Der Nihilismus und seine Erfahrung in der Romantik: Das Problem des Nihilismus in der deutschen und russischen Romantik aus kultur-komparatistischer Perspektive [1 ed.] 3828823505, 9783828823501

Angesichts der deutschen Romantik spricht der russische Publizist und Philosoph Nikolaj Nadeždin 1829 erstmalig von Nihi

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Der Nihilismus und seine Erfahrung in der Romantik: Das Problem des Nihilismus in der deutschen und russischen Romantik aus kultur-komparatistischer Perspektive [1 ed.]
 3828823505, 9783828823501

Table of contents :
Cover
Vorwort
Einleitung
Kapitel I
Kapitel II
1 Die Grundlagen der nihilistischen Weltanschauung bei Spinoza
2 Die Begründung des neuen Weltbildes bei Herder
3 Rezeption und Überwindung des Spinozismus bei Herder
B Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik als Reaktion auf die neue Weltanschauung
1 ‚Poetischer Nihilismus’ als Selbstreflexion der Romantik
2 Poetischer Nihilismus’ als Erfahrung der Romantik
Kapitel III
1 Die Rezeptionsgeschichte der deutschen Romantik in Russland
2 Der Nihilismusbegriff in Russland
3 Die Erfahrung des ‚poetischen Nihilismus’ bei Lermontov
Nachwort
Literaturverzeichnis

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Alexey Ponomarev Der Nihilismus und seine Erfahrung in der Romantik. Das Problem des Nihilismus in der deutschen und russischen Romantik aus kultur-komparatistischer Perspektive Umschlagabbildung: © Gemälde von Ivan Nikolajewitsch Kramskoi ‚Christus in der Wüste‘ (1872); Wikimedia commons Umschlaggestaltung: Norman Rinkenberger ~Tectum Verlag Zugl. Univ.Diss., Universität Hildesheim 2010 ” Tectum Verlag Marburg, 2010 ISBN 978-3-8288-5290-7 (Dieser Titel ist als gedrucktes Buch unter der ISBN 978-3-8288-2350-1 im Tectum Verlag erschienen.)

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Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Wähntest du etwa, Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehn, Weil nicht alle KnabenmorgenBlütenträume reiften? Hier sitz' ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, weinen, Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich! (Goethe)

INHALT

Vorwort ................................................................................... VII Einleitung Zum Verständnis des Nihilismus ................................ 13 Kapitel I Der Nihilismus als Reaktion auf die philosophische Erkenntnisproblematik des deutschen Idealismus ............................................. 21 1.1

Gott als leerer Raum in der kritischen Philosophie Kants ..... 25

1.2

Die Realität als Erdichtung ......................................................... 31

1.3

Egoismus als Nihilismus bei Fichte........................................... 36

1.4

Nihilismus als ein Konflikt des Wahren ................................... 40

Kapitel II Der Nihilismus als literarisch-poetische Reaktion auf die veränderte Gott- und Weltvorstellung innerhalb der deutschen Aufklärung ........................... 49 A

Die Modifikation der Gott- und Weltvorstellung innerhalb der deutschen Aufklärung ........................... 49

1

Die Grundlagen der nihilistischen Weltanschauung bei Spinoza ..................................... 49

1.1

Gott und Materie .......................................................................... 51

1.2

Die Notwendigkeit und Freiheit der göttlichen Natur .......... 56

1.3

Der Verstand und die göttliche Natur ...................................... 58

1.4

Der Pantheismusstreit ................................................................. 60

1.5

Die Religionskritik und der Skeptizismus Spinozas .............. 66

2

Die Begründung des neuen Weltbildes bei Herder ...................................................................... 75

2.1

Die Ontologie Herders ................................................................ 78

2.2

Empfinden und Erkennen bei Herder ...................................... 84

INHALT

3

Rezeption und Überwindung des Spinozismus bei Herder ...................................................................... 96

3.1

Herder als fleißiger Schüler Spinozas ....................................... 99

3.2

Der mittlere Weg Herders......................................................... 103

3.3

Die nihilistischen Seiten des Herderschen Daseins-Konzepts ....................................................................... 108

3.4

Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder ................... 112

B

Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik als Reaktion auf die neue Weltanschauung ............ 123

1

‚Poetischer Nihilismus’ als Selbstreflexion der Romantik ...................................................................... 123

1.1

Die deutsche Romantik als Schnittstelle zur Makroepoche der ästhetischen Moderne und des europäischen Nihilismus ........................................... 123

1.2

Jean Paul und sein Verständnis des ‚poetischen Nihilismus’...................................................... 129

1.3

‚Die Rede des toten Christus’ Jean Pauls als Warnung vor dem Nihilismus ................................................................... 133

1.4

Offenbarung des Nichts in den ‚Nachtwachen’ von Bonaventura ........................................................................ 140

2

Poetischer Nihilismus’ als Erfahrung der Romantik ............................................................... 152

2.1

Die Entwertung des Daseins und die Krise des Individuums bei Wackenroder und Novalis ......................... 152

2.2

Die erhoffte Erlösung durch die Kunst ................................... 166

Kapitel III Der Begriff der ‚Pseudoromantik’ im russischen Kulturraum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Verwandtschaft mit dem deutschen Nihilismusbegriff ....................... 175 1

Die Rezeptionsgeschichte der deutschen Romantik in Russland ............................................... 175

INHALT

1.1

Voraussetzungen der Romantikrezeption in Russland ....... 177

1.2

Die Wege der ästhetischen Wende in Russland .................... 185

2

Der Nihilismusbegriff in Russland ........................ 193

2.1

Die russische Presse im Streit um die Romantik und der Begriff der ‚Pseudoromantik’ .................................... 193

2.2.

Die Erstdefinition des Nihilismusbegriffs bei Nadeždin ..... 205

3

Die Erfahrung des ‚poetischen Nihilismus’ bei Lermontov .................................................................... 218

3.1

Zur Struktur des Romans ‚Ein Held unserer Zeit’ ................ 219

3.2

Der ‚Byronismus’ Peorins ....................................................... 225

3.3

Wenn die Sterne schweigen ...................................................... 233

Nachwort Vom ‚poetischen’ zum revolutionären Nihilismus ......................................... 239 Literaturverzeichnis .............................................................. 247

VORWORT

VII

Vorwort Die Frage ‚Was bedeutet Nihilismus?’ wurde in der Forschungsliteratur erst nach der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges wieder gestellt. Im Schrecken der materiellen und moralischen Verwüstung wurde die Prophezeiung Nietzsches über den Niedergang Europas und der abendländischen Kultur erkannt. Nietzsches Prognose sollte als Diagnose der Jetztzeit verstanden werden, und so wurden rasch verschiedene geistig-abstrakte und politisch-konkrete zeitgeschichtliche Erscheinungen unter der Diagnose des ‚Nihilismus’ gesehen.1 Hier sind Texte von Walter Bröcker,2 Ernst Meyer,3 Rudolf Pannwitz,4 Ernst Benz5 und Hermann Rauschning6 zu nennen. Diese gegenwartsbezogene Forschungsperspektive prägte entscheidend das Verständnis des Nihilismus: das Phänomen wurde weniger historisch objektivierend als vielmehr subjektiv interpretierend behandelt. In den philosophischen Interpretationen des Nihilismus wurde oft auf Karl Jaspers’ Auseinandersetzung mit Nietzsche7 und Martin Heideggers Antrittsvorlesung 1929 in Freiburg Was ist Metaphysik? zurückgegriffen. Die zentrale Bezugsperson dieser Gegenwartsforschung blieb aber nach wie vor Nietzsche. Erst in diesem Kontext rückte dann zunehmend auch der russische Nihilismus in das Blickfeld, und zwar in Form der literarischen Figur des Arztes Bazarov in Turgenevs Roman Väter und Söhne (Otcy i deti) von 1862. So datierte

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Vgl. Arendt, D.: Der Nihilismus-Ursprung und Geschichte im Spiegel der Forschungs-Literatur seit 1945. Ein Forschungsbericht. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 43. 1969, S.346-369, 544-566; Landgrebe, L.: Zur Überwindung des europäischen Nihilismus. In: Hamburger akademische Rundschau. 6. 1946/47, S.221235; Borchert, W.: Eine Injektion Nihilismus. In: Hamburger akademische Rundschau. 9. 1946/47. S.385-392. Bröcker, W.: Nietzsche und der europäische Nihilismus. In: Zeitschrift für philosophische Forschung. III. 1948, S.161-177. Ders.: Im Strudel des Nihilismus. In: Kieler Universitätsreden. III. 1951. Meyer, E.: Kritik des Nihilismus. München 1958. Pannwitz, R.: Der Nihilismus und die werdende Welt. Nürnberg 1951. Benz, E.: Westlicher und östlicher Nihilismus in christlicher Sicht. Stuttgart 1948. Rauschning, H.: Masken und Metamorphosen des Nihilismus des 20. Jahrhunderts. Frankfurt-Wien 1954. Jaspers, K.: Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1919.

VIII

VORWORT

Hermann Wein8 die Geburtsstunde des Begriffs auf 1862, ihm widersprach Hans Thom9 und verortete den Ursprung des Phänomens im Christentum. Es stellte sich aber bald heraus, dass eine Datierung der Geburtsstunde des Nihilismus eher von der persönlichen Auffassung des Phänomens durch den Autor abhing als von einer objektiven historischen Untersuchung. Einen klaren geschichtlichen Aspekt in die Forschungsliteratur brachten die Aufsätze von Gerhard Gloege10 und Theobald Süß,11 welche auf den Wortgebrauch bei Jacobi und seine Polemik gegen Fichte aufmerksam machten und nun dem Begriff seine eminente Bedeutung im Zusammenhang mit der idealistischen Philosophie verliehen. Dennoch wurde der Nihilismusbegriff Jacobis kaum außerhalb der Idealismus-Forschung benutzt. Walther Rehm12 und Werner Kohlschmidt13 belebten und schärften die Diskussion über den Nihilismus der Romantik.14 Erst in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts folgten aufschlussreiche Studien zum Thema des Nihilismus in der Literatur von Walter Hof15 und Wolf-Heinrich Schmidt.16 Der Schwerpunkt dieser Arbeit wird aber darin liegen, die Forschungsperspektive zu ändern, sich vom Nihilismus-Konzept Nietzsches zu lösen und den Nihilismus vielmehr als eine späte Folge der im 18. Jahrhundert beginnenden geisteshistorischen Prozesse zu betrachten. Der Nihilismus wird hier als eine Kehrseite des um8

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Wein, H.: Zur Rechtfertigung des Nihilismus. Aus Anlaß seines 100. Geburtstages. In: Merkur. YXII. 1963, S.821-833. Thom, H.: Wie alt ist der Nihilismus? In: Merkur. XVIII. 1964, S. 436-500. Gloege, G.: Nihilismus? In: Theologische Literaturzeitung. LXXIV. 1949, S. 723-730. Süß, Th.: Der Nihilismus bei F.H. Jacobi. In: Theologische Literaturzeitung. LXXVI. 1951, S.194-199. Rehm, W.: Experimentum suae medietatis. Studien zur Geistes- und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts. München 1947. Kohlschmidt, W.: Form und Innerlichkeit. Beiträge zur Geschichte und Wirkung der deutschen Klassik und Romantik. München 1955. Vgl. Arendt, D.: Der Nihilismus-Ursprung und Geschichte im Spiegel der Forschungs-Literatur seit 1945. A.a.O., S.544ff. Hof, W.: Pessimistisch-nihilistische Strömungen in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis zum Jungen Deutschland. Tübingen 1970. Schmidt, W.-H.: Nihilismus und Nihilisten. Untersuchungen zur Typisierung im russischen Roman der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. München 1974.

VORWORT

IX

fangreichen und allumfassenden Kulturwandels betrachtet, welcher im gesamten europäischen Kulturraum als Wende zur ästhetischen Moderne stattgefunden hat. Diesem Vorhaben entspricht auch der Zeitraum unserer Forschung: Wir beginnen unsere Untersuchung mit dem Spinozastreit um 1785, als die Krise der deutschen Aufklärung evident wurde und die Frage, in welcher Form die Religion noch zu denken ist, ein Thema des öffentlichen Diskurses wurde; und beenden sie um 1841, als der erste russische nihilistische Roman Ein Held unserer Zeit von Michail Lermontov erschien. Wir werden uns, um dem Phänomen des Nihilismus auf die Spur zu kommen, sowohl philosophischer, literarischer als auch historischer Quellen bedienen. Aus diesem methodischen Grund kann diese Arbeit weder als eine streng literaturwissenschaftliche oder philosophische noch als eine historische oder im engeren Sinne als eine literaturvergleichende verstanden werden. Sie ist viel mehr ihrem Thema, Charakter und Methodik nach eine kultur-komparatistische. Dieses Buch schließt sich an die Studie von Hans-Jürgen Gawoll zur neueren Nihilismus-Forschung an und betrachtet den Nihilismus als eine Erscheinung des Kulturwandels zur Moderne. Gawoll bemerkt trefflich: Vom Nihilismus ist immer dann die Rede, wenn eine bislang gültige, metaphysische Ausdehnung der Wirklichkeit in eine Krise gerät oder wenn man das Ende der Metaphysik erklärt, so daß eine Reflexion auf den ontologischen Status der Welt, die den Ort von Sinnbezügen des menschlichen Lebens bildet, notwendig erscheint.17

Sowohl die Diskussion über die Grenzen der menschlichen Erfahrung, welche Immanuel Kant in Gang setzte, als auch die Spinoza-Rezeption erwiesen sich für die deutsche Aufklärung und die ihr folgende Generation der Romantiker als maßgebend. So stand die ästhetische Wende zur Moderne in Deutschland unter dem Zeichen der Säkularisierung,18 was die Notwendigkeit der Reflexion auf den ontologischen Status bestimmte und damit die Nihilismus-Diskussion auslöste. Wir werden verfolgen, welche Aspekte der aufklärerischen Philosophie nihilistische Gefahren bargen und wie diese in 17

18

Gawoll, H.-J.: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. StuttgartBad Cannstatt 1989, S.18; Vgl. Diken, B.: Nihilism. London 2009. Vgl. Vietta, S., Uerlings, H. (Hg.): Ästhetik- Religion- Säkularisierung. Bd.1: Von der Renaissance zur Romantik. München 2008.

X

VORWORT

der deutschen Romantik als ‚poetischer Nihilismus’ enthüllt, erfahren und zum poetischen Ausdruck gebracht wurden. Das komparatistische Element dieser Studie liegt einerseits in dem interdisziplinären Einsatz zwischen Philosophie und Literatur und andererseits in dem interkulturellen Ausblick19 auf die Rezeption der deutschen Romantik und die Nihilismus-Problematik in Russland. Das Kapitel zu dem Nihilismus der deutschen Romantik beansprucht eine besondere Stellung, denn der Wandel zur Moderne erfolgte in Russland nicht durch eine direkte Rezeption der entsprechenden philosophischen Texte, wie es in Deutschland der Fall war, sondern durch das Medium der deutschen Romantik. So wird im letzten Teil der Arbeit in ein fast unerforschtes Kapitel in der Geschichte des Nihilismus eingedrungen, nämlich in die enge Verbindung zwischen der deutschen und russischen Romantik und in die Diskussion und Erfahrung des Nihilismus in Russland dreißig Jahre vor Turgenevs Väter und Söhne (Otcy i deti). Die kultur-komparatistische Methode dieser Studie bestimmt auch, wie die philosophischen und literarischen Texte behandelt und gelesen werden. Dieses Buch verfolgt nicht den Anspruch, in der Kant-, Spinoza,- und Herder-Forschung als auch in der reinen Literaturwissenschaft ein neues Kapitel zu eröffnen. Die philosophischen und literarischen Texte werden allein unter dem Aspekt der Reflexion auf das säkularisierte Welt- und Gottbild untersucht. Andere Aspekte, welche sicherlich in einer rein philosophischen oder literaturwissenschaftlichen Studie thematisch zwingend wären, werden in diesem Buch ganz ausgelassen oder nur am Rande angesprochen; in diesem Fall wird dann auf entsprechende Sekundärliteratur verwiesen. Nicht die Singularität der einzelnen Werke verschiedener Autoren liegt im Fokus dieser Arbeit, sondern ihre gegenseitige Korrespondenz in Hinsicht auf die Neubegründung der modernisierten Gottes- und Weltvorstellung.

19

Vgl. Birus, H.: Komparatistik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Harald Fricke. Bd.2. Berlin 2000, S.313-317; Corbineau-Hoffmann, A.: Einführung in die Komparatistik. Berlin 2004.

VORWORT

XI

Die vorliegende Arbeit wurde als Promotionsschrift an der Univesität Hildesheim eingereicht. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Silvio Vietta, Prof. Dr. Tilman Borsche, Prof. Dr. Dirk Kemper und meinen Freunden Florian Ehrich und Tobias Gnüchtel für die langjährige wissenschaftliche Betreuung, Geduld und allseitige Unterstützung während der Promotionszeit.

EINLEITUNG

13

Einleitung Zum Verständnis des Nihilismus Bevor wir unsere Auseinandersetzung mit dem Nihilismus beginnen, muss die Frage aufgeworfen werden, womit wir es eigentlich zu tun haben, wenn wir über den Nihilismus sprechen. Was können wir über den Nihilismus überhaupt wissen? Diese Frage ist keinesfalls eine rhetorische, müssen wir uns doch darüber klar werden, ob Nihilismus ein philosophischer, theologischer, kulturwissenschaftlicher, politischer oder literarischer Begriff ist. Selbst wenn wir uns auf die philosophische Ebene des Begriffs beschränken, werden die Fragen nicht weniger, denn wieder zeigt sich der Begriff in mannigfaltiger Gestalt: Ist der Nihilismus eine Form des Skeptizismus, Materialismus, Idealismus, Realismus, Atheismus, Pantheismus, Pessimismus? Ist er eine Spielart der Erkenntnistheorie oder eine positive Lehre der individuellen Freiheit und der Verneinung jeglicher Autorität? Ist er mehr Theorie oder Erfahrung, passive Wahrnehmung oder aktive Erkenntnis, Enttäuschung oder dämonische Begeisterung? Die übliche wissenschaftliche Analyse würde von der Herkunft des Begriffs ausgehen: Nihilismus kommt aus dem Lateinischen ‚nihil’, was ‚Nichts’ oder ‚Negation’ bedeutet.1 Aber diese Erkenntnis bringt uns kaum weiter, denn jede Negation erweist sich in ihrer Wirkung schon als ‚Etwas’; eine totale und absolute Negation erscheint kaum denkbar.2 Auch der Nihilist Bazarov bei Turgenev gefällt sich in Negationen, aber er glaubt trotzdem an die Wissenschaft, speziell an die Medizin, und ist in seinen Überzeugungen ein

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2

Vgl. Müller-Lauter, W., Goerdt, W.: Nihilismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd.6. Darmstadt 1984, S.846-854. Vgl. Schmidt, W.-H.: „Trotz allen gegenseitigen Versicherungen einer Kritik, [...] ist ein abstrakter „Nihilismus“, der „alles“ negiert, und weiter: eine totale Negation im Unterschied zur partiellen, weder möglich noch denkbar noch hat er je bestanden, denn die Negation als Denksatz und Methode, wenn sie nicht rein formal als einzelne aufgefaßt wird, stellt natürlich selber wieder eine Position dar.“ In: Nihilismus und Nihilisten. A.a.O., S.13.

14

EINLEITUNG

Materialist. Der Nihilismus ist in dieser Hinsicht paradox.3 Auch eine Exegese aller möglichen Bedeutungen des Nichts vermag uns nicht weiter zu helfen, denn dieses Wort existiert seit Menschengedenken in den verschiedensten Kontexten und Formen.4 Walter Bröcker versuchte die Definitionsschwierigkeit mit einer Verallgemeinerung zu überwinden und den Nihilismus als eine „Grundstimmung“5 zu bezeichnen. Fritz Leist sprach vom Nihilismus als „Geschehen“,6 Hermann Rauschning als einer „Wirkung“.7 Diese Bestimmungen mögen einleuchtend sein, enthüllen zudem einige der Facetten des Nihilismus und führen sicherlich auch zu gewissen Erkenntnissen, als wissenschaftliche Methode sind sie jedoch ziemlich ungenau und subjektiv. Diese Problematik ließ Hermann Rauschning zur Feststellung kommen, dass der Nihilismus sich mit einer „strengen wissenschaft3

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Vgl. Rauschning, H.: „Der Nihilismus ist paradox. Das ist das erste, was wir feststellen müssen. Ein Nichts, das bloße Negation ist, erweist sich in seinen Wirkungen als ein bedeutendes Etwas.“ In: Masken und Metamorphosen des Nihilismus. A.a.O., S.7. Vgl. Welte, B.: Über die verschiedenen Bedeutungen des Nichts. In: Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag. Hg. von Alexander Schwan. Darmstadt 1975, S.26-33. Vgl. Rauschning, H.: „Es ist ein vieldeutiger und unklarer Ausdruck, der verschiedenes bedeuten kann. In der Tat zeigt die Geschichte des Wortes, daß der damit verknüpfte Begriff Erscheinungen bezeichnete, die miteinander kaum mehr zu tun haben.“ In: Masken und Metamorphosen des Nihilismus. A.a.O., S.10. Bröcker, W.: „Unter einer Grundstimmung ist eine Stimmung zu verstehen, die allen wechselnden Stimmungen zugrunde liegen bleibt und wohl überdeckt, aber nicht beseitigt werden kann.“ In: Im Strudel des Nihilismus. A.a.O., S.8. Vgl. Leist, F.: „Solche Fragen legen die Vermutung nahe, im Nihilismus handle es sich zwar auch um das Aussagen bestimmter inhaltlicher Sätze, viel mehr jedoch um ein Geschehen. Dieses kann sich zwar in einer Weltanschauung oder Philosophie aussagen. Ja – wir müßten fragen, ob es nicht sogar eine nihilistische Religiosität gibt.“ In: Existenz im Nichts. München 1961, S.47. Vgl. Rauschning, H.: „Der Nihilismus ist nur als Wirkung zu erfassen. Er wird dort zu finden sein, wo es noch etwas gibt, das entwertet werden kann. Darum gehört es zu seinem Wirken, sich hinter Masken zu verbergen und in immer neuen Metamorphosen zu erscheinen. Er ist ein Vorgang, der sich in allen Sphären des menschlichen Daseins vollzieht, nicht nur im reflektierenden Bewußtsein der Einzelperson.“ In: Masken und Metamorphosen des Nihilismus. A.a.O., S.7.

ZUM VERSTÄNDNIS DES NIHILISMUS

15

lichen Methode“8 nicht erforschen lässt. Wolf-Heinrich Schmidt machte die ähnliche Beobachtung, dass „die traditionelle Unbestimmtheit“ des Begriffs in vielfältigen Klärungsversuchen nur „reproduziert“, aber nicht „aufgehoben“9 werde. Das würde dann auch erklären, warum eine einheitliche Definition des Nihilismus an sich unmöglich ist und scheitern muss. Schmidt musste dann davon ausgehen, dass „aus der Vielzahl der Bestimmungen das Gemeinsame zu entwickeln, offenbar nur formalen Charakter haben kann“, weil die Geschichte des Nihilismus „durch einen ständigen Wandel der Bedeutungen und Formen gekennzeichnet ist“.10 Die jüngere Forschung von Gawoll geht ebenso davon aus, dass eine „Philosophiegeschichtsschreibung“ des Nihilismus nicht möglich ist, da sie sich „allzu schnell mit einer philologisch-positivistischen Selbstbeschneidung zufrieden gibt“.11 Wie aber ist der Nihilismus erforschbar, wenn auf einer begriffsanalytischen Ebene diese Erscheinung nicht zu fassen ist? Offenbar muss auf eine andere Forschungsmethode gesetzt werden, die als ein Relationsprinzip des Nihilismus beschrieben werden kann. Schmidt spricht in diesem Fall von „nihil privatum“ statt „nihil negativum“ und bezieht sich auf Schopenhauer: daß der Begriff des Nichts wesentlich relativ ist und immer sich nur auf ein bestimmtes Etwas bezieht, welches er negiert [...]. Jedes Nichts ist ein solches nur im Verhältnis zu etwas Anderem gedacht, und setzt dieses Verhältnis, also auch jenes Andere, voraus.12

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Rauschning, H.: „Der Nihilismus entzieht sich jeder strengen wissenschaftlichen Methode, ob seine Analyse im Rahmen der Soziologie oder Philosophie, der Psychologie oder Anthropologie unternommen wird, weil seine Wurzeln im Metaphysischen liegen.“ In: Masken und Metamorphosen des Nihilismus. A.a.O., S.8. Schmidt, W.-H.: „Die traditionelle Unbestimmtheit des „Nihilismus“Begriffs und die allen Klärungsversuchen zum Trotz sich erhaltende abseitige Exotik der Denkweise, die er bezeichnet, sind in den bisherigen „Nihilismus“- Diskussionen eher reproduziert als aufgehoben worden.“ In: Nihilismus und Nihilisten. A.a.O., S.7. Schmidt, W.-H.: Nihilismus und Nihilisten. A.a.O., S.7. Gawoll, H.-J.: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. A.a.O., S.18. Schopenhauer, A.: Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd.1. Leipzig. S.523/24. Zitiert nach: Schmidt, W.-H.: Nihilismus und Nihilisten. A.a.O., S.14.

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EINLEITUNG

Als Ganzes ist der Nihilismus also nicht denkbar, da ihm „kein eigenes Wesen“ zugesprochen werden kann. Die Praxis der Anwendung des Nihilismusbegriffs jedoch zeigt, „daß man zwar insgesamt von verschiedenen Voraussetzungen aus Verschiedenem, im Einzelfall aber durchaus Bestimmtem hat treffen wollen“.13 Vom Nihilismus ‚an sich’ kann also nicht die Rede sein, nur im konkreten Zusammenhang oder in bestimmter Relation auf Etwas, was der Grund des Nihilismus sein könnte, erweist sich das Wesen des Phänomens. Gawoll betont auch, dass die Nihilismus-Forschung zwangsläufig über eine rein begriffsgeschichtliche Studie hinausgeht, lässt sich aber „von einer durchgängigen Problemstruktur leiten, die die unterschiedlichen Begriffe des Nihilismus inhaltlich füllen“.14 Im Rahmen dieser Arbeit verschärfen wir dieses Relationsprinzip und werden den Nihilismus als eine Reaktion verstehen und behandeln: nicht der Nihilismus ‚selbst’, sondern die Gründe, welche zu seiner Erfahrung geführt haben können, sind das Feld unserer Untersuchung. Und diese Gründe müssen offenbar nicht in der nihilistischen Erfahrung selbst liegen, sondern ihr vorhergehen. Dieser der Arbeit zugrunde liegende Gedanke führt uns im Zusammenhang mit der Nihilismus-Problematik der Romantik zu Begegnungen mit Kant, Fichte und Spinoza. Gawoll spricht in diesem Zusammenhang von der „Methode der Kontextualisierung“, die versucht, „das jeweilige Verständnis des Nihilismus mit anderen Theoremen und historischen Einflüssen in Zusammenhang zu bringen“. Die Kontextualisierung als Forschungsmethode des Nihilismus macht laut Gawoll „die Behandlung von bislang kaum beachteten Philosophen notwendig, die allererst eine geistige Atmosphäre schufen, aus der heraus der Nihilismus in das Bewußtsein treten konnte“.15 So kommen wir zum ersten Mal in der Nihilismus-Forschung ausführlich auf Herder zu sprechen, denn er wird in diesem Buch einerseits als Aufklärer und andererseits als Vordenker der Romantik eine besondere Rolle spielen. Wenn wir nun von dem Nihilismus als einer Reaktion sprechen, meinen wir eine ganz bestimmte. Für eine solche bestimmte Reakti13 14

15

Schmidt, W.-H.: Nihilismus und Nihilisten. A.a.O., S.10. Gawoll, H.-J.: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. A.a.O., S.19. Gawoll, H.-J.: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. A.a.O., S.19.

ZUM VERSTÄNDNIS DES NIHILISMUS

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on sollten auch bestimmte Gründe vorliegen. So wird in dieser Arbeit nachzuweisen sein, dass der Grund für die Erfahrung des ‚poetischen Nihilismus’ der Romantik in der Modifizierung des Weltbildes liegen mag, welche innerhalb der deutschen und europäischen Aufklärung im Gegensatz zu den tradierten Formen der Anthropologie, Philosophie, Soziologie und vor allem der Religion vollzogen worden ist. Wir fragen uns, ob die Ursache der nihilistischen Erfahrung der Romantik an dem weltanschaulichen, kulturellen Wandel und Konflikt liegen kann, welcher im weiteren Sinne als ein Generations-Konflikt interpretierbar ist und welcher als eine ästhetische Wende zur Moderne bezeichnet werden kann. Dabei bleibt das Relationsprinzip beibehalten: Die neue Weltanschauung oder, wie Rauschning anmerkte, die neue „Bewusstseinslage“16 kann ‚für sich’ nicht als eine nihilistische verstanden werden, aber in einer Relation zu der tradierten Form sich doch als eine nihilistische „Wirkung“ oder ein „Geschehen“ erweisen. So wie Kant, Spinoza oder Herder sich niemals als ‚Nihilisten’ betrachtet hätten, erweisen sich die in ihren Konzepten modifizierten Mensch-, Gott,und Daseinslehren in Bezug auf die christlich-dogmatische Tradition als nihilistische.17 Die positiven Inhalte der europäischen Aufklärung an sich sind nicht nihilistisch, können aber unter bestimmten Bedingungen zu einer nihilistischen Erfahrung führen. Analog dazu und ins Feld der Literatur übersetzt, empfand sich Bazarov im Roman von Turgenev in seinen materialistischen Überzeugungen nicht als Nihilist, während er doch für Arkadij oder Pavel Kirsanov als ein solcher wirkte. 16

17

Rauschning, H.: „Er (Nihilismus – A.P.) ist ein Gesamtschicksal; nicht nur ein Einzelschicksal. Er ist keine Bewußtseinkrise; er schafft vielmehr eine neue Bewußtseinslage des Menschen. Er ist nicht nur ein geschichtliches Ereignis; er ist fortan eine dauernd wirkende geschichtliche Macht.“ In: Masken und Metamorphosen des Nihilismus. A.a.O., S.7. Vgl. Leist, F.: „Falls die Annahme zutrifft, das umfassende Wesen des Nihilismus sei Geschehen, dann müßte sich dieses Geschehen durchaus nicht immer in einem nihilistischen Bekenntnis aussprechen. Dann könnte dieses Geschehen sich in mannigfachen Zeichen zeigen, dann könnten sogar die Bekämpfer des Nihilismus unter der Macht eben dieses Nihilismus stehen, den sie zu bekämpfen versuchten, ohne zu erkennen, wie stark auch in ihnen Nihilismus wirksam ist.“ In: Existenz im Nichts. A.a.O., S.47. Oder vgl. Strachov, N.: „Man wird ein solches Werturteil über einen Menschen oder eine Bewegung gerade dann fällen, wenn diese selbst sich nicht als nihilistisch bezeichnen.“ In: Bor’ba s zapadom v našej literature. Istorieskie i kritieskie oerki. Bd.2. Kiev 1897, S.42.

