden ist.“ 6 Dorothea gilt als „Brückenbauerin an der Weichsel“ sowie als „gnadenvolle Mittlerin zwischen beiden Völkern“;7 und auch Josef Ratzinger bestätigt dies insofern, als er 1979 in einer Predigt herausstellt, sie gehöre Ost und West gleichermaßen.8 Der heilige Nepomuk – um ein ähnliches Phänomen anzuführen – wurde von den Heimatvertriebenen zwar nicht „mitgenommen“; jedoch erfuhr auch sein Kult nach dem Zweiten Weltkrieg bei den aus Böhmen und Mähren stammenden Katholiken gewissermaßen eine Renaissance, die etwa in der Wiederbelebung der Tradition des sogenannten Lichterschwimmens ihren Ausdruck fand. Der Brückenheilige hatte jedoch auch nicht nur eine identitätsstiftende Funktion; er stand und steht in diesen Kreisen sinnbildlich als Brückenbauer und als geistiger Mittler zwischen Deutschen und Tschechen.9 4 Ernst BORCHERT: Mutter Dorothea – unsere Heilige, in: Heimatbrief der Danziger Katholiken 28. Jg. (1977), 3, 4–7, hier 4. 5 STACHNIK (wie Anm. 3),10–11. 6 Ebd, 10. 7 Helmut HOLZAPFEL: Besuch bei der Patronin Preußens, in: Klerusblatt 10 (1977), 232. 8 Joseph RATZINGER: Christlicher Glaube und Europa. 12 Predigten, München 1982, 36. 9 Johanna von HERZOGENBERG/Raimund PALECZEK: Johannes von Nepomuk, in: Die Landespatrone der böhmischen Länder. Geschichte – Verehrung – Gegenwart, hg. v. Stefan SAMERSKI, Paderborn 2009, 109–122, hier 121–122.

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Die Akteure und Adressaten der Heiligsprechung Dorotheas sind in erster Linie die aus Westpreußen und aus der Stadt Danzig Vertriebenen. Als mediales Organ begleitete und propagierte die Zeitschrift Der Dorotheenbote, der erstmals 1951 erschienen ist und mit seiner letzten Ausgabe, dem Band 38, im Jahre 1978 eingestellt wurde, den Prozess. Der Herausgeber Richard Stachnik, der 1955 auch das Quellenmaterial beim Heiligen Stuhl eingereicht hat, beschreibt im Vorwort der ersten Ausgabe den historischen Bezug Dorotheas zum Deutschen Orden, respektive zu Preußen, und verortet die zeitgenössische Verehrung und die Propagierung ihres Kults in das Ruhrgebiet, wo nicht nur Der Dorotheenbote (Herne) erschien, sondern auch die Dorotheen-Gesellschaft und der Dorotheenbund ihren Sitz hatten. Es mag daher nicht verwundern, dass die in den 1950er-Jahren erbaute Kirche St. Elisabeth in Herne (Die Pfarrei St. Elisabeth bestand seit 1948 als Pfarrvikarie von St. Bonifatius und wurde 1952 zur Pfarrei erhoben) in der Seitenkapelle ein Glasfenster mit einer Dorotheendarstellung enthält. Das von dem ortsansässigen Künstler Jupp Gesing geschaffene Bild zeigt die nimbierte Heilige in Gesellschaft der hl. Barbara sowie der hl. Hedwig von Schlesien. (Taf. 2) Gestiftet wurde das Fenster zusammen mit einer Hedwigsfigur in den 1950er-Jahren vom lokal ansässigen Hedwigskreis,10 einem Zusammenschluss katholischer Heimatvertriebener, der sich bereits ab 1946 in Vereinigungen organisierte.11 Zusätzlich zu der Vergesellschaftung mit der „Vertriebenenheiligen“ Hedwig ist Dorothea die Marienkirche in Danzig als Attribut beigegeben, die sich links neben ihr befindet. Dorotheas Blick ist nach oben in eine angedeutete Wolkenformation gerichtet, aus der ein Lichtstrahl auf ihr Herz fällt. Die Ikonografie der Dorothea von Montau ist vom 15. bis ins 20. Jahrhundert uneinheitlich und nährt sich vor allem aus zwei Quellen bzw. zwei literarischen Motiven: Das erste Motiv bezieht sich auf die „Herzenserneuerung“ bzw. den „Herzensaustausch“ Dorotheas, der sich in der deutschsprachigen Lebensbeschreibung des Johannes Marienwerder aus der Zeit um 1400 wiederfindet. „(…) do quam unsir herreJhesus (sic!), ir liephabir und rockte ir alds herzce us, und stys ir vor daz ein nuwe hitzig herze yn; das fulte wol di selige Dorothea, das man ir ire herzce uszog, und das man ir in des hertzen stat stis ein hitzig stucke fleischis, das was zumol gar heys.“12 (Da kam unser Herr Jesus, ihr Liebhaber, zog ihr altes Herz heraus und stieß ihr dafür ein neues, heißes Herz hinein; die selige Dorothea fühlte, dass man ihr Herz heraus10 Dank an Karl-Heinz Karwat, Herne, für den schriftlichen Hinweis vom 20. Juli 2012. 11 Kurt DRÖGE: Zur Entwicklung des Hedwigsbildes in den Hedwigskreisen von 1947 bis 1993, in: Das Bild der heiligen Hedwig in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Eckhard GRUNEWALD, Nikolaus GUSSONE, München 1996 (Schriften des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 7), 225–240, hier 226. 12 Das Leben der heiligen Dorothea von Johannes Marienwerder, hg. v. Theodor HIRSCH, Max TÖPPEN, Ernst STEHLKE, Leipzig 1863, 232. Vgl. Undine BRÜCKNER/Regula FORSTER: Die Herzenserneuerung bei Dorothea von Montau, Katharina von Siena und Muhammad, in: Oxford German Studies 39/2 (2010), 198–212, hier 198.



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zog und dass man ihr statt des Herzens ein heißes Stück Fleisch hineinstieß, das zudem ganz heiß war.) Die „Herzenserneuerung“ oder der „Herzensaustausch“ bezieht sich seinerseits auf das alttestamentarische Buch Ezechiel, in dem die spirituelle Erneuerung des Volkes Israel durch Gott mit dieser Metapher beschrieben wird: „Und ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben; und ich werde das steinerne Herz aus eurem Fleische wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Und ich werde meinen Geist in euer Inneres geben; und ich werde machen, daß ihr in meinen Satzungen wandelt und meine Rechte bewahret und tut.“13 Der „Herzenserneuerung“ gegenüber steht die „Lanzierung“ (lanceacio) ihres Herzens, die ihr Beichtvater im sechsten Buch der Vita Latina der Dorothea von Montau ebenfalls beschreibt: „Sie sahen allerdings, dass im Herzen der Dorothea zwei neue und glänzende Lanzen (duas lanceas novas et splendidas) sind, eine in dem einen Teil, die andere im oberen Teil des Herzens. Ihr Schaft ragte – merkwürdigerweise

Abb. 1: Hl. Augustinus und Dorothea von Montau flankieren die Herabkunft des Heiligen Geistes an Pfingsten. Glasfenster von Alois Plum in der Kirche Santa Maria della Pietà des Collegio Teutonico im Vatikan von 1963. Foto: Der Dorotheenbote, Beilage ohne Jahresangabe und Seitenzahlen.

13 http://www.bibel-online.net/buch/elberfelder_1905/hesekiel/36/#26 (01.02.2016).

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geschmückt – weit vom Herzen hinauf bis zum Himmelsthron, auf dem der Herr und seine allerliebste Mutter saßen.“ 14 Ob sich der Lichtstrahl auf dem Glasfenster von St. Elisabeth in Herne aus der ikonografischen Tradition der Lanzierung ableitet, als Symbol der Herzenserneuerung verstanden werden kann oder ein Konglomerat aus Beidem darstellt, muss an dieser Stelle offen bleiben. (Taf. 2) Auf einem dreiteiligen Glasfenster von 1963 in der Kirche Santa Maria della Pietà des Collegio Teutonico im Vatikan findet sich Dorothea im Kontext einer Pfingstdarstellung vergesellschaftet mit dem hl. Augustinus. (Abb. 1, 2) Abb. 2: Dorothea von Montau. Glasfenster von Alois Plum in der Kirche Santa Maria della Pietà des Collegio Teutonico im Vatikan von 1963 (Detail). Foto: Der Dorotheenbote, Beilage ohne Jahresangabe und Seitenzahlen.

Der Heilige ist Namenspatron des Auftraggebers August Schuchert (1900–1962), der als Prälat in Mainz tätig war und den ebenfalls in Mainz ansässigen Glaskünstler Alois 14 Hans WESTPFAHL: Vita Dorotheae Montoviensis Magistri Johannis Marienwerder, Köln– Graz 1964, 324 [Übersetzung durch den Verfasser].



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Plum mit dem Entwurf des Glasfensters beauftragt hat – das Mainzer Rad am unteren Rand des Bildes gibt den geografischen Verweis. Dorothea selbst erscheint unnimbiert; ihr Blick ist leicht nach oben gerichtet, ihre Hände sind ausgebreitet und leicht erhoben. Die neun Blüten, die sich zu ihrer Rechten befinden, symbolisieren ihre neun Kinder.15 Zu ihren Füßen findet sich – als Pendant zur Darstellung des Augustinus – das Wappen der Stadt Danzig mit den zwei silbernen Kreuzen und der darüber schwebenden Krone im Bild. Ob der Verweis auf Danzig hier ebenfalls einen biografischen Bezug zum Auftraggeber hat, ist fraglich. Eine erste Sichtung des Nachlasses von Schuchert, vor allem seiner Privatbriefe, ergab keinen Hinweis auf Verbindungen an die Ostsee.16 Ein Faible Schucherts für die Kunst, vor allem auch die Kunst der Nachkriegsmoderne, spiegelt sich jedoch nicht nur in seiner Lehrtätigkeit wieder – er unterrichtete seit 1948 unter anderem christliche Kunstgeschichte und Denkmalpflege an der Universität Mainz und am Mainzer Priesterseminar – sondern mündet auch in die Organisation der Ausstellung „Moderne christliche Kunst am Mittelrhein“, die 1946, 1949 und 1952 in Mainz zu sehen war.17 Ikonografisch gewissermaßen autonom bezieht sich das vatikanische Fensterbild auf das Rollenmodell Dorotheas als Mutter, das sich bereits in den literarischen Quellen in der Zeit um 140018 und nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach im Umkreis der Heimatvertriebenen findet.19 Und auch Josef Ratzinger stellte in seiner besagten Predigt von 1979 fest: „Es ist bezeichnend, daß Dorothea auch als Klausnerin und nach ihrem Tode beim Volk den Namen Mutter Dorothea behielt.“20 Die Glasfenster befinden sich heute ausgebaut im Keller des Kollegs. Es ist bis heute auch unklar, wo sie sich ursprünglich befanden. Es existierte ein Oratorium in einem Gebäudetrakt, der 1962 zu Gunsten eines Neubaus, der allerdings erst 1966 eingeweiht wurde, ab15 Beilage mit Abbildungen (ohne Seitenzählung, ohne Jahr), in: Der Dorotheenbote. Das Bild ist betitelt mit: „Die selige Dorothea. Glasfenster in der Kirche des deutschen Kollegs am Campo Santo Teutonico bei St. Peter in Rom (1963). Der Künstler: A. Plum, Mainz; Ausführung: W. Derix, Wiesbaden-Rottweil. Die neun Blüten erinnern an Dorotheas neun Kinder; unten: das Wappen von Danzig, wo Dorothea 28 Jahre gelebt hat.“ 16 Für diesen Hinweis vom 5. Februar 2015 danke ich Stefan Heid, der auch den Lexikonartikel über August Schuchert im Personenlexikon zur Christlichen Archäologie verfasst hat. Siehe dazu auch: Stefan HEID: August Schuchert. Kirchenhistoriker, Christlicher Archäologe, Museumsdirektor, in: Personenlexikon zur Christlichen Archäologe. Forscher und Persönlichkeiten vom 16. bis zum 21. Jahrhundert, hg. v. Stefan HEID, Martin DENNERT, Bd. 2, Regensburg 2012, 1145 f. 17 HEID (wie Anm. 16). 18 In den akustischen Visionen des Konrad von Jungingen wird Dorothea „Mutter Dorothea“ genannt. Der Dorotheenbote 4 (1953), 7–9. Ähnlich: Der Dorotheenbote 6 (1954), 5–13. 19 Zum Beispiel „Mutter Dorothea von Montau“ im Beitrag von Ernst BORCHERT (wie Anm. 4), 5. 20 Joseph Kardinal RATZINGER: Wege nach innen: Die Heilige Dorothea von Montau. Predigt beim Gottesdienst zu Ehren der heiligen Dorothea von Montau am 17. Juni 1979 in der Münchner Michaeliskirche, München [1979], 4.

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gerissen wurde. Das Oratorium befand sich jedoch nie innerhalb der Kirche und war auch nicht durch das Fenster mit dieser verbunden.21 Noch das Biographisch-bibliographische Kirchenlexikon von 1991 bezeichnet Dorothea als „selige Patronin des deutschen Ritterordens und des Ordenslandes Preußen“22 und bezieht sich damit explizit auf ihre, auf eine Region bzw. ein Staatengebilde bezogene Schirmherrschaft, die sie offenbar bereits im Mittelalter innehatte. Die Historikerin Cordelia Heß hat in ihrer Dissertation aus dem Jahre 2008 den Kanonisationsprozess Dorotheas im späten Mittelalter und seine politische Motivation in Zusammenhang mit dem Deutschen Orden untersucht. Sie schreibt: „Die spontane Verehrung hatte bereits zu ihren Lebzeiten mit dem Zeitpunkt ihrer Reklusion eingesetzt und wurde vom preußischen Klerus nach Kräften gefördert, wie viele Hinweise auf Predigten und priesterliche Anweisungen zum Gelübde in den Kanonisationsakten zeigen. Die erste Phase des eigentlichen Kanonisationsprozesses begann direkt nach Dorotheas Tod, indem der Bischof von Pomesanien Johannes Mönch die Kanoniker aufforderte, Wunder zu protokollieren. Gleichzeitig sandten preußische Bischöfe, Vertreter der Domkapitel und Gelehrte sowie Vertreter des Deutschen Ordens ein Kanonisationsgesuch an Bonifaz IX.“23 Entscheidender Akteur ist dabei der Generalprokurator des Deutschen Ordens Johann von Felde, der den im Jahre 1404 durch Papst Bonifaz IX. eröffneten Prozess „in partibus“ auf dem Gebiet des Deutschen Ordens in die Wege leitete, so dass zwischen 1404 und 1406 eine Vielzahl von Zeugen vernommen werden konnten. Die Akten wurden gesammelt und dem Heiligen Stuhl übermittelt. Eine Zäsur im Verfahren stellte die Schlacht bei Tannenberg bzw. Grunwald im Jahre 1410 dar, in deren Folge die Begleitung des Prozesses vernachlässigt wurde. Als zum Ende des 15. Jahrhunderts der Prozess dann wiederaufgenommen werden sollte, wofür sich der Hochmeister Martin Truchseß von Wetzhausen und der pomesanische Bischof Johannes Kirstani von Lessen einsetzten, war ein Teil der Prozessdokumente bereits verloren. Mit der Konversion des Hochmeisters Adalbert von Hohenzollern zum Protestantismus im Jahre 1525 kamen die Unterstützung Dorotheas durch den Deutschen Orden und das Verfahren dann naturgemäß vollends zum Erliegen. Ihr Grab wurde 1544 zerstört.24 Auch in der bildenden Kunst findet die Vereinnahmung Dorotheas für die Belange des Deutschen Ordens ihren Niederschlag. Ein Bild aus dem späten 19. oder frühen 21 Ich danke Teresa Lohr, Bamberg, für den Hinweis vom 2. Februar 2015. 22 Friedrich Wilhelm BAUTZ (Hg.), Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 1, Herzberg 1990, 1362. Ganz ähnlich („Patronin des Deutschen Ordens wie des ganzen alten Preußenlandes“) wird sie genannt bei: Ernst BORCHERT, Dorothea von Montau – Mutter, Mystikerin und Heilige, in: Klerusblatt 10 (1977), 232. 23 Cordelia HESS: Heilige machen im spätmittelalterlichen Ostseeraum. Die Kanonisationsprozesse von Birgitta von Schweden, Nikolaus von Linköping und Dorothea von Montau, Berlin 2009, 264. 24 HESS (wie Anm. 23), 264–269.



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20. Jahrhundert, für dessen Provenienz das ehemalige Haupthaus des Deutschen Ordens in Freudenthal (Bruntál) – die Stadt wurde nach dem Ständeaufstand in Böhmen 1618 vom Deutschen Orden erworben25 – in der Region Mährisch-Schlesien im Nordosten der Tschechischen Republik in Betracht gezogen wird und dessen Verbleib unbekannt ist, zeigt Dorothea ganzfigurig, im Profil kniend. (Abb. 3) Abb. 3: Dorothea von Montau. Gemälde des späten 19. oder frühen 20. Jahrhunderts aus dem ehemaligen Hauptgebäude des Deutschen Ordens im böhmischen Freudenthal (Bruntál). Heute verschollen. Foto: Der Dorotheenbote 4 (1957), 7.

25 Karen LAMBRECHT: Freudenthal (Bruntál), in: Böhmen und Mähren, hg. v. Joachim BAHLCKE, Winfried EBERHARD, Miloslav POLÍVKA, Stuttgart 1998 (Handbuch der historischen Stätten), 149–151, hier 150; Udo ARNOLD: Deutscher Orden, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 2013. URL: ome-lexikon.uni-oldenburg.de/55154. html (Stand 08.04.2013).

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Ob der Lichtstrahl, der durch das Fenster ihrer Klause scheint, als göttliche Inspiration verstanden werden muss, ist aufgrund der schlechten Qualität der überlieferten Abbildung nicht zu beantworten. Deutlich zu erkennen ist jedoch der den Ritter- und Priesterbrüdern des Deutschen Ordens eigene weiße Mantel mit dem schwarzen Kreuz. Die Bildzeugnisse Dorotheas aus dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit scheinen sich weitgehend auf das Gebiet des (ehemaligen) Deutschordensstaates zu beschränken und darüber hinaus keine bedeutende Verbreitung gefunden zu haben. Eine umfassende Untersuchung der Bildquellen als Ausdruck des Kults ist bisher ausgeblieben; die Untersuchung der Ikonografie Dorotheas stellt ein Forschungsdesiderat dar.26 Abb. 4: Dorothea von Montau. Holzschnitt aus dem Buch „Das Leben der zeligen Frawen Dorothee Clewsenerynne in der Thumkirchen czu Marienwerder des Landes czu Prewszen“, veröffentlicht 1492 von Jakob Karweyse in Marienburg (Malbork). Foto: Josef Ratzinger: Wege nach Innen. Die Heilige Dorothea von Montau. Predigt beim Gottesdienst zu Ehren der Heiligen Dorothea von Montau am 17. Juni 1979 in der Münchner St. Michaelskirche, München 1979, 2.

26 Mit Ausnahme der Altäre in Großmontau und Thorn, auf die hingewiesen wird in: Klaus ZIMMERMANNS Dorothea von Montau, in: Wolfgang BRAUNFELS (Hg.): Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 6, Freiburg 1994, 92–93.



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Das früheste überlieferte Dorotheenbild, das auch vielfach in der „Dorotheenliteratur“ wiedergegeben wird, entstand rund 100 Jahre nach ihrem Tod und fällt gewissermaßen in die Zeit ihrer ersten „Renaissance“; es steht in direktem Zusammenhang mit den Bestrebungen um ihre Kanonisierung. Der bekannte Holzschnitt ist dem Buch „Das Leben der zeligen Frawen Dorothee Clewsenerynne in der Thumkirchen czu Marienwerder des Landes czu Prewszen“, gedruckt 1492 von Jakob Karweyse in Marienburg (Malbork), beigegeben. Er präsentiert die unnimbierte Dorothea stehend mit einer Laterne in der rechten und einer Gebetsschnur bzw. einem Rosenkranz in der linken Hand. Von den fünf Pfeilen, die auf ihren Körper zufliegen, zielt einer auf ihr Herz bzw. ihre Seite.27 (Abb. 4) Bereits auf diesem frühen Bildzeugnis wird, durch den fünften Pfeil, die Lanzierung des Herzens im Sinne einer imitatio Christi, einer Nachfolge Christi, angedeutet, die ja auch in der oben erwähnten Vita Latina zum Ausdruck kommt. Die Fünfzahl der Pfeile selbst ist natürlich als Verweis auf die fünf Wundmale Christi zu verstehen. In diesem Kontext sei noch auf eine Vision Dorotheas hingewiesen, die Karl Richstätter wie folgt wiedergibt: „Der Herr erschien ihr mit geöffnetem Herzen und geöffneter Seite, und sprach: ‚Darum habe ich dir meine geöffnete Seite und mein offenstehendes Herz gezeigt, damit du in Zukunft weißt, wo du mein Herz finden und mit den Pfeilen deiner Liebe verwunden könntest.‘“28 In der Frömmigkeit ist die Herz-Jesu-Verehrung, wie bereits Karl Richstätter bemerkte, „so alt wie das Christentum“29 und findet in der „Blüte der Mystikerzeit“30 von etwa der Mitte des 13. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts ihren besonders intensiven Ausdruck. Zu den prominentesten Vertretern gehören etwa Joseph von Steinfeld († 1241) oder Lu(i)tgard von Tongern († 1241).31 Ikonografisch bringt die Verehrung des Herzens Jesu spätestens im 15. Jahrhundert Bildzeugnisse mit dem verwundeten Herzen Jesu häufig gemeinsam mit den Arma Christi, hervor, die im Zusammenhang mit der Verehrung der heiligen Lanze und der Wundmale Christi in Passionsdarstellungen stehen.32 Ein frühes Beispiel der Lanzierung des Herzens Christi findet sich im Kontext einer Weltgerichtsdarstellung in der Pfarrkirche St. Johann in Mellaun, Südti27 Unter anderem: Richard STACHNIK (Hg.): Die Akten des Kanonisationsprozesses Dorotheas von Montau von 1394 bis 1521, Köln–Weimar–Wien 1978 (ohne Seitenzahl). 28 Karl RICHSTÄTTER: Die Herz-Jesu-Verehrung des deutschen Mittelalters. 2. umgearb. u. verm. Auflage München u. a. 1924, 201 mit Verweis auf die Acta Sanctorum. Eine dahingehende systematische Untersuchung der Viten steht noch aus. 29 Ebd., 24. 30 Ebd., 50. 31 Hans J. LIMBURG: Herz Jesu (HJ.), Herz-Jesu-Verehrung (HJV.), I. Geschichte, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, hg. v. Walter KASPER, Freiburg i. Br. 32009, 51–53, hier 51 f. 32 Dieter HARMENING: Herz Jesu (HJ.), Herz-Jesu-Verehrung (HJV.), IV. Ikonographie, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, hg. v. Walter KASPER, Freiburg i. Br. 32009, 54 f., hier 54 f.

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rol:33 unterhalb des in der Mandorla thronenden Weltenrichters hängt das durchbohrte Herz Christi am Längsbalken des Kreuzes, das die Seligen von den Verdammten trennt. Eine ikonografische Verbindung zum Zentrum mittelalterlicher Frauenmystik, dem Zisterzienserinnenkloster Helfta, von wo aus im 13. und 14. Jahrhundert die Herz-Jesu-Verehrung weite Verbreitung fand – die Schwestern Mechtild von Magdeburg, ihre Schülerin Gertrud von Helfta und Mechtild von Hackeborn trugen maßgeblich dazu bei34 – konnte bisher nicht belegt werden. Ob das Tafelbild in der Kirche St. Johannes in Thorn (Toruń),35 auf dem Dorothea in Gesellschaft von Rosalia und Jutta von Sangerhausen erscheint, als einer der von Cordelia Heß formulierten erfolglosen Versuche zur Wiederbelebung ihres Kults zur Abb. 5: Dorothea von Montau. Tragebild aus dem 18. Jahrhundert, heute Altarbild des Seitenaltars in der Kirche St. Peter und Paul in Großmontau. Foto: Marco Bogade.

33 RICHSTÄTTER (wie Anm. 28), 244. 34 LIMBURG (wie Anm. 31); RICHSTÄTTER (wie Anm. 28), 75–94. 35 Michał WOŹNIAK: Ołtarze w przestrzeni liturgicznej kościoła świętojańskiego w Toruniu [Altäre im liturgischen Raum der St.-Johanneskirche in Thorn], in: Dzieje i skarby kościoła świętojańskiego w Toruniu. Materiały z konferencji przygotowanej przez Toruński Oddział Stowarzyszenia Historyków Sztuki w X rocznicę ustanowienia diecezji toruńskiej; pod patronatem Biskupa Toruńskiego oraz Prezydenta Miasta Torunia (22–23 marca 2002), hg. v. Katarzyna KLUCZWAJD, Michał WOŹNIAK, Toruń 2002, 287–288; Jerzy DOMASŁOWSKI: Wyposażenie wnętrza [Innenausstattung], in: Bazylika katedralna świętych Janów w Toruniu, hg. v. Marian BISKUP, Toruń 2003, 197–198.



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Zeit der Gegenreformation gerechnet werden muss, ist fraglich36 – wird doch damit innerhalb der Dorotheenikonografie immerhin das Motiv der Lanzierung des Herzens tradiert. Alle drei Heiligen sind am unteren Bildrand namentlich genannt und mit einem Nimbus ausgezeichnet. Dorothea selbst hält in ihrer linken Hand den bereits bekannten Rosenkranz. Mit ihrer rechten Hand weist sie auf ihr brennendes, von zwei Pfeilen durchbohrtes Herz. Auf dem Tragebild aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, das heute als Altarbild des Seitenaltars in der Kirche St. Peter und Paul in Großmontau fungiert, tritt Dorothea, wie bereits in Thorn, in Ordenstracht auf. (Abb. 5) Sie kniet mit vor der Brust gefalteten Händen auf dem Boden: die mittelalterliche Kirche von Großmontau ist im Bildhintergrund erkennbar. Christus in Halbfigur schwebt in einer Wolkenformation mit Engelsköpfen vor ihr und reicht ihr die Hostie, während er mit seiner linken Hand die Patene hält. Auch in Großmontau selbst wird Dorothea mit einem flammenden Herz attribuiert, in dem wiederum fünf Pfeile stecken. Die Reichweite der heutigen Verehrung der heiligen Dorothea ist schwer greifbar. In der reich bebilderten, „populärwissenschaftlichen“ polnischen Ausgabe der Publikation „I Santi nella Storia“, „Święci na każdy dzień“ (Heilige für jeden Tag) von 2011,37 findet sich zum 25. Juni der Eintrag zur Heiligen Dorothea neben Prosper Aquitanus, dem hl. Maximus von Turin und dem hl. Wilhelm von Vercelli lediglich als Randnotiz, die im Wesentlichen wieder auf Dorotheas Geburtsort Großmontau und den Ort ihrer Klause Marienwerder verweist. Aus der besagten Region stammen auch die beiden Bildzeugnisse, die in diesen Orten als Andachtsbildchen kursieren. Das „aktuelle“ Altarbild in der Klause von Marienwerder ist eine Reproduktion bzw. Kopie eines Gemäldes von Richard Pfeiffer von 1956, das sich mindestens bis in die 1970er-Jahre in Berlin befand.38 (Abb. 6) Es setzt vor allem die „Entrückung“ Dorotheas mit geschlossenen Augen in Szene, die in der Klause selbst verortet ist. Der Rosenkranz bzw. die Gebetskette ist dabei um ihren rechten Arm gelegt; ein Kruzifix liegt auf ihrem Schoß. Das Gemälde bzw. die Reproduktion wurde wiederum als Vorbild für ein mit „Błagosławiona Dorota (Gesegnete Dorothea)“ bezeichnetes Andachtsbildchen verwendet, das auf der Rückseite die wichtigsten Lebensdaten (in polnischer Sprache) trägt.39 (Abb. 7) 36 HESS (wie Anm. 23), 269. 37 Joanna PISIEWICZ (Red.): Święci na każdy dzień [Heilige für jeden Tag], Kielce 2011, 450. 38 Der Dorotheenbote 13 (1960), Beilage mit Illustration (ohne Seitenzahl) zwischen 8 und 9. 39 Błogosławiona Dorota. Urodziła się 25 stycznia 1347 r. jako sіódme z dziewięciorga dzieci Wilhelma Swartze i Agaty. Podczas cіężkiego poparzenia w wieku 6 lat usłyszała wewnętrzny głos: „Uczynię z Ciebie nowego człowieka“. W tym zdaniu streszcza się cały sens jej życia. Mając 17 lat wychodzi za mąż za starszego od siebie o 20 lat Alberta. Mają dziewięcioro dzieci. Dzieci z wyjątkiem najmłodszej Gertrudy umierają w czasie zarazy. Dorota z całą konsekwencją realizuje swoje powołanie do świętości. Po śmierci męża Bł. Dorota zostaje na własną prośbę zamknіęta w celi przy katedrze w

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Marco Bogade Abb. 6: Dorothea von Montau. Gemälde von Richard Pfeiffer von 1956. Heute verschollen. Foto: Der Dorotheenbote 13 (1959), Beilage ohne Seitenzahl.

Dorothea, die auf dem Gemälde von 1956 unnimbiert ist und auf dem Andachtsbildchen einen schmalen Heiligenschein trägt, hat ihre Hände leicht erhoben; von oben scheint ein diffuses Licht auf sie herab. Die „Entrückung“ mit geschlossenen Augen ist auch das zentrale Motiv einer Postkarte, die aktuell in Marienwerder (Kwidzyn) erworben werden kann.40 Die als Kwidzynie. Umiera w opinii śwіętoścі 25 czerwca 1394 r. Błogosławiona Doroto, powierzamy Ci Kościół i troskę o świętość naszych rodzin. Amen [Gesegnete Dorothea. Geboren am 25. Januar 1347 als siebtes Kind von zehn des Wilhelm Swartze und der Agathe. Als sie im Alter von sechs Jahren verbrüht wurde, hörte sie eine innere Stimme sagen ‚Werde ein neuer Mensch‘. (…) Im Alter von 17 wurde sie mit Albert verheiratet, der 20 Jahre älter war als sie. Sie hatte neun Kinder, die alle bis auf ihre jüngste Tochter Gertrud gestorben sind. (…) Nach dem Tod ihres Gemahls blieb die Gesegnete Dorothea auf eigenes Verlangen in der Zelle im Dom von Marienwerder. Sie starb am 25. Juni 1394 während des Kanonisationsprozesses (…).) [Übersetzung durch den Verfasser]. 40 Die Postkarte mit der Inschrift „Bł. Dorota z Mątów Wielkich“ (Gesegnete Dorothea von Montau) auf der Vorderseite enthält ein polnischsprachiges Gebet auf der Rückseite, das Dorothea als „patronko kobiet i małżeństw“ (Patronin der Frauen und der Ehe) anruft.



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Abb. 7: Andachtsbildchen mit Dorothea von Montau. 2010 in Großmontau (Kwidzyn) im Umlauf. Foto: Marco Bogade.

„Bł. [Błagosławiona] Dorota z Mątow Wielkich“ bezeichnete Heilige steht in einer Ecke ihrer Klause; ihr Kopf ist leicht erhoben und wird von dem Licht beschienen, das von der Monstranz und der Hostie in der Nische rechts neben ihr ausgeht. Ihre rechte Hand, die einen Rosenkranz hält, ist dabei vor die Brust genommen. (Abb.8) Die Frage, ob die Postkarte eine Kopie des Bildes darstellt, das aktuell in der Dorotheenkirche in Danzig-Nenkau (Gdańsk-Jasień) verwahrt wird, muss an dieser Stelle offenbleiben. Das Adalbertuswerk e.V. jedenfalls, ein Verein katholischer Ver-

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Marco Bogade Abb. 8: Andachtsbild/Postkarte mit Dorothea von Montau. 2010 in Großmontau (Kwidzyn) im Umlauf. Foto: Marco Bogade.

triebener, der sich in der Nachkriegszeit gegründet hat, unterstützte die Errichtung der Kirche in Danzig-Nenkau – nach eigenen Angaben – als ein „Zeichen der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen“. Die dortige katholische Gemeinde wurde 1979 gegründet; die Grundsteinlegung der Kirche erfolgte 1988. Im Jahre 2007 wurde die Kirche geweiht.41 Beide Andachtsbilder greifen vor allem mit ihrer Verortung Dorotheas in der Klause von Marienwerder und dem Bildmotiv der leuchtenden Monstranz auf eine ikonografische Tradition zurück, die in einem Ölgemälde von 1931 von Gertrud Pfeiffer-Kohrt festgemacht werden kann, das sich in der Hauskapelle des Bischofs 41 Georg DROST u. a.: Zeichen der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen. Die Kirche St. Dorothea von Montau in Danzig-Nenkau (Gdańsk-Jasien), in: Adalbertusforum 40 (2008), 42–43; Ernst BORCHERT: Mutter Dorothea – unsere Heilige, in: Heimatbrief der Danziger Katholiken (wie Anm. 4), 4.



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Abb. 9: Dorothea von Montau. Ölgemälde in der Hauskapelle des Bischofs Maximilian Kaller im ermländischen Frauenburg (Frombork) von Gertrud Pfeiffer-Kohrt aus dem Jahre 1931. Heute verschollen. Foto: Der Dorotheenbote, Beilage ohne Jahresangabe und Seitenzahlen.

von Ermland, Maximilian Kaller, in Frauenburg (Frombork) befand und heute als verschollen gilt.42 (Abb. 9) Im Dorotheenboten wird das Bild untertitelt mit „Die selige Dorothea in ihrer Klause. Mittelstück eines dreiteiligen Wandaltarbildes (Ölgemälde) in der Hauskapelle des Bischofs von Ermland Maximilian Kaller in Frauenburg. Künstlerin: Gertrud Pfeiffer-Kohrt (1931).“ Kaller ist zwar einer der sehr gut untersuchten Akteure der „Wandernden Kirche“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; 43 ob Dorothea von Montau in seiner Frömmigkeitspraxis auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Rolle spielte, bleibt offen. 42 Beilage mit Illustrationen (ohne Seitenzahlen, ohne Jahr), in: Der Dorotheenbote. 43 Dazu v. a. Erwin GATZ (Hg.): Die Bischöfe der deutschsprachigen Länder 1945–2001. Ein biografisches Lexikon, Berlin 2002, 185–188; Hans-Jürgen KARP: Zum Stand der historischen Forschung über Maximilian Kaller (1880–1947), in: Vertriebene finden Heimat in der Kirche. Integrationsprozesse im geteilten Deutschland nach 1945, hg. v. Rainer BENDEL, Köln–Weimar–Wien 2008, 107–117; Thomas FLAMMER/Hans-Jürgen KARP: Maximilian Kaller. Flucht und Vertreibung – Integration – Brückenbau, Münster 2012 (= Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands, Beiheft 20).

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Das oben beschriebene Bildmotiv wurde 1954 von Margarethe Thamm-Willenbrink in einem Gemälde aufgegriffen, das die Heilige in devotionaler Haltung in ihrer Zelle zeigt. Sie meditiert mit einem Kreuz in den gefalteten Händen; ein Lichtstrahl beleuchtet ihr Haupt.44 Und diese Darstellung hat wesentlich das „aktuelle“ Altarbild in Dorotheas Zelle in Marienwerder beeinflusst, das als Hauptmotiv die unnimbierte kniende Heilige mit zum Gebet gefalteten Händen zeigt. Ihr Kopf ist dabei leicht erhoben und auf den Lichtstrahl gerichtet, der von oben in das Bild fällt. Anstelle des Kreuzes, wie im Gemälde aus dem 1950er-Jahren, befinden sich in Marienwerder Pfeile und ein Rosenkranz in ihren Händen. Die im Jahre 1347 im heute polnischen Großmontau geborene und 1394 im Dom von Marienwerder verstorbene Dorothea von Montau wird in der Ausgabe des Lexikons für Theologie und Kirche von 1931 regional auf eine „selige Patronin von Preußen“ beschränkt;45 entsprechend ist sie in der Bibliotheca sanctorum von 1964 als „patrona della Prussia“46 und in der Hagiografia Polska von 1971 als „patronka prus“, als Patronin von Preußen, verzeichnet.47 Mit der dritten Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche von 2009 erreicht die Heilige einen im wahrsten Sinne des Wortes „katholischen“, geografisch und sozial nicht „limitierten“ Wirkungskreis, indem sie dort ganz einfach als Mystikerin und Klausnerin beschrieben wird, die ihre Gotteserfahrung in Visionen, Ekstasen, Auditionen und Erscheinungen erlebt hätte.48 Von kunsthistorischer Seite ist der Fall Dorothea von Montau insofern interessant und gleichzeitig problematisch, da die Kultentwicklung in den rund 600 Jahren ihrer Wirkungsgeschichte als Selige und Heilige regional begrenzt blieb und sich aufgrund der nur wenig erhaltenen Bildzeugnisse schwer eine ikonografische Tradition ableiten lässt. Ob dies der Überlieferungssituation zu schulden ist oder dem sehr unsteten Kanonisationsprozess, einhergehend mit einer unsteten Bildproduktion, muss an dieser Stelle offen bleiben. Überwiegt im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit das Motiv der Herzenserneuerung bzw. der Lanzierung, so tritt im 20. Jahrhundert Dorotheas Entrückung und Gotteserfahrung in der Klause in den Mittelpunkt der Darstellungen. Die Bildzeugnisse konzentrierten sich dabei auf den Wirkungskreis des 44 Beilage mit Illustrationen (ohne Seitenzahlen, ohne Jahr), in: Der Dorotheenbote. Das Bild ist bezeichnet als „Die selige Dorothea in ihrer Klause. Ölgemälde von Margarethe Thamm-Willenbrink (1954)“. 45 L. FISCHER: Dorothea v. Montau, in: Lexikon für Theologie und Kirche, hg. v. Michael BUCHBERGER, Bd. 3, Freiburg i. Br. 1931, 425. 46 Antonio ROMEO: Dorotea di Montau, in: Bibliotheca sanctorum, Bd. 3, hg. v. Istituto Giovanni XXIII della Pontificia Università Lateranense, Rom 1964, 816–820. 47 Romuald GUSTAW (Red.): Hagiografia polska. Słownik bio-bibliograficzn [Hagiografia polska. Biografisch-bibliografisches Wörterbuch], Bd. 1, Poznań 1971, 311–321. 48 Gabriele LAUTENSCHLÄGER: Dorothea v. Montau, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 3, hg. v. Walter KASPER, Freiburg i. Br. 32009, 347.



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Deutschen Ordens. Aktuell konzentrieren sie sich auf Marienwerder, den Ort ihrer Klause, und Großmontau, den Ort ihrer Geburt. Der Transfer des Dorotheenkults in das Ruhrgebiet, der nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem von den aus den Bistümern Ermland und Danzig vertriebenen Katholiken propagiert wurde und in dessen Folge in den 1950er- und 1960er-Jahren zahlreiche, vor allem volkstümliche Bildzeugnisse entstanden, war aus kunsthistorischer Sicht zeitlich beschränkt und über die Bestätigung des Kults durch den Heiligen Stuhl hinaus wenig nachhaltig. Es bleibt abzuwarten, ob sich der Dorotheenkult zukünftig über die polnische Woiwodschaft Pommern (Województwo pomorskie) hinaus „katholisch“ gestalten wird.

Chris Gerbing OTTO HERBERT HAJEK: RAUM – FARBE – FORM Arbeiten für die katholische Kirche Den Bereich, in dem Otto Herbert Hajek (geb. 1927 in Kaltenbach/Nové Hutě, Böhmen; gest. 2005 in Stuttgart) insbesondere in seiner Frühzeit als Bildhauer tätig war, deckten vor 1945 zumeist die für die Kirche tätigen Architekten und Kunsthandwerker ab; erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs und durchaus von heftigen Diskussionen flankiert, zog die zeitgenössische Kunst in die Kirchen ein. In diesem Kontext sind Hajeks Arbeiten für die Kirche zu betrachten, wobei er mit wenigen Ausnahmen fast ausschließlich für die katholische Kirche tätig war, der er auch selbst angehörte.1 Diese mehr oder weniger umfangreichen Arbeiten Hajeks für kirchliche Auftraggeber entstanden überwiegend in den 1950er- bis 1970er-Jahren und können damit als Auftakt zu seinen Kunstwerken im öffentlichen Raum gewertet werden. Einige wenige kirchliche Aufträge realisierte er aber auch noch nach dieser intensiven Anfangsperiode bis Ende der 1990er-Jahre (bzw. war entwerferisch tätig, ohne dass der Auftrag zur Umsetzung kam), so dass auch die Lesart als Klammer seines Werks möglich ist. Dennoch muss hervorgehoben werden, dass es sich mit vorliegender Beschränkung auf ausgewählte Arbeiten, die für die katholische Kirche entstanden, nur um einen kleinen Teil seines Gesamtwerks handelt. Hajek wurde deutschlandweit rund 40 Mal von Kirchengemeinden beauftragt, an Sakralbauten mitzuwirken, den Altarbereich ganz oder teilweise auszugestalten, das liturgische Gerät zu fertigen und hat darüber hinaus eine recht erkleckliche Anzahl an Kleinplastiken, Gemälden und Grafiken mit christlichem Inhalt geschaffen. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass Norbert Schneider noch 2012 im Vorwort zu Band 14 des Jahrbuchs der Guernica-Gesellschaft unter völliger Verkennung der Leistung Hajeks für die Kirche der Nachkriegszeit in Deutschland erklären konnte: „Seit etwa zwei, drei Jahrzehnten ist bei beiden großen Kirchen eine Tendenz zu beobachten, die nicht mehr nur auf die sog. ,kleinen‘ Künstler zurückgreifen, sondern sogar auch Repräsentanten der Höhenkamm-Kunst wenn schon nicht zu engagieren, so sie doch imagesteigernd in ihre Sphäre hereinzuholen.“2 Im gesamten Band, der 1 Hajek war nur wenige Male im protestantischen Sakralraum tätig, nämlich für die Evangelische Stadtkirche in Karlsruhe (1958), bei den beiden zusammen mit Carlfried Mutschler in Mannheim realisierten Kirchen (Pfingstbergkirche, 1962–63, und Lukas-Kirche, 1965–67) und im niedersächsischen Seckenhausen (Martin-Luther-Kirche, 1966–68). 2 Norbert SCHNEIDER: Vorwort, in: Kirche und Kunst. Kunstpolitik und Kunstförderung der Kirchen nach 1945, hg. v. Regine HESS, Martin PAPENBROCK und Norbert SCHNEIDER, Göttingen 2012 (Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 14), 7–10, hier 9. Auch in seinem Beitrag „Modernisierungen in Kirchenkunstkonzeptionen seit den 1970er Jahren“, in



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sich ausweislich seines Titels mit Kirche und Kunst. Kunstpolitik und Kunstförderung der Kirchen nach 1945 beschäftigt, wird Otto Herbert Hajek mit keinem Wort erwähnt; es fällt keine Andeutung zu seinem kirchlichen Schaffen oder seiner frühen Zusammenarbeit mit Architekten wie beispielsweise Hans Herkommer in Stuttgart, die definitiv nicht eine Imagesteigerung, sondern das Einbringen zeitgenössischer Kunst durch einen (damals durchaus bereits prominenten) Künstler zum Ziel hatte, der die Inhalte seiner Kunstwerke lebte. Aber das konsequente Ignorieren der singulären Position Hajeks ist schon 1980 angelegt in dem Buch Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, das ebenfalls und obwohl es sowohl auf Kunst und Öffentlichkeit, als auch auf abstrakte Kunst im Allgemeinen und auf abstrakte Malerei im Besonderen eingeht, auf eine Erwähnung Hajeks auf den insgesamt rund 220 Textseiten verzichtet.3 Michael Kessler und Heribert Hummel haben daher mit der von ihnen herausgegebenen Publikation Otto Herbert Hajek. Arbeiten in und für Kirchen4 und der darin enthaltenen chronologischen Abfolge dieses Werkkomplexes einen wichtigen Beitrag zur Forschung geleistet, der in vorliegendem Beitrag aufgeweitet und aus einem neuen Blickwinkel beleuchtet werden soll – denn die Entwicklung, die Hajek mit seinen Arbeiten für Kirchen vollzieht, lässt sich auf seine Arbeiten im öffentlichen Raum übertragen. Sie ist diesbezüglich eine vorgelagerte Entwicklung, die die Bedeutung seiner Tätigkeit für die katholische Kirche innerhalb seines Œuvres deutlich macht und ihm selbst eine herausragende Position unter den theologisch relevanten Künstlern der jüngeren Kunstgeschichte zuweist.

dem er auf die Entwicklungen im 19. Jahrhundert und in der Nachkriegszeit auf die Zeit vor dem Zweiten Vatikanum ausgreift, erwähnt Schneider den Beitrag Hajeks nicht. Ebenda, 11–25. 3 Wieland SCHMIED (Hg.): Zeichen des Glaubens – Geist der Avantgarde. Religiöse Tendenzen in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1980, besonders 90–92 (Janos FRECOT: Kunst und Öffentlichkeit – ein Konflikt), 127–131 (Hermann KERN: Mystik und Abstrakte Kunst) sowie 132–136 (Robert ROSENBLUM: Das Sublime in der Abstrakten Malerei). 4 Heribert HUMMEL/Michael KESSLER (Hg.): Otto Herbert Hajek. Arbeiten in und für Kirchen. Dokumentation und Ausstellungskatalog zum 70. Geburtstag des Künstlers, Ostfildern 1997 (Veröffentlichungen des Diözesanmuseums Rottenburg 3). Max Seckler verweist zu Recht darauf, dass es bislang keine umfassende kunstwissenschaftliche Analyse der Arbeiten Hajeks für die Kirche gibt; ausgehend vom Werkverzeichnis von Anuschka Koos im Katalog der Hajek-Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn im Jahr 2000 (KUNST- UND AUSSTELLUNGSHALLE BONN (Hg.): O. H. Hajek. Eine Welt der Zeichen, Köln 2000) könnten sowohl Hajeks künstlerische Leistung im Bereich der Sakralkunst als auch sein „sachlicher Beitrag zur objektiven Frömmigkeitsgeschichte“ erörtert werden. Die Publikation von HUMMEL/KESSLER wertet Seckler diesbezüglich als einen „erste[n], hilfreiche[n] Schritt“ in diese Richtung. Max SECKLER: Als Theologe vor der Kunst Hajeks, in: Otto Herbert Hajek zum 70. Geburtstag, hg. v. Gebhard FÜRST, Michael KESSLER und Wolfgang URBAN, Stuttgart 1998 (Kleine Hohenheimer Reihe 32), 20–36, hier 30.

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Chris Gerbing Abb. 1: Hirsau, St. Aurelius (1953–56), Altarwandrelief, Altar, Tabernakel, Kruzifix, Leuchter, Apostelkreuze und Reliquienschrein. Auftraggeber: Stadtpfarrer Rudolf Wagner und Kirchengemeinde St. Aurelius, Hirsau. Foto: saai | Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau, Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Werkarchiv Otto Herbert Hajek.

Abb. 2: Berlin, St. Maria Regina Martyrum (1960–63), Kreuzweg. Auftraggeber: Julius Kardinal Döpfner, Diözese Berlin; Architekten: Hans Schädel/Friedrich Ebert. Foto: Chris Gerbing, 2005.



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Gleichzeitig soll Hajeks Entwicklung aus der verhaltenen Gegenständlichkeit über das Informel hin zu seinen konstruktiv-konkreten Raumartikulationen thematisiert werden, die einher geht mit einer Reduktion auf geometrische Grundformen und auf wenige Signalfarben. Diese Arbeiten, in denen er sich immer wieder mit der Raumproblematik sowohl des Kunstwerks selbst als auch mit dessen Umraum auseinandergesetzt hat, führen in einer logischen Abfolge in den urbanen Außenraum. Diese Abfolge wird in vorliegendem Beitrag an drei für sein weiteres Wirken wichtigen Stationen festgemacht: an St. Aurelius in Hirsau (1953–56, Abb. 1), der Arbeit für die Gedächtniskirche Maria Regina Martyrum in Berlin-Plötzensee (1960–63, Abb. 2) und für St. Michael in Trier-Mariahof (1969–81, Taf. 3). Abschließend wird ausblickhaft auf St. Johannes in Nürtingen (1956/1988–90, Taf. 4 und 5) als wichtige Arbeit für Hajek und auf sein letztes, nicht realisiertes Projekt für St. Eberhard in Stuttgart (Taf. 6 und 7) verwiesen.5 Hajek verstand sich generell bei seinen Arbeiten für Diözesen und Kirchengemeinden nicht als speziell auf Kirchen als Auftraggeber ausgerichteter Künstler, denn für ihn gab es „keinen Bruch zwischen der religiösen und so genannten profanen Dimension.“ Deshalb ist für ihn der Kirchenraum ebenfalls „Lebensraum des Menschen, wie der Platz, wie die Stadt es sind.“6 Die Rolle, die der Kunst Hajeks Ansicht nach dabei zukommt, ist dieselbe, wie er sie auch für den urbanen Raum festschreibt: sie ist „Bejahung und Verkündigung, sie ist bildhaftes in Zeichen umgesetztes Reflektieren über die Existenz des Menschen.“7 Insofern gilt sowohl für seine Kunstwerke, die für Kirchen entstanden, als auch für seine Arbeiten im Rahmen der Profanarchitektur, dass er dem Gedanken des Gesamtkunstwerks verpflichtet ist, das eine Durchmodellierung und künstlerische Akzentuierung auf allen möglichen und denkbaren Ebenen vorsieht – eine Tatsache, die insbesondere in seinen späteren Auftragsarbeiten für die Kirche (und dann in großem Maßstab auch im öffentlichen Raum) ablesbar ist.

5 KUNST- UND AUSSTELLUNGSHALLE BONN (wie Anm. 4), 256 ff. Die für diesen Aufsatz ausgewählten Arbeiten im kirchlichen Kontext sind dort als A 7 (Hirsau, 256), A 38 (Berlin, 259), A 58 (Trier, 261) und A 107 (Nürtingen, 267) aufgeführt. St. Eberhard ist dort nicht gelistet, weil das Werkverzeichnis nur bis zum Jahr 2000 in publizierter Form vorliegt. 6 Beide Zitate Hajeks aus: Otto Herbert HAJEK: Häuser für Gott und Mensch – zur Architektur der Neuen Stadt. Forum Deutscher Katholikentag, Karlsruhe, 16. Juni 1992, zitiert nach: Eugen GOMRINGER: Kunst stiftet Gemeinschaft. O. H. Hajek. Das Werk und seine Wirkung, Stuttgart–Berlin–Köln 1993, 166–168, hier 166. Johanna Stulle, Hajeks langjährige Atelierleiterin, betonte, dass Hajek ein zutiefst religiöser Mensch gewesen sei, ohne dass sich dies explizit auf sein künstlerisches Arbeiten niedergeschlagen hätte (Johanna Stulle im Gespräch mit Chris Gerbing am 22. Januar 2008 in Stuttgart). 7 O. H. HAJEK: Häuser für Gott und Mensch – zur Architektur der Neuen Stadt. Forum Deutscher Katholikentag, Karlsruhe, 16. Juni 1992, zitiert nach: GOMRINGER (wie Anm. 6), 166.

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1. Annäherung an das Arbeiten im Raum der Architektur. St. Aurelius, Hirsau (1953–56) Michael Kessler wertet die Arbeiten für St. Aurelius in Hirsau „als Hajeks kirchliches Hauptwerk der Frühzeit an historischem Ort“. Gleichzeitig betont er, Hajeks Einschätzung zufolge „wäre das ganze Unternehmen ohne [des dortigen Pfarrers] (…) Wagemut gescheitert“8, denn es hätte zahlreiche skeptische Stimmen, sowohl kirchlicherseits als auch seitens des Landesdenkmalamts, des Hochbauamts Calw und des Bischöflichen Ordinariats in Rottenburg gegeben. Eigentlich waren alle mittel- oder unmittelbar Verantwortlichen skeptisch, bis auf den Gemeindepfarrer Rudolf Wagner (1904–1962),9 der für die Beauftragung an den noch jungen, aber bereits in Kirchenkreisen bekannten Künstler verantwortlich zeichnete. Hajek hatte sich mit seiner Teilnahme an der Ausstellung des Rottenburger Diözesankunstvereins, die im Stuttgarter Landesgewerbeamt präsentiert wurde, bereits 1952 (also als erst 25-Jähriger) einen Namen gemacht10 und erhielt noch im selben Jahr mit der Ausführung der Ausstattung der von Hans Herkommer errichteten Kirche St. Michael in Stuttgart-Sillenbuch (1952/53) seinen ersten Großauftrag. Der Hirsauer Pfarrer wusste also, auf welche Formensprache er sich einließ, als er Hajek damit beauftragte, in St. Aurelius nicht nur die Altarwand für diese erst 1955 neu geweihte, in ihren Ursprüngen auf das Jahr 830 (und in ihrer heutigen Form auf die zweite Bauphase 1059–1071) zurückgehende Kirche zu gestalten, sondern auch die liturgische Ausstattung mit Altar, Tabernakel und Leuchtern auszuführen.

1.1 Die Ausstattung von St. Aurelius als Annäherung an die Abstraktion Für das versenkte Relief der Altarwand, die anlässlich des Vorhabens, das Kirchenfragment wieder für Gottesdienste und Messen in Dienst zu nehmen, hochgezogen worden war, und für den Altarblock selbst sowie die Gestaltung des Tabernakels wählte Hajek eine reduzierte bzw. abstrahierte Figürlichkeit. Die Altarwand thematisiert in zwei aufeinander bezüglichen Figurengruppen die Aussendung. Es handelt sich einmal um die Aussendung der zahlreichen Hirsauer Benediktinermönche, die von hier aus im frühen Mittelalter die cluniazensische Reform in Deutschland verbreiteten. Und zum anderen thematisiert die Christusfigur rechts oben den Missionsgedanken des Christentums allgemein. Der Altar nimmt sich demgegenüber in seiner Block8 Heribert HUMMEL: Otto Herbert Hajek. Arbeiten in und für Kirchen, in: HUMMEL/KESSLER (wie Anm. 4), 8–58, hier 47. 9 Nach HUMMEL: Hajek (wie Anm. 4), 38. 10 Stuttgarter Zeitung vom 26.7.1952, abgedruckt in: Erich ENDRICH (Hg.): Heilige Kunst. Festgabe des Kunstvereins der Diözese Rottenburg zur Hundertjahrfeier. 1852–1952, Stuttgart [1952], 78 f. „(…) sehr stark im Ausdruck ist ein Christus von Otto-Herbert Hajek, (…).“



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haftigkeit mit dem umlaufenden Weintraubenmotiv, das auf die Eucharistiefeier und damit auf die Verbundenheit zwischen Jesus und den Gläubigen verweist, zurück. Der Tabernakel mit umlaufendem Ährenmotiv, Brot und Wein war ursprünglich mittig auf dem Altar platziert. Das ihn bekrönende Kruzifix zeigt den für die Romanik typischen sieghaften Christus, der das Leid überwunden hat und als vom Tod Auferweckter lebt. Nachdem das Zweite Vatikanische Konzil (1962–65) die Predigt versus populum einführte, wurde der Tabernakel an die Seite und auf einen Unterbau versetzt. Die stark zurückgenommene Figürlichkeit von Altarkreuz und Tabernakel weist bereits auf eine weitere Abstrahierung hin, die Hajek mit den informellen Raumknoten vornimmt, die er mit dem Osterleuchter in St. Aurelius vorwegnimmt. Die Ausstattung der Hirsauer Kirche ist damit ein sehr frühes Beispiel dafür, dass Hajek zwar anfänglich einer verhaltenen Gegenständlichkeit verpflichtet war und sich zunächst an Vorbildern wie Henry Moore orientierte, diese aber schon früh hinter sich ließ. An ihre Stelle trat, wie im Hirsauer Osterleuchter zu sehen, der noch vor Hajeks informellen Phase in den späten 1950er-Jahren entstand, die Auseinandersetzung mit dem Raum, den die Plastik einnimmt und der sie umgibt, wenngleich es sich hier um einen sehr spezifischen, nämlich den Sakralraum handelt, den Hajek in diesem als Plastik verstandenen Teil der liturgischen Ausstattung thematisiert. Der Reiz seiner kleinformatigen, zierlichen, filigranen Bronzeobjekte – die Hajek als Raumknoten bezeichnet und auf die die bereits dem Informel entwachsenen Raumschichtungen folgen – liegt in ihrer Durchlässigkeit. Sie können umrundet werden, ermöglichen dem Betrachter allseitig unterschiedliche Ein-, Auf- und Durchblicke und zwingen ihn durch die Betrachtung des Kunstwerks dazu, sich mit sich selbst und der eigenen Position im Raum in Bezug auf die Plastik auseinanderzusetzen.11 Damit ist bereits eines jener Themen benannt, das Hajek dann auch im öffentlichen Raum weiterverfolgt – und das er, wie der Osterleuchter nachdrücklich verdeutlicht, schon in der Mitte der 1950er-Jahre mindestens parallel zu seinen Raumknoten, wenn nicht gar etwas vorgelagert im Sakralraum thematisiert.

11 Ein charakteristisches Merkmal informeller Plastik ist neben dem spontanen Entstehungsprozess, dass das Innere einer Plastik ebenso wichtig werden kann wie ihr Äußeres, dass das Körpervolumen von der „geformten Leere“ zurückgedrängt wird und für die Aussage der Plastik letztlich entscheidender wird als ihr reduzierter Körper. Dabei arbeiteten die Bildhauer stets plastisch und nicht skulptural, d. h. die Plastiken werden aus den unterschiedlichsten Materialien aufgebaut, nicht aber aus einem Materialblock herausgearbeitet. Eduard TRIER: Einführung. Skulptur nach 1945, in: documenta II ’59. Kunst nach 1945. Internationale Ausstellung, 3 Bde., hg. v. Arnold BODE, Köln [1959], Bd. 2, 9–14, hier 12.

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1.2 Kontextualisierung. Farbwege für den öffentlichen Raum Als Schlüsselwerk für Hajeks Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Stadtraum ist anerkanntermaßen das Environment Frankfurter Frühling (1962–64, Abb. 3–5) zu bezeichnen, die erste begehbare Großplastik überhaupt.12 Wichtig war Hajek dabei, dass die Unebenheit der Pflasterung die Dimensionen des Frankfurter Frühlings definiert, denn sie wirke, so Hajek, „gleichsam haptisch auf den die Plastik Durch-Gehenden“ ein. Und Hajek weiter: „Dieser Vorgang ist notwendig, weil der Betrachter nicht nur mit den Augen betrachten soll, sondern mit seinem ganzen Körper in der

Abb. 3: Frankfurter Frühling (1963/64). Auftragsarbeit für die Stadt Frankfurt, erstmalige Aufstellung auf der documenta III in Kassel (1964). Beton, Pflastersteine, bemalt. Orangerie Kassel, 1964. Foto: saai, Werkarchiv Otto Herbert Hajek.

12 Nachdem der Frankfurter Frühling auf der documenta III in Kassel 1964 präsentiert worden war, wurde er an dem für ihn vorgesehenen Standort, der Frankfurter Heinrich-Kleyer-Schule aufgestellt. Nach Jahrzehnten mangelnder Pflege wurde er 2014 von der Stadt Frankfurt/Main unter eklatanter Verletzung des Urheberrechts beseitigt.



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Abb. 4 und 5: Frankfurter Frühling (1963/64) an seinem Bestimmungsort, der Heinrich-Kleyer-Schule in Frankfurt/ Main, in bereits desolatem Zustand kurz vor der Beseitigung durch die Stadt. Foto: Chris Gerbing, 2007.

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Plastik sich befinden und bewegen muss. Erst dann nämlich wird er in eine menschlich verfremdete Umwelt gestellt und dadurch in seinem Bewusstsein verändert, zu höchster Aufmerksamkeit und Intensität gezwungen, so dass er immer wieder nur sich selbst begegnet, er wird sich seiner Persönlichkeit bewusst.“ Damit ist der Frankfurter Frühling Hajek zufolge Beleg dafür, dass „kein Unterschied mehr besteht zwischen ,Kunst‘ und ‚Leben‘“.13 Diese Parallelität, die Integration von Kunst im alltäglichen Leben, die bereits in Aufträgen wie dem für St. Aurelius und den folgenden Arbeiten für Kirchen angelegt ist, ist eine der Grundkonstanten, die im Werk Hajeks breiten Raum einnehmen, ebenso wie die Verfremdungsmöglichkeiten, die Kunst im öffentlichen Raum besitzt, aufgrund derer der Passant zum Bestandteil des Kunstwerks wird, insofern er sich darauf einlässt und es mit seinem gesamten Körper auf sich wirken lässt. Ein wichtiges Element in der intendierten Wirkung sind dabei die über die Kunstwerke laufenden Farbbahnen, die Hajek Farbwege nannte und die er seit dem Frankfurter Frühling konsequent als Verbindungselemente zwischen seinen Kunstwerken, als optische Klammer, Wegweiser und störendes Element zugleich einsetzte.

2. Die Idee der begehbaren Plastik. Gedächtniskirche Maria Regina Martyrum in Berlin-Plötzensee (1960–63) Unter dem Aspekt des Raumerlebnisses, wie auch des Diktums der Verbindung von Kunst und Leben, spielt die Arbeit, die Otto Herbert Hajek im Auftrag und auf Betreiben von Julius Kardinal Döpfner in der Gedenkstätte Berlin-Plötzensee anfertigen konnte, eine wichtige Rolle – eine Arbeit, die bereits für seine informelle Phase steht, bei der das Thema des Raumes aber noch innerhalb der Skulptur abgehandelt wird. Und eine Arbeit, die Hajek in der besonderen historischen Situation während des Mauerbaus international bekannt machte. Sie nimmt aber auch eine wichtige Stellung in Bezug auf die Raum sprengende Dimension ein, die Hajeks Kunstwerke im öffentlichen Raum auszeichnen. Aufgrund der auf den ersten Blick abstrakten, ihre Gegenständlichkeit erst sukzessive enthüllenden Darstellung des Kreuzweges geriet bereits diese, eine komplette Wand des klösterlichen Innenhofs auf einer Länge von 72 Metern fassende Gestaltung ins Kreuzfeuer der Kritik und konnte zuletzt nur wegen des massiven Einsatzes des Kardinals für das mehrteilige, in Bronze ausgeführte Kunstwerk realisiert werden.14

13 Schreiben Hajeks an Stadtrat Dr. Karl vom Rath, Amt für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung Frankfurt/Main am 16.4.1964, in: Akte „Frankfurter Frühling“, Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, unpubl. 14 HUMMEL/KESSLER (wie Anm. 4), 25.



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2.1 Das Kunstwerk als „Wetzstein des eigenen Bewusstseins“15 Vergleichbar ist die dort geübte Kritik jener, die auf die Realisierung der Wandbilder am Hörsaalgebäude in Freiburg und im Finanzamt in Villingen folgte, die bis in den Landtag von Baden-Württemberg gelangte und die bewirkte, dass Hajek jahrelang keine öffentlichen Aufträge in Baden-Württemberg bzw. in Stuttgart erhielt.16 Eine Kritik, die Hajek zutiefst in seinem Verständnis als Künstler traf, denn sie zielte auf den Verständniswert und den ästhetischen Wert des Kunstwerks ab. Für Hajek war die ästhetische Komponente aber letztlich nachrangig. Kunst war nämlich für ihn vor allem ein Mittel, gesellschaftliche Situationen abzubilden. Deshalb nannte er seine Arbeiten auch „Unruhungszeichen“,17 deren Aufgabe es sei, „stets Irritation und Hindernis“18 und damit „Wetzstein des eigenen Bewusstseins“ zu sein. Seine Arbeiten – ob im kirchlichen oder im öffentlichen Raum – verstand er entsprechend nicht als künstlerisch-ästhetische Raumgestaltung, sondern als Einladung zum Dialog des Betrachters mit sich selbst, mit dem jeweiligen Gegenüber und natürlich auch mit der Kunst. Entsprechend sollte der monumentale Kreuzweg in Berlin, der Intention Hajeks folgend, Leid thematisieren. Damit greift er den symbolischen Gehalt des Kreuzwegs auf und interpretiert ihn als Möglichkeit, sich als einzelner Mensch in das Leid in seiner Vielgestaltigkeit zu vertiefen. Als Ort des Gedenkens der in Plötzensee von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpfer ist das Mit-Leiden der IhrerGedenkenden nur eine mögliche Richtung, in die sich der Besucher vertiefen kann. In Berlin gedenkt Hajek mit seinem Kreuzweg auch der unter dem totalitären Regime der SED leidenden DDR-Bürger, das vor allem vor dem Hintergrund, dass während er am Kreuzweg arbeitete, der Mauerbau am 13. August 1961 begonnen wurde. Aber der Kreuzweg ist auch generell den Menschen gewidmet, die „in den sozialistischen Ländern wie in vielen Gesellschaften rund um die Erde“19 Leid erfahren – und ist damit einerseits bis heute aktuell, stellt andererseits aber auch einen Verweis auf Hajeks 15 O. H. HAJEK über „Kunst am Bau oder Baukunst?“ Göttingen, 16.6.1974, zitiert nach: Claus PESE (Red.): O. H. Hajek: Die Durchdringung des Lebens mit Kunst, Stuttgart–Zürich 1987, 161–164, hier 162. 16 Villingen, Finanzamt: Räumliche Wand (1958–59) und Freiburg/Brsg., Hörsaalgebäude des Pharmakologischen und Physiologischen Instituts: Wandrelief Magnetisches Raumfeld (1957– 59) (siehe Werkverzeichnis Hajek, in: KUNST- UND AUSSTELLUNGSHALLE BONN (wie Anm. 4), 258, A 33 und 258, A 27). 17 O. H. HAJEK: „Kann nicht die Bundeskunsthalle – Künstlerplatz – heißen?“ (Juni 1979), in: Akte „Deutscher Künstlerbund 1973–1979 / II“, Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, unpubl. 18 Rainer SCHOCH: Fläche und Raum. Zur Rolle der Zeichnung bei O. H. Hajek, in: PESE (wie Anm. 15), 19–25, hier 25. 19 O. H. Hajek im Gespräch mit Monika Bugs, in: Jo ENZWEILER (Hg.): Interview 6. Institut für aktuelle Kunst im Saarland, Saarbrücken 1998, 25.

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eigene Biografie dar: Als Heimatvertriebener aus dem böhmischen Kaltenbach war es ihm zeitlebens ein Anliegen, die Verständigung zwischen Ost und West voranzutreiben. Insbesondere während des Kalten Kriegs war er einer der wichtigen Mittler, vor allem während seiner Amtszeit als Präsident des Deutschen Künstlerbundes.20 Hajeks aus zwölf Stationen bestehende Interpretation des Kreuzwegs ist insofern als Spiegel und Folie für die Erfahrungen des Einzelnen zu lesen, der dann – in dem zu besonderen Anlässen unter freiem Himmel an einem ebenfalls von Hajek gestalteten Altar – durch das Feiern des Abendmahls und in Erinnerung an die Auferstehung Christi, durch das gemeinschaftliche Erlebnis gestärkt zurückkehren kann in sein soziales Umfeld.

2.2 Farbwege und Stadtikonographien Für dieses (durch seine Kunstwerke unterstützte) Erleben von Gemeinschaft fand Hajek den Begriff der „Sozial-Natur“, die sich aus dem Erleben der „Kunst-Natur“21 speise, denn durch die kulturellen Artefakte, durch künstlerische Äußerungen sei der Mensch Hajek zufolge determiniert, durch sie komme er zur „Sozial-Natur“. Die von ihm geprägte Abfolge der drei aufeinander folgenden Naturbegriffe ist insbesondere für seine zunächst den semi-öffentlichen Museums- und Galerienraum und dann zunehmend für den stadtöffentlichen Raum artikulierenden Stadtikonographien von großer Relevanz. Hajek unterschied bei diesen Stadtikonographien nicht zwischen der primär architekturgebundenen und der mehr platzbezogenen Gestaltung, vielmehr entwickelte sich letztere oft aus einer architekturbezogenen Überformung heraus, weshalb sie als Fortsetzung der flächenbetonten künstlerischen Artikulation in der Vertikalen angesehen werden kann. Möglich wurden diese großräumigen, speziell für die Begegnung und die Kommunikation von Menschen angelegten Plätze Hajeks erst durch den Wandel seiner Formensprache. Bereits in den 1960er-Jahren begann er im Zuge der Konzeption seiner Farbwege, seine zunächst noch kleinteiligen und filigranen Kunst20 Ausführlicher zu Hajeks Rolle als Mittler zwischen Ost und West: Chris GERBING: Chancen, Möglichkeiten und Grenzen von Kunst im Unternehmen. Eine interdisziplinäre Studie am Beispiel der ,Kunstumzingelung‘ von Otto Herbert Hajek an der Sparda-Bank in Stuttgart, Tübingen 2010, 72 f. und Gespräch mit Johanna Stulle, in: DIES., 349 ff. sowie die Ausführungen Hajeks zur Begrüßung im Rahmen des Kolloquiums „Brauchen wir eine Bundeskunsthalle?“. Otto Herbert HAJEK: Begrüßung, in: DEUTSCHER KÜNSTLERBUND (Hg.): Projekt Bundeskunsthalle. Kunstreport, Sonderausgabe, Aschaffenburg [1978], 3–5, hier bes. 4. 21 „Mein Naturbegriff von Natur-Natur, Kunst-Natur und Sozial-Natur ist Ausgang für meine Arbeit als Lehrer und ist die Grundlage für meine Arbeit als Bildhauer.“ O. H. Hajek über „Die Kunst kündet von der Natur – sie kündet von der Sehnsucht des Menschen“, Ellwangen (Sommerakademie), 12./26.9.1982, zitiert nach: PESE (wie Anm. 15), 182–184, hier 183.



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werke mit Farbbahnen zu überziehen. Dabei ist die Plastik, wie der im Todesjahr Hajeks 2005 ebenfalls verstorbene ehemalige Direktor des Berliner Hauses am Waldsee, Manfred de la Motte, ausführte, „nicht etwa bemalt, (…) [sondern] stellt sich dem selbständigen Verlauf einer Farbe in den Weg, der nicht unterbrochen wird. Der Farbweg behält Richtung und Bewegung bei, überzieht die Plastik rücksichtslos und wandert unbekümmert weiter. Er hebt nichts an der Skulptur hervor, unterstreicht nicht für räumliche Ordnungen wichtige Punkte und Akzente, sondern stört, unterbricht, halbiert und zerteilt den plastischen Vorgang.“22 Dieser künstlerische Störprozess sollte dann durch den Betrachter bzw. Nutzer der Stadtikonographie in der Auseinandersetzung, im Dialog mit anderen nachvollzogen werden. Die signalhaft verwendete Farbe in Verbindung mit einem konstruktiv-konkreten Formenrepertoire ist, eingesetzt im Raum der Architektur, nicht mehr nur „architekturbezogen (…), sondern, was die moderne Architektur angeht, auch architekturadäquat.“23 Hajeks Arbeiten im Raum der Architektur stellen daher weit mehr als nur Wand- und Bodenbilder dar, sondern Gliederungselemente, die integraler Faktor der so verstandenen Architektur sind, mit der zusammen sie entstanden.

3. Die Sichtbarmachung des Raumes. Trier-Mariahof, St. Michael (1969–81) Dass Hajek von der Bildhauerei zur Malerei, vom Raumknoten und den Raumschichtungen zur Sichtbarmachung des Raumes durch die Verwendung von Farbe kam, wird in den folgenden undatierten Gedanken deutlich: „Es lag mir daran, dass mein Tun als Bildhauer nachvollzogen werden soll, also habe ich mit linearer Farbe den Aufbau einer Plastik nachvollzogen, dass die Farbe wie eine Raumscheibe eine Skulptur durchschnitt.“24 Insofern sind seine Gemälde stets in Zusammenhang mit den Architekturaufgaben zu sehen, denen sich Hajek ab Mitte der 1960er-Jahre vermehrt stellte. Eindrücklichstes Beispiel der Verbindung von künstlerisch gestalteter Architektur mit dafür entstandenen Gemälden ist St. Michael in Trier-Mariahof (1969–81). Bereits die Altarwand mit dem Titel Zeichen am Wege (Taf. 3) nimmt Hajeks Thema der Wegezeichen, der Platzzeichen und Raumartikulationen auf, bezieht sich aber gleichzeitig auf die Leitbilder des Zweiten Vatikanischen Konzils, nach dem die Gemeinde „Volk Gottes um den Altar“ sein sollte. Die Raumform wie auch die künst22 Manfred de la MOTTE: Hajeks Farbwege, in: SENAT DER HANSESTADT LÜBECK, AMT FÜR KULTUR (Hg.): O. H. Hajek. 1952 – 1974. Skulpturen – Farbwege – Entwürfe – Farbe – Architektur – Raum, Stuttgart 1974, 116–121, hier 117 f. 23 Walfried POHL: Tendenzen konstruktiv-konkreter Kunst in der zeitgenössischen Baufarbgestaltung, in: Farbe und Architektur, hg. v. Rainer WICK, Köln 1983 (Kunstforum international 57), 93–105, hier 95. 24 O. H. Hajek über „Farbe im Raum“, zitiert nach PESE (wie Anm. 15), 38–41, hier 38.

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lerische Ausstattung sind den Statuten des Zweiten Vatikanums zufolge – sofern sie eine Ehrfurcht vor dem Sakralen nachvollziehen lassen – den Architekten und den die Kirchen ausstattenden Künstlern selbst überlassen; die Kirche als Institution gibt im Unterschied zu den Jahren vor dem Zweiten Vatikanum keinen Stil mehr vor.25

3.1 Autonomes künstlerisches Schaffen im Sakralraum Hajek folgt mit seinen Arbeiten intuitiv den Ausführungen des Dominikanermönchs und Kunsthistorikers Régamey, der 1954 in seinem Buch Kirche und Kunst im XX.  Jahrhundert ausführte: „Heute ist zweifellos die Schaffung einer für die kultische Feier günstigen ,Atmosphäre‘ wichtiger als die Belehrung, gleichgültig, ob man von den wahren Bedürfnissen der Gemeinde ausgeht oder, wie wir es im Folgenden tun werden, von den Möglichkeiten, die die Künste bieten. Statt also bei den Gläubigen die gewohnheitsmäßige Anhänglichkeit an Überlebtes noch zu unterstützen, täten der Klerus und die Führer des Gottesvolkes besser daran, eine Entwicklung zu beschleunigen, die zu besserem Verständnis und ehrlicherem Fühlen führt.“26 Die „Hauptaufgabe des Kirchenschmuckes“ läge, so Régamey weiter, als „Voraussetzung für reine echte Betrachtung [in der] Schaffung einer entsprechenden Atmosphäre.“27 Hajeks Kirchenausstattung mit den beiden Zyklen Zeichen am Wege (1980) und Himmlisches Jerusalem (1984)28 sind eindrückliche Beispiele dieser neuen Freiheit, die sich für Künstler nach 1965 im Kirchenraum bot. Zudem zeugen sie von der gewandelten Auffassung von Kunst im kirchlichen Kontext. Mit dem Zyklus Himmlisches Jerusalem, im oberen Bereich des Kirchenraums angeordnet, schuf Hajek eine Bildserie, die in direktem Bezug zu jener Kirchenarchitektur steht, für die sie von Anfang an gedacht war: St. Michael wird geprägt durch Kuben, die durch das Einziehen und die Verschränkung der Betonträger entstanden. Sie nehmen in ihren Dimensionen 25 Barbara KAHLE: Deutsche Kirchenbaukunst des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 1990, bes. 84 ff.; Urban RAPP: Konzil, Kunst und Künstler. Zum VII. Kapitel der Liturgiekonstitution, Frankfurt/Main 1965, 63  ff. und für die Diözese Rottenburg-Stuttgart insbesondere Gottlieb MERKLE: Kirchenbau im Wandel. Die Grundlagen des Kirchenbaus im 20. Jahrhundert und seine Entwicklung in der Diözese Rottenburg, Ruit bei Stuttgart 1973 (Festschrift für Bischof Dr. Carl Joseph Leiprecht zum 70. Geburtstag und zum silbernen Bischofsjubiläum 1973), bes. 93 ff. Dem Aspekt der christlichen Kunst bzw. der Hinzuziehung von Künstlern geht Merkle allerdings nicht nach. 26 P. Pie RÉGAMEY: Kirche und Kunst im XX. Jahrhundert, Graz–Wien–Köln 1954, 40 f. 27 RÉGAMEY (wie Anm. 26), 43. 28 KUNST- UND AUSSTELLUNGSHALLE BONN (wie Anm. 4), 231, M 42–M 45. Der Zyklus Himmlisches Jerusalem ist nicht im Werkverzeichnis aufgeführt. Abbildungen finden sich bei Gisela KOLB: St. Michael – Trier-Mariahof. Raum und Zeichen, in: Das Münster 2 (1986) (Sonderdruck), unpag.



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auf Wohnräume Bezug, die wiederum ihre Entsprechung in der Siedlung Mariahof finden. Diese wurde in den 1960er-Jahren als Bungalow-Siedlung auf ansteigendem Hügel erbaut, eine Stadt auf dem Berg, als deren Bekrönung St. Michael und das neben ihm gelegene Hochhaus geplant wurden. Die Ausprägung der Kirche als „geistige, (…) himmlische Wohnstadt“29 führte zu diesem Gedanken. Den Kirchenbau in seiner weiteren Gestaltung fortzuführen als Umsetzung des Himmlischen Jerusalems, von dem Johannes in der Offenbarung berichtet, war Ziel der Zusammenarbeit von Architekt und Künstler. Mithilfe der Lichtführung und durch Hajeks Zyklus sollten dezidiert Bezüge zwischen den ordnenden Strukturen der Kirche hergestellt werden. Mit seinen Gemälden verfolgte Hajek außerdem die Intention, in den Raum hinein zu wirken und einen Übergang zwischen der Architektur und dem dadurch entstandenen Raum zu schaffen, der vorbereitenden Charakter hat in Bezug auf den Altarbereich und das dort stattfindende Mysterium der Wandlung. Der Blick des Besuchers wird damit auf den an zentraler Stelle platzierten Altar unter der höchsten Stelle des als „Stufenpyramide“30 errichteten Baus gelenkt. Hajek kalkulierte in seiner künstlerischen Ausstattung die Funktion des Gotteshauses dezidiert in seinen Gemälden mit ein.

3.2 Die Funktion der Farbe im kirchlichen Werk Hajeks Die ikonologische Zuordnung der Farben ist bei Hajek evident, wenn er selbst ausführt: „Vater im Gold – Sohn im Rot – Heiliger Geist im Blau. Die Kirche im Violett als Fundament – Verkündigung und Wahrung. Die im Gold strukturierte Form – ein Dreieck als Symbol des Vaters – wird in der Rotform als Symbol des Sohnes Ausgang eines neuen Zeichens mit dem Ursprung in der blauen Form, die dem Heiligen Geist eignet, ein Symbol, ein Zeichen der Auferstehung.“31 Das christliche Formen- und Farbenvokabular zur Wiedergabe des inneren Sinnzusammenhangs interpretierte Hajek in abstrakt-geometrischen Formen und wies damit Form und Farbe eine Bedeutung zu, die ihnen aus dem historischen Kontext erwächst und die er als Künstler mit seiner Arbeit in eine zeitgemäße Sprache übersetzte. Hajek verwendete ab den 1970er-Jahren zunächst verhalten, ab den 1980er-Jahren vermehrt Gold anstelle der gelben Farbe, die er dem kirchlichen Kontext entlehnte als Ausdruck göttlicher Sphäre. Mit Hilfe der Goldfarbe baute er gleichzeitig eine räum29 KOLB (wie Anm. 28). Dort auch ausführliche Beschreibungen der Gemälde und Abbildung des Kirchengrundrisses. 30 O. H. Hajek im Gespräch mit Monika Bugs, in: ENZWEILER (wie Anm. 19), 25 (Zitat ebenda). 31 O. H. Hajek über Martin Luther. Stuttgart, Oktober 1983, zitiert nach: PESE (wie Anm. 14), 176–177, hier 177. Vgl. hierzu auch KOLB (wie Anm. 28).

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liche Ebene auf: „(…) da kam mir das Gold als eine neutrale Ebene und ich habe die Farbe dahinter und davor aufgebaut. Dadurch habe ich eine Räumlichkeit erzielt, rein vom bildhauerischen Schauen her.“32 Auch dass sich aber gerade in der Verwendung von Gold als Farbe bei Hajek weitere Dimensionen über den Raum hinausgehend öffnen, macht er in dem Interview mit Eugen Gomringer deutlich: „Gold hat für mich im Laufe der Jahre eine Mehrdeutigkeit angenommen. In der Plastik bringt es eine Fläche zum Strahlen, die anderen Formen werden dadurch kräftiger gemacht. Oder im Bild, wie ich es heute verwende, sehe ich nicht mehr nur den Goldgrund, sondern auch die Komposition mit Gold, das ich flächig gegen Farbe stelle, also als bildnerische Aussage mitverwende.“33 So ist es einerseits christlich-ikonologisch motiviert, andererseits aber auch kompositorisch begründbar, dass Hajek in den beiden Zyklen in St. Michael Gold in den mittleren Tafeln mehr als an den seitlichen, im oberen (Himmlisches Jerusalem) mehr als im unteren Zyklus (Zeichen am Wege) verwendet. Denn zum einen ,zieht‘ die goldene Farbe den Blick des Betrachters zur Mitte und nach oben, zum anderen steht Gold für die göttliche Sphäre und für Unvergänglichkeit; insofern gibt es eine motivische Verschränkung von Komposition und Inhalt, wobei die anderen Farben, wie Hajek selbst sagt, in Verbindung mit Gold „in einen anderen Klang kommen.“34 Betrachtet man die Gesamtheit der mit Zeichen am Wege betitelten, insgesamt 18 zwischen 1979 und 1980 entstandenen Gemälde,35 von denen sich sieben in St. Michael im Umgang hinter der Altarinsel bis zum Sakristei-Eingang befinden, sind die Anlehnungen an die Farbwege evident; sie sind hier aber überwiegend als abknickende und dadurch die Leinwand gliedernde Flächen auf die Fläche der Leinwand übertragen worden und sollen an dieser Stelle leitende Funktion für die Kirchengemeinde haben. Ein wichtiger Weggefährte Hajeks, der Stuttgarter Kunstkritiker Günther Wirth, äußerte 1985 über Hajek als Maler: „Indem er seine Bilder in der für ihn typischen begrifflich-poetischen Weise als Zeichen am Wege erklärt, plädiert er für das Innehalten des Menschen gegenüber der Kunst. Die Bilder sind nicht nur Seh-Zeichen, sondern 32 O. H. Hajek im Gespräch mit Eugen Gomringer am 26.3.2003 in Stuttgart, in: Die Farbe Gold im Werk von Otto Herbert Hajek. Ausstellungsfaltblatt zur gleichnamigen Ausstellung im Kunsthaus Rehau, 11.07.–13.09.2003. 33 Ebd. 34 Ebd. Anuschka Plattner weist zudem darauf hin, dass insbesondere die drei direkt hinter dem Altar befindlichen Gemälde durch ihren farblichen und formalen Zusammenhalt an Altartryptichen erinnern, der auch christlicher Ikonologie standhält, denn Hajek betitelte diese drei Gemälde als Dreiheit. Anuschka PLATTNER: Otto Herbert Hajek. Konzeptionen der Raumgestaltung. Diss., Heidelberg 2000, 62. 35 KUNST- UND AUSSTELLUNGSHALLE BONN (wie Anm. 4), 229 ff., M 27 (Bild 26 Zeichen am Wege 1) bis M 40 (Bild 39 Zeichen am Wege 13) und M 42 (Bild 50 Zeichen am Wege 80/1) bis M 45 (Bild 53 Zeichen am Wege 80/4). Die Motive der Gemälde M 42 bis M 45 verwendete Hajek zudem für den Altarraum von St. Michael in Trier-Mariahof.



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auch Denk-Zeichen.“36 Deutlich wird an Hajeks eigenen Äußerungen über St. Michael, dass er auch hier wieder den Kirchenraum und den öffentlichen Raum nicht als getrennte Sphären begriff, sondern vielmehr als zwei unterschiedliche Möglichkeiten, Menschen zu treffen, mit ihnen zu kommunizieren und sich durch Kunst anregen zu lassen: „Hier in Mariahof machte ich Bilder und Zeichen und bildete einen Raum. Es ist eine Vorstellung von meiner Umwelt im Bild. Es ist ein verwirklichter Raum, der aufzeigt, wie sich der Mensch in seiner Umgebung, in seiner Umwelt verhalten und sich frei bewegen kann.“37 Insofern will Hajek die Verwendung von Gold nicht ausschließlich als Symbol für die Dreieinigkeit verstanden wissen. Gold hat für ihn vielmehr die Aufgabe, eine „neutrale Wertigkeit“ in das Bild zu bringen, hat einen „Ordnungscharakter“, der es ihm ermöglicht, die Farben „davor und dahinter“ zu setzen und damit die Form zu betonen.38 Diese Betonung der Form bezieht sich nicht ausschließlich auf die Gemälde, sondern gleichermaßen auf den Raum, den sie farblich strukturieren. Deutlich wird deshalb gerade in St. Michael, dass Hajek eben nicht nur liturgische Ausstattung und Gerät auf der um zwei Stufen erhöhten Altarinsel anordnete, sondern dass er hier den Gedanken der ,begehbaren Plastik‘ fortsetzte, innerhalb dessen die Grundfläche ein liegendes Relief darstellt, aus dem sich die einzelnen von Hajek gestalteten Elemente als ,Details aus dem Ganzen‘ emporheben. Ein Thema, bei dem Hajek aus seinen Erfahrungen mit Architekten schöpfen konnte, die ihn ab seiner Arbeit für Maria Regina Martyrum immer wieder mit den Planern des Gebäudes zusammenführte. So realisierte er beispielsweise mit Carlfried Mutschler unter anderem zwei frühe Kirchenbauten in Mannheim, für die Mensa und das Studentenhaus der Universität Saarbrücken arbeitete er eng mit Walter Schrempf zusammen und erprobte dort neue Möglichkeiten des Betons, und in Trier-Mariahof entwarf er zusammen mit Conny Schmitz (Dillingen) ein Gesamtkunstwerk. St. Michael wird, so verstanden, zur begehbaren Plastik im Sinne seiner Stadtikonographien, wobei die Kirche gleichzeitig als Stadtkrone im Taut’schen Sinn interpretiert werden kann.39 36 Günther WIRTH: Otto Herbert Hajek als Maler oder Die Fläche als Artikulationsfeld der Farbe, in: KREISSPARKASSE ESSLINGEN-NÜRTINGEN (Hg.): Otto Herbert Hajek. Bilder. Esslingen 1985, 4–6, hier 6. 37 O. H. Hajek über den Kirchenraum St. Michael in Trier-Mariahof. Stuttgart, Dezember 1984, zitiert nach: PESE (wie Anm. 15), 177. Vgl. auch die Ausführungen Hajeks im Gespräch mit Monika Bugs, in: ENZWEILER (wie Anm. 19), 24 f. 38 O. H. Hajek im Gespräch mit Monika Bugs, in: ENZWEILER (wie Anm. 19), 20. 39 Bruno Taut machte sich, ausgehend von der Gartenstadtbewegung der 1910er-Jahre, Gedanken über eine neue Stadt, in der „Volkshäuser“ als „Stadtkrone“ Herz und Mittelpunkt der neuen Stadt wären (64). Seine „Stadtkrone“ – ein Kristallhaus – ist gleichzeitig architektonischer Mittelpunkt der Anlage, aus der er mehrgeschossig emporragt, und zweckfreier Bau: Der gläserne Turmbau sollte vor allem schön sein, in einem alle Künste vereinigenden Innenraum das Sonnenlicht farbenprächtig verwandeln und den Kosmos auf diese Weise gegenwärtig werden lassen. Nach: Bruno TAUT: Die Stadtkrone, Jena 1919, Nachdruck 2002, bes. 62–70. Weiter-

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3.3 Parallelen. Nürtingen – Hirsau – Trier Als wichtiger Kirchenbau im Hajek’schen Œuvre, der ihn über mehrere Jahrzehnte – allerdings mit Unterbrechungen – begleitete, ist St. Johannes in Nürtingen zu bezeichnen. Hier schuf Hajek eine Eingangswand und Teile eines Kreuzwegs, die in seine informelle Frühphase fallen, um dann, nach Jahrzehnten des schöpferischen Stillstands, den Kreuzweg zu vollenden, einen Gemäldezyklus für die Orgelempore zu schaffen und ein großes Altarbild als Schluss- und Endpunkt der Altargestaltung zu malen. Der Sakralbau in Nürtingen ist einerseits vergleichbar mit St. Aurelius in Hirsau, andererseits ist er aber im Sinne eines Gesamtkunstwerks auch in eine Linie mit St. Michael in Trier zu setzen. Die Parallele zu Hirsau liegt vor allem im Formalen, was die Anfänge des Nürtinger Kreuzwegs und der Außenwand betreffen. Nach Unstimmigkeiten mit der Kirchengemeinde blieb der dortige Kreuzweg bis 1990 unvollendet. Dann erst ergab sich die Gelegenheit, an die frühen Arbeiten anzuknüpfen und ihn in zum Teil Blau und Rot eingefärbter Bronze fertigzustellen. Noch vor Maria Regina Martyrum in Berlin hatte Hajek in Nürtingen die Möglichkeit erhalten, seine damals durchaus umstrittene Interpretation eines Kreuzwegs zu realisieren, den er stark verdichtete und bei dem er darauf verzichtete, die sonst gängigen Darstellungsmuster und ikonographischen Bezüge zu übernehmen. Keine korrekte Stationsanzahl, keine Nachvollziehbarkeit der jeweiligen Stationen, auch nicht in den frühen drei Tafeln. Michael Kessler führte dazu 2012 anlässlich der Ausstellungseröffnung Kreuzwege – Wege zum Leben in St. Johannes aus: „Mir scheint, das Geniale, das Verwirrende und Beunruhigende der Hajekschen Bildfindungen liegt gerade im Verzicht auf das Vertraute und Erwartete.“40 Es sind letztlich Zumutungen und damit – auch hier wieder – „Störmale“, mit denen Hajek den Betrachter, wie er selbst sagt, „ergreifen und gefangen nehmen [will] von den Zeichen, von ihrer Überzeugungskraft des Ihnen bekannten Inhalts.“41 Wie in St. Johannes in Nürtingen gab es auch in Hirsau eine lange Zeit der schöpferischen Pause, wobei sie in St. Aurelius nicht durch Unverständnis und Querelen geprägt war. Vielmehr war der Auftrag zur Altarwand- und Memorialgrab-Gestaltung sowie für die Ausstattung mit liturgischem Gerät in den 1950er-Jahren vollendet. Hajek fühlte sich aber dieser im Nagoldtal gelegenen Kirche über die Jahrzehnte hinweg stark verbunden und fertigte deshalb noch kurz vor seinem Tod das Lesepult; die führend zu den Stadtutopien der 1910er-Jahre siehe auch Kurt JUNGHANNS: Die Idee des „Großen Bauens“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar 26 (1979), H. 4/5, 304–308. 40 Michael KESSLER: Kreuzwege – Wege zum Leben. Vortrag anlässlich der Ausstellungseröffnung in St. Johannes, Nürtingen, 4.3.2012, Typoskript, unpubl. Mit herzlichem Dank an Johanna Stulle, die mir dieses Typoskript zur Verfügung stellte. 41 O. H. HAJEK, zitiert nach KESSLER (wie Anm. 40).



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Kirchengemeinde erwarb ebenfalls 2005 noch die frühe, Mutter betitelte, hölzerne Kleinplastik. Die Parallele zwischen Nürtingen und St. Michael in Trier liegt neuerlich in der Auffassung des Innen- und Außenraums als gestalterische Einheit, dessen Erlebnis sich aus der Betrachtung, aus dem Einlassen auf die Durchgestaltung Hajeks ergibt. Vom wandhohen, Apokalypse betitelten Fassadenrelief über die optische Akzentuierung des Fußbodens und dessen Flankierung mit dem in die Wand eingelassenen Kreuzweg führt Hajek den Kirchgänger und Besucher in Nürtingen auf das monumentale Altarbild hin. Es ist ein abstraktes Reliefbild, das von drei Flügelformen begleitet wird, aus dem auch wieder – im Dreieck oben mittig vereint – die Dreieinigkeit herausgelesen werden kann. Mit über acht Metern Höhe scheint es förmlich über der auch hier erneut als horizontales Relief lesbaren, erhabenen Altarinsel zu thronen. Und auch beim Hinausgehen wird der Kirchgänger mit Hajeks Bildwerken entlassen: An der Orgelempore befindet sich der mit Jericho betitelte Fries, durchaus passend zum Gang hinaus in die Stadt. Die dadurch angedeutete Einheit betonte Hajek mehrfach, zum Beispiel in der Publikation Herausfordernde Visionen: „Der kirchliche Raum ist ein Lebensraum des Menschen, wie der Platz, wie die Stadt es sind. (…) es gibt keinen Riss zwischen einer religiösen und einer sogenannten profanen Dimension (…). Es gibt nur andere Verknüpfungen, neue Sichtweisen in unserem heutigen gesellschaftlichen Zusammenhang.“42 Noch deutlicher wird sein Anliegen in dem Ausspruch „Kunst kündet von dem nicht Fassbaren unserer Existenz, sie verweist auf das nicht in Begrifflichkeit Eingrenzbare, das sich in einer reichen Zeichensprache jenseits der Worte ausdrückt.“43 Damit stellt Hajek zugleich auch eine Brücke zwischen dem Schöpferischen im Menschen und der Schöpfung selbst her, aus der sich für ihn der Auftrag ergibt, Zeichen zu setzen, um über die Existenz des Menschen zu reflektieren.

4. Ein Kommunikationsangebot im Raum der Architektur: St. Eberhard, Stuttgart (1989–91). Vor dieser von Hajek nicht nur postulierten, sondern auch selbst gelebten Parallelität von Sakral- und urbanem Raum verwundert nicht, dass er sich in seinen letzten Lebensjahren nochmals mit einem größeren Kirchenprojekt auseinandersetzte. Für St. Eberhard, mitten auf der Königstraße in Stuttgart gelegen, entwarf Hajek zwischen 1989 und 1991 sowohl drei große Eingangsportale, die den drei monotheistischen Re42 O. H. HAJEK: Herausfordernde Visionen, abgedruckt in: GOMRINGER (wie Anm. 6), 158– 160, hier 160. 43 O. H. HAJEK: Der kirchliche Raum ist ein Lebensraum des Menschen, wie der Platz, wie die Stadt es sind, in: GOMRINGER (wie Anm. 6), 166–168, hier 166.