18

EINLEITUNG

Daraus resultiert eine andere methodische Besonderheit dieser Studie. Da eine ahistorische Problemidentität des Nihilismus angenommen und er als eine bestimmte Reaktion aus bestimmten Kontexten oder Problemstrukturen abgeleitet wird, behandeln wir den Nihilismus in diesem Buch sowohl als eine deskriptiv-analytische Kategorie als auch einen normativ-wertenden Abweisungsbegriff. Bei der Behandlung jener Texte, in denen die Gründe einer nihilistischen Reaktion vermutet werden, wie etwa bei Kant oder Spinoza, kann vom Nihilismus als einer deskriptiv-analytischen Kategorie die Rede sein. Wenn wir uns aber an Texte wenden, in denen der Nihilismus als eine Erfahrung oder Reflexion thematisiert wird (zum Beispiel bei Jacobi, Jean-Paul oder Nadeždin), greift der Nihilismus als ein normativ-wertender Abweisungsbegriff. Auf der kulturhistorischen Ebene aber erweisen sich diese zwei Seiten des Nihilismus als ein einheitliches Ganzes, nämlich als eine besondere „Bewusstseinslage“ oder ein allgemeiner Trend der Zeit. Das Relations- und Kontextualisierungsprinzip liegt dem Aufbau dieser Studie zugrunde. Die Texte werden nicht in der Reihenfolge ihrer Erscheinungsjahre behandelt, sondern in bestimmten Problemzusammenhängen gruppiert, welche diese oder jene Erscheinungsform des Nihilismus kontextualisieren.18 Die Erstdefinition des Nihilismus erschien im Kontext der Erkenntnisproblematik des deutschen Idealismus und seiner Kritik von Jacobi. Diesem Kontext und entsprechender Nihilismus-Definition ist das erste Kapitel dieses Buches gewidmet. Im zweiten Kapitel bewegen wir uns in der Zeitachse zurück zur Philosophie von Spinoza und dann wieder nach vorne zu derer Rezeption durch Herder, um damit den Kontext zu entwerfen, aus dem der Begriff des ‚poetischen’ Nihilismus in der deutschen Romantik entstanden ist. Im dritten Kapitel befassen wir uns eingehend mit dem geistesgeschichtlichen Kontext, welcher der Rezeption der deutschen Romantik in Russland voranging 18

Vgl. Hans-Jürgen Gawoll: „Aufgrund dieser methodischen Überlegungen kann man sagen, daß es den Begriff des Nihilismus nicht gibt; jedoch wird bei allen seinen begrifflichen Modifikationen das Verhältnis von Subjekt und Welt je nach dem Zusammenhang und dem Interesse thematisch, in dem es sich geschichtlich stellt. Zwar läßt sich also kein einheitlicher Inhalt des Begriffs ‚Nihilismus’ extrahieren, aber die Stadien seiner philosophischen Erörterung, die, auch wenn sie nicht voneinander Kenntnis genommen haben, stets aufeinander bezogen sind, bewegen sich in einer Geschichte.“ In: Gawoll, H.-J.: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. A.a.O., S.20.

ZUM VERSTÄNDNIS DES NIHILISMUS

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und aus welchem der russische Nihilismusbegriff ursprünglich hervorging. Die Studie beenden wir mit einem Ausblick in das späte 19. Jahrhundert mit dem revolutionären Inhalt des Begriffs. Eine besondere Frage ist, ob die nihilistische Erfahrung in der modifizierten Weltanschauung bereits programmatisch, gleichsam vorprogrammiert angelegt ist. Die Antwort darauf scheint positiv auszufallen und in der Bereitschaft des Individuums zu liegen, sich von den Erwartungen der tradierten Kulturformen los zu lösen und sich in den neuen wieder zu finden. Für Bazarov und andere Naturwissenschaftler der Zeit war der Nihilismus kein Thema, weil sie sich eben vollkommen im Rahmen jener neuen „Bewußtseinslage“ bewegten, was aber nicht von den deutschen und russischen Romantikern behauptet werden kann. Die Romantik bezog ihre schöpferische Kraft aus der Philosophie der neuen Zeit, war aber in den universellen und letztlich metaphysischen Ansprüchen der Kunst der Erfahrung des ‚poetischen Nihilismus’ ausgeliefert. Es ist also nicht verwunderlich, dass der Begriff des Nihilismus sowohl in der deutschen als auch in der russischen Romantik als eine Selbstreflexion der Epoche über sich selbst entsteht. In diesem Fall war der Nihilismus im aufklärerischen Denken programmatisch angelegt. Im Laufe dieser Untersuchung wird sich dieser Zugang zum Forschungs-Problem des Nihilismus immer wieder bestätigen lassen.

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Kapitel I Der Nihilismus als Reaktion auf die philosophische Erkenntnisproblematik des deutschen Idealismus Die kritische Auseinandersetzung Jacobis mit dem deutschen Idealismus ist aus mehreren Gründen relevant für den Kontext unserer Untersuchung. Erstens, weil die gängige Definition des Nihilismus von Jacobi entwickelt wurde, sie stammt aus seiner Kritik der Wissenschaftslehre Fichtes. Bei genauerer Bekanntschaft mit dem Werk und Denken Jacobis wird jedoch klar, dass Jacobi den Vorwurf des Nihilismus nicht allein an Fichte, sondern an den deutschen Idealismus insgesamt als an ein einheitliches Denksystem richtete: Sowohl Kant als auch Schelling und Lichtenberg wurden von Jacobi des Nihilismus bezichtigt. Mit Hilfe Jacobis gewinnen wir eine Perspektive auf die Epoche des deutschen Idealismus, welche sich auf konkrete Auseinandersetzungen mit konkreten Texten stützt und die nihilistischen Aspekte dieses Denksystems in den Vordergrund rückt. Zweitens ist zu beachten, dass der Nihilismusbegriff nicht aus dem deutschen Idealismus oder aus der deutschen Aufklärung entstanden ist, sondern aus der Kritik an der damaligen geistesgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands. Diese Tatsache unterstützt unsere These, dass der Nihilismus immer als eine Reaktion zu verstehen ist. Jacobis Werk gilt als ein einzigartiger Beweis dafür, weil er den Begriff im konkreten Bezug auf die konkreten Positionen der Kantschen Erkenntnistheorie oder der Fichteschen Wissenschaftslehre benutzte. Der dritte Grund, warum wir uns in dieser Arbeit mit Vorliebe auf Jacobi beziehen, liegt nicht nur in der Universalität seines Denkens, seiner zum Teil reaktionären Einstellung gegenüber der neuesten geistesgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands im 18. Jahrhundert, sondern auch in der Person Jacobis selbst: Als Zeitgenosse der von ihm kritisierten Philosophen bedeutet uns seine Kritik eine besondere philosophische Authentizität; Jacobi gestaltete diese Epoche durch sein Wirken mit. Hier ist besonders zu erwähnen, dass es Jacobi war, der über den Spinozismus des älteren Lessings berichte-

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te, ein Umstand, der später die Ursache für den sehr wichtigen und aufschlussreichen Pantheismusstreit wurde. Jacobi war auch der Mann, der den jungen Goethe auf die Seite dieser umstrittenen Lehre ziehen konnte. Jacobis Brief an Fichte führte später zu dem Atheismusstreit in Jena, in dessen Verlauf Fichte seine Stelle an der Universität räumen musste. Selbstverständlich war Jacobi keineswegs der einzige Kritiker der Positionen von Kant, Fichte und Spinoza. Jacobi wagte jedoch, seine kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie auch in der Öffentlichkeit mit Courage und Talent zu führen. Er hatte zudem das philosophische Niveau, die genannten auf Augenhöhe angreifen zu können. Jacobi war in der Hauptsache Autodidakt, der nie zu einer philosophischen Schule gehörte. Sein Leben lang im Beamtendienst, wirkte er als Übersetzer, Literat, Philosoph und als Herausgeber. Jacobi repräsentierte jenen Typus, der einerseits in seine Epoche gehörte, andererseits außerhalb ihrer stand und von seinen Zeitgenossen nie richtig akzeptiert und dabei fast immer von seinen großen Mentoren verraten wurde, so von Wieland, Goethe, Lessing und auch von Mendelssohn. Seine Schwierigkeiten erklären sich vermutlich auch aus der zweideutigen philosophischen Position, die Jacobi einnahm.1 Obwohl aus pietistischen Kreisen des orthodoxen Protestantismus stammend, kann Jacobi schwerlich als orthodoxer Christ bezeichnet werden. Das Anliegen seines ganzen Denkens war jedoch die Vorstellung von einem persönlichen, übernatürlichen und letztlich unerforschbaren Gott, welche er sich noch vor seinem sechzehnten Lebensjahr aus der mystischen Lehre der so genannten Gesellschaft der Feinen aneignete. Diese Gesellschaft strebte unter der Führung des Niederländers Jodocus van Lodensteyn (1620-1677) durch ständige Gebetsübungen und eine streng religiöse und weltfeindliche Haltung nach einem mystischen Erweckungsereignis.2 1

2

Vgl. die grundlegende Studie von Hammacher, K.: Die Philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. München 1969. Jacobi selbst beschrieb folgenderweise jene Zeit seiner Jugend im Brief an Mendelssohn: „Ich ging noch im polnischen Rocke, da ich schon anfing, mich über Dinge einer andern Welt zu ängstigen. Mein kindischer Tiefsinn brachte mich im achten oder neunten Jahre zu gewissen sonderbaren – Ansichten (ich weiß es anders nicht zu nennen) die mir bis auf diese Stunde ankleben. Die Sehnsucht, über die besseren Erwartungen des Menschen zur Gewißheit zu gelangen, nahm mit den Jahren zu, und sie ist der Hauptfaden geworden, an den sich meine übrigen Schicksale knüpfen mußten.“ Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza

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Jacobi blieb zudem lebenslang ein treues Mitglied der ebenso mystisch orientierten Freimaurerloge La parfaite Amitie’ in Düsseldorf,3 in welcher er schon mit zweiundzwanzig Jahren das Amt des Schatzmeisters wahrnahm. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich Jacobi mit seinem Kampf gegen Kants transzendentale Wende und die weitere Gültigkeit des rationalen Gottesbeweises keine Freunde unter den großen Geistern seiner Epoche machte. Jacobi machte jedoch in seiner Jugend in Genf eine Erfahrung, welche eine enge geistige Verwandtschaft mit der neuen transzendentalen Philosophie bedeutete und durch die seine kritischen Auseinandersetzungen an Gründlichkeit gewannen. Zwischen dem sechzehnten und achtzehnten Lebensjahr stand Jacobi unter dem Einfluss des Physikers und Mathematikers George Louis Le Sage (1724-1803), welcher dem jungen Mann seine Theorie erklärte, nach der sich alle Naturereignisse und –abläufe ohne jegliche Einwirkung eines angenommenen Gottes aus sich selbst erklären. Der in pietistischer Frömmigkeit aufgewachsene Jacobi verfiel in das andere Extrem und wurde ungläubig. Aus dieser Zeit datiert auch seine Begegnung mit Voltaire, welcher Auslöser für Jacobis kirchen- und moralkritische Haltung wurde. Durch Voltaires Schriften wiederum gelangte er zu Spinoza, welcher für sein späteres philosophisches Werk von besonderer Bedeutung war. Die Faszination für den Spinozismus blieb in seinem Denken zeitlebens präsent, auch wenn er später die Lehre Spinozas zu widerlegen suchte. Vielleicht fand Jacobi in der pantheistischen und blinden Gottheit Spinozas einen gewissen Trost und Schutz vor dem allgegenwärtigen Gefühl seiner Sündhaftigkeit, welches das Leben eines pietistischen Mystikers prägen musste. So verbrachte Jacobi sein Leben zwischen zwei Welten, an der Grenze von zwei ideengeschichtlichen Epochen, seine Zeit mitgestaltend und ihr doch nie richtig zugehörig.4

3

4

in Briefen an den Herrn Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher. Hamburg 2000, S.19. Vgl. Müller, P.: Untersuchungen zum Problem der Freimaurerei bei Lessing, Herder und Fichte. Bern 1965; Michelsen, P.: Die ‚wahren’ Taten der Freimaurer. Lessings ‚Ernst und Falk’. In: Geheime Gesellschaften. Hg. von Peter Christian Ludz. Heidelberg 1979. An einer Stelle verglich Schelling Jacobi mit dem Seher Bileam: Jacobi sei der „unfreiwillige Prophet“, der, „auf der Grenze zweier Zeiten stehend“, „gekommen war, Israel zu fluchen, und es segnen mußte.“ Jacobi: Werke. Bd.10. Hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Darmstadt 1980, S.264.

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Aus dieser besonderen philosophischen Prägung verfasste Jacobi seine kritische Schriften gegen die bedeutendsten Denker der Epoche. Seine Angriffe galten Spinoza, Kant, Fichte Schelling und Lichtenberg. Jacobi vermochte kraft seiner philosophischen Intuition hinter den vereinzelten und in sich selbst geschlossenen Systemen das Übergreifende einer neuen ideengeschichtlichen Epoche zu überblicken und sie als einen einheitlichen Ideenkomplex unter die Lupe nehmen.5 Dabei, wie Hermann Timm betont, bleibt die idealismuskritische Schule Jacobis bis heute aktuell.6 Das alles macht verständlich, warum eine Auseinandersetzung mit Jacobi für unser Thema unverzichtbar ist. Wir werden uns drei Schriften Jacobis eingehender zuwenden: In diesem Kapitel begegnen wir den Schriften Ueber das Unternehmen des Kritizismus die Vernunft zu Verstande zu bringen und der Philosophie überhaupt eine neue Absicht zu geben von 1801 und Jacobi an Fichte von 1799. In einem späteren Kapitel gehen wir dann noch auf den Aufsatz Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an Herrn Moses Mendelssohn von 1785/89 ein, und zwar im Zusammenhang mit dem Pantheismusstreit. Der Zeitraum, in dem diese Texte verfasst wurden, entspricht der Zeit, in welcher die meisten literarischen Texte entstanden sind, anhand derer wir den romantischen Nihilismus untersuchen werden. Wir beginnen mit der späteren Kantkritik, gehen also nicht chronologisch vor, weil wir unsere Untersuchung über den Nihilismus mit der Erkenntnistheorie Kants anfangen wollen. Diese führt uns in die thematische und inhaltliche Problematik des Idealismus ein und verschafft uns die Grundlagen 5

6

Vgl. die grundlegende Studie zur Jacobis Kritik an der Transzendentalphilosophie Müller-Lauter, W.: Nihilismus als Konsequenz des Idealismus. F.H. Jacobis Kritik an der Transzendentalphilosophie und ihre philosophiegeschichtlichen Folgen. In: Denken im Schatten des Nihilismus. Festschrift für Wilhelm Weischedel zum 70. Geburtstag. Hg. von Alexander Schwan. Darmstadt 1975, S.113-163. „An dieser Selbstdeutung der Spinozaschrift muß etwas Wahres sein, bedenkt man einmal die, nach der geläufigen Vorstellung der Philosophiegeschichte „von Kant bis Hegel“ geurteilt, ungebührlich große Beachtung, welche Fichte, Schelling und Hegel Jacobi erwiesen haben, und bedenkt zum anderen, daß durch die Jacobi-Schule und die wissenschaftliche Jacobi-Forschung eine fortlaufende Tradition seiner IdealismusKritik bis in die Gegenwart besteht.“ Hermann Timm: Die Bedeutung der Spinozabriefe Jacobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie. In: Friedrich Jacobi: Philosoph und Literat der Goethezeit. Hg. von Klaus Hammacher. Frankfurt a.M. 1971, S.36.

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für die spätere Auseinandersetzung mit Herder. Wir werden dann versuchen, Jacobis Brief an Fichte im Lichte unseres Verständnisses des Nihilismus zu betrachten und damit einen Hintergrund für unsere Auseinandersetzung mit dem romantischen Nihilismus bilden.7 In der Schrift Ueber das Unternehmen des Kritizismus die Vernunft zu Verstande zu bringen beschäftigte sich Jacobi mit dem programmatischen Werk Kants, der Kritik der reinen Vernunft (1781/87). An dieser Stelle verbietet es sich natürlich, das ganze System Kants auch nur skizzieren zu wollen, und auch die Frage, ob Jacobi in seiner Kritik an Kant im Recht ist oder nicht, bleibt ausgeklammert.8 Unsere Aufgabe ist es viel mehr zu untersuchen, welche Thesen Kants bei Jacobi (und im weiteren Sinne bei vielen Zeitgenossen) Anstoß erregte und warum Jacobi Kants Gedankengebäude als ein nihilistisches bezeichnete.

1.1

Gott als leerer Raum in der kritischen Philosophie Kants

Jacobi stieß in der Kritik der reinen Vernunft auf zwei grundlegende Punkte, aus welchen er den Nihilismus des Kantischen Philosophiesystems ableitete. Der erste betrifft das Ziel und das Resultat des kantschen Erkenntnisprogramms, der zweite deckt Widersprüche in der von Kant entwickelten apriorischen Erkenntnistheorie auf. Wir skizzieren nun diese beiden zentralen Kritikpunkte Jacobis an Kants Philosophie.

7

8

Vgl. die ausführliche Untersuchung zum Thema von Kants Metaphysiklehre und ihrer Stellung zwischen Aufklärung und Romantik von Wundt, M.: Kant als Metaphysiker. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Philosophie im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1924, Nachdruck: Hildesheim 1984. Vgl. auch Mayer, E.: Kritik des Nihilismus. München 1958. Dieter Arendt zu der Bedeutung der kritischen Texte Jacobis: „Ob Jacobis Begriff des Nihilismus philosophisch stimmig, ob er den angegriffenen philosophischen Systeme adäquat und immanent ist, ist als Frage für diesen Zusammenhang irrelevant. Wichtig ist vielmehr, daß sein Angriff auf die bekannten Männer der Zeit in ihnen die Ausläufer einer Entwicklung erblickt, die in den achtziger und neunziger Jahren ihren Höhepunkt gefunden hat; [...]. Zugleich aber, das dürfte nun deutlich sein, spielt der Begriff im Hintergrund der erregenden Gespräche des Jenaer Kreises eine beunruhigende Rolle.“ In: Arendt, D.: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. Bd.1. Tübingen 1972, S.42.

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Jacobi interpretierte die Aufgabe, welche Kant sich in seinem Werk stellte, folgenderweise: Ihr saget laut, lehret ausdrücklich: Gotteserkenntniß, Moral, und R e l i g i o n als Verbindung beyder, sind die höchsten Zwecke der Vernunft und des menschlichen Daseyns. Alles, womit die Philosophie sich sonst beschäftigte, diene blos als Mittel, um zu jenen Ideen: G o t t , F r e y h e i t und U n s t e r b l i c h k e i t zu gelangen, und ihre R e a l i t ä t z u b e w ä h r e n . Ihr behauptet, die Vernunft würde ihre erste und letzte Absicht, den eigentlichen Gebrauch ihrer Kraft verlieren, und durch ihre Wirksamkeit den Menschen in ihm selbst nur zerstören und aufreiben, wenn sie nicht jenen Glauben an Gott, an Freyheit und Unsterblichkeit hervorzubringen, vermöchte; gerade diese Richtung sey das, was die Vernunft zur Vernunft mache.9

Dies ist eine sehr freie und großzügige Interpretation von Kants Absichten. Entscheidend ist aber der Ausgangspunkt Jacobis, welcher seine Kritik erst ermöglichte und dieser die Richtung vorgab. Dieser Ausgangspunkt ist nichts anderes, als die Voraussetzung Jacobis, dass das höchste Ziel der Vernunft (der Philosophie im Allgemeinen und der Metaphysik im engeren Sinne) der Beweis der objektiven Realität Gottes, der Freiheit und der Unsterblichkeit sein muss. Die Philosophie ist laut Jacobi die Bewahrerin der höchsten Wahrheiten der Metaphysik. Wenn die Erkenntniskraft der Vernunft die Aufgabe der Gotteserkenntnis nicht einlösen und den metaphysischen Glauben des Menschen durch Beweise der Realität Gottes nicht befestigen kann, so wird die Vernunft unbrauchbar und setzt sogar zerstörerische Kräfte im Menschen frei. Jacobi hält diesen Zusammenhang für so selbstverständlich, dass er diese Vorraussetzungen jeder Philosophie und damit auch der kantschen zuschreibt. Es bleibt unklar, ob Jacobi Kant tatsächlich so gründlich missverstanden hat oder ob er absichtlich in Kants Worte einen eigenen Sinn legte. Feststellbar aber ist, dass Jacobi von der kritischen Philosophie Kants etwas anderes erwartete, als was der Königsberger Denker selber beabsichtigte. Im Grunde haben wir es mit dem oben genannten Zitat Jacobis nicht mit einer Interpretation Kants zu tun, sondern vielmehr mit Jacobis eigener Position, welche er eben für allgemeingültig und einzig möglich hielt. Jacobi erklärte jede 9

Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kritizismus, die Vernunft zu Verstande zu bringen. In: Werke. Bd.2. Hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Darmstadt 1980, S.84.

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andere mögliche Aufgabe der Philosophie als schlechthin undenkbar, und zog aus dieser Prämisse das Recht, Kant unter dieser Vorraussetzung zu deuten. Kant aber setzte nun ganz andere und umgekehrte Bedingungen. Für ihn galt es zu überprüfen, was durch die Kräfte der menschlichen Vernunft von der Welt, von dem Menschen und von Gott mit Sicherheit erfahrbar ist und was von diesem Wissen – auch wenn es schon in der Tradition dogmatisiert und verfestigt wurde – als Erdichtung und Täuschung erklärt werden muss. Kant beabsichtigte eine feste Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu ziehen. Die Grenze zwischen einem positiven, sicheren und neuen (synthetischen) und einem ohne festen Grund dogmatisch angenommenen Wissen sah Kant in der positiven Erfahrung als einer Grundlage jeglicher Erkenntnis. So lautete das Grundaxiom der kantschen Untersuchung: [...] daß alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel; denn wodurch sollte das Erkenntnisvermögen sonst zur Ausübung erweckt werden, geschähe es nicht durch Gegenstände, die unsere Sinne rühren und […] bewirken […] so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heißt?10

Kant postulierte also, dass nur das Wissen, welches seinen Anfang aus einer sinnlichen Erfahrung schöpft, als sicher erklärt werden kann. Seine neue kritische Wissenschaft sollte „entweder unsere reine Vernunft mit Zuverlässigkeit [...] erweitern, oder ihr bestimmte und sichere Schranken [...] setzen“.11 Letzteres betraf vor allem die dogmatische Metaphysik als eine Wissenschaft, welche „den Boden der Erfahrung“12 verlässt und „auf Kredit der Grundsätze, deren Ursprung man nicht kennt“13 erbaut wurde. So sah Kant das Hauptproblem seiner kritischen Philosophie in der Fragestellung: „Wie

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11 12 13

Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in sechs Bänden. Bd.2. Hg. von Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1956, S.45. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.61. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.50. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.50.

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sind synthetische Urteile a priori möglich?“14 und „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft möglich?“15 Diese Fragestellung bedeutete im weiteren Sinne nicht mehr und nicht weniger als eine Herausforderung der christlichen aristotelisch-platonischen Tradition der Metaphysik. Diese ist nämlich aus der kantschen Perspektive „bisher in einem so schwankenden Zustande der Ungewißheit und Widersprüche geblieben“,16 weil sie nicht auf Erkenntnissen ruht, welchen ein sicherer „Umfang, Gültigkeit und Wert“17 zugeschrieben werden können. „Man kann also und muß alle bisher gemachte Versuche, eine Metaphysik d o g m a t i s c h zu Stande zu bringen, als ungeschehen ansehen; […]“18, schloss Kant. Wir sehen deutlich, dass Jacobi von einem vollkommen anderen Ausgangspunkt ausging; diesen aber schrieb er auch Kant zu. Zu welchem Ergebnis jedoch kommt Kant in seinen Untersuchungen und welche Schranken setzt er der Metaphysik als Wissenschaft aus der Perspektive seiner kritischen Philosophie? Auf die Frage, „ob es etwas von der Welt Unterschiedenes gebe, was den Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte“19 oder ob wir „einen einigen weisen und allgewaltigen Welturheber annehmen“20 können, gibt Kant eine klare Antwort: „o h n e Z w e i f e l “21 und „wir m ü s s e n einen solchen voraussetzen“.22 Kant beantwortete also die Frage, ob eine Idee Gottes als solche vom Menschen angenommen werden kann, positiv. Wenn er aber fragt, „ob dieses Wesen Substanz, von der größten Realität, notwendig etc. sei“,23 so antwortet Kant: „d a ß d i e s e F r a g e g a r k e i n e B e d e u t u n g h a b e “.24 Gott als eine Idee muss also nach Kant angenommen werden, aber die Frage, ob Gott

14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.59. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.61. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.59. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.50. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.61. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.600. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.601. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.600ff. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.601. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.600. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.600.

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eine Realität zugeschrieben oder „eine objektive Gültigkeit“25 erteilt werden könnte, hält er für irrelevant, denn das Dasein Gottes bleibt für die spekulative Vernunft jederzeit transzendent, und [hat] gar keinen immanenten, d.i. für Gegenstände der Erfahrungen zulässigen, mithin für uns auf einige Art nützlichen Gebrauch, sondern sind an sich betrachtet ganz müßige und dabei noch äußerst schwere Anstrengungen unserer Vernunft.26

Der Mensch kann also das Dasein Gottes freilich annehmen, aber das, womit sich die dogmatische Metaphysik traditionell befasste, erklärte Kant für einen „müßigen“ und unnützen Vorgang. Kant sah sich zu dieser These berechtigt, weil das ganze Gebäude seiner transzendentalen Philosophie auf den schon erwähnten erkenntnistheoretischen Axiomen beruhte. So antwortete er auf die Frage: „Aber alsdenn erweitern wir doch unsere Erkenntnis über das Feld möglicher Erfahrung?“27 eindeutig: „K e i n e s w e g e s “.28 Zusammengefasst lässt sich die Position des Königsberger Philosophen folgenderweise formulieren: Gott muss als eine Idee angenommen werden, denn diese Annahme dient als „regulatives Prinzip der systematischen Einheit“29 des menschlichen Erkenntnis. Diese Idee muss aber leer und dem menschlichen Erkenntnisvermögen entzogen bleiben, da dieser Idee kein empirischer Gegenstand zugewiesen werden könne. Gott muss dementsprechend für den Menschen terra incognita bleiben oder, wie es Kant selbst sagte, ein leerer Raum: […] so überzeugt doch eine vollendete Kritik, daß alle Vernunft im spekulativen Gebrauche mit diesen Elementen niemals über das Feld möglicher Erfahrung hinaus kommen könne, und daß die eigentliche Bestimmung dieses obersten Erkenntnisvermögens sei, sich aller Methoden und der Grundsätze derselben nur zu bedienen, um der Natur nach allen möglichen Prinzipien der Einheit, worunter die der Zwecke die vornehmste ist, bis in ihr (der Natur – A.P.) Innerstes nachzugehen, niemals aber ihre

25 26 27 28 29

Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.602. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.673. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.601. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.601. Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.584.

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Grenze zu überfliegen, außerhalb welcher für uns nichts als leerer Raum ist.30

Es sind kühne und starke Worte, welche im klaren Gegensatz zu den Erwartungen Jacobis von der Philosophie im allgemeinen und von Kant im Besonderen standen. Jacobi setzte in seinem Denken voraus, dass Philosophie den Glauben an einen transzendenten Gott als an eine objektive Realität begründen und bewahren sollte. Kant dagegen erklärte die Frage nach der Objektivität Gottes für eine unbedeutende und wagte sogar, den Bereich des Übersinnlichen, des Transzendenten als einen „leeren Raum“ für das menschliche Erkenntnisvermögen zu definieren. Es ist klar, dass diese Position Kants Jacobi enttäuschen musste. Aus seiner Sicht erfüllte das Kantsche Denken die von der Philosophie allgemein gestellte Aufgabe nicht, er kommt aber erstaunlicherweise zum praktisch identischen Ergebnis wie Kant: „Die Ideen von Gott, Freyheit und Unsterblichkeit haben ja nicht einmal Anspruch auf den Rang einer blosen Hypothese!“31 Jacobi hat Kant an dieser Stelle absolut richtig verstanden. Jacobis Entsetzen über Kants Gedanken sind das eine, wichtiger ist, dass er damit, was er für den Beweis der Fehlerhaftigkeit des Kantschen Denkens ansah, den zentralen Nerv der kritischen Philosophie traf: Wie wir schon zeigten, stellte Kant sich die Aufgabe, den Träumereien der dogmatischen Metaphysik ein Ende zu setzen und den menschlichen Verstand von diesen Phantasmagorien auf dem naturwissenschaftlichen Weg zu befreien. Worauf es aber Jacobi in seinen Erwartungen ankam, war Gott als eine transzendente und als eine reale Objektivität zu erfahren. Jacobi erkannte ganz richtig, dass die Kantsche Philosophie diese metaphysische Erfahrung sogar als eine potentielle Möglichkeit ausschließt: Ich frage jeden Redlichen auf sein Gewissen, ob er wohl, nachdem er einmal deutlich begriffen hat, zu folge dieser seiner Philosophie, daß er jene Vernunftbegriffe, jene Ideen, nämlich: Gott, Freyheit und Unsterblichkeit, als objective Realitäten auf die angezeigte Weise sich nur weiß macht, oder von der Vernunft sich weiß machen läßt, […] ob er zu jenen, nun ein für allemal ausgemacht objectiv grundlosen, ein für allemal ausgemacht objectiv durch und durch leeren Vorstellung, je aus irgend einer Ursache 30 31

Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.605. Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kritizismus. S.183.

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als zu objectiv wahren und realen Vorstellungen werde zurückkehren, und ein aufrichtiges, herzliches Vertrauen in sie setzen können? Ich sage, es ist unmöglich!32

An dieser Stelle führt Jacobi eine menschliche Dimension in seine Kritik ein. Wenn Gott keine reale, wahre Objektivität ist, sondern bloß als „Vernunftbegriff“ erklärt wird, geht für Jacobi das Teuerste verloren: Die mystische Verbindung des Menschen mit dem transzendentalen Gott. Jacobi kritisierte also das kantsche System nicht nur aus einer rein theoretischen, sondern auch aus einer lebenspraktischen Perspektive. Jacobis schwerwiegendster Kritikpunkt lässt sich vor Allem folgendermaßen zusammenfassen: Die Annahme, Gott sei ein leerer, unerkennbarer Raum und eine Vernunftidee ohne objektive Realität führe dazu, dass an diesen Gott nicht geglaubt werden könne. Aus diesem Grund erklärte Jacobi die Kantsche Lehre als misslungen und den allgemeinen Aufgaben der Philosophie nicht entsprechend. Es ist anzunehmen, dass Jacobis Entsetzen von vielen Anhängern der kritischen Philosophie nicht geteilt wurde. Man könnte Jacobi vorwerfen, dass er Kants Ziele und Absichten nicht verstanden und ihm etwas zugeschrieben habe, was er gar nicht vorhatte. So wäre die Enttäuschung Jacobis sein eigenes Problem und hätte nichts mit dem Kantschen Kritizismus zu tun. Er griff aber Kant an einer anderen Stelle an, und dieser Vorwurf Jacobis hat seine Aktualität bis heute bewahrt. Jacobi stellte nämlich in Frage, ob das menschliche Erkenntnisvermögen aus der Kantschen Perspektive überhaupt jemals an irgendeine positive Erfahrung des Dinges an sich gelangen könne.