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ligionen gewidmet sind,44 als auch eine Bodenarbeit, die vom Kircheneingang in die Fußgängerzone ausgegriffen hätte, und für die Vorhalle ein grafisches Mosaik, das an romanisches Ornament erinnert. Außerdem war ein Altarbild geplant, in dem Hajek neuerlich das Thema Himmlisches Jerusalem aufgegriffen hätte,45 das er bereits in Trier und Nürtingen umgesetzt hatte. Mittig hätte auf der Königsstraße ein christologisches Zeichen als Wegezeichen einen vertikalen Akzent gesetzt,46 das durchaus als Stolperstein inmitten des Kommerzes lesbar gewesen wäre und den Weg zum Sakralbau ebenso gewiesen hätte, wie das geometrische Grundelemente (Dreieck, Quadrat und Kreissegment) beinhaltende, mehrfarbig angelegte, darüber hinausgreifende Bodenbild. Zwar lagen alle von Hajek selbst eingeholten Genehmigungen seitens der Stadt Stuttgart zur Umgestaltung des Außen- und Eingangsbereichs der Kirche vor, die inmitten des Konsumtreibens mehr Wahrnehmung erhalten hätte. Vom Hajek’schen Entwurf wurde aber letztlich wohl „aufgrund von nicht auszuräumenden Bedenken des seinerzeitigen Rottenburger Bischofs Dr. Walter Kasper (…) bezüglich der Finanzierung“47 nur die leicht asymmetrische Treppenanlage realisiert, was bedauerlich ist. Denn mit dem geplanten Ausgreifen in den urbanen Außenraum mit Bronzeplastik, Mosaizierung und den in Farbe und Form auf die drei Weltreligionen abgestimmten Portalen hätte Hajek nochmals im kirchlichen Kontext visualisieren können, was ihm Anliegen aller seiner künstlerischen Akzentuierungen und Durchgestaltungen im Stadtraum gewesen ist. Hajek hätte „nach Art eines urbanen Kirchenzeichens“48 eine sinnfällige Sichtbarmachung der Rolle von Kirche, Religion und Christentum in der Großstadt betrieben, hätte damit die städtische Hauptkirche und bischöfliche Konkathedrale künstlerisch in ihrer Funktion akzentuiert und einen wesentlichen Beitrag zum öffentlichen Erscheinungs44 Die Modelle wurden damals in den Werkstätten des SWR angefertigt, das Material dafür bezahlte die Sparda-Bank. Tel. Auskunft von Johanna Stulle, ehem. Büroleiterin Hajeks, 4.3.2016. Die sehr detailliert ausgeführten Planungsunterlagen fertigte Hajek wohl ohne Auftrag seitens der Kirche, sondern aus eigenem Antrieb heraus an (postalische Auskunft von Michael Kessler, 8.3.2016). Vgl. auch die Broschüre, die der SWR unter dem Titel Zugang zu drei Religionen. O. H. Hajek für das Projekt im Februar 2005 herausgab. 45 Ebd., unpag. Die Abbildung des geplanten Altarbilds stellt eine Weiterentwicklung der ab Mitte der 1980er-Jahre entstandenen Serie Jerusalem dar. Insbesondere Bild 113 (1985/88) Jerusalem – XV weist deutliche Parallelen zu dem Entwurf für St. Eberhard auf. Siehe Abbildung in: HUMMEL/KESSLER (wie Anm. 4), 106. 46 Eugen GOMRINGER (Hg.): O. H. Hajek. Zeichen setzen – Zeichen für Menschen, Münster 1997, Abb. S. 121 unten. Michael Kessler betitelt das christologische Zeichen in seinem an die Autorin gerichteten Schreiben als Eberhardszeichen (KESSLER, wie Anm. 44); zwischenzeitlich befindet es sich in Berlin vor der Landesvertretung Baden-Württemberg am Berliner Tiergarten. 47 KESSLER (wie Anm. 44). 48 Max SECKLER: Als Theologe vor der Kunst Hajeks, in: FÜRST/KESSLER/URBAN (wie Anm. 4), hier 34 f.



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bild der (katholischen) Kirche in Stuttgart geliefert. Zugleich wäre neuerlich die Einheit seines Werks, das nicht zwischen profaner und sakraler Sphäre unterschied, sinnfällig geworden, die Hajek auch durch folgenden Ausspruch betonte: „Jedes meiner Bilder (…) ist im Grunde ein Altarbild. Ich mache ausschließlich Bilder, die sowohl an einem Altar als auch außerhalb der Kirche sein können. Die Aussage meiner Kunst ist immer die gleiche. Ich mache keinen Unterschied zwischen Kirchenkunst und anderer Kunst, weil alle Kunst für mich religiöse Aussage ist, weil ich ohne diese Ehrfurcht überhaupt nicht arbeiten könnte.“49 Diese Aussage zeigt gleichermaßen die Grundlage seines Verständnisses als Künstler auf und ist Begründung für sein dezidiertes Arbeiten im Raum der Architektur. Hajek strebte einen menschlichen Raum im Wortsinn an, einen Raum für den Menschen und dessen Dialektik zwischen Sensualismus und Spiritualität. Mit seinen Arbeiten suchte Hajek damit nichts weniger als die menschliche Identität.50 Dies wäre mit seinem weiten Ausgreifen und der damit ausgesprochenen (künstlerischen) Einladung an den Passanten zum Verweilen bei St. Eberhard deutlich zum Ausdruck gekommen.

5. Schlussbetrachtung Romano Guardini äußerte im Ausstellungskatalog Arte liturgica in Germania 1955, das religiöse Kunstwerk diene der Ermöglichung, das Geheimnis der Gotteswirklichkeit zu schauen. „Seine Aufgabe besteht nicht darin, lehrhaft zu unterrichten, oder erzieherisch zu beeinflussen, sondern der Epiphanie den Weg zu bereiten.“51 Hajek dürfte diesen Satz unterstrichen, ihn aber gleichzeitig auf alle seine Kunstwerke ausgeweitet haben. Denn als gläubiger und praktizierender Katholik gab es für ihn keine voneinander getrennte weltliche und kirchliche Sphäre, für den Bereich der Sakralkunst „keine künstlerischen Sondergesetze“.52 Max Seckler ist deshalb in seiner Postulierung einer „Zweigleisigkeit“53 zuzustimmen, die säkulare Momente im kirchlichen Werk Hajeks und sakrale Aspekte in seinem weltlichen Werk zulässt. Hajek äußerte sich selbst in diese Richtung mit seinem Postulat der Untrennbarkeit von Sakralem und Profanem. Vielmehr lebe und arbeite er „im Spannungsverhältnis 49 O. H. HAJEK, zitiert nach: Michael KESSLER: Nekrolog. Jedes Bild ein Altarbild: zur religiösen Dimension im Schaffen von Otto Herbert Hajek (1927–2005), in: Das Münster 3 (2005), 331 f. 50 Vgl. O. H. Hajek an Friedrich Wetter, Bischof von Speyer, Stuttgart, 1.3.1978, abgedruckt in: PESE (wie Anm. 15), 175 f. 51 Romano GUARDINI: Das religiöse Bild und der unsichtbare Gott, in: Arte liturgica in Germania 1945/1955, hg. von Hugo SCHNELL, München 1956, 13–25, hier 18. 52 SECKLER (wie Anm. 48), 28. 53 Ebd.

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beider Dimensionen unserer menschlichen Existenz.“54 Die Zeichenhaftigkeit seiner Werke, der Symbolgehalt von Form und Farbe weist dem Gläubigen innerhalb des Sakralraums ebenso den Weg, wie im urbanen Profanraum. Insofern ist sein Arbeiten im öffentlichen Raum derselben Auseinandersetzung mit Raum, Form und Farbe geschuldet, wie seine Arbeiten für Kirchen, fordert er mit seinen Arbeiten insgesamt zur Auseinandersetzung, zum Dialog auf. Dies macht nicht zuletzt der letzte große Kirchenauftrag für St. Eberhard in Stuttgart deutlich. Das Arbeiten Hajeks für die (katholische) Kirche wird nicht zuletzt durch St. Eberhard zur Klammer seines öffentlichen Schaffens, wird zum roten Faden und zur Richtschnur, in dem von Anfang an seine Überlegungen und Auseinandersetzungen mit dem urbanen Außenraum bereits angelegt sind, die er bis zuletzt konsequent an sein Werk anlegte. Sein künstlerischer Werdegang kann damit an seinen Arbeiten für die Kirche nicht nur exemplarisch nachvollzogen werden, sondern ist darüber hinaus essentiell für das Verständnis des Hajek’schen Œuvres. Die Frage nach dem Raum, der die Plastik umgibt und den sie ausfüllt, aber auch die Frage nach dem gestalteten, nachgerade durchmodellierten Raum, der zum Kommunikationsort für den sich darin befindenden Menschen werden sollte, ist bereits in seinen frühen Arbeiten im Sakralraum angelegt und führt in gerader Linie bis zu St. Eberhard. Indem er bewusst in den durchkommerzialisierten öffentlichen Stadtraum ausgreifen wollte, postuliert der Künstler ein Angebot: Der Passant, der Flaneur auf Stuttgarts Haupteinkaufsmeile Königsstraße hätte – neben der realen Palette an käuflich zu erwerbenden Gütern – ein geistiges Angebot erhalten. Das sich ihm in den Weg stellende Wegezeichen hätte, vermittelt durch die Bodenarbeit, den Weg gewiesen in den Sakralraum, wo er geistige Nahrung als Additiv zur leiblichen Nahrung erhalten hätte. Die begehbare Plastik hätte somit, auch hier wieder, dem offen durch die Straße gehenden urbanen Menschen den Weg gewiesen zur Auseinandersetzung – über die Kunst, mit sich selbst. In diesem Sinne ist Hajeks Schaffen als Antithese zu Emil Steffans Überlegung zu werten, der bereits 1950 in einem Brief äußerte, Gott lebe „nur mehr geduldet unter uns, wir können, wenn wir ehrlich sein wollen, seine Kirchen nur noch als seine Tabernakel ansehen, d. h. als Zelte des Allerhöchsten, als Zufluchtsstätten mit einer bloß vorübergehenden Aufgaben, nach deren Erfüllung sie der Zerstörung anheimfallen und weniger sind als Nichts.“55 Für Hajek war dagegen die künstlerisch-schöpferische Tätigkeit für die Institution Kirche ganz offensichtlich keine bloß vorübergehende Aufgabe, weshalb er nie den leichten Weg der Konvention, der „vielleicht nur modisch aufgefrischten Möblierung der religiösen Anschauungswelt“ eingeschlagen hat.56 Vielmehr war ihm die Kirche stets 54 O. H. HAJEK, zitiert nach: Ebd., 32. 55 Emil Steffan, zitiert aus einem Brief in L’Art Sacré, Nov./Dez. 1950, hier zitiert nach RÉGAMEY (wie Anm. 26), 20. 56 SECKLER (wie Anm. 48), 29.



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ein besonderer Zufluchtsort, an dem vor allem der Städter zur Ruhe, zu sich selbst kommen möge. Sie war ihm Gegenpol zum Kommerz und bietet über das tägliche ,Haben will‘ einen spirituellen Mehrwert. Die (Mit-)Gestaltung des öffentlichen Lebensraums vermittels seiner Farbwege und Platzzeichen wollte Hajek als „Störmale“57 und „Unruhungszeichen“58, als „Wetzsteine“ des Bewusstseins verstanden wissen. Wie Jiří Mašin ausführte, ging es ihm bei seinen frühen Arbeiten noch nicht primär um die „integrale Spiritualisierung der Form“59; diesen Schritt vollzog er mit dem vermehrten Einsatz von Farbe und ihrer schrittweisen Aufwertung zum tragenden Faktor seiner Kunstwerke. Seine Arbeiten, sowohl im Sakral- wie auch im Profanraum, sind deshalb trotz ihrer zunehmenden Reduktion auf Form, Farbe und Zeichenhaftigkeit nie nur Dekoration, sondern weisen aus Hajeks Sicht den Weg zu einer humanen Umwelt. Sie senden Signale aus und setzen Zeichen für eine Gestaltung des menschlichen Lebensraums als ästhetische Wahrheit, sie sind also zugleich urbane Kirchenzeichen wie transzendente Stadtzeichen. Für den säkularen wie den sakralen Raum der Architektur gilt, so Hajek, gleichermaßen: „Der Stellenwert, den eine Gesellschaft der Kunst zuweist, ist Ausdruck des Menschenbildes, den sie zu leben gewillt ist.“60 In diesem Zusammenhang hob Hajek stets darauf ab, dass Kunst und Kultur kein Luxus sind, sondern „eine elementare Seinsweise (…), da eine Gemeinschaft nicht lebensfähig bleibt ohne ein konstruktives Denken im öffentlichen Raum der Kunst.“61 Als eloquenter Streiter für die Belange der Kunst ist es entsprechend Hajeks Verdienst, sich immer wieder mit der Frage nach dem Stellenwert der Kunst in unserer Gesellschaft eingebracht und dazu beigetragen zu haben, dass Kunst und Künstler aus ihrer Nischenposition herausgeholt wurden, im öffentlichen Raum wirken konnten und Gehör für ihre Beteiligung an der von ihm angeregten Diskussion erhielten. Insbesondere die Kunstwerke Hajeks im öffentlichen Raum stehen aktuell in vielen Städten zur Disposition oder sind bereits dem Wunsch nach Veränderung zum Opfer gefallen. Dies ist umso dramatischer, als mit Hajek eine singuläre Position auf dem Prüfstand steht, die nie gefällig war, die immer aneckte, die auch im Sakralraum Durststrecken überwinden musste und vom Künstler dennoch mit Beharrlichkeit verfolgt wurde. Es ist eine zutiefst humane Position, die sich dem Oberflächlichen, Ba57 O. H. HAJEK: Gestörte Architektur, in: Horst BIENEK/Hans PLATSCHEK (Hg.): Blätter und Bilder. Eine Zeitschrift für Dichtung, Musik und Malerei (H. 10, Sept.–Okt. 1960), Würzburg– Wien 1960, 10 ff. 58 O. H. HAJEK: „Kann nicht die Bundeskunsthalle – Künstlerplatz – heißen?“ (Juni 1979), in: Akte „Deutscher Künstlerbund 1973–1979 / II“, Deutsches Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg, unpubl. 59 Jiří MAŠIN: Begegnungen und Betrachtungen, in: PESE (wie Anm. 15), 26–28, hier 26. 60 O. H. Hajek an Ministerialdirektor Prof. Dr. Wolfgang Bergsdorf, Bundesministerium des Innern Bonn, 4.4.1997, in: Akte „Deutscher Künstlerbund“, unpubl. [Archiv Chris Gerbing]. 61 Ebenda.

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nalen, Kommerziellen widersetzt, für die es (noch?) keine eigenständige kunsthistorische oder denkmalpflegerische Kategorie gibt, die aber in einer von Unsicherheiten geprägten gesellschaftlichen Realität mit der klaren künstlerischen Position, die sie bezieht, vielleicht so aktuell ist wie lange nicht mehr.

Lydia Bendel-Maidl „TRAUM VON PICKAU“ Heimatverlust und Mystik in den Werken Erich Schicklings 1. Einführung „Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“1 Dieser berühmte Satz Ernst Blochs am Ende seiner Schrift „Prinzip Hoffnung“ gilt in einer sehr tiefen und eigenen Weise für den Künstler Erich Schickling. Abb. 1: Erich Schickling (1924–2012). Fotografie von ca. 2006. Foto: Erich-Schickling-Stiftung.

Blochs Wort macht auf eine geheimnisvolle Spannung aufmerksam: es gebe ein Aufscheinen von Heimat in der Kindheit, und gleichzeitig sei der Mensch zeitlebens auf der Suche nach Beheimatung, spüre er ein letztes Fremdsein. Erich Schickling hat dieses Geheimnis doppelt in sich getragen. Zum einen durch die realen geschichtlichen Ereignisse seines Lebens: aufgewachsen und als Kind glücklich beheimatet in einer Familie in Mährisch-Schlesien, verlor er mit seiner Familie 1945 diese Heimat. Hinzu kommt eine große Sensibilität für die tiefere Ebene, 1 Ernst BLOCH: Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3, Frankfurt am Main 1973, 1628.

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die existentiell-menschliche. Schickling zeigt sich als ein zutiefst religiöser Mensch, ein Gottsucher, berührt von einem transzendenten Heimweh.2 Eine wichtige Erfahrung dabei war ein Traum, der ihm als Kind geschah. Er durchzieht sein Leben wie ein Leitmotiv. Welche Bedeutung hatte dieser Traum für sein Heimatempfinden? Wie gestaltete Schickling diese Erfahrung als Maler? In welcher Relation steht sie zum realen Heimatverlust? Diese Fragen stehen im Zentrum der folgenden Ausführungen.

2. Äußere Daten. Wichtige Stationen3 Erich Schickling wurde am 19. April 1924 in Pickau/Bykow im Kreis Jägerndorf im heutigen Tschechien geboren. 1946 wurde er aus seiner Heimat vertrieben. Der Familie war es möglich, die Möbel, die der Vater geschreinert hatte, und vieles, das ihnen wichtig war, mitzunehmen; und es war die Wahl eines neuen Ortes möglich. So kamen sie in die Gegend von Ottobeuren, den Rat ihres Heimatpfarrers aufnehmend, der ihnen die Gegend um das Kloster Ottobeuren mit der langen Tradition benediktinischen Lebens als Zielort empfohlen hatte. Im Günztal nahe bei Eggisried, einem kleinen Weiler wenige Kilometer entfernt von Ottobeuren, fand er mit seinen Eltern die Möglichkeit, sich wieder niederzulassen. Es war ein feuchtes, verwildertes Grundstück. Hier entstand das Wohnhaus der Familie, vom Vater, einem Zimmerer, mit Holz- und Lehmwänden erbaut, dazu eine kleine Landwirtschaft. 1955 heiratete Erich Schickling seine Frau Inge, eine gebürtige Egerländerin und hochgeschätzte Grundschullehrer in Ottobeuren. Die Familie wuchs mit den drei Töchtern Elisabeth, Veronika und Hedwig. In seiner Freude an Natur und Pflanzen und aus dem Bedarf für seine künstlerischen Werke gestaltete er sukzessive das Areal: Er befestigte die Günz mit Weiden, baute Gewächshäuser für exotische Pflanzen, eine Kapelle mit Turm, einen parkähnlichen Naturgarten und nach und nach am anderen Ufer der Günz Räumlichkeiten für Werke, die er der Erich-Schickling-Stiftung vermachte: Die Stiftung wurde 1999 als „Begegnungsstätte für Kunst und Religion“ ins Leben gerufen, um sein Werk und diesen besonderen Natur- und Kunstraum zu erhalten und die Begegnung von Kunst und Religion zu fördern.4 2 Zu Biographie und Grundlinien seines Schaffens finden sich Beiträge von Claudia PECHER, Eugen BISER, Kristin KRAHE in: Literatur in Bayern, hg. von Dietz-Rüdiger MOSER und Waldemar FROMM, Ausgabe 68, Juni 2002, 17–36; besonders Claudia PECHER: „Des Geistes Werden ist den Menschen nicht verborgen ...“ Ein Porträt des Malers und Poeten Erich Schickling, in: ebd., 17-26. 3 http://schickling-stiftung.de/erich-schickling/vita (24.06.2016). 4 http://schickling-stiftung.de (24.06.2016).



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Erstes Rüstzeug hatte sich Schickling an der Hochschule für angewandte Kunst in Brünn/Brno geholt, wo er 1941/42 studierte, bevor er 1942 bis 1945 Kriegsdienst leisten musste. Nach der Vertreibung ging er 1947 an die Münchener Kunstakademie zu Prof. Joseph Hillerbrand – nicht gerade zur Freude seines Vaters, der ihn im Günztal zur Aufbauarbeit gebraucht hätte. Der Anfang in München war holprig; allmählich erlangte er die Anerkennung seines Lehrers, den er sehr verehrte, wurde dessen Meisterschüler. Schon während des Studiums wurde er mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet (z. B. Paris-Stipendium 1953 und Jubiläumsstiftung der Stadt München) und hatte erste Aufträge im sakralen und öffentlichen Raum. Für sein Weltverstehen prägend war Romano Guardini (1885–1968) in dieser Münchener Zeit. Dieser war 1948 von Tübingen einem Ruf nach München gefolgt, wo er bis zur Emeritierung 1962 Christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie lehrte. Die erste Vorlesung, die Schickling bei Guardini hörte, handelte vom „Wesen des Kunstwerks“; tief berührten ihn auch Guardinis Hölderlin-Interpretation, seine Ethik-Vorlesungen und die wöchentlichen Predigten. Ab den 1980er-Jahren wurde Eugen Biser (1918–2014), Nachfolger Guardinis in München, zu einem inspirierenden Begleiter..

3. Orte seines Wirkens Beginnend 1952 im Dominikanerinnen-Kloster in Speyer mit Altarbild, Kreuzweg und Deckenbemalung, erhielt Erich Schickling 1956 den ersten Preis beim Ideenwettbewerb für Glasfenster der Elisabeth-Kirche in Marburg.5 Diese Arbeit in Glas wurde für ihn richtungsweisend. Weitere folgten unmittelbar, aus der Zusammenarbeit mit Architekt Joseph Naumann (Regensburg) gingen wesentliche Gestaltungen in moderner Kirchenarchitektur hervor, wie Saal an der Donau, Nittenau, Neunburg vorm Wald, Wiesent und weitere. Sie waren getragen vom neuen Geist der Liturgie, der wesentlich von Guardini geprägt war und auf die sakrale Architektur großen Einfluss hatte. Neben Glasfenstern in heilsgeschichtlich umfassenden Zyklen wie z. B. Altenstadt/Waldnaab, Kelheim, Rain am Lech, Regensburg, Deggendorf, Pondorf, St. Peter-Ording, entstanden Kreuzwege und Altarbilder in unterschiedlichsten Techniken und Ausdrucksformen wie z. B. in Tirschenreuth, Pottenstetten, Schweinfurt, Diesenbach (mit Architekt von Branca), zuweilen auch Altartische, Tabernakel und Ambo nach seinen Modellen wie z. B. in Fürth im Odenwald oder Neunburg. Neben Arbeiten in der Ferne (Bonifatius-Wandbild in Rio de Janeiro) oder der Schweiz entstanden auch im regionalen Umfeld bedeutende Arbeiten wie z. B. in Bobingen (mit Architekt Wichtendahl), Kryptafenster Basilika Ottobeuren, St. Ambrosius Memmin5 Nach dem Krieg wurden wiederholt Wettbewerbe an den Akademien für verlorene Kirchenfenster ausgelobt, so auch für die Elisabethkirche in Marburg.

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gerberg, Mariae Baumgärtle. Ein gewichtiger Teil seiner öffentlichen Arbeiten im weltlichen Bereich besteht aus Wandmalereien, Glasfenstern, Keramiken in Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, Kurheimen, Schwimmbädern. Beispiele finden sich u.  a. in und um Regensburg, Dillingen, Bad Grönenbach, Mindelheim, Buxheim, Aitrach, Kirchdorf. Parallel dazu entstanden zahlreiche Hinterglasbilder, Temperabilder, Aquarelle, Zeichnungen, die heute in den Stiftungsräumen zu sehen sind oder sich in Privatbesitz befinden. An vielen Orten kam es zu Ausstellungen seiner Bilder.6 Zeit seines Lebens hatte Schickling Kontakte nach Tschechien, vor allem auch zu Künstlern dort. 1993 wurde er in Prag mit der Masaryk-Medaille geehrt. So lässt sich der äußere Lebensweg des Künstlers Erich Schickling in den wesentlichen Knoten bündeln. Doch welcher Mensch, welche Erfahrungen und welche Botschaften liegen darunter? Und wie finden sich darin die Themen Heimat, Heimatverlust, neue Heimatfindung? Anhand der drei Bilder „Traum von Pickau“, „Brennende Basilika“ und „Maria vom Berge Karmel“ will ich auf innere Zusammenhänge hinweisen.

4. Zur Malerei Schicklings. Sein Selbstverständnis 4.1 Malen als Vollzug des (Er-)Lebens

Der Kunstinterpret Erwin Birnmeyer beschreibt den Künstler so: Erich „Schickling malt ‚um zu erleben‘. Dies seine Worte. Er malt also nicht das Erlebte als vergangen und abgeschlossen, sondern um zu erleben. Das macht einen großen Unterschied: während er malt, erlebt er. Im Malen gewinnt er Einsichten, verdichten sich ihm die Träume, konkretisieren sich die Visionen dank präziser Phantasie.“7 4.2 Kunst als Weg zur Begegnung und Entdeckung des Not-wendigen

Immer war es ihm ein Anliegen, vor seinen Bildern im Gespräch zu sein, zu sehen, was sich im Miteinander mit den Betrachtenden ihm zeigt. Denn für Schickling galt: „Das Schöpferische ist immer das Ungewohnte. Notwendig, die eigene Not wendend entdecken wir es zuerst für uns selbst. Die Freude, das Entdeckte miteinander zu teilen, ist für Erich Schickling nicht zu trennen vom Kunstwerk. Doch der Betrachter 6 Eine vorläufige chronologische Auflistung der Auftragsarbeiten in kirchlichen und öffentlichen Räumen (in Auswahl) und der Ausstellungen und Sendungen über den Künstler findet sich in: Ulrike MEYER/Inge SCHICKLING (Hg.): Erich Schickling, Memmingen 1994, 97–99. Ein umfassendes Werkverzeichnis ist in Arbeit. 7 Erwin Birnmeyer: „Wasser, du Wasser“, 1986, in: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 20– 21, hier 20.



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wird sich aufmachen zu neuen Ufern, die auch der Maler noch nicht kennt. Wie Gottes Schöpfung durch unsere Hände immer von neuem sich vollzieht, so gehört auch dem Künstler sein Werk nicht mehr an, sobald er es vollendet hat. In der Begegnung will es sich schenken, will im Augenblick neu erschaffen sein.“8 In einem Trauerbrief an die Familie anlässlich des Todes von Erich Schickling formulierte es der befreundete Künstler Reinhard Blank mit dem Philosophen Kurt Flasch: „Philosophische und poetische Texte stellen an den Leser (…) eine doppelte Bitte: Lies mich, sagen sie, als sei ich soeben vom Himmel gefallen (…). Nimm mich auf, als sei ich nur für dich geschrieben und alles komme darauf an, dass du erkennst, dass ich dich betreffe, dass ich dir dein Leben erkläre und erzähle, was dazu gehört; ich stelle es dar als manchmal befremdliches Bild. Du lernst etwas über dich.“9 4.3 Das zentrale Medium. Malerei hinter Glas

„Schicklings Domäne ist bei aller künstlerischen Vielseitigkeit (Malerei, Mosaik, Keramik) das Glasfenster. Die Transparenz des Glases, seine Lichtdurchlässigkeit, hat für ihn vielfältige Symbolkraft.“10 Erich Schickling formulierte die Bedeutung für sich folgendermaßen: „Der Umgang mit der Hinterglasmalerei ist in meinem Leben kein Zufall im üblichen Sinne, jedoch wörtlich ein mir Zufallendes. Denn im Glas habe ich es mit ‚Gefrorenem Licht‘ zu tun, wie mir im Scherz einmal ein Kollege sagte und die Zerbrechlichkeit des Materials meinte. Ich wünsche mir, dass ich nicht nur die Bilder und Kirchenfenster schaffen darf, sondern dass das ganze Leben mir wie durch ein Glasfenster anschaubar wird. Das Glas ist für mich wie das Wasser das Zeichen für die Zeit, ein marianisches Erlebnis. Denn erst die Gottesmutter, die auf dem silbernen Mond steht und den Erlöser durch die Welt trägt, lässt für uns die Quelle als Zeit fließen.“11 Sein Freund Erwin Birnmeyer arbeitete heraus, welche Perspektivenwechsel diese Maltechnik fordert: „Erich malt hinter Glas. Das bedeutet, dass das Ergebnis seines Tuns auf der anderen Seite des Glases zum Vorschein kommt. Er malt also gleichsam durch das Glas hindurch, er hat immer ‚die andere Seite‘ im Blick, des Glases sowohl als der Weltdinge überhaupt. (…) Es findet also eine ‚Umkehrung‘ konzeptueller Art statt, die auf dem Durchscheinen der Materie Glas beruht und darin ein ‚Durchschauen‘ der Weltdinge ermöglicht. Hier werden alle Dinge auf eine künstlerische Weise ‚transparent‘. (…) Und die Umkehrung geht noch weiter: jedes Bild wird ‚seitenverkehrt‘ (…). Was Anfang war, (…) wird Ende, was Weg war, wird Ziel. (…) 8 Ulrike MEYER nach Gedanken Erich Schicklings: Erich Schickling malt, um zu erleben, in: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 82–86, hier 82. 9 Ulrike MEYER (Hg.): Katalog Erich-Schickling-Stiftung Nr. 4, Memmingen 2012, 44. 10 Thea LETHMAIR: 1984, in: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 8 f., hier 8. 11 MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 22.

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Damit werden die Wesenheiten von Alpha und Omega neu erfahrbar – und das Glas wird zu einem Brückenbauer, zu einem pontifex zwischen hier und dort.“12 4.4 Seine Bildsprache

Manche Bilder Schicklings tun sich der Betrachterin bzw. dem Betrachter unmittelbar auf. Die Motive sind vertraut, die Bilder bewegen besonders durch die Intensität der Farben, aber auch durch die Dynamik der Formen, wie viele seiner Blumen- und Landschaftsbilder. In den biblischen Bildern berührt immer wieder die Unmittelbarkeit der Gesichter und Szenen. Andere Bilder brauchen ein Vertrautwerden mit seiner Bildsprache, mit der Bedeutung einzelner Gestalten, Motive, Elemente, Farben, ihrer symbolischen Kraft. Diese ist oft verankert in menschlicher Archetypik, wie sie uns in Märchen oder in Mythen begegnet, aber auch in der Bibel. Sie ist die Basis auch von Zahlensymbolik oder Sprachsymbolik. Erich Schickling wurde die jüdisch-kabbalistische Tradition über Friedrich Weinreb zugänglich. Hauptquellen in der Motivik waren für Schickling die Bibel, die antike Mythologie, insbesondere die Odyssee, die Dichtung, insbesondere Hölderlins, und die hebräische und tschechische Sprache, die er sehr assoziativ heranzog. Es bewegten ihn dabei Grundfragen menschlicher Existenz. Verbindungen zwischen diesen sehr verschiedenen Welten eröffneten sich ihm meist aus dem Innersten seines Menschseins im Träumen. Manche seiner wichtigsten Bilder kündigten sich durch Träume an, ohne dass er dies sofort so verstand. Oft erkannte erst später die Nähe zum Traum und staunte darüber. Der Traum wirkt ins Leben hinein. Seine Wirkmacht und Wirklichkeit ist größer und tiefgründiger, als es die Begrenztheit unserer Deutungen zu fassen vermag. Ihn durch Denken einfangen zu wollen, wäre eine Entwertung. Oft zitierte Erich Schickling Hölderlins Wort: „O ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt.“13 Von grundlegender Bedeutung für seinen Lebensweg, zugleich ihm selbst ein Rätsel, ist ein Kindheitstraum, der Traum von Pickau.

5. Erstes Bild. „Der Traum von Pickau“14 (Taf. 8) Als Erich Schickling sieben und acht Jahre alt war, hatte er einen Traum. Was schwer begreiflich ist, dieser Traum begegnete ihm im Folgejahr noch einmal: Es war Weih12 Erwin Birnmeyer, „Wasser, du Wasser“, 1986, in: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 21. 13 Friedrich HÖLDERLIN (1770–1843): Hyperion, oder der Eremit in Griechenland, Bd. 1, 1. Buch, 2. Brief Hyperions an Bellarmin, Stuttgart 1961, 10. 14 Siehe dazu die Beschreibung des Traumes im Katalog: Ulrike MEYER (Hg.): Erich-SchicklingStiftung Nr. 3, Memmingen 2004, 18. Ich beziehe mich darauf und auf weitere Aussagen von Frau Ulrike Meyer.



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nachten 1931. Ganz erfüllt vom Heiligen Abend ging das Kind schlafen, und es geschah ihm ein Traum. Er sah den Lichterbaum, den seine Mutter geschmückt hatte, vor sich: hell erleuchtet, wunderbar. Dies schenkte ihm höchste Beglückung. Er spürte zugleich, dass er auf dem Bett lag, der Liege. Diese Liege hatte die vier Pfosten, das war ihm im Bewusstsein. Da nahm der Traum eine Wendung, die ihn erschreckte: Er spürte, dass unter der Liege etwas Gewaltiges war. Er schaute hinunter, und da sah er eine rote Kuh. Indem er sie erblickte, stieß sie ihm mit dem Fuß in die Brust, so dass ihm die Luft wegblieb und er schweiß gebadet erwachte. Der Traum hinterließ beim Kind Erich einen nachhaltigen Eindruck, ja eine innere Furcht. Die Furcht bestätigte sich, denn der Traum kehrte ein Jahr später wieder. Die Furcht verwandelte sich ihm ein Leben lang in Ehrfurcht vor diesem Geschehen.15 Später bestätigte Erich Schicklings Schwester Erna, dass Erich als Kind diesen Traum seinen Eltern erzählte, aber niemand ihn so richtig ernst genommen habe. 5.1 Zur Deutung des Traums aus der Begegnung mit der jüdischen Mystik

Der Traum bewegte Erich Schickling tief. Für das, was ihm geschah, drängt sich mir Rudolf Ottos Beschreibung der Erfahrung des Heiligen auf: fascinosum et tremendum – ein faszinierendes und erschreckend-erschütterndes Geheimnis. Über viele Jahre hinweg fand Erich Schickling keine Deutung. Insbesondere trieb ihn die rote Kuh um. Was sollte sie, was sollte dieses Geschehen bedeuten? Immer wieder befragte er theologisch und literarisch versierte Freunde, auch den Schriftsteller Arthur Maximilian Miller. Doch erst Anfang der 1980er-Jahre erhielt er von Friedrich Weinreb einen Deutungsansatz. Friedrich Weinreb (geboren am 18. November 1910 in Lemberg/Lwiw, Österreich-Ungarn; gestorben am 19. Oktober 1988 in Zürich) war ein jüdisch-chassidischer Erzähler und Schriftsteller. Er beschäftigte sich vor allem mit der Auslegung des biblischen Wortes. Voraussetzung für ein tieferes Verständnis der Bibel ist ihm die Anerkennung der hebräischen Sprache als Ausdrucksgestalt grundlegender Wahrheit. Es ist ein auf die jüdische Überlieferung und Mystik zurückreichendes Schriftverständnis. Dabei kommen vor allem kabbalistische Überlieferungen zum Tragen, die einen Zusammenhang zwischen Wort und Zahl aufzeigen. Daneben beschäftigte er sich auch mit psychologischen, soziologischen und medizinischen Fragestellungen aus spiritueller Sicht. Aufgrund seiner intensiven Kontakte mit dem Christentum, dem Islam und den östlichen Religionen lag Weinreb viel am Dialog zwischen den Religionen. Das führte ihn jedoch nie zu einer Relativierung seiner eigenen jüdischen Herkunft. Vielmehr zeigt sich nach Weinreb die Zusammengehörigkeit aller Religionen 15 Aus seiner späteren Beschäftigung mit Mythologie und Bibel und den Deutungen Friedrich Weinrebs ordnete Erich Schickling diese Doppelung des Traums ein: Das Jüngste sei immer doppelt, wie die Geburt der Zwillinge Jakob und Esau.

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gerade da, wo man der eigenen religiösen Tradition intensiv bis auf den letzten Grund nachgeht.16 „Er stellt das Erlebnis der biblischen Symbolsprache auf eine überkonfessionelle Stufe, indem er zeigt, wie die biblische Symbolwelt die ewigen Ur-Bilder des menschlichen Innenlebens enthält. Diese Bilder sind von den verschiedensten religiösen und philosophischen Traditionen her ansprechbar. (…) Weinreb meint, dass, wenn wir die Bibel erleben, ‚wir alle wie Träumende‘ sind (Psalm 126,1). Träume machen uns eins mit dem Geträumten, und Traumbilder sind oft befremdlich. Ihr Zeichencharakter muss gedeutet werden, und ‚deuten‘ ist im Hebräischen identisch mit ‚heilen‘.“ 17 Durch Weinreb erfuhr Erich Schickling von der besonderen Bedeutung des Stieres in der jüdischen Mystik: „Es ist eine alte Überlieferung, dass unter dem Zeichen des Stiers diese Welt sichtbar wird. In der Hieroglyphenschrift, die man benutzte, um nicht die heilige Schrift zu benutzen, kam diese Form des Stierkopfes mit den Hörnern zum Ausdruck“18: Der erste Buchstabe im Hebräischen, das Alef, bedeutet Stier/Stierhaupt. Auch das hebräische Schriftzeichen ‫ א‬basiert auf dem Stierhaupt. „Das Alef birgt ein tiefes Geheimnis. Es spricht von den zur Harmonie gekommenen Gegensätzen, es ist das Grundprinzip aller Buchstaben; alle Buchstaben fangen gewissermaßen mit dem Zeichen Alef an, gehen aus ihm hervor.“19 Weinreb erinnert auch daran, dass in der Vision des Ezechiel eines der vier Lebewesen, die er am Thron Gottes stehen sieht, ein Stier ist (Ez 1,4–11). Das Alef ist im Hebräischen ein Konsonant, der nicht gesprochen wird, ein Knacklaut, der tief aus der Kehle kommt. „In der Welt der Zahlen ist Alef daher Zeichen für die Eins; denn die Eins existiert eigentlich gar nicht in unserer Welt. Wir kennen nur Teile eines Ganzen, wo zwar auch 1, 2 oder 3 vorkommen, nicht aber etwas, das in dem Sinne eins ist, dass es Gegensätze wie Tod und Leben umspannt.“20 Das Alef ist das Schweigen. „als unsichtbare Einheit von allem Sagbaren symbolisiert er [der Konsonant Alef] das große Schweigen hinter allem Gesagten. Obwohl die alles umfassende Einheit der ‚Schöpfung im Wort‘ nicht erscheinen kann, ist das unhörbare Alef doch ein Teil der verbalen Struktur der hebräischen Sprache. Es ist also zugleich 16 Zur Einführung siehe Eugen BAER: Ewiges Leben im Wort. Eine Einführung in Leben und Werk von Friedrich Weinreb, Zürich 2010. 17 Eugen BAER, Vorwort: Sich dem Wort anvertrauen, in: Friedrich WEINREB: Zahl, Zeichen, Wort. Das symbolische Universum der Bibelsprache, Zürich 6. Auflage 2011, 7–11, hier  7. Christian Schneider (gestorben 2010), Weinrebs Herausgeber, war dem Hause Schickling freundschaftlich verbunden. 18 WEINREB (wie Anm. 17), 87. 19 WEINREB (wie Anm. 17), 87. 20 WEINREB (wie Anm. 17), 86.



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‚hier‘, im Erscheinenden, und auch ‚dort‘, im Wesentlichen und Verborgenen. Mit dieser Doppelstruktur veranschaulicht dieser Buchstabe deshalb zugleich das ideale Verhalten des Menschen, der – wie Weinreb oft betont – zugleich im Ewigen und in der Zeit daheim sein muss“.21 Auf der Basis dieser Interpretation erkannte Erich Schickling die rote Kuh als Symbol des Göttlichen. Das Geschehen des Traums sagte ihm: Es ist das Göttliche, das uns vom Innersten, von unserem Herzen her stößt, das uns durch das Leben hindurch stößt, das uns den Atem gibt und nimmt. Der Stier stößt uns, damit wir den Himmel nicht verfehlen.22 Wiederholt formulierte er dies im Gespräch. Auch die rote Farbe erschließt sich ihm aus der Welt jüdischer Mystik, wie sie Weinreb tradierte: Die rote Farbe symbolisiert die Kraft Gottes in der Welt, aber auch den Missbrauch von Kraft und Macht. Sie habe auch mit den Schmerzen zu tun, auch mit den Schmerzen Mariens.23 5.2 Zur Ikonographie24

Dreimal hat Erich Schickling den „Traum von Pickau“ gemalt. Zweimal als Hinterglasbild und ein drittes Mal 2003 großflächiger in Mischtechnik auf Holzfaserplatte. In Farbigkeit und Motivik greift er auf Traditionen christlicher Ikonographie und auf die jüdische Kabbalistik zurück. Das Rot ist die dominierende Farbe des Bildes; vom Roten geht die Dramatik des Bildes aus. In der Mitte steht eine Frauengestalt, Kopf und Brust in Blau und Weiß. Sie hält mit ihren Armen ein Kind empor. Es steht im gleichen hellen Weiß wie die Frau, noch überlegt mit der Farbe gelb-gold. Von hier geht das Licht aus; es ist wie der Sonnenpunkt. Das Gelb-gold findet sich auf dem Bild nur noch an wenigen Stellen: am Gürtel der Frau, an den Hörnern der Kuh und bei Elementen, die das Göttliche in den vier Medaillons signalisieren (dem Zepter des Engels Gabriel bei der Verkündigung sowie dem Wanderstab Josephs bei der Geburt 21 BAER (wie Anm. 17), 10. 22 Auch hierfür findet Schickling Stütze in der jüdisch-kabbalistischen Mystik: Der Buchstabe Lamed bedeutet Ochsenstachel. „Der Ochse, der da angestachelt oder auch zurückgehalten wird, ist eigentlich der Stier, mit dem diese Welt anfängt. (…) Mit Kaf, der schaffenden Hand, hob es in der Zehnerreihe neu an, mit Lamed, dem Ochsenstachel, setzt diese Hand den Stier in Bewegung: Die Zeit, Mem, entsteht, und mit der Zeit das Leben in der Welt als dem Sinn der Zeit, Nun.“ (WEINREB, wie Anm. 17, 91 f.) 23 In der Kabbalistik ist die Farbe Rot auf dem Weltenbaum der fünften Sphäre, Geburah, zugeordnet, die Stärke, auch Härte, Furcht, Gerechtigkeit oder Wille genannt wird. „In Geburah ist die Macht und der Missbrauch von Macht angesiedelt, das Durchsetzungsvermögen und die Beharrlichkeit, aber auch die Rücksichtslosigkeit und die Sturheit.“ Gerd SCHERM: Die poetische Kabbala. http://www.scherm.de/kabbala/ (25.4.2016). 24 Das Hinterglasbild findet sich abgebildet im Katalog MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 51. Zur ikonographischen Analyse/Interpretation des „Traums von Pickau“ siehe Ulrike MEYER (wie Anm. 8).

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Jesu, dem Kind selbst in der Geburts- und Tempelszene, den Hörnern des Ochsen, und beim Altar, auf dem das Jesuskind dargebracht wird). Die Füße des Kindes stehen auf einer grünen Fläche – die Farbe grün steht für die „viriditas“, die Grünkraft. Die „Viriditas“ (zugrunde liegt das lateinische Wort viridis – grün) ist der von Hildegard von Bingen gebildete lateinische Begriff für Grünkraft; sie bezeichnet damit eine Grundkraft in der gesamten Natur, also bei Menschen, Tieren, Pflanzen, Mineralien, die Leben und damit auch Heilung schenkt.25 Als Farbe für die belebende und Leben schenkende Kraft versteht sie Schickling auch als die Farbe für Pfingsten, für den Geist, der lebendig macht und die Wahrheit erkennen lässt. Unschwer ist hier die Gottesmutter mit dem Jesuskind zu erkennen, das sie emporhebt. Blau ist die Farbe für Maria auch bei den kleinen Szenen in den Medaillons des Bildes. Das Blau – die traditionelle Farbe für das Kleid Mariens – ist die Farbe des Wassers. Mit dem Fließen des Wassers sieht Schickling auch das Fließen der Zeit verbunden. So symbolisiert für ihn Blau auch das Fließen der Zeit, die Zeitlichkeit, unsere irdische Existenz. Maria ist verstärkt und gedeutet durch die Farbe weiß: Gleichsam ein weißes Kleid ist über das Blau der Maria gelegt. Weiß ist in der Liturgie die Farbe des Lichtes und wird daher zu den Hochfesten wie Weihnachten oder Ostern getragen. Gleichzeitig gilt physikalisch: In der Transparenz des normalen Lichtes sind alle Farben gebündelt. Für Erich Schickling gilt: „Im Weiß schenken sich alle Farben.“26 Schickling erinnert sich dabei auch an das weiß leuchtende Gewand Jesu auf dem Berg Tabor. Das Weiß steht für das göttliche Urlicht, das Jesus dynamisch umstrahlt und seine Kleider strahlend weiß erscheinen lässt (vgl. Mk 9,3). In Weiß malt Schickling auch eine dynamische Form, die das Bild dominiert: nach oben geöfnet die Sichelform, die Marias Oberkörper- und Kopf umschließt; wie die Flügel eines Engels, die gleichzeitig so mit ihr verbunden sind, dass sie auch die zur Orante erhobenen Arme Mariens sein könnten. Nach unten hin ist das Weiß wie ein bis zu den Füßen reichendes Kleid. Pointiert in der Mitte ist das Kleid unter dem Nabel wie mit einem goldenen Gürtel gebunden und hinein verwoben in das Rot des Hintergrundes mit einer sehr auffallenden Form. Ulrike Meyer erinnert sich, dass Erich Schickling aufgrund eines Besuches bei seinem Freund Peter Sandmann, der sich als Psychotherapeut intensiv mit den Archetypen C. G. Jungs und den Symbolen der Völker beschäftigte, das altägyptische Zeichen für Leben hier einbezog: das Anch.27 25 Vgl. Gabriele LAUTENSCHLÄGER: „Viriditas“. Ein Begriff und seine Bedeutung. In: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag, hg. v. Edeltraut FORSTER u.a., Freiburg–Basel–Wien 1998, 224–237. 26 Ulrike Meyer nach Gedanken Erich Schicklings. Ulrike MEYER (wie Anm. 8), 84. 27 Mündliche Aussage von Ulrike Meyer. Dieses Zeichen ist gleichzeitig wie eine Verbindung des althebräischen Zeichens Taw, einem Kreuz, mit dem hebräischen Koph, dem Nadelöhr: ‫ק‬. In der kabbalistischen Deutung symbolisiert die Verbindung von beiden das Paradies, für das es kein eigenes sichtbares Zeichen gibt. Friedrich WEINREB: Buchstaben des Lebens. Das heb-



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Wo finden wir darin Erich Schicklings Kindheitstraum? Die Frau im Lichterkleid mit dem Kind symbolisiert das Lichtgeschehen von Weihnachten, wie es das Kind Erich im geträumten Lichterbaum sah. Maria ist offenbar der Lichterbaum kraft des göttlichen Kindes. erfuhr. Sie ist offenbar der Lichterbaum. Ihre Füße ruhen auf einer Mondsichel – das Bild aus der Apokalypse des Johannes (Offb 12,1). Doch auch diese Mondsichel hat eine weitere Valenz: die beiden Sichelspitzen sind gleichzeitig die Hörner einer ganz unten am Bildfundament liegenden roten Kuh. Die Lichtgestalt steht also auf der roten Kuh. Gedeutet mit der jüdischen Mystik sagt dies: Das Weihnachtsgeschehen ruht auf dem Urgeheimnis der Welt, auf dem Schweigen und der Ureinheit aller Dinge im göttlichen Geheimnis. Es entfaltet sich aus und in der Kraft Gottes, wie es das dominante Rot zeigt. „Nur im Schweigen ist dieses Geheimnis vernehmbar. Sichtbar vom Stier sind nur die Hörner, sie ragen im Bild in das Weiße hinein. Die Hörner sind wie der Mond das Zeichen des Wachsens und Abnehmens, auf dem die Gottesmutter steht. Sie ist die Herrin des Mondes, sie wacht über das Werden und Vergehen in der Zeit.“28 Eine Überlieferung besagt, „dass jeder Mensch als Kind den Urtraum von der roten Kuh träumt, nur vergessen wir ihn wieder.“29 Und wo ist das Bett, die Liege mit den vier Pfosten, die sich dem Kind so einprägte? Die vier Medaillons symbolisieren für Erich Schickling die vier Pfosten des Bettes, die Vierzahl der Elemente und Himmelsrichtungen, Zeichen für unser Ausgespannt-Sein in Zeit und Raum. Entsprechend zeigen die Medaillons auch klassische Szenen des Erscheinens des Göttlichen im Irdischen an Weihnachten: Beginnend oben rechts mit der Verkündigung Gabriels an Maria. Auffallend ist das goldene Szepter, das göttliche Wort, das der Engel spricht. Die Haltung der Maria ist das „Amen“ trotz ihrer Distanz haltenden Geste. Oben links findet sich die Begegnung von Maria und ihrer Base Elisabeth; die beiden tauschen die Freude über das Wunder neuen Lebens in ihnen aus.30 Unten rechts ist die Geburtsszene im Stall: Maria ganz in Blau, der Kopf des Ochsen und seine Hörner wieder in Gold, das Jesuskind in Weiß und Gold, ebenso der Wanderstab Josefs. Unten links ist die Darstellung Jesu im Tempel

räische Alphabet. Erzählt nach jüdischer Überlieferung, Textidentische Neuedition Zürich 2011, 141–144, 158–163. 28 MEYER (wie Anm. 14), 18. Dort findet sich eine Deutung, die besonders auf Marias Bedeutung eingeht. 29 Ebd. 30 Am Ort, an dem das Bild hängt, findet sich darüber ganz bewusst ein Glasfenster „der Rosengarten“. Verwurzelt in der Mystik war für Schickling alles Wortgeschehen solche Schöpfung: Nicht nur die Frucht, die sichtbar in die Welt kommt, sondern jedes Wort, das wir miteinander austauschen, ist diese Begegnung, die zwischen Maria und Elisabeth geschieht, geschieht uns diese Freude.

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zu sehen: das Jesuskind befindet sich in den Armen des greisen Simeon. Für Erich Schickling war die Erfüllung des langen Sehnens und des Hoffens des Simeon zentral. Hat man sich so in das Bild hineingesehen, so fällt die Bordüre unten am Lichterkleid Mariens auf, die nach außen reicht bis zur Vierheit der Medaillons. Sie hat die Wellenbewegung des Wassers, das Symbol für die Grundstruktur unseres Menschseins als zeitliche Wesen. Die schwarzen dynamischen Linien, wie der Rauch eines lodernden Feuers, verbinden und verstärken die Gestalten. Sie unterstreichen die beiden gegenläufigen Bewegungen: zum einen von unten nach oben, von der Basis der Vierheit, „der Liege“ des Traums, hoch in das fast geschlossene Rund der Lichtgestalt. Andererseits eine Abwärtsbewegung von den Schultern Mariens und dem Kind nach unten, wie ein Ergießen von Wasser in tiefgründigem Blau. Dies durchzieht auch diagonal von links oben nach rechts unten hintergründig das Bild, angedeutet durch die jeweiligen keilartigen Ausschnitte in den Ecken. 5.3 Zwischenergebnis

Erich Schickling ist ein vom göttlichen Geheimnis angerührter Mensch Zeit seines Lebens hat er diesem Mysterium der göttlichen Gegenwart in Raum und Zeit, nachgespürt. Er selbst schreibt: „Mir ist wichtig, den geheimen Sinn, der in uns angelegt ist, durch die Malerei zu erhellen. Unmittelbar ist immer wieder das Glas das Medium, welches mich fasziniert, nicht Abbilder zu schaffen, sondern im Gleichnis des Transzendenten in mir und in allem innezuwerden.“31 Mysterium, Traum und Wirklichkeit Seine Bilder seien „nicht ersonnen, nicht geschaffen, nicht komponiert, vielmehr ihm geschenkt worden“, pflegte Erich Schickling zu sagen. Dieses Geschehen, insbesondere auch im nächtlichen Traum war ihm für seine Bildsprache eine zentrale Quelle. Jedoch keineswegs in dem Sinne, dass er bewusst dem Traum nachgegangen wäre, ganz im Gegenteil. Das „Geschenk“ fiel ihm keineswegs in den Schoß, sondern musste hart errungen, erarbeitet und ausgehalten werden. Die schöpferische Unruhe und das Gefühl der Unzulänglichkeit währte und belastete sein ganzes schaffensreiches Leben. Das Bauen, das Pflanzen, das Gestalten seines „Tusculums“ an der Günz, wie es liebevoll ein Freund nannte, waren der immerwährende Gegenpol seiner meditativen Durchdringung der Bildthemen. Als Geschenk hat er im Nachhinein alles empfunden, was ihm gelungen war. Was den Traum betrifft, so war es für ihn ein großes Staunen, wenn am Ende eines Tages oder der Fertigstellung einer Arbeit ihm der Traum wie von Ferne in den Sinn kam und ihm die Beziehung aufzeigte zwischen Nacht und Tag, zwischen Traum und Wirklichkeit. Er selbst meint dazu: „mir sind die Bilder eine Verlebendigung dessen, 31 Erich Schickling, Vorwort, in: Meyer/Schickling (wie Anm. 6), 1.



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was uns im Leben begegnet. ‚Wasser, du Wasser‘ ist einmal als Element – [und er hat dabei täglich die rauschende Günz im Ohr und vor Augen] – und zum anderen als Erlebnis der fließenden Zeit gemeint.“32 Verbindung von Mythos und Logos Religion ist für Schickling, so formulierte es Ulrike Meyer, „nicht nur Rückbindung (religio) zum Ursprung, sondern vor allem Vergegenwärtigung. Die tausendfachen Beziehungen zwischen Traum und Sichtbarkeit, die ‚geheimen Liebesbande‘ (Hölderlin), die alles aneinander binden, wollen sich als Überraschung schenken.“33 „Absichtslos, doch sehnsuchtsvoll geht der Künstler in seinem Tun und kennt selbst nicht den Weg, das Bild, das er malt. Aus kindlichem Vertrauen auf das Geführtsein“ schenkten sich immer wieder seine Bilder, und oft erst später zeigten sich ihm Übereinstimmungen mit Texten, Gedichten, Traditionen.34 Die „Ein-sicht ist ein anderes Sehen, es geht nach innen hin, während unsere beiden Augen sich schließen. Wo der Verstand sich legt, erwacht die Weisheit. So kehren sich die beiden Realitäten in uns, die Tag- und die Nachtseite um, wenn wir sie aus neuer Perspektive betrachten. Der Blinde wird zum Seher, zum Teiresias. Der Schlafende wird zum Erwachten.“35 Formen und Farben Schickling sprengt mit den Farben die Konturen auf; die Farben greifen über die Konturen, Figuren verbinden sich dadurch. In der Formensprache sind Anklänge an Marc Chagall und an Pablo Picasso36 erkennbar. So wird das Zusammenspiel des Lebens, das Übereinander verschiedener Ebenen sowie ihr Ineinander ausgedrückt: als das Ineinander von Göttlichem und Menschlichem, wie auch als die Begegnung von Menschen, Kräften, Geschöpfen, etc. Darin deutet sich für Schickling die Tiefenstruktur unseres Lebens an: „Die Mystik, dem Mythos wesensverwandt, unterscheidet nicht wie die Wissenschaft zwischen den Gestalten, sondern sucht zu vereinen.“37 In der Farbgebung wie auch in Formen steht er dabei immer wieder in langen Traditionen: z. B. Blau als die Farbe Mariens, Grün als die Farbe der Hoffnung, Rot als die Farbe der Liebe und der Macht, die Verwendung von Medaillons.

32 MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 22. 33 Ulrike MEYER nach Gedanken Erich Schicklings, in: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 82. 34 Ebd., 83. 35 Ebd. 36 Vgl. auch die innere Korrespondenz von Picassos Guernica mit Schicklings Ostermorgen. Dazu Martin BRÜSKE: Guernica und der Ostermorgen. Erich Schicklings Traumgespräch mit Pablo Picasso, in: MEYER (wie Anm. 14), 30–35. 37 Ulrike MEYER nach Gedanken Erich Schicklings, in: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 83.

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Seine geistig-geistlichen Quellen Bibel, antike Mythologie, hebräische Sprache, Friedrich Weinreb, Friedrich Hölderlin, Romano Guardini, Eugen Biser Durch die Verbindung der Geschichten der Bibel, ihrer Gestalten und Erfahrungen, mit den Bildern der griechischen Mythologie und mit der Bildhaftigkeit der slawischen Sprache und – über Friedrich Weinreb – auch des Hebräischen, entsteht eine Bildsprache, die die Tiefendimensionen der Wirklichkeit erahnen, „schauen“ lässt. Es blättert sich die Vielschichtigkeit menschlichen Lebens auf: Das Hintergründige scheint durch, leuchtet auf. Neben der Bibel hatten die Irrfahrten des Odysseus für Erich Schickling eine besondere Bedeutung. Schon als Kind wurden sie ihm von seiner Mutter erzählt, ihre Bildwelt senkte sich tief in seine Seele ein. Vielleicht gilt auch für ihn, was eine mit Schickling etwa gleichaltrige Frau, Katharina Elliger, die ebenfalls aus ihrer Heimat vertrieben wurde, in Bezug auf ihre Erfahrungen (und zwar in Bezug auf ihre kindliche Liebe zum Kreuzweg) reflektierte: „Es muss einen Grund gegeben haben, warum ich so betroffen war, eine Affinität vielleicht, vergleichbar einem Kind, das ein bestimmtes Märchen liebt, weil es spürt, dass es etwas mit ihm zu tun hat.“38 5.4 Zur Bedeutung der Kindheitsheimat Pickau für Erich Schickling39

Wie eine Rätselfrage und erst recht aufgrund seines Traumes war und blieb für Erich Schickling der Name seines Heimatortes voller Bedeutung: Im tschechischen Ortsnamen „Bykov“ fand er das Wort býk, das Stier bedeutet, sein Heimatort heißt also „Stierort“.40 Zugleich war für ihn in diesem Ort die gelebte Kindheit gesammelt, die er mit nichts eintauschen wollte.41 Schon früh zeigte Erich auch Talent im Malen; 38 Katharina ELLIGER: Eingraviert. Reflektierte Erinnerungen an Flucht und Vertreibung aus Schlesien, Münster 2015, 83. 39 Diese Ausführungen beruhen auf den Kenntnissen von Ulrike Meyer, die sie im Juli 2015 per Diktat festhielt. 40 Aus Schicklings Gedicht „Pickau“, das er 1982 unter dem Eindruck seines ersten Besuches in der Heimat seit der Vertreibung 1946 schrieb, sei der Ausschnitt zitiert, der diesen Traum beinhaltet: „Ist es Zufall, daß unser Dorf vom Stier her / seinen Namen hat? / War nicht aus seiner Herde eine rote Kuh / einst im Kindertraum? / Sie stieß mich heftig unterm Bett, gerade da, als mir der / Traum mein schönstes Bild erfand: / Es war der Lichterbaum im Farbenfenster. / Warum zeigt mir im Jahr darauf / der Traum das gleiche Bild noch einmal, / von dem mir so bange war? / So ist das jüngste uns immer doppelt nah, / wie Tod und Leben, Licht und Finsternis. / Der ewige Vater wartet uns nicht anders / als im Hier und Jetzt entgegen.“ MEYER (wie Anm. 14), 18. 41 Der Vater Josef Schickling, ein Zimmermann, der aus ärmlichen Verhältnissen nach Pickau gekommen war, wurde dort zu einem angesehenen Mann: Er war nicht nur handwerklich geschickt, sondern auch musikalisch, kulturell und politisch engagiert. Er gab Klarinettenunterricht, bildete



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sein Grundschullehrer wurde darauf aufmerksam und stellte einige seiner Bilder im Schulgebäude aus, so das Bild der Rose und ein Bild des Leiermanns, der gelegentlich durch das Dorf zog. Die Erzählungen der Mutter waren wohl die tiefsten Quellen für Erich Schicklings Schaffen. Sie war eine tiefgläubige Frau bäuerlicher Herkunft, immer hilfsbereit, wenn Menschen in Not waren. Eine große Ehrfurcht vor der Sprache gab sie ihren Kindern weiter: abends auf der Ofenbank erzählte sie Märchen, die Josefsgeschichte, die Irrfahrten des Odysseus und Gedichte über Gedichte. Schon früh lernte Erich Schickling auch Tschechisch, denn der Vater hatte einen guten tschechischen Freund in Majetin bei Brodek, Südmähren; beide Familien pflegten in den Ferien die Kinder gegenseitig zu beherbergen. Als nach Hitlers Machtergreifung ein großer Schnitt durch das Dorf ging, zog sich die Familie Schickling zu diesem Freund zurück, um dem Hass und den Entzweiungen im Dorf zu entkommen – sehr zum Leid der Mutter, die kein Tschechisch konnte. Nach einer Lehre bei einem Maler in Jägerndorf/Krnov, wo er die Schränke bemalen durfte, kam er vor Kriegsausbruch auf Vermittlung durch seinen Bruder Walter für ein Jahr an die Kunstakademie nach Brünn: Hatte er zunächst den Umgang mit Farbe von der handwerklich-künstlerischen Seite her gelernt, so erhielt er hier eine solide künstlerische Schulung nach den Modellen der Reproduktion, hatte aber auch die Möglichkeit, sich mit Kunstgeschichte, Philosophie, Geschichte und Latein zu beschäftigen; im Selbststudium wollte er sich möglichst viel Bildung aneignen. Nach dem Kriegsdienst 1942 bis 1945 erlebte er den Sommer 1945 bei einem Bauern in Tirol; nach einem wagemutigen Rückweg zu Fuß erreichte er Ende 1945 oder Anfang 1946 Pickau. Im Sommer 1946 wurden sie vertrieben. Sie kamen in die Gegend um das Kloster Ottobeuren mit seiner imposanten Basilika.

6. Zweites Bild. „Brennende Basilika“ (Taf. 9) Wiederum ist die dominante Farbe des Bildes rot, allerdings aufflammend wie vor einem nachtschwarzen Himmel. Die Farbe Schwarz hat markantes Gewicht. Deutlich findet sich das Motiv des Lichterbaumes wieder, jedoch nicht zentral und groß in der Mitte, sondern viele helle Bäume, duftig leicht an den Rändern der Basilika; weiß in Mischung mit Blau, besonders markant vor dem schwarzen Hintergrund. In die Architektur der mächtig sich aufrichtenden Fassade der Ottobeurer Basilika mit ihren Türmen, weithin sichtbar über das Land, schiebt sich mit Wucht im unteren einen Chor, baute eine Bibliothek auf und studierte Theaterstücke ein, u. a. Schillers Wilhelm Tell. Als Sozialdemokrat erreichte er auch eine politisch führende Stellung als Rat in Pickau.

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Drittel des Bildes gleichsam ein schwarzer Riegel, verbunden links durch ein schwarzes Tor mit den anderen schwarzen Portalbögen der Basilika. Wirkt dieser Riegel zunächst wie der hohe Treppenzugang zur Basilika oder wie ein gefällter Baum, der zu einem Joch geworden ist mit der Jochmulde in der Mitte, aber nach oben geöffnet – hin zu den schwarzen Bögen der Basilika – so bringt der genauere Blick eine Überraschung: quer wie die Zugangsstufen liegt ein Mönch im schwarzen Habit der Benediktiner, die hier seit dem 8. Jahrhundert leben. Er erscheint wie zu Boden geworfen, mit den Armen und dem Kopf sich auf den Boden stützend. Das Gesicht des Mannes mit Bart, das gehüllt ist in die schwarze Kapuze des benediktinischen Habits, ist hell, ebenso wie die Hände. Sie wirken wie von demselben Stoff und derselben Farbe, in ihrer Grazilität und Bewegung gleichen sie den wehenden Lichterbäumen. Kopfüber, von unten her, schaut der Mönch auf die Basilika und es wird deutlich, dass es diese Perspektive ist, aus der das Bauwerk, das Bild gemalt ist. Gesicht, Blick und Hände des Mannes korrespondieren mit einer auf einem Bein knienden Gestalt am rechten unteren Bildrand. Sie setzt die Lichterbäume nach unten fort, ganz in der roten Farbigkeit der Basilika und dem Weiß des Lichtes. Mit einem weißen Arm zeigt sie dem Mönch eine blau-weiß flammende Kerze; den anderen Arm in schwarz streckt sie ihm wie einen Bruderarm entgegen. Der Mönch schaut in die Richtung, nur ein Auge scheint offen, das andere geschlossen: ein-sichtig.42 Die Gestalt mit der Kerze wirkt wie eine Frau. Es ergibt sich gleichsam ein tiefgründiges, inniges Gespräch zwischen Mönch und dieser Licht tragenden Frauengestalt.43

7. Zur Deutung Auf der Basis der Symbolik und eigener Deutungen Schicklings legt sich mir folgende Deutung nahe: Die Farbe Schwarz ist in der jüdischen Mystik der Sphäre des Verstehens zugeordnet, es ist die dritte Sphäre des Weltenbaums, Binah. Von der göttlichen Weisheit empfängt sie und gibt. Sie umfasst Empfangen und Geben, Geburt

42 Was ihm dies bedeutet, formulierte Schickling: „Die „Ein-sicht ist ein anderes Sehen, es geht nach innen hin, während unsere beiden Augen sich schließen. Wo der Verstand sich legt, erwacht die Weisheit. So kehren sich die beiden Realitäten in uns, die Tag- und die Nachtseite um, wenn wir sie aus neuer Perspektive betrachten. Der Blinde wird zum Seher, zum Teiresias. Der Schlafende wird zum Erwachten.“ MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 83. 43 Ulrike Meyer wies mündlich darauf hin, dass Schickling darin auch die Erfahrung des Malers Giacomo Amigoni, des begabtesten Malers, den Abt Rupert Ness zur Ausstattung der Klostergebäude von Ottobeuren gewinnen konnte, festgehalten hat: Es geht um die Hingabe mit der ganzen Person, bis hinein in das Träumen und Sehnen, auch die Sexualität integrierend. Vgl. die romanhafte Zeichnung bei Arthur Maximilian MILLER: Der Herr mit den drei Ringen, Freiburg i. Br. 1960, 350–417, besonders 356, 361–363.



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und Tod, Zeitlichkeit mit den Erfahrungen von Leid und Trauer, der Ursprung des Glaubens und Vertrauens.44 Die Macht des göttlichen Geheimnisses, das nicht gebändigt werden kann – in der Farbe Rot wie bei der roten Kuh präsent –, brennt in der Basilika – es ist gleichzeitig das Feuer menschlicher Gottessehnsucht und Gottsuche, das hier seit Jahrhunderten lodert, umleuchtet vom leichten Hauch der göttlichen Lichterbäume, weiß mit blau gemischt: die Farbe des Urlichtes in Verbindung mit der Farbe von Zeit und Raum. Die Joche des Kirchenbaus führen materiell ins Innere, hin zum Altarraum: Sie sind ebenso wie der in der Form eines Joches davor liegende Mönch schwarz. So führen uns auch die Joche unseres Lebens, die Joche, die uns das Leben auferlegt, die uns auch umwerfen, in das Innere, zum Geheimnis unseres Lebens.45 Die Figur des Mönchs erscheint hier nicht in der gewohnten Haltung, sondern er liegt am Boden, die Hände wie noch sich abfangend beim Fallen, den Kopf eingerollt, eingezogen in die Mönchskapuze: Nicht aus der Vertikalen, sondern in der Horizontalen und von unten her blickt er – ein demütiger, wohl auch schmerzvoller Perspektivwechsel. Im Zu-Fall-Kommen, in der Lebenshingabe – in der liturgischen Form der Prostratio (sich hinwerfen auf den Boden) von den Mönchen bei der Einkleidung, aber auch bei liturgischen Vollzügen symbolhaft geübt – eröffnet sich der Zugang: wie die Stufen einer Treppe, die zum Portal und über die Kirchenjoche zum Inneren des göttlichen Raumes führt. Zugleich erinnert dieses dominante schwarze Joch auch an das Joch, das Tieren, insbesondere Ochsen und Kühen aufgelegt wurde, um sie für ihre Arbeit, die Aufgabe, die ihnen gerade aufgetragen wird, zu richten. Die schwarze Farbe, die diesen Weg bestimmt, die auch den Nachthimmel markiert, mag für das Dunkel vieler Erfahrungen in der NS-Zeit, in Krieg, Vertreibung und auch immer wieder im Leben stehen. Aber es gibt Wegweisung (die Gestalt mit Kerze), es gibt die innere Sehnsucht, den treibenden göttlichen Stachel. Aus dem Dunkel heraus steht flammend die Basilika Ottobeuren: ein Ort der Gottsuche, der Präsenz des göttlichen Geheimnisses. Die Bäume seitlich erscheinen wie säumende Lichterbäume. Unten schwarz die Höhle: bei Schickling häufig ein Symbol für das Eingangstor des Todes. Der Maler hat aus der Heimat offenbar den Weihnachtstraum als prägend mitgenommen. Dieser hatte ihn sehr erschreckt; der Schrecken sitzt als Erfahrung auch im Bild der brennenden Basilika. Zugleich war ihm der Traum Anstoß 44 Gerd SCHERM: Die poetische Kabbala. http://www.scherm.de/kabbala/ (25.4.2016). Sie „ist also das urweibliche Prinzip. Diese Sefirah wird deshalb häufig mit der Urmutter und mit Gaia, der Ur-Erdgöttin gleichgesetzt. Ein anderer Name für Binah ist auch die höchste Mutter, die Farbe dieser Sphäre ist Schwarz.“ 45 Dieser Teil der Deutung orientiert sich an einem Gedicht, das Schickling etwa zeitgleich (1981) schrieb und im Katalog neben dem Bild abgedruckt ist; MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6): „Uns aber lass bauen hier am gemeinsamen Schiff / und wölben die Kuppel, in deren Mitte Dein lieber Sohn / mit ausgespannten / Armen auf uns wartet, / Indes Du führst durch Seine Liebe / uns die Joche nach innen.“

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zum Suchen, einer tiefen Sehnsucht. Sein Heimatpfarrer scheint den jungen Mann in dieser Hinsicht gekannt zu haben. Er weist ihn an einen Ort geistlichen Lebens und auch wunderbarer Architektur. Zentral ist für Schickling das Feuer der Sehnsucht und der Liebe, die Erfahrung, ersten Angerührtseins. Die flammende Basilika ist auch ein Bild für die flammende Gottessehnsucht des Künstlers. Die Lichterbäume stehen für ein Heimatgefühl, das transzendent geöffnet ist, durchlichtet und in feiner Bewegung. Das Moment des Lichterbaums als Bild für eine tiefe Berührung und eine Einsicht und „Erleuchtung“ findet sich in der Folge in vielen Bildern Schicklings, zentral auch in einem seiner Hauptbilder, dem „Ostermorgen“ in homerischer Analogie.46 Ernst Blochs eingangs zitiertes Wort bewahrheitet sich bei Schickling: ein Licht, das ihm in die Kindheit schien als Lichterbaum und zugleich ein mächtiger Stoß ins Herz (durch die rote Kuh) prägen als Sehnsucht und anfanghaftes Lichtglück seine Lebensspur. Heimweh treibt ihn. Dieses ist bestimmt einerseits vom Glück schon erfahrener Beheimatung im Ausgespanntsein in die Vierheit von Raum und Zeit, sowohl in der Kindheit wie auch in Erfahrungen göttlicher Präsenz, andererseits von der Offenheit der Suche, von der Sehnsucht im Dunkel der Lebenserfahrungen, auch eigenen Versagens. Ein Gedicht Schicklings bündelt Erfahrungen aus den Jahren, die ihn dann nach Ottobeuren führten. Die Metaphorik entspricht dem Bild „Brennende Basilika“: Wie durch Zufall Kristalle sich verdichten und fügen, So wächst im Bild uns eine Mitte zu, Ich fand dich hier, weil deiner Glocken Klang, Mein inneres Ohr zuvor erreichte und mich führte. Denn die Merkmale tragen wir immer an uns. Urtümliches wie auch die Herberge. Wir selber kennen uns wenig. Drum zieht uns barmherzig die Liebe Zum Haus, in dem das Große wohnt. Es muss sich in der Flamme offenbaren. Ein Feuer, das vom Himmel stammt, Brennt nicht umsonst. Noch eh der Weg zu Ende ist, Kann ein Schatten dir dein Wort verdunkeln, Oft gar zu schnell vergisst der Satte dann In seinem Übermut das Mitgehen seines Vaters. (…) In solcher Finsternis der Nacht, – was Ungeheuer, sollst du nur bedeuten – von Schmerz und Weh gewürgt, ins Bodenlose sinkend, 46 Siehe dazu die Abbildung und Beschreibung in MEYER (wie Anm. 14), 30–35.



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wo nur der Schrei noch stimmt, erbarmt die Zeit sich und die Qual wird stumm von nie erkannten Leiden. Oft ist mir dann auch kaum bewusst, dass mich gewendet hat der Unbekannte; dass vom Heimweh wetterleuchtend meiner Seele Feuer ziehn. Und ihr Sterne, meine Tränen, keine von euch Heiligen leuchtet mir zu viel, aus dem Dunkel tiefer Stille.47

Das Gedicht eröffnet ein weiteres Verständnis der Lichterbäume des Bildes: das wetterleuchtende Heimweh der menschlichen Seele. Dieses Motiv zieht sich durch bis zu einem Bild, in dem Schickling seine neue Heimat in Eggisried malt und in einem anderen Gedicht beschreibt.48

8. Drittes Bild. „Maria vom Berge Karmel“49 (Taf. 10) In dieses Bild brachte Erich Schickling eine Zeichnung ein, die er als 22-jähriger 1946 vierzehn Tage, bevor er seine Heimat verlassen musste, anfertigte. Sie ist als Aquarell erhalten in der Schickling-Stiftung. Er zeichnete detailliert den Blick auf die Pickauer Dorfkirche und das gegenüber liegende Pfarrhaus. (Abb. 2) Später reflektierte er dies: Er habe fein gezeichnet, wie Dürer den Hasen oder ein Rasenstück, da ihm jedes Blättchen am Baum wichtig war in dem Bewusstsein, es nie mehr wieder zu sehen. Diese Kirche war seiner Mutter lieb, besonders das Altarbild: Maria vom Berge Karmel.50 Als Jahre später seine zweite Tochter Veronika in den Karmel eintrat, bewegte ihn die Frage nach der inneren Verbindung zwischen seiner Mutter und Tochter in der Familie. So gestaltete er das Hinterglasbild „Maria vom Berge Karmel“. Er nahm die 47 In: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 38. 48 Bild „Der Apfelgarten!“, in: MEYER /SCHICKLING (wie Anm. 5), 37 sowie auf S. 36 Ausschnitte aus einem Gedicht: „Geladen finden wir zum Gastmahl unseres Lebens uns, / und überall aus der verborgenen Wurzel blüht / dir dein Eigentum, dein Paradies entgegen. / (…) Doch vieles geschieht uns während der Arbeit; / Wenn wir die Engel, die in uns wirken / Nicht daran hindern, wächst von den Bäumen, den lebendigen, / die um die Häuser wir pflanzen, das Leben uns zu. / Sie umstehn unser Wohnen und strecken flammend / Wie Wächter begehrend zum Himmel die schützenden Äste. / So möchte uns finden der allerwartende Vater, / der sich in Seiner Schöpfung liebend verbirgt. / Es ist ja Sein Wesen, mit Seinem Atem sich selber zu schenken.“ 49 Eine Abbildung findet sich in: MEYER (wie Anm. 14), 25. 50 Ich danke Frau Ulrike Meyer für diesen Hinweis.

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alte Zeichnung hinein: von der Mitte nach unten sehen wir links die Pickauer Kirche, gegenüber das Pfarrhaus, dazwischen öffnen sich nach hinten hin Häuser des Dorfes und nach vorne schließt den Garten ein grüner Zaun ab. Sehr detailliert und realistisch ist diese historische Reminiszenz festgehalten. Abb. 2: Erich Schickling (1924–2012): Kirche und Pfarrhaus von Pickau. Aquarellierte Zeichnung (1946). Foto: Erich-Schickling-Stiftung.

Darüber erheben sich als Hintergrund und gleichzeitig andere Ebene die Türme der Ottobeurer Basilika, in Farbe, Stil und Perspektive wie im Bild der „Brennenden Basilika“, rot vor schwarzem Himmel, aber ohne Lichterbäume. Das Zentrum des Bildes bildet das ikonenhafte Bild der Mutter der Weisheit, das über Pickau schwebt und die Mitte zwischen den Ottobeurer Türmen einnimmt – auch die Ottobeurer Basilika birgt eine alte Marienfigur als Pilgerziel. Von dieser Ikone – ganz in rot, weiß und gold gehalten und allein im Heiligenschein des Kindes mit Grün – stellt eine stehende männliche Gestalt die Verbindung in den unteren Bildteil dar, wie hin zu einem untergründigen Geschehen: Der Mann, der mit seiner Rechten ehrfürchtig auf die Ikone weist – auf Höhe der Mondsichel zu Füßen des Kindes – gibt sich zu erkennen. Seine Füße stehen auf der roten Kuh, die genauso am Boden ruht wie auf dem Bild „Der Traum von Pickau“. Der Mann trägt eine Herzwunde in Gestalt eines Auges, – eine Wunde, die Ein-sicht schenkt. Erich Schickling hat sich dazu erklärt: Es ist der Priester, der auf dem Stier, auf dem allumfassenden Schweigen steht, und mit seiner Rechten den Mond berührt, aber



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auch die Mandorla mit dem Göttlichen Kind. Er trägt die Merkmale des Ikarus, symbolisiert durch die Flügel des Engels und die Vogelfeder zwischen seinen Beinen.51 Aus unserer Sicht könnte dieser Mann der Künstler selbst sein, der zwischen Traum und Wirklichkeit vermittelt, der weiterführt als unser Verstand. Aus der linken Hand ist dem Mann ein Pinsel entglitten, der auf seine Mitte verweist. Die rechteckigen hellen Flächen, die den Mann umgeben, wirken wie Zeichenblätter. Die Form eines geöffnet-gebrochenen Tau entsteht, nahe legt sich auch die Assoziation mit dem Sonnenrad, wie Schickling es später in Bronze schuf als Signum der Stiftung. Mittelpunkt ist der Bauchraum des Malers. Der Künstler ist der Brückenbauer, der pontifex (Priester), der des Transzendenten in der Zeit innewird, im Verborgenen gestoßen von der Kraft Gottes. Dieser Zusammenhang in der rechten Bildhälfte holt sowohl den äußeren Ort und das Geschichtliche wie auch das innere Geschehen des Traumes von Pickau in das Bild. Links unten vervollständigt sich das hintergründige Ottobeuren-Bild: Schickling nimmt exakt den mit dem Kopf zum Boden gesenkten liegenden Mönch und die dazu korrespondierende kniende Gestalt mit der Kerze sowie die kleine Höhle darunter en miniature auf. Auf den Hintergrund der „Brennenden Basilika“ ist gleichsam das Geschehen von Pickau gelegt. Vereinende Mitte ist die „Maria vom Berge Karmel, Sitz der Weisheit“. Wie in einem Prisma sind in dem Bild wichtige geistliche Erfahrungen der Familie Schickling gebündelt, von Mutter, Künstler Erich Schickling und Tochter Veronika, und zwar je gebunden an die konkreten sakralen Räume und Bilder der Wohnorte. Das Bild erscheint wie ein Generationenbild geistlicher Erfahrungen in der Familie Schickling, verbunden mit den heiligen Räumen in Pickau und Ottobeuren.

9. Zusammenfassung 1. Der Traum von Pickau verbindet Erich Schickling zeitlebens mit seiner Kindheit und einstigen Heimat im heutigen Tschechien und ist ihm gleichzeitig innerer Kompass für seinen weiteren Weg und sein künstlerisches Schaffen. Der Traum der Kindheit, diese Erfahrung des Fascinosum et Tremendum ist wie eine Ursprungserfahrung, „Was allen in die Kindheit scheint“. Sie treibt Schickling sein Leben lang um und an, weist ihn grundlegende Zusammenhänge, ist der Wurzelgrund seiner Frömmigkeit und seines Lebens.52 51 Ich danke Frau Ulrike Meyer für diesen Hinweis. 52 Erich Schickling: „Wir trauen dem Wort nicht mehr, wir haben vergessen, dass wir durch den göttlichen Atem mit Zeugungskraft sprechen. Die Macht des Todes, des Schmerzes, der sich im roten Grund ausdrückt, (…) wird überwunden durch den (…) Sonnenhaften (…). Erschrecken wir nicht (…). Uns zehrt einmal der Atem auf, bis wir ganz mit ihm eins geworden und in ihn eingegangen sind. ‚Bis der Atem allen und jedem gehört‘, heißt es bei Hölderlin (…) Gottes An-

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2. Erich Schickling hielt sein Leben lang Kontakte nach Tschechien. Zwei Momente bestimmten ihn dabei: Menschen und die Sprache. Zu seinem engsten Freundeskreis zählten tschechische Künstler, wie der Textilkünstler Rudolf Mejsnar. In der Suche nach Erschließung der Tiefenstruktur unseres Daseins war ihm neben der hebräischen Sprache auch die tschechische Sprache sehr wichtig. 3. In der Grundlinie erlebte er sein Leben als ein Geführtwerden, als ein Gefügtsein, getragen und gezogen vom inneren Geheimnis.53 So sieht er auch den Generationenzusammenhang in seiner Familie als eine Führung von Innen. In den Konkreta seines Lebens sucht er dieses Geheimnis zu entdecken. 4. Erich Schickling entdeckte das Heilige in vielen Zusammenhängen. Er entwickelte eine eigene Ikonographie, in der sich seine persönlichen Erfahrungen bis hinein in das Lichtspiel und das Schlängeln der Günz vor seiner Haustüre mit großen Traditionen menschlicher Kultur verbinden. Dabei wollte er Mythos und Logos wieder zu einer Synthese führen, auch das Vorbewusste einbeziehen und ihm Ausdruck geben. Entstanden sind Bilder, die Archetypisches einfangen.54 Oft ungewohnt und rational schwer nachvollziehbar zeigen sie Elemente aus unterschiedlichen kulturellen Traditionen in einer inneren Verwobenheit. Immer wieder stieß er damit auf Unverständnis und Ablehnung, fand aber auch ebenso große Freunde und Verehrer.55 Dem schauen könnten wir nicht aushalten. Seinen Atem aber gewährt Er uns in Gnade, bis Er ihn uns wieder entzieht.“ MEYER (wie Anm. 14), 49: zu seinem Bild Diomedes. 53 So reflektiert er z. B. in Bezug auf seinen Weg hin zur Glasmalerei: „Als ein Gefügtsein zeigte sich mir der Weg, den ich in zahlreichen Aufträgen bis heute gehen durfte. Obwohl ich mich während des Studiums an der Kunstakademie nicht mit Glasfenstern beschäftigt hatte, wurde mir 1956 der 1. Preis im Glasfensterwettbewerb Marburg zuerkannt [Gestaltung eines Fensters in der Elisabethkirche in Marburg]. Bei kirchlichen wie profanen Aufgaben ging es mir bei der Gestaltung vor allem um die Beziehung zur Architektur. Heute eröffnet sich mir der tiefere Sinn dieser Intention, wenn ich in der Architektur das griechische Wort „arche“ als das lebendige Wort Gottes erlebe, das nicht untergeht und worin wir geborgen sind. Meine Hinterglasbilder betrachte ich als Möglichkeit, die Themen des Alten und Neuen Testamentes sowie der Mythologie zu meditieren, die ich später ins Glasfenster übersetze. Dabei geht es mir darum, in meinen Bildern den Logos wieder mit dem Mythos zu vereinen.“ MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 92. 54 Der Psychotherapeut Peter Sandmann sah in Schicklings Bildern die Archetypen, wie sie C. G. Jung und A. Adler für die Seele aufgezeigt hatten, aufleuchten. Auskunft von Ulrike Meyer. 55 Vgl. die Charakterisierung durch seinen Freund Erwin Birnmeyer: „Seine Bilder handeln von Visionen in welchen das scheinbar Auseinanderliegende, ja Disparate zusammengeführt ist in eine ungeahnte Synthese (…). Alle Quellen der Menschheitsgeschichte (…) fließen zusammen in einen See der Fruchtbarkeit der den wunderbaren Fischzug ermöglicht.“ Es ist „mehr als eine ‚Summe‘ aus historisch zurückliegendem aus Gewesenem, es enthält auch ein Vorbewusstes, ein Vordenk-Vermögen, das zukünftig Mögliches visionär antizipiert. Vision ist das richtige Wort, sie ist es, die diese unverwechselbare Bildsprache prägt. Alles ist in allem, nichts bleibt außerhalb, ausgegrenzt; kein Stäubchen der eigenen Existenz und kein Lichtreflex auf der Günz, kein einziges Haar von Samsons Haupt, keine Pfauenfeder und kein Wort unserer Gespräche. (…)



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sich versenkenden Blick eröffnen sich die Bilder und helfen dem eigenen Ahnen auf die Spur. 5. Es ist ein letztes Heimweh, das Erich Schickling treibt, die Sehnsucht nach dem Göttlichen.56 Was den Traum ausmachte, bestimmte auch sein künstlerisches Schaffen: ein kurzes, immer wieder neu erschütterndes und auch beglückendes Berührtwerden vom Transzendenten, das eine große Sehnsucht weckte, die Sehnsucht „im Gleichnis des Transzendenten in mir und in allem inne zu werden“.57 Auf diese Weise trug er Heimat in sich und suchte sie zugleich. Lichtstrahl und Rätsel zugleich – so zitierte er oft ein Hölderlin-Gedicht, in dem er sich offensichtlich in seinem Seinsgefühl wieder fand.58 Es klingt an das Glück eines ursprünglichen, mit der Geburt gegebenen Beheimatetseins, das durch die Wege des Lebens als Herzenswunsch erhalten bleibt, wie ein Lebenskompass, und gleichzeitig spricht sich die Erfahrung aus, dass diese ursprüngliche Freiheit kaum von einem Menschen bewahrt wird, dass Not und Zucht andere Wünsche bringen, die den eigenen Lebenslauf bestimmen. Der Künstler sucht immer neu an dieses Geheimnis zu rühren und kann es doch kaum enthüllen. Schickling ist ein mystischer Mensch, einer, der etwas „erfahren“ hat wie Karl Rahner 1966 prophetisch den Christen der Zukunft charakterisierte.59 Er suchte An-

Penelope grüßt von ferne und von ganz nahe die Gottesmutter und seine eigene Frau, und wir erinnern das Fließen der Wasser und der Zeit. (…) Erich Schickling erschafft damit eine neue Ikonografie, die auf einer umfassenden Weltschau beruht. Diese ist keineswegs mystisch strukturiert oder geht ins Ungefähre oder Beliebige: sie ist ganz ‚präzise Phantasie‘. Diese Ikonografie übersteigt weit die Enge heutiger Kirchendogmatik und wird von dorther denn auch eher misstrauisch gesehen.“ MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 20. „Diese neuartige Bildgestalt ist etwas wie eine naturgesättigte Hagiografie. Darin wird alle Natur als Gefäß des Transzendenten erlebt. Natur im weitestmöglichen Sinne als materielle Schöpfung und als evolutiver Prozess, als historisch Gewordene und immer neu Werdendes. Natur auch als unmittelbarer Erlebnisraum, als Landschaft, Schnee und Pfau; Natur zuletzt auch als Raum-Zeit ‚im Advent‘, auf die Erlösung hin. MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 21. 56 Vgl. aus dem Gedicht Erich Schicklings: „Oft ist mir dann auch kam bewusst, dass mich gewendet hat der Unbekannte; dass vom Heimweh wetterleuchtend meiner Seele Feuer ziehn.“ MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 38. 57 In: MEYER/SCHICKLING (wie Anm. 6), 1. 58 Die Verse entstammen Hölderlins Gedicht „Der Rhein. An Isaac von Sinclair“: Ein Rätsel ist Reinentsprungenes. Auch / Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn / Wie du anfiengst, wirst du bleiben, / so viel auch wirket die Noth, / und die Zucht. Das meiste nemlich / vermag die Geburt, / und der Lichtstrahl, der / dem Neugebornen begegnet. / Wo aber ist einer, / um frei zu bleiben / sein Leben lang, und des Herzens Wunsch / allein zu erfüllen, so / aus himmlischgünstigen Höhn …? Friedrich HÖLDERLIN: Gedichte. Auswahl und Nachwort von Konrad Nussbächer, Stuttgart 1994, 146–152, hier 147. 59 Karl RAHNER: Frömmigkeit früher und heute. In: DERS.: Schriften zur Theologie, Bd. 7, Einsiedeln 1966, 11–31. hier 22. Rahner betont, dass im Vergleich dazu die bisher übliche Er-

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schluss an die üblichen religiösen Traditionen, musste diese aber durch seine aus der mystischen Sicht erwachsenen Verbindungslinien mit Mythos und Dichtung sprengen. Das Gebäude war zu klein. Es flammt mit Lichterbäumen nach außen hin. Mit Schicklings eigenen Worten: „Meine Bilder leben von einer mystischen Dimension, die uns nicht im Sehen, sondern erst im Schauen aufgeht. Im Schauen geschieht uns schon am Tag der Traum.“60 Die Tiefendimension ist ihm der immer gegenwärtige Atem Gottes, der uns diese Zeit gibt.61 7. Daher ist auch sein Arbeiten prozesshaft: Das Vergangene ist nie ganz vergangen, sondern im Erleben im Jetzt neu da! Und alles, die ganze Natur und Kultur gehört dazu. Immer war Erich Schickling auch Baumeister und Gärtner – mit der Architektur, die er im Günztal schuf, deren markantes Element ein eigener Glockenturm ist, von dem aus man die Basilika und bei entsprechender Witterung dahinter die Alpen bestaunen kann. Mit der herrlichen Pflanzenwelt, die er in Glashäusern und im Freien und im Apfelgarten kultivierte. Mit Malerei, Dichtung und mit der Musik. Nicht zuletzt mit der reichen Farbenpracht seiner Pfauen, die ihm zugleich Inspiration für die eigene, kräftige Farbgebung in seiner Malerei war. Zugleich sah Erich Schickling es so, dass die Pfauen das Geheimnis des Zeitlichen und Göttlichen in einem in sich tragen: im unbeschreiblichen Blau und in der Vielfalt der Farben. 2012 ist er dort verstorben und liegt auch dort begraben.62

ziehung nur noch als eine „sehr sekundäre Dressur für das religiös Institutionelle“ sein kann. Ebd., 22 f. 60 Ulrike MEYER (Hg.), Erich-Schickling-Stiftung Katalog Nr.1, Memmingen 2000, Vorwort. 61 Vgl. seine Aussage zum Bild „Diomedes“: „Uns zehrt einmal der Atem auf, bis wir ganz mit ihm eins geworden und in ihn eingegangen sind. ‚Bis der Atem allen und jedem gehört‘ heißt es bei Hölderlin, so lange währe die Frist (...) Gottes Anschauen könnten wir nicht aushalten. Seinen Atem aber gewährt Er uns in Gnade, bis Er ihn uns wieder entzieht.“ MEYER (wie Anm. 14), 49. 62 Vgl. dazu die Dokumentation anlässlich des Todes: Ulrike MEYER (Hg.), Erich-Schickling-Stiftung Katalog Nr. 4, Memmingerberg 2012.

Helmut Scheunchen DEUTSCHBALTISCHE KOMPONISTEN – UMGESIEDELT UND NICHT MEHR ANGEKOMMEN Die Umsiedlung der Deutschbalten 1939 in den Warthegau in Folge des Hitler-Stalin-Pakts zur Klärung territorialer Interessen im Osten, bedeutete das Ende dieser Volksgruppe, die im Baltikum eine 750-jährige Geschichte hatte. Gemessen an der Vertreibung der Deutschen 1945 aus anderen Regionen war die Umsiedlung, die eine „diktierte Option“ genannt wurde, ein geregeltes Unternehmen, allerdings bei gleicher Auswirkung. Anfang Oktober des Jahres wurden die Pläne zur Umsiedlung bekannt und zur letzten Oktoberwoche kamen die ersten Schiffe. Bis Dezember war die Aktion durchgeführt. In der reichen deutschbaltischen Memoirenliteratur wurde oft über die Umsiedlung berichtet,1 meist nur in lapidarer Kürze, vielleicht entsprechend der Fassungslosigkeit der Ereignisse. Von vielen Historikern wurde dieses Thema in zahlreichen Zirkeln und Tagungen behandelt; seit dem Fall des Eisernen Vorhangs auch von estnischer und lettischer Seite, noch mit den letzten Zeitzeugen bis in die Gegenwart.2 Der Fokus in diesem Beitrag richtet sich auf einen ganz kleinen Teil der Deutschbalten, welcher der kulturellen Elite angehörte – auf ihre Komponisten. Die Umsiedlung und ihre Folgen im Leben der deutschbaltischen Komponisten soll hier vergleichend betrachtet werden. Retrospektiv macht ihr sozusagen „undingliches Kulturgut“, trotz riesiger Verluste des Geschaffenen und trotz Verhinderung ihres Schaffens durch die Zeitläufte, manches erkennbar. Details aus ihrem Leben ergänzen das Wissen über die damaligen Vorgänge. Mit bezweckt ist, dass die Namen jener Komponisten auch außerhalb der Musikgeschichte Erwähnung finden, auch in jenem Sinn, dass das Befragen von Musikgeschichte bei der Erforschung von allgemeinen sowie speziellen Fragen zur Geschichte durchaus erhellend ist. Kurz sei auf die demographischen Entwicklungen eingegangen, in welchen sich die politischen Verhältnisse spiegeln. Die Zahl der Deutschbalten war bereits im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wesentlich zurückgegangen: in den 1 Stella THOMSON: Erinnerungen an mein erstes Leben – die Zwischenkriegszeit in Estland, in: Zwischen Reval und St. Petersburg. Erinnerungen von Estländern aus zwei Jahrhunderten, hg. v. Henning von WISTINGHAUSEN, Weissenborn 1993, 343–359; Bernt von SIVERS: Meine Zeit beim estländischen Landwirtschaftlichen Verein und der Livländischen Ökonomischen Sozietät und die Umsiedlung, in: ebd., 377–387; Wilhelm Baron WRANGELL: Zur Situation der Deutschbalten in Estland bis zur Umsiedlung, in: ebd., 396–420; Claus von KURSELL: Wie es geschah. Zur Vorgeschichte der Umsiedlung, in: ebd., 421–429. 2 Maaris SAAGPAKK: Verlust und Rückgewinnung im Wort – Deutschbaltische Autobiographien nach 1945, in: Deutschsprachige Literatur im Baltikum und in St. Petersburg, hg. v. Carola L. GOTTZMANN, Berlin 2010 (Literarische Landschaften 11), 147–156.

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1870er-Jahren auf Grund der Angriffe russischer Publizisten auf den Sonderstatus der Ostseeprovinzen, von 1881 bis 1905 durch die massive Russifizierungspolitik. 1905/1906 entlud sich die Revolution aus dem russischen Kernland auf die baltischen Provinzen und richtete sich gegen die sogenannten „Stützen des Feudalsystems“, die Aristokratie, deutschbaltische Gutsbesitzer und Landpastoren; viele wurden ermordet und eine große Zahl von Gutshöfen niedergebrannt. Durch den Ersten Weltkrieg kamen zahlreiche Deutschbalten nach Deutschland, welche sich im Jahre 1919 bei der vorübergehenden Machtübernahme der Bolschewiken zu fluchtartigen Bewegungen steigerten. „Die Entstehung der Republiken Eesti und Latvija und der Sieg des demokratischen Mehrheitsprinzips führte zum Ende der geschichtlichen Stellung des baltischen Deutschtums, dem nach der Enteignung des Großgrundbesitzes und nach Auflösung der ständischen Körperschaften nur noch der Status einer nationalen Minderheit verblieb.“3 Dies führte wiederum zu Übersiedlungen nach Deutschland. Auslöser waren ebenso die autoritären Regime in den 1930er-Jahren, welche besonders in Lettland zu einer zunehmend unguten Existenz führten, so dass manche der Deutschbalten mit einer Abwanderung eine hoffnungsvolle Zukunft verbanden. Einige absolute Zahlen zur deutschen Bevölkerung im Baltikum (Estland und Lettland) sind verfügbar:4 vor dem Ersten Weltkrieg 162.000, Anfang der 1920er-Jahre 76.500. Umsiedlung 1939 bzw. aus der estnischen und lettischen Staatsbürgerschaft entlassen: 13.700 bzw. 52.583; Ansiedlung vorwiegend im Warthgeau. Spätumsiedlung im Frühjahr 1940: geschätzte Personen zwischen 4.000 und 7.0005. Im Januar 1941: Nachumsiedler, ca. 7.000 aus Estland und 10.000 aus Lettland. Der Personenkreis der Spätumsiedlung umfasste vorwiegend Personen, welche die Abwicklung und Auflösung der Einrichtungen der Volksgruppe (Schulen, Institutionen, Geschäfte, Industrieunternehmen, Volksvermögen, usw.) organisatorisch bewältigen mussten, was ohne staatliche Hilfen zu geschehen hatte. Dazu kamen noch Personen, die sich nicht zur Umsiedlung 1939 entschlossen hatten. Die Nachumsiedlung, die nach der Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion im Frühjahr 1940 im Januar 1941 durchgeführt wurde, betraf auch ca. 3.500 Esten und Letten, welche hochgefährdet den Massenverhaftungen durch die Sowjets im Juni 1941 entgingen und durch Verhandlungen einzeln von der Sowjetunion abgerungen werden mussten. Zurückgeblieben sind nur noch wenige Deutschbalten, meist alte Menschen, oder mit Esten bzw. Letten verheiratete Personen sowie Kommunisten. Die Spätumsiedler wurden vorwiegend im „Gau Danzig-Westpreußen“ angesiedelt, die Nachumsiedler im „Altreich“. 3 Arved Freiherr von TAUBE/Erik THOMSON: Die Deutschbalten, Schicksal und Erbe einer eigenständigen Stammesgemeinschaft, Lüneburg 1973, 61. 4 Gotthold RHODE: Umsiedlung der Deutschbalten aus Estland und Lettland 1939 (50. Gedenkjahr), in: Ostdeutsche Gedenktage 1989, Bonn 1988, 284–285. 5 Gert von PISTOHLKORS: Baltische Länder – Deutsche Geschichte im Osten Europas, Berlin 1994, 534–550, bes. 540–541.