1.2

Die Realität als Erdichtung

Wie wir schon erwähnten, war der Zentralbegriff des Kantschen Kritizismus der Begriff der Erfahrung. Die Erfahrung oder die menschliche Erkenntnis besteht laut Kant aus zwei Quellen: Nur so viel scheint zur Einleitung, oder Vorerinnerung, nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch

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Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kritizismus. S.102ff.

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deren ersteren uns Gegen-stände g e g e b e n , durch den zweiten aber g e d a c h t werden.33

Hier, an diesem zentralen Punkt, ist die Kantsche Lehre am schwersten zu treffen, und hier setzte Jacobi an. Die Trennung zwischen dem erkennenden Subjekt (der vorgreifende Verstand) und dem zu erkennendem Objekt (dem Ding an sich) verstand Jacobi bei Kant als höchst problematisch. Zugespitzt kann die Fragestellung Jacobis so formuliert werden: Wenn sich die Erkenntnis rein nach den Gesetzen des Verstandes vollzieht, wie ist es dann diesem vorgreifenden Verstand möglich, an die Erfahrung der äußeren Welt oder der Dinge an sich zu gelangen? Für Jacobi ist hier ein Widerspruch der Erkenntnistheorie Kants offensichtlich. Die reinen Vorstellungen entstehen laut Kant notwendigerweise allein durch das Vorgreifen des Verstandes nach den Gesetzen des Einbildens (Kategorien), dabei aber müssen sie notwendig die Erfahrung der äußeren Welt enthalten. Die Einbildungskraft soll dabei die Vermittlung zwischen dem Verstand und der Sinnlichkeit übernehmen. Sie kann aber die Dinge an sich oder die äußere Welt an sich nicht so rezipieren, wie sie sind, sondern nur so, wie der Verstand sie sehen „will“ oder „kann“: durch die Kategorien des Raumes und der Zeit. Der Verstand begreift die äußere Welt nicht wie sie ist, sondern so, wie er sie sehen kann, was für Jacobi beweist, dass der Verstand letztlich sich selbst denkt und begreift, ohne jemals an die objektive Realität gelangen zu können:34

33 34

Kant: Kritik der reinen Vernunft. S.66. Jacobi war anscheinend nicht der erste und nicht der einzige, der auf dieses erkenntnistheoretische Problem bei Kant aufmerksam machte. So können wir der fast fünfhundertseitigen in Berlin im Jahre 1796 erschienenen Untersuchung von Daniel Jenisch praktisch eine wortgenaue Fragestellung wie bei Jacobi entnehmen: „Nun aber ist unsere Erkenntniß, nach der Ansicht des unbedingten Transcendental-Idealismus, nichts anders, als ein Glas, auf dessen Außenseite gleichsam ein ganz fremdes Gemälde angeklebt ist, das gar nicht die objektive Welt der Dinge an sich, nicht einen Zug derselben, sondern eine, von derselben ganz isolirte […] Landschaft darstellt. […] Denn die Dinge an sich sind ihr (der Erkenntnis – A.P.) schlechterdings Nichts.“ Aus diesem Grund bezeichnet auch Jenisch den „Transcendental-Idealismus“ als einen „Idealistischen Nihilismus“. In: Daniel Jenisch: Über Grund und Werth der Entdeckungen des Herrn Professor Kant in der Metaphysik, Moral und Aesthetik. Berlin 1796, S.274ff. Vgl. Pöggeler, O.: Hegel und die Anfänge der Nihi-

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Die Vernunft nämlich, wie ich schon anfangs bemerkt habe, ruhet bei euch auf dem Verstande; der Verstand auf der Einbildungskraft; die Einbildungskraft auf der Sinnlichkeit; die Sinnlichkeit dann wieder auf der Einbildungskraft a l s e i n e m V e r m ö g e n d e r A n s c h a u u n g e n a p r i o r i ; diese Einbildungskraft endlich – W o r a u f ? Offenbar auf Nichts! Sie ist die wahrhafte Schildkröte, der absolute Grund, das Wesende in allen Wesen. Aus sich rein a priori produciert sie sich selbst; und, als die Möglichkeit selbst von allem Möglichen (das P r o d u c i r e n d e des P r o d u c i r e n s , welches in der Erscheinung als ein E i n g r e i f e n , A p p r e h e n d i r e n sich äußert) nicht nur was möglich, sondern auch was – vielleicht! - u n m ö g l i c h ist. Genug, v o r ihr kann nichts seyn: und was n a c h ihr ist, das ist nur d u r c h sie, nur in ihr und v o n ihr.35

Die Einbildungskraft ist demnach einerseits „die wahre Schildkröte“ der kantschen Erkenntnistheorie, andererseits aber die Betrügerin, denn sie „produziert“ etwas, ohne es tatsächlich in der Hand zu haben. Diese Feststellung führte zu dem Betrugsvorwurf Jacobis an Kant, er nannte den Kritizismus ein „Chamäleon“, welches nach Belieben und situationsabhängig entweder als rein oder als empirisch angesehen werden könne. Wenn die Rede von dem apriorischen Erkenntnisvermögen ist, dann sind die reinen Anschauungen und Vorstellungen rein; wenn es um die objektive Realität oder die Mannigfaltigkeit geht (weil es eine objektive Erfahrung in der Erkenntnis geben muss), dann sind diese Anschauungen laut Jacobi auf irgendeine Weise verendigt und nicht mehr rein, sondern schon individualisiert und vereinzelt. Das ließ Jacobi zu dem Schluss kommen: Der ganze Zweck der kritischen Philosophie enthält eine Unmöglichkeit. Sie will, ohne es anzukündigen, Unendlichkeit durch Unendlichkeit bestimmen; ausgehen vom Unbegränzten, und durch dasselbe zugleich die Gränze entstehen lassen. Der Verstand soll dies Geschäft vornehmen, soll, als productive Einbildungskraft, das Einzelne und Viele im Unendlichen hervorbringen, soll das Individuum ursprünglich erzeugen, und gelangt mit seinem Bemühen nicht ans Ziel, weil er nach seinem Wesen nicht begränzen und erzeugen kann. Daß dies dennoch angenommen

35

lismus-Diskussion. In: Man and World. 3. 1970, S.180ff; Müller-Lauter, W.: Nihilismus als Konsequenz des Idealismus. A.a.O., S.113, 118f. Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kritizismus. S.115.

34

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wird, ist der Anfang alles Vergehens wider die Wahrheit in dieser Philosophie, ihr eigentlicher Weg der Unwahrheit.36

Die Folgen dieses „Weges der Unwahrheit“ der Kantschen Lehre sah Jacobi einerseits darin, dass die äußere Welt für das erkennende Subjekt nichts anderes sein könne als das Produkt dieses Subjektes selbst, also eine Erdichtung dieses Subjekts. Die Konsequenz aus dieser Überlegung musste lauten, dass das Subjekt in seiner Tätigkeit stets in sich selbst eingeschlossen und gefangen bleibt. Ergebnis des Kantschen Kritizismus wäre laut Jacobi ein endloser, gleichsam autistischer Subjektivismus. Wie wir sehen, kommt Jacobi in seiner eingehenden Auseinandersetzung mit dem System Kants zu vielseitigen Ergebnissen. Erstens vermochte das Kantsche Denken nach Jacobi die allgemeinen Aufgaben der Philosophie nicht zu erfüllen und den Glauben an die Realität Gottes zu befestigen. Die beiden Philosophen kommen jedoch zu der Feststellung, dass Gott im Idealismus nur als leere Idee seinen Platz findet und seine objektive Existenz zwar angenommen werden muss, aber nicht bewiesen werden kann. Laut Kant ist die Frage, ob die Annahme der Existenz Gottes richtig oder falsch sei, bedeutungslos und ohne praktischen Nutzen. Jacobi entsetzte diese These, für Kant war sie jedoch das Ergebnis seiner Kritik der reinen Vernunft. Schließlich kam Jacobi zum Schluss, dass nicht nur die transzendente Welt aus der kantschen Perspektive als ein unerkennbares Nichts erklärt werden müsse, sondern auch die ganze äußere Welt als Täuschung und Erdichtung des in sich selbst gefangenen Subjektes gelten müsse. Aus diesen genannten Gründen machte Jacobi - ähnlich wie einige Jahre zuvor der Wissenschaftslehre Fichtes - Kants Idealismus den Vorwurf des Nihilismus: Der Mensch steht nach Kantischer Angabe, durch seine Vernunft, in einem ewigen Widerspruch zwischen seinen praktischen Postulaten und seinem Vernunftgebrauche (weil die Vernunft den Menschen zum Erkennen Gottes, Freiheit und Unsterblichkeit führen kann – A.P.); er kann nicht gelangen zum E r k e n n e n jener großen Aufgabe alles Philosophierens, einer Religion und Freyheit, nicht zum G l a u b e n derselben; sondern besitzt an ihnen ein blos problematisches, für etwaigen Gebrauch nützliches Ideenmagazin. – Und dies wäre das ganze verheißne Resultat? Gewährt die Philosophie nichts anderes, als die Einsicht in diesen Zustand, enthüllt sie das Ringen nach einer nothwendig geforder36

Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kritizismus. S.175.

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ten, aber niemals gerechtfertigten Wahrheit, besitzt sie die zerstörende Kraft, alle Truggebäude niederzureißen, und entbehrt die Gewalt, etwas Festes wieder zu erbauen: so ist sie die ärgste Feindesgebäude, ein Fegfeuer des denkenden Geistes und eine Hölle der empfindenden Menschheit! – Gesteht es nur, ihr mit eurer Vernunft wider Vernunft postulierenden Philosophen, das ganze Gerüste euerer praktischen Lehre ist Nihilismus; eine Luftblase in Luft angesetzt und in Luft aufgelöst; eine unmögliche Hypothese; ein undenkbares, chimärisches, lediglich subjectives Objekt; ein Gift, das den Unverständigen berauscht, den Verständigen zum Hasser der Wahrheit macht; das unheilbar wirkt, weil es unter dem Scheine der Arzney gegeben wird; das dem Menschen in das Tiefste und Beste seiner geistigen Natur Tod und Verwesung bringt; das ihn ausdörrt zu einer kalten Mumie ohne Luft und Leben!37

Wie auch im Brief an Fichte gebraucht Jacobi den Begriff des Nihilismus nicht programmatisch, sondern eher emotional-polemisch. Der hier zitierte Gedanke wiederholt nur bereits Gesagtes, aber Jacobi setzt an dieser Stelle einen anderen Akzent: Da die kritische Philosophie eine Vorstellung von einem lebendigen und transzendenten Gott oder von einer „geforderten, aber niemals gerechtfertigten Wahrheit“ ausschließt, so ist sie fähig, „zerstörende Kräfte“ frei zu setzen, um „alle Truggebäude niederzureißen.“ Die Prophezeiungen Jacobis, dass die neue Philosophie unter der Maske einer „Arzney“ „in das Tiefste und Beste“ der „geistigen Natur“ des Menschen „Tod und Verwesung“ bringe, haben sich im Laufe der Zeit nicht als ganz falsch erwiesen. Es sei an dieser Stelle nur die berühmte Krise Heinrich von Kleists durch die Kantsche Philosophie in Erinnerung gerufen: Die Kant-Lektüre in jungen Jahren wirkte derartig erschütternd auf Kleist, dass der Dichter seinen inneren Glauben an die absolute und ewige Wahrheit verlor,38 sich rastlos 37 38

Jacobi: Ueber das Unternehmen des Kritizismus. S.183f. Eine bessere Veranschaulichung dessen, was Jacobi in der kantischen Philosophie als eine Gefahr des Nihilismus bezeichnete, kann es nicht geben als folgende Stelle aus Kleists Brief an seine Verlobte Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801: „Vor kurzem ward ich mit der neueren sogenannten Kantischen Philosophie bekannt – und Dir muß ich jetzt daraus einen Gedanken mitteilen, indem ich nicht fürchten darf, daß er Dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird, als mich. […] Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt,

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und zerrissen auf Reisen begab und letztlich in Berlin Selbstmord beging.

1.3

Egoismus als Nihilismus bei Fichte

Der berühmte Brief Jacobi an Fichte datiert auf den 21. März 1799 und gilt als die Geburtsschrift des Nihilismusbegriffs.39 Diese Schrift ist in der Zeit zwischen Jacobis Auseinandersetzung mit Spinoza (1785) und Kant (1801) entstanden. Die Grundsätze seiner Opposition zum Geist der neuen Epoche, welche er in der Polemik um Spinoza erstmals grob für sich formulierte, gewannen nun an Präzision und trugen für ihn einen klaren Namen: Idealismus. Dieser Brief sorgte für nicht weniger gesellschaftliche Aufregung als Jacobis Briefe über Spinoza, vielleicht haben wir es diesem Umstand zu verdanken, dass der Nihilismusbegriff im Zusammenhang mit der Wissenschaftslehre Fichtes in die Forschung einging. Jacobi selbst benutzte diesen Begriff jedoch eher polemisch als programmatisch, wie noch zu zeigen sein wird. Die freiere Form des Briefes ermöglichte es Jacobi in seiner Auseinandersetzung mit der Philosophie Fichtes eine weniger wissenschaftlich argumentative, sondern eher emotional-persönliche Haltung zu dem Problem einzunehmen. Durch diese Form machte sich Jacobi einerseits weniger angreifbar, andererseits eröffnete er dem

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wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob sie uns nur so scheint. Ist das letzte, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln (auf der Erde – A.P.), nach dem Tode nicht mehr – und alles Bestreben, ein Eigentum sich zu erwerben, das uns auch in das Grab folgt, ist vergeblich. […] Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.“ Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Bd.2. Hg. von Helmut Sembdner. München 1977, S.632. Zur so genannten Kant-Krise vgl. Hoffmeister, J.: Beitrag zur sogenannten Kantkrise H.v. Kleists. In: Deutsche Vierteljahrszeitschrift für Literatur und Geistesgeschichte. XXXIII. 1959, S.574ff; Meyer, E.: Nihilismus und Selbstmord. In: Kritik des Nihilismus. A.a.O., S.272-282. Vgl. Arendt, D.: Der Nihilismus-Ursprung und Geschichte im Spiegel der Forschungsliteratur seit 1945. A.a.O., S.556ff.; Müller-Lauter, W.: Nihilismus als Konsequenz des Idealismus. A.a.O., vielerorts; Gloege, G.: Nihilismus? A.a.O., vielerorts; Süß, Th.: Der Nihilismus bei Fr.H. Jacobi. A.a.O., vielerorts.

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Leser die Hintergründe und persönlichen Motivationen seiner kritischen Sicht auf den deutschen Idealismus. Er trat sozusagen aus der akademischen Diskussion heraus und wollte mit Fichte ein privates, außerhalb des philosophisch-akademischen Diskurses liegendes Gespräch führen, in dem die persönlich-weltanschauliche Seite der beiden Philosophen dominieren sollte. Diese Entscheidung prägt den Stil, die Form und den gesamten Charakter der Schrift. Am Ende des Briefes erklärte Jacobi: Ich bin wenigstens der Meinung, mich eher entschuldigen zu müssen, daß ich, aus Ermüdung, hier schon ein Ende mache, nachdem ich Ihnen meine Unwissenheitslehre, unvollständig und rhapsodisch, mehr nur erzählt, als philosophisch dargelegt habe.40

Worin besteht nun die Absicht dieses Schreibens? Im vorigen Kapitel haben wir die unterschiedlichen Erwartungen und Forderungen an die Philosophie aus der Sicht von Jacobi und Kant gegenübergestellt. Wenn aber Jacobi gegen Kant mehr philosophisch argumentierte, so suchte er hier eine weniger abstrakte, sondern eher persönlich-weltanschauliche Ebene des Gesprächs. So können wir in dieser früheren Auseinandersetzung Jacobis mit dem deutschen Idealismus die bewusste Zuspitzung des Antagonismus der Positionen Jacobis und der transzendental-kritischen Philosophie verfolgen. Auf der einen Seite dieser Zuspitzung wird die Wissenschaftslehre und damit die Problematik des gesamten deutschen Idealismus artikuliert. Die Position Jacobis basiert dagegen auf der christlichmetaphysischen Tradition, Jacobi selbst bezeichnete sie, wie aus dem Zitat folgt, als seine Unwissenheitslehre. Wir haben es also mit der Konfrontation zweier Lehren zu tun, welche sich mit dem Wissen oder dem Nicht-Wissen beschäftigen. Hinter diesen Lehren aber lassen sich zwei weltanschauliche Systeme erkennen, die beide den Anspruch auf Wahrhaftigkeit behaupteten. Jacobi versuchte in seinem Brief zwei Aspekte dieser Lehren zu vergleichen und einander gegenüber zu stellen, den erkenntnistheoretischen Aspekt und das Problem des Wahren. Dabei beabsichtigte er natürlich die Gefahren des Idealismus aufzudecken. Wir wollen nun die Argumentation Jacobis kurz zusammenfassen. 40

Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte. In: Werke. Bd.3. Hg. von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Darmstadt 1980, S.54f.

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Laut Jacobi verfolgt Fichtes Wissenschaftslehre einen grundlegenden Anspruch: Sie will durch das auf sich selbst zentrierte und aus sich selbst erkennende Ich eine Wissenschaft aufbauen, die das Wahre in sich selbst einschließt, bewahrt und trägt. Den Erkenntnisprozess der Lehre Fichtes, der dieses Wissen sichern soll, verstand Jacobi als eine begreifende Handlung der Vernunft, welche Dinge zunächst in Gedanken auflöst und vernichtet, um sie dann aus der eigenen Kraft wieder in Begriffen zu konstruieren: Wenn daher ein Wesen ein von uns v o l l s t ä n d i g begriffener Gegenstand werden soll, so müssen wir es o b j e c t i v – als für sich bestehend – in Gedanken aufheben, vernichten, um es durchaus s u b j e c t i v , unser eigenes Geschöpf – e i n b l o s e s S c h e m a – werden zu lassen.41

Nicht zufällig nannte Jacobi nämlich den Kant der kritischen Erkenntnistheorie als „Vorläufer“42 der Wissenschaftslehre Fichtes und „ihr (Fichtes – A.P.) königsberger Täufer“,43 denn für Jacobi entwickelte Fichte denjenigen Aspekt der Kantschen Lehre weiter, welchen er für den problematischsten hielt: die Erkennbarkeit der äußeren Welt. In Jacobis Interpretation Fichtes verwandelt das erkennende Ich die objektive Welt in subjektive Schemata, welche wiederum nichts anderes als ein Produkt der Einbildungskraft des Ichs sind. So vollzieht sich die Auflösung, die Vernichtung der objektiven Welt im Ich: Es darf nichts in ihm (im Wesen eines begriffenen Gegenstandes – A.P.) bleiben und einen wesentlichen Theil seines Begriffs ausmachen, was nicht unsere Handlung, j e t z t eine blose Darstellung unserer productiven Einbildungskraft wäre.44

Hier können wir direkt an Jacobis Kritik der Kantschen Erkenntnislehre anschließen, welche wir oben dargestellt haben. Denn als Resultat dieses Erkenntnisvorganges machte Jacobi in beiden Fällen den Subjektivismus oder den Egoismus aus.45 Wie bei Kant kennt 41 42 43 44 45

Jacobi: Jacobi an Fichte. S.21. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.13. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.13. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.21. Höchstwahrscheinlich war Jacobi nicht der erste, der Fichte des Egoismus beschuldigte. Schon zwei Jahre vor Jacobis Brief erschien J. Neebs Vernunft gegen Vernunft oder Rechtfertigung des Glaubens, wo die Rede

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das Ich Fichtes laut Jacobi nur sich selbst, erkennt sich selbst und nimmt die objektive Welt nur als das Produkt der eigenen Einbildungskraft wahr. Die objektive Welt ist somit bei Kant wie Fichte Erdichtung und Imagination des Ichs. Jacobi zog aus beiden Schriften eine sehr ähnliche Schlussfolgerung: Vernichtend lernte ich erschaffen. Dadurch nehmlich, daß ich auflösend, zergliedernd, zum N i c h t s - A u ß e r - I c h gelangte, zeigte sich mir, daß Alles Nichts war, außer meiner, nur auf eine gewisse Weise eingeschränkten, freyen Einbildungskraft. Aus dieser Einbildungskraft kann ich dann auch wieder hervorgehen lassen, alleinthätig, alle Wesen, wie sie waren, ehe ich sie, a l s f ü r s i c h b e s t e h e n d , f ü r N i c h t s erkannte.46

So stellte sich für Jacobi die ganze philosophische Erkenntnis des Idealismus als nichts anderes als ein leeres Schema der auf dem Nichts basierenden Einbildungskraft dar. Der Erkenntnisprozess kann dann als die Willkür des in sich eingeschlossenen Ichs verstanden werden. Logischerweise kann die Wissenschaft, die als Gegenstand und als Erkenntnisquelle das Subjekt hat, nichts anderes als dieses Subjekt erkennen: Eine Wissenschaft, die sich selbst, als Wissenschaft allein zum Gegenstande, und außer diesem keinen Inhalt hat, ist eine Wissenschaft an sich. Das I c h ist eine Wissenschaft an sich, und die Einzige: Sich Selbst weiß es (das Ich – A.P.), und es widerspricht seinem Begriffe, daß es außer sich selbst etwas wisse oder vernehme […].47

Es wird hier das allgemeine transzendentale Prinzip der neuen Philosophie angegriffen: Die Philosophie oder Wissenschaft, die nicht aus dem Begreifen der objektiven Gegenstände, sondern nur aus einer Methode des Begreifens entsteht, kann tatsächlich als eine Wissenschaft an sich verstanden werden. An diesem Punkt schloss sich der Kreis für Jacobi und er führte eine andere Kategorie in seine Überlegungen ein: die Kategorie des Wahren. Das von Fichte entworfene Lehrgebäude berücksichtigte das objektiv gegebene, außer

46 47

vom „transzendentale[n] oder immanente[n] Egoismus“ war. Vgl. Müller-Lauter, W.: Nihilismus als Konsequenz des Idealismus. A.a.O., S.144ff. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.23. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.19.

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dem Subjekt liegende Wahre nicht mehr, vielmehr wurde das Wahre innerhalb des vorgeschlagenen Systems verortet. Die Wissenschaftslehre ist also das Wahre selbst, woraus folgt, dass die einzige Wahrheit dieser Lehre das Subjekt ist. Jacobi nannte das Werk Fichtes folgerichtig „die Wissenschaft des Wahren, oder richtiger, die wahre Wissenschaft“.48

1.4

Nihilismus als ein Konflikt des Wahren

Indem Jacobi der „Wissenschaft des Wahren“ seine „Philosophie des Nicht-Wissens“49 gegenüberstellte, führte er eine neue Ebene der Diskussion ein, für welche er die freie Form des „rhapsodischen“ Briefes benutzte. Er wollte die Frage diskutieren, was eigentlich für das Wahre gehalten werden darf und ob die Wissenschaftslehre Fichtes – und im weiteren Sinne die neue Epoche der transzendentalen Philosophie überhaupt – einen Anspruch haben könnte, dieses Wahre zu besitzen. Das absolut Neue war dabei, dass Jacobi wahrscheinlich der erste Philosoph war, der hinter dem Idealismus mehr als nur eine philosophische Lehre erblickte, sondern die kritische Philosophie als Ansatz zu einer neuen Weltanschauung behandelte. In dem Brief versuchte er, diesen Ansätzen die tradierte Auffassung des Wahren gegenüberzustellen. Nach einer Erläuterung der Position seines Gegners spitze Jacobi den eigentlichen Streitpunkt zu: Beyde wollen wir also, mit ähnlichem Ernst und Eifer, daß die Wissenschaft des Wissens […] vollkommen werde: nur mit dem Unterschiede: daß Sie es wollen, damit sich der Grund der Wahrheit, als in der Wissenschaft des Wissens liegend zeige; ich, damit offenbar werde, dieser Grund: das Wahre selbst, sey nothwendig außer ihr vorhanden. Meine Absicht ist aber der Ihrigen auf keine Art im Wege, so wie Ihre nicht der meinen, weil ich zwischen Wahrheit und dem Wahren unterscheide.50

Für die nachstehende Diskussion setzte Jacobi zunächst eine gemeinsame Grundlage voraus: Beide wollen „mit ähnlichen Ernst und Eifer“ ein vollkommenes System des Wissen erschaffen. Das Problem lag nun laut Jacobi nicht in dem, was sie wollten, sondern in der Frage, auf welchem Wege und auf welchen Grundlagen sie 48 49 50

Jacobi: Jacobi an Fichte. S.42. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.42. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.17.

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dieses Ziel zu erreichen beabsichtigten. Er räumte sogar ein, dass die eine Argumentationsstrategie der anderen „auf keine Art im Wege“ stehe. Fichtes Vorhaben verstand er als einen Wunsch zu zeigen, dass der „Grund der Wahrheit“ in der „Wissenschaft des Wissens“ liege. Jacobi dagegen wollte zeigen, dass „das Wahre selbst“ notwendig „außer ihr (der Wissenschaft – A.P.) vorhanden“ sein müsse. Jacobi unterstützte seine These mit der allgemeinen Aufgabe jeder Wissenschaft als solche, als Mittel zum Ziel zu dienen: Alle Wissenschaften sind zuerst als Mittel zu anderen Zwecken entstanden, und Philosophie im eigentlichen Verstande, M e t a p h y s i k , ist davon nicht ausgenommen. Alle Philosophen giengen darauf aus, h i n t e r die Gestalt der Sache, das ist zur Sache selbst; h i n t e r die Wahrheit, das ist zum W a h r e n , zu kommen.51

So sah er den Versuch der Wissenschaftslehre Fichtes zum Scheitern verurteilt, denn der Mensch könne nicht im Stande sein, das absolute und das wahre Wissen zu besitzen, und zwar aus dem einfachen Grunde, dass das Wahre an sich nicht das beschränkte menschliche Wissen sein könne: „Sie (Fichte – A.P.) wollten das Wahre wissen – unwissend, daß, wenn das Wahre menschlich gewußt werden könnte, es aufhören müßte das Wahre zu seyn“.52 Dagegen formulierte Jacobi seine These, dass das Wahre das sein sollte, wonach die erkennende Vernunft und die Wissenschaft als ein System des Wissens strebt und erst durch dieses Streben eigenen Wert erlangt: Ich verstehe unter dem Wahren etwas, was v o r und a u ß e r dem Wissen ist; was dem Wissen, und dem V e r m ö g e n des Wissens, d e r V e r n u n f t , erst einen Werth giebt. Vernehmen setzt ein Vernehmendes; Vernunft das W a h r e zum voraus: sie ist das Vermögen der Voraussetzung des Wahren. Eine das Wahre nicht voraussetzende Vernunft ist ein Unding. Mit seiner Vernunft ist dem Menschen nicht das Vermögen e i n e r W i s s e n s c h a f t des Wahren; sondern nur das Gefühl und Bewusstseyn seiner U n w i s s e n h e i t desselben: A h n d u n g des Wahren, gegeben.53

51 52 53

Jacobi: Jacobi an Fichte. S.30. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.30. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.32.

42

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Der Mensch kann laut Jacobi das Wahre nicht wissen, sondern in seiner Unwissenheit allein eine „Ahndung“ des Wahren erlangen. Die Gewissheit, dass das Wahre tatsächlich außer dem menschlichen Subjekt eine objektive Wirklichkeit besitzt, könne der Mensch aus dem Wesen seiner Vernunft schöpfen: Eine Vernunft, welche nichts außer sich zu erkennen hat, soll laut Jacobi ein „Unding“ heißen. Letztlich gibt er dem Wahren seiner Philosophie einen Namen: transzendenter Gott: So gewiß ich Vernunft besitze, so gewiß besitze ich mit dieser meiner menschlichen Vernunft n i c h t die Vollkommenheit des Lebens, n i c h t die Fülle des Guten und des Wahren; und so gewiß ich dieses mit ihr n i c h t besitze, u n d e s w e i ß ; so gewiß w e i ß ich, es ist ein h ö h e r e s Wesen, und ich habe in ihm meinen Ursprung. Darum ist denn auch meine und meiner Vernunft Losung nicht: I c h ; sondern, M e h r als Ich! B e s s e r als ich! – ein ganz A n d e r e r . Ich bin nicht, und ich m a g nicht seyn, wenn E r nicht ist! – Ich selbst, wahrlich! kann mein höchstes Wesen mir nicht seyn… So lehret mich meine Vernunft instinktmäßig: G o t t .54

An dieser Stelle formulierte Jacobi seine philosophische Position: Die Vernunft lehre den Menschen, dass es ein „höheres“ und gleichzeitig ein ganz anderes Wesen geben müsse. Wie stehen nun die zwei in sich geschlossenen philosophischen Systeme Fichtes und Jacobis zu einander? Obwohl Jacobi am Anfang seines Briefes einräumte, dass sie beide das gleiche Ziel vor Augen hätten, nämlich eine Wissenschaft des Wahren zu entwerfen, erklärt er nun beide Systeme als inkommensurabel: Eine solche Wahl aber hat der Mensch; diese Einzige: das N i c h t s oder einen G o t t . Das Nichts erwählend macht er s i c h zu Gott; das heißt: er macht zu Gott ein G e s p e n s t ; denn es ist unmöglich, wenn kein Gott ist, daß nicht der Mensch und alles was ihn umgiebt blos G e s p e n s t sey. Ich wiederhole: Gott ist, und ist a u ß e r mir, ein l e b e n d i g e s , f ü r s i c h b e s t e h e n d e s W e s e n , oder I c h bin Gott. Es giebt kein drittes.55

Für dieses Dilemma kann keine präzisere Formulierung gefunden werden: Entweder ist Gott nur leerer Raum, ein „Nichts“ oder 54 55

Jacobi: Jacobi an Fichte. S.35f. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.49.

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43

ein „Gespenst“, was absoluten Subjektivismus bedeuten würde, oder aber es besteht ein „lebendiges, für sich bestehendes Wesen“ „außer mir“. Wir haben nun die zwei gegenübergestellten Positionen vollständig entfaltet. Fichte entwickelte ein Erkenntnissystem, das den Grund des Wahren in sich selbst, das heißt in das erkennende Ich, setzte. Die wahre Erkenntnis liege nicht objektiv außerhalb dem Ich, sondern vielmehr in dem, was das Ich aus seinen subjektiven Gründen für das Wahre halte. Jacobi gründete das ganze Wesen der menschlichen Existenz auf das Wahre „außer sich“. Die menschliche Erkenntnis sei in diesem Fall insofern wahr, wie sie nach dem Wahren strebe und sich dem Wahren annähere, wobei das Subjekt aber immer letztlich unwissend bleiben müsse. Da es für Jacobi „kein drittes“ zwischen diesen Polen gibt, trifft er seine Wahl und kommt erst in diesem Zusammenhang auf den Nihilismus56 zu sprechen: Da es, sage ich, so mit mir und der W i s s e n s c h a f t des Wahren; oder richtiger, der w a h r e n Wissenschaft beschaffen ist; so sehe ich nicht ein, warum ich nicht, wäre es auch nur in fugam vacui, meine Philosophie des Nicht-Wissens, dem philosophischen W i s s e n d e s N i c h t s , sollte aus Geschmack vorziehen dürfen. Ich habe ja nichts wider mich als das Nichts; und mit ihm können auch C h i m ä r e n sich wohl noch messen. Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll mich nicht verdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, C h i m ä r i s m u s 57 nennen wollen, was ich dem Idealismus, den ich N i h i l i s m u s schelte, entgegensetze.58

56

57

58

Höchstwahrscheinlich hat Jacobi das Wort ‚Nihilismus’ selbst nicht erfunden, wobei es schwer fest zu stellen ist, von wem er ihn übernommen hat. Jacobi war aber der erste, der von ihm einen philosophischen Gebrauch machte. Vgl. Müller-Lauter: Nihilismus als Konsequenz des Idealismus. A.a.O., S.113ff; Baum, G.: Vernunft und Erekenntnis. Die Philosophie F.H. Jacobis. Bonn 1969. Hier unter dem „Chimäristmus“ meinte Jacobi seine Philosophie eines Metaphysikers. Unter den Worten „wenn Sie, oder wer es sey“ meinte er vermutlich Kant mit seiner Schrift Träume eines Geistersehers (1766), welche gegen die umfassende metaphysische Abhandlung Emanuel Swedenborgs verfasst wurde und mit den Worten begann: „Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten.“ Kant: Träume eines Geistersehers. In: Werke in sechs Bänden. Bd.1. A.a.O., S.923. Sonst ergeben Jacobis Worte keinen Sinn. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.44.

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Es erscheint vielleicht etwas merkwürdig, wie Jacobi seine These formulierte. Er bot zwei Wissenschaftslehren zur Wahl: „meine Philosophie des Nicht-Wissens“ und das „philosophische Wissen des Nichts“. „Aus Geschmack“ zog er eine Philosophie vor und nun entschuldigte er sich beinahe bei Fichte für seine Wahl und hofft, dass ihn diese nicht „verdrießt“. Für denjenigen nämlich, der sich für die „Philosophie des Nicht-Wissens“, das heißt für die Annahme eines transzendenten Gottes entschieden hat, muss der Idealismus als Nihilismus und als System des absoluten Subjektivismus erscheinen, welches die Welt „außer sich“ zum Nichts degradiert.59 Wenn aber, wie Jacobi selbst einräumt, Fichte als Wissenschaftslehrer „von dem, was ich (Jacobi – A.P.) mit dem Wahren meine, keine Notiz60“ nehmen darf, dann bleibt der Vorwurf des Nihilismus der Wissenschaftslehre irrelevant. Der Nihilismus-Vorwurf kann Fichte nur aus einer anderen, ihm entgegensetzten Position gemacht werden, aber nicht aus den Zielen und Vorhaben der Fichtischen Philosophie als solcher. Es liegt auf der Hand, dass Jacobi mit seinem universellen Denken unter dem Idealismus in diesem Kontext nicht nur die Wissenschaftslehre verstand, sondern auch den Kantschen Kritizismus oder die Naturphilosophie Schellings. Der Geist der neuen Epoche war ein Gegner, welcher für ihn in mehreren Gestalten erschien. Der Kern dieser neuen Epoche aber war für ihn das neue Konzept des Wahren, das seiner eigenen christlich-dogmatischen Perspektive diametral entgegenstand. Es lässt sich schließen, dass der Nihilismusbegriff an der Grenze zweier philosophischer Systeme entstand, welche auf der unterschiedlichen Auffassung des Wahren gegründet sind und einander ausschließen. Dass ein Dialog zwischen beiden Lehren nicht stattfinden konnte, war Jacobi schon damals bewusst: „Es giebt kein drittes“ schrieb er an Fichte, und, wie wir

59

60

Dieter Arendt kommentierte diese Stelle: „Das Wort ist gefallen, und zugleich damit ist der Begriff eindeutig bestimmt: Nihilismus – das Wort meint die Aktion eines subjektiven Denkens, das mit den kategorialen Gesetzen nicht nur die Möglichkeit eines objektiven Denkens zu sichern, sondern zugleich damit das Objekt selbst vorzufinden glaubt; das Wort desillusioniert ein hybrides Denken und weist darauf hin, daß alle Denkinhalte, losgelöst von der vorgegebenen Wirklichkeit, nichts sind als eben Nichts.“ In: Arendt, D.: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. Bd.1. Tübingen 1972, S.40. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.17.

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schon gesehen haben, musste er sich zwischen den Systemen entscheiden: Ich kann mich dergestalt auf Fichtes Standpunkt versetzen, und mich darauf intellectuell i s o l i e r e n , daß ich mich fast schäme anderer Meinung zu seyn, und kaum meine Einwürfe wider sein System vor mir selbst aussprechen mag.61

Dass sich Jacobi tatsächlich in Fichtes Standpunkt zu versetzen wusste, beweist uns seine Zeit in Genf. Seinen eigenen Standpunkt aber vertritt er vehement: Ich kann aber auch auf meinem entgegensetzten Standpunkt eine solche Schwerkraft, Festigkeit und Haltung fühlen, daß ich mich an ihm ärgere, und, fast zornig über sein künstliches V o n S i n n e n - k o m m e n […] ihm aus Ungeduld […] herzhaft an den Hals werfe.62

Woher rührte diese Sensibilität im Umgang mit seinem Gegner? Ein möglicher Grund könnte vielleicht in der Erfahrung liegen, welche Jacobi aus dem Pantheismusstreit ziehen musste; er vermied nun all zu laute Beschuldigungen auszusprechen. Viel wahrscheinlicher aber ist die Antwort auf seine außerordentliche philosophische Intuition zurückzuführen: Obwohl er sich selbst als entschlossenen Gegner des Idealismus verstand, obwohl er die neue Philosophie den „Nihilismus schelte“, war er weit davon entfernt, diese Philosophie für atheistisch und gottlos zu erklären. Das macht schon der einleitende Satz des Briefes deutlich: „mit ähnlichem Ernst und Eifer“63 wollen beide das Wahre ergründen, nehmen aber dafür unterschiedliche Wege.64 So sah sich Jacobi nicht im Recht, Fichte per61 62 63 64

Jacobi: Jacobi an Fichte. S.18. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.19. Jacobi. Jacobi an Fichte. S.17. Bemerkenswert ist die Reaktion Fichtes auf den Brief Jacobis. Der offensichtlich erste Entwurf einer Antwort Fichtes begann mit den Sätzen: „Ich weiß kaum, wo, und wie wir Gegner sind. – Über die Wissenschaft sind wir einig. Auch über das Leben.“ J.G. Fichte: Briefwechsel. Bd. 2. Hg. von H. Schulz. 1930. S.92. Jean Paul berichtete in einem Brief vom 15. Mai 1799 an Jacobi über die Wirkung von dessen ‚Sendschreiben’ auf Fichte: „Deinen Brief hat er entzückt, eh ich ihn hatte, der Fr. v. Kalb, meiner Freundin, vorgelesen, d.h. den lobenden Theil und die treffliche Strumpf-Allegorie und sagte, er wäre dir näher als Du meintest.“ JeanPaul: Sämtliche Werke. Briefe 1797-1800, III 3. 1959. 197f. Zitiert nach:

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sönlich oder der Transzendentalphilosophie als solcher Atheismus und Gottlosigkeit vorzuwerfen: Die Hand, die Sie (Fichte – A.P.) zutrauungsvoll fassen, antwortet Ihnen mit freundschaftlichem Druck. Und so würde es seyn wenn ich auch Ihre Lehre, gleich der Lehre des Spinoza, Atheismus nennen müßte; ich würde Sie p e r s ö n l i c h darum noch für keinen Atheisten, für keinen G o t t l o s e n halten.65

Die Lehre selbst also konnte Jacobi für nihilistisch erklären, aber nicht die Intention, welche sich hinter dieser Philosophie verbarg: Wer sich mit dem Geiste über die Natur, mit dem Herzen über jede erniedrigende Begierde w i r k l i c h zu erheben weiß, der siehet Gott von Angesicht, und es ist zu wenig von ihm gesagt, daß er nur an ihn glaube. […] so wäre seine Sünde doch nur ein G e d a n k e n d i n g , eine Ungeschichtlichkeit des K ü n s t l e r s , i n B e g r i f f e n u n d W o r t e n ; ein Vergehen d e s G r ü b l e r s , nicht des M e n s c h e n . Nicht d a s W e s e n Gottes, sondern nur ein N a m e würde von ihm geläugnet.66

Es sind erstaunliche Worte: Jacobi versuchte, die Philosophen der neuen Zeit angesichts seiner dogmatischen Position zu entschuldigen und zu rechtfertigen. Er sah im Wesen der neuen Philosophie das ewige Verlangen des Menschen, nach Gott zu suchen. Aus diesem Grund wollte er nur die Philosophien und Gedankenkonstruktionen einander entgegen setzen, nicht aber die Prämissen, aus welchen sie entstanden waren: Nicht „das Wesen“, sondern nur „ein Name“ wurde von der neuen Philosophie „geläugnet“. Jacobi ging sogar noch weiter: Man hat seine Philosophie (Wissenschaftslehre Fichtes – A.P.) des Atheismus beschuldigt, mit Unrecht, weil Transzendentalphilosophie, als solche, so wenig a t h e i s t i s c h sein kann, als es Geometrie u. Arithmetik seyn können. Nur kann sie, aus demselben Grunde, auch schlechterdings nicht t h e i s t i s c h seyn. […] Daß sie von Gott nichts wisse, gereichte der Transzendentalphilosophie zu keinem Vorwurf, da es allgemein anerkannt ist: Gott kön-

65 66

Müller-Lauter, W.: Nihilismus als Konsequenz des Idealismus. A.a.O., S.140. Jacobi. Jacobi an Fichte. S.45. Jacobi: Jacobi an Fichte. S.46.

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ne nicht g e w u s s t , sondern g e g l a u b t werden. Ein Gott, der g e w u s s t werden könnte, wäre kein Gott.67

Die Transzendentalphilosophie war laut Jacobi weder „atheistisch“ noch „theistisch“, sie ruhte allerdings auf einem Verständnis des Wahren, welches außerhalb des christlich festgelegten Rahmens liege. Jacobi wollte vermitteln, dass die Transzendentalphilosophie nur aus dem Blickwinkel der dogmatischen Tradition für eine gottlose und atheistische gehalten werden kann. An sich ist sie weder christlich noch unchristlich, in ihren Intentionen und Vorhaben kann sie jedoch keinesfalls für gottlos gehalten werden. Jacobi selbst konnte sich erst, nachdem er sich zu seiner „Philosophie des NichtWissens“ bekannt hatte, zu dem Nihilismus-Vorwurf an den Idealismus durchringen. Die Vorsicht, mit welcher Jacobi die neue Philosophie einschätzte, ist ein Indiz für uns, dass er das enorme revolutionäre Potential der neuen Lehren mehr intuitiv als kognitiv erkannte. Er versuchte das neue Denken in der kritischen Auseinandersetzung in den metaphysischen Gang der Geschichte einzubetten. Dass Jacobi in seiner Intuition Recht behielt, werden unsere weiteren Überlegungen zum Thema des Nihilismus anschaulich machen. Nach der eingehenden Analyse von Jacobis Kritik an dem deutschen Idealismus lässt sich zunächst einmal feststellen, dass der Nihilismus nur als eine Reaktion zu verstehen und zu fassen ist. In diesem Fall ist er eine Reaktion auf die neue transzendentale Erkenntnistheorie des deutschen Idealismus, wenn diese Theorie aus der Position der christlich-dogmatischen Metaphysik betrachtet wird. Die Transzendentalphilosophie lässt sich aus ihrer inneren Logik heraus nicht als nihilistisch bezeichnen. Aus diesem Grund lässt sich schließen, dass die Erscheinung einer nihilistischen Reaktion68 erst an der Grenze zweier unterschiedlicher philosophischer Systeme, welche beanspruchen, das Wahre begründen zu können, möglich ist. Dieser ausschließende Anspruch macht die Systeme inkommensurabel zu einander und bildet die Grundlage, die Nihi67 68

Jacobi: Jacobi an Fichte. S.6f. Dieter Arend verstand den Nihilismus ebenso als eine Reaktion, als einen „kritischen Spiegel“, der innerhalb der Epoche selbst erarbeitet wurde: „Der Begriff „Nihilismus“ also entsteht als Bezeichnung schärfster Kritik und Selbstkritik im Augenblick des höchsten Selbstbewußtseins der Romantik.“ In: Arend, D.: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. Bd.1. A.a.O. S.7, 42.

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DER NIHILISMUS ALS REAKTION AUF DIE PHILOSOPHISCHE ERKENNTNISPROBLEMATIK DES DEUTSCHEN IDEALISMUS

lismus-Problematik als einen Epochen- und Generationenkonflikt zu verstehen. Nicht zufällig nannte Turgenev seinen Roman Väter und Söhne (Otcy i deti). Der Nihilismus erweist sich dann als keine feste philosophische Definition, sondern als ein mehrseitiger Ideenkomplex. Dieser setzt eine modifizierte Erkenntnistheorie voraus, welche aus der christlich-dogmatischen Sicht einerseits extremen Subjektivismus und andererseits eine Entleerung des Gottesbegriffs und die Erdichtung der objektiven Realität durch das Subjekt bedingt. Da aber die modifizierte Erkenntnistheorie kaum mit dem zu identifizieren ist, was heute unter dem europäischen Nihilismus verstanden wird, werden wir nun einen weiteren philosophischen Baustein der vormodernen Weltanschauung, Die Ethik Spinozas, unter die Lupe nehmen und ihn auf die potentielle Gefahr des Nihilismus hin untersuchen.

DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

Kapitel II Der Nihilismus als literarisch-poetische Reaktion auf die veränderte Gott- und Weltvorstellung innerhalb der deutschen Aufklärung A

1

Die Modifikation der Gott- und Weltvorstellung innerhalb der deutschen Aufklärung Die Grundlagen der nihilistischen Weltanschauung bei Spinoza

Um den weltanschaulichen Wandel, der in Deutschland Ende des 18. Jahrhunderts spürbar und sichtbar geworden ist, besser fassen zu können, verlassen wir das Zeitalter der Spätaufklärung, des Idealismus und der Romantik und wenden uns dem 17. Jahrhundert zu. Wir wollen uns mit einem der grundlegendsten und radikalsten Philosophen der Neuzeit beschäftigen: Baruch de Spinoza. Dabei konzentrieren wir unsere Aufmerksamkeit auf Spinozas Hauptwerk Die Ethik (1677). Diese Wahl ist nicht zufällig: Die Ethik - und insbesondere der erste Teil Von Gott – stieß in Deutschland einerseits auf heftige Kritik, übte aber andererseits einen besonderen Einfluss aus. Kurz nach dem Erscheinen der Ethik distanzierten sich praktisch alle bedeutenden Philosophen der Zeit (Descartes, Leibniz, Malebranche) von Spinoza.1 Fast die gesamte erste Hälfe des 18. Jahrhunderts blieb Spinoza in Deutschland verboten, er ist dem breiteren akademischen Publikum erst durch den kritischen Artikel Écrits sur Spinoza von Pierre Bayle (1647-1706) im Jahre 1744 in deutscher Überset-

1

Der Grund zur Distanzierung ist offensichtlich: Spinoza, der Nachfahr portugiesischer Juden, wurde 1656 wegen „entsetzlicher Irrlehren“ aus der jüdischen Gemeinde Amsterdams ausgestoßen. Nach dem Erscheinen der Ethik wurde er erneut mit einem Anathema belegt. Vgl. Fischer, K.: Spinozas Leben, Werke und Lehre. Heidelberg 1946.

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zung bekannt geworden.2 Bayle hat Spinoza bekanntlich missverstanden, ihm erste Atheismusvorwürfe gemacht und als einen gefährlichen Denker gebrandmarkt.3 Nur auf Grund des Verdachts des Spinozismus wurde der schon berühmte Gelehrte Christian Wolff (1679-1754) am 8. November 1723 aus der Universität Halle entlassen; seine Schriften zur Metaphysik und Moral galten als atheistisch. Für ihren Druck und Verbreitung wurde sogar lebenslängliche Zwangsarbeit angedroht. Erst im Jahre 1740 konnte Wolff seine Stelle in Halle wieder antreten. Aber noch zur Zeit des Pantheismusstreits (17831785) war es nicht ungefährlich, in der Öffentlichkeit als Spinozist dargestellt zu werden, weil durch derartige Vorwürfe der eigene Ruf für immer ruiniert werden konnte. In privaten Zirkeln war Spinoza zu diesem Zeitpunkt schon längst ein Thema. So sorgte Jacobi dafür, dass weder Goethes Gedicht Prometheus, welches unter dem Einfluss der Spinozistischen Lehre geschrieben wurde, noch Goethe selbst in der Publikation über den Spinozismus Lessings erwähnt wurde, damit der Autor des Gedichts keinen Schaden nehmen konnte. Ernst zu nehmen war auch die Drohung von Karl Gotthelf Lessing, Bruder des verstorbenen Gotthold Ephraim Lessing, die Briefe Jacobis über den Spinozismus (welche er zu dem Zeitpunkt gar nicht besaß!) zu veröffentlichen.4 Auf die eigentlichen Kontroversen des Pantheismusstreits kommen wir unten noch eingehender zu sprechen. In dieser Untersuchung werden wir dem Denken Spinozas große Aufmerksamkeit widmen. Für die Nihilismusforschung ist seine 2

3

4

Vgl. Bell, D.: Spinoza in Germany from 1670 to the Age of Goethe. London 1984. Im Jahre 1692 ist ein Buch von Friedrich Wilhelm Stosch Concordiy rationis et fidei in Berlin erschienen, eines der wenigen authentischen Dokumente der Verbreitung des Spinozismus in Deutschland. Wir erlauben uns nur ein Zitat dazu aus dem Buch von Nicolao Merker: „Von der Negation der angeborenen Ideen bis zu einer utilitaristischen Ethik, die sich auf die Relativität von Gut und Böse stützt, von einer materialistischen Lehre der Seele, die im Sinne Hobbes’ und Gassendis entfaltet wird, bis zur Kritik an der Unsterblichkeitsidee entwickelt Stosch eine Argumentation, die, ausgehend von spinozistischen Grundlagen, tatsächlich die Grundpfeiler der christlichen Dogmatik angreift“. Nicolao Merker: Die Aufklärung in Deutschland. München 1982, S. 221. Vgl. Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits. Würzburg 1988, S.125ff.

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Gott- und Weltlehre von größtmöglicher Bedeutung, denn nach der transzendentalen Wende des Idealismus erwies sie sich als die einzig mögliche Universallehre, welche der neuen kritischen Erkenntnistheorie noch einen weltanschaulichen Rahmen bieten konnte. In gewissem Sinne überholte Spinoza seine eigene Zeit um hundert Jahre, so dass seine auf dem Rationalismus aufgebaute Theologie im Prinzip nun als die einzig mögliche angenommen werden konnte. So zeigte sich der Spinozismus in der Geistesgeschichte Deutschlands als janusköpfig: er konnte als atheistisch verstanden werden oder aber als eine Philosophie der neuen Zeit mit einem rationalen Naturverständnis. Diese Ambivalenz wird noch zu untersuchen sein. In diesem Kapitel wollen wir Spinoza zunächst selbst sprechen lassen, um ein tragfähiges Fundament für dijiojiojioüe Interpretationen und die Kämpfe um seine Lehre zu gewinnen. Dabei werden wir auf einige Grundideen seiner Lehre hinweisen, welche sich mit dem dogmatischen christlichen Glauben als inkommensurabel erweisen.

1.1

Gott und Materie

Der Begriff Gottes wird bei Spinoza in der sechsten Definition des ersten Teils erläutert: „Unter Gott verstehe ich das unbedingt unendliche Wesen, das heißt die Substanz, die aus unendlich vielen Attributen besteht, deren jedes ewige und unendliche Wesenheit ausdrückt.“5 Unter Substanz versteht Spinoza „das, was in sich ist, und durch sich begriffen wird, das heißt das, dessen Begriff, um gebildet werden zu können, den Begriff eines anderen Dinges nicht bedarf.“6 Beide Definitionen sind nicht neu und werden auch dogmatische Theologen kaum überraschen können. Auch die folgenden Lehrsätze scheinen von einem traditionellen Gottesverständnis Spinozas zu zeugen: Lehrsatz 14: Außer Gott kann keine Substanz sein und keine begriffen werden. Lehrsatz 18: Gott ist die inbleibende, aber nicht die übergehende Ursache der Dinge. 5

6

Baruch de Spinoza: Die Ethik nach geometrischer Methode dargestellt. Übrs. Otto Baensch. Hamburg 1989, S.4. Spinoza: Die Ethik. S.3.

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Lehrsatz 20: Gottes Existenz und seine Wesenheit sind ein und das selbe. Lehrsatz 24: Die Wesenheit der von Gott hervorgebrachten Dinge schließt die Existenz nicht ein.7

Mit dem Lehrsatz 15 aber leitet Spinoza eine neue Wendung ein: „Alles, was ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden. [...] Nun gibt es (nach Grundsatz I) nichts als Substanzen und Modi. Folglich kann nichts ohne Gott sein oder begriffen werden.“8 Auch diese Thesen wirken für sich allein genommen wenig provokativ, doch haben sie für Spinoza eine weiterführende Bedeutung, welche sich aus der Anmerkung zu diesem Lehrsatz erschließt. Der eigentliche Kern seiner Überlegung war der behauptete Zusammenhang zwischen Gott und der Materie in ihrer Ausdehnung. Um diese für das spinozistische Denken und die spätere Spinoza-Rezeption entscheidende Frage zu erhellen, geben wir diesbezüglich einige Erläuterungen Spinozas wieder. Zunächst verweist Spinoza auf geläufige Ansichten zu dem Verhältnis von Gott und Materie, so zum Beispiel auf die Frage der Stofflichkeit Gottes: „[...] alle, die über die göttliche Natur ein wenig nachgesonnen haben, verneinen die Körperlichkeit Gottes“.9 Die daraus logisch resultierende Annahme, dass Gott der körperlichen Substanz überhaupt fern sein muss, zieht Spinoza in Zweifel : Inzwischen lassen jedoch andere ihrer Gründe, womit sie das selbe zu beweisen versuchen, deutlich erkennen, daß sie die körperliche oder ausgedehnte Substanz selbst von der göttlichen Natur überhaupt fernhalten, und namentlich behaupten sie, daß die körperliche Substanz erst von Gott geschaffen worden sei. Dabei wissen sie aber ganz und gar nicht, durch welche göttliche Macht sie geschaffen sein könnte; was klar zeigt, daß sie das, was sie selbst sagen, nicht verstehen.10

Spinoza verneint die Möglichkeit, daß die körperliche Substanz eine Schöpfung Gottes sei, sondern schlägt vor, die Materie als immanenten Bestandteil Gottes zu begreifen:

7 8 9 10

Spinoza: Die Ethik. S.15, S.24f. Spinoza: Die Ethik. S.16. Spinoza: Die Ethik. S.16. Spinoza: Die Ethik. S.16f.

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Ich für meinen Teil habe, nach meinem Urteil wenigstens, hinreichend klar bewiesen, daß keine Substanz von einer anderen hervorgebracht oder geschaffen werden kann […]. Ferner haben wir im Lehrsatz 14 gezeigt, daß außer Gott keine Substanz sein und keine begriffen werden kann; und hieraus haben wir dann geschlossen, daß die ausgedehnte Substanz eins der unendlich vielen Attribute Gottes sei.11

Diese These bedeutete eine radikal neue Lösung des Problems: Gott sei weder körperlich noch absoluter Geist, sondern vielmehr die ausgedehnte Substanz selbst, welche zwischen Geist und Materie nicht unterscheidet. Spinoza war also nicht bereit, einen Unterschied zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung zu machen. Genauer betrachtet, ist die Frage nach Schöpfer und Schöpfung aus der Spinozistischen Perspektive irrelevant, denn die körperliche Welt, also die Natur ist keine Schöpfung Gottes, sondern unmittelbar „Attribut Gottes“ und „Ausgedehnte Substanz“, das heißt Gott selbst. Diese neue Gottesanschauung konnte in den folgenden hundert Jahren - als Materialismus diffamiert – nicht akzeptiert werden. Der positive Gehalt dieses Gedankenzugs wurde zunächst übersehen: die radikale Überwindung der christlich-platonischen Tradition, welche die Materie der Idee oder Gott gegenüberstellte. Spinozas Philosophie bedeutete nicht weniger als die Überwindung der tief im christlichen Bewusstsein liegenden Kluft zwischen Gott und der in Sünde gefallenen Welt. Die aus dem Reich des Bösen befreite körperliche Natur war nun zum Reich Gottes und zur unmittelbaren Offenbarung selbst geworden. Für den Menschen sollte diese weltanschauliche Gedankenwendung bisher ungeahnte und unvorstellbare Möglichkeiten eröffnen. Die entgrenzende Potenz des neuen Denkens im Gegensatz zu der traditionellen Gottesvorstellung musste für einige Spätaufklärer und die Generation nach der transzendentalen Wende Kants eine enorme Anziehungskraft ausüben. Es ist sehr wichtig zu betonen, worin Spinoza den grundlegenden Denkfehler der dogmatischen Theologen liegen sah: Erstens meinen sie, daß die körperliche Substanz, sofern sie Substanz ist, aus Teilen bestehe; und deswegen verneinen sie die

11

Spinoza: Die Ethik. S.17.

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Möglichkeit, daß sie unendlich sei, und folglich die Möglichkeit ihrer Zugehörigkeit zu Gott.12

Spinoza fragte nun, ob die körperliche Substanz tatsächlich teilbar sei. Wenn dies der Fall wäre, müsste es zwischen den Teilen einen leeren Raum geben, was bedeutete, dass durch das Teilen ein Nichts entstünde. Wäre dem so, könnten die geteilten, einzelnen Teile gemessen werden, wären also endlich und daher von nichtgöttlicher Natur. Aus diesem Grund schloss Spinoza, dass „die körperliche Substanz, sofern sie Substanz ist, unteilbar ist“.13 Aber der eigentliche Grund für den Irrtum der Dogmatiker lag laut Spinoza nicht an falschen oder richtigen Gedankengängen, sondern an der Methode, welche sie zur Betrachtung der göttlichen Substanz benutzten. Spinoza wollte darlegen, dass es nicht an der göttlichen Substanz als solcher liegt, ob sich Gott von seiner Schöpfung unterscheidet oder nicht, sondern an dem, wie der Mensch diese Substanz wahrnimmt. Wenn der Mensch, wie es die traditionelle Theologie bisher tat, sich seiner Vorstellungskraft bedient, dann erscheint ihm die Substanz als endliche und teilbare. Wenn aber der Mensch versucht, die Substanz in seinem Verstand zu begreifen, dann erscheint sie ihm als eine unteilbare und unendliche: Wenn nun aber jemand fragt, warum wir von Natur so geneigt sind, die Größe zu teilen, so erwidere ich ihm, daß die Größe von uns auf zweierlei Weise begriffen wird, nämlich einerseits abstrakt oder oberflächlich, wenn wir sie vorstellen, andererseits als Substanz, was allein durch den Verstand geschieht. Wenn wir daher die Größe ins Auge fassen, wie sie im Vorstellungsvermögen ist, was häufig geschieht und uns leichter fällt, so wird sie als endlich, teilbar und aus Teilen zusammengesetzt erscheinen; fassen wir sie aber ins Auge, wie sie im Verstande ist, und begreifen wir sie, sofern sie Substanz ist, was sehr schwierig ist, dann erscheint sie, wie wir schon zur Genüge bewiesen haben, als unendlich, einzig und unteilbar. Das wird für jeden, der gelernt hat, zwischen Vorstellungsvermögen und Verstand zu unterscheiden, am Tage liegen: zumal wenn man hierbei noch in Erwägung zieht, daß die Materie überall die gleiche ist, und daß sich Teile in ihr nur insofern unterscheiden lassen, als man die Materie auf

12 13

Spinoza: Die Ethik. S.17. Spinoza: Die Ethik. S.19.

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verschiedene Weise affiziert denkt, woher sich dann ihre Teile nur auf modale, nicht aber auf reale Weise unterscheiden lassen.14

Das Vorstellungsvermögen begreift dementsprechend Gott und die Welt verzerrt und falsch. Der Verstand dagegen ermöglicht die wahre Erkenntnis der Materie. Nach Spinoza müsse die Sicht der Dinge geändert werden: Gott solle nicht aus der Position des Empirismus, sondern der rationalen Erkenntnis betrachtet werden. Spinoza schlug vor, den Schwerpunkt der ganzen Theologie derartig zu verschieben, dass sich ein neuer Zugang zu dem Problem eröffnet. Wo liegt aber nun der sichere Grund für die neue Theologie? Für Spinoza bestand kein Zweifel, dass er in der Ratio liege, welche in der Geometrie oder Mathematik am reinsten zum Ausdruck komme. Dieses Vertrauen auf die Geometrie und die Gesetze der Vernunft, welche eine Erkenntnis von spekulativen Elementen frei setzen sollten, ermöglichte Spinoza, eine neue, modifizierte Weltanschauung zu entwerfen, in der es keine empirische Teilung mehr zwischen Schöpfer und Schöpfung gab: Aber auch ohnedies wüßte ich nicht, warum die Materie der göttlichen Natur unwürdig sein sollte, da es doch (nach Lehrsatz 14) außer Gott keine Substanz geben kann, von der sie leiden könnte.15

Es folgt eine kurze Zusammenfassung des Gesagten: Alles, sage ich, ist in Gott, und alles, was geschieht, geschieht allein durch die Gesetze der unendlichen Natur Gottes, und folgt aus der Notwendigkeit seiner Wesenheit […]; man kann daher in keiner Weise behaupten, daß Gott von anderem leide, oder daß die ausgedehnte Substanz der göttlichen Natur unwürdig sei […].16

Spinozas Gotteslehre ruhte also auf gänzlich anderen Erkenntnisprinzipien als das traditionelle Christentum. Die eigentliche Kontroverse also, ob nun Materie und Gott eins ist, oder ob Gott als ein übernatürliches Wesen zu betrachten ist, lässt sich also nach Spinoza auf folgende Fragestellung zurückführen: Gewährleistet der Rationalismus eine sichere Gotteserkenntnis? Wenn ja, dann gab 14 15 16

Spinoza: Die Ethik. S.19f. Spinoza: Die Ethik. S.20. Spinoza: Die Ethik. S.20.

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es Spinoza zufolge keinen Grund, zwischen Gott und der Ausdehnung zu unterscheiden. Wenn nicht, dann musste Spinozas Lehre notwendig als eine materialistische gedeutet werden. Auf jeden Fall scheint es schwierig zu sein, dieses System als atheistisch zu bezeichnen, denn die Existenz Gottes wurde von Spinoza an keiner Stelle geleugnet. Seine Lehre war jedoch nicht christlich-dogmatisch, jedenfalls konnte sie einer strengen Auslegung des Christentums nicht mehr Stand halten.