Deutschbaltische Komponisten

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Grundsätzlich gilt die Überschrift „Umgesiedelt und nicht mehr angekommen“ in voller Wucht für nahezu alle umgesiedelten deutschbaltischen Komponisten. Die Aussichten für diesen Personenkreis lagen zwischen Tod und totaler beruflicher Erfolglosigkeit. Für deutschbaltische Komponisten gab es schon vor den Jahren der Umsiedlung kaum Möglichkeiten der Aufführung und Drucklegung ihrer Werke. Eine berufliche Existenz in der Musik beschränkte sich überwiegend auf Musikpädagogik, d.h. Musikunterricht an Schulen und als Privatmusiklehrer sowie als Organist und als Chorleiter. Ein weiterer Brotberuf außerhalb der Musik war oft wirtschaftliche Voraussetzung für die Existenz. Mit diesen Komponisten, die bis zur Umsiedlung in ihrer Heimat lebten, ist das letzte Kapitel einer in den baltischen Landen über die Jahrhunderte ansässige schöpferische deutsche Musikkultur geschlossen. Der größte Teil des Geschaffenen ist untergegangen, nur manches hat sich erhalten. Wir wenden uns nun den Komponisten zu, die uns als Umsiedler bekannt geworden sind – in der Folge ihres Geburtsjahres. Gustav Erhardt,6 1883 in Riga/Rīga geboren, Sohn eines Kaufmanns und Rigaer Stadtrats, Schulzeit in Riga und St. Petersburg, dann Musikstudium am Leipziger Konservatorium und in Berlin. Er war an mehreren Theatern als Kapellmeister tätig (Essen, Dortmund, Dresden, Leipzig, Osnabrück, Hannover, Solingen). Seit 1931 lebte er wieder in Riga, nach der Umsiedlung 1939 in Posen/Poznań, wo er auch noch als Kapellmeister tätig war. Gustav Erhardt verstarb 1944 in Litzmannstadt/Lodz/ Łódź. Er war der Vater des Humoristen Heinz Erhardt, mit dem er zusammen eine Operette geschrieben hatte, die 1933 am Rigaer Deutschen Theater aufgeführt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg gastierte er mehrmals in Riga, und 1938 wurde an der Lettischen Nationaloper sein Oratorium der Arbeit (Darba oratoriju) aufgeführt. Im Verlag Paul Neldner in Riga, der dem Vater seiner ersten Frau gehörte, hatte er Vier Walzer veröffentlicht. Zu seiner Tätigkeit als Komponist und seinem musikalischen Wirken im Warthegau gibt es Forschungsbedarf. Sein Sohn Heinz Erhardt hatte das Baltikum bereits 1938 verlassen, um seine vielseitige Karriere in Breslau/ Wrocław und Berlin zu beginnen. Walter Conradi,7 geboren 1885 in Sackenhausen/Saka, Kurland, entstammte einer alten deutschbaltischen Literatenfamilie. Seine musikalische Ausbildung erhielt er an der Musikschule Gizycky in Riga und an der Universität St. Petersburg, wo er bei Alexander Glasunow Harmonielehre studierte. Er war Musiklehrer an verschiedenen deutschen Schulen in Riga und leitete mehrere deutsche Gesangvereine. Nach der Umsiedlung 1939 lebte Conradi in Gnesen/Gniezno, wo er bereits 1940 verstarb.

6 Helmut SCHEUNCHEN: Lexikon deutschbaltischer Musik, Wedemark-Elze 2002 (Schriftenreihe der Georg-Dehio-Gesellschaft), 64 f. 7 Ebd., 48.

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Sein kompositorisches Schaffen – er schuf Lieder, Chorwerke, eine Schuloper – ging während der Flucht der Familie aus dem Warthegau 1945 weitgehend verloren. Wenige Kompositionen befinden sich noch in Familienbesitz. Hans von Dercks,8 studierte am Leipziger Konservatorium. Bis zur Umsiedlung 1939 lebte er auf dem Restgut Champêtre/Šampēteris bei Riga. Er war mit Walter Freymann freundschaftlich verbunden und mehrere Aufführungen seiner Werke fanden in gemeinsamen Konzerten statt, in welchen Dercks auch als Pianist auftrat. 1939 erfolgte die Umsiedlung nach Posen, wo er sich 1941 mit Margarethe geb. Thiele verheiratete. Ein vager Hinweis könnte seine Berufsbezeichnung „Tonkünstler“ sein, die bei seiner Heirat im Alter von Mitte fünfzig angegeben wurde. Eine berufliche Betätigung, als Klavierlehrer in Posen ist zu vermuten. Er soll 1947 an den Folgen der Flucht in Loh, Westfalen, verstorben sein. Durch die Flucht aus Posen musste er sein kompositorisches Werk zurücklassen. Es soll von ihm in einem Banksafe deponiert worden sein: Lieder, Kammermusik und Klavierwerke, das sich zum Freitonalen entwickelte; Kontrapunkt und Fuge waren ein wichtiger Bestandteil. Wohl kein einziges Werk hat die Zeiten überdauert. Walter Freymann,9 geboren 1886 in Riga als Sohn eines Hofrats, erhielt seine musikalische Ausbildung bei Robert Müller und sang im Kinderchor des Rigaer Stadttheaters. Während des Jurastudiums an der Universität Dorpat/Tartu erhielt er Unterricht bei Universitätsmusikdirektor Rudolf Griwing. Bis zur Umsiedlung 1939 war er im Staatsdienst tätig. Er war ein tätiges Mitglied der Rigaer Goethe-Gesellschaft, deren Konzerte er organisierte und so den zeitgenössischen deutschbaltischen Komponisten zu einem Podium verhalf. Dort wurden auch viele seiner Werke uraufgeführt. „Eine schwierige Situation ergab sich noch in den Umsiedlungstagen durch den Tod der Schwiegermutter.10 Sie war eine gebürtige Hamburgerin und war die einzige der Familie gewesen, welche sich über die Umsiedlung gefreut hatte.“ Es waren eiskalte Tage, als die Familie Freymann endgültig die „Sierra Cordoba“ am 3. Dezember 1939 bestieg. Das Wort hat seine besondere Bewandtnis, „denn es mußten erst Bomben von dem Schiff entfernt werden, welche die Engländer gelegt hatten, um das Schiff zu versenken. Die Sache war dann verraten worden. Glücklicherweise waren wir noch nicht weit auf der Düna, noch nicht auf dem offenen Meer gewesen. Es war das vorletzte Schiff, auf dem viele junge Männer waren, die bei der Umsiedlung geholfen hatten.“11 8 Geb. 1885 in Peterhof/Petergof bei St. Petersburg/Sankt-Peterburg; nach anderer Quelle 1886, auch Niederbartau/Nīca bei Libau/Liepāja oder Asuppen/Aizupe, Kurland; gest. 1947 in Loh, Westfahlen. 9 Helmut SCHEUNCHEN: Walter Freymann – Leben und Werk. Zum 100. Geburtstag des Komponisten, Esslingen 1986 (Kleine Monographien zur deutschbaltischen Musikgeschichte 1). 10 Erna Rudolf, geb. Heinrich. 11 Beide Zitate: mündliche Mitteilung a. d. Verfasser von Ingeborg Freymann-Bloedner, Wien, im Oktober 2011.



Deutschbaltische Komponisten

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Walter Freymann kam zunächst nach Barth, Pommern, dann als Zivilrichter nach Posen und 1942 nach Berlin. Nach dem Verlust der Heimat kam das hoffnungslose Warten auf den Sohn Gerhard, welcher 19-jährig 1943 in Russland verschollen war. Am 9. Juni 1945, also bereits nach Kriegsende – Freymann war in diesen Wochen als Dolmetscher verpflichtet – wurde er nach Russland verschleppt, wo er in einem Lager bei Moskau am 27. September 1945 verstorben ist, wie seine Angehörigen nach 17 Jahren in einer knappen Nachricht des sowjetischen Roten Kreuzes erfuhren. Abb. 1: Letztes Foto von Walter Freymann, Anfang Juni 1945. Foto: Private Ostdeutsche Studiensammlung.

Sein Schaffen in professioneller Kontinuität und Entwicklung, das von der Spätromantik ausging und sich zur Freitonalität entwickelte, mit atonalen Momenten, Clustern und klanglichem Raffinement, galt der Kammermusik, dem Lied, Chormusik und auch musikdramatischen Werken. Ohne seinen Namen wäre eine Untersuchung über den deutschen Impressionismus nicht komplett. Außer einem Heft mit drei Liedern (Neldner Riga 1933) blieb sein Werk, das als Manuskript die Zeiten weitgehend überdauerte,12

12 Nachlass im Musikarchiv der Künstlergilde in Regensburg.

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ungedruckt.13 Seine letzte Hoffnung, sein Werk nach dem Krieg veröffentlichen zu können, sollte sich nicht erfüllen. Sein Sohn, Gerhard Freymann, geboren 1924 in Riga, wurde eingezogen und ist seit 1943 in Russland vermisst. Er spielte Cello und wollte Kapellmeister werden. Eine Gelegenheitskomposition von ihm hat sich erhalten, ein Andante für Violoncello und Klavier, das er 1942 „Meinem lieben Vater“ gewidmet hat. Alexander Maria Schnabel14 wurde 1889 in Riga als Sohn eines Kaufmanns geboren. Sein Großvater war der aus dem Egerland stammende Andreas Siegert, Geiger und Kapellmeister am Rigaer Stadttheater. Schon früh bekam er Klavierunterricht; mit sieben Jahren begann das erste Komponieren. Seine musikalische Ausbildung erhielt er bei Alexander Staeger und an der Kaiserlichen Musikschule, die er 1914 mit dem Titel eines „Freien Künstlers“ abschloss. Zudem studierte er 1908–1910 Architektur am Rigaer Polytechnicum. Bereits 1908 gelangten Orchesterwerke Schnabels in Riga zur Aufführung, u. a. mit der Warschauer Philharmonie unter Grzegorz Fitelberg (Sinfonische Dichtung Lady Godiva); 1914 trat er jedoch in das im Besitz seines Großvaters befindliche Rigaer Handelshaus ein, dessen Vertretung er dann in St. Petersburg übernahm.15 Nach dem Ersten Weltkrieg konnte er nach Riga zurückkehren. Diese Jahre waren von vielfältigem musikalischen Bemühen geprägt. Er nahm nochmals Kompositionsunterricht bei dem lettischen Komponisten Jāzeps Vītols und war als Musiklehrer tätig. Ab 1921 erschienen in rascher Folge mehrere Werke bei deutschen Verlagen. Namhafte Künstler führten seine Werke in Deutschland auf (Eduard Erdmann, Walter Gieseking). Bereits in den 1920er-Jahren findet sich sein Name in Musiklexika. Allerdings konnte er den Lebensunterhalt mit den musikalischen Tätigkeiten nicht bestreiten und nahm bei der amerikanischen Botschaft in Riga eine Stelle an. Sein Tanzdrama Der Aufruhr op. 30 wurde 1930 in der Lettischen Nationaloper aufgeführt. Schnabel reiste wiederholt ins Deutsche Reich und die Sommerferien verbrachte die Familie meist in Bayern und in Österreich. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 weilten Schnabels am Wolfgangsee. „Vater sagte damals, dass wir sofort nach Hause reisen müssen.“16 Wenige Wochen später sollte es dieses „Zu Hause“ nicht mehr geben. Im Oktober 1939 folgte die Umsiedlung auf der „Tannenberg“ von Libau nach Danzig/Gdańsk. „Wir hatten Glück, das nächste Schiff ist untergegangen.“17 In Posen war Schnabel als Musiklehrer und auch wieder musikorganisatorisch tätig. Er gab Konzerte, auch mit eigenen Werken, beteiligte sich als Pianist an Kammer13 Divertimento amabile für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello, Klavier von 1937, hg. v. Helmut SCHEUNCHEN, Bad Schwalbach 1988. 14 A. M. SCHNABEL: Kurzer Lebenslauf, Typoskript (2 Seiten), o. J. Umfassendere Darstellung: Helmut SCHEUNCHEN: Alexander Maria Schnabel – Leben und Werk. Zum 100. Geburtstag, Esslingen–München 1989 (Kleine Monographien zur deutschbaltischen Musikgeschichte). 15 Mündliche Mitteilung an den Verfasser von Ingeborg Schnabel, Oldenburg 2015 16 Mündliche Mitteilung an den Verfasser von Ingeborg Schnabel, Oldenburg 2014. 17 Mündliche Mitteilung an den Verfasser von Ingeborg Schnabel, Oldenburg 2013.



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konzerten und Liederabenden. Durch die Bombardierung des Breitkopf-Archivs in Leipzig gingen sein veröffentlichtes Werk und Manuskripte verloren. „Die Partitur der Symphonie, an der ich in Posen 5 Jahre lang gearbeitet habe, blieb dort, der Klavierauszug ging auf tragische Weise auf der Flucht verloren. Die letztere Tatsache gab den Ausschlag dafür, dass ich seither nicht mehr schöpferisch tätig war.“18 Die Flucht endete in Bayern, wo er bei den Amerikanern in Wackersdorf als Dolmetscher tätig war, die ihn durch sein amerikanisches Englisch, das ihm durch die Stelle bei der amerikanischen Botschaft in Riga geläufig war, sehr schätzten. 1947 wandte er sich nach Regensburg, wo er sein Leben in einem Briefmarkenhandelsgeschäft fristete.19

Abb. 2: Alexander (Maria) Schnabel mit Mitarbeiterin 1959 auf der Briefmarkenmesse Interposta in Hamburg. Foto: Private Ostdeutsche Studiensammlung.

1953 ging er nach Hamburg, um sich als Briefmarkenhändler selbständig zu machen. Er verstarb dort 1969. 18 SCHNABEL (wie Anm. 14), 2. 19 Seinen musikalischen zweiten Vornamen „Maria“ hatte er inzwischen abgelegt.

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Sein Schaffen, Lieder, Kammermusik, Orchester- und Bühnenwerke, zeigt impulsive Gestaltungskraft und Formwillen. Von der späteren Romantik ausgehend (Brahms und Wagner) gelangte er zu einer modernen Auffassung mit mehreren Einflüssen der Zeit, wie Impressionistisches, Neoklassizismus und Freitonalität, oft mit einer Gebärde des Tänzerischen. Egon Theodor Friedrich,20 geboren 1900 Libau, war Musiklehrer in Riga und Dirigent des Rigaer Sängerhorts. Er trat auch als Pianist auf. Friedrich ist in den letzten Kriegstagen im Mai 1945 im schlesischen Bad Salzbrunn/Szczawno-Zdrój gefallen; sein Sohn Bernd fiel 19-jährig in Frankreich 1944. Egon Friedrichs kompositorisches Schaffen, seine Kammermusik, Lieder, Klavierstücke und Männerchöre sind Manuskript geblieben und wohl als verloren zu betrachten. Aufführungen seiner Werke fanden in Riga auch im Umkreis von Walter Freymann und Hans von Dercks statt. Heinrich Feischner21 wurde 1910 in Reval/Tallinn geboren. Seine Eltern hatten ein bekanntes Café in der Stadt. Seine musikalische Ausbildung erhielt er am Konservatorium in Tallinn (Adolf Vedro) und am Leipziger Konservatorium. In Tallinn leitete er dann auch die Baltische Tonkünstlervereinigung, war als Theaterkapellmeister und Bühnenkomponist tätig, wo seine Bühnenmusik zu Molières Der eingebildete Kranke Erfolg hatte. 1936 erhielt er den Estnischen Musikpreis. Er gehörte zu den Nachumsiedlern von 1941. Feischner war dann an verschiedenen Theatern, u. a. beim Theater am Schiffbauerdamm in Berlin und bei den Städtischen Bühnen Teschen/Cieszyn/Český Těšín tätig. 1944 wurde in Berlin seine 1. Sinfonie uraufgeführt. Nach dem Krieg war er in Stuttgart ansässig und am Stuttgarter Schauspielhaus sowie am Süddeutschen Rundfunk tätig, wo er für Film, Funk und später für das Fernsehen komponierte, so dass mehrere seiner Werke nicht im Konzertsaal, sondern im Rundfunk zur Uraufführung kamen. Feischners Schaffen ist sowohl stilistisch als auch in seiner Aussage von größter Vielseitigkeit und reicht von kirchenmusikalischen Werken bis zum Chanson und der Filmmusik. Seine Werke sind weitgehend Manuskript geblieben. Der größte Erfolg seines Schaffens war wohl die Aufzeichnung seiner Funkoper Circus carambas 1959 u. a. mit Fritz Wunderlich, dem Südfunk-Sinfonie-Orchester unter Hans Müller-Kray. Gefragt waren seine zahlreichen Klangkulissen – kurze, charakteristische Untermalungen für den Film, die damals häufig Verwendung fanden. Feischner ist wohl der einzige Umsiedler gewesen, der gewissen Erfolg hatte. Er verstarb jedoch bereits 1961 in Stuttgart. Leider scheint sein gesamtes Schaffen verschollen zu sein. Gerhard Kroeger,22 geboren in Riga 1911, stand in Riga in Verbindung mit Walter Freymann und Hans von Dercks. Er studierte bei dem deutschbaltischen Kom20 SCHEUNCHEN: Lexikon (wie Anm. 6), 80. 21 SCHEUNCHEN: Lexikon (wie Anm. 6), 70–72. 22 SCHEUNCHEN: Lexikon (wie Anm. 6), 138.



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ponisten Gerhard von Keußler an der Preußischen Akademie der Künste in Berlin. Kroeger ist in den letzten Kriegstagen am 3. Mai. 1945 bei Berlin gefallen. In dem Nachlass von Gerhard von Keußler im Goethe-Schiller-Archiv zu Weimar finden sich einige Werke von Gerhard Kroeger: Streichquartett, Klavierquintett, 2 Kanons für Bläser und ein Andante für Orchester. Gregor Heuer23 wurde als Sohn eines reichsdeutschen Kaufmanns in Charkow/ Charkiw geboren, mit sieben Jahren erhielt er Klavierunterricht und wurde dann am Musik-Theatralischen Technikum ausgebildet. Von 1933 bis 1940 studierte er am Konservatorium in Tallinn (Artur Kapp, Artur Lemba). 1936 erhielt er die estnische Staatsangehörigkeit. 1940–41 war er Solo-Repetitor an der Estnischen Nationaloper. Diese Jahre waren seine erfüllte und erfolgreiche Zeit, als Pianist mit Solo-Auftritten und als anerkannter Komponist. Zwei Klavierkonzerte wurden in der Estonia aufgeführt, auch mehrere sinfonische Dichtungen, Kammermusik, Lieder, ein Oratorium und Chorwerke wurden zum Teil im estnischen Rundfunk gesendet. 1941 kam er als Nachumsiedler nach Deutschland. Es folgten Engagements an das Landestheater Südostpreußen Allenstein/Olsztyn, an die Deutsche Oper in Kiew und das Stadttheater Gablonz/Jablonec nad Nisou. Seine schwer erkrankte Frau, die St. Petersburgerin Else Clement, eine Pianistin, kam 1942 bei einem Luftangriff auf die Lungenheilanstalt in Schömberg, Schwarzwald, um. Von Gablonz aus wurde Heuer zur Wehrmacht eingezogen. Fünf Jahre war er in russischer Gefangenschaft. Bis zu seinem Tod 1989 in Augsburg war er als Klavierpädagoge tätig. Sein in Allenstein komponiertes Ballett Totentanz konnte er mit Erfolg am dortigen Theater aufführen. Sein Habe und seine Werke sind in Gablonz geblieben. Er machte von der Unterstützung für Spätheimkehrer Gebrauch und besuchte an der Musikhochschule bis 1952 die Dirigier- und Kompositionsklasse. 1956 schrieb er an seinen Freund Matsov in Tallinn „Eines ist aber wohl ganz erloschen: komponieren tue ich seit dem Krieg nicht mehr“. Sein Sohn Roland Heuer konnte die wenigen noch in Estland aufgefundenen Werke seit 2005 im Verlag Ikuro Edition herausbringen, zusammen mit einigen Liedern, welche noch nach dem Krieg entstanden waren.24 Sein spät- und nachromantisches Schaffen erhielt sehr gute Besprechungen und auch die größeren Werke wurden wiederholt aufgeführt. Das Schicksal hat ihm nur wenige Jahre des Erfolgs und der Entwicklung als Komponist geschenkt. Der Methusalem Dr. Fedor Slevoigt,25 geboren 1857 in Mitau/Jelgava, dessen kompositorische Laufbahn durch die Aufführung 1896 seiner Oper Das Mädchen von Padua an dem Rigaer Stadttheater „geadelt“ ist, verstarb 1946, sieben Jahre nach der 23 Mitteilungen an den Verfasser von Roland Heuer 2005ff; Roland HEUER: Der deutsch-estnische Pianist und Komponist Gregor Heuer, unveröffentl. Typoskript, sowie Biografie im Netz: http://www.gregorheuer.com (20.06.2016). 24 Violinsonate, Lieder, Klavierstücke, Melodia für Violine und Klavier. 25 SCHEUNCHEN: Lexikon (wie Anm. 6), 246.

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Umsiedlung, im 90. Lebensjahr in Greifswald. Er war Arzt, hat aber später verschiedene Verwaltungstätigkeiten ausgeführt. Von weiterer kompositorischer Tätigkeit ist nichts bekannt. Über das Schicksal der deutschbaltischen Komponisten, die nicht umgesiedelt sind, ist wenig überliefert. Zu nennen ist hier zum einen Raimund von Bööcke (auch Beke),26 der 1871 in Pernau/Pärnu geboren wurde. Er war bis 1917 Solo-Cellist des Kaiserlichen Hoforchesters in St. Petersburg, später bis 1935 Professor für Violoncello am Tallinner Konservatorium. Er komponierte vorwiegend kurze Stücke für Cello bzw. Violine mit Klavierbegleitung. Auch die Möglichkeit der Nachumsiedlung 1941 hat er nicht wahrgenommen. Seine Lage wohl als völlig aussichtslos empfindend, hat er sich im April 1941 in seiner Geburtsstadt Pernau das Leben genommen. Der Todestag ist nicht überliefert, nur der Monat – ob es an seinem 70. Geburtstag gewesen ist, den 20. April – zurückgekehrt an den Ort seiner Geburt? Interessanterweise hatten sich die beiden herausragenden Komponisten der Umsiedlergeneration, Walter Freymann und Alexander Maria Schnabel, in der letzten Zeit in der Heimat an eine Oper gemacht. Es war eine Zeit mit minimalen Möglichkeiten des Wirkens. Freymann vollendete 1939 seine Spieloper Lelia, in der Art einer zu dieser Zeit häufiger komponierten Konversationsopern, und Schnabel in fein ästhetisierender Art und Schnabel Fährmann Katt oder die verlorene Insel, die er selbst als „romantische Oper“ bezeichnet hat, was nicht den Stil der Musik sondern die Handlung betraf. Es versteht sich nahezu von selbst, dass beide, in der Tradition der „deutschbaltischen Liedschule“ verankert, dies bedeutet die Verbindung von Komponist und Dichter, ihre Libretti selbst verfassten. Diese Opern waren nicht nur, ungeahnt, großer Schlussstein ihres Schaffens, sondern auch eine letzte große Artikulation der deutschbaltischen Musikkultur, auch letzter Beitrag aus peripherer Lage zur deutschen Operngeschichte. Oper war damals, nicht nur in den baltischen Staaten, kulturelles geistiges Zentrum einer Nation, d. h. das Opernhaus wurde in Riga Lettische Nationaloper (vorher Rigaer Stadttheater), in Tallinn wurde die „Estonia“ erbaut, wofür dann auch Opern in der eigenen Sprache von eigenen Komponisten entstanden – die Nationaloper war nicht nur Gebäude sondern im anderen Sinne auch die musikdramatische Nationaloper als Werk. Die Schicksale gleichen sich oftmals. So sind bereits kurz nach der Umsiedlung im Warthegau verstorben: Walter Conradi und Gustav Erhardt. Die jüngeren Männer wurden eingezogen und sind gefallen: Egon Friedrich, Gerhard Kroeger, Gerhard Freymann. Auch nach dem Krieg gab es Opfer, wie Walter Freymann, der verschleppt wurde und in einem Lager bei Moskau umkam, oder Hans von Dercks, der 1947 an Folgen der Flucht verstarb.

26 SCHEUNCHEN: Lexikon (wie Anm. 6), 38 f.



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Der Verlust der Werke, welche die Umsiedlung überstanden haben bzw. solche, die inzwischen entstanden waren, ergab sich dann durch die Vertreibung aus dem Warthegau (von Dercks, Schnabel); ebenso gab es auf der Flucht selbst Werkverluste (Conradi, Schnabel), aber auch Werkverluste des Veröffentlichten und von Manuskripten (Schnabel, Freymann) durch den alliierten Bombenhagel auf deutschen Städte (besonders die Musikverlagsstadt Leipzig, Berlin). Der größte Verlust bestand im noch nicht Geschaffenen, denn die Zeitläufte waren in jeder Hinsicht ungünstig. Zwar ist von manchen Komponisten überliefert, dass sie sogar in Gefechtspausen komponiert hätten, aber letztendlich gehören zum Verfassen einer Partitur Notenpapier und ein Tisch sowie Ruhe; auch ein Klavier ist für die Zusammenhänge des Niedergeschriebenen günstig. Ebenso sollte dann auch die Möglichkeit bestehen, das Komponierte aufzuführen und dies war, beim Abbruch aller Beziehungen durch den Heimatverlust, kaum mehr möglich. Wesentliche Bedeutung hatten natürlich auch die psychischen Belastungen der Zeit, die zum Teil ein gänzliches schöpferisches Verstummen zur Folge hatte (Schnabel, Heuer). Hinzu kam die übermächtige avantgardistische Richtung, welche das Musikschaffen der nächsten Jahrzehnte in Deutschland bestimmte. Das Schaffen dieser letzten Generation findet im deutschen Musikleben keine Beachtung, trotz teilweise bemerkenswerter Qualität. In Estland und etwas mehr in Lettland gibt es gelegentlich eine Aufführung von Werken dieses Personenkreises. Diese werden sich bestimmt zukünftig dort noch etwas vermehren, da die deutschbaltische Kultur doch zunehmend als landeseigene Kultur angesehen wird.27 In Deutschland wird es wohl beim „nicht angekommen“ bleiben. Sie werden im riesigen Heuhaufen einer beliebigen Weltmusik und im Wust trivialer Unterhaltung nicht mehr wahrzunehmen sein, ein kaum mehr disponiertes Publikum und deshalb auch keine professionellen Interpreten finden, die sich ihrer Werke annehmen müssten, da die Musik des 20. Jahrhunderts meist hohe Anforderungen an die Interpreten stellt. Ein Problem ist natürlich auch, dass viele Werke in Archiven als Manuskripte sozusagen eingesperrt sind und keine betreuenden Verlage mit Drucklegung gefunden haben. Des Weiteren ist auch das Urheberrecht problematisch, dem viele Werke noch ausgesetzt sind; dies verursacht Aufführungskosten, die von den kleinen, aber interessierten Veranstaltern nicht getragen werden können. Immer wieder gibt es Festivals, welche das Baltikum zum Thema haben. Leider erschöpft sich dieser Bezug in der Regel auf Interpreten, die aus dem Baltikum stammen und auf einige zeitgenössische, hervorragende Komponisten von dort. Durch die Zeitströmung der Alten Musik tauchen höchstens gelegentlich noch zwei Namen aus der Barockzeit auf: Johann Valentin Meder und Johann Gottfried Müthel. Leider gibt es sonst tiefes Schweigen des Unbemühten.

27 Ilona BREĢE: Cittautu Mūziķi Latvijā 1401–1939 Leksikons [Die fremdstämmigen Musiker in Lettland 1401–1939 Lexikon], Rīga 2001.

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Bei der Betrachtung der ganzen Problematik ist leider zu sagen, dass „Umgesiedelt und nicht mehr angekommen“ nach wie vor in voller Wucht gilt, trotz gelegentlicher hochidealistischer Versuche, diesen Komponisten etwas gerecht zu werden.28

28 Hier wäre besonders das Malinconia-Ensemble, Stuttgart zu nennen, das auf mehreren CDs einige Werke von Walter Freymann und Alexander Schnabel (Cornetto-Verlag) eingespielte, in zahlreichen Konzerten auf diese Komponisten aufmerksam machte und unermüdlich immer wieder aufmerksam macht, bei gutem Publikumserfolg.

Grzegorz Poźniak DAS SCHICKSAL DER ORGELBAUFIRMA „BERSCHDORF“ AUS NEISSE/NYSA IN DEN KRIEGSJAHREN UND DER NACHKRIEGSZEIT* Die Geschichte der Orgelbaufirma Berschdorf gehört eher zu den kurzen, ist aber reich und außergewöhnlich bewegend.1 Es sollte zunächst betont werden, dass es unmöglich ist, über die Tätigkeit von Paul und Carl Berschdorf zu sprechen, ohne auf ihre Meister in der Orgelbaukunst – die Gebrüder Reinhold und Max Hundeck – zurückzugreifen.2 Diese vorvergangenen Zeiten sind leider mit dem Schleier des Geheimnisses verhüllt. Gewiss könnte man über diese Werkstatt eine Reihe von Informationen anführen. Beschränken wir uns aber an dieser Stelle auf die Feststellung, dass die Orgelwerkstatt der Gebrüder Hundeck von ihrem Lehrling Paul Berschdorf (1859–1933) übernommen wurde, und zwar 1889, nach Reinhold Hundecks Tod. Dem Schlesischen Musiklexikon zufolge wurde die Werkstatt 1888 von Paul Berschdorf übernommen.3 Aus dem Briefpapier der Firma Berschdorf, das anläßlich des Goldenen Firmen-Jubiläums erstellt wurde, geht jedoch eindeutig hervor, dass die Übernahme der Firma Reinhold Hundeck durch Paul Berschdorf 1889 erfolgte. Dieses Jahr sollte deshalb als Gründungsjahr und Beginn der Produktion der Firma Berschdorf angenommen werden.

* Bei diesem Beitrag handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung folgenden Textes: Grzegorz POŹNIAK: Das Schicksal der Orgelbaufirma „Berschdorf” aus Neisse in der Nachkriegszeit, in: Literarische Diskussionsrunden. Spotkania dyskusyjne, hg. v. VERBAND DER DEUTSCHEN SOZIAL-KULTURELLEN GESELLSCHAFTEN IN POLEN, Opole 2015, 25–31. 1 Dieser Artikel bezieht sich vor allem auf folgende Publikationen: Fred H. KELLER: Retrospect: Sussex clinic building once housed ‘secret’ business, http://www.lakecountrynow.com/ news/sussexsun/198978561.html (9.10.2015); Grzegorz POŹNIAK: Firma organmistrzowska „Berschdorf“ z Nysy w świetle korespondencji z parafią pw. św. Bartłomieja w Gliwicach [Die Meisterwerkstatt für Orgelbau „Berschdorf” aus Neisse im Lichte der Korrespondenz mit der Seelsorgeeinheit St. Bartholomäus in Gleiwitz], Opole 2012 (Z Dziejów Kultury Chrześcijańskiej na Śląsku 74). 2 Es gibt eine zweifache Schreibweise des Namens: „Hundek“ und „Hundeck“. Grzegorz POŹNIAK: Reinhold i Max Hundeck. Działalność organmistrzowska na Śląsku Opolskim [Reinhold und Max Hundeck: Die Orgelbautätigkeit im Oppelner Schlesien], in: Studia Teologiczno-historyczne Śląska Opolskiego 25 (2005), 141–149. 3 Lothar HOFFMANN-ERBRECHT: Berschdorf, in: Schlesisches Musiklexikon, hg. v. DEMS., Augsburg 2001, 32–33.

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Abb. 1: Briefkopf der Orgelbauanstalt Carl Berschdorf. Foto: Grzegorz Poźniak.

Zunächst einige biografische Details zu Paul Berschdorf: Seine Mutter entstammte der Oberglogauer Familie Weber, über seinen Vater fehlen nähere Angaben. Paul Berschdorf lernte zuerst, fünf Jahre lang, die Orgelbaukunst bei Reinhold Hundeck und später noch drei Jahre bei Andreas Schuster in Zittau. Nach der Rückkehr ins Oppelner Schlesien ließ er sich in Neisse nieder, wohin auch die Gebrüder Hundeck ihre Werkstatt verlegten. Unter seiner Führung erlebte die Orgelbaufirma einen enormen Aufschwung. Es soll erwähnt werden, dass die Firma 1928, als Paul sie seinem Sohn Carl (1887–1950) vererbte, in der Werkstatt 50 Mitarbeiter angestellt hatte. Paul Berschdorf verunglückte – was für die damalige Zeit ein „Kuriosum“ war – bei einem Autounfall am 10. Juli 1933 tödlich. Carl Berschdorf hatte sich seine Orgelbaukenntnisse sowohl in der Werkstatt seines Vaters als auch bei der Firma August Laukhuff in Weikersheim erworben. Die Bekanntschaft mit dem berühmten Akustiker Johannes Biehle aus Berlin, der sich auf die Orgelbaukunst spezialisiert hatte, war für die Instrumente, die in der Neisser Orgelbauanstalt Berschdorf entworfen und gebaut worden sind, vorteilhaft. Die hier produzierten Orgeln waren hauptsächlich für Kirchen in Schlesien bestimmt, sie wurden aber auch in Berlin, Brandenburg, Westpreußen, Pommern, auf Malta und in Indonesien installiert. Man schätzt, dass zwei Generationen der Familie Berschdorf 129 Instrumente erbauten.4 Es ist schwer zu sagen, auf welcher Grundlage diese von Lothar Hoffmann-Erbrecht angegebene Zahl errechnet wurde. Sie scheint jedoch zu niedrig zu sein. Nach heutigen Angaben kann man sicher von 160 hinterlassenen Instrumentem dieser Orgelbaufirma sprechen. Der letzte Orgelbauer der Berschdorf-Generation im „schlesischen“ Abschnitt der Firmengeschichte war Norbert Berschdorf. Von einer selbstständigen Orgelbauer-Tätigkeit kann jedoch bei ihm nicht gesprochen werden. Ohne Zweifel war er ab 1937 4 Diese Zahl gibt. z. B. Lothar Hoffmann-Erbrecht an. HOFFMANN-ERBRECHT (wie Anm. 3), 32.



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in der Firma seines Vaters Carl angestellt, wo er Fachkenntnisse im Orgelbau erwarb. Die Tätigkeit der Firma und deren Aufschwung wurden zuerst durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen und letztendlich endete sie mit Carls und Roberts Migration nach Regensburg.5 Die folgende Tabelle veranschaulicht diese Geschichte der Firma. Orgelbauwerkstatt Hundeck–Berschdorf Max Hundeck ↔ Reinhold Carl Hundeck (29.4.1859, Friedland O.S. – Gebrüder Hundeck, (21.8.1855, Friedland O.S. – 22.3.1889, Neisse) Orgelbauer 30.6.1888, Neisse) Entstehung der Orgelbauwerkstatt in Oberglogau 1877 Verlegung der Orgelbauwerkstatt nach Neisse („nach einigen Jahren”) ca. 1882 (?) ↓ Übernahme der Orgelbauwerkstatt durch den Lehrling Paul Berschdorf, 1889 (nach Reinholds Tod) Paul Berschdorf (2.6.1859, Oberglogau – 10.7.1933, Neisse) ↓ Übernahme der Orgelbauwerkstatt durch den Sohn Carl, 1928 (infolge der Erkrankung des Vaters [?]) Carl Berschdorf (4.8.1887, Neisse – 15.12.1950, Regensburg) Schließung der Werkstatt in Neisse (als Folge des Zweiten ↕ Weltkrieges) Norbert Berschdorf Anstellung in der Orgelbauanstalt des Vaters Carl, 1937 (27.4.1919, Neisse – 1949 Emigration in die USA 27.9.2003, Brookfield WI)

Die Aktivität von Paul und Carl Berschdorf ist ein Teil der Tätigkeit, die man als „fabrikmäßige Herstellung“ von Orgeln bezeichnen kann. Julian Gembalski stellt dabei zu Recht fest, dass „die Herstellung von Orgeln mit den Fabrik-Methoden mit Sicherheit (…) teilweise dazu [führte, GP], dass der individuelle Charakter mancher Instrumente verloren ging. Man darf solch eine Orgel-Produktion durch große Unternehmen nicht herabmindern, umso mehr, als die ‚Orgel-Fabriken‘, die im 19. Jahrhundert entstanden waren, viele wertvolle Orgeln hinterließen und zur Popularisierung der Orgeln beitrugen (auch zur Senkung der Produktionskosten)“.6 So ist es eben im Fall der Instrumente, die aus der Orgelbauanstalt Berschdorf stammen. Gewiss, man kann 5 Ebd., 32–33. 6 Julian GEMBALSKI: Historia dźwiękiem pisana [Die mit Klang geschriebene Geschichte], in: Śląsk 5 (1999), Nr. 12 (50), 34–37 hier 36. Siehe auch: Julian GEMBALSKI: Budownictwo organowe na Górnym Śląsku w dwudziestoleciu międzywojennym [Der Orgelbau in Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit], in: Organy na Śląsku [Orgeln in Schlesien], hg. v. DEMS., Katowice 1984, Bd. I, 114–117.

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unter ihnen auch solche finden, die schablonenhafte Lösungen nachahmen. Generell handelt es sich aber um unkonventionelle Instrumente von guter Qualität, die den liturgischen Erfordernissen gut entsprechen. Diese Orgeln eignen sich auch sehr gut für konzertantes Spiel und zur Aufführung der gesamten Weltorgelliteratur. Die kennzeichnenden Merkmale der in der Orgelbauwerkstatt Berschdorf produzierten Instrumente charakterisierte Franciszek Koenig folgendermaßen: – Die Bandbreite der hergestellten Orgeln reichte von Instrumenten, die über nur wenige Stimmen verfügten, bis hin zu Orgeln von über sechzig Stimmen; die größten besaßen vier Manualklaviaturen und Pedal. – Die Instrumente besaßen eine gute Klangqualität, die auf guter Stimmen- und Mensurenauswahl basierte, und beachteten die akustischen Bedingungen der jeweiligen Kirche. – Im Allgemeinen sind es Orgeln, die der romantischen, manchmal der neoklassischen Ästhetik verpflichtet sind, bemerkbar sind aber auch Einflüsse der „Orgelbewegung“.7 – Es ist eine Dominanz der pneumatischen und elektropneumatischen Traktur und Kegelladen festzustellen. – Es wurde eine reiche Palette von Koppeln zwischen den Werken verwendet, wie auch im Rahmen einzelner Werke und der freien Kombinationen. – Der Umfang der Manualklaviaturen reicht von C–a3, der der Pedalklaviatur von C–f1.8 Im Folgenden soll auf das Kriegs- und Nachkriegsschicksal der Orgelbaufirma Berschdorf eingegangen werden. Im Januar 1945 wurde Neisse zu einer Festung. Die schlimmste Kriegsperiode für die Stadt war März und April. Die Rote Armee hat die unbeschädigt gebliebene Stadt besetzt und es ist zur Zerstörung von Neisse gekommen. In den Kriegsflammen wurde das Stadtzentrum zerstört, zu dem auch die Marienstraße gehörte, wo in den Hausnummern 14–16 die Firma Berschdorf produzierte. Das gesamte Archiv der Firma ist so verlorengegangen. Den Rest der Werkstatt hat die Firma Krukowski aus Łódź übernommen. Deren Mitarbeiter berichteten, sie hätten nur die Zungenpfeifen übernommen, denn die Firma hätte nicht mehr existiert. Obwohl die Archivalien der Firma Berschdorf vernichtet wurden, wäre es möglich, aus den einzelnen Pfarreien, in die Instrumente von Berschdorf geliefert wurden, und denen zum Beispiel Kostenvoranschläge geschickt worden waren, wieder neue Betriebsunterlagen zusammenzustellen. 7 Bei der „Orgelbewegung“ handelte sich um eine Reformbewegung im 20. Jahrhundert zur Erneuerung der Orgelbaukunst nach Vorbildern des 17./18. Jahrhunderts. 8 Franciszek KOENIG: Organmistrzowie wywodzący się z Głogówka i działający na Śląsku w II połowie XIX i w I połowie XX wieku [Die in der 2. Hälfte des 19. und der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts tätigen Glogauer Orgelbaumeister], in: Studia Organologica 3 (2009), 185–210, hier 201.



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In der Studie „Firma organmistrzowska ,Berschdorf‘ z Nysy w świetle korespondencji z parafią pw. św. Bartłomieja w Gliwicach“9 etwa wurde eine reiche Korrespondenz zwischen Carl Berschdorf und dem Kirchenvorstand der Pfarrgemeinde St. Bartholomäus in Gleiwitz veröffentlicht. Es ist unmöglich, sie hier vollständig anzuführen. Erwähnenswert scheint hier jedoch ein Brief, den Carl Berschdorf am 6. Juli 1942 aus Neisse nach Gleiwitz/Gliwice geschickt hat. Dieser enthält die Information, dass ein Mitarbeiter der Firma alle erforderlichen Arbeiten an der Orgel durchgeführt habe. Gleichzeitig wird als Ursache der Probleme mit der Orgel die trockene Luft genannt. Deswegen wurde dann wahrscheinlich seitens der Kirchengemeinde der Auftrag erteilt, einen Tremulan-

Abb. 2: Brief Carl Berschdorfs an den Katholischen Kirchenvorstand von St. Bartholomäus in Gleiwitz/Gliwice, 6.7.1942. Foto: Grzegorz Poźniak. 9 POŹNIAK (wie Anm. 1).

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ten einzubauen. Berschdorf informierte, dass er sich dieser Sache annehmen wolle. Er müsse vor Ort das Windsystem und die Windversorgung (Bälge, Kanäle) untersuchen. Dies sei aber zur Zeit nicht möglich, weil er in die Kriegsbelieferung einbezogen sei. Am 8. Juli 1942 teilte Carl Berschdorf der Pfarrgemeinde per Postkarte mit, dass er 45 neue Pfeifen für die Orgel in die alte Kirche St. Bartholomäus schicke, die ursprünglichen seien seinerzeit durch unberufene Personen demontiert worden. Er bestätigte, dass die Pfeifen bei der ersten sich bietenden Gelegenheit eingebaut würden.

Abb. 3: Brief Carl Berschdorfs an den Katholischen Kirchenvorstand von St. Bartholomäus in Gleiwitz/Gliwice, 8.7.1942. Foto: Grzegorz Poźniak.



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Diese Gelegenheit bot sich leider vermutlich nicht mehr. Damit endet nämlich die Korrespondenz über die Orgel, die im Pfarrarchiv erhalten blieb. Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann man feststellen, dass infolge von Kriegshandlungen die Tätigkeit der Familie Berschdorf in Schlesien endete. Über das weitere Schicksal kann man durch die Erinnerungen von Norbert Berschdorf erfahren, die durch Fred H. Keller niedergeschrieben und online veröffentlicht wurden.10 Keller berichtet von einem langen und konstruktiven Gespräch mit dem Orgelbauer im Juni 1979 und bezeichnet Norbert Berschdorf als einen Meister seines Faches, einen Philosophen, einen Linguisten,11 einen Künstler, aber auch als jemanden, der sehr familiär war, der als Soldat das Kriegsschicksal erfahren und Sibirien erlebt hatte. Überdies war Norbert Berschdorf ein sehr frommer Mensch. Er wollte auch nicht viel über die Kriegszeit und seine Erlebnisse in Sibirien erzählen. Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass er Angst vor dieser „Konfrontation“ hatte. Die Neisser Orgelbauwerkstatt Carl Berschdorf stellte ab 1928 ca. 50 Mitarbeiter ein, produzierte Orgeln und Spieltische, war sehr erfolgreich und erfreute sich großer Popularität. 1937 arbeitete mit Norbert Berschdorf der Vertreter der dritten Familien-Generation in der Firma. Hervorragend ausgebildet, u. a. im Breslauer Musikkonservatorium, hatte er die Meisterprüfung als Orgelbauer in Regensburg abgelegt. Im Folgenden soll kurz auf das Schicksal der Familie Berschdorf während des Zweiten Weltkrieges und danach eingegangen werden. Norbert wurde zur Armee einberufen und war an verschiedenen Orten der besetzten Gebiete stationiert. Mit der Ausdehnung der Kriegshandlungen kämpfte er als Soldat gegen die russische Armee. Er geriet in Gefangenschaft und wurde nach Sibirien deportiert. Diese Zeit wurde in der erhaltenen Korrespondenz seines Vaters Carl, die bereits oben erwähnt wurde, indirekt angesprochen. Die Orgelbauwerkstatt verlor allmählich ihre Dynamik, schließlich – nachdem die Front sich gegen Westen verschoben hatte – musste Carl Berschdorf seine Tätigkeit in Schlesien einstellen. Er zog zuerst in Richtung Westen, um sich endgültig im Oktober 1945 in Regensburg niederzulassen. Ein halbes Jahr später, im März 1945, wurde Norbert Berschdorf aus der sowjetischen Gefangenschaft entlassen. Vater und Sohn hofften auf eine Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit als Orgelbauer; sie beabsichtigten die Gebäude und die Organisation einer der Regensburger Orgelbaufirmen, der Firma „Binder und Sohn“, zu übernehmen. Die Bekanntschaft beider Firmen könnte sowohl von der zwar geringen, aber tatsächlichen Aktivität der Binders in Schlesien herrühren, aber auch von der Zeit, in der Norbert Berschdorf seine Orgelbau-Fachkenntnisse verbesserte und gesetzlich regelte.

10 KELLER (wie Anm. 1). 11 Norbert Berschdorf beherrschte die lateinische, die griechische, die englischen und die französische Sprache.

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Der Regensburger Abschnitt der Firmengeschichte dauerte nicht allzu lange. Er wurde 1949 durch die Finanzkrise in Deutschland beendet. Carl Berschdorfs Tod am 15. Dezember 1950 war der dramatische Endpunkt dieser Entwicklung. Er hing ohne Zweifel mit der Emigration seines Sohnes Norbert in die USA zusammen. Es ist nicht mehr gelungen, den Firmennamen „Orgelbauanstalt Berschdorf“ wiederherzustellen. Norbert führte seine Tätigkeit als Orgelbauer zwar weiter, jedoch in beschränktem Umfang. Es wechselten auch die Tätigkeitsorte: Duluth, Brookfield, Sussex. Die letzte Phase der Berschdorf-Geschichte war der 1987 getätigte Verkauf von Gebäuden, in denen er als Orgelbauer gewirkt hatte, für 73.000 $. Die Tätigkeit von Norbert Berschdorf war bis an sein Lebensende durch die Erfahrungen des Krieges und des Exils gekennzeichnet. Es besteht kein Zweifel daran, dass die Kriegs- und Nachkriegszeit negative Auswirkungen auf seine Aktivität als Orgelbauer hatten, diese verlangsamten und das Zurückkehren zur alten Qualität verhinderten. Natürlich könnte man dasselbe von seinem Vater Carl Berschdorf sagen. Der Maßstab der Aktivität im Bereich Orgelbau werden immer die Instrumente sein, die Pfeifenorgeln. Wenn man all diese Ereignisse – abgesehen von der eigentlichen Tragödie der Kriegs- und Nachkriegszeit – mit den Augen eines Musikwissenschaftlers und zugleich eines Organologen betrachtet, muss man zugeben, dass das Potenzial des Schönen, das in der gut florierenden Orgelbaufirma Berschdorf steckte, durch den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre vernichtet wurde. Die Geschichte der Firma existiert jedoch vor allem in den von ihr hergestellten Instrumenten.