1.2

Die Notwendigkeit und Freiheit der göttlichen Natur

Wenn Spinoza einen anderen Ausgangspunkt für die Gotteslehre etablierte als die traditionelle Theologie, so ist auch zu erwarten, dass sich sein Gottesbild von dem christlichen unterscheiden musste. Spinoza war dazu gezwungen, entweder neue theologische Begriffe einzuführen oder die Inhalte einiger traditioneller Termini neu zu formulieren. So führte Spinoza den Begriff der Notwendigkeit der göttlichen Natur, welcher mit dem Begriff der Freiheit der göttlichen Natur im engen Zusammenhang steht, neu ein. Der Begriff der Notwendigkeit war der besondere Angriffspunkt seiner Gegner. Spinoza ging davon aus, dass Gott vollkommen ist, was bedeuten musste, dass Gott die Dinge so hervorbrachte, wie sie am Besten hervorzubringen waren. Gott ist laut Spinoza „allein eine freie Ursache“17 seiner Handlungen, aber in der Auffassung, wie Gott handelt, war Spinoza radikal: „Lehrsatz 17. Gott handelt allein nach den Gesetzen seiner Natur und von niemandem gezwungen.“18 Laut Spinoza handelt Gott nicht so, wie er will, sondern so, wie es ihm die Gesetze seiner eigenen Natur vorschreiben, das heißt notwendig so und nicht anders: „Die Dinge konnten auf keine andere Weise und in keiner anderen Ordnung von Gott hervorgebracht werden, da sie hervorgebracht sind.“19 Die Notwendigkeit des göttlichen Handeln bedeutete also für Spinoza, dass jede Idee eines einzelnen Dinges das ewige und unendliche Wesen Gottes notwendig in sich schloss. Anders formuliert: Spinoza hätte die Einheit von Gott und Natur als Eins nicht postulieren können, wenn er nicht die 17 18 19

Spinoza: Die Ethik. S.22. Spinoza: Die Ethik. S.21. Spinoza: Die Ethik. S.34.

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Notwendigkeit des göttlichen Handeln in jedem Ding der Natur angenommen hätte. Wenn Gott und Natur nach verschiedenen Gesetzen existieren würden, müsste zwischen ihnen ein klarer Unterschied gemacht werden, was nicht im Sinne Spinozas war. Für Spinoza war es „ungereimt“ anzunehmen, dass Gott etwas anderes bewirken könnte als das, was nicht im Einklang mit den Gesetzen der Geometrie hervorgebrachter Natur zu beobachten wäre: Indessen dies wäre gerade so, als wollten sie sagen, Gott könne bewirken, daß aus der Natur des Dreiecks nicht folge, daß seine drei Winkel gleich zwei rechten seien, oder daß aus einer gegebenen Ursache keine Wirkung folge, was ungereimt ist.20

Gott kann also nicht bewirken, dass das Gesetz von Ursache und Wirkung gebrochen wird, weil dies im Gegensatz zu seiner eigenen göttlichen Natur stehen würde. So wie Gott ewig ist, so sind auch die Gesetze ewig, welche wir in der uns umgebenden Natur beobachten können, weil die uns umgebende Natur Gott selbst ist. So musste Spinoza aus diesem Zusammenhang folgenden Schluss ziehen: Obwohl Gott eine freie Ursache der Welt ist, existiert er aber „kraft der bloßen Notwendigkeit seiner Natur“,21 was wiederum bedeuten musste, dass Gott nicht die Freiheit des Willens besitzen kann. Dies lehrte Spinoza ausdrücklich: Lehrsatz 32: Der Wille kann nicht eine freie Ursache genannt werden sondern nur eine notwendige. […] Folgesatz 1: Hieraus folgt erstens, daß Gott nicht aus Freiheit des Willens handelt.22

Diese These stand in offenem Widerspruch zu dem tradierten christlichen Gottesbild und rief Entsetzen unter den Lesern hervor, bedeutete doch der Gedanke, dass Gott nicht in der Lage sei, in den Lauf der Dinge einzugreifen, logischerweise einen strikten Determinismus oder Fatalismus. Damit müssten auch die Ideen der göttlichen Gnade, der Vergebung, selbst der Erlösung durch das Opfer Christi für irrelevant erklärt werden. Das war auch der Preis, der für eine rationale Gotteslehre zu zahlen war und den immer mehr Denker und Naturforscher seit dem 17. Jahrhundert zu zahlen bereit

20 21 22

Spinoza: Die Ethik. S.22. Spinoza: Die Ethik. S.22. Spinoza: Die Ethik. S.33ff.

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waren.23 Die Idee, dass in jedem einzelnen Ding Gott und seine göttliche Natur verborgen sind, erwies sich für die naturwissenschaftliche Weltanschauung als außerordentlich bedeutsam. Dieser Gedanke nämlich schuf der rationalen Erkenntnis den notwendigen weltanschaulichen Rahmen, und zwar derartig, dass aus der Naturwissenschaft ein in sich geschlossenes und auf eine andere Art religiöses Weltbild entstehen konnte.

1.3

Der Verstand und die göttliche Natur

Wir stellten fest, dass eine der wichtigsten Innovationen von Spinoza die Überwindung der Kluft zwischen Gott und der Welt war. Durch die Vergöttlichung der Welt aber ist Gott verweltlicht worden. Die Macht, die Vollkommenheit, der Verstand, der Wille und die Freiheit Gottes wurden nun im Licht der äußeren Existenz der körperlichen Substanz oder der äußeren Dinge interpretiert und verstanden. Die rein metaphysische Komponente Gottes wurde preisgegeben. Das Wesen Gottes konnte und durfte nicht mehr von der körperlichen Existenz der Dinge getrennt und selbstständig verstanden werden, eben weil Gott die Natur und die körperliche Substanz selbst geworden ist. So musste Spinoza auch den Verstand, sei er endlich oder unendlich, in den Grenzen der materiellen Natur fassen. Denn so wie es keine andere Gottheit außer der sichtbaren Welt geben könne, so sei auch kein höherer Verstand denkbar als jener, der in der Natur der Dinge eingeschlossen wäre: Lehrsatz 30: Der wirklich endliche oder der wirklich unendliche Verstand muß die Attribute Gottes und Gottes Affektionen umfassen und nichts anderes.24

Dies bedeutete, dass „eine wahre Idee mit ihrem Gegenstande übereinstimmen [muss], das heißt [...] das, was im Verstande objektiv enthalten ist, muß notwendig in der Natur vorhanden sein: [...].“25 Spinoza musste aus seiner Logik heraus den Verstand, sei er menschlicher oder göttlicher Natur, auf die natürliche Welt reduzie23

24 25

Vgl. Mayer, E.: Einbruch des Nihilismus in die Wissenschaft. In: Kritik des Nihilismus. A.a.O., S.430-446; Gillespie, M.A.: Descartes and the deceiver god. Science and the path of doubt. In: Nihilism before Nietzsche. Chicago 1995, S.1-33. Spinoza: Die Ethik. S.32. Spinoza: Die Ethik. S.32.

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ren. An dieser Stelle erscheint seine Lehre vielleicht in der Gefahr, in einen vulgären Materialismus abzugleiten, doch Spinoza rettet die Lage, indem er einen Unterschied zwischen der „naturenden“ und „genaturten“ Natur Gottes macht: Denn ich glaube aus dem Vorangehenden geht es schon hervor, nämlich, daß wir unter naturender Natur das zu verstehen haben, was in sich ist und durch sich begriffen wird, oder solche Attribute der Substanz, die ewige und unendliche Wesenheit ausdrücken, das heißt […] Gott, sofern er als freie Ursache betrachtet wird.26

Und: Unter genaturter Natur dagegen verstehe ich alles, was aus der Notwendigkeit der Natur Gottes oder eines jeden von Gottes Attributen folgt, das heißt, die gesamten Modi der Attribute Gottes, sofern sie als Dinge betrachtet werden, die in Gott sind, und die ohne Gott weder sein noch begriffen werden können.27

Die genaturte Natur ist also die Vielfalt der Attribute Gottes oder die Vielfalt der sichtbaren Welt. Die naturende Natur dagegen ist eine absolut abstrakte Ganzheit, „die gesamten Modi der Attribute Gottes“, von der es nichts zu wissen oder nichts zu behaupten gibt. Spinoza gebrauchte diese naturende Natur nicht als Begriff mit einem positiven Inhalt, sondern als eine „freie Ursache“ der sichtbaren Vielfalt der Natur, gewissermaßen als eine Garantie der Einheit alles Sichtbaren und Hervorgebrachten. An sich muss dieser Begriff absolut leer bleiben. Der Verstand aber, soweit er nur die vielfältigen Erscheinungen der sichtbaren Natur umfasst, konnte laut Spinoza nur zum Wesen der hervorgebrachten oder der genaturten Natur gerechnet werden. Das betraf ebenso den Willen, die Begierde und die Liebe der göttlichen Natur: Lehrsatz 31: Der Verstand als wirklicher, ob er nun endlich ist oder unendlich, wie auch der Wille, die Begierde, die Liebe müssen zur genaturten Natur und nicht zur naturenden gerechnet werden.28

26 27 28

Spinoza: Die Ethik. S.32. Spinoza: Die Ethik. S.32. Spinoza: Die Ethik. S.32.

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Durch die Betrachtung der genaturten Natur oder der sichtbaren Welt kann der Mensch auf die Begriffe des göttlichen Verstandes, der göttlichen Liebe oder des göttlichen Willens kommen, denn sie sind der Vielfalt der hervorgebrachten Natur immanent. Das lässt uns aber nichts über den Verstand, die Liebe oder den Willen Gottes als eines Ganzen urteilen. Ein solcher Versuch müsse laut Spinoza den menschlichen Verstand weit überfordern, weil dieser Ganzheit kein Gegen-stand der Natur entspräche, so dass sich der Mensch darüber keinen Begriff machen könne: Nun noch über den Gott gemeinhin zuerkannten Verstand und Willen: Wenn sie, nämlich Verstand und Wille, zu Gottes ewiger Wesenheit gehören, so ist unter diesen beiden Attributen offenbar etwas ganz anderes zu verstehen, als was die Menschen gewöhnlich damit meinen. Denn der Verstand und der Wille, die Gottes Wesenheit ausmachen würden, müßten von unserem Verstand und unserem Willen himmelweit verschieden sein und könnten höchstens im Namen damit übereinstimmen, so wie das Sternbild Hund und das bellende Tier Hund miteinander übereinstimmen.29

Diese These bedeutete eine weitere Transformation des dogmatischen Gottesbildes: In der Wirkung Gottes lässt sich zwar eine gewisse Liebe, Güte und Weisheit verfolgen, sie sind aber nicht das Wesen Gottes, sondern nur seiner Schöpfung, der von ihm hervorgebrachten Welt. Der Gott Spinozas konnte demnach nicht als ein liebender, vorsorglicher, rettender Vater verstanden werden. Für den menschlichen Verstand muss das Wesen Gottes als etwas vollkommen anderes, sogar fremdes erscheinen, womit es keinerlei Verbindung geben kann. Die Situation eines absoluten, prinzipiellen Agnostizismus müsste dann die Folge dieser Überlegungen Spinozas sein.

1.4

Der Pantheismusstreit

Wenn wir den Nihilismus als eine Grenzerscheinung zwischen zwei geistesgeschichtlichen Epochen deuten, bieten uns die Geschichte und der Inhalt des Pantheismusstreits30 eine besonders ergiebige 29 30

Spinoza: Die Ethik. S.23. Es gibt umfassende Forschungen zum Thema. Vgl. unter anderem: Timm, H.: Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der

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Gelegenheit zur Veranschaulichung unserer These. Eine öffentliche Debatte über den Nachlass Lessings, dessen unerwartetes Bekenntnis zu Spinoza traf einen inneren Nerv der Zeit und deckte die grundlegende Fragestellung auf, inwieweit und in welcher Form Glaube und Religion noch denkbar sind. Die tradierte Vorstellung von einem übernatürlichen, transzendenten und persönlichen Gott stellte die führenden Denker der Zeit nicht mehr zufrieden. Der Gedanke eines vulgären Materialismus oder gar des Atheismus lag aber den deutschen Geistern doch viel ferner als etwa ihren französischen Kollegen. Die Suche nach einer rationalen, aber nicht mehr metaphysischen Gottesvorstellung hing in der Luft und war einer dringenden Lösung bedürftig. Als die Lehre Spinozas dank der Provokation Jacobis auf einmal in aller Munde war, so schien sie vielen der einzig mögliche Weg einer auf dem Rationalismus erbauten Religion zu sein. Zu diesem Zeitpunkt hatte jedoch das breitere Publikum nur sehr schlechte Kenntnisse der Spinozistischen Lehre, zudem belastete der Verdacht des Atheismus, welcher von dem bekannten enzyklopädischen Artikel von Bayle herrührte, die Verbreitung seiner Ideen. Beide Seiten waren damals sehr ernst zu nehmen. Der Spinozismus erschien also janusköpfig: von dem orthodox gestimmten Publikum wurde der Vorwurf des Atheismus erhoben, während progressive Denker im Spinozismus die Begründung einer neuen rationalen Religion erkannten. Wir skizzieren nun die beiden Positionen. Im Jahre 1785 erschien in Breslau anonym das Buch Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Es war allgemein bekannt, dass es sich bei dem Verfasser um Friedrich Jacobi handelte. Die Wirkung dieses Buches war enorm, denn es behandelte drei brisante Themen: Erstens das Bekenntnis Lessings zum Spinozismus, zweitens Erläuterungen Jacobis über den Spinozismus für Mendelssohn und drittens Jacobis Entlarvung des Spinozismus als Goethezeit. Frankfurt a.M. 1974; Hammacher, K.: Der Dialog zwischen Jacobi und Lessing über Spinoza. Hamburg 1986; Hammacher, K.: Herders Stellung im Spinozastreit. In: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus. Hg. von Marion Heinz. Amsterdam 1997, S.166188; Bollacher, M.: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs. Tübingen 1978; Althaus, H.: Vom `toten Hunde’. Spinoza und Lessings ‚Atheismus’. In: Studia Germanica Gandensia XIV (1973), S.161-181; Schürmann, E., Waszek, N. u. Weinrich, F. (Hg.): Spinoza im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.

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Atheismus und Fatalismus. Die Namen von Lessing und Mendelssohn sorgten für das Interesse an dem Streit beim breiten Publikum, die Erläuterungen Jacobis zu Spinoza für die Popularisierung von dessen Lehre. In diesen Streit waren direkt oder indirekt Lessing, Mendelssohn, die Geschwister Reimarus, Goethe, Herder, Kant und im weiteren Sinne die ganze intellektuelle Welt Deutschlands verwickelt, was zum Teil ungewollt aber unwiderstehlich zur breiteren Rezeption und Aneignung der Spinozistischen Lehre führte. Ein Überblick über die Themen des Streits genügt, um zu sehen, dass es in dieser Auseinandersetzung keine fest gefügten Parteien gab, sondern dass alle Beteiligten mehrmals ihre Rolle tauschten und letztlich keine eindeutige Meinung hatten. Eines stand aber auf jeden Fall fest: Die Debatte über das Wesen des Spinozismus war von nun an unausweichlich. Der Spinozismus wurde zu einer Herausforderung und zu einem Wendepunkt der Kulturgeschichte Deutschlands. Die Geschichte des Spinozastreits begann mit Jacobis Brief vom 21. Juli 1783 an Elise Reimarus. In diesem fragte er sie, ob sie oder Moses Mendelssohn etwas vom Spinozismus Lessings in seinen letzten Jahren wüsste. Der Anlass zu dem Gespräch war die von Mendelssohn und dem Bruder Lessings, Karl Gotthelf Lessing, geplante Ehrengedächtnisschrift, welche die jahrelange Freundschaft des Schriftstellers und des Berliner Aufklärers krönen sollte. Für Mendessohn war die Nachricht Jacobis höchst unangenehm und unerwartet, denn zum einen bezeugte sie, dass Lessing die intimste Frage seiner Religiosität nicht ihm, seinem Freund, sondern Jacobi eröffnete, und zum anderen konnte sie den Ruf des toten Lessings für immer gefährden. Mendelssohn sah sich aber doch gezwungen, sich mit Jacobis Bezeugung auseinanderzusetzen. Um den Boden für die Nachricht von Lessings Spinozismus zu bereiten, beabsichtigte er eine tiefere Analyse des Spinozismus in der Schrift die Morgenstunden. Dafür aber fehlten Mendelssohn die nötigen Kenntnisse Spinozas und er sah sich nicht mehr fähig, sich in die Lehre Spinozas zu vertiefen. Er fragte bei Jacobi um Rat, welcher dann seine Erläuterungen der Spinozistischen Gott- und Daseinslehre für Mendelssohn verfasste. Dieser verstand sie nicht, bezichtigte aber nun seinerseits Jacobi des Spinozismus, ein damals ungeheuerlicher Vorwurf, der dem des Atheismus nahezu gleichkam. Jacobi sah sich gezwungen, Mendelssohns Verdacht zu entkräften und seine eigene Position in der Religionsfrage zu verdeutlichen. Dabei ging es ihm gleichzeitig um die Entlarvung von Spinozas Philosophie als atheis-

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tisch und fatalistisch. So schloss sich der Kreis: Durch das Gespräch mit Lessing erhoffte sich Jacobi Rat gegen Spinoza, musste aber stattdessen Bekenntnisse für Spinoza vernehmen. Er erläuterte nun Spinoza für Mendelssohn und musste sich am Ende öffentlich gegen die Vorwürfe des Spinozismus durch Mendelssohn wehren. Jacobi war also einerseits der Pionier der Spinozarezeption und andererseits sein entschiedener Gegner.31 Der Streit um Spinoza zeigte auch eindeutig die Krise, in der sich die deutsche klassische Aufklärung zu der Zeit befand. Sie war nicht mehr im Stande, die führende Position in der Kultur einzunehmen, denn sie hatte keine plausible Gotteslehre, welche nach der transzendentalen Wende des Idealismus überzeugend sein könnte. Die deutsche Aufklärung wurde durch das von sich selbst etablierte Prinzip des Rationalismus hoffnungslos überholt und zeigte sich mit ihrem ontologischen Gottesbeweis angesichts Spinozas als machtlos.32 Mendelssohn schrieb in mehreren Briefen, dass er Jacobi und seine Erläuterungen zu Spinoza einfach nicht verstanden hatte. Diese grundlegenden Verständnisschwierigkeiten verdeutlichen noch einmal, dass sich die Protagonisten an der Grenze von zwei kulturellen Epochen befanden, nämlich der Aufklärung, welche einerseits für die Vernunft plädierte, aber andererseits nicht bereit war, radikale Schritte in der Gotteslehre zu unternehmen; und der Transzendentallehre, welche auf ihrem Wege des Rationalismus nun bereit war, die alten Gottesvorstellungen zu verabschieden und sie im Sinne des Rationalismus Spinozas zu säkularisieren. Aus der Position der Aufklärung und der orthodoxen Dogmatik, war der Spinozismus eindeutig des Atheismus und des Fatalismus zu beschuldigen. Jacobi wiederholte nur die schon seit Bayle gängigen Vorwürfe gegen Spinoza. Es gilt nun die Befürworter der spinozistischen Lehre sprechen zu lassen. Ein gutes Beispiel für diese Gruppe finden wir in Goethe. Bekanntlich war er kein großer abstrakter Denker, Spinoza kannte er nur in Ansätzen und zum größten Teil von Jacobi nacherzählt. Aber als Goethe im Jahre 1784 den Zwischenkieferknochen (os intermaxillare) beim Menschen entdeckte, so war dies nicht, wie wir heute sagen würden, ein rein anatomischer Fund, sondern im spezifischen Klima der Zeit ein revolutionärer Beweis, dass der Mensch dem Tier 31

32

Vgl. Hebeisen, A.: F.H. Jacobi. Seine Auseinandersetzung mit Spinoza. Bern. 1960. Vgl. Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. S.151ff.

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evolutionär verwandt sei. So wäre es sehr seltsam von Goethe und seinen Zeitgenossen ein metaphysisches Weltbild zu erwarten.33 Goethe fand in der Lehre Spinozas das, was er für das Göttliche halten konnte. So schrieb er an Jacobi am 9. Juni 1785, als der Pantheismusstreit seinen Höhepunkt erreichte: Du erkennst die höchste Realität an, welche der Grund des ganzen Spinozismus ist, worauf alles übrige ruht, woraus alles übrige fliest. Er beweist nicht das Daseyn Gottes, das Daseyn ist Gott. Und wenn ihn andre deshalb Atheum schelten, so mögte ich ihn theissimum ia christianissimum nennen und preisen. [...] Vergieb mir daß ich so gerne schweige wenn von einem göttlichen Wesen die Rede ist, das ich nur in und aus den rebus singularibus erkenne, zu deren nähern und tiefern Betrachtung niemand mehr aufmuntern kann als Spinoza selbst. Hier (in Ilmenau, wo Goethe sich damals um Bergbau kümmerte – A.P.) bin ich auf und unter Bergen, suche das göttliche in herbis et lapidibus.34

In Steinen und Gräsern also wollte Goethe Gott suchen, nicht in übernatürlichen Welten. Dieses Bekenntnis Goethes darf aber nicht über die geringen Spinoza-Kenntnisse Goethes hinwegtäuschen. Im Brief an Jacobi gestand er: Ich kann nicht sagen daß ich iemals die Schriften dieses trefflichen Mannes in einer Folge gelesen habe, daß mir iemals das ganze Gebäude seiner Gedanken völlig überschaulich vor der Seele gestanden hätte. Meine Vorstellungs und Lebensart erlauben’s nicht. Aber wenn ich hinein sehe glaub ich ihn zu verstehen, das heist: er ist mir nie mit sich selbst in Widerspruch und ich kann für meine Sinne und Handelns Weise sehr heilsame Einflüsse nehmen.35

Nicht die detaillierte Kenntnis der Spinozistischen Lehre war Goethe wichtig, sondern „heilsame Einflüsse“, welche er aus ihr zog und welche ihm das boten, was das Christentum schon lange nicht mehr bieten konnte. In einem anderen Brief an Herder hielt sich Goethe in seiner Ausdrucksweise dem orthodoxen Glauben gegenüber nicht zurück: „Wenn nur die ganze Lehre von Christo nicht so 33

34

35

Vgl. die gründliche Untersuchung von Kemper, D.: Ineffabile. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. München 2004. In: Goethes Werke. IV Abt., Bd.7. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1891, S.62ff. In: Goethes Werke. IV Abt., Bd.7. A.a.O., S.62ff.

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ein Scheinding36 wäre, das mich als Mensch, als eingeschränktes bedürftiges Ding rasend macht.“37 Der Anlass zum berühmten Spinozagespräch zwischen Jacobi und Lessing war nichts anderes als der Prometheus Goethes, welcher unter direktem Einfluss Spinozas verfasst wurde. Aus diesem Grund unternahm Jacobi alles, damit dieses Gedicht im Zusammenhang mit dem Spinozastreit nicht an die Öffentlichkeit kam. Davor warnte er mehrmals Mendelssohn, und in seinem ersten Spinozabuch fehlte ebenso jede Erwähnung dieses Gedichts. Was waren nun die Worte Lessings über Spinoza? Wir zitieren die Stelle aus Jacobi ganz, da schon so viel darüber gesagt wurde: Lessing. (Nachdem er das Gedicht gelesen, und indem er mir’s zurück gab) Ich hab kein Ärgernis genommen; ich habe das schon lange aus der ersten Hand. Ich. (Jacobi – A.P.) Sie kennen das Gedicht? Lessing. Das Gedicht hab’ ich nie gelesen; aber ich find’ es gut. Ich. In seiner Art, ich auch, sonst hätte ich es Ihnen nicht gezeigt. Lessing. Ich mein’ es anders... Der Gesichtspunkt, aus welchem das Gedicht genommen ist, das ist mein eigener Gesichtspunkt... Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen.   ! Ich weiß nichts anders. Dahin geht auch dies Gedicht; und ich muß bekennen, es gefällt mir sehr. Ich. Da wären Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden. Lessing. Wenn ich mich nach jemand nennen soll, so weiß ich keinen andern. Ich. Spinoza ist mir gut genug: aber doch ein schlechtes Heil das wir in seinem Namen finden! Lessing. Ja! Wenn sie wollen!... Und doch... Wissen Sie etwas besseres?...38

Den „Gesichtspunkt“ also fand Lessing im Gedicht und bei Spinoza so trefflich. Die Einstellung war ihm wichtig, ein neuer Blickwinkel auf die Religion und auf den Glauben. Und aus diesem „Gesichtspunkt“ kann man „die orthodoxen Begriffe“ nicht „genießen“. Die Spinozistische Lehre als solche war Lessing in seiner Aussage nicht von prinzipieller Bedeutung, da wir annehmen können, dass Lessing wie Goethe Spinoza nicht allzu gut kannte. Die neuen Horizonte, die neuen Zeiten, welche der Spinozismus mit seiner Radikalität und seinem strikten Rationalismus verkündete, faszinierten 36

37

38

Dieses Wort ist im Brief unlesbar. Eine andere Lesung ist nicht auszuschließen: statt „Scheinding“ „ein Scheißding“. Aus einem Brief an Herder im Jahre 1775. Goethe: Goethes Briefe. In: Goethes Werke. IV/2 Abt., Bd.95. A.a.O., S.262. Jacobi: Über die Lehre des Spinoza. S.32f.

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Lessing. Die Lehre Spinozas war vielleicht auch aus der Sicht Goethes oder Lessings nicht die beste und ein „schlechtes Heil“, aber es gab eben kein „besseres“. So können wir aus diesem Bekenntnis Lessings herauslesen, dass er in seiner Aussage eine nihilistische Konfrontation (so, wie wir den Nihilismus verstanden haben) mit beinhaltete: den Zusammenprall von zwei „Gesichtspunkten“, von zwei Systemen, die Anspruch auf das Wahre verkündeten. Ein System war ungenießbar, das andere nicht vollkommen, und wie es vielen schien, gab es kein drittes. Wenn wir den Pantheismusstreit als ein Ringen an der Grenze zweier Epochen nicht nur um den Spinozismus als solchen, sondern viel mehr um eine Religions- und Glaubensauffassung verstehen, so können wir hinter diesem Streit eindeutig einen Generationenkonflikt entdecken. Ob nun der Spinozismus des Atheismus oder des Fatalismus beschuldigt werden kann, hängt in erster Linie nicht von der Lehre Spinozas selbst ab, sondern von dem Blickwinkel, aus welchem Spinoza eingeschätzt wird. Aus der Sicht der orthodoxen Metaphysik muss Spinozismus Atheismus bedeuten, aus der Sicht der neuen Generation ist er ein „heilsamer Einfluß“. Wir lassen an dieser Stelle Herder als einen weiteren großen Befürworter der Spinozistischen Lehre zunächst außer Acht, weil wir auf seine Rezeption des Spinozismus weiter unten noch ausführlich zu sprechen kommen.

1.5

Die Religionskritik und der Skeptizismus Spinozas

Wenden wir uns noch ein Mal an Spinoza selbst. Obwohl im Pantheismusstreit nur seine Gotteslehre diskutiert wurde (es konnte auch nicht anders sein, da das Publikum auf die Erläuterungen Jacobis angewiesen war, und dieser behandelte im Auftrag Mendelssohns nur die Gotteslehre in der Ethik), finden wir bei Spinoza sehr interessante und bedeutende Konsequenzen, welche er aus seiner rationalen Gotteslehre ziehen musste. Wenn er sich eines anderen Zugangs, einer anderen Methode bei seinem Gottentwurf bediente, dann ist klar, dass er sich gezwungen sah, auch das ganze auf dem Christentum aufgebaute Kulturgebäude im Zwielicht des Zweifels zu betrachten. Zum einen bedachte Spinoza den Ursprung, den Wert und die Inhalte der tradierten Religionen und Kulturen. Zum anderen bezweifelte er die Erkenntnisvorgänge, welche aus der nicht rationalen Gottesauffassung entsprangen.

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Wir haben gezeigt, dass Spinoza zwei Möglichkeiten unterschied, Gott zu erkennen: durch das Vorstellungsvermögen und durch den Verstand. Der erste Weg ist der Weg der Selbsteinbildung und der Täuschung; der zweite Weg ist der der Wahrheit. Nun unternahm Spinoza einen Versuch, das Wesen der Religion aus der rationalen Perspektive zu erklären. Spinoza fing seine Überlegungen mit der Definition des menschlichen Wesens oder des menschlichen Naturzustandes an, aus dem sich die falsche oder die täuschende Gottesvorstellung entwickelte: Hier wird genügen, wenn ich zugrunde lege, was jedermann anerkennen muß, nämlich, daß alle Menschen ohne Kenntnis von den Ursachen der Dinge zur Welt kommen, und daß alle den Trieb haben, ihren Nutzen zu suchen, und sich dieses Triebes bewußt sind. Hieraus folgt nämlich erstens, daß die Menschen frei zu sein meinen, da sie sich ihrer Wollungen und ihres Triebes bewußt sind […]. Es folgt zweitens, daß die Menschen alles um eines Zweckes willen tun, nämlich um des Nutzens willen, den sie erstreben; […]. Da sie ferner in sich und außer sich eine große Menge Mittel vorfinden, die zur Erreichung ihres Nutzens erheblich beitragen, wie z.B. die Augen zum Sehen, die Zähne zum Kauen, die Kräuter und Tiere zur Nahrung, die Sonne zum Leuchten, das Meer Fische zu ernähren usw., so ist es gekommen, daß sie alles in der Natur als Mittel für ihren Nutzen ansehen.39

Spinoza geht nun von einer Prämisse aus, welche seiner Zeit weit vorausgeht: Dem Menschen seien keine Ideen oder Kenntnisse angeboren. Erst durch den Trieb gewinne der Mensch das Wissen über die Welt, über sich selbst und über Gott. Und was lernt er laut Spinoza? Er lerne, dass alles im Leben einen Zweck zum Nutzen hat, woraus der Mensch schließen müsse, dass die gesamte Natur nur ein „Mittel für ihren (der Menschen – A.P.) Nutzen“ sei. Gott solle demnach als derjenige erscheinen, der den Menschen alles zu seinem Nutzen bestellt habe: Und weil sie wissen, daß diese Mittel von ihnen selbst nur vorgefunden und nicht hergerichtet sind, nahmen sie hieraus Veranlassung, zu glauben, es sei irgend jemand anders, der diese Mittel zu ihrem Nutzen hergerichtet habe. […] … mußten sie schließen, daß es einen oder mehrere mit menschlicher Freiheit begabte Lenker

39

Spinoza: Die Ethik. S.40f.