Michael Hirschfeld SCHLESISCHE KOMPONENTEN IM LIEDGUT DER DEUTSCHEN VERTRIEBENEN NACH 1945 „Am Sonntag im Gottesdienst konnten wir unsere schlesischen Lieder singen: ‚Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken?‘ Da blieb kein Auge trocken“1. Die Augen von Ottilie Herbst aus Langenbrück im Kreis Neustadt (Oberschlesien) leuchten, als sie sich 2010 vor laufender Kamera Fragen nach der kirchlichen Aufnahme in Ostfriesland stellt. Diesen Eindruck gewinnt jedenfalls der Museumsbesucher, der in der zu einer Dokumentationsstätte zur Integration der Vertriebenen in Nordwestdeutschland umgebauten evangelisch-lutherischen Gnadenkirche in Tidofeld bei Norden auf einem der dort aufgestellten Fernsehbildschirme jenen Erinnerungsbericht ansieht. „Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken? Wem künd ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?“ Gerade der Beginn des Introitus-Liedes von Franz Schuberts „Deutscher Messe“ mag von der Zeitzeugin zitiert worden sein, weil er die unmittelbare psychologische Situation der Vertriebenen sinnbildlich widerspiegelt.2 Das Gefühl, neben dem Heimatpriester und den Heimatglocken ein letztes Stück Heimat gerade im Singen altvertrauter Kirchenlieder zu erfahren, findet sich in einem fiktiven Briefwechsel einer in der fränkischen Diaspora gelandeten Vertriebenen und einer einheimischen Katholikin mit einer Freundin, wie sie die katholische Vertriebenenzeitschrift „Christ unterwegs“ 1950 veröffentlichte. In dieser wohl als idealtypisch zu verstehenden Korrespondenz hadert die „Hedwig“ genannte Vertriebene mit ihrem Schicksal: „Ich meine immer, es müsste alles ein böser Traum sein und die Glocken von St. Nikolaus müssten läuten, unser guter Pater R. auf die Kanzel steigen, unsere Weihnachtslieder müssten klingen.“3 Diese Topoi kehren im Übrigen in leicht variierter Form in zahllosen Erinnerungen von schlesischen Vertriebenen landauf, landab über die Jahrzehnte hinweg bis heute wieder.4 Und der 1 Interview mit Ottilie Herbst, Jahrgang 1925, von 2010 in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld in Norden/Ostfriesland. 2 Vgl. dazu auch Elisabeth FENDL: Religion als Heimat und Konfliktfeld. Populäre Frömmigkeit zwischen Anpassung und Eigensinn, in: Die kirchliche Integration der Vertriebenen im Südwesten nach 1945, hg. v. Rainer BENDEL, Abraham KUSTERMANN, Berlin 2010, 91–111, hier 96. 3 Wir sitzen am selben Tisch … Drei Briefe vom Zueinanderfinden, in: Christ unterwegs 1/1950, 3–7, hier 6. 4 Georg R. SCHROUBEK: Wallfahrt und Heimatverlust. Ein Beitrag zur religiösen Volkskunde der Gegenwart, Marburg 1968, 289; Dietmar SAUERMANN: „Fern doch treu!“. Lebenserinnerungen als Quellen zur Vertreibung und ihrer kulturellen Bewältigung am Beispiel der Graf-

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Breslauer Kapitelsvikar Ferdinand Piontek wies in seinem Fastenhirtenwort 1947 auf die besondere Faszination hin, die gerade in Zeiten der Not vom religiösen Lied ausgehe: „Und wenn nun zum Reim und Rhythmus noch die gefällige Melodie kommt, dann vereinigen sich drei Mächte, um die Seele gefangenzunehmen.“5 Dem entsprach auf den ersten Blick auch eine Stellungnahme der kirchlichen Behörde, wie sie beispielsweise aus dem Bistum Münster vom April 1946 überliefert ist. Dort hatte Kapitularvikar Franz Meis im Frühjahr 1946 den Geistlichen Weisungen zum Umgang mit den einströmenden Ostvertriebenen erteilt, in denen es u. a. hieß, dass letztere sich „in der ersten Zeit auch einmal zusammenfinden wollen etwa im Pfarrsaal oder bei einer gelegentlichen Andacht, in der auch die ihnen eigenen religiösen Lieder und Gebete zur Geltung kommen können“.6 Auf den zweiten Blick wird aber deutlich, dass es sich in den Augen des Bistums zum einen nur um eine zeitlich begrenzte Maßnahme handeln sollte und dass zum anderen das Liedgut der Vertriebenen ausschließlich in separaten Andachten, also im Rahmen einer Sonderseelsorge für Heimatvertriebene, zum Einsatz kommen sollte. Diese Lesart bestätigt sich in dem nachfolgenden Satz: „Zur Eingliederung in das Pfarrleben ist es wünschenswert, dass bald ihnen das Diözesangesang- und Gebetbuch zur Verfügung gestellt wird (…).“ Diese beiden Positionen drücken sehr verkürzt die Problematik aus, vor der die Verwendung schlesischer Komponenten im Liedgut und auch in der Liturgie nach der Ankunft der Ostvertriebenen stand. Dass Zeitzeugen immer wieder auf die Lieder ihrer Heimat zu sprechen kommen, zeigt nicht nur deren herausgehobenen Stellenwert für die religiös-kulturelle Erinnerung an die verlorene Heimat. Es belegt ebenso, dass es sich hier im Vergleich zur lateinischen Kultsprache der Messe um ein populäres, weil muttersprachliches Element handelt. Mein Augenmerk gilt daher nicht den auch aus Schlesien transferierten lateinischen Vertonungen des Messordinariums oder anderer lateinischer Gebete, wie etwa „Ave Maria“, „Salve Regina“, „Ave verum“ usw. Meine Aufmerksamkeit gilt ebenso wenig der vorwiegend in der akademischen Jugend der Zwischenkriegszeit in Schlesien verbreiteten Liturgiebewegung7, sondern weitestgehend dem im kollektiven Bewusstsein einer Volksreligiosität als Bestandteil der Liturgie besondere Aufmerksamkeit genießenden deutschen Liedgut. Und dies nicht zuletzt weil aus diesem Bereich den zeitlich beschränkten Rahmen dieses Bei-

schaft Glatz, Marburg 2004, hier 361–365; aber auch Inka GERDES: Die katholischen Vertriebenen im protestantischen Ostfriesland zwischen 1946 und 1960, ungedruckte Magisterarbeit, Universität Freiburg/Breisgau 2007/08, 102–104. 5 Fastenhirtenwort des Kapitelsvikars Ferdinand Piontek v. März 1947, zit. nach Ferdinand PIONTEK: Hirtenworte. Hirtenbriefe, Hirtenschreiben, Predigten, Ansprachen und Aufsätze, hg. v. Heinrich THEISSING, Leipzig o. J. [1958], 26–30, hier 28. 6 Kirchliches Amtsblatt für die Diözese Münster v. 4.5.1946, 69. 7 Vgl. vor allem Marcin WORBS: Quickborn und Heimgarten als ein kulturell-religiöses Ereignis in Oberschlesien (1909–1939), Opole 1999.



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trags ausfüllendes, zudem bisher nicht aufgearbeitetes exemplarisches Quellenmaterial zur Verfügung stand.8 Was ist also das Besondere am schlesischen Liedgut, dass es einen solch hohen Stellenwert im religiösen Bewusstsein vieler Schlesier einnahm?9 Welches Bild der schlesischen Kirche wurde damit in den Westen transportiert? Weshalb wurden angesichts der bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil dominierenden lateinischen Liturgiesprache gerade deutsche Messgesänge als heimatlich angesehen? Welche Ängste und Gefahren wurden von Einheimischen darin gesehen? Wie groß waren die Bedürfnisse der Vertriebenen nach Pflege des heimatlichen Kirchenliedguts und welche identitätsstiftende Wirkung ging damit einher? Liegt in der Pflege dieses kirchlichen Brauchtums eine Chance zur Vergangenheitsbewältigung oder ist sie allein Zeichen einer bloßen Rückwärtsgewandtheit? Ist schließlich der Wunsch nach schlesischen Traditionen im Kirchengesang eher als Element der Exklusion oder der Inklusion in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu verstehen? Es geht ebenso darum, herauszufiltern, wo und wie bei dieser Thematik die Konfliktlinien verliefen bzw. worin sie begründet waren. Um letztere deutlicher herauszuarbeiten, wurde auf eine Einbeziehung von Beispielen aus allen westdeutschen Diözesen verzichtet, was zum einen dem vorgegebenen beschränkten Rahmen eines Aufsatzes geschuldet ist, zum anderen aber auch angesichts der unterschiedlichen Mentalitäten und Traditionen, auf welche die Vertriebenen zwischen Schleswig-Holstein im Norden und Bayern im Süden getroffen sind, problematisch gewesen wäre. Im Sinne einer stärkeren Kontrastierung im Liedgut von Einheimischen und Vertriebenen, das im süddeutsch-österreichischen Raum eine viel stärkere Affinität aufwies, erschien eine räumliche Eingrenzung auf Nordwestdeutschland sinnvoll. Dort kann der einheimische „Menschenschlag“ gemeinhin als nüchterner, wortkarger, spröder, vielleicht reflektierter beschrieben werden, so dass aus diesen bewusst verallgemeinerten Eigenschaften heraus auch eine viel stärkere Disparität zur Mentalität der Schlesier festzustellen ist. Zumindest hat der Tübinger Pastoraltheologe Franz Xaver Arnold 1948 das Besondere des schlesischen Katholiken in der unmittelbaren Nachkriegszeit wie folgt charakterisiert: Er „zeigt einen besonders hervorstechenden Zug zum Gemüthaften. (…) er will stimmungsvolle Gottesdienste. Ihm ist Religion mehr Herzenssache als Verstandesangelegenheit. (…)

8 Bistumsarchiv Osnabrück 09-05-00 u. 09-05-01, u. Offizialatsarchiv Vechta A-9-22. Für Hinweise auf die Osnabrücker Archivalien gilt mein Dank Frau Inka Gerdes-Janssen M.A. 9 Vgl. auch die primär unter liturgiewissenschaftlichem Aspekt formulierten, hier aber modifiziert und ergänzt aufzugreifenden Fragestellungen bei Benedikt KRANEMANN: Liturgie und Migration – ein neues Thema der Liturgiegeschichtsforschung, in: Liturgie und Migration. Die Bedeutung von Liturgie und Frömmigkeit bei der Integration von Migranten im deutschsprachigen Raum, hg. v. DEMS., Stuttgart 2012, 9–25.

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Im Ganzen erweist sich der Schlesier als hochgemut, geistvoll, religiös ansprechbar und gemeinschaftsbetont.“10. Am Fallbeispiel der vier nordwestdeutschen (Erz-)Bistümer Hildesheim, Osnabrück, Münster und Paderborn soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung einerseits von den Bischöfen, aber auch vom einheimischen Klerus, andererseits vom Vertriebenenklerus und den schlesischen Laien den Kirchenliedern aus der Heimat in der unmittelbaren Nachkriegszeit für die religiös-kulturelle Beheimatung der Ostvertriebenen zugedacht wurde. Dabei muss vorab erwähnt werden, dass der Anteil der katholischen Vertriebenen – von denen im Nordwesten die Mehrheit aus Schlesien stammte – in den vier ausgewählten Diözesen differierte. Waren etwa im Bistum Hildesheim 1950 60 % der katholischen Bevölkerung Heimatvertriebene, so waren es in Osnabrück 44 %, in Paderborn 30 % und im Bistum Münster – in dieser Hinsicht das Schlusslicht – unter 20 %.11 Diese unterschiedlichen Dimensionen lassen bereits Rückschlüsse auf die sehr unterschiedliche Gewichtung der Vertriebenenanliegen in den einzelnen Generalvikariaten zu.

1. Charakteristika von „Schlesischem“ im Liedgut Fragt man einen deutschen Katholiken heute nach einem typisch schlesischen Kirchenlied, dann wird man wahrscheinlich auf zahlreiche Marienlieder hingewiesen, wie etwa „Geleite durch die Welle“, „Milde Königin, gedenke“, „Rosenkranzkönigin, Mutter der Gnaden“, um hier nur einige beispielhaft zu nennen. Im kollektiven Bewusstsein verankert sind überdies die noch nicht einmal 100 Jahre alten Grüssauer Marienrufe mit ihrem wiederkehrenden Anruf „Mutter Gottes, wir rufen zu dir“. Die Popularisierung des deutschen Volkschorals in der sich in der Zwischenkriegszeit zu einem liturgischen Zentrum mit weiter Ausstrahlungskraft entwickelnden Benediktinerabtei Grüssau12 zeigte also im Nachgang zu Flucht und Vertreibung im Westen Wirkung. So gab es bei der seit 1947 jährlich an Christi Himmelfahrt durchgeführten Vertriebenenwallfahrt in Rulle bei Osnabrück am Nachmittag eine Marienfeier oder Maiandacht, „in deren Verlauf meist die Grüssauer Marienrufe gesungen“13 wurden 10 Franz Xaver ARNOLD: Das Schicksal der Heimatvertriebenen und seine Bedeutung für die katholische Seelsorge, in: Christ unterwegs 6/1948, 6. 11 Sabine VOSSKAMP: Katholische Kirche und Vertriebene in Westdeutschland. Integration, Identität und ostpolitischer Diskurs 1945–1972, Stuttgart 2007, 35, Tab. 2; Markus TRAUTMANN (Bearb.): Die Vertriebenen im Spiegel statistischer Erhebungen, in: Gelebter Glaube – Hoffen auf Heimat. Katholische Vertriebene im Bistum Münster, hg. v. Michael HIRSCHFELD, Markus TRAUTMANN, Münster 1999, 433–454. 12 Vgl. passim Ambrosius ROSE OSB: Die Benediktinerabtei Grüssau als liturgisches Zentrum in Deutschland (1919–1945), in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 31 (1973), 212–222. 13 SCHROUBEK (wie Anm. 4), 168.



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und damit unter den Vertriebenen durch Wiederholung einen identitätsstiftenden Charakter erhielten. Überhaupt erscheinen „Rufe“ charakteristisch für das als heimatlich erachtete kirchliche Liedgut. In diese Kategorie lässt sich auch der alte adventliche Ruf „Ecce, dominus veniet“ einreihen, der trotz Bewahrung des lateinischen Originaltextes besondere Popularität erlangt hat. Er wurde während der morgendlichen Roratemessen „zum Abschluss dreimal je einen Ton höher angestimmt“14. Ebenso volkstümlich blieb der Hirtengesang des „Transeamus usque Bethlehem“ in der Mitternachtsmesse an Heiligabend. „Den Höhepunkt erreichte der Christnachtjubel in dem feierlich gesungenen und mit Orchester begleiteten ,Transeamus‘ in der Vertonung von [Joseph Ignaz] Schnabel. Ein Weihnachten ohne Transeamus wäre für einen Schlesier eben kein Weihnachten gewesen“15, heißt es in einer populären schlesischen Brauchtumskunde etwas sehr allgemein, aber zutreffend. Und zum Osterfest gehörte das Lied „Triumph! Der Tod ist überwunden. Zum Leben der Unsterblichkeit ist selbst durchs Grab der Weg gefunden; Bekenner Jesu singt erfreut: Alleluja! Alleluja!“16. In dem aus dem 13. Jahrhundert stammenden Hedwigsruf „Freue dich, du deutsches Land, weil St. Hedwig dir entstand“ war schließlich die in der Situation nach 1945 aktuelle Komponente enthalten. Nun kann es ebenso wie das erstmals im Breslauer Diözesan-Gesang- und Gebetbuch von 192517 abgedruckte Hedwigslied „Jetzt Christen, stimmet an, es singe, wer da kann“18 eine spezifisch schlesische Komponente für sich beanspruchen und war mit seiner dritten Zeile, in der Hedwig als „Schutzfrau des ostdeutschen Lands“ apostrophiert wird, zudem dazu geeignet, die schlesische Landesheilige als Identifikationsfigur aller Vertriebenen nicht nur in der ikonographischen Darstellung19, sondern auch im Liedtext in den Mittelpunkt zu stellen. 14 Josef BRAUNER: Schlesischer Volksbrauch im Kirchenjahr, Ulm o. J. (1949), 29. 15 Ebd., 35. Zu Schnabel vgl. Rudolf WALTER, Art. Schnabel, Joseph Ignaz, in: Schlesisches Musiklexikon, hg. v. Lothar HOFFMANN-ERBRECHT, Augsburg 2001, 667 f. 16 BRAUNER (wie Anm. 14), 47–49. 17 Kurt KÜPPERS: Diözesan-Gesang- und Gebetbücher des deutschen Sprachgebietes im 19. und 20. Jahrhundert. Geschichte, Bibliographie, Münster 1987, 26. Hier wird darauf verwiesen, dass parallel in Oberschlesien das Gesangbuch „Weg zum Himmel“ verbreitet war. Vgl. dazu auch Peter Paul TARLINSKI: „Weg zum Himmel“/„Droga do nieba“. Anmerkungen zum Gebet- und Gesangbuch von Ludwig Skowronek, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau XXXVIII/XXXIX (1997/98), 523–541. 18 Ansgar FRANZ/Christiane SCHÄFER: Das Liedgut der Heimatvertriebenen in den westdeutschen Diözesen, in: Jahrbuch des Bundesinstituts für Geschichte und Kultur der Deutschen im östlichen Europa 20 (2012), 379–397, hier 389; eher dokumentarisch: Norbert SCHLEGEL: Schutzfrau des Schlesierlandes. Aus dem Liedgut zu Ehren der hl. Hedwig, in: Heilige verbinden die Völker. Patrone und Heilige der alten Heimat im heimatlichen Liedgut, hg. v. Rudolf GRULICH, DERS., Königstein 1996, 73–83. 19 Zur bildlichen Vereinnahmung Hedwigs für alle Ostvertriebenen: Kurt DRÖGE: Bilder einer überforderten Kultfrau: St. Hedwig von Schlesien, in: Zur Ikonographie des Heimwehs. Erinnerungskultur von Heimatvertriebenen, hg. v. Elisabeth FENDL, Freiburg 2002, 127–157.

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Für die Oberschlesier standen indessen in Anlehnung an ihr zentrales Wallfahrtsheiligtum, den Annaberg, die Annalieder im Mittelpunkt. Als „Klassiker“ des geistlichen Liedgutes der Vertriebenen wird man einerseits aber ohne Zweifel die „Deutsche Messe“ von Franz Schubert, 1827 in Wien zu Versen des Physikprofessors Johann Philipp Neumann vertont, bezeichnen, die „geradezu zum Signum des heimatlichen Gottesdienstes geworden“20 ist und in Süddeutschland, wo viele Vertriebene aus dem Sudetenland lebten, auch den Beinamen „Sudeten(deutschen)messe“ bekam21. So verwundert es auch nicht, dass Berichte über das Erklingen dieses Messordinariums bei Heimatgottesdiensten emotionale Äußerungen wie etwa „Dieser Gottesdienst führte uns wieder in die Heimat“22 zur Folge hatte bzw. mit dem Possessivpronomen „unser“ versehen wurde, wenn etwa Angehörige einer Dorfgemeinschaft aus der Grafschaft Glatz von „unserer Schubert-Messe“ sprachen. Andererseits wird in Nordwestdeutschland landläufig die sog. Staubmesse von Michael Haydn, die ihre volkstümliche Bezeichnung bekanntlich dem Introitus „Hier liegt vor deiner Majestät im Staub die Christenschar“ verdankt, gemeinhin als Vertriebenenliedgut identifiziert. Allerdings stammen beide volkssprachlichen Vertonungen der gleichbleibenden Messgesänge ebenso wie ihre Komponisten aus dem österreichischen Raum und sind dort sowie in den bayerischen Diözesen bereits vor 1945 verankert gewesen. Zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Kompositionen war Schlesien zwar bereits eine preußische Provinz, trotzdem wirkte jedoch ganz offensichtlich die ideelle Zugehörigkeit zur habsburgischen Lebenswelt in einer Transferierung dieser deutschen Messvertonungen fort. So trifft das Urteil der Liturgiewissenschaftler Ansgar Franz und Christiane Schäfer, dass „die katholische Liedkultur der historischen Ostgebiete von Süden her eingewandert [sei], von Bayern und Österreich aus über die böhmischen Länder und Schlesien bis ins Ermland“23, im Großen und Ganzen zu. Es geht also bei der Bezeichnung eines Kirchenlieds als schlesisch ganz offenbar gar nicht um dessen originäre Herkunft, sondern um die Bewahrung einer über Jahrzehnte eingeübten und von Kindesbeinen an internalisierten Tradition. So kommt auch Dietmar Sauermann zu dem Ergebnis: „Entscheidend ist aber (…) die heimatliche Ausgestaltung des Gottesdienstes mit Gesang und Orchestermusik. Jede Gemeinde hat ihre Lieblingslieder, die, da sie oft bei einem Gottesdienst gesungen oder gespielt werden, einen hohen zeichenhaften Charakter erhalten.“24 Und als Beispiel führt er das Grafschaft Glatzer Marienlied „Über die Berge schallt, lieblich durch Flur und Wald, Glöcklein dein Ruf“ an, das „zur Glatzer Heimathymne schlechthin“ wurde. Das Spezifische der Kirchenlieder der Vertriebenen hat Georg R. Schroubek treffend auf den Punkt gebracht: 20 So SCHROUBEK (wie Anm. 4), 289. 21 FENDL: Religion als Heimat und Konfliktfeld (wie Anm. 2), 96. 22 Beispiele aus Lewin/Grafschaft Glatz, zit. nach SAUERMANN, „Fern, doch treu“ (wie Anm. 4), 364. 23 FRANZ/SCHÄFER (wie Anm. 18), 395. 24 SAUERMANN: „Fern doch treu!“ (wie Anm. 4), 363.



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Sie seien „stärker gemütbetont und melodiöser, manchmal freilich auch süßlicher und in Geschmack und Frömmigkeitshaltung noch mehr dem 19. Jahrhundert verpflichtet als die Gesänge der westdeutschen Diözesen“.25 Der Rückgriff auf schlesische Lieder im Gottesdienst hatte in den neu entstehenden Flüchtlingsgemeinden in der ländlichen Diaspora allerdings auch noch einen ganz praktischen Hintergrund. Es fehlte in der unmittelbaren Nachkriegszeit schlicht an Exemplaren des Gesangbuchs der jeweiligen Aufnahmediözese. Wenn – wie erwähnt – die kirchliche Behörde den Klerus dazu aufrief, den Vertriebenen das Diözesangebet- und Gesangbuch zugänglich zu machen, war oftmals eher der Wunsch der Vater des Gedankens. „Mit dem Singen haperte es; denn es gab kaum Gesangbücher. Da haben wir uns halt auf Lieder mit bekannten Texten bescheiden müssen“26, heißt es aus einer Vertriebenengemeinde in der nordoldenburgischen Diaspora des Bistums Münster. Und aus einer anderen neu entstandenen Kirchengemeinde dieses Typus ist der parallele Gebrauch des Breslauer Diözesangesangbuchs und des Münsteraner „Laudate“ überliefert.27 Aus Ostfriesland wurde berichtet: Wo die „Priester aus Schlesien kamen, wurden nur die heimatlichen Lieder gesungen“28. In den bischöflichen Behörden wurde das Problem der „Gesangbuchnot“29 zwar im Grundsatz durchaus erkannt. So ist beispielsweise aus Osnabrück eine Stellungnahme des damaligen Generalvikars Dr. Konrad Seling überliefert, der 1947 von einer „sehr ungünstigen und gefährlichen Lage der Ostflüchtlinge“ sprach, der man primär durch das Beten und Singen im Gottesdienst entgegen wirken könne. Dazu aber müssten „die Flüchtlinge ebenso wie die Einheimischen … ein Gebet- und Gesangbuch zur Hand haben“30. Davon, dass möglicherweise die Einbeziehung eines spezifischen Liedguts oder besonderer Gebete Trost und Hilfe bedeuten könnte, ist hier jedoch keine Rede. Bereits im Sommer 1946 hatte es offenbar im Bistum Osnabrück Überlegungen gegeben, einem geplanten neuen Diözesan-Gesangbuch „im Anhang heimatliche Lieder evtl. auch Gebete als eine Art Proprium … für die Ostflüchtlinge“ beizufügen. Jedenfalls hatte der dort untergekommene Glatzer Generalvikar Franz Monse dem Leiter der Katholischen Osthilfe im Erzbistum Paderborn und späteren Motor und Gründer des dortigen Kulturwerkes der Ostvertriebenen, des St.-Hedwigs-Werkes, Pfarrer Wilhelm Trennert Entsprechendes nach Lippstadt berichtet. Der hellhörig gewordene Trennert wiederum hatte beim Bischöflichen Generalvikariat in Osnabrück 25 SCHROUBEK (wie Anm. 4), 288. 26 Helmut RICHTER: Erinnerungen aus meinem priesterlichen Leben in Ganderkesee von 1946 bis zu meiner Pensionierung 1980, Maschinenschrift. Ganderkesee 1980, 2. 27 Beide Gesangbücher wurden in Rastede/Kreis Ammerland nebeneinander benutzt. Vgl. Michael HIRSCHFELD: Katholisches Milieu und Vertriebene. Eine Fallstudie am Beispiel des Oldenburger Landes, Köln u. a. 2002, 103. 28 GERDES (wie Anm. 4), 102. 29 So knapp und treffend bei FRANZ/SCHÄFER (wie Anm. 18), 380. 30 Generalvikar Konrad Seling, Osnabrück, 29.7.1947, in: Bistumsarchiv Osnabrück 09-05-01.

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um Auskunft gebeten. Er bekam die abschlägige Antwort, dass es sich um ein nicht zutreffendes Gerücht handle. „Rücksichten auf die Papierverknappung verbieten leider einen solchen Plan.“31 Als Hubert Nieborowski, ein in Jemgum in Ostfriesland gelandeter Priester der Erzdiözese Breslau, 1947 dem Osnabrücker Generalvikariat ein selbst verfasstes Flüchtlingsgebetbuch mit dem für die Situation bezeichnenden Titel „Im Kreuz ist Heil“ zusandte, wurde ihm das Imprimatur dann auch mit der Begründung verweigert, es fehle an Papier. Zugleich wurde die Absage aber auch ganz lapidar damit begründet, dass es schon genug Bücher für Vertriebene gebe.32 Genau dies war aber zu diesem Zeitpunkt nicht der Fall. Als dann ab 1948 innerhalb weniger Jahre in sämtlichen Bistümern des Untersuchungsraums, wie übrigens in allen westdeutschen Bistümern mit Ausnahme von Bamberg und Regensburg33, neue Gesangbücher eingeführt wurden, griffen diese die Anliegen der Vertriebenen kaum auf. Bischof Wilhelm Berning erwähnte in seinem Geleitwort für das neue Osnabrücker „Gotteslob“ von 1951 zwar, dass „die aus dem Osten vertriebenen Brüder und Schwestern (…) kein Buch [hatten] und beim Gottesdienst nicht an den Gebeten und Gesängen teilnehmen“ konnten, von einer Aufnahme heimatlichen Liedguts der Vertriebenen war jedoch keine Rede. Stattdessen erklärte Berning die Übernahme sog. Einheitslieder, das waren von der Fuldaer Bischofskonferenz für alle deutschen Diözesen als verbindlich erklärte Lieder, also kein spezifisch schlesisches Liedgut34, sehr allgemein „mit Rücksicht auf die große Zahl der Flüchtlinge aus den östlichen Diözesen“. Abschließend bemerkte er an die Adresse der einheimischen Katholiken geradezu entschuldigend, dass „immerhin (…) das alte Liedgut unserer Diözese in größtmöglichem Umfang erhalten worden“35 sei. Die Verweigerung der Aufnahme schlesischen Liedguts war also, so ist hier zwischen den Zeilen zu lesen, der mit Rücksicht auf die „alten“ Katholiken im Emsland und im Osnabrücker Land als unverantwortlich empfundenen möglichen Verdrängung tradierter Kirchenlieder aus dem Kanon geschuldet.

31 Bischöfliches Generalvikariat Osnabrück an Katholische Osthilfe Lippstadt, 26.8.1946, in: Bistumsarchiv Osnabrück 09-05-00. 32 Schriftwechsel ebd. Allerdings fehlt dort das Manuskript des geplanten Gebetbuchs. Pfarrer Nieborowski verließ 1948 Ostfriesland und das Bistum Osnabrück wieder. 33 FRANZ/SCHÄFER (wie Anm. 18), 381, Anm. 5, besser: KÜPPERS (wie Anm. 17), 17 u. 33. Als Fallbeispiel vgl. jetzt Patrick STROSCHE: „Wohin soll ich mich wenden?“ Das Ringen um die Aufnahme ostdeutscher Kirchenlieder in das Gesangbuch des Bistums Mainz, Bad Schussenried 2017. 34 Vgl. zu den Einheitsliedern Hermann KURZKE: Das Einheitsgesangbuch Gotteslob (1975– 2008) und seine Vorgeschichte, in: Geschichte des katholischen Gesangbuchs, hg. v. Dominik FUGGER, Andreas SCHEIDGEN, Tübingen 2008, 51–64. 35 Geleitwort Bernings, in: Gotteslob Osnabrück, 1951, V, VII u. VIII. Vgl. dazu auch KÜPPERS: Diözesan-Gesang- und Gebetbücher (wie Anm. 17), 30.



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Abb. 1: In die 1950 erschienene Neuausgabe des Diözesangebet- und Gesangbuchs des Bistums Münster „Laudate“ fanden ein „Gebet der Heimatvertriebenen“ und eine Andacht „Für die aus der Heimat Vertriebenen“ Eingang.

Vor allem aber fanden die spezifischen Gesänge der Schlesier in der 1948 erschienenen Neuausgabe des Paderborner Gesangbuchs „Sursum corda“ ebenso wenig Berücksichtigung wie im selben Jahr im „Canta Bona“ des Bistums Hildesheim und 1950 im „Laudate“ des Bistums Münster. Ein Vergleich auf der Ebene der vier nordwestdeutschen Bistümer zeigt, dass zwar ein „Gebet der Heimatvertriebenen“ und eine entsprechende Andacht im „Laudate“ berücksichtigt wurden (Abb. 1)36, dort aber überhaupt kein dem Liedgut der Schlesier entsprechendes Kirchenlied Eingang erhielt. In Hildes-

36 Laudate. Gebet- und Gesangbuch Bistum Münster, Münster 1950, 33 u. 66 f. Letzteres auch abgedruckt bei Dietmar SAUERMANN: „Aus allen Bindungen der Heimat herausgerissen“. Vertriebenenseelsorge und Sonderbewusstsein der Vertriebenen, in: Gelebter Glaube – Hoffen auf Heimat (wie Anm. 11), 187–216, hier 190.

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heim wurde die „Staubmesse“ von Michael Haydn aufgenommen.37 Das schon damals unter dem heute deutschlandweit eingeführten Namen „Gotteslob“ erscheinende Osnabrücker Diözesangebet- und Gesangbuch erwies zwei besonders unter Schlesiern verehrten Heiligen die Reverenz: der Landespatronin Hedwig mit dem Lied „Jetzt Christen, stimmet an“ und der besonders in Oberschlesien populären Anna, während in Hildesheim allein das Annalied „St. Anna, Mutter groß, was trägt dein heilger Schoß für köstlich Edelsteine“ berücksichtigt wurde.38 Dass die Heimatvertriebenen „weithin von dem Gemeinschaftserlebnis des gemeinsamen Kirchengesangs ausgeschlossen“39 waren, wie Schroubek etwas plakativ formuliert, erscheint dennoch übertrieben. Die bekannte schlesische Schriftstellerin Monika Taubitz, die als Kind in der an der Mündung der Weser in die Nordsee gelegenen Kleinstadt Nordenham gelandet war, erinnerte sich an die Aufgeschlossenheit des aus Südoldenburg stammenden Pfarrers der kleinen Diasporapfarrei Johannes Hillen für die Lieder aus dem Osten. In ihrem Roman „Treibgut“, in dem sie ihre Erlebnisse aus den Jahren 1946 bis 1951 in Nordenham literarisch verarbeitete, heißt es dazu: „Unser ostdeutsches Liedgut gefiel ihm, und er ließ es sammeln und aufschreiben, solange wir es noch lebendig in Erinnerung hatten. Weihnachten überraschte er jeden von uns mit einem auf Nachkriegspapier gedruckten Heftchen, in dem die schönsten Weihnachtslieder vereint waren. Irgendwie war es ihm gelungen, Papier und Druckerlaubnis zu besorgen. Beides war damals außerordentlich schwierig zu erhalten, und niemand wusste, wie er es zuwege gebracht hatte.“40 Und die Schlesier in der reinen Vertriebenengemeinde Ganderkesee im Landkreis Oldenburg profitierten von ihrem musikalisch talentierten Seelsorger. Pfarrer Helmut Richter, der auch mit Forschungen zur schlesischen Kirchengeschichte hervorgetreten ist41, pflegte nicht nur das Liedgut seiner schlesischen Landsleute. Er vertonte überdies eigene und fremde Texte, die er später in einem Büchlein mit dem Titel „Geistliche Lieder“ (Abb. 2) zusammenfasste, und regelmäßig nach dem Evangelium mit der Gemeinde einübte. „Da war die Laute, die ich aus Schlesien mitbrachte, ein richtiger Schatz“42, schrieb er in seinen Lebenserinnerungen. Ein sprechendes Beispiel für das Aufgreifen der Vertrei37 Bei Theo HAMACHER: Der kirchliche Volksgesang, in: Geschichte der katholischen Kirchenmusik, hg. v. Karl Gustav FELLERER, Bd. II, Kassel u. a. 1976, 294–307, hier 297, heißt es lapidar: „Die Haydnmesse ,Hier liegt vor deiner Majestät‘ ist in fast allen Diözesangesangbüchern vertreten. Die österreichischen Bücher bringen meist noch Schuberts ,Deutsche Messe‘: ,Wohin soll ich mich wenden?‘.“ 38 Canta Bona. Gesang- und Gebetbuch für das Bistum Hildesheim, Freiburg/Br. 1948, 658 f. 39 So SCHROUBEK (wie Anm. 4), 288. 40 Monika TAUBITZ: Treibgut, Stuttgart 1983, 154 f. 41 Zu Richter (1902–1985) vgl. Joachim KÖHLER: Nachruf Helmut Richter, in: ASKG 43 (1985), 297–299. 42 RICHTER: Erinnerungen (wie Anm. 26), 7. Vgl. auch Michael HIRSCHFELD: „Gleich eine herzlichere Familiengemeinschaft“. St. Hedwig in Ganderkesee als Beispiel für den Aufbau einer Vertriebenengemeinde im Bistum Münster, in: Gelebter Glaube – Hoffen auf Heimat (wie Anm. 11), 127–151, hier bes. 141.



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bungssituation stellt Helmut Richters Sakramentslied „Brüder, sehet Gottes Güte“ von 1948 dar, in dessen zweiter Strophe es hieß: „Heimatlos wir Menschen ziehen, finden keinen Ort der Ruh, bis wir gläubig vor Dir knien, liebster Herr und Meister Du!“43. Abb. 2: In seinen „Geistlichen Liedern“, die er in mehreren Ausgaben im Selbstverlag veröffentlichte, verarbeitete Pfarrer Helmut Richter, Ganderkesee, auch das Schicksal seiner vertriebenen Landsleute. Quelle: Helmut Richter, Weg-Gefährten. Geistliche Lieder, o. O. 1962, S. 129.

Aber das waren sicherlich Einzelfälle. Was den im Allgemeinen sangesfreudigen katholischen Schlesiern zunächst fehlte, waren Stellungnahmen aus der kirchlichen Hierarchie, welche die heimatlichen Lieder sanktionierten, ja ihrer Verwendung in der Liturgie das damals noch unbedingt notwendige kirchliche Imprimatur erteilten. Diesem Desiderat begegnete der Diözesanpräses des Paderborner St.-Hedwigs-Werkes Pfarrer Wilhelm Trennert und stellte 1951 seitens dieser Einrichtung einen Band mit „Ostdeutschen Kirchenliedern“ zusammen, den er den Generalvikariaten mit der Bitte um bischöfliche Genehmigung zusandte. 1951 gab als erste Diözese im Untersuchungsgebiet das Erzbistum Paderborn die „Ostdeutschen Kirchenlieder“ als Anhang zum „Sursum corda“ heraus.44 „Meine lieben heimatvertriebenen Diözesanen! Dieses 43 Helmut RICHTER: Geistliche Lieder, o. O. o. J [1963], 40. 44 KÜPPERS (wie Anm. 17), 22 f.

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Buch ist für Euch bestimmt. Es soll eine Ergänzung sein zu unserem Diözesan-Gesang- und Gebetbuch bei Euren Heimatandachten und vor allem auch bei den Hausandachten in Euren Familien. Haltet fest an dem Vätererbe, das Ihr herüber gerettet habt. Es ist Euer Reichtum inmitten Eurer Armut, die starke Wurzel Eurer Kraft inmitten einer weithin glaubenslos und lieblos gewordenen Welt.“45 Liest man diese im Geleitwort von Erzbischof Lorenz Jaeger formulierte Intention genauer, dann wird deutlich, dass die Ergänzungslieder expressis verbis für die Sonderseelsorge gedacht waren, also für schlesische Maiandachten oder für Gottesdienste bei den jährlichen Heimattreffen der einzelnen Pfarreien, nicht aber zur Verwendung im regulären Sonntagsgottesdienst. Bischof Berning übernahm 1952 die „Ostdeutschen Kirchenlieder“ ebenfalls als Ergänzung zum „Gotteslob“ mit dem deutlichen Hinweis auf die Verwendung „bei den Versammlungen des St.-Hedwigs-Werkes“46. Und er schob sogar nach: „Vernachlässigt nicht das Gute, das Euch im Gotteslob in der Diözese Osnabrück geboten wird“ und machte dadurch seine Priorität offensichtlich, aus der er bereits in seiner Approbation des St.-Hedwigs-Werkes Weihnachten 1947 keinen Hehl gemacht hatte, wenn er damals schrieb: „Man kann es verstehen, dass die Ostvertriebenen mit Sehnsucht an ihre alte Heimat zurückdenken; … Aber solange sie bei uns im Westen sind, müssen sie sich eingewöhnen in unsere Lebensverhältnisse und mit uns gemeinsam das Lob Gottes in unseren Kirchen singen. Wer kann ihnen verdenken, dass sie trotz allem der Heimat die Treue halten und an ihren heimatlichen Liedern und Gebräuchen hängen, die sie von Kind an kennen und lieben und auch hier nicht vergessen können und wollen?“47 Aus Bersenbrück etwa ist dann auch überliefert, dass das Singen schlesischer Lieder auf das alle vier Wochen von einem ortsansässigen schlesischen Priester zelebrierte sog. Hedwigs-Hochamt beschränkt blieb.48 Dies entsprach im Übrigen nicht nur der Intention der Bischöfe, sondern auch ganz der Satzung des dort wie auch in bis zu 88 Pfarreien des Bistums Osnabrück mit örtlichen Hedwigskreisen etablierten St.-Hedwigs-Werks.49 Darin hieß es nämlich in § 2: „Das St.-Hedwigs45 Vorwort von Erzbischof Jaeger, in: Ostdeutsche Kirchenlieder, hg. v. St.-Hedwigs-Werk der Erzdiözese Paderborn, Lippstadt o. J. [1951]. 46 Vorwort von Bischof Berning zu: Ostdeutsche Kirchenlieder, hg. v. St.-Hedwigs-Werk der Diözese Osnabrück, Meppen/Ems o. J. [1952], hier 3. Hier auch das folgende Zitat. 47 Bischof Berning zur Gründung des St.-Hedwigs-Werkes in seiner Diözese, Weihnachten 1947. Zit. nach Festschrift St.-Hedwigs-Werk der Diözese Osnabrück 1947–2000. Eine Dokumentation, hg. v. St.-Hedwigs-Werk der Diözese Osnabrück e.V., Osnabrück 2000, 8–10, hier 9. 48 Pfarrchronik Bersenbrück, in: Bistumsarchiv Osnabrück, freundliche Mitteilung von Frau Inka Gerdes-Janssen M.A., Bistumsarchiv Osnabrück, an den Verf. v. 19.6.2015. 49 Vgl. dazu Michael HIRSCHFELD: Erinnerungsorte des schlesischen Katholizismus in Westdeutschland. Das Fallbeispiel der Hedwigskreise im Emsland und in der Grafschaft Bentheim, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 62 (2004), 179–198; Kurt DRÖGE: Hedwigskreise. Religiöse Vereinsformen der Nachkriegszeit in Nordwestdeutschland, in: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 39 (1994), 67–86.



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Werk stellt sich als Aufgabe: (…) b) monatliche Andachten mit heimatlichen Liedern und religiösem Brauchtum der Ostvertriebenen zu halten, (…).“50 Die Aufforderung zur Assimilation an das westdeutsche Kirchenliedgut unterblieb hingegen im Vorwort des Hildesheimer Bischofs Joseph Godehard Machens, der 1952 der 2. Auflage seines „Canta Bona“ ebenfalls den Anhang „Ostdeutsche Kirchenlieder“ zum Einkleben im hinteren Einbanddeckel mit auf den Weg gab.51 Das war ganz offensichtlich ein unausgesprochenes Zugeständnis an die Realität in der wesentlich von Ostvertriebenen geprägten Diasporadiözese. Die geringere Wertigkeit der Gesangbuch-Ergänzungen wurde optisch aber auch in Hildesheim dadurch manifestiert, dass nur die Liedtexte, nicht aber die dazugehörigen Noten, abgedruckt waren.52 Solche Anhänge wurden – unabhängig von der Sammlung des St.-Hedwigs-Werks – zeitlich parallel auch in weiteren westdeutschen Diözesen herausgegeben.53 Wenn Ansgar Franz und Christiane Schäfer aus der bischöflichen Zulassung von ostdeutschen Liedanhängen in den Diözesen Paderborn, Osnabrück und Hildesheim die Schlussfolgerung ziehen, dass „man das Bemühen um diejenigen, die in Massen ihre Heimat verloren hatten, in [diesen] Regionen sehr ernst nahm“54, erscheint dies aber zu kurz gegriffen. Es findet keine Berücksichtigung, dass die Anhänge erst Anfang der 1950er-Jahre eingeführt wurden und dass ein entscheidender Faktor in dem Unterschied zwischen bischöflicher Genehmigung der Lieder und der Umsetzung in der Praxis lag. Vor Ort in den Gemeinden offenbarten sich die eigentlichen Konfliktlinien, die anhand eines Beispiels aus dem Bistum Osnabrück deutlich herausgestellt werden sollen. Nach einem Streit zwischen einem einheimischen Geistlichen und dem fast ausschließlich aus Schlesiern bestehenden Kirchenchor in Hilter/Kreis Osnabrück über das Liedgut in der Messe regte letzterer beim Generalvikariat die Einführung einer Quote für schlesische Kirchenlieder an. Generalvikar Otto Lüfolding erteilte einer solchen Regelung eine klare Absage und stellte sich auf den Standpunkt, „dass wir in der Kirche beim heiligen Opfer alle Mitglieder der einen katholischen Kirche sind, dass nichts dagegen einzuwenden wäre, wenn neben den Liedern der Einheimischen auch gelegentlich Heimatlieder der Ostvertriebenen gesungen werden. Es ist jedoch nicht möglich, behördlicherseits genau 50 Satzung der St.-Hedwigs-Werke Osnabrück und Paderborn, in: Johannes SMACZNY: Was will das St. Hedwigswerk? Ein Beitrag zur Frage der Ostnot, Meppen o. J. [1948], 19. Erstmals veröffentlicht wurde die Satzung in: Kirchliches Amtsblatt der Diözese Osnabrück v. 10.2.1948. 51 Anhang mit ostdeutschen Liedern zu Canta Bona. Gesang- und Gebetbuch für das Bistum Hildesheim, Göttingen 1952. Er wurde mit bischöflichem Erlass v. 21.4.1952 eingeführt. Vgl. Kirchlicher Anzeiger Hildesheim 1952, 57. 52 Eine Ausgabe mit Noten als eigenständige Publikation gab der Diözesanpräses des Osnabrücker Hedwigs-Werks, Msgr. Johannes Smaczny, 1962 als 2. Auflage mit Unterstützung seines Bruders Herbert Smaczny heraus, der als Chordirektor in Abensberg/Niederbayern wirkte. 53 Exemplarisch untersucht ist dies bisher für das Bistum Mainz. Vgl. Ansgar FRANZ: Kirchenlied und Migration. Der Anhang des Mainzer Gesangbuchs von 1952 „Kirchenlieder unserer Brüder aus dem Osten“, in: Liturgie und Migration (wie Anm. 9), 157–171. 54 FRANZ/SCHÄFER (wie Anm. 18), 393.

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festzulegen, wie oft im Monat und wie viele Lieder der Heimatvertriebenen beim Gottesdienst gesungen werden oder sollten. Hier müssten beiderseits durch ein gewisses Einfühlungsvermögen berechtigte Wünsche berücksichtigt werden.“55 Vor dem Hintergrund dieser und ähnlicher Konflikte dürfte die Popularität der Vertriebenenwallfahrten, wie sie im nordwestdeutschen Raum insbesondere in Werl, Telgte, Rulle und Bethen, aber auch in Hildesheim etabliert wurden, gesehen werden. Dort wurde den Schlesiern Freiraum geboten, ungestört die heimatlichen Lieder zu singen. „Wir haben gesungen nach unserer Art, wir haben gebetet heimatlich innig (…)“56, hieß es dann auch nicht zu Unrecht in einem Eintrag in das Gästebuch im Rahmen der ersten Schlesierwallfahrt nach Werl im Erzbistum Paderborn 1946. Die These von Franz und Schäfer, dass die Bischöfe den Anliegen um Pflege des schlesischen Kirchenlieds aufgeschlossen gegenüber standen, wird vollends ad absurdum geführt, wenn man sich die Situation in der Diözese Münster ansieht, wo – wie erwähnt – im „Laudate“ keine ostdeutschen Kirchenlieder Berücksichtigung fanden. So erhielten einheimische Priester, die, wie aus Butjadingen in der Wesermarsch bezeugt, kaum Lieder der Vertriebenen im Gottesdienst berücksichtigten, auch keine Richtschnur, weil eben die entsprechenden Texte und Melodien im Kanon des „Laudate“ fehlten. Dies gab im genannten Fall einem schlesischen Vertriebenen Anlass zur Beschwerde bei der kirchlichen Behörde in Vechta. Wenn die besagte Eingabe aufgrund der Beschränkung auf westdeutsches Liedgut in der Eucharistiefeier ein „zur Zeit mehr als kümmerliche[s] religiöse[s] Leben“57 konstatierte, erscheint dies möglicherweise etwas übertrieben, ist aber zugleich ein Indikator für den Stellenwert des Gesangs unter den ostvertriebenen Katholiken, die hier „eine Kraftquelle … als letztes gerettetes Heimatgut“ vermissten. Etwas weniger pathetisch stellte ein aktiver schlesischer Katholik aus Delmenhorst 1953 gegenüber der Zentralstelle der Eichendorffgilden in München heraus: „Kirchlich ist man hier bemüht, uns dem Heimatliedgut und sonstigen kulturellen Belangen zu entfremden.“58 Es war dann auch ein beherzter Laie, Georg Winkler aus Oldenburg, der für das Bistum Münster ein Jahr später die Initiative ergriff, auch hier die oberhirtliche Genehmigung für die Verbreitung und Nutzung der „Ostdeutschen Kirchenlieder“ zu erzielen. Er stellte fest: „Die Ablehnung ist besonders bei den hiesigen Geistlichen zu finden. Hier heißt es: Ich bin Oldenburger und kenne eure Lieder nicht, – eure Lieder sind weich oder Kitsch.“59 55 Generalvikar Lüfolding, Osnabrück, o. D. 1950, in: Bistumsarchiv Osnabrück A-110, Pfarreiakten Hilter St. Josef. 56 Zit. nach SCHROUBEK (wie Anm. 4), 289. 57 Paul Klenner, Blexen, an Bischöfl. Offizialat Vechta o. D., in: Offizialatsarchiv Vechta A-2-13. Hier auch das folg. Zit. 58 Anton Zimmermann, Delmenhorst, an Geschäftsstelle der Eichendorff-Gilden, München, 3.8.1953, in: Archiv Visitatur Breslau-Branitz-Glatz, Münster: Ordner Eichendorffgilden. 59 Winkler an Grafenhorst, 11.12.1955, in: Offizialatsarchiv Vechta A-9-22.