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der Natur gebe, die alles für sie besorgt und alles zu ihrem Nutzen gemacht hätten.40

Die traditionelle Gottesvorstellung war also laut Spinoza die menschliche Selbstprojektion aus dem allgemeinen Prinzip des Nutzens. Die Religion entwickelte sich dann auch aus diesem angenommenen Verhältnis: Und ebenso mußten sie die Sinnesweise dieser Lenker, da sie ja niemals etwas darüber vernommen hatten, nach ihrer eigenen Sinnesweise beurteilen; und infolge hiervon behaupteten sie, daß die Götter alles zum Nutzen der Menschen lenken, um sich die Menschen zu verpflichten und bei ihnen der höchsten Ehre zu genießen. Daher ist es gekommen, daß jeder sich eine besondere Art der Gottesverehrung nach seinem Sinne ausgedacht hat, damit Gott ihn vor allen anderen liebe und die ganze Natur zum Nutzen für seine blinde Begierde und unersättliche Habsucht lenke.41

Die Religion ist also laut Spinoza aus der menschlichen „Habsucht“ entstanden und müsse als ein zweifelhaftes Mittel der Menschheit verstanden werden, von den erdachten Göttern, „die ganze Natur“ zum eigenen Nutzen zu erlangen. Dieses Konstrukt bezeichnete Spinoza als Wahnsinn und Aberglauben: Und so hat sich dies Vorurteil in Aberglauben verwandelt und in den Seelen tiefe Wurzeln geschlagen; dies war die Ursache, daß jeder das größte Streben darein setzte, von allen Dingen die Zweckursachen zu erkennen und diese zu erklären. Aber indem sie zu zeigen suchten, daß die Natur nichts vergebens tue (das heißt nichts, was nicht zum Nutzen der Menschen diente), haben sie, wie mir scheint, damit bloß gezeigt, daß die Natur und die Götter ebenso wahnsinnig sind wie die Menschen.42

Der „abergläubige Wahnsinn“ hat also seine Wurzeln in drei grundlegenden Täuschungen der Menschheit: in der falschen Annahme der Zweckmäßigkeit der Dinge, in der menschlichen Habgier und in der falschen Gottesvorstellung. Wenn aber die Grundtäuschung über die Teleologie des göttlichen Handelns weggeräumt werden könne, dann würden alle daraus resultierenden Täuschun40 41 42

Spinoza: Die Ethik. S.41. Spinoza: Die Ethik. S.41. Spinoza: Die Ethik. S.41.

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gen ebenso eliminiert. Diesen Versuch unternahm auch Spinoza, indem er erklärte, dass Gott unmöglich eines Zwecks wegen handelt, denn dies müsste bedeuten, dass er etwas erstreben wolle, was ihm fehle. Gott kann aber nichts fehlen, und so sah es Spinoza als erwiesen an, „daß die Natur sich keinen Zweck vorgesetzt hat, und daß alle Zweckursachen nichts weiter sind, als menschliche Einbildungen“.43 Die postulierte Zwecklosigkeit des göttlichen Handelns musste natürlich auch lebenspraktische Konsequenzen für das menschliche Leben nach sich ziehen. Aus Spinozas Sicht wäre es falsch, hinter den Ereignissen im Schicksal eines Menschen einen verborgenen Plan oder höhere Zwecke zu suchen. Es wäre eine Täuschung zu glauben, dass Gott sich für das Schicksal eines Menschen interessiere und etwas für ihn prädestinieren würde.44 Die Situation einer solchen Verwirrung machte Spinoza an einem Beispiel anschaulich: Wenn z.B. ein Stein von einem Dach jemand auf den Kopf gefallen ist und ihn getötet hat, so beweisen sie (die dogmatischen Theologen – A.P.) auf folgende Art, daß der Stein gefallen sei, um den Menschen zu töten: Wenn er nicht nach dem Willen Gottes zu diesem Zweck gefallen ist, wie kam es, daß zufällig gerade so viel Umstände (oft nämlich treffen viele zusammen) zusammentreffen?45

Spinoza versteht unter dem Zufälligen die unerkannten Gründe oder Ursachen.46 Dem Menschen erscheine etwas als zufällig, soweit er nicht wisse, warum oder aus welcher Ursache dieses etwas passiere. Da alles einer Notwendigkeit unterworfen sei, könne es in der Natur der Dinge nichts Zufälliges geben. Es erfordere bloß Mühe, 43 44

45 46

Spinoza: Die Ethik. S.42. Augustinus lehrte gerade das Gegenteil: „Vielleicht unterliegt nämlich, was man allgemein Schicksal nennt, auch einer verborgenen Ordnung, nennen wir doch in den Ereignissen nichts anders Zufall, als das, dessen Grund und Ursache uns verschlossen ist; und nichts Günstiges oder Ungünstiges dürfte dem Einzelnen widerfahren, das nicht zum Ganzen passte und zu ihm stimmte. Dieser Gedanken, durch Offenbarungssprüche voll fruchtbarster Lehren verkündet, weit entfernt von der Denkweise der Uneingeweihten […].“ Augustinus: Gegen die Akademiker. In: Philosophische Frühdialoge. Übers. Bern Reiner Voss. München 1972. S.43. Spinoza: Die Ethik. S.43f. Vgl. Spinoza: Die Ethik. S.31ff.

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die wahren Gründe des Geschehens zu erkennen. So wollte Spinoza an diesem Beispiel die Konfrontation zweier Denkweisen deutlich machen. Die Traditionalisten würden laut Spinoza durch diesen Vorfall mit dem Stein unbedingt die Idee des göttlichen Willens oder eines höheren Zwecks anführen: Man wird etwa antworten, es sei daher gekommen, weil der Wind wehte, und weil den Menschen sein Weg dort vorbeigeführt hat. Sie aber werden nicht locker lassen: Warum wehte der Wind gerade zu jener Zeit? Warum führte den Menschen sein Weg zu ganz der selben Zeit dort vorbei? Wenn man wiederum antwortet, der Wind habe sich damals erhoben, weil das Meer am vorangegangenen Tage, als das Wetter noch ruhig war, in Bewegung geriet, und daß der Mensch von einem Freunde eingeladen war, so werden sie, da des Fragens kein Ende ist, einem wiederum zusetzen: Warum bewegte sich dann aber das Meer, warum war der Mensch zu jener Zeit eingeladen? Und so werden sie nicht ablassen, weiter nach den Ursachen der Ursachen zu fragen, bis man seine Zuflucht zum Willen Gottes genommen hat, das heißt, zur Freistatt der Unwissenheit.47

Aus der Sicht der Rationalisten gab es aber keinen göttlichen Plan hinter diesem Totschlag, sondern es gab einfach genügend plausible Ursachen: der Wind, die Unruhe des Meers, die Einladung des Freundes etc., aber keinen irrationalen und übermenschlichen Plan. Wir haben also eine Situation, die vollkommen unterschiedlich interpretiert wird: Auf die Frage ‚warum’ antwortet einer, dass Gott es so ‚gewollt’ hat, der andere sagt ‚das Meer war am Tage zuvor zu unruhig’. Ersteren nannte Spinoza „ein Tor [...], in denen das Volk die Dolmetscher der Natur und Götter verehrt“, letzteren bezeichnete er als einen „Gelehrten“, der „nach den wahren Ursachen der Wunder sucht und die Dinge in der Natur [...] zu verstehen [...] bemüht ist“.48 Einem Gelehrten stellte also Spinoza einen gläubigen Theologen gegenüber und eilte damit seiner Zeit mehr als einhundert Jahre voraus. Diese Gegenüberstellung lässt sich auf einen grundlegenden Verständniskonflikt der Religion und der Naturwissenschaft ausweiten. Zum wahnsinnigen Aberglauben gehörte aber laut Spinoza nicht nur die Verehrung der erdichteten Götter. Mit der etablierten 47 48

Spinoza: Die Ethik. S.44. Spinoza: Die Ethik. S.44.

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Zwecklosigkeit der göttlichen Natur mussten alle bisherigen menschlichen Erkenntnisse - über das Gute und Böse, Schöne und Hässliche, Lob und Tadel, Glück und Schicksal, Verbrechen und Verdienst, Ordnung und Chaos, Moral und den inneren Sinn der Weltgeschichte - als bloße menschliche Einbildungen oder als ein Resultat des menschlichen Vorstellungsvermögens eingeschätzt werden. Spinoza vollzog diesen radikalen Schritt: Daher mußten sie, um die Natur der Dinge zu erklären, Begriffe bilden, wie Gut, Schlecht, Ordnung, Verwirrung, Warm, Kalt, Schönheit und Häßlichkeit. Und weil sie sich für frei hielten, entstanden daraus Begriffe wie Lob und Tadel, Verbrechen und Verdienst. […] Die übrigen Begriffe sodann sind ebenso weiter nichts, als Arten des Vorstellens, durch die das Vorstellungsvermögen in verschiedener Weise affiziert wird; […] und so nennen sie die Natur eines Dinges gut oder schlecht, gesund oder faul und verdorben, je nachdem sie von ihm affiziert werden. […] Und es gibt sogar Philosophen, die fest überzeugt sind, daß die Bewegungen der Himmelskörper eine Harmonie bilden.49

Gott und die Natur lagen laut Spinoza außer jeder möglichen Einschätzung. Sie sind weder gut noch schlecht, weder moralisch noch unmoralisch, weder schön noch hässlich. Alle menschlichen Urteile über Gott hatten keinerlei Grundlage und mussten nun aus der rationalen Perspektive ebenso zu den menschlichen Selbsteinbildungen gezählt werden wie eine übernatürliche Vernunft oder ein Wille Gottes. Nichts lässt sich als allgemein gültig behaupten, denn es gibt nichts allgemein gültiges in der Natur der Dinge außerhalb den mathematischen Gesetzen, welche aber jenseits von jeder religiöser Vorstellung vom Gut und Böse liegen. Die von Spinoza behauptete Zwecklosigkeit der göttlichen Natur musste also den Niedergang der tradierten metaphysischen Werte bedeuteten. Der Skeptizismus50 dieses Lehrsatzes darf nicht unterschätzt wer49 50

Spinoza: Die Ethik. S.45ff. Dass wir in diesem Zusammenhang den Begriff des Skeptizismus verwenden können, lässt sich mit folgenden Lehrsätzen oder Tropen der griechischen Skeptiker belegen. Sie waren auch der Ansicht, dass jedes Urteil nur relativ sein kann: „Der erste [Tropus] bezieht sich auf die Verschiedenheit der lebenden Wesen in Hinsicht auf Lust, Schmerz, Schaden und Nutzen. Daraus ergibt sich, daß die nämlichen Anlässe nicht die nämlichen Vorstellungen hervorrufen, ein Widerstreit, der zur Folge hat, daß man mit seinem Urteil zurückhalten muß. […] Nun leuchtet es doch

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den: Spinoza sprach über keine konkrete bislang bekannte Religion, sondern über die Menschheit als Ganzes. Die Menschheit habe sich getäuscht und Erkenntnisbegriffe gebildet, die keinesfalls den Dingen der Natur entsprechen können, sondern allein in ihrem Vorstellungsvermögen existierten. Damit musste aus dieser Logik eine völlige Entwertung der gesamten Kultur, aller bisherigen Wissenschaften und der meisten Künste folgen. Über den Umstand, dass in dieser Gegenüberstellung von zwei Weltanschauungen nur eine für die richtige gehalten werden kann und dass ein nihilistisches Potential in seiner Lehre enthalten war, machte sich Spinoza schon damals keine Illusionen: Unter so vielem Nützlichen in der Natur mußten sie eine Menge Schädliches finden, wie Stürme, Erdbeben, Krankheiten usw., und nun behaupteten sie, dies käme daher, weil die Götter über Beleidigungen zürnten, die ihnen von den Menschen zugefügt seien, oder über Verbrechen, die sie bei ihrer Verehrung begangen hätten. Und obgleich die Erfahrung tagtäglich laut widersprach und durch unzählige Beispiele zeigte, daß Nützliches und Schädliches ohne Unterschied Frommen sowie Gottlosen begegne, ließen sie deswegen von dem eingewurzelten Vorurteil doch nicht ab. Denn es war leichter für sie, solchen Vorkommnisse unter anderes Unerkannte, dessen Nutzen sie nicht wußten, zu rechnen, und so ihren gegenwärtigen und angeborenen Zustand der Unwissenheit

ein, daß die Verschiedenheiten der Sehkraft auch Verschiedenheiten der Erscheinungsbilder zur Folge haben. Ferner: Für die Ziege ist das Laub genießbar, der Mensch dagegen findet es abscheulich bitter […]. Der dritte Tropus gründet sich auf die Verschiedenheiten der Eindrücke je nach den sinnlichen Eingangswegen. So ist der Apfel für das Auge blaßgelb, für den Geschmack süß, für den Gebrauch wohlduftend. Der vierte Tropus bezieht sich auf die Stimmungen und, allgemein gesagt, auf den Wechsel der Zustände, als da sind Gesundheit, Krankheit, Schlaf, Wachen, Freude, Leid, Jugend […]. Der fünfte bezieht sich auf die Lebensführung, auf die Gesetze, auf den Glauben an mythische Überlieferungen […]. Hierher gehören die Ansichten vom Schönen und Häßlichen, vom Wahren und Falschen, vom Guten und Bösen, von den Göttern […]. Denn das nämliche gilt den einen als gerecht, den anderen als ungerecht, den einen als gut, den anderen als bös. So halten die Perser den Geschlechtsverkehr mit der Tochter nicht für unstatthaft, die Hellenen dagegen für sündlich.“ Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Hamburg 1967. S.202ff.

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zu behalten, als jenes ganze Gebäude niederzureißen und ein neues zu erdenken.51

Wenn in der Natur ein zweckmäßiges Handeln vermutet wird, dann muss zwischen dem „Nützlichen“ und „Schädlichen“ unterschieden werden und dementsprechend ein göttlicher Wille angenommen werden, der das Ganze lenkt. Spinoza behauptete noch einmal, dass es in der Natur weder Gutes noch Böses, weder einen göttlichen Willen noch einen übernatürlichen Gott gibt, sondern dass alles der Moral gegenüber gleichgültigen Naturgesetzen unterworfen ist. Der angemessene Ausweg aus dieser Konfrontation zwischen dem „Zustand der Unwissenheit“ und der „tagtäglichen Erfahrung“ wäre also laut Spinoza, „jenes ganze Gebäude“ der metaphysischen Religionen „niederzureißen“ und „ein neues zu erdenken“. Der Nihilismus als eine Grenzerscheinung von zwei einander ausschließenden Wahrheitssystemen kam also auch bei Spinoza verdeckt zur Sprache. Fassen wir das Gesagte kurz zusammen. Kant behauptete, dass die Vorstellung von einem transzendenten Gott nur in der Form eines leeren Ideenmagazins angenommen werden kann, und dass die Vernunft von Gott eigentlich nichts wissen kann, da der Bereich der Metaphysik außerhalb der menschlichen Erfahrungsgrenze liegt. Er lehrte auch, dass die Vernunft sich nicht mit den göttlichen Dingen, sondern mit den unendlichen Erscheinungsformen der Natur befassen soll. Diese Formel war der Durchbruch, welcher Geister wie Goethe oder Lessing faszinierte. Nun aber lautete die Frage, wie dann Gott denkbar ist? Das durch die Kantsche Erkenntnistheorie gesicherte naturwissenschaftliche Denken brauchte nun einen weltanschaulichen Rahmen, eine neue, von der metaphysischen Gotteslehre abweichende Idee. Diese Leerstelle füllte die rationalistische Substanzlehre Spinozas. Indem Spinoza behauptete, dass Gott und Natur eins sind, verlieh er der naturwissenschaftlich forschenden Vernunft Kants einen neuen Wert und eine neue Dimension. Wenn die Lehre Spinozas vielleicht auch nicht die beste war, so gab es doch keine andere, die Goethe zu behaupten erlauben würde, dass er in Steinen nach Gott suche. Vielen erging es ähnlich wie Goethe, wie die Intensität des Pantheismusstreits bezeugt: Die Epoche war reif, die säkularisierte, rationalistische Gotteslehre anzunehmen und gleichzeitig den übernatürlichen, metaphysischen und überrationa51

Spinoza: Die Ethik. S.42.

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len Gott zu verabschieden. Spinoza war sogar imstande, den Versuch einer umfassenden Religions- und Kulturkritik zu unternehmen, was ihn dazu brachte, den Weg des Skeptizismus einzuschlagen und die traditionellen Werte von Gut und Böse, von Moral und Freiheit neu zu definieren. In dieser fruchtbaren Symbiose des deutschen Idealismus mit dem Spinozismus fand also ein breiterer und tieferer Epochenwechsel statt: Von der platonisch-aristotelischen Tradition zum allumfassenden Rationalismus und zur Naturwissenschaft. In dieser Übergangssituation lag das Wesen des Nihilismus begründet, denn jede epochale Wende in der Geistesgeschichte bedeutet eine direkte oder indirekte Konfrontation der Wertesysteme. Wir haben versucht zu zeigen, dass der Nihilismus eine Grenzerscheinung ist. Jacobi war derjenige, der als erster sowohl den deutschen Idealismus als auch den Spinozismus aus der Position des Glaubens an einen transzendenten, übernatürlichen Gott als Nihilismus bezeichnete. Der Nihilismus ist also ein System der Einschätzung, welches als eine Reaktion auf die Modifizierung - und in diesem Fall auf die rationalistische Säkularisierung - des tradierten Gott- und Weltbildes aufgetreten ist. Über den Nihilismus lässt sich also sprechen, wenn der folgende Themenkreis in Frage gestellt wird: die Realität Gottes als eines transzendenten Wesens, die menschliche Erkenntniskraft des Transzendenten, die allgemeinen metaphysischen Werte und Vorstellungen vom Guten und Bösen, von der Moral und von der Freiheit. Wir bemühten uns ebenso, ausführlich zu zeigen, inwieweit und in welchen Punkten die Erkenntnistheorie Kants, die Wissenschaftslehre Fichtes und die Substanzlehre Spinozas in Konfrontation zur dogmatischen Tradition standen und dementsprechend fähig waren, eine nihilistische Reaktion zu entfalten. Daraus schlossen wir auf den janusköpfigen Charakter dieser Reaktion in der Geistesgeschichte des Abendlandes.

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Die Begründung des neuen Weltbildes bei Herder

Bis jetzt haben wir uns mit zwei die deutsche Aufklärung prägenden philosophischen Richtungen auseinandergesetzt, die eine entscheidende Rolle in der Entstehung des Nihilismusbegriffs gespielt haben: dem Spinozismus und dem deutschen Idealismus (Kants und Fichtes). Beide Gedankengebäude haben die Weltanschauung ihrer Zeitgenossen beeinflusst, aber keine von ihnen konnte den Platz eines universellen welterklärenden Systems einnehmen. Spinozas Philosophie war dafür zu radikal und abstrakt, diejenige Kants dagegen zu philosophisch eingeschränkt und speziell. Gefragt war ein Entwurf, in dem nicht nur der Spinozismus und der transzendentale Idealismus, sondern auch andere bedeutende Strömungen der deutschen Aufklärung - die Systeme von Leibniz, Descartes, Baumgarten, Wolff, Hamann - ein organisches Ganzes bilden konnten. Außerdem ließ sich die Kunst und die produktiven, aber nicht unbedingt rationalen Kräfte des menschlichen Gemüts durch den strengen idealistischen Rationalismus schlecht behaupten. Ein mittlerer Weg zwischen der absoluten, geometrischen Vernunft und der dogmatischen Metaphysik war nun zum Thema geworden. Die verdeckte Religiosität des deutschen Idealismus konnte in den rationalen Gedankenformen Spinozas keinen passenden Ausdruck finden. Dasjenige, um dessen Willen Jacobi Fichte nicht des Atheismus beschuldigen konnte und wollte, musste eine philosophische Form finden, welche sowohl die dogmatische Lehre als auch den trockenen Rationalismus der Aufklärung überwinden konnte. Diesen Versuch einer allumfassenden, weltanschaulichen und vor allem lebensnahen Philosophie hat Johann Gottfried Herder (1744-1803) unternommen. Den Kern seines Versuchs bildete die Sprachphilosophie. Vor Herder war dieser Begriff in der philosophischen und theologischen Tradition unbekannt, er begründete einen neuen Zweig innerhalb der deutschen Geistesgeschichte. Herders Sprachphilosophie ist viel mehr als nur eine Erkenntnistheorie oder eine Sprachtheorie. Sie bildete ein Fundament, von dem sich die Natur- und Völkergeschichte, die Geschichte der Menschheit, die Anthropologie, die Naturwissenschaft und die Künste ableiten und erklären ließen. Herder musste mutige Annahmen voraussetzen und Vorschläge wagen, welche aus der gewohnten strengen Bahn

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der Aufklärung ausbrachen. In diesem Zusammenhang ist Kants Rezension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Teil 1 und 2 sehr bezeichnend: der berühmte Philosoph nannte seinen fleißigen Schüler abschätzig „unser geistvoller Verfasser“ und sprach ihm praktisch jede Wissenschaftlichkeit seiner Arbeit ab.52 Aufgrund ihrer singulären Stellung und Qualität schlug die Sprachphilosophie ihren ganz eigenen Weg ein. Die Vergessenheit in der akademischen Wissenschaftsgeschichte war der Preis, den Herder schon gegen Ende seines Lebens zahlen musste, obwohl er mit seinen Gedanken zur Geschichtsphilosophie, Humanität, Sprachwissenschaft und Psychologie die großen Durchbrüche des 19. Jahrhunderts vorbereitete und vorausahnte. In gewissem Sinne war Herder wie Jacobi ein philosophischer Einzelgänger, der keiner Schule seiner Epoche richtig angehörte, dabei aber diese Epoche mitgestaltete und ihr zu Bahn brechenden Erkenntnissen verhalf, welche erst viel später in ihrem Wert eingeschätzt wurden. Die Universalität des Herderschen Denkens ist ein weiterer Grund, warum wir ihn in dem Zusammenhang mit unserem Thema betrachten wollen. Wie auch im Falle Spinozas und Kants können wir auch Herder nicht des Nihilismus bezichtigen. Sein weltanschauliches Denken zeigt aber nihilistische Tendenzen, die nicht offen zu Tage treten, aber doch grundlegend für dieses neue Denken waren. Wie können wir nun den verdeckten Nihilismus bei Herder offen legen? Unsere Beobachtungen über die Kritik des Kantschen 52

Diese Rezension ist für die Rezeption und die Einschätzung des Werkes Herders durch die akademische Wissenschaft für lange Zeit bestimmend gewesen, deshalb zitieren wir die Schlussfolgerung Kants in vollem Wortlaut: „Desto mehr aber ist zu wünschen, daß unser geistvoller Verfasser in der Fortsetzung des Werks, da er einen festen Boden vor sich finden wird, seinem lebhaften Genie einigen Zwang auflege, und daß Philosophie, deren Besorgung mehr im Beschneiden als Treiben üppiger Schößlige besteht, ihn nicht durch Winke, sondern bestimmte Begriffe, nicht durch gemutmaßte, sondern beobachtete Gesetze, nicht vermittelst einer, es sei durch Metaphysik oder durch Gefühle, beflügelten Einbildungskraft, sondern durch eine im Entwurfe ausgebreitete, aber in der Ausübung behutsame Vernunft zur Vollendung seines Unternehmens leisten möge.“ In: Immanuel Kant: Ausgewählte kleine Schriften. Hamburg 1969. S.57f. Zu diesem Thema gibt es ein großes Angebot an Sekundärliteratur. Vgl. unter anderem Gaier, U.: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart 1988; Simon, J.: Herder und Kant. In: Johann Gottfried Herder (1744-1803) (= Studien zum Achtzehnten Jahrhundert). Hg. von Gerhard Sauder. Hamburg 1987. S.3-13.

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Idealismus und des Spinozistischen Pantheismus werden uns als Leitfaden für dieses Unterfangen dienen, denn Herder eignete sich beide Philosophien auf seine Weise an und verknüpfte sie. Unsere Auseinandersetzung mit Herder wird uns als Vorlage zum Gespräch über den Nihilismus der deutschen Romantik dienen. Einige Texte, die wir in diese Untersuchung einbeziehen werden, übten keinen direkten Einfluss auf die Romantiker aus, es ist aber anzunehmen, dass sie in dem Jenaer Kreis diskutiert wurden. Wir deuten daher die Philosophie Herders nicht als Wiege der romantischen Dichtung, sondern als einen philosophischen Diskurs der Epoche, in dem sich auch die Romantik bewegte und aus dem sie ihre kreativen Kräfte schöpfte. Nach Kants „kopernikanischen“ Wende in der Philosophie entstanden zwei Lager: Eine Gruppe (vor allem Fichte, Schiller, Schulz, Reinhold) wollte Kants transzendental-kritische Methode weiter ausarbeiten und entwickeln, während die andere Gruppe (Hamann, Jacobi, Herder) eine distanzierte Position eingenommen hatte und eher auf die Gefährlichkeit der neuen kritischen Philosophie hinwies. Ganz vorne in diesem Kampf stand Herder mit seinem Text Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft von 1799. Die von uns analysierte Kritik Jacobis am Idealismus und der Brief Jacobi an Fichte sind um die selbe Zeit (1801 und 1799) verfasst und veröffentlicht worden. Es wird oft die Meinung geäußert, dass die Metakritik Herders eine späte Rache an Kant für seine abschätzige Kritik der Ideen gewesen sei. Möglicherweise waren der Eifer, die Energie und Unermüdlichkeit, mit denen Herder diesen Aufsatz geschrieben hatte, nicht zuletzt aus dem verletzten Stolz des Autors geschöpft worden. Der Charakter und die Argumentation der Metakritik deuten aber ohne Zweifel auf den grundlegenden philosophischen Konflikt der beiden Philosophen in Fragen der Erkenntnis. Andererseits wäre es aber falsch zu behaupten, dass diese Auseinandersetzung die Philosophen grundsätzlich voneinander trennte: Herder war ein begeisterter Schüler Kants, ihm wurden durch diesen ungemein bereichernden Kontakt nicht nur die Prägungen des Zeitgeistes vermittelt, sondern auch viele Anregungen zur eigenen Philosophie. In seiner frühesten Schrift Versuch über das Sein (1764), die wir später ausführlicher analysieren werden, wendet er sich an Kant mit erhabenen Worten: Ich übergebe Ihnen, hier einige Gedanken ein metaphysisches Exercitium, von denen die Prämissen in ihren Worten liegen. […]

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Ihre Stimme wird gewisser und wahrer sein, als die Stimme des Publikums, des unbekannten Abgotts, den jeder nennt, das stets leere Schälle antwortet, und nicht höret. – Denke ich aber seicht – und – ja ich fühle es, ich bin Epimetheus: […] Doch Sie - - - Göttlicher – Sie - Er glänzt Dein Nam hoch überm Himmel Nachwelten neu Gestirn - - - - - 53

Wir werden versuchen, argumentativ belegen zu können, dass beide Denker sich in einer Richtung ihrer Geistesepoche bewegten, später aber sehr unterschiedliche Wege einschlugen, was der Auslöser des Konflikts gewesen sein könnte. Die Spannung zwischen beiden Philosophen muss in unsere Forschung mit einbezogen werden, um Missverständnisse zu vermeiden: Fast gleichzeitig verfassten Jacobi, Herder und Hamann ihre Kritik am Idealismus Kants, Jacobi gar auf Anregung Herders.54 Uns stellt sich nun die Frage, ob es gerechtfertigt wäre, den Begriff des Nihilismus, der aus der Kritik Jacobis an Kants Idealismus heraus entstand, auf Herders Philosophie anzuwenden, wo doch eigentlich beide in dem Lager der Idealismusgegner standen? Aus der Logik unserer Überlegungen muss die Antwort positiv ausfallen, weil wir ja den Nihilismusbegriff nicht an eine konkrete Philosophie gebunden haben, sondern ihn als eine bestimmte Reaktion auf bestimmte Modifizierungen der Gottes-, Welt,- und Menschlehre verstanden haben. Soweit wäre es unsere Aufgabe festzustellen und zu zeigen, was beide Lager – Empirismus (Herder) auf der einen und Idealismus (Kant) auf der anderen Seite – auf einer höheren Ebene verbindet und darüber hinaus einen weiteren Grund zur Nihilismus-Forschung anbietet. Dafür wollen wir die Positionen Herders verdeutlichen und seine Daseinslehre und die Theorie der Empfindsamkeit skizzieren.

2.1

Die Ontologie Herders

Die Schrift Versuch über das Sein (1764) gehört zu den frühen Aufsätzen Herders, die während seines Studiums bei Kant entstanden sind. Der Aufsatz ist nicht vollständig erhalten und liegt nur in 53

54

Johann Gottfried Herder: Versuch über das Sein. In: Werke. Bd.1. Hg. von Martin Bollacher. Frankfurt a.M. 1994. S.9. Herder hat für Jacobi eine Kopie des Aufsatzes Hamanns Metakritik über den Purismus der reinen Vernunft im Jahre 1784 angefertigt und an ihn versant.

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Skizzen vor, deren Entzifferung durch Korrekturen, Streichungen, eine kaum lesbare Handschrift und asyntaktische Anknüpfungen erschwert ist. Dieser Text ist erst im Jahre 1936 herausgegeben worden, enthielt aber viele Lücken und Fehler. Dies alles führte dazu, dass diese Schrift von der Herder-Forschung bedauerlicherweise kaum berücksichtigt wurde. Die Schrift Versuch über das Sein war Kant zugeeignet (die begeisterte Widmung haben wir schon oben zitiert) und stellt eine Auseinandersetzung mit dessen Aufsatz Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763) dar. Der Kant-Schüler Herder bediente sich bei seiner Polemik Kantscher Mittel und Argumentation. Begriffe wie „zergliederlich“ „deutlich“, „unauflöslich“, „Real- und Denkgrund“, übernahm Herder von Kant, dabei begründete er ein eigenes Seins-Konzept, welches bestimmend für seine ganze Philosophie war. Betrachten wir einige Schlüsselstellen des Textes, um zu dem Kern des Herderschen Gedankengebäudes zu gelangen.55 Herder setzte sich mit zwei zentralen theologischen Begriffen auseinander – mit dem des Seins und dem Gottes: Dies fordert die Einheit, da bei jedem aliquoties ein quid zum Grunde liegen muß; und welches ist diese Eins? Das was auch dem Etwas zum Grunde liegen muß. Der Begriff des Seins.56

Und: Und Gott, dem kein Begriff von außen gegeben ist, hat keinen, als den Begriff seines Seins als unzergliederlich. Doch dies ist bloß auf kindische Art geschlossen.57

Herder erklärt, dass Gott ein einheitlicher und allumfassender Begriff ist, dem eine ebenso allumfassende Einheit entsprechen müsse. Diese könne nur der Seinsbegriff sein. An sich war diese Formulierung nicht ganz ungewöhnlich. Auch Herders Bezeichnung des Seins als „unzergliederlich“ erscheint zunächst konventionell. Ungewöhnlich und neu war aber das, was Herder unter unzergliederlich verstand. Für ihn musste ein Begriff dem Men55

56 57

Vgl. Ulrich Gaier hat Im Versuch über das Sein zu Recht den philosophischen Grundriss gesehen, den Herder in den folgenden drei Jahrzehnten kontinuierlich umsetzte. Vgl. Kommentar. In: Werke. Bd.1. A.a.O., S.844ff. Herder: Versuch über das Sein. S.2. Herder: Versuch über das Sein. S.20ff.

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schen direkt und unmittelbar vermittelt und nicht aus einer abstrakten Tätigkeit der Vernunft abgeleitet werden. Denn aus der Herderschen Sicht kann die Vernunft nur das zergliedern, was dieser Vernunft schon unmittelbar als eine sinnliche Erfahrung gegeben wurde: Zurück also zu mir – und wie betrübt – alle meine Vorstellungen sind sinnlich – sind dunkel – sinnlich und dunkel schon längst als gleichbedeutende Ausdrücke bewiesen – Der elende Trost zur Deutlichkeit – die Abstraktion, die Zergliederung – aber wie weit erstreckt sich der – die Zergliederung geht nicht ins Unendliche fort, denn meine Begriffe sind - - sinnlich. Ich ziehe sie ab, verfeinere sie vom Sinnlichen, bis dieses sich nicht mehr verfeinigen läßt, der grobere Klumpen bleibt übrig siehe das war unzergliederlich. Sinnlich und unzergliederlich sind also Synonyma. Je sinnlicher also ein Begriff desto unzergliederlicher [...].58

Herder behauptete nun, dass es hinter jedem Vernunftbegriff eine sinnliche Erfahrung geben müsse, und dass diese sinnliche Erfahrung dem Zugriff dem abstrakt-analytischen Vermögen der Vernunft unzugänglich sei. Die Vernunfttätigkeit hörte für Herder dort auf, wo sie auf den „groberen Klumpen“ der Sinnlichkeit stieß. Die Sinnlichkeit und die Unzergliederlichkeit erklärte er nun für „Synonyma“. Herder war sich darüber im Klaren, dass er der aufklärerischen Schule widersprach wenn er die menschlichen Begriffe als sinnlich und „dunkel“ bezeichnete. Die abstrakten Begriffe der Aufklärung erklärte er als „elenden Trost“, denn diese können an sich nichts erkennen und die feste Grenze der Sinnlichkeit nicht überwinden. Wenn Herder also unter Gott eine absolute unzergliederliche Einheit verstanden hat, dann musste diese Einheit in seiner Terminologie eine absolute Sinnlichkeit bedeuten: Es (das Sein – A.P.) ist der erste, sinnliche Begriff, dessen Gewißheit allem zum Grunde liegt: Diese Gewißheit ist uns angeboren, die Natur hat den Weltweisen die Mühe benommen zu beweisen, da sie überzeugt hat: - er (der sinnliche Begriff – A.P.) ist der Mittelpunkt aller Gewißheit; [...].59

Das Sein ist für Herder also die absolute Einheit und der „erste, sinnliche Begriff“. Diese sinnliche Einheit musste nicht unbedingt 58 59

Herder: Versuch über das Sein. S.11. Herder: Versuch über das Sein. S.19.

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materiell oder stofflich sein, aber auf jeden Fall sinnlich gegeben und erfahrbar sein. Das ist der entscheidende Punkt, denn auf diese Weise bedeutete das Sein eine absolute, dem Menschen angeborene „Gewißheit“, welche keiner abstrakten Beweise bedürftig ist. Mit dieser Formel begründete Herder eine Logik der Empfindung, die er an die Seite der Vernunftlogik stellte: Nicht die reinen Formen des Denkens, sondern die an den menschlichen Körper gebundene Sinnlichkeit bildete nun den unaufhebbaren Kontext, aus dem der Mensch eine absolute Gewissheit sowohl seiner eigenen als auch der göttlichen Existenz schließen konnte. So entsprach laut Herder die allumfassende Erfahrung der Sinnlichkeit in ihrer Unzergliederlichkeit einer göttlichen Erfahrung, was sie zum „Mittelpunkt aller Gewissheit“ machte. Die Sinnlichkeit bedeutete also in diesem Zusammenhang eine sinnliche Offenbarung der göttlichen Realität. Damit setzte Herder einen „Nullpunkt“ in seiner Philosophie, hier lag das Fundament, welches von Natur aus dem Menschen angeboren ist, und welches „allem zum Grunde“ lag. Herder sagte nicht direkt, ob Gott als Materie oder als Substanz zu verstehen ist. Er lehrte aber ausdrücklich, dass die Erfahrung Gottes als einer absoluten Einheit einen sinnlichen Ursprung bedingte. Diese Annahme sollte aber gleichzeitig bedeuten, dass eine Vorstellung von einem übernatürlichen, transzendenten, aus übersinnlichen Quellen der Vernunft erdachten Gott für Herder schon in seiner Zeit als Student nicht mehr akzeptabel war. Dementsprechend war Gott als eine immaterielle Idee oder als Geist nicht zu denken: […] und - - darf ichs wagen - - - - wo kein Materiale zu denken ist, da ist auch keine innere Möglichkeit60 wo keine innere Möglichkeit ist; da ist eine absolute Unmöglichkeit folglich setzt alle innere Möglichkeit ein Etwas voraus.61

Für Herder war das „Materiale“ eine notwendige Voraussetzung und eine unendliche Potenz zu allem Möglichen. Aus der Notwendigkeit dieses „Etwas“ schloss Herder auch, dass das „Realsein“ und das „logische Sein“ nicht dasselbe sein können: 60

61

„Die innere Möglichkeit“ ist ein Terminus aus dem Kantischen Aufsatz. In unserem Fall ist darunter ohne weitere Erläuterungen eine Potenz zu verstehen, die durch Kraft in die Realmöglichkeit umgesetzt werden kann. Herder: Versuch über das Sein. S.17f.

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Der gemeine Begriff, der Eindruck der Natur davon erklärt genug, daß man hier ein Realsein, der Begriff den das Ideal- und Existentialsein gemeinschaftlich haben, versteht, dessen Kopie das logische Sein ist; welches sich zu ihm, wie die Symmetrie der Farben zum lebenden Original verhält.62

Dies war ein Angriff gegen die Aufklärung mit ihrem Prinzip der rationalen Erkenntnis. Unter dem „Realsein“ verstand er den „Eindruck der Natur“, das heißt die unmittelbare sinnliche Erfahrung des Seins. Das „logische Sein“ dagegen sei nur eine „Kopie“. Herder sprach der Vernunft ihre führende Rolle in der Erkenntnis ab. Ohne die Wichtigkeit der vernünftigen Erkenntnis zu revidieren, verschob er den Akzent derart, dass eine absolute „Gewißheit“ Gottes dem Menschen nun nicht mehr durch die Vernunft, sondern nur durch das Gefühl gegeben war. Die durch die Sinnlichkeit gegebene Realität oder das „Realsein“ war nun für Herder primär, die abstrakten Begriffe der Vernunft oder das „logische Sein“ jedoch waren davon nur abgeleitet und sekundär. Herder behauptete kühn, dass das „logische Wesen“ oder „die Geschäfte der Philosophen“ nicht immer das „Realsein“ „berühren“, was natürlich ihre Erklärungen der Realität in Frage stellen sollte: Geschieht alles logisch Mögliche in der Zeitfolge auf einmal? Niemand wird sich dies zu bejahen getrauen, und also erklärt das logisch Mögliche nichts im Realsein weil man stets das logische Wesen völlig erklärt haben kann, ohne doch das Realsein berührt zu haben, und man dies erkennt ohne jenes einzusehen. – Und dies ist ja das einzige Geschäfte der Philosophen – ja! und muß es auch sein, nur daß sie nicht Schlüsse von diesem logisch Möglichen auf das Realsein machen, daß sie glauben, das Realsein erklärt zu haben, wenn sie den ganz verschiedenen Begriff des logisch Möglichen weit auskramen, und mit jenem vermischen.63

Wir betonen noch ein Mal, dass nach Herder eine abstrakte Erkenntnis stattfinden musste. Diese sollte sich aber in ihrer Tätigkeit nicht auf das „logisch Mögliche“, sondern auf das „Realsein“ beziehen. Würde sie nämlich ihre Schlüsse aus dem „logisch Möglichen“ auf das „Realsein“ übertragen, könne sie im „Realsein“ nichts erklären. Diese Erkenntnisse wären dann nur Träume und Chimären der Vernunft. Unter den Philosophen, welche mit Hilfe von den abstrakt 62 63

Herder: Versuch über das Sein. S.12. Herder: Versuch über das Sein. S.16.

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abgeleiteten Begriffen und Prämissen über die reale Welt urteilen wollen, sind natürlich die dogmatischen Theologen und Metaphysiker zu zählen. In dem Wunsch aber, die Tätigkeit der Vernunft an die Erfahrungen der sichtbaren Welt zu binden, lässt sich die Begründung eines naturwissenschaftlich orientierten Denkens erkennen. Wie lassen sich aber diese zwei Formen des Seins zu einander bringen? Herder bot eine einzigartige Lösung an: Der Mensch war für ihn ein „Beziehungspunkt“ „aller materiellen Grundsätze“, das heißt das Zentrum, in dem das „Chaos der unzergliederlichen und unauflöslichen Begriffe“ in eine Ordnung und eine sinnlichgöttliche Einheit verwandelt wird: Gibts im Chaos der unzergliederlichen und unauflöslichen Begriffe keine Ordnung keine Einheit? […] - - müssen nicht alle diese materialen Grundsätze einen Beziehungspunkt in uns haben; wohlan! und unter die Einheit könnte man sie sammeln. Alle äußerlichen Begriffe also werden als sinnliche qua strictissime tales unzergliederlich sein. – Das Sein ist der allersinnlichste; er ist also der eine total unzergliederliche und alle andere sein dies nur zum Teil, weil sie sich alle in ihn auflösen lassen.

Und weiter: Anbei behält ein jeder Begriff etwas eignes Unzergliederliches in so fern wir ihn empfinden, und das ihn zum besonderen Begriff macht.64

Der Mensch „sammelt“ also „die materialen Grundsätze“ und Begriffe in eine Einheit, welche insofern als unzergliederlich gelten kann, inwiefern sie von dem Menschen empfunden wird. Die menschliche Empfindsamkeit gewann im Denken Herders einen neuen, ontologischen und schöpferischen Wert. Sie brachte den Menschen in den Mittelpunkt, in das Herz des göttlichen Seins, aber nicht als einen desinteressierten Zuschauer, sondern als einen aktiven Mitschöpfer der Welt. Gott ist also laut Herder in den Eindrücken der menschlichen Sinnlichkeit als eine absolute Gewissheit gegeben, welche den kognitiven Kräften der Vernunft entzogen ist. Diese nicht beweisbare Gewissheit des Seins ist der ontologische Ausgangspunkt Herders. 64

Herder: Versuch über das Sein. S.20.

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Außerhalb dieser Gewissheit war Gott kaum denkbar, wonach Herder schloss, dass dem Begriff des Seins ein „materiales“ „Etwas“ vorauszusetzen sei. Die Mannigfaltigkeit dieses „Etwas“ konnte aber als eine göttliche Einheit nur durch und in der menschlichen Empfindung zu einer Ordnung werden. Damit verlieh Herder der sinnlichen Empfindsamkeit des Menschen eine einzigartige, praktisch weltschöpfende Rolle und eine zentrale Stellung in seiner Ontologie. Zum anderen fand Herder in diesen Thesen eine Grundlage für seine Anthropologie.

2.2

Empfinden und Erkennen bei Herder

Die Erkenntnisproblematik der europäischen Aufklärung ist durch die Debatte zweier Positionen gekennzeichnet: Rationalismus und Empirismus. Herder verdankte die wichtigsten Anregungen zu seinem Sensualismus Kant, namentlich seiner Metaphysikvorlesung. Des Weiteren schloss er an den englischen und französischen Empirismus an, vor allem an John Locke’s Essay Concerning Human Understanding (1690), George Berkleys Essay towards a New Theory of Vision (1709), Condillacs Traité des sensations (1754), und Diderots Lettres sur les aveugles (1749). Von den deutschen Aufklärern ist besonders der Einfluss von Wielands Selim (1752), Thomas Abbts Vom Verdienste (1765) und selbstverständlich die Aesthetika (1735) von Baumgarten zu nennen. Für den europäischen Sensualismus gab es zwei große thematische Anregungen: ‚Melyneux’ ‚Problem’ und der ‚Reiz’ Hallers. William Melyneux, vom Beruf Augenarzt, stellte die Frage, ob ein Blindgeborener, wenn er geheilt würde, in der Lage wäre, seine Seheindrücke mit seiner Tasterfahrung zu koordinieren. War dieser Geheilte in der Lage, die ihm schon durch seinen Tastsinn bekannten Objekte durch seine Augen wieder zu erkennen? Melyneuxs Antwort ist negativ. Die zweite wichtige Anregung war die Lehre Albrecht von Hallers von der Irritabilität des Muskels, die im Jahre 1753 in zwei Göttinger Akademieabhandlungen veröffentlicht worden ist. Die Beobachtung, dass die Muskeln auf einen äußeren Reiz nicht mechanisch reagieren, hat eine Grundlagendiskussion in der Physiologie und Psychologie ausgelöst. Herder nahm diese innovativen Entdeckungen der Zeit enthusiastisch auf und seine Interpretation dieser Entdeckungen wurde ihm zu einem wichtigen Bestandteil seiner Philosophie. Dass das Gefühl im Sensualismus

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Herders eine viel tiefgreifendere Rolle spielte als nur eine physiologische Entdeckung, konnten wir schon oben belegen. In dem Text Plastik, der im Jahre 1769 erfasst wurde, finden wir eine weitere Ausarbeitung des Problems. Die Frage nach der Art der wahren Erkenntnis führte Herder mit der Problemstellung von Melyneux ein, beantwortete sie dann aber ganz und gar im Sinne seiner Ontologie. Wenn das Sein „der allersinnlichste Begriff“ ist, dann ist es nicht überraschend, dass auch der Zugang zur Erkenntnis dieses Begriffs sinnlich sein musste. Wie im ontologischen System der analytischen Erkenntnis eine zweitrangige Position zugewiesen wurde, so spitzt Herder nun die Frage nach der wahren Erkenntnisquelle am Beispiel Melyneuxs zu: Dieser berichtete, dass der Blinde, der das Augenlicht wiedererlangt hat, die neuen Seherfahrungen mit dem durch seinen Tastsinn gewonnenen Weltbild nicht koordinieren konnte, er musste alle Gegenstände neu erkennen lernen. Während für Melyneux der Fall zur Erforschung einer physiologischpsychologischen Besonderheit des Menschen diente, benutzte Herder diese einzigartige Situation, um kühn zu hinterfragen, „welcher von beiden Sinnen der Betrüger sei, ob das Gesicht oder das Gefühl?“65 Die Frage lautete, welche Erkenntnisquelle sicherer sei: der Tastsinn oder der Sehsinn? Wird die Welt sinnlich oder abstrakt erkannt? Herder ging auf beide Erkenntniswege ein: Was lehren diese sonderbaren Erfahrungen? Etwas, was wir täglich erfahren könnten, wenn wir aufmerkten, daß das Gesicht uns nur Gestalten, das Gefühl allein, Körper zeige: daß Alles, was Form ist, nur durchs tastende Gefühl, durchs Gesicht nur Fläche, und zwar nicht körperliche, sondern nur sichtliche Lichtfläche erkannt werde. 66

Nach Herder liefert das tastende Gefühl dem Menschen die Erfahrung jeder „Form“ als einen „ganzen Körper“, das heißt allseitig und möglichst vollkommen. Das Gesicht dagegen gibt dem Menschen nur die „Gestalten“, die „Flächen“, welche die Form des Gegenstandes nicht wiedergeben können, denn diese wird vom Auge nur als „Lichtfläche“ erkannt. Deshalb seien die Urteile eines Blinden über die in der Form und durch den Tastsinn sicher gegebenen Gegenstände nach Herder viel „feiner“, „treuer“ und „sicherer“ als eines Sehenden: 65 66

Herder: Plastik. In: Werke. Bd.4. A.a.O., S.247. Herder: Plastik. S.247.

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Es ist erprobte Wahrheit, daß der tastende unzerstreute Blinde sich von den körperlichen Eigenschaften viel vollständigere Begriffe sammelt, als der Sehende, der mit einem Sonnenstrahl hinüber gleitet. Mit seinem umfangreichen, dunkeln, aber auch unendlich geübten Gefühl, und mit der Methode, sich seine Begriffe langsam, treu und sicher zu ertasten, wird er über Form und lebendige Gegenwart der Dinge viel feiner urteilen können, als dem Alles nur, wie ein Schatten, fliehet.67

Das wahre „Sehen“, der wahre Zugang zum Wesen der Dinge und zum Begreifen der Welt war dementsprechend „das unendlich geübte Gefühl“. „Die Dunkelheit“ dieser Erkenntnis ist erhellender und umfangreicher, als die hellsten Betrachtungen der Sehenden, die tatsächlich nur „Erscheinungen“ oder „Schatten“ der Dinge sind. Interessant ist, dass Herder in diesem Zusammenhang an mehreren Stellen das Bild der Platonischen Höhle heranzog: Wie die Welt der materiellen Dinge für Platon nur Schatten der transzendenten Welt der Ideen bedeutete, so wäre die Welt nur Schattenwelt, wenn es in ihr kein Gefühl gäbe. So schloss Herder, dass „das Gesicht nur eine verkürzte Formel des Gefühls“ ist und dass „im Gesicht Traum, im Gefühl Wahrheit“ ist.68 Mit dieser Formel zog Herder eine klare Grenze zwischen der reinen Vernunft Kants und seinem Sensualismus. Obwohl Herder seine Ontologie aus der Beweislogik Kants schöpfte und dessen Beschränkung der Vernunft auf die sinnliche Erfahrung begeistert aufnahm, so konnte er die Aufhebung des objektiven Seins in der reinen Vernunft nicht nachvollziehen. Das ließ Herder an die Jacobische Kantkritik anschließen. Indem Herder die objektive Welt nicht als eine fragliche Konstruktion der transzendentalen Einbildungskraft Kants betrachtete, sondern als ein geheimnisvolles, dunkles, unzergliederliches Ganzes, öffnete er die Türen für eine völlig neue Erkenntnistheorie, Anthropologie und Ästhetik.69 Der Mensch und seine Sinnesorgane nahmen nun den zentralen Platz in der Naturordnung ein. Für unsere weiteren Überlegungen wenden wir uns nun an den etwas später erschienenen Text Herders Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele von 1775. Hier beschrieb er, wie 67 68 69

Herder: Plastik. S.249f. Herder: Plastik. S.250. Vgl. Adler, H.: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichtsphilosophie bei Herder (=Studien zum Achtzehnten Jahrhundert, Bd.13). Hamburg 1990.

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sich der menschliche Erkenntnisprozess aus der Perspektive seines ontologischen Sensualismus erklären ließ. Die „Wahrheit des Gefühls“ war für Herder nicht nur der Tastsinn, sondern eine zusammengefasste „Einbildung“, welche aus „Tönen, Worten, Zeichen und Gefühlen“ besteht, für die „oft die Sprache keinen Namen“ hat. Erkennen bedeutete demnach nach Herder aus diesem „Meere kommender Wellen von Reiz und Gefühl“ ein zusammenfließendes „Eins“ zu erschaffen: Unterlag unsre Seele dem Meere kommender Wellen von Reiz und Gefühl von außen: so gab uns die Gottheit Sinne; von innen, so webte sie uns ein Nervengebäude. […] Innig wissen wir außer uns nichts: ohne Sinne wäre uns das Weltgebäude ein zusammen geflochtner Knäuel dunkler Reize: der Schöpfer mußte schneiden, trennen, für und in uns buchstabieren. […] Hier indes fahren wir fort, daß, so verschieden dieser Beitrag verschiedener Sinne zum Denken und Empfinden sein möge, in unserm innern Menschen Alles zusammenfließe und Eins werde. Wir nennen die Tiefe dieses Zusammenflusses meistens Einbildung: sie besteht aber nicht bloß aus Bildern, sondern auch aus Tönen, Worten, Zeichen und Gefühlen, für die oft die Sprache keinen Namen hätte.70

Ganz neu war hier, dass die Erkenntnis bei Herder mit dem menschlichen Körperbau, mit der Physiologie verbunden war: Durch den Körper und sein „Nervengebäude“ lernt der Mensch die Welt kennen. Diese „Kanäle des Gefühls“ lassen die Reize „von außen“ ins Innere des Menschen zusammenfließen. Erst im Inneren des Menschen, in diesem „sensorum commune“ werden sie zum allumfassenden und unmittelbaren Eindruck des „Realseins“. „Innig wissen wir außer uns nichts“ lautete die entscheidende These Herders.71 Das bedeutete, dass alles, was der Mensch an Wissen erlangt, Produkt seiner eigenen erkennenden Tätigkeit ist, welche nicht durch „eingeborene Ideen“ oder „Kategorien“ etc. bedingt wird, sondern durch die Besonderheiten des menschlichen Körperbaus. Bei Herder hieß das buchstäblich: „Wir empfinden nur, was unsre Nerven uns geben; darnach und daraus können wir auch nur denken“.72 Die wahrgenommene oder die vom Menschen erkannte 70

71 72

Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. In: Werke. Bd.4. A.a.O., S.346ff, 349. Vgl. Gaier, U.: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. A.a.O. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. S.351.

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Empfindung des menschlichen Körpers wird der Zentralbegriff der Herderschen Anthropologie. Die Empfindung ist der zweigesichtige Janus, der einerseits die Offenbarung der Außenwelt und andererseits den Inhalt des inneren Aufbaus des Menschen für Herder bedeutete. Das Denken an sich ist demzufolge aus der Herderschen Sicht keine höhere Fähigkeit des Menschen, sich einer transzendenten Welt zu nähern, und auch kein Mittel und Weg zu einem übernatürlichen Wissen, sondern nur ein gewisser Grad der Empfindungen: Ihr Denken (der menschlichen Seele – A.P.) wird nur aus Empfindung: ihre Diener und Engel, Luft und Flammenboten (die Reize, Gefühle, Empfindungen, die durch das Nervengebäude weitergeleitet werden – A.P.) strömen ihr ihre Speise zu, so wie diese nur in ihrem Willen leben. Sie herrscht, mit Leibniz zu reden, in einem Reich schlummernder, aber um so inniger würkender Wesen. Ich kann mir überhaupt nicht denken, wie meine Seele etwas aus sich spinne und aus sich eine Welt träume? ja nicht einmal denken, wie sie etwas außer sich empfinde, wovon kein Analogon in ihr und ihrem Körper sei. Wäre in diesem Körper kein Licht, kein Schall: so hätten wir auf aller weiten Welt von nichts, was Schall und Licht ist, Empfindung: […] noch wäre kein Begriff dessen möglich. […] …was wir nicht sind, wir auch nicht erkennen und empfinden können. […] Alle Empfindungen, die zu einer gewissen Helle steigen, (der innere Zustand dabei ist unnennbar) werden Apperzeption, Gedanken; die Seele erkennt, daß sie empfinde.73

In diesem anschaulichen Bild wurde der kognitive Prozess der Seele von Herder als ein ambivalenter dargestellt: Die Seele ist wie eine Monarchin, welche sich einerseits der Dienste ihrer Untertanen bedient, anderseits aber gibt es diese Untertanen nur in ihrem Wollen. So ist die Seele laut Herder auf die von den Nerven gelieferten Sinneseindrücke angewiesen, ohne sie wäre sie buchstäblich blind. Aber nicht nur das. Herder behauptete auch, dass die Seele dann auch nicht denken könnte, denn aus sich selbst kann sie keine „Welt erträumen“. Ohne Empfindungen kann es aus dieser Perspektive auch keine Be-griffe geben. Die abstrakten Gedanken sind nur „zu einer gewissen Helle“ gestiegene Empfindungen. Damit werden transzendente Wahrheiten, welche, wie es von dogmatischen Metaphysikern behauptet wurde, die Seele aus sich selbst heraus erkennt,

73

Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. S.353f.

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bei Herder eindeutig als unmögliche Spinnerei und Träumerei erklärt. In diesem erkenntnistheoretischen Punkt vertrat Herder eine ambivalente Position gegenüber dem deutschen Idealismus und der Aufklärung: Einerseits bezog er wie Kant die menschliche Erkenntnis auf die sinnliche Erfahrung, womit er die übernatürliche Erkenntnis ausschloss; andererseits aber beschränkte er die allumfassende Macht der Vernunft im aufgeklärten Denken zugunsten eines geheimnisvollen, undurchdringlichen, aber realen Daseins. Mit dieser originellen Lösung war Herder ein Einzelgänger seiner Epoche und wurde sowohl von den dogmatischen Traditionalisten als auch den konsequenten Aufklärern angefeindet. Was rechtfertigte nun die Annahme einer besonderen Stellung des Menschen in der Natur, welche wir oben angedeutet haben, wenn das Denken einzig von den Sinneseindrücken abgeleitet wird? Die Antwort fand Herder in der angedeuteten Ambivalenz des kognitiven Prozesses: Zwar empfinden auch Tiere über die Sinne, aber sie haben nicht die Fähigkeit, diese Empfindungen zu erkennen. Die Empfindungen strömen auf den Menschen von außen zu, der Mensch seinerseits hat einen besonderen Trieb, von sich aus diese Empfindungen willentlich entgegen zu nehmen und sie sich aktiv zu merken. In der Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) nannte Herder diesen Trieb „die Besonnenheit“,74 in diesem Text einfach „Wollen“:

74

„Aber umgekehrt mußte es auch nach eben diesen Verbindungsgesetzen der haushaltenden Natur sein, daß – wenn tierische Sinnlichkeit und Eingeschlossenheit auf einen Punkt wegfiele, so wurde ein anderer Geschöpf, dessen positive Kraft sich in größerm Raume, nach feinerer Organisation, heller, äußerte, das abgetrennt und frei nicht bloß erkennet, will und würkt, sondern auch weiß, daß es erkenne, wolle und würke. Dies Geschöpf ist der Mensch, und diese ganze Disposition seiner Natur wollen wir, um den Verwirrungen mit eignen Vernunftkräften usw. zu entkommen, Besonnenheit nennen. Es folgt also nach eben diesen Verbindungsregeln, […] daß – wenn der Mensch kein instinktmäßiges Tier sein sollte, er vermöge der freierwürkenden positiven Kraft seiner Seele ein besonnenes Geschöpf sein mußte. […] Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden. […] Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würken, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Auf-

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Ist jedes gründliche Erkenntnis nicht ohne Wollen, so kann auch kein Wollen ohn’ Erkennen sein: sie sind nur Eine Energie der Seele. Aber wie unser Erkennen nur menschlich ist und also sein muß, wenn es recht sein soll; so kann auch unser Wollen nur menschlich sein, mithin aus und voll menschlicher Empfindung. Menschheit ist das edle Maß, nach dem wir erkennen und handeln […].75

Erkennen und wollen sind also für Herder „Energie der Seele“. Es gäbe keinen Gedanken und keinen Begriff, wenn es einerseits keine entsprechende physische Empfindung dazu gäbe, und andererseits die Seele die Empfindung nicht erkennen wolle. Der Mensch nahm also im Herderschen Denken eine aktive erkennende Position der Welt gegenüber an. Die göttlichen Ideen emanieren also nicht aus den Sphären des reinen Äthers, sondern werden vom Menschen aktiv erworben und erarbeitet. Gleichzeitig waren die Besonnenheit und die menschliche Empfindung die Begriffe, die den Menschen als Menschen in der Herderschen Anthropologie definierten. Und weder die Besonnenheit noch die Sinnlichkeit wurden einer göttlichen oder übernatürlichen Natur des Menschen zugeschrieben: der erste Begriff wurde bei Herder als ein besonderer „menschlicher“ Trieb verstanden und der zweite als ein rein körperlicher. Durch die angeborene Besonnenheit besitzt der Mensch laut Herder die Fähigkeit, sich die Empfindungen in seinem Ich zu merken und sie zu systematisieren. Für diese Tätigkeit der Reflexion oder des Sich-selbst-aufbauens braucht der Mensch nach Herder ein besonderes Mittel oder ein Medium des Bewusstseins, welches die äußeren Empfindungen in einen Teil des menschlichen Ichs verwandelt. Dieses Mittel heißt bei Herder die Sprache: Wie aber? hat diese innere Elastizität (die Verbindung zwischen Empfindungen, Gedächtnis, Einbildungen und Selbstbewusstsein – A.P.) keinen Helfer, keinen Stab, an dem sie sich stütze und halte? kein Medium, wenn ich so sagen darf, das sie wecke und ihre Würkung leite, wie wirs bei jedem Reiz, bei jedem Sinne fanden? Ich glaube, ja! und dies Medium unsres Selbstgefühls und geistigen Bewußtseins ist – Sprache. […] Auch in den tiefsten Sprachen ist Vernunft und Wort nur Ein Begriff, Eine Sache: Logos. Der Mensch gaffet so lange Bilder und Farben, bis er spricht, bis er,

75

merksamkeit auf sie richten und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke.“ Johann Gottfried Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Hg. von Hans Dietrich Irmscher. Reclam, Stuttgart 2001, S.28ff. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. S.360.

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inwendig in seiner Seele nennet. Die Menschen, die, wenn ich so sagen darf, viel von diesem innern Wort, von dieser anschauenden, göttlichen Bezeichnungsgabe haben, habe auch viel Verstand, viel Urteil.76

Der Mensch als Mensch wird demnach nicht als Besitzer des göttlichen Nous verstanden, sondern als Inhaber einer „Bezeichnungsgabe“, nämlich der Sprache als einem praktisch physikalischen Mediums des Bewusstseins. Durch dieses Medium treffen die Sinneseindrücke und die Reflexion auf einander und werden als „Begriff“ in „innern Wörtern“ festgehalten. In dieser Verbalisierung der Welt finde so zum einen die Erkenntnis der Welt und zum anderen die Entwicklung und die Ausbildung des inneren Ichs des Menschen statt. So führte Herder einen neuen Begriff in den philosophischen Diskurs ein: Sprachphilosophie. Mit diesem neuen Ideengebäude leitete Herder einen Wendepunkt in der Philosophie, Ästhetik und Literatur ein. Das menschliche Ich konnte nun laut Herder im weiteren Sinne als durch die Sprache besonnene Reize und Empfindungen verstanden werden. Der Mensch ist das, was er in sich, in seinem Ich von der äußeren Welt in inneren Wörtern widerspiegelt. Der Zugang zum inneren Bewusstsein des Menschen ist nun durch das Wort und die Sprache ermöglicht, was später der Psychologie viele Türen eröffnen sollte. Erkennen bedeutet bei Herder also eine ständige Tätigkeit der Reflexion und der Apperzeption der von Außen und durch die Sinne kommenden Reize und Empfindungen. Der wahre Stoff der Erkenntnis ist keine abstrakte und übersinnliche Metaphysik, sondern die reale, tastbare Außenwelt des Menschen: Wollen wir nun der Erfahrung folgen, so sehen wir, die Seele spinnet, weiß, erkennet nichts aus sich, sondern was ihr von innen und außen ihr Weltall zuströmt, und der Finger Gottes zuwinket. Aus dem Platonischen Reiche der Vorwelt kommt ihr nichts wider: sie hat sich auch selbst nicht auf den Platz gesetzt, wo sie stehet; weiß selbst nicht, wie sie dahin kam? Aber weiß sie, oder sollte es wissen, daß sie nur das erkenne, was dieser Platz ihr zeige, daß es mit dem aus sich selbst schöpfenden Spiegel des Universums, mit dem unendlichen Auffluge ihrer positiven Kraft in all-

76

Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. S.357f.