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Zwar hatte Bischof Keller in einem Hirtenwort vom 1. Juli 1948 die Katholiken in der nordoldenburgischen Diaspora seiner Diözese, weitgehend vertriebene Schlesier, dazu aufgerufen: „Hütet das wertvolle religiöse Erbe, das ihr aus eurer Heimat mitgebracht habt. Wahret eurer Heimat innerlich die Treue.“60 Jedoch ließ er auf die Eingabe Winklers diesem Ende 1954 mitteilen, er hoffe, dass die ostdeutschen Lieder aus der Sammlung des St.-Hedwigs-Werks ohnehin bereits bei Heimatandachten der Vertriebenen in seinem Bistum zum Einsatz kämen. Eine weitergehende oberhirtliche Empfehlung tat er mit der wenig stichhaltigen Bemerkung ab: „Es ist nicht notwendig, dass jeder Bischof dazu ein eigenes Hirtenwort schreibt. Das Buch würde dadurch auch nur noch verteuert werden.“61 Der in der Kirchenlied-Frage äußerst umtriebige Winkler ließ sich aber nicht abweisen. Unter Verweis auf die Eigenständigkeit jeder Diözese konnte er ganz offensichtlich Michael Keller überzeugen. Jedenfalls hielt er im September 1955 nach mehreren Briefwechseln das dem Geleitwort Erzbischof Jaegers in den Formulierungen sehr ähnliche Vorwort des Bischofs von Münster in Händen. Auch wenn ihm auf Nachfrage mehrere Geistliche schriftlich bestätigten, dass sie im Sonntagsgottesdienst nach bischöflicher Approbation auch die neuen Lieder einzuführen bereit seien, hatte Georg Winkler allerdings nur einen Teilerfolg erzielt. Denn der Münsteraner Oberhirte sanktionierte die „Ostdeutschen Kirchenlieder“ nach Paderborner und Osnabrücker Vorbild ebenfalls ausdrücklich nur für den „Gebrauch bei Euren Heimatandachten und vor allem auch bei den Hausandachten in Euren Familien“. Daraus schlossen nicht wenige einheimische Priester, dass diese Ergänzung zum „Laudate“ nur für die Sonderseelsorge gelte, nicht aber für den regulären Gottesdienst.62 Zudem wurde die Zulassung der Ergänzung nicht im „Kirchlichen Amtsblatt“ oder in der Presse angezeigt, folglich also von vielen Geistlichen ignoriert. Winkler, der in den folgenden Jahren immer wieder vergeblich beim Bischöflichen Offizialat in Vechta und auch beim Bischof in Münster darauf beharrte, die Ergänzungslieder von der Kanzel her öffentlich bekannt zu machen63, erhielt bei seinen Adressaten bald den Stempel eines Querulanten.64 Nun mag sein beharrliches 60 Hirtenwort von Bischof Michael Keller, 1.7.1948, in: Gelebter Glaube - Hoffen auf Heimat (wie Anm. 11), 39 f., hier 39. 61 Bischof Keller an Georg Winkler, Oldenburg, 23.12.1954, in: Offizialatsarchiv Vechta A-9-22. 62 „Wir halten es für richtig, dass in den Andachten auch schlesische Lieder gesungen werden, dagegen in den hl. Messen nur Lieder aus dem Laudate.“ Dechant Buken, Oldenburg, an Offizialat Vechta, 5.8.1958, ebd. 63 Winkler an Offizialat, 11.4.1956, ebd. Offizial Grafenhorst antwortete am 12.4.1956: „Das Offizialat hat weder ein eigenes Amtsblatt noch ein Kirchenblatt“, was ja nur teilweise stimmt, wies aber am 26.4.1956 die Dechanten an, „bei gegebener Gelegenheit in der entsprechenden Weise auf die Ostdeutschen Kirchenlieder hinweisen zu wollen“. 64 Bischof Keller an Offizial Grafenhorst, 18.4.1956, ebd.: „Auch ich werde von Herrn Winkler wieder bombardiert. …“; Dechant Buken, Oldenburg, an Offizialat Vechta, 18.2.1958: „Ich möchte bitten, in Zukunft mich mit den Schreiben von Herrn Winkler zu verschonen. Herr Winkler ist gelinde gesagt ein Fanatiker“.

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Insistieren einen missionarischen Zug haben, nun mag es unverhältnismäßig erscheinen, wenn dieser eifrige Briefeschreiber seiner Sorge Ausdruck gab, dass „unseren Kindern das letzte bisschen Heimat entrissen wird“65, seine Argumentation erscheint dennoch schlüssig, wenn er etwa die Berücksichtigung von Liedern aus dem Ergänzungsteil bei der regulären Gemeindemesse damit begründet, dass darin ein Beitrag zur Einheit zwischen Vertriebenen und Einheimischen geleistet werde. Es sei doch nicht die Absicht, „im kirchlichen Leben als ostdeutscher oder westdeutscher Katholik getrennt vor Christus [zu] stehen“66. Der Oldenburger Dechant Leonhard Buken machte für seine Ablehnung die knapp ein Drittel der Katholiken in seiner Pfarrei zählenden Schlesier selbst verantwortlich, da sie sich angeblich durch die heimatlichen Lieder als Vertriebene stigmatisiert gefühlt hätten. „Bei einer öffentlichen Umfrage erklärten die Schlesier, sie wollten nicht immer eine Extrawurst für sich, sondern sie wollten als Mitglieder der Pfarrgemeinde St. Peter gelten und nicht immer als Flüchtlinge herausgestellt werden.“67 Dahinter steckte einerseits Ignoranz und mangelndes Verständnis – dem passte sich der in Bukens Pfarrei wirkende letzte deutsche Domkapellmeister von Breslau Dr. Paul Blaschke offenbar widerstandslos an, wenn er dort keine nachhaltigen Impulse zur Pflege schlesischen Liedguts setzte. Offenbar war es ihm eher um die Pflege von Chor- und Orchestermusik der sog. Breslauer Schule sowie des Gregorianischen Chorals als um den Volksgesang zu tun.68 Andererseits wollte der Dechant die Katholiken durch Inklusion der Vertriebenen als einheitliche Gruppe formen. Bezeichnend hierfür erscheint seine Intention, dass „alle [Kirchenbesucher] das ,Laudate‘ mitbringen. Und es werden besonders die Einheitslieder gesungen, die auch in Schlesien gesungen wurden“. Aber dem Kirchenlied-Aktivisten Winkler ging es noch um etwas anderes, das in seiner bis 1963, also ungefähr ein Jahrzehnt währenden Korrespondenz mit der Kirchenbehörde immer wieder durchscheint. Es war ihm nicht allein um die „Erhaltung und Gleichstellung [der schlesischen Lieder] mit den Liedern im ,Laudate‘“69 zu tun, sondern um die gleichberechtigte Anerkennung der Ostvertriebenen in der Kirche. „Wir Heimatvertriebenen wollen nicht hinten anstehen“, ließ er seine Korrespondenzpartner in Vechta und Münster wissen.

65 So Winkler an Offizialat, 24.8.1956, ebd. 66 Winkler an Offizialat, 11.12.1955, ebd. 67 Buken an Offizialat, 18.2.1958, ebd. Hier auch das folg. Zit. 68 Vgl. Blaschkes zu Lebzeiten publizierte Erinnerungen: Paul BLASCHKE: Die Breslauer Schule. Kirchenmusikalische Erinnerungen, in: Schlesisches Priesterjahrbuch II (1961), 55–68; DERS.: Musik des Breslauer Domchores 1925 bis 1934, in: ASKG 27 (1969), 147–176; Musik des Breslauer Domchors 1935 bis 1945, in: ASKG 29 (1971), 157–172. 69 Winkler an Offizialat Vechta v. 11.12.1955, in: Offizialatsarchiv Vechta A-9-22. Hier auch das folg. Zit.



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2. Fazit. Drei Hauptkonfliktlinien Zusammenfassend sind drei Hauptkonfliktlinien im Kirchenliedstreit der Nachkriegszeit festzustellen, von denen zwei auf der personellen Ebene liegen. 1. Die nordwestdeutschen Bischöfe ermunterten zwar in öffentlichen Stellungnahmen ihre ostvertriebenen Gläubigen zur Bewahrung heimatlichen Liedguts, verhielten sich aber gegenüber einer konkreten Förderung zunächst passiv. Später genehmigten sie in Paderborn, Osnabrück und Hildesheim zwar die vom Kulturwerk der katholischen Ostvertriebenen zusammengestellten „Ostdeutschen Kirchenlieder“ als Ergänzung zum Diözesan-Gebet- und Gesangbuch, schränkten den Gebrauch jedoch auf die Veranstaltungen der Vertriebenenseelsorge ein. Auf den seit 1946/47 etablierten Vertriebenenwallfahrten und bei Heimattreffen einzelner ostvertriebener Pfarrgemeinden waren jedoch ohnehin von Beginn an die altvertrauten heimatlichen Lieder gesungen worden, ohne dass es hierzu einer besonderen Genehmigung des zuständigen einheimischen Bischofs gebraucht hätte. Im Bistum Münster hingegen kam es erst zeitverzögert und durch das Engagement eines schlesischen Laien zur Genehmigung der Vertriebenenlieder, deren Einbeziehung in den sonntäglichen Gemeindegottesdienst jedoch weithin ein unerfüllter Wunsch der Vertriebenen blieb. 2. Während in den zumeist im ländlichen Raum liegenden reinen Vertriebenengemeinden mit vertriebenen Pfarrern die Pflege des heimatlichen Liedguts gleichsam stillschweigend erfolgte, verweigerten insbesondere einheimische Priester eine Umsetzung der Gesangbuch-Ergänzungen, weil sie darin ein Moment der Exklusion der Vertriebenen aus der liturgischen Praxis sahen, aber auch Ängste eine Rolle spielten, dass die mentalen und kulturellen Disparitäten zwischen Einheimischen und Vertriebenen vertieft werden könnten. Eine sinnvolle Inklusion ermöglichten in ihren Augen – wenn schon nicht die Adaption des tradierten einheimischen Liedguts, so doch wenigstens die in allen Diözesen eingeführten sog. Einheitslieder. Insbesondere in den aus dem 19. Jahrhundert stammenden, in der Regel städtischen oder kleinstädtischen katholischen Diasporagemeinden, die seit 1945 zumeist von Ostvertriebenen zahlenmäßig dominiert wurden, sah der einheimische Klerus die Gefahr einer Exklusion der einheimischen Katholiken. 3. Damit bilden auf der räumlichen Ebene die alten Diasporagemeinden das zentrale Konfliktfeld, in dem sich Auseinandersetzungen ballten. Ohne die besondere Bedeutung der Kirchenlieder für die religiös-kulturelle Identität schmälern zu wollen, kommt den Auseinandersetzungen ein Stück weit die Funktion eines Stellvertreterkriegs zu. Der Konflikt spiegelt nämlich gerade am Brennpunkt der alten Diasporapfarreien in zweifacher Hinsicht die sozialen Verwerfungen wider, die durch den Zustrom der Ostvertriebenen deutlich wurden. Zum einen: Handelte es sich bei den im 19. Jahrhundert zugewanderten Katholiken zumeist um Angehörige unterer sozialer Schichten, war die Sozialstruktur der neuen Diasporakatholiken wesentlich durch-

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mischter, ja überwogen dort Angehörige der Mittelschicht.70 Zum anderen standen die „Habenichtse“ aus den bisherigen deutschen Ostgebieten, wenn sie auch nicht die Einzigen waren, die wirtschaftlich und beruflich bei Null beginnen mussten, den bereits seit ein oder zwei Generationen arrivierten Katholiken gegenüber. Insofern ist der Kirchenliedstreit auch eine Folie für soziale Verwerfungen innerhalb der katholischen Bevölkerung. Auffällig erscheint hier wie auch in den anderen Bistümern der besondere Einsatz von schlesischen Laien für die Erhaltung des heimatlichen Liedguts. Dass der Impetus eben vornehmlich aus dieser Richtung kam, legt auch nahe, weshalb die Assoziation schlesischer Liturgie mit deutschem Volksgesang – auch und gerade in den Jahrzehnten vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil – erfolgte. Es ist also klar von einer Chance zur Vergangenheitsbewältigung zu sprechen, nicht von einer bloßen Rückwärtsgewandtheit. Eher ein marginaler, aber unausgesprochen zweifellos mitschwingender Aspekt dürfte ebenso gewesen sein, dass sich die doch im Westen von den Einheimischen vielfach als „Polacken“ abqualifizierten Ostvertriebenen durch die besondere Pflege deutschen Liedguts als wirkliche Deutsche präsentieren konnten. Während sich Vertriebenenwallfahrten und Heimattreffen von Beginn an als Nischen für die Pflege des überlieferten Liedguts etablierten, so waren die schlesischen Kirchenlieder noch bis in die 1960er-Jahre hinein zum Teil heftiger Streitpunkt zwischen Einheimischen und Vertriebenen. Die emotionale Behaftung dieses Themas ist heute wohl kaum einem jüngeren Katholiken noch bewusst. Zwar empfinden manche Kirchenbesucher noch immer die Schubert- oder Haydn-Messe als Gefühlsduselei. Gesangbuchexperten wie Hermann Kurzke und Andreas Scheidgen sehen Schuberts Komposition jedoch deutlich positiver. Das „Heilig, heilig, heilig“ der „Deutschen Messe“ findet sich nicht ohne Grund in einer 2001 erschienenen Sammlung großer deutscher Kirchenlieder.71 Die Messe selbst sei „liturgisch ein Kind der Spätaufklärung mit ihrem Streben nach einem vernunftgemäßen, allgemein verständlichen Gottesdienst“72. Die Volkskundlerin und Theologin Oliva Wiebel-Fanderl hatte aus pastoraltheologischer Perspektive 1993 für Gemeinden „ein neues Selbstverständnis

70 Michael HIRSCHFELD: Alte Diaspora und Neue Diaspora. Die innerkirchliche und gesellschaftliche Rolle der Diasporakatholiken in der Epoche der Industrialisierung und in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg am Fallbeispiel Oldenburgs, in: Die katholische Diaspora in Deutschland – Stand und Perspektiven der Forschung, hg. v. Benjamin GALLIN, Christoph KÖSTERS, Konstantin MANTHEY (= Wichmann-Jahrbuch des Diözesangeschichtsvereins Berlin NF 13 (2014/2015)), Heiligenstadt 2015, 177–198. 71 Hermann KURZKE: „Heilig, heilig, heilig“, in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, hg. v. Hansjakob BECKER, München ²2003, 417–423. 72 Andreas SCHEIDGEN: Diözesangesangbücher und Kirchenliedrestauration im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte des katholischen Gesangbuchs (wie Anm. 34), 35–48, hier 36.



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als Symbolträger“73 gefordert und darunter auch die „Formenvielfalt der … Musik“ verstanden. Nicht zuletzt aufgrund solcher Expertisen haben der Introitus, das Gloria und das Sanctus dieser Messe – anders als in der ersten Ausgabe des „Gotteslob“ von 1975 – in der Neuausgabe von 2013 auch im Stammteil für alle Diözesen Deutschlands, Österreichs und für das Bistum Bozen-Brixen ihren Platz gefunden. Sie sind dort zwar aus dem Kontext des Gesamtwerks der „Deutschen Messe“ herausgerissen und in Gesänge zum Messordinarium ganz anderer Traditionen eingebettet, haben dadurch aber das Stigma des Vertriebenenlieds verloren. Sie legen gemeinsam mit den Grüssauer Marienrufen (Nr. 568) exemplarisch Zeugnis von einer regionalen Gesangbuchtradition ab, die zumindest in Nordwestdeutschland in der Nachkriegszeit in Episkopat und einheimischem Klerus allenfalls für die Sonderseelsorge an den Ostvertriebenen als emotionales Element tauglich erschien, wie bei der eingangs zitierten Oberschlesierin in Ostfriesland Tränen in die Augen zu treiben.

73 Oliva WIEBEL-FANDERL: Religion als Heimat? Zur lebensgeschichtlichen Bedeutung katholischer Glaubenstraditionen, Köln u. a. 1993, 294, hier auch das folg. Zit.

DOKUMENTATION

Martin Kirchbichler HEDWIGSKIRCHEN IN DEUTSCHLAND VOM 18. BIS 20. JAHRHUNDERT Die folgende Dokumentation ist das Resultat eines Kardinal Bertram-Stipendiums des Instituts für ostdeutsche Kirchengeschichte e.V., sie will einen Überblick über die der hl. Hedwig geweihten Sakralräume auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland geben. Ausgehend von den Hedwigskirchen des 18. bis 20. Jahrhunderts soll der Fokus vor allem auf die nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Kirchen und Kapellen gerichtet und der Frage nach den (möglichen) Gründen und Akteuren bei der Wahl der Heiligen als Patronin nachgegangen werden. Die Zahl der Katholiken wuchs in einigen Diözesen und Pfarreien aufgrund der Migrationen nach dem Zweiten Weltkrieg stark an und damit auch der Bedarf an größeren Sakralräumen zur Versorgung der Gläubigen. Die Propagierung des Hedwigkultes, so die leitende These, wurde vielerorts als Chance einer neuen geistlichen Beheimatung der Heimatvertriebenen verstanden.

1. Die hl. Hedwig Im Jahr 1174 wurde Hedwig als Tochter des Grafen Berthold IV. von AndechsMeranien und seiner zweiten Frau Agnes auf Schloss Andechs am Ammersee in Bayern geboren. Mit zwölf Jahren war sie mit Heinrich I., Herzog von Schlesien, vermählt worden. Nur wenige Jahrzehnte nach ihrem Tod wurde sie am 26. März 1267 heiliggesprochen. Ab dem 14. Jahrhundert vollzog sich eine rasche Verbreitung ihrer Verehrung; ihr Grab in Trebnitz/Trebnica gilt neben dem St. Anna-Berg/Góra Świętej Anny als der bedeutendste Wallfahrtsort Schlesiens.1 Die hl. Hedwig ist Schutzpatronin von Schlesien und von Polen, des Bistums und der Stadt Görlitz, und von Berlin, Krakau/Kraków und Trebnitz. Außerdem wurde Hedwig nach dem Zweiten Weltkrieg von den heimatvertriebenen Schlesiern „adoptiert“;2 sie gilt als Integrationsgestalt und Brückenbauerin zwischen Polen und 1 Alois SCHÜTZ: Hedwig, Herzogin von Schlesien, in: Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter, hg. v. Josef KIRMEIER und Evamaria BROCKHOFF, München 1993, 145–164; Werner MARSCHALL: Hedwig, Hzgn. v. Schesien, in: Lexikon für Theologie und Kirche 4, hg. v. Walter KASPER, Sonderausgabe Freiburg 2009, Sp. 1237–1238. 2 Wojciech MROZOWICZ: Die Heiligen und ihre Verehrung im mittelalterlichen Schlesien (ein Kurzüberblick), in: Concilium medii aevi 6 (2003), 1–14, hier 7–9 (http://www.cma.d-r.de/6-03/

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Deutschland.3 Ikonografisch wird sie häufig mit einem Kirchenmodell in Händen dargestellt.4

2. Hedwigskirchen in Deutschland vom 18. bis 20. Jahrhundert. Ein Überblick Erstaunlich ist, dass es bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts im Bereich der heutigen Bundesrepublik Deutschland keine Kirche mit Hedwigspatrozinium gab. Erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden zwei erste Hedwigskirchen: die Klosterkirche in Sulzbach-Rosenberg und die Hedwigskirche in Berlin. Schon für die Hedwigskirche in Berlin ist überliefert, dass sie für die Katholiken gebaut wurde, die aus Schlesien dorthin gezogen waren. Im 19. Jahrhundert entstand nur eine Hedwigskirche in Jüterbog. Bis zum Zweiten Weltkrieg folgen noch zwei weitere Hedwigskirchen in Fürstenberg und Altenessen. Was annähernd alle Hedwigskirchen und -kapellen in ihrer Entstehungsgeschichte gemeinsam haben ist die Tatsache, dass die Wahl der hl. Hedwig zur Kirchenpatronin immer im Zusammenhang mit der Tatsache genannt wird, dass viele Schlesier in der Pfarrgemeinde leben. In manchen Fällen wird erwähnt, dass der Vorschlag von Gemeindemitgliedern oder vom Pfarrer kam; zum Teil fällte der jeweilige Bischof diese Entscheidung. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die vertriebenen katholischen Schlesier die Hedwigs-Verehrung mit in ihre neuen Pfarrgemeinden. 1943 war noch während des Krieges unter großer Beteiligung der Bevölkerung in Trebnitz das 700. Todesjahr der hl. Hedwig begangen worden. Die Verehrung Hedwigs war in der schlesischen Bevölkerung tief verwurzelt. In 14 Hedwigskirchen in Deutschland finden sich auch Hedwigsreliquien. Teilweise wurden diese bei der Vertreibung mitgenommen und teilweise wurden sie vom Breslauer Erzbischof, vom Bistum Oppeln oder von Trebnitz aus als Geschenke vermacht. Einige Hedwigsgemeinden haben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch Partnerschaften mit polnischen Gemeinden geschlossen wie etwa Essen-Altenessen, Frankfurt-Griesheim oder die Pfarreiengemeinschaft Kitzinger Land. Der Großteil der neuen Kirchen mit Hedwigspatrozinium entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele Heimatvertriebene in bis dahin über Jahrhunderte protestantisch geprägte Regionen. Um sie seelmrozowicz.pdf); Joachim SCHÄFER: Hedwig von Schlesien. www.heiligenlexikon.de/BiographienH/Hedwig_von_Schlesien.htm (20.10.2016). 3 Dementsprechend hat sich etwa Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in Breslau/Wrocław 1983 geäußert. Walter NIGG: Hedwig von Schlesien, Würzburg 1991, 6. 4 Eckhard GRUNEWALD/Nikolaus GUSSONE (Hg.): Das Bild der heiligen Hedwig in Mittelalter und Neuzeit, München 1996; Diethard H. KLEIN (Hg.): Das große Hausbuch der Heiligen, München 2000, 521–523.



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sorglich betreuen zu können und mit den neu entstehenden Gemeinden Gottesdienste feiern zu können, wurden vor allem in den Diasporagebieten neue Gotteshäuser erforderlich. Oft wurde über viele Jahre provisorisch in Gasthäusern, Schulen oder sonst zur Verfügung stehenden Räumen Gottesdienst gefeiert, bis die Kirche fertig war. Eine erste Hedwigskapelle nach dem Krieg ist 1948 in Wasungen entstanden. In den Nachkriegsjahren war es noch schwierig, einen Kirchenneubau zu errichten. Material war in der Wiederaufbauphase der Bundesrepublik knapp. In den 1950er-Jahren kam es zu einem „Bauboom“ von Hedwigskirchen vor allem in Diasporagebieten; 23 Hedwigskirchen wurden in dieser Zeit errichtet. Als eine zweite Phase können die 1960er-Jahre bezeichnet werden – die Zeit des Wirtschaftswachstums und des Aufschwungs: es entstanden viele neue Wohnbaugebiete; für die Katholiken in diesen Vierteln wurden neue Kirchen benötigt. In den 1970er-Jahren wurden elf Hedwigskirchen errichtet; in der darauffolgenden Zeit wurden es weniger. In den 1980er-Jahren kamen nochmals vier Hedwigskirchen bzw. -kapellen hinzu. In drei Fällen wurde schon ein Ersatzbau errichtet. In den 1990er-Jahren wurden ebenfalls noch vier zusätzliche Hedwigskirchen neu gebaut; dazu kamen fünf Ersatzgebäude. Geografisch sind die meisten Hedwigskirchen in den Diasporagebieten im Nordwesten der Bundesrepublik zu lokalisieren, vor allem im Bistum Hildesheim mit acht Kirchen, gefolgt vom Bistum Münster mit sieben, vom Erzbistum Köln mit sechs und vom Erzbistum Paderborn mit fünf Kirchen. Gerade im Süden Deutschlands wurden weniger Hedwigskirchen gebaut, weil dort bereits viele katholische Gotteshäuser existierten und deshalb nicht so viele Neubauten benötigt wurden. Es gibt nur drei Diözesen, in denen sich keine Hedwigskirche befindet: Aachen, Fulda und Passau. Etwas anders stellt sich die Situation im Bereich der ehemaligen DDR dar. Dort war es für die Gemeinden besonders schwierig, neue Kirchen zu bauen. Material bekamen sie offiziell dafür kaum und es entstanden mit viel Eigenleistung einfache Gebäude, die in der Öffentlichkeit auch nicht auffallen sollten. In der Dokumentation wird auch deutlich, dass viele Altenheime, Caritaszentren oder Krankenhäuser die hl. Hedwig als Patronin haben. Es ist jedoch nicht umfassender erforscht, ob diese auch eine Hauskapelle besitzen und aus welchem Grund die hl. Hedwig Patronin dieser Häuser wurde. Die Hedwigskirchen in Deutschland spiegeln auch das ganze Spektrum des Kirchenbaus bzw. der Sakralarchitektur seit dem Zweiten Weltkrieg wider: von der Barackenkirche, über den Gottesdienstraum im Gemeindehaus in der Diaspora, über Hauskapellen im Kinderheim, Jugendhaus und Altenheim, hin zu Garnisons- und Klinikkirchen; einfachen Dorfkirchen oder große Pfarrkirchen mit 500 Sitzplätzen in den Stadtvierteln. Inzwischen sind aber einige dieser Kirchen von der derzeitigen (rückläufigen) Entwicklung der Katholischen Kirche in Deutschland betroffen. Dornholzhausen war die erste Hedwigskirche, die 1969 wieder verschwand. 2005 wurde das Hedwigshaus Borken aufgegeben. Hohenkirchen und Wasungen wurden 2008 abgebrochen

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und verkauft, weil viele Katholiken weggezogen waren. Düsseldorf-Eller wurde 2009 in ein Altenheim umgewandelt. 2012 wurde der Gottesdienstort Leipzig-Südvorstadt aufgegeben, die Kirche in Springe-Völksen wurde 2014 profaniert; 2015 wurde St. Hedwig in Gelsenkirchen-Resse abgebrochen. Bei weiteren Hedwigskirchen wie in Bevern, Siegburg-Zange und Oberursel ist die Zukunft derzeit ungewiss.

3. Hedwigskirchen im 18. Jahrhundert 3.1 Hedwigskirche Berlin (1747–1773)

Friedrich der Große genehmigte den Bau der ersten katholischen Kirche in Berlin seit der Reformation. Sie sollte den neu zugezogenen Katholiken, die aus Schlesien kamen, dienen. Von 1747 bis 1773 wurde die Hedwigskirche nach Plänen von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff und Jean Laurent Legeay errichtet. Mit der Gründung des Bistums Berlin vom Erzbistum Breslau aus wurde die Hedwigskirche im Jahre 1930 schließlich zur Kathedrale für die neue Diözese und vom österreichischen Architekten Clemens Holzmeister entsprechend den Erfordernissen einer Bischofskirche umgestaltet.5 3.2 Klosterkirche St. Hedwig Sulzbach-Rosenberg (1762–1765)

Bei der Hedwigskirche in Sulzbach-Rosenberg handelt es sich um die einzige Kirche in ganz Bayern, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs der hl. Hedwig geweiht war. Dieses Patrozinium verdankt diese ehemalige Klosterkirche ihrer Stifterin Eleonora Philippina, Pfalzgräfin von Sulzbach, geb. von Hessen-Reinfels.6 Seit 1983 besitzt die Kirche auch eine Reliquie der hl. Hedwig, die zu besonderen Anlässen ausgesetzt wird. Sie wurde von der Diözese Oppeln/Opole gestiftet.7

4. Hedwigskirchen im „langen“ 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit 4.1 Jüterbog (1893; Bistum Berlin)

Bei der St. Hedwigs-Gemeinde in Jüterbog handelt es sich um eine katholische Gemeinde, deren Wurzeln ins 19. Jahrhundert zurückreichen. 1878 ist die Rede von der 5 Christine GOETZ/Victor H. ELBERN: Die St.-Hedwigskirche zu Berlin, Regensburg 2000. 6 Joseph GOTTSCHALK: Hedwigskloster und Hedwigskirche in Sulzbach-Oberpfalz, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 38 (1980), 205–213, hier 205. 7 KATH. STADTPFARRAMT ST. MARIEN SULZBACH-ROSENBERG (Hg.): Ehemalige Klosterkirche St. Hedwig Sulzbach-Rosenberg, Sulzbach-Rosenberg 1994, 4.



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Bildung einer Kapellengemeinde. Durch die Verlegung der Artillerie-Schießschule von Berlin nach Jüterbog stieg die Zahl der Katholiken auf 1.000 an. Deshalb wurde auf dem rückwärtigen Teil des Grundstücks eine kleine, einschiffige, neugotische Kirche mit einem Dachreiter gebaut. Die Entwürfe stammten vom Jüterboger Baumeister Haase. Am 21. September 1893 war diese Hedwigs-Kirche benediziert worden. Als Patronin der Kirche wurde die hl. Hedwig von Schlesien bestimmt, da viele Soldatenfamilien, die in Jüterbog stationiert waren und zur katholischen Pfarrgemeinde gehörten, aus Schlesien stammten. Nach dem Krieg wuchs die Zahl der Gläubigen auf 3.500 Katholiken an. Daher wurde die St.-Hedwig-Gemeinde auch zur eigenständigen Pfarrei erhoben.8 4.2 Fürstenberg (1925; Bistum Berlin)

1912 war die erste katholische Familie nach Fürstenberg gekommen. Schon am Ostersonntag, 12. April 1925, war das Gotteshaus in Fürstenberg benediziert worden.9 4.3 Altenessen (1931/32; Bistum Essen)

Der Altenessener Architekt Wilhelm Schneider wurde zur Ausarbeitung der Kirchenbaupläne beauftragt. Nach 25-jährigen Vorarbeiten konnte am 21. Mai 1931 der erste Spatenstich stattfinden.10 1931/1932 wurde die Kirche als Backstein-Saalbau errichtet und am 28. August 1932 gesegnet.11 Am 10. Oktober 1932 wurde das Gotteshaus dann feierlich konsekriert.12 1979 erhielt die Kirche aus dem Nachlass von Prälat Dr. Alfred Sabisch (gest. 1977), Priester des Erzbistums Breslau, eine Reliquie der hl. Hedwig, die ursprünglich zum Breslauer Domschatz gehörte. Da das Bistum Essen eine Partnerschaft mit dem Bistum Kattowitz/Katowice pflegt, schloss die Gemeinde St. Hedwig Essen-Altenessen auch eine Partnerschaft mit der Gemeinde St. Hedwig in Tichau/Tychy in Oberschlesien.

8 PRESSESTELLE DES ERZBISTUMS BERLIN (Hg.): Katholische Kirche zwischen Havel und Dahme. Ein Porträt der Kirchen und Gemeinden für Einheimische und Gäste, Berlin 1999, 23. 9 PRESSESTELLE DES ERZBISTUMS BERLIN (Hg.): Katholische Kirche zwischen Prignitz und Havelland. Ein Porträt der Kirchen und Gemeinden für Einheimische und Gäste, Berlin 2000, 18. 10 Kath. Kirchengemeinde St. Hedwig Altenessen, Pfarrchronik. 11 Ebd., 22. 12 Ebd., 23.

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5. Hedwigskirchen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg 5.1 Bistum Augsburg

Kapelle im Caritaszentrum St. Hedwig in Königsbrunn (1975–77) Das Seniorenzentrum wurde 1974 vom Architekten Prof. Dr. Justus Dahinden aus Zürich geplant. Am 7. April 1975 erfolgte der Spatenstich, im November 1976 zogen die ersten Heimbewohner ein und am 8. Juni 1977 wurde das Altenheim durch Bischof Dr. Josef Stimpfle offiziell eingeweiht.13 St. Hedwig in Kempten (1980–1986) Die Glaubensgemeinschaft St. Hedwig in Kempten wurde 1980 zur Stadtpfarrei erhoben. Im Sommer 1980 wurden die Bauarbeiten für die vier Baukörper Kirche (mit 350 Sitzplätzen), Pfarrheim, Pfarrhaus und Kirchturm begonnen. Die Weihe der Hedwigskirche fand durch Bischof Dr. Josef Stimpfle im Jahre 1986 statt.14 Seit 2010 gehört St. Hedwig zur Pfarrgemeinschaft Kempten-West. Caritaszentrum St. Hedwig in Illertissen (1987) Im Jahr 1987 wurde in Illertissen das Caritaszentrum erbaut. In diesem Haus befindet sich auch eine Hauskapelle. 5.2 Erzbistum Bamberg

St. Hedwig in Bayreuth (1959/60) Bereits 1952 erwog der damalige Stadtpfarrer Philipp Schaduz die Errichtung einer zweiten Pfarrei und führte diesbezüglich mit der Stadtverwaltung Gespräche. Ein Jahr später wurde die Tochterkirchenstiftung St. Hedwig ins Leben gerufen. Am 23. August 1959 fand die Grundsteinlegung für die St.-Hedwigs-Kirche in Bayreuth statt. Nach nur einjähriger Bauzeit konnte die Kirche am 17./18. September 1960 unter großer Teilnahme der sich neu bildenden Kirchengemeinde von Erzbischof Dr. Josef Schneider geweiht werden.15

13 Caritasverband für die Diözese Augsburg, Einladung zur Einweihung des neuen Caritas-Altenheimes St. Hedwig, 1977. 14 Franz-Rasso BÖCK/Ralf LIENERT/Joachim WEIGEL (Hg.): JahrhundertBlicke auf Kempten 1900–2000, Kempten 1999, 233. 15 Anneliese GOTTWALD/Heinz Gottwald: „Kleine Chronik“. 50 Jahre St. Hedwig Bayreuth, Bayreuth 2010.

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Taf. 1: Die St. Johanniskirche in Hirschaid nach Abschluss der Sanierungsarbeiten 2010. Als eine der letzten Notkirchen in Bayern aus den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs zeugt das Gotteshaus bis heute vom schwierigen Neuanfang der Vertriebenen in einer fremden Umgebung Foto: Robert Schäfer, Hirschaid.

Taf. 2: Dorothea von Montau, hl. Hedwig und hl. Barbara (von links nach rechts). Glasfenster von Jupp Gesing in der Kirche St. Elisabeth in Herne. 1950er-Jahre. Foto: Marco Bogade.

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Taf. 3: Trier, St. Michael (1969–81), Altarraumgestaltung mit Stationsweg Zeichen am Wege. Chorraum mit Altar, Kreuzzeichen und Tabernakel. Innenansicht mit Altargestaltung und den 1981 fertiggestellten Zyklen Zeichen am Wege und Himmlisches Jerusalem. Auftraggeber: Kirchengemeinde St. Michael, Trier; Architekt: Conny Schmitz, Dillingen. Foto: saai, Werkarchiv Otto Herbert Hajek.



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Taf. 4: Nürtingen, St. Johannes (1988–1990), Fassadenrelief (1956). Foto: Chris Gerbing.

Taf. 5: Nürtingen, St. Johannes (1988–1990), Raumartikulation mit Boden- und Altarbild, Altar, Tabernakel, Kruzifix, Ambo, Türgriffen, Emporenfries, Kreuzweg (1956 begonnen, 1988 vollendet). Foto: Foto-Kunst Andreas Keller, Stuttgart.

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Taf. 6: Stuttgart, St. Eberhard (1989–91), Planzeichnung Eingangsbereich. Foto: saai, Werkarchiv Otto Herbert Hajek.



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Taf. 7: Stuttgart, St. Eberhard (1989–91), Planzeichnung Grundriss. Foto: saai, Werkarchiv Otto Herbert Hajek.

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Taf. 8: Erich Schickling (1924–2012): Der Traum von Pickau (1989). Mischtechnik auf Hartfaserplatte. Foto und Bildrechte bei der Erich-Schickling-Stiftung.



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Taf. 9: Erich Schickling (1924–2012): Brennende Basilika (1975). Hinterglastechnik. Foto: René Schrei. Bildrechte bei der Erich-Schickling-Stiftung. www.schickling-stiftung.de.

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Taf. 10: Erich Schickling (1924–2012): Maria vom Berge Karmel (1995). Hinterglastechnik. Foto: René Schrei. Bildrechte bei der Erich-Schickling-Stiftung. www.schickling-stiftung.de.



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St. Hedwig in Kulmbach (1962/63) Am 1. Juli 1962 fand die Grundsteinlegung statt. Die Kirche wurde am 22. September 1963 durch den Bamberger Erzbischof Dr. Josef Schneider geweiht.16 Kapelle im Caritasaltenheim in Auerbach (1995) Am 16. Oktober 1995 fand die Einweihung der Hedwigskapelle statt, nachdem die Baumaßnahme fertiggestellt worden war. Das Pflegeheim und die Kapelle erhielten das Patronat der heiligen Hedwig. 5.3 Erzbistum Berlin

Baracken-Kirche in Bestensee (1950) Einem Gemeindemitglied gelang es in der Nachkriegszeit, die massive Baracke einer früheren Kammfabrik zu erwerben. Er stellte sie der Pfarrgemeinde in Bestensee als Gottesdienstraum zur Verfügung. Diese neue Kapelle auf dem Grundstück zwischen Freiligrath- und Mozartstraße wurde am 29. Januar 1950 durch Domkapitular Georg Puchowsik benediziert.17 5.4 Bistum Dresden-Meißen

St. Hedwig in Leipzig (1953/54) Die katholische St. Hedwigskapelle im Leipziger Stadtteil Böhlitz-Ehrenberg gehört zur katholischen Liebfrauengemeinde; sie wurde 1953/1954 errichtet.18 St. Hedwig in Pegau (1995/96) Am 1. Dezember 1996 wurde die neue Kapelle St. Hedwig (als Ersatz einer Notkirche in einer umgebauten Garage, die 1963 gesegnet worden war) durch Bischof Joachim Reinelt geweiht.19 Friedhofskapelle St. Hedwig in Lausick In Bad Lausick wurde Ende der 1940er-Jahre eine Lokalkaplanei errichtet. Es bildete sich eine katholische Gemeinde, die sich die hl. Hedwig als Patronin wählte. Die Gemeinde ist in der Friedhofskapelle zu Gast und feiert dort bis heute regelmäßig Gottesdienste.20 16 Öffentlichkeitsausschuss der Pfarrgemeinde St. Hedwig (Hg.): St. Hedwig Kulmbach 1963– 1988, Kulmbach 1988. 17 Katholische Kirche zwischen Havel und Dahme (wie Anm. 8), 13. 18 http://www.kirche-leipzig.de/?ID=4890&kirche_id=292&style=1 (08.11.2016) 19 http://www.peterpaul-markkleeberg.de/gemeinden/pegau/gemeinde-pegau/ (08.11.2016) 20 Laut Auskunft der kath. Gemeinde St. Benno Geithain vom Mai 2016.

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St. Hedwig-Kapelle in Leipzig-Südvorstadt Rund fünfzig Jahre bestand an verschiedenen Orten in der Leipziger Südvorstadt eine Kapelle St. Hedwig. Sie war für die Menschen dieses Stadtteils Gottesdienststätte und Heimat für das Gemeindeleben. Die letzte Kapelle war von März 2003 bis November 2012 in dem Wohn- und Geschäftshaus in der Kochstraße 66 untergebracht. Aufgrund der Gemeindezusammenlegung wurde der Gottesdienststandort aufgegeben. Am Christkönigstag 2012 wurde in der Kapelle zum letzten Mal die hl. Messe gefeiert.21 5.5 Bistum Eichstätt

St. Hedwig in Dietersdorf (1953/54) 1953 wurde vom damaligen Domkapitular Alois Brems der Grundstein für die St. Hedwigskirche in Dietersdorf gelegt. Nach einjähriger Bauzeit konnte Domkapitular Mader am 1. August 1954 die Kirchweihe der Filialkirche St. Hedwig in Dietersdorf vornehmen.22 St. Hedwig in Markt Berolzheim (1961/62) Am 16. Dezember 1962 wurde die katholische Kirche St. Hedwig in Markt Berolzheim geweiht.23 5.6 Bistum Erfurt

St. Hedwigskapelle in Wasungen Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen durch die Heimatvertriebenen seit der Reformation wieder die ersten Katholiken nach Wasungen. Infolge dessen entstand 1948 in Wasungen auch eine Hedwigskapelle, die 1975 umgebaut wurde. 1980/81 wurde ein neues Gemeindehaus mit Gottesdienstraum errichtet. Da sich die Gemeinde immer mehr verkleinerte, wurde im Jahr 2008 das Gemeindehaus samt Kapelle in Wasungen aufgegeben und verkauft.24 5.7 Bistum Essen

St. Hedwig in Gelsenkirchen-Resse (1959) Im Jahr 1956 wurde Kaplan Paul Beckmann durch das Generalvikariat zur Seelsorge in Resse und zum Kirchenbau beauftragt. Die Baupläne erstellte der Kölner Architekt 21 http://www.kath-kirche-leipzig-sued.de/aus-der-geschichte/st.-hedwig-kapelle/index.html (30.12.2016). 22 Georg ZELTNER/Klaus FALKNER: 50 Jahre St. Hedwig-Dietersdorf 1954–2004, (Nürnberg) 2004, unpaginiert, [2]. 23 http://wugwiki.de/index.php?title=Markt_Berolzheim,_St._Hedwig (09.11.2016). 24 Bistumsarchiv Erfurt, Akt St. Hedwig in Wasungen.



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Otto Bongartz. Konsekriert wurde das neue Gotteshaus St. Hedwig am 29. August 1959 durch den Bischof von Essen, Dr. Franz Hengsbach. Am 5. Oktober 1960 wurde St. Hedwig eine selbständige Kirchengemeinde. Im Zuge der Strukturreform im Bistum Essen wurde die Hedwigskirche in Resse 2007 geschlossen, 2014 profaniert und 2015 folgte schließlich der Abriss.25 St. Hedwig in Lüdenscheid-Gevelndorf (1963; 1994) Am 26. Juni 1963 fand die Einweihung der hölzernen Behelfskirche St. Hedwig durch Dechant Brühl statt. Im März 1992 wurden durch ein Gutachten die Sanierungskosten für die bestehende Holzkirche ermittelt. Das Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass eine Sanierung der bestehenden Holzkirche wirtschaftlich nicht mehr vertretbar wäre.26 Nach jahrelangem Planen wurde am 11. Juli 1994 schließlich mit dem Bau einer neuen Kirche begonnen, die ein Jahr später fertiggestellt wurde.27 5.8 Erzbistum Freiburg

St. Hedwig in Karlsruhe-Waldstadt (1966/67; 1993) Ursprünglich war die Kirchen von 1966 bis 1967 als reiner Betonbau errichtet worden. 1993 wurde sie im Zuge notwendig gewordener Sanierungsarbeiten innen und außen farbig gestaltet.28 St. Hedwigsklinik in Mannheim Die Klinik besteht seit Mai 1928. Die jetzige Kapelle wurde nach dem Umbau am Hedwigsfest 1997 eingeweiht.29 5.9 Bistum Görlitz

St. Hedwig in Görlitz-Rauschwalde (1967/68; 1996/97) Die Wurzeln der Hedwigsgemeinde reichen noch in die Kriegszeit hinein. Der damalige Kuratus Kischel brachte am 4. September 1941 bei einer Audienz bei Erzbischof Kardinal Bertram in Breslau sein Anliegen vor, dass in Rauschwalde eine selbständige Kuratie St. Hedwig errichtet werden solle. Knapp eine Woche später wurde die Gründung der Hedwigsgemeinde am 10. September 1941 mit Urkunde bestätigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg fand am 23. Juni 1967 dann die Grundsteinlegung für 25 http://gelsenkirchen.wikia.com/wiki/St._Hedwig (08.11.2016). 26 30 Jahre St. Hedwig – Alte Holzkirche hat bald ausgedient, in: Lüdenscheider Rundschau v. 24. Juni 1993. 27 Ebd. 28 http://www.st-raphael-ka.de/html/kirche_st_hedwig.html (08.11.2016). 29 Laut Auskunft von Sr. Regina Strichirsch im Dezember 2015.

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die Barackenkirche statt. 1968 wurde diese geweiht, ab 1996 umgebaut und die jetzige Kirche St. Hedwig errichtet, die am 13. Juli 1997 eingeweiht wurde.30 St. Hedwig in Neuhausen (1949/50; 1993) Die Organisation für die Errichtung einer Notkirche lag in den Händen von Pfarrer Buhl. Er erstand zunächst eine Wehrmachtsbaracke,31 die er im Oktober 1949 nach Neuhausen beförderte.32 Am Karfreitag 1950 feierte die Gemeinde Neuhausen ihren ersten Gottesdienst in der Kirchenbaracke und Pfarrer Broß von der St. Mariengemeinde in Cottbus segnete am Ostermontag die neue Kirche.33 Mit Urkunde vom 29. September 1950 wurde St. Hedwig in Neuhausen zur Seelsorgekuratie erhoben. Die Notkirche wurde am 8. Oktober 1950 von Kapitelsvikar Ferdinand Piontek feierlich eingeweiht.34 Im Zuge des Neubaus der Jugendbildungsstätte des Bistums Görlitz, die sich auf demselben Kirchengrundstück befindet, wurde auch die bisherige Barackenkirche abgebrochen und 1993 eine neue Kirche gebaut. 5.10 Erzbistum Hamburg

St. Hedwig in Norderstedt (1968/69) Am 28. September 1968 fand die Grundsteinlegung für den Kirchenbau in Friedrichsgabe an der Ecke Waldstraße/Falkenkamp statt.35 5.11 Bistum Hildesheim

St. Hedwig und Adelheid in Adelebsen (1949/50) Das Fachwerkgebäude von 1577 wurde ursprünglich als Zehntscheune errichtet; es wurde 1949 von Baron Georg von Adelebsen dem Bistum Hildesheim als katholisches Kirchengebäude zur Verfügung gestellt. An die Scheune wurde ein neuer Altarraum angebaut. Nach den Umbauarbeiten konnte Bischof Machens von Hildesheim die Kirche 1950 weihen.36

30 U. a. http://www.goerlitz.de/Kirchen_Kapellen.html (30.12.2016). 31 Gisela und Sebastian SCHMIDT: Die Entstehung der katholischen Pfarrei „Sankt Hedwig“ in Neuhausen, s. l. e. a., 6 f. 32 Daniela DINTER: Gedenkschrift der katholischen Diasporakirche St. Hedwig in Neuhausen für den Zeitraum 1949–1993, Lübben s. a., 1. 33 Ebd., 3. 34 Ebd., 2. 35 KATH. PFARRAMT ST. HEDWIG NORDERSTEDT (Hg.): Katholische Kirchengemeinde St. Hedwig Norderstedt, Norderstedt 1994, 10 f. 36 http://www.st-godehard-goettingen.de/bho/dcms/sites/bistum/pfarreien/goegodehard/kirchen/ st_hedwig_und_adelheid.html (09.11.2016).