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mächtiger Selbstheit nichts sei. Sie ist in einer Schule Gottheit, die sie sich nicht selbst gegeben [hat].77

Hier stoßen wir nun auf eine ganz spezielle Entdeckung Herders: Der Ort, wo der Mensch lebt, ist seine „Schule Gottheit“, welche Gott dem Menschen durch „den Wink seines Fingers“ gibt, ohne den Menschen zu fragen oder ihm zu erklären, wie und wozu er „dahin kam“. „Die Platonische Vorwelt“ ist der menschlichen Seele nach Herder verschlossen, das einzige, was diese Seele an Gott erkennen kann, ist die natürliche Sphäre oder der Platz, in welchen der Mensch gesetzt wurde und welchen die Seele nur in ihren durch den Körper vermittelten Empfindungen erkennen kann. Die Seele kennt nur das, was der „Platz“ ihr „zeigt“. Für sie bleiben als einziger realer Zugang zu Gott und als einzige Gewissheit Gottes allein ihre eigene Empfindung der Natur. Die Natur ist Gott und außer der Natur gibt es keine übernatürliche Welt. ‚Erkenne Gott!’ muss für die Seele ‚Erkenne deine Empfindungen!’ oder ‚Erkenne deinen Lebensumkreis!’ bedeuten. Was bleibt nun dem Menschen in diesem System an Übernatürlichem? Einzig die Welt des Reizes, welche das Geheimnis des Daseins für den Menschen repräsentiert: […] daß uns etwas reize, wenn wir nicht umhin können, daß es uns nicht reize, wenn der Gegenstand uns so nah liegt, daß er sich an uns reibet, und uns reget. […] Im Grunde nur immer, er reizt, wenn er reizt, und das glaubt ein jeder. Es muß auch geglaubt, d.i. erfahren, empfunden werden, und flieht jedes allgemeine Wortgekram und abstrakte Vorhersehen. Wenn ein Gegenstand, von dem wir nicht träumten, nichts hofften, sich plötzlich so nahe unserm Ich zeigt, daß, wie der Wind die Grasesspitzen, der Magnet den Feilstaub regt, ihm die geheimen Triebe unseres Herzens willig folgen: - was da zu grübeln, zu argumentieren? es ist neue Erfahrung, die wohl aus dem System der besten Welt folgen mag, aber nicht eben aus unserm System jetzt folget.78

An anderen Stellen wird der Reiz mit „Leben“ oder „Funken der göttlichen Kraft“ verglichen. Wir haben oben erwähnt, dass in dieser Frage den entscheidenden Einfluss auf Herder die Endeckung Hallers ausübte, nach der durch den Reiz die übernatürlichen, das heißt unmechanischen Kräfte in Reaktionen des lebendigen Körpers nachgewiesen wurden. So grenzten für Herder der Reiz und die aus 77 78

Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. S.354f. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. S.344f.

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ihm folgende Empfindung an das Unsagbare, woran nur „geglaubt“ werden solle. ‚Es reizt’ hieß für ihn ‚es empfindet’, ‚es lebt’ oder ‚es hat eine Seele’. Der Reiz war für Herder ebenso die höchste unmittelbare Gewissheit, die höchste Demonstration Gottes, welche vor jedem „abstrakten Vorhehrsehen“ unmittelbar im Körper und Seele des Menschen präsent ist. Denn wenn der Reiz da ist, dann ist auch die Erfahrung da, und es gibt in diesem Moment nichts zu „grübeln“ oder zu „argumentieren“. Die weitere Entwicklung dieses Problems werden wir später nachzeichnen und dabei sehen, wie Herder auf die Lehre Leibniz` von den inneren Kräften der Monaden zurückgriff. Die Erkenntnis stößt dadurch auf eine sinnliche, reizende, tastbare und lebendige Metaphysik der Empfindung: Kurz, folge der Natur! sei kein Polype ohne Kopf und keine Steinbuste ohne Herz: laß den Strom deines Lebens frisch in deiner Brust schlagen, aber auch zum feinen Mark deines Verstandes hinauf geläutert, und da Lebensgeist werden.79

Das sinnliche Dasein oder die Natur sind dem Menschen die lebendige, innige und unmittelbare Offenbarung Gottes, gleichzeitig bedeutet sie aber auch den irdischen Werdegang eines Individuums. Diese Worte bedeuten eine enthusiastische Zusammenfassung des Herderschen Erkenntnisprogramms: Der Mensch solle seinem Lebensumkreis und seinem Ich folgen, denn wenn der Reiz mit seinem Reflexionstrieb zusammenfließen, entsteht der Lebensgeist, aus dem die Freiheit erwächst. Daraus aber lässt sich schließen, dass der Mensch in diesem Zustand gleichsam ein König in seiner eigenen Lebenssphäre ist.80 Diese menschliche Sphäre erweist sich nun als die gesamte Natur, denn da der Mensch nicht wie die übliche Tierwelt besondere Anpassungsmittel an eine bestimmte Natursphäre besitzt, sondern vielmehr mit Besonnenheit und Sprache begabt ist, 79 80

Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschliche Seele. S.362. „Ein stummer Mensch, in dem Verstande, wie es die Tiere sind, der auch nicht in seiner Seele Worte denken könnte, wäre das traurigste, sinnloseste, velassenste Geschöpft der Schöpfung und der größeste Widerspruch mit sich selbst! Im ganzen Universum gleichsam allein, an nichts geheftet und für alles da, durch nichts gesichert, und durch sich selbst noch minder, muß der Mensch entweder unterliegen oder über alles herrschen, mit Plan einer Weisheit, deren kein Tier fähig ist, von allem deutlichen Besitz nehmen oder umkommen! Sei nichts oder Monarch der Schöpfung durch Verstand! Zertrümmere oder schaffe die Sprache!“ Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. A.a.O., S.87f.

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die seinen Verstand ausmachen, kann er sich an jede beliebige Natursphäre anpassen. Der Mensch ist demnach wie alle anderen Tiere den üblichen Gesetzen der Natur unterlegen, kann aber über diese Gesetze durch sein eigenes Ich, seine eigene Reflexion und seinen Verstand herrschen. Der Verstand kann dann als ein Befreier des Menschen und das menschliche Ich als ein Herrscher über die Natur interpretiert werden. In der Formel Herders „Kurz, folge der Natur“ ist das Credo der neuen Epoche zu erkennen. Fassen wir das bisher Gesagte noch einmal kurz zusammen: Die Erkenntnis ist bei Herder grundsätzlich menschlich und natürlich in jeder Hinsicht, nämlich durch die Sinnesorgane des Körpers vermittelt und damit auf das „menschliche“ und „real tastbare Maß“ reduziert. Erkenntnis wird durch den besonderen, aber durchaus natürlichen Reflexionstrieb in Worte gefasst und im höheren Sinne als Bewusstsein und Verstand definiert. Sie bleibt dabei immer auf die natürliche Umgebung oder natürliche Lebenssphäre eingeschränkt. Metaphysische Abstraktionen oder übermenschliche Kräfte sind in diesem System nicht existent und werden nicht einmal vermutet: weder in der menschlichen Seele selbst noch in dem Ergebnis ihrer erkennenden Tätigkeit. Die Erkenntnistheorie Herders erweist sich zugleich als Sprachphilosophie und als neue Anthropologie. Gott bleibt dem Menschen als das Reich der Reize und der von ihnen hervorgebrachten inneren Kräfte präsent und offenbart. Damit haben wir grundlegende philosophische Paradigma Herders mitverfolgt: Von seiner neuen ontologischen Auffassung des Seins durch seine Erkenntnistheorie bis zur Position des Menschen in der Natur. Nun stellt sich die Frage, in wie weit wir Herder in unsere Betrachtung über den Nihilismus einbeziehen dürfen? Die Antwort ist eindeutig: Sofern Herder ein Aufklärer war, lässt sich die von uns in früheren Kapiteln angesprochene Problematik des Nihilismus ebenso auf Herder beziehen. Herder als Autor und Philosoph war so wenig ein Nihilist als es Spinoza, Kant, Fichte oder Lessing waren. Für einen dogmatisch gesinnten Kritiker aber kann die Lehre Herders sehr wohl nihilistisch erscheinen, denn er blieb vielen Positionen der Aufklärung treu und gehörte zweifellos zu der Partei der Reformer. Wir haben deutlich aufgezeigt, dass Herder das traditionelle christliche Weltbild wenig berücksichtigte. Wie Kant (und zum Teil auch Spinoza) schränkte er die Tätigkeit der Vernunft auf die sinnliche Erfahrung und damit auf die sichtbare Natur ein und erklärte die transzendenten Welten des christlichen Platonismus für

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Träumerei. Die Vorstellung von einem übernatürlichen, persönlichen Gott blieb Herder ebenso fremd und bedeutete ihm im Grunde eine unbegründete Erdichtung der Philosophen. Aus anderen Prämissen als Spinoza nährte er den Gedanken, das Dasein Gottes dem Dasein der materiellen Natur gleichzusetzen. Die Kritik an den dogmatischen Religionen in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit war allerdings mit der Spinozas verwandt. Ähnlich wie Fichte, doch aus anderen Motivationen heraus rückte er den Menschen und das menschliche Ich in seiner schaffenden, produktiven Tätigkeit in das Zentrum der göttlichen Ordnung. Der aufgeklärt-naturwissenschaftliche Zugang Herders zu den Fragen der dogmatischen Theologie und Lehre ermöglicht es uns, sein Gedankengebäude in die Untersuchung über den Nihilismus einzubeziehen. Denn der angedeutete potentielle Konflikt der tradierten und der neuen Wahrheit, den wir für das Wesen einer möglichen nihilistischen Reaktion halten, ist auch im Herderschen Denken enthalten. Wir zeigten auch, dass Herder den strikten Rationalismus der Aufklärung innovativ überwunden hat, was ihm ermöglichte, ohne der Naturwissenschaft ihren Wert abzustreiten, die Welt wieder als ein Reich der dunklen Reize und unergründlichen Geheimnisse, als eine unerkennbare, aber doch fassbare Einheit zu interpretieren. Im Zusammenhang mit seiner Sprachphilosophie hat Herder für die Aufklärung das Unmögliche vollbracht: Ohne die Bahn der Aufklärung zu verlassen, öffnete er die Tür zur „dunklen“ Ästhetik und damit den Kunst- und Literaturtheorien neuen Formats. In weiterem Sinne kann diese Innovation als ein Versuch interpretiert werden, das in der deutschen Aufklärung immer noch innewohnende religiöse Gefühl zu retten und es mit der Naturwissenschaft zu verbinden. Das Herdersche Denken wird deswegen zu einem einmalig wertvollen Zeugnis der neuen Epoche, wenn wir über den Nihilismus der Romantik sprechen wollen. Nachdem wir nun die Grundsätze der Herderschen Innovationen skizzierten, wollen wir das nihilistische Potential seiner Lehre genauer unter die Lupe nehmen. Dafür wenden wir uns an seine Rezeption des Spinozismus.

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3

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Rezeption und Überwindung des Spinozismus bei Herder

Es ist schwer zu rekonstruieren, wann die erste ernsthafte Auseinandersetzung Herders mit Spinoza stattfand. Bereits 1765 findet sich eine erste Erwähnung Spinozas in den Schriften Herders, doch wahrscheinlich liegt solchen Stellen noch keine tatsächliche Textkenntnis zugrunde. Erst in einem Brief an Johann Wilhelm Gleim vom 15. Februar 1775 finden sich Aussagen zu Spinoza, die auf eine wirkliche Vertrautheit mit der Ethik hinweisen.81 Als sicher darf gelten, dass Spinoza zwischen 1775 und 1780 zu einer beinahe zentralen Bezugsfigur in Herders Denken wurde. Eine nicht unbedeutende Rolle spielte dabei wieder Jacobi: Noch vor der Publikation seiner Schrift Über die Lehre des Spinoza im Jahre 1785 kam es zu einem brieflichen Meinungsaustausch zwischen den zwei Männern zum Thema Spinoza. 1784 wurden diese Diskussionen in privatem Rahmen unter der Teilnahme von Goethe und Matthias Claudius fortgesetzt. Im Februar 1786 schließlich, als sich das Gewitter des Pantheismusstreites gerade legte und Herder eifrig am Text Gott. Einige Gespräche (1787) arbeitete, schrieb er an Gleim: „Ich bin ein Spinozist.“82 Herder suchte und fand bei Spinoza eine Grundlage, auf der er seine vorherigen philosophischen Entwürfe und Intuitionen zu einem einheitlichen und harmonischen System verbinden konnte. Vermutlich beabsichtigte er dadurch einen Gegenpol zu dem Kantschen Kritizismus zu etablieren und so sein Monumentalwerk Ideen 81

82

Rudolf Haym verlegte also die erste ernsthafte Studie Herders der Ethik Spinozas auf das Jahr 1774. Regine Otto versuchte dagegen zu argumentieren, dass Herder mit dem Denken Spinozas schon zu der Zeit seiner Arbeit an Zum Sinn des Gefühls (1769) vertraut war. Die Position von Haym scheint jedoch überlegener zu sein. Da Herder in seiner ganz selbstständigen Denkweise der spinozistischen nicht fern stand, kann daraus noch nicht auf eine Kenntnis des Originaltextes von Spinoza geschlossen werden. Mehr dazu bei Haym, R.: Herder. Berlin 1954; Otto, R.: Herder auf dem Weg zu Spinoza. In: Weimarer Beiträge. 10. 1978, S. 165177. Herder, Johann Gottfried: Briefe. Bd.5. Gesamtausgabe, unter Leitung von Karl-Heinz Hahn. Hg. von den nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Weimar 1977ff, S.172.

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zur Philosophie der Geschichte der Menschheit zu retten. Horst Lange vermutet, dass zu diesem entschiedenen Bekenntnis nicht nur die philosophische Geistesverwandtschaft Herders und Spinozas, sondern auch die oben erwähnte harte Kritik Kants an den Ideen beigetragen haben.83 Wie dem auch sei, die produktive Rezeption des Spinozistischen Systems durch Herder verlief unter dem Zeichen des Pantheismusstreites. Obwohl Herder an der Debatte nicht öffentlich teilnahm, ist wohl vorauszusetzen, dass die in dem Streit aufgeworfene Fragestellung der Epoche ihn zutiefst geprägt hat. So ist der Text Gott. Einige Gespräche (1787) nicht nur als Herders Bekenntnis zum Spinozismus zu interpretieren, sondern auch als sein Versuch, anhand der Spinozistischen Lehre eine universelle Antwort darauf zu entwerfen, wie die Religion mit dem neuen naturwissenschaftlichen Denken zu verbinden ist, beziehungsweise in welcher Form die Religion überhaupt noch denkbar ist. Herder erkannte das enorme Potential des Spinozistischen Systems für die Naturwissenschaft und versuchte nun mit Hilfe dieses Systems, den durch den Spinozismus entzündeten Generationenund Wahrheitskonflikt zu schlichten und zu überwinden. Für dieses Unternehmen musste Herder Spinoza modifizieren und vervollständigen. Die Grundlagen dafür schöpfte Herder aus seiner langjährigen Auseinandersetzung mit Leibniz und seinem Begriff der Kraft und mit dem Sensualismus Shaftesburys. In Verbindung mit Spinoza entstand mit diesen Einflüssen das, was Herder selbst in dem Brief an Jacobi vom 6. Februar 1784 „mein System“84 nannte. Das zwiespältige Verhältnis Herders zu Spinoza prägte auch den inneren Aufbau seiner Schrift: Er versuchte Spinoza zu rehabilitie-

83

84

Lange, H.: ‚Ich bin (k)ein Spinozist’. Warum sich Herders Berufung auf Spinoza gewandelt hat. In: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. Beiträge zur Konferenz der Internationalen HerderGesellschaft. Hg. von Sabine Groß und Gerhard Sauder. Heidelberg 2007, S.253-265. Mehr zum Thema der Spinoza-Rezeption bei Herder vgl. Simmons, D.L.: Spinoza and the Urkunden. Herder’s Exegesis of Genesis in the Context of His Early Studies of Spinoza ca. 1769-1774. In: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur. A.a.O., S.243251; Hammacher, K.: Herders Stellung im Spinozastreit. In: Herder und die Philosophie des deutschen Idealismus. A.a.O., S.166-188. Herder: Briefe. Bd.5. A.a.O., S.27.

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ren und ihn gleichzeitig zu überwinden.85 In der Einleitung der Schrift Gott schreibt Herder: Neue Zeitumstände führten mich unvermerkt zu folgenden Gesprächen. Man würde ihren Zweck sehr verkennen, wenn man sie bloß für eine Ehrenrettung des Spinoza hielte; Spinoza hat diese Ehrenrettung nicht nötig […]. […] Warum ich von ihm ausging, lag Teils in der Reihe meiner Gedanken, Teils in Veranlassungen, die meine Zeit mir selbst darbot.86

Unter den „Zeitumständen“ ist natürlich der Pantheismusstreit und der hinter ihm stehende Generationenkonflikt zu verstehen. Dass die „Ehrenrettung“ Spinozas für ihn kein Selbstzweck ist, sondern ein Mittel für sein „System“, macht Herder unmissverständlich klar: Der mittelmäßige Kopf bleibt mittelmäßig, er möge dem Leibniz oder Spinoza folgen; der bessere denkt überall selbst und nutzt von jedem seiner Vorgänger das Beste.87

Wenn tatsächlich die Überwindung des Generationenkonflikts das oberste Ziel Herders war, erscheint auch die von ihm gewählte Form des dialogischen Textaufbaus plausibel. Herder lässt die fiktiven Philosophen Theano, Theophron und Philolais debattieren, wobei hinter der Figur des Theophron der Autor selbst zu erkennen ist, denn dieser argumentiert an Spinoza orientiert und gelangt durch dessen Interpretation zu einer selbstständigen Lehre.88 Wir möchten nun skizzieren, welche Gedanken Herder direkt von Spinoza übernimmt, wie er seine Lehre transformiert, was genau die Herdersche Antwort auf das Dilemma der Zeit ist und inwieweit das System Herders weiterhin in den Kontext unserer Nihilismusforschung einbezogen werden kann.

85

86 87 88

Horst Lange fasste zusammen, welche vier zentrale Unterschiede einen unüberbrückbaren Graben im Denken Herders und Spinozas aufrissen. In: Lange: Ich bin (k)ein Spinozist. A.a.O., S.256ff. Herder: Gott. Einige Gespräche. In: Werke. Bd.4. A.a.O., S.681. Herder: Gott. S.731. Beim Zitieren werden wir diese Figuren nicht unterscheiden, da die wichtigen Stellen von Theophron kommen und die detaillierte Wiedergabe der Dialoge für uns ohne große Bedeutung ist.

DIE MODIFIKATION DER GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

3.1

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Herder als fleißiger Schüler Spinozas

Die Begeisterung Herders in Bezug auf die Hauptthese Spinozas, dass „die ausgedehnte Substanz eins der unendlich vielen Attribute Gottes sei“,89 kann kaum besser als mit den schon zitierten Worten Goethes ausgedrückt werden: „suche das göttliche in herbis et lapidibus“.90 Wie Goethe will auch Herder Gott nicht mit den abstrakten Begriffen der Theologen suchen, sondern in Steinen und Gräsern: Die Gottheit, in der nur Eine wesentliche Kraft ist, die wir Macht, Weisheit und Güte nennen, konnte nichts hervorbringen als was ein lebendiger Abdruck derselben, mithin selbst Kraft, Weisheit und Güte sei, die eben so untrennbar das Wesen jedes in der Welt erscheinenden Daseins bilden.91

Und: Nicht weise sind seine Gedanken; sondern die Weisheit: nicht gut allein sind seine (Gottes – A.P.) Wirkungen, sondern die Güte: und das alles nicht aus Zwang, nicht aus Willkür, als ob auch das Gegenteil statt haben könnte, sondern aus seiner innern, ewigen, ihm wesentlichen Natur; aus ursprünglicher, vollkommenster Güte und Wahrheit.92

Das Wesen „jedes in der Welt erscheinenden Daseins“ ist nun die „Macht, Weisheit und Güte“ Gottes selbst. Gott sei nicht der Uhrmacher, sondern das Uhrwerk selbst; Gott ist nicht in der Welt präsent, sondern Präsenz, das Dasein der Welt selbst. Diese grundlegende Innovation Spinozas bot der Herderschen Ontologie und seinem Sensualismus eine universelle, theologische Konstruktion, die tragfähig war und von Herder im weiteren Sinne in ein weltanschauliches Konzept verwandelt wurde. Als Herder in seinen früheren Texten schrieb, dass der Begriff der allumfassenden Einheit nur der „Begriff des Seins“93 lauten könne

89 90 91 92 93

Spinoza: Ethik. S.17. Brief an Jacobi vom 9.Juni 1785. In: Goethes Werke. Bd.7. A.a.O., S.62ff. Herder: Gott. S.773. Herder: Gott. S.728. Herder: Versuch über das Sein. S.2.; Vgl. auch das Kapitel II dieser Arbeit: Ontologie Herders.

100

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und dass Gott eine absolute Sinnlichkeit sei,94 wollte er intuitiv etwas ausdrücken, wofür Spinoza bereits eine passende theologische Formulierung gefunden hatte. Vermutlich lag hier der wichtigste Anziehungspunkt des Spinozismus für Herder, welcher nun sein Gottes- und Weltbild für immer prägen sollte. Ein anderer wichtiger Gedanke Spinozas, welcher Eingang bei Herder fand, war die Idee der Notwendigkeit der göttlichen Natur. Die Idee, dass Gott nicht aus freiem Willen, sondern aus den festen und unveränderlichen Gesetzen seiner Natur heraus handelt, war die Grundlage, die eine naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt ermöglichte.95 Die heilige Notwendigkeit der göttlichen Natur bedeutete für Herder einerseits die Offenbarung Gottes in der Natur, andererseits eine ontologische, quasi metaphysische Garantie der Wahrhaftigkeit der menschlichen Erkenntnis: Nach ewigen Gesetzen seines Wesens denkt, wirkt und ist Gott das Vollkommenste auf jede von ihm allein denkbare, d.i. die vollkommenste Weise.96

Diese „ewige[n] Gesetze seines Wesens“ sollen nun bei Herder erforscht werden. Durch das Aufdecken der Gesetze der heiligen Notwendigkeit kann der Mensch in das Herz und das Wesen dessen, wie er vor der Bekanntschaft mit Spinoza sagen würde, „Realseins“97 eindringen. Die bei Spinoza etablierte geometrische Methode fand nun auch bei Herder ihren Platz: Betrachten Sie die Wahrheiten der Geometrie. Für unsre Sinne gibt es vielleicht keinen vollkommenen Zirkel in der Natur; wenn es aber auch keinen gäbe: so ist mir der erdichtete, mathematische Zirkel, mit allem was in ihm nach innerer Notwendigkeit gesetzt, abstrahiert und bewiesen wird, die vollkommenste Demonstration einer selbstständigen göttlichen Wahrheit. Er beweiset mir

94 95

96 97

Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Ontologie Herders. Dass das Thema der Freiheit und der Notwendigkeit weit den Rahmen des philosophischen Diskurses überstieg, belegen die Studien von Werner Kohlschmidt: Dichter, Tradition und Zeitgeist. Gesammelte Studien zur Literaturgeschichte. Bern 1965. Herder: Gott. S.728. Herder: Versuch über das Sein. S.16. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Ontologie Herders.

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nämlich, daß es eine mathematische Vernunft in der Welt gebe [...].98

Die Geometrie ist nun die „vollkommenste Demonstration einer selbständigen göttlichen Wahrheit“. Ein „vollkommener Zirkel“ ist uns laut Herder nicht durch die Sinne erkennbar, sondern durch die Abstraktion unserer Vernunft. Das bedeutet, dass die Vernunft dem Menschen den Zugang zur Wahrheit über die göttliche Natur ermöglicht. Diese Erkenntnis schließt aber aus, dass die Vernunft die Begriffe und das Wissen aus sich selbst heraus als „Hirngespinste“ „erträumen“ dürfe. In diesem Punkt stand die geometrische Methode Spinozas in einem harmonischen Einklang mit dem Herderschen Sensualismus. Auch in Gott behauptete Herder wie schon in früheren Texten,99 dass die Begriffe der Vernunft sinnlichen Ursprungs sind und der sinnlichen Erfahrung im menschlichen Körper entspringen: Substanz, Dasein liege allen, auch den edelsten Kräften unsrer Natur zum Grunde; diese könne nicht in Vernünfterei aufgelöst oder gar durch sie hinwegraisonniert werden. Ohne Existenz und eine Reihe von Existenzen dächte der Mensch nicht, wie er denket; folglich müßte es auch der Zweck seiner Gedanken sein, nicht, sich Hirngespinste zu erträumen und mit Scheinbegriffen und Scheinworten, wie mit einer selbstgemachten Wirklichkeit zu spielen; sondern wie ers nennt, Dasein zu enthüllen, solches als etwas Gegebenes oder (nach seinem Ausdruck) als eine Offenbarung Gottes anzunehmen, über welche und hinter welche man nicht hinauskann. Man müsse also seine Sinne durch Erfahrung, seinen innern Sinn durch Wahrheitsliebe, Ordnung und Zusammenhang im Denken reinigen und schärfen, allen willkürlichen Verbindungen Existenzloser Scheinbegriffe, d.i. dem trägen, toten Nichts entsagen und dafür was da ist, in den Eigenschaften und Beziehungen wie es da ist, kennen zu lernen.100

Durch die Erkenntnis das „Dasein zu enthüllen“, lautete nun das Herdersche Programm, in dem der Einfluss des Kantschen Kritizismus zum Vorschein kam. Die sinnliche Erfahrung der „Existenz und einer Reihe von Existenzen“ ist der legitime Ausgangspunkt jeglichen Wissens und gleichzeitig der einzige Bezugspunkt dieses 98 99 100

Herder. Gott. S.753ff. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Empfinden und Erkennen bei Herder. Herder: Gott. S.749.

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Wissens. Das positive menschliche Wissen kann aus diesen Grenzen der gegebenen „Offenbarung Gottes“ nicht „hinaus“. Sonst wäre die Erkenntnis nur „existenzlose Scheinbegriffe“ und „Scheinworte“. Das dingliche Dasein ist laut Herder gleichzeitig die Offenbarung Gottes und die Grenze der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Über diese dingliche Existenz kann laut Herder nicht hinaus gedacht werden. Mit dieser Korrelation des Spinozismus, Kritizismus und des Sensualismus verabschiedete sich Herder endgültig vom Bild eines transmundanen, persönlich-metaphysischen Gottes: Gott hat keine Seele und es gibt keine Weltseele, weil sonst müßte Gott in sich auf Seele und nicht Seele trennen. Obwohl dieser Ausdruck kann wohl gebraucht werden, um die lebendige, wirkende Kräfte anschaulich zu beschreiben. Genau wie es kein Bild Gottes möglich ist, denn alle Bilder sinnliche Vorstellungen wären.101

Die Vorstellung, dass Gott eine metaphysische, immaterielle „Seele“ haben könnte, war Herder vollkommen fremd. In dieser Frage war er ein Schüler Spinozas und ein Gleichgesinnter von Lessing und auch von Goethe, der „die ganze Lehre von Christo“ als „Scheinding“102 bezeichnete. Die Aussage Lessings, welche der eigentliche Streitpunkt im Pantheismusstreit war, zitierte Herder sogar wörtlich in seinem Text: Philolaus. »Die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich; ich kann sie nicht genießen.« Ich, nachdem mir die Steine des Anstoßes aus Spinoza weggeräumt sind, auch nicht. Das müßige Wesen, das außerhalb der Welt sitzt und sich selbst beschauet, so wie es sich Ewigkeiten hindurch schauete, ehe es mit dem Plan der Welt fertig ward, ist nicht für mich […]. Theophron. Ein solcher Gott ist zwar Orthodoxie der Indier, deren Gott Jagrenat schon viele Jahrtausende her mit über den Bauch geschlungenen, hangenden Armen sitzt und sich wohl befindet. [...] Echt-orthodoxe Götter der Hindu’s! ich sehe nicht, warum der Unsrige ein Jagrenat oder Wistnu sein müßte?

101 102

Herder: Gott. S.759ff. Aus einem Brief an Herder im Jahre 1775. In: Goethes Werke. IV. Bd.95. A.a.O., S.262. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Der Pantheismusstreit.

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Philolaus. [...] Ich lese in Leßing weiter: »  ! Eins und Alles. Ich weiß nichts anders.« - Ich auch nicht; [...].103

Der Vergleich Christus’ mit dem Jagrenat ist natürlich sehr gewagt, aber er zeigt sehr deutlich den Zeitgeist, in welchem sich die besten Köpfe des 18. Jahrhunderts bewegten. Das Christentum wurde als die Religion einer bestimmten Phase in der Entwicklung der Menschheit betrachtet. Die Menschheit befinde sich am Aufbruch zu einer völlig neuen Ära, welche dementsprechend eine neue Religion ins Leben rufen müsste. Die Überwindung des Christentums wurde keinesfalls als ein Übergang zum Materialismus oder Atheismus verstanden, sondern als ein logischer Entwicklungsprozess, der zu einer neuen Form von Religion führen sollte. Vor diesem Hintergrund wird Herders Vergleich von Christus mit dem alten Gott der Hindus verständlich. Im Spinozismus entdeckte er die Vorahnung zu der neuen Form der Religiosität. Aus diesem Grund scheute sich Herder nicht, sich einerseits Lessing anzuschließen und dessen Worte über das „müßige Wesen“ zu wiederholen. Zudem antwortete er auf den Aufruf Lessings, dass er nichts anderes außer dem Spinozismus wisse, lapidar mit: „Ich auch nicht.“

3.2

Der mittlere Weg Herders

Den orthodoxen Gott zu verabschieden und „die Steine des Anstoßes aus Spinoza“ „wegzuräumen“ genügte aber nicht, um den im Pantheismusstreit offensichtlich gewordenen Generationenkonflikt zu überwinden. Die Frage der Zeit, wie eine Religion denkbar ist, welche einerseits ohne einen metaphysischen Gott auskommt und andererseits nicht in vulgären Materialismus abgleitet, sollte von Herder beantwortet werden. Der Spinozismus an sich konnte keine umfassende Lösung anbieten, denn der Begriff der Substanz war dafür zu abstrakt und dem aktuellen Stand der Philosophie des 18. Jahrhunderts nicht mehr gewachsen. Wenn Gott nicht als der Uhrmacher, sondern als das Uhrwerk selbst erklärt wurde, dann musste seine Präsenz und Wirkung in der Welt sinnlich und anschaulich wahrgenommen werden können. Die Gesetze der Notwendigkeit der göttlichen Natur auf abstrakter Ebene zu erforschen und zu bewundern, genügte dem Anspruch an eine neue Religionsform nicht. An diesem Punkt verließ Herder den 103

Herder: Gott. S.739ff.

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Spinozismus und begann das, was er als sein eigenes „System“ bezeichnete, zu entwickeln. Das Dilemma war klar: Wenn der alte metaphysische Gott verabschiedet wurde, so sollte doch die ehemals als böse und endlich betrachtete Materie als ein lebendiger Körper Gottes verstanden werden. An diesem Punkt ließ sich Herder von Leibniz und seinem Begriff der Kraft inspirieren: […] Wissen sie jetzt, wie der Mittelbegriff zwischen Geist und Materie heißt, den Spinoza, um dem cartesischen Dualismus zu entweichen, vergebens suchte? Substantielle Kräfte. Nichts ist deutlicher als dieses und nichts gibt dem Spinozistischen System selbst eine schönere Einheit. Wenn seine Gottheit unendliche Eigenschaften in sich faßt, deren jede ein ewiges und unendliches Wesen ausdruckt: so haben wir nicht mehr zwo Eigenschaften des Denkens und der Ausdehnung zu setzen, die nichts mit einander gemein hätten: wir lassen das anstößige, unpassende Wort Eigenschaft (Attribut) überhaupt gar weg und setzen dafür, daß sie die Gottheit in unendlichen Kräften auf