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St. Hedwig in Wunstorf-Steinhude (1952/53; 1979/80) Die Vertreibung der Bevölkerung aus den historischen ostdeutschen Gebieten führte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1947 zur Bildung einer eigenen katholischen Gemeinde in Steinhude. Für sie wurde, nach einem Baracken-Provisorium, 1952/53 eine kleine Kirche gebaut. Als diese Kirche in den 1970er-Jahren den gewachsenen Bedürfnissen nicht mehr genügte, wurde sie 1979/80 auf dem gleichen Grundstück durch einen Neubau ersetzt.37 St. Hedwig in Celle (1955/56) Im Frühjahr 1955 wurde mit dem Bau der Kirche begonnen. Am 26. August 1956 fand die Weihe der Kirche durch den Bischof Aemilius de Smedt aus Brügge statt.38 St. Hedwig in Braunschweig-Rüningen (1956/57) Bereits 1949 begann man in der St.-Hedwig-Gemeinde, Kirchenbücher zu führen. Im Jahr 1956 erfolgte die Grundsteinlegung der Kirche, am 19. Mai 1957 ihre Weihe.39 St. Hedwig in Springe-Völksen (1957; 1982) Am 17. Februar 1957 erfolgte die Benediktion der St.-Hedwigs-Kapelle, die ursprünglich ein Abstellraum in einer ehemaligen Sackfabrik war und sich in der Hannoverschen Str. 2 (später in Steinkrüger Straße umbenannt) befand.40 Im September 1980 fand der letzte Gottesdienst statt und in einem Abstellraum auf einem Nachbargrundstück wurde als Zwischenlösung bis zum Bau der Kapelle an der Kapellenstraße übergangsweise wieder eine Kapelle eingerichtet.41 Am 17. Juli 1982 war die Grundsteinlegung für eine neue Kirche; am 11. Dezember 1982 folgte die Kirchweihe durch Bischof Heinrich Maria Janssen.42 Am 6. März 2014 wurde das Gebäude durch Bischof Norbert Trelle profaniert; es soll verkauft werden, aber weiterhin erhalten bleiben und anderweitig genutzt werden.43 St. Hedwig in Hannover-Vinnhorst (1961) Bereits 1947 wurde die Kirchengemeinde St. Hedwig in Vinnhorst gegründet. Nach jahrelangen provisorischen Gottesdienstorten in der alten Schule und im städtischen Luftschutzkeller konnte am 11./12. Juni 1961 die Hedwigskirche geweiht werden.44 37 Willi STOFFERS (Red.): Handbuch des Bistums Hildesheim. Teil 2, Hildesheim 1995, 288–291. 38 http://www.dekanat-celle.de/ (09.11.2016). 39 Willi STOFFERS: Bistum Hildesheim heute, Hildesheim 1987, 55. 40 Frank UNGER: Die katholische Kapellengemeinde St. Hedwig, Völksen 2010, 1. 41 Ebd., 1. 42 Ebd., 2. 43 STOFFERS (wie Anm. 39), 42 f. 44 Wolfgang LEONHARDT: Hannoversche Geschichten. Berichte aus verschiedenen Stadtteilen, Norderstedt 2009, 121.

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St. Hedwig in Bevern (1968) Am 12. Oktober 1968 konsekrierte Bischof Heinrich Maria Janssen in Bevern die neue Kirche. Damit war eine 21-jährige Übergangslösung beendet: die Feier der Hl. Messe in der ehemaligen Kapelle des Schlosses Bevern.45 Seit 2011 wird ein Nachnutzer für die Kirche gesucht. St. Hedwig in Großenwieden (1974) Nach dem Zweiten Weltkrieg waren viele katholische Vertriebenen und Flüchtlingsfamilien nach Großenwieden gekommen. Ihre Gottesdienste haben sie über mehrere Jahrzehnte in der evangelischen Kirche oder im Gasthaus gehalten. Unter Pfarrer Max Czerwensky wurde in den 1970er-Jahren eine eigene Kirche geschaffen. Am 31. März 1974 fand die Grundsteinlegung der Fertigteilkirche statt, die am 22. Juni 1974 von Bischof Heinrich Maria Janssen geweiht wurde.46 Im Jahr 2012 wurden mehrere Pfarrgemeinden zu einer Seelsorgeeinheit zusammengeschlossen. Die Pfarrgemeinde ist auf der Suche nach einem Nachnutzungszweck, bevor die Hedwigskirche profaniert wird.47 5.12 Erzbistum Köln

St. Hedwig in Wuppertal-Hahnerberg (1958/59) Bereits 1927 erwarb die Gemeinde St. Suitbertus auf den Südhöhen Elberfelds ein Grundstück. 1956 konkretisierte sich die Planung für eine neue Filialkirche. Die Grundsteinlegung erfolgte am 30. November 1958. Schon ein knappes Jahr später wurde die neue Hedwigskirche geweiht.48 St. Hedwig in Bonn (1961/62) Die Grundsteinlegung für die neue Kirche, die nach Plänen von Architekt und Dombaumeister Prof. Willy Weyers aus Köln geplant wurde, fand 1961 statt. Ein Jahr später wurde die neue Kirche geweiht. St. Hedwig in Gummersbach-Nochen (1962–66) Die Kirche wurde in den Jahren 1962 bis 1966 nach Plänen des Architekten Hans Lob aus Siegburg erbaut.49 45 Georg TANZMANN, u. a.: 10 Jahre St. Hedwig-Kirche in Bevern, 1968–1978. Festschrift – Chronik, Bevern 1978, 8–23. 46 http://www.dewezet.de/portal/lokales/hessisch-oldendorf_Aus-fuer-die-katholische-Kirchedie-Kasse-des-Bistums-ist-l-_arid,187273.html (01.10.2015). 47 Ebd. 48 http://www.hedwig-st.de/ (09.11.2016). 49 http://www.kath-kirche-marienheide.de/ (09.11.2016).



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St. Hedwig in Köln-Höhenhaus (1966/67) Die Grundsteinlegung für die neue Kirche war am 24. April 1966. Am 18. Oktober 1969 folgte schließlich die feierliche Konsekration in Höhenhaus durch Weihbischof Augustinus Frotz.50 St. Hedwig in Siegburg-Zange (1972) Der Grundstein wurde am 20. Mai 1971 durch Dechant Dr. Becker gelegt; am 21. September 1972 wurde die Kirche durch Abt Dr. Placidus Mittler geweiht.51 St. Hedwig in Düsseldorf-Eller (1972–74) Um der nach dem Zweiten Weltkrieg im südlichen Eller stark angewachsenen Gemeinde Rechnung zu tragen, entstand von 1972 bis 1974 nach Plänen der Architekten Heinz Thoma und Hans Geiser das katholisches Gotteshaus St. Hedwig.52 5.13 Bistum Limburg

St. Hedwig in Dornholzhausen (1950) Für die Bewohner in Dornholzhausen und Oberstedten erwarb die Pfarrei nach dem Zweiten Weltkrieg einen Bauplatz und errichtete dort eine Kapelle. Zur Einweihung am 30. Juni 1950 kam Bischof Wilhelm Kempf aus Limburg. Nachdem aber 1964 im Gartenfeld die Herz-Jesu-Gemeinde gegründet worden war, fanden ab Ostern 1969 nur noch die Werktagsgottesdienste in der Hedwigskapelle statt. Ein halbes Jahr später wurde die Kapelle abgebrochen, das Grundstück selbst 1972 verkauft.53 St. Hedwig in Frankfurt-Griesheim (1954; 2011) Am 17. Oktober 1954 wurde der Grundstein für eine neue Kirche gelegt. Die Weihe hielt der Limburger Weihbischof Walter Kampe am 12. Juni 1955. 2011 wurde ein neues Gemeindehaus innerhalb der zu groß gewordenen Kirche („Haus im Haus“) gebaut.54 St. Hedwig in Löhnberg (1956) Am 25. September 1955 erfolgte die Grundsteinlegung durch Dekan Graulich. Nach eineinhalbjähriger Bauzeit konnte Domkapitular Karell die Hedwigskirche weihen und ihrer Bestimmung übergeben.55 50 Marcel ALBERT/Markus ECKSTEIN: Lebendige Gemeinde am Rande der Großstadt. Die Kölner Pfarrei Sankt Hedwig 1967–2007, in: Forschungen zur Volkskunde 55 (2007), 19–32. 51 http://www.servatius-siegburg.de/kirchen-einrichtungen/kirchen/st-hedwig (09.11.2016). 52 http://www.sanktgertrud.de/index2.htm (09.11.2016). 53 http://www.waldenserkirche.de/st-hedwigskapelle/ (09.11.2016). 54 http://www.mein-testplatz.de/kirche-st-hedwig/ (09.11.2016). 55 KATHOLISCHE KIRCHENGEMEINDE ST. HEDWIG LÖHNBERG (Hg.): Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt. Chronik der katholischen Kirchengemeinde St. Hedwig Löhnberg, 1946–1956–1996,

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Martin Kirchbichler

St. Hedwig in Wiesbaden-Biebrich (1964) Die Grundsteinlegung war 1973 und der Einzug der Gemeinde in das neue Gemeindezentrum konnte 1974 vollzogen werden.56 St. Hedwig in Oberursel (1964/65) Die Pfarrgemeinde St. Hedwig wurde am 1. Dezember 1960 gegründet. Der Rohbau war schon fast fertig, als Domkapitular Hans Seidenather am 15. November 1964 die Grundsteinlegung vornahm. Ab dem Jahr 2008 hat das Bistum Limburg die Finanzzuweisungen der Betriebs- und Instandhaltungskosten für die Kirche St. Hedwig gestrichen. Mit verschiedenen Aktionen stemmte sich die Gemeinde gegen die Schließung ihrer Kirche. 2012 wurde sie unter Denkmalschutz gestellt.57 5.14 Bistum Mainz

St. Hedwig in Mainz-Finthen (1984) Im Januar 1984 wurde die neue Kirche von Bischof Karl Lehmann geweiht.58 5.15 Erzbistum München-Freising

Kinderheim St. Hedwig in Böbing (Hauskapelle 1949/50) Wegen der herannahenden Front verließen die Hedwigsschwestern zum Kriegsende das Heinrichsstift in Czarnowanz/Czarnowąsy in Oberschlesien. Eine Gruppe kam nach 1945 in Schongau an. Dort waren sie vier Jahre lang im Rückgebäude der Schule provisorisch untergebracht bis sie im Jahr 1949 in Böbing ein eigenes Haus bekamen. Am 22. Mai 1949 wurde es von Ortspfarrer Stemmer eingeweiht und erhielt die hl. Hedwig als Patronin. Ein Jahr später fand am 29. Mai 1950 die Weihe der Hauskapelle für die kleine Schwesterngemeinschaft und für die Heimkinder statt.59 St. Hedwig in Rosenheim (1957/58) Am 3. November 1957 fand die feierliche Grundsteinlegung durch Generalvikar Dr. Fuchs statt. Bereits im Sommer 1958 konnte der Bau der neuen Hedwig-Kirche unter der Bauleitung von Architekt Alfred Schindler abgeschlossen werden. Die kirchliche Weihe fand dann am 10. August 1958 durch den Münchner Erzbischof

Löhnberg 1996, 15–43. 56 http://www.st-josef-dotzheim.de/st-hedwig-stellt-sich-vor.html (09.11.2016). 57 http://www.kath-oberursel.de/cms/index.php5?q=/kirchen/hedwig/ (09.11.2016). 58 Hans Robert MAIER: St. Hedwig in Mainz-Finthen, in: Mainzer Kirchenführer. Entdeckungen in katholischen Kirchen in und um Mainz, hg. v. Jürgen NIKOLAY, Ingelheim 2004, 86 f. 59 http://sankthedwigboebing.de/chronik/ (09.11.2016).



Hedwigskirchen in Deutschland vom 18. bis 20. Jahrhundert

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Joseph Kardinal Wendel statt. Die neue Hedwig-Kirche in Rosenheim wurde 1962 schließlich zur Pfarrkirche erhoben.60 St. Hedwig in München-Sendling (1961–63) Die Grundsteinlegung für die Hedwigskirche fand am 11. Juni 1961 mit Weihbischof Dr. Johannes Neuhäusler statt. Die feierliche Weihe der neuen Pfarrkirche vollzog am 16. September 1962 Julius Kardinal Döpfner.61 Caritas-Altenheim St. Hedwig in Geretsried (Hauskapelle 1965–67) Das heutige Caritas-Altenheim war während des Zweiten Weltkriegs ein Gästehaus für das Rüstungswerk in Geretsried. Nach dem Krieg diente das Gebäude als Unterkunft für zehn heimatvertriebene Familien. Zwischenzeitlich war es auch eine Volksschule bis es 1964 von der Caritas erworben wurde und von 1965 bis 1967 umgebaut und auch um eine Hauskapelle erweitert wurde.62 5.16 Bistum Münster

St. Hedwig in Ganderkesee (1950) Architekt Carolus Antonius Kugelmann entwarf den Plan für eine schlichte Kleinstkirche. Die Grundsteinlegung erfolgte am 23. April 1950 durch den Offizial Heinrich Grafenhorst. Während die Benediktion des Diasporakirchleins von Offizial Grafenhorst vorgenommen wurde, hielt die Konsekration der Kirche am 5. November 1950 der frühere Breslauer Weihbischof Josef Ferche, der inzwischen in Köln lebte.63 St. Hedwig in Hünxe (1951) Am 21. Oktober 1951 wurde die neue Kapelle von Generalvikar Pohlschneider feierlich geweiht.64 Altenheim St. Hedwig in Ibbenbüren Mittelpunkt des Hauses, das bereits seit den 1950er-Jahren besteht, ist eine Hauskapelle, in der regelmäßig Gottesdienste stattfinden. 60 40 Jahre St. Hedwig Rosenheim, Rosenheim 1996, v.a. 11, 12–14. 61 Ebd., S. 13 f. 62 [CARITAS-ALTENHEIM ST. HEDWIG GERETSRIED (Hg):] Kleine Chronik um „St. Hedwig“, Geretsried s. a., 2. 63 Michael HIRSCHFELD: Gleich eine herzlichere Familiengemeinschaft. St. Hedwig in Ganderkesee als Beispiel für den Aufbau einer Vertriebenengemeinde im Bistum Münster, in: Gelebter Glaube – Hoffen auf Heimat. Katholische Vertriebene im Bistum Münster, hg. v. Michael HIRSCHFELD und Markus TRAUTMANN, Münster 1999, 129–139. 64 http://www.st-albertus-magnus.net/index.php?id=sthedwig (09.11.2016).

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Martin Kirchbichler

St. Hedwig in Lengerich-Leeden (1961) Die Kirche wurde aus Holz errichtet. Sie wurde am 26. November 1961 von Weihbischof Heinrich Baaken aus Münster geweiht.65 St. Hedwig in Lotte (1967) Am 2. Dezember 1967 fand die feierliche Konsekration der Kirche durch Bischof Dr. Joseph Höffner aus Münster statt.66 St. Hedwig in Hohenkirchen (1975) Die Kirche in Hohenkirchen im Wangerland wurde 1975 erbaut. Nach Schließung der Kaserne verlor sie ihren Status als Garnisonskirche. Außerdem nahm die Zahl der Gemeindemitglieder erheblich ab. Das Gebäude wurde daher am 30. Mai 2007 profaniert. Da sich kein Käufer fand und es zudem erhebliche Baumängel aufwies, wurde es im Dezember 2008 abgerissen.67 5.17 Bistum Osnabrück

St. Hedwig in Bremen-Neue Vahr (1961–63) Der erste Gottesdienstraum in dem Ende der 1950er-Jahre neu errichteten Stadtteil Neue Vahr befand sich in der ehemaligen Kaserne, im heutigen Polizeipräsidium. Am 26. November 1961 konnte die Grundsteinlegung stattfinden, am 31. März 1963 die Konsekration.68 5.18 Erzbistum Paderborn

St. Hedwig in Steinhagen (1949/50; 1998/99) Am 23. Juli 1950 wurde diese erste Kirche von Dechant und Domkapitular Schmidt benediziert. Da in den 1990er-Jahren die bisherige Kirche hätte saniert werden müssen und die Gemeinde inzwischen auf 2.350 Katholiken angewachsen war, begannen Planungen für einen Kirchenneubau. Am Pfingstsonntag 1998 fand schließlich die Grundsteinlegung durch Generalvikar Kresing statt. Und ein Jahr später konnte Erzbischof Dr. Johannes Joachim Degenhardt die neue Hedwigskirche in Steinhagen weihen.69 65 https://www.stensen.de/personen-einrichtungen/Kirchen/st-margareta/st-hedwig/ (30.12.2016); http://www.kirchwege.de/assets/content/downloads/hp.katholische%20St%20Hedwig%20Leede. pdf (30.12.2016). 66 St. Hedwig Lotte, Ibbenbüren 1967, 4–10. 67 http://www.katholische-kirche-wangerland.de/index.php/kirchen-kkw (09.11.2016). 68 http://www.raphael-bremen.de/index.php?option=com_content&view=article&id=56&Itemid =74 (09.11.2016). 69 KATH. KIRCHENGEMEINDE ST. HEDWIG STEINHAGEN (Hg.): Kirchweihe 1999, Herford 1999.



Hedwigskirchen in Deutschland vom 18. bis 20. Jahrhundert

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St. Ludger und St. Hedwig in Krombach (1951) Für ein eigenes Gotteshaus wurde bereits 1937 das Grundstück gekauft, auf dem die Kirche heute steht. Am 15. August 1941 wurde die Pfarrvikarie-Gemeinde in Krombach gegründet mit dem hl. Ludger als Patron. Ein erstes Wachstum der Kirchengemeinde begann 1943 durch die Evakuierung von Ostpreußen und Schlesien. Am 8. April 1951 wurde der Grundstein zum Kirchenbau gelegt und im September desselben Jahres konnte der Kirchenbau vollendet werden. Weihbischof Augustinus Baumann nahm die Konsekration der neuen Kirche mit der hl. Hedwig als zweiter Kirchenpatronin am 23. September 1951 vor.70 St. Hedwig in Bielefeld-Heepen (1955/56) Am 19. Juni 1955 fand die Grundsteinlegung dieser Kirche statt. Der Grundstein dazu stammt aus der zerstörten St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin und war ein Geschenk des Berliner Bischofs Wilhelm Weskamm. Am 29. Januar 1956 benedizierte Dechant Sunder die neue Kirche; die Konsekration der Kirche folgte am 30. Juni 1956 durch Erzbischof Lorenz Jaeger. Zum 1. Januar 1957 wurde St. Hedwig Heepen selbständige Pfarrvikarie.71 St. Hedwig in Iserlohn (1962) Am 3. April 1959 wurde von der Stadt Iserlohn ein 15.000 qm großes Grundstück für den Bau einer Kirche mit Pfarrhaus und Kindergarten gekauft. Am 23. Dezember 1962 konsekrierte Bischof Fürstenberg, der nach Abschluss der ersten Sitzungsperiode des 2. Vatikanischen Konzils für einige Tage in seiner Heimatstadt Iserlohn weilte, die St. Hedwig-Kirche im Auftrag des Erzbischofs von Paderborn.72 St. Hedwig in Paderborn (1995–97) Am 1. Juli 1992 wurde die Pfarrvikarie St. Hedwig im Stadtgebiet „Auf der Lieth“ errichtet. Im Oktober 1995 konnte der Grundstein für die neue St.-Hedwigs-Kirche gelegt werden. Nach 16-monatiger Bauzeit konsekrierte Erzbischof Johannes Joachim Kardinal Degenhardt schließlich die neue Kirche in einem feierlichen Gottesdienst. Am 1. Dezember 1998 wurde die St. Hedwig-Gemeinde zur eigenständigen Pfarrei erhoben.73 70 http://www.pv-noerdliches-siegerland.de/11442-St.-Ludger-und-Hedwig-Krombach/11523Historie/82822,Unsere-Geschichte.html (09.11.2016). 71 25 Jahre St. Hedwigs-Gemeinde Heepen. Festzeitschrift. http://www.sthedwig-heepen.de/Pfarrer%20Hermesmann/Festzeitschrift%2025%20Jahre%20gesamt.pdf (09.11.2016). 72 KATH. PFARREI ST. HEDWIG, ISERLOHN (Hg.): Die Geschichte der katholischen Pfarrgemeinde St. Hedwig Iserlohn. Festschrift zur Fünfundzwanzigjahrfeier der Kirche 1987, Iserlohn 1987, 29 ff. 73 Fischer BENEDIKT/Margret BIENDARRA: „Tretet ein…“. Kleiner Kirchenführer der Kirche St. Hedwig in Paderborn, 2. überarbeitete Auflage, Paderborn 2007, 3.

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Martin Kirchbichler

5.19 Bistum Regensburg

Seniorenheim St. Hedwig in Beratzhausen (1968; 2005) Im Jahre 1968 wurde das Senioren- und Pflegeheim St. Hedwig in Beratzhausen fertiggestellt. Am 22. November 1968 erfolgte die kirchliche Weihe durch Weihbischof Josef Hiltl aus Regensburg. Als die Sanierung und die Erweiterung des Alten- und Pflegeheimes im Sommer 2003 anstand, wurde auch die Idee der Kapellenerweiterung aufgegriffen. Nach der Genehmigung wurde im Sommer 2005 mit dem Bau der Kapelle begonnen.74 Nach einjähriger Bauzeit erhielt die neue Hauskapelle am 16. Oktober 2006 die kirchliche Weihe.75 Werktagskirche St. Hedwig, Pfarrei St. Paul in Regensburg-Königswiesen (1975/76) Im Jahre 1975/76 wurde die Kirche St. Paul in Regensburg-Königswiesen gebaut. St. Hedwig Klinik in Regensburg (Kirche 1993) Die Kirche der Klinik St. Hedwig in Regensburg wurde 1993 erbaut und umfasst 100 Sitzplätze.76 5.20 Bistum Rottenburg-Stuttgart

St. Hedwig in Stuttgart-Möhringen (1951–53) Schon vor dem Krieg war in Möhringen ein Kirchenbauverein gegründet worden mit dem Ziel, eine Kirche für die zugezogenen Katholiken zu schaffen. Nach diversen Schwierigkeiten wegen des Bauplatzes fanden am 12. Mai 1951 der erste Spatenstich und am 15. Juli 1951 die Grundsteinlegung der von Regierungsbaumeister Otto Müller als flachgedeckte, dreischiffige Basilika geplanten Kirche statt. Am 21. Dezember 1952 wurde die Benediktion durch Domkapitular Alfons Hufnagel gefeiert; am 26. April 1953 die Konsekration durch den Bischof der Diözese Dr. Carl Joseph Leiprecht.77 St. Hedwig in Albstadt-Ebingen (1973/74, Kirchturm 2010) Die St. Hedwigskirche in Albstadt-Ebingen wurde in den Jahren 1973/1974 erbaut. Im Jahr 2010 erhielt sie einen freistehenden Glockenturm. 74 SENIOREN- & PFLEGEHEIM ST. HEDWIG (Hg.): Festschrift anlässlich der Kapelleneinweihung im Senioren- & Pflegeheim St. Hedwig am 16. Oktober 2006, [Beratzhausen] 2006, 9 f. 75 Ebd., 16. 76 Paul MAI: Matrikel des Bistums Regensburg, Regensburg 1997, 572. 77 Helmut DEHM (Red.): 50 Jahre St. Hedwig. Zeitzeugen erinnern die ersten 50 Jahre der katholischen Kirchengemeinde Sankt Hedwig in Stuttgart-Möhringen und -Sonneberg, Stuttgart 2003, 17.



Hedwigskirchen in Deutschland vom 18. bis 20. Jahrhundert

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5.21 Bistum Speyer

St. Hedwig in Ludwigshafen-Gartenstadt (1967/68) Am 11. Juni 1967 fand die Grundsteinlegung für die neue Kirche statt. Die feierliche Weihe der Pfarrkirche St. Hedwig durch den Bischof von Speyer, Friedrich Wetter, war am 13. Oktober 1968.78 St. Hedwig in Speyer (1973/74) Am 19. November 1973 fand die Grundsteinlegung für das neue Gemeindezentrum St. Hedwig in Speyer statt. Die Grundsteinlegung wurde durch den Abt von St. Bonifaz in München und von Andechs, Dr. Odilo Lechner OSB, vorgenommen.79 Zehn Monate später konnte das Gemeindezentrum St. Hedwig feierlich eingeweiht werden.80 2010 wurde der Gottesdienstraum um ein Drittel verkleinert und darin eine Mensa für den Stadtteil eingerichtet. 5.22 Bistum Trier

St. Hedwig in Völklingen (1964–65) Der erste Spatenstich auf dem Baugelände erfolgte am 14. Juli 1964. Weihbischof Carl Schmidt konsekrierte die neue St. Hedwigskirche am 19. Dezember 1965.81 St. Hedwig in Koblenz (1970 Zeltkirche; 1973–78) Im Februar 1969 errichtete der Trierer Bischof Bernhard die selbständige Kirchengemeinde St. Hedwig. Nach einigen provisorischen Gottesdienstorten wurde 1970 als Übergangslösung eine Zeltkirche errichtet. Nach einem Architektenwettbewerb erhielten 1971 die Architekten Pfeiffer-Kühnen aus Saarbrücken den Zuschlag. Der neue Kirchenbau war als teilbarer Mehrzweckraum vorgesehen. Am 21. Oktober 1973 nahm Regionaldekan Lambert die Grundsteinlegung vor. Weihnachten 1974 konnte der erste Gottesdienst gefeiert werden. Die feierliche Konsekration des neuen Gotteshauses durch Bischof Stein erfolgte am 15. April 1978.82

78 http:// http://cms.bistum-speyer.de/pa_lu_gartenstadt/index.php?mySID=f27f0b213a255f159dc 321a843420e02&cat_id=30440 (30.12.2016). 79 KATH. PFARRAMT ST. HEDWIG SPEYER (Hg.): Festschrift zur Weihe des Gemeindezentrums St. Hedwig, Speyer 1974, 31 f. 80 Ebd., 35. 81 Karl KIEFER: Die Baugeschichte von St. Hedwig, in: Festschrift zur Einweihung der Pfarrkirche „St. Hedwig“ in Völklingen-Wehrden am 19. Dezember 1965, Völklingen s. a., 10–12. 82 PFARREI ST. HEDWIG KOBLENZ (Hg.): 25 Jahre Pfarrei St. Hedwig, Koblenz 1994, 18– 30.

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Martin Kirchbichler

5.23 Bistum Würzburg

St. Hedwig in Kleinlangheim (1963/64) Im Juli 1963 wurde der Grundstein gelegt; bereits ein knappes Jahr später, am 20. Juni 1964, wurde die neue Kirche durch Weihbischof Alfons Kempf aus Würzburg konsekriert.83 St. Hedwig in Schwebheim (1976) 1976 hat man dem Zuzug katholischer Heimatvertriebener Rechnung getragen und die schlichte, mit einem steilen, zeltartigen Dach bewehrte Kirche errichtet.84 St. Hedwig in Würzburg (Scheunenkirche Gut Heuchelhof, 1997) Bei der Hedwigskirche im Gut Heuchelhof in Würzburg handelt es sich um keine Pfarrkirche, sondern um eine zusätzliche Kirche, die vor allem für Sondergottesdienste und Jugendgottesdienste von den angrenzenden Schulen, den Behindertenzentren, den Besuchern des Jugendbegegnungshauses Windrad und dem Kindergarten genutzt werden soll. Am 20. April 1997 wurde diese Hedwigskirche von Bischof Paul-Werner Scheele geweiht.85

83 KATH. PFARRAMT ST. JAKOBUS GROSSLANGHEIM (Hg.): St. Jakobus in Großlangheim, St. Hedwig in Kleinlangheim, Gerchsheim 2001, 27. 84 http://www.br.de/radio/br-heimat/sendungen/zwoelfuhrlaeuten/unterfranken/xxuhr-schweb heim-unterfranken100.html (09.11.2017). 85 Barbara KAHLE: Würzburg. Gut Heuchelhof, Lindenberg 1997, 33 ff.

AUTORENVERZEICHNIS Rainer Bendel studierte Katholische Theologie, Geschichte und Kunstgeschichte in München und Rom. Er lehrt als Professor an der Eberhard Karls Universität Tübingen. E-Mail: [email protected] Lydia Bendel-Maidl studierte Katholische Theologie, Latein und Philosophie in München und Rom. Sie ist Professorin für Fundamentaltheologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. E-Mail: [email protected] Marco Bogade ist Kunsthistoriker und forscht zur Kunst- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa. E-Mail: [email protected] Cornelia Eisler studierte Museologie in Leipzig und World Heritage Studies in Cottbus. Seit 2018 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Oldenburg. E-Mail: cornelia.eisler@ bkge.uni-oldenburg.de Chris Gerbing studierte Kunstgeschichte, Baugeschichte sowie Neuere und Neueste Geschichte in Karlsruhe, Basel und Straßburg. Sie ist freiberuflich als Kuratorin, Dozentin, wissenschaftliche Publizistin, Journalistin, Rednerin u.a. tätig. E-Mail: info@ chrisgerbing.de Michael Hirschfeld ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Vechta. E-Mail: [email protected]. Martin Kirchbichler studierte Theologie in Eichstätt. Er ist Priester im Pfarrverband Münsing und Kardinal-Bertram-Stipendiat der Kardinal-Bertram-Stiftung. E-Mail: [email protected] Grzegorz Poźniak studierte Theologie und Musik an den Universitäten Oppeln/Opole und Lublin. Er ist katholischer Priester in der Diözese Oppeln und leitet das Institut für Kirchenmusik an der Theologischen Fakultät der Oppelner Universität. E-Mail: [email protected] Stefan Samerski ist Professor für Kirchengeschichte am Priesterseminar Redemptoris Mater in Berlin. Er hat zahlreiche Arbeiten zur ostmitteleuropäischen Kirchen- und Kulturgeschichte der Neuzeit publiziert. E-Mail: [email protected] Robert Schäfer studierte Kunstgeschichte, Neuere und Neueste Geschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Denkmalpflege und Archäologie des Mittelalters und

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Autorenverzeichnis

der Neuzeit in Eichstätt und Bamberg. Er ist Bezirksleiter im Colloquium Historicum Wirsbergense e.V. (CHW) sowie Erster Vorsitzender der Kunst- und Kulturbühne Hirschaid e.V. und wirkt an Ausstellungen- und Buchprojekten mit. E-Mail: schaeferanpfiff@ web.de Helmut Scheunchen war als Cellist langjähriges Mitglied der Stuttgarter Philharmoniker. Die Ergebnisse seiner musikwissenschaftlichen Forschungen zur deutschbaltischen Musikkultur fließen seit den 1980er-Jahren unter anderem in das Malinconia-Ensemble Stuttgart ein, das er gründete. E-Mail: [email protected]

ORTS- UND PERSONENREGISTER A Aachen 28, 173 Adelebsen 188 Adelebsen, Georg von 188 Adler, Alfred 128 Aitrach 110 Aizupe siehe Asuppen Albstadt 196 Allenstein 139 Altendorf 35, 38 Altenstadt a .d. Waldnaab 109 Amigoni, Giacomo 122 Anna, Heilige 18, 160 Arnold, Franz Xaver 153 Asuppen 134 Auerbach 185 Augsburg 139, 176 Augustinus, Heiliger 69–71 B Baaken, Heinrich 194 Bad Grönenbach 110 Bad Salzbrunn 138 Bamberg 35, 39, 40, 51, 158, 176 Barbara, Heilige 68, 177 Barth 135 Bartning, Otto 36f., Baumann, Augustinus Philipp 195 Bayreuth 176 Beckmann, Paul 186 Beratzhausen 196 Bergen auf Rügen 32 Berlin 32, 59, 60, 77, 86f., 92f., 100, 102, 133, 135, 138f., 141, 144, 171f., 174f., 185, 195 Bernhart, Joseph 15 Berning, Wilhelm 22, 25–27, 33, 158, 162 Berschdorf, Carl 143–145, 147–150

Berschdorf, Norbert 8, 144f., 149f. Berschdorf, Paul 143–145 Bersenbrück 162 Berthold IV. von Adechs-Meranien 171 Bertram, Adolf Johannes 13, 187 Bestensee 185 Bethen 164 Bethlehem 155 Beuthen 32 Bevern 174, 190 Beyer, Hermann Wolfgang 23 Biehle, Johannes 144 Bielefeld 195 Blank, Reinhard 111 Blaschke, Paul 166 Böbing 192 Bobingen 109 Bockhorn, Olaf 26 Bockhorn, Petra 26 Bongartz, Otto 187 Bonifaz IX., Papst 72 Bonn 16f., 23, 190 Bööcke (Beke), Raimund von 140 Borken 173 Bozen 169 Brahms, Johannes 138 Braniewo siehe Braunsberg Braunsberg 55 Braunschweig 189 Bremen 194 Breslau 13, 32, 42, 133, 149, 152, 155, 157f., 166, 172, 174f., 187, 193 Brixen 169 Brno siehe Brünn Brodek (u Přerova) 121 Brookfield, Wisconsin 145 Brügge 189 Brünn 109, 121 Bruntál siehe Freudenthal

202

Orts- und Personenregister

Buken, Leonhard 165f. Burkart, Albert 17f. Buttenheim 38, 44–48 Büttner, Albert 28 Buxheim 110 Bykow siehe Pickau Bytom siehe Beuthen C Calw 88 Celle 189 Český Těšín siehe Teschen Chagall, Marc 119 Champêtre 134 Charkiw siehe Charkow Charkow 139 Cieszyn siehe Teschen Clement, Else 139 Conradi, Walter 133, 140f. Czarnowanz 192 Czarnowąsy siehe Czarnowanz Czerwensky, Max 190 D Dahinden, Justus 176 Danco, Günther 50 Danzig 13, 56–59, 63f., 66, 68, 71, 83, 136 Danzig-Nenkau 79f. Degenhardt, Johannes Joachim 194f. Deggendorf 109 Delmenhorst 164 Dercks, Hans von 134, 138, 140f. Diesenbach 109 Dietersdorf 186 Dillingen 99, 110, 178 Döpfner, Julius 86, 92, 193 Dornholzhausen 173, 191 Dorothea von Montau, Heilige 7, 18, 53–82, 177 Dorpat 134

Dortmund 133 Dresden 133, 185 Duluth 150 Düsseldorf 174, 191 E Eggisried 108, 125 Eichstätt 186 Eleonora Philippina von Sulzbach 174 Elisabeth (Mutter Johannes’ des Täufers), Heilige 117 Erdmann, Eduard 136 Erfurt 186 Erhardt, Gustav 133, 140 Erhardt, Heinz 133 Esau 113 Eschershausen 32 Essen 133, 172, 175, 186f. Ezechiel 69, 114 F Felde, Johann von 72 Ferche, Josef 13, 193 Fitelberg, Grzegorz 136 Flasch, Kurt 111 Forchheim 35 Frankfurt a. M. 18, 21, 27, 90–92, 172 Franz, Ansgar 156, 163 Frauenburg 60, 81 Freiburg i. Br. 56, 93, 187 Freising 192 Freudenthal 73 Freymann, Gerhard 136, 140 Freymann, Walter 134f., 138, 140, 142 Friedland (Korfantów) (145 Friedrich II. von Preußen 174 Friedrich, Egon Theodor 138 Frombork siehe Frauenberg Frotz, Augustinus 191 Fulda 21, 23, 25, 34, 158, 173 Fürstenberg 172, 175



Orts- und Personenregister

Fürstenberg, Adolphus 195 Fürth im Odenwald 109 G Gablonz 139 Gabriel (Erzengel) 115, 117 Ganderkesee 160f., 193 Gdańsk siehe Danzig Gdańsk-Jasień siehe Danzig-Nenkau Geiser, Hans 191 Gelsenkirchen 174, 186, Gembalski, Julian 145 Gensel, Reinhold 42f. Geretsried 45, 193 Gertrud von Helfta, Heilige 76 Gesing, Jupp 68, 177 Gieseking, Walter 136 Glasunow, Alexander 133 Glatz 32, 156f. Gleiwitz 147f. Gliwice siehe Gleiwitz Głogówek siehe Oberglogau Głubczyce siehe Leobschütz Gnesen 133 Gniezno siehe Gnesen Góra Świętej Anny siehe St. Anna-Berg Görlitz 7, 171, 187f. Greifswald 23, 140 Grönenbach 110 Großenwieden 190 Großmontau 66, 74, 76f., 79f., 82f. Grunwald 72 Grüssau 154, 169 Guardini, Romano 103, 109, 120 Gummersbach 190 Gundelsheim 30 H Adalbert von Hohenzollern 72 Hajek, Otto Herbert 8, 84–105, 178, 180f. Halle 13

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Hamburg 134, 137, 188 Hannover 133, 189 Haydn, Michael 156, 160 Hedwig, Heilige 7f., 18, 68, 151, 155, 157, 160–163, 165, 171–177, 185–198 Heinrich I. von Schlesien 171 Hengsbach, Franz 187 Henlein, Konrad 28 Herbst, Ottilie 151 Herkommer, Hans 85, 88 Herne 60, 63, 68, 70, 177 Heuer, Gregor 139, 141 Hildesheim 8, 154, 159f., 163f., 167, 173, 188 Hillen, Johannes 160 Hilter 163 Hiltl, Josef 196 Hirsau 86–89, 100 Hirschaid 35–52, 177 Hof 35 Hofbauer, Clemens Maria, Heiliger 18 Hoffmann-Erbrecht, Lothar 144 Höffner, Joseph 194 Hofmann, Richard 39f. Hohenkirchen 173, 194 Hölderlin, Friedrich 109, 112, 119f., 127, 129f. Holzmeister, Clemens 174 Hufnagel, Alfons 196 Hundeck, Max 143f. Hundeck, Reinhold 143f. Hünxe 193 I Ibbbenbüren 193 Iserlohn 195 J Jablonec nad Nisou siehe Gablonz Jaeger, Lorenz 162, 165, 195

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Orts- und Personenregister

Jaekel, Erich 16–18 Jägerndorf 121 Jakob (Sohn des Isaak), Heiliger 113 Jelgava siehe Mitau Jemgum 158 Jericho 101 Jerusalem 96–98, 102, 178 Jesus 68, 89, 116–118 Johannes (Evangelist), Heiliger 97, 117 Johannes (von) Marienwerder 53, 55, 68 Johannes Nepomuk, Heiliger 18 Johannes Paul II., Papst 172 Joseph II. von Österreich 36 Joseph, Heiliger 115 Jung, Carl Gustav 116, 128 Jünger, Ernst 15 Jungingen, Konrad von 54, 61, 64, 71 Jüterbog 172, 174f. Jutta von Sangerhausen, Selige 76 K Kaller, Maximilian 10–13, 17, 19, 32f., 57, 59, 81 Kaltenbach 8, 84, 94 Kampe, Walter 191 Kapp, Artur 139 Karlsruhe 84, 86, 187 Karweyse, Jakob 74f. Kasper, Walter 182 Katowice siehe Kattowitz Kattowitz 175 Kelheim 109 Keller, Fred H. 149 Keller, Michael 165 Kempf, Alfons 198 Kempf, Wilhelm 16, 191 Kempten 176 Keußler, Gerhard von 139 Kiew 139 Kindermann, Adolf 10, 18

Kirchdorf 110 Kirstani von Lessen, Johannes 72 Kleinlangheim 198 Klein-Muritsch 42 Kłodzko siehe Glatz Knobelsdorff, Georg Wenzeslaus von 174 Koblenz 197 Koenig, Franciszek 146 Köhler, Albert 47f., 50 Köln 21, 173, 186, 190f., 193 Königsbrunn 176 Königstein 10, 13, 16–19, 60 Korfantów siehe Friedland Kossert, Andreas 9 Krakau 171 Kraków siehe Krakau Krnov siehe Jägerndorf Kroeger, Gerhard 138–140 Krombach 195 Krzeszów siehe Grüssau Kügel, Georg 41 Kugelmann, Carolus Antonius 193 Kulmbach 185 Kurzke, Hermann 168 Kwidzyn siehe Marienwerder L Langenbrück 151 Laukhuff, August 144 Lausick 185 Lechner, Odilo 197 Legeay, Jean Laurent 174 Lehmann, Karl 192 Leiprecht, Carl Joseph 196 Leipzig 133f., 137f., 141, 174, 185f. Lemba, Artur 139 Lemberg 113 Lengerich 194 Leobschütz 32 Libau 134, 136, 138



Orts- und Personenregister

Liberec siehe Reichenberg Liepāja siehe Libau Limburg 16, 191f. Lindau 35 Lippstadt 157f. Litzmannstadt siehe Lodz Lodz 133 Łódź siehe Lodz Loh 134 Löhnberg 191 Lotte 194 Lu(i)tgard von Tongern, Heilige 75 Lüdenscheid 187 Ludwigshafen 197 Lüfolding, Otto 163 Lwiw siehe Lemberg Lwów siehe Lemberg M Machens, Joseph Godehard 163, 188 Mai, Richard 20f., 25, 28, 34 Mainz 70f., 163, 192 Majetin 121 Majetín siehe Majetin Malbork siehe Marienburg Malta 144 Mannheim 84, 99, 187 Marburg 109, 128 Maria (Mutter Jesu), Heilige 110, 116f., 125, 127, 152, 184 Marienburg 74f. Marienwerder 53, 55, 65f., 74f., 77f., 80, 82f. Markt Berolzheim 186 Mątowy Wielki siehe Großmontau Mątowy Wielkie siehe Groß-Montau Maximus von Turin, Heiliger 77 Mechtild von Hackeborn, Heilige 76 Mechtild von Magdeburg, Heilige 76 Meder, Johann Valentin 141 Meis, Franz 152

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Meißen 185 Mejsnar, Rudolf 128 Mellaun 75 Miller, Arthur Maximilian 113, 122 Mindelheim 110 Mitau 139 Mittler, Placidus 191 Mönch, Johannes 72 Monse, Franz 157 Moore, Henry 89 Morzęcin Mały siehe Klein-Muritsch Moskau 135, 140, Moszczanka siehe Langenbrück Motte, Manfred de la 95 Müller, Otto 196 Müller, Robert 134 Müller-Kray, Hans 138 München 8, 20f., 25, 28, 34, 41, 109, 164, 192, 197 Münster 8, 11, 24, 32, 152, 154, 157, 159, 164–167, 173, 193f. Müthel, Johann Gottfried 141 N Naumann, Joseph 109 Neisse 143–147, 149 Ness, Rupert 122 Neuhausen 188 Neuhäusler, Johannes 193 Neumann, Johann Philipp 156 Neumann, Johannes Nepomuk 18 Neunburg vorm Wald 109 Nīca siehe Niederbartau Nieborowski, Hubert 158 Niederbartau 134 Nittenau 109 Nordenham 160 Norderstedt 188 Nové Hutě siehe Kaltenbach Nürtingen 87, 100–102, 179 Nysa siehe Neisse

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Orts- und Personenregister

O Oberglogau 144f. Oberstedten 191 Oberursel 174, 192 Odysseus 120f. Oldenburg 30, 157, 160, 164–166 Olsztyn siehe Allenstein Opole siehe Oppeln Oppeln 144, 172, 174 Osnabrück 8, 25, 133, 154, 157f., 160, 162f., 165, 167, 194 Ottobeuren 108f., 121–124, 127 P Paderborn 8, 154, 157, 159, 161, 163f., 165, 167, 173, 194f. Pärnu siehe Pernau Passau 173 Paul VI., Papst 60 Pegau 185 Perlick, Alfons 31 Pernau 140 Pfeiffer, Richard 77f. Pfeiffer-Kohrt, Gertrud 80f. Picasso, Pablo 119 Pickau 8, 107f., 110, 112, 115, 120f., 125–127, 182 Piła siehe Schneidemühl Piontek, Ferdinand 152, 188 Plum, Alois 69–71 Pohl, Karin 28 Pompecki, Bruno 56 Pondorf 109 Pottenstetten 109 Prag 10 20, 53, 110 Praha siehe Prag Prosper Aquitanus 77 Puchowsik, Georg 185 R Rain am Lech 109

Ratzinger, Josef 67, 71 Regensburg 109f., 135, 137, 145, 149f., 158, 196 Reichenberg 20 Reval 138 Richstätter, Karl 75 Richter, Helmut 160f. Riedlingen 18 Rio de Janeiro 109 Rohr 32 Rom 54, 57, 60, 63f.,66 Rosalia, Heilige 76 Rosenheim 192f. Rottenburg 88, 96, 102, 196 Rulle 154, 164 S Saal a. d. Donau 109 Sabisch, Alfred 175 Sackenhausen 133 Saka siehe Sackenhausen Šampēteris siehe Champêtre Sassanfahrt 35, 38 Sauermann, Dietmar 156 Schaduz, Philipp 176 Schäfer, Christiane 156, 163 Scheele, Paul-Werner 198 Scheffczyk, Leo 10, 13–15 Scheidgen, Andreas 168 Schiller, Friedrich 121, 139 Schindler, Alfred 192 Schmidt, Carl 197 Schmitz, Conny 178 Schnabel, Alexander Maria 136f., 140–142 Schnabel, Joseph Ignaz 155 Schneidemühl 32, 63 Schneider, Josef 176, 185 Schneider, Wilhelm 175 Schömberg 139 Schongau 192



Orts- und Personenregister

Schreiber, Georg 24f., 28f., 33 Schröbel, Rainer 51 Schroubek, Georg R. 156, 160 Schubert, Franz 151, 156, 160, 168 Schuchert, August 70f. Schuster, Andreas 144 Schütz, Hans 21, 28 Schwebheim 198 Schweinfurt 109 Seling, Konrad 157 Siegburg 174, 190f. Siegert, Andreas 136 Simeon 118 Sladek, Paulus 28 Slevoigt, Fedor 139 Smedt, Aemilius de 189 Solingen 133 Speyer 109, 197 Splett, Carl Maria 59 Springe 174, 189 St. Anna-Berg 171 St. Peter-Ording 109 St. Petersburg 133f., 136, 139f. Stachnick, Richard 57–64, 66–68 Stalingrad 18 Steinfeld, Joseph von 75 Steinhagen 194 Stimpfle, Josef 176 Straaten, Werenfried van 10 Strullendorf 38 Stuttgart 24, 30, 84f., 87f., 93, 94, 98, 101–104, 138, 142, 180f., 196 Stutthof 58 Szczawno-Zdrój siehe Bad Salzbrunn T Tallinn siehe Reval Tannenberg 72 Tartu siehe Dorpat Taubitz, Monika 9, 160 Taut, Bruno 99

Telgte 164 Teschen 138 Thamm-Willenbrink, Margarethe 82 Thiel, Andreas 55 Thoma, Heinz 191 Thorn 74, 76f. Tichau 175 Tidofeld 151 Tirschenreuth 109 Torún siehe Thorn Trebnica siehe Trebnitz Trebnitz 171f. Trennert, Wilhelm 157, 161 Trier 87, 95, 98–102, 178, 197 Triller, Anneliese 60 Tübingen 7, 109 Tütz-Schneidemühl (Piła) 32, 63 Tychy siehe Tichau V Vechta 152, 164–166 Vedro, Adolf 138 Vītols, Jāzeps 136 Völklingen 197 Voßkamp, Sabine 29 Wilhelm von Vercelli, Heiliger 77 W Wackersdorf 137 Wagner, Richard 138 Wagner, Rudolf 86, 88 Waldkraiburg 48 Wasungen 173, 186 Weikersheim 144 Weimar 24, 30, 139 Weinreb, Friedrich112–116, 120 Wendel, Joseph 193 Werl 164 Weskamm, Wilhelm 195 Westphal, Hans 60 Wetter, Friedrich 103, 197

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Orts- und Personenregister

Wetzel, Marion 32 Wetzhausen, Martin Truchseß von 72 Weyers, Willy 190 Wiebel-Fanderl, Oliva 168 Wien 61, 156 Wiesbaden 192 Wiesent 109 Winkler, Georg 164–166 Winter, Eduard 28f.

Wrocław siehe Breslau Wunderlich, Fritz 138 Wunstorf189 Wuppertal 190 Würzburg 198 Z Zittau 144 Zürich 113, 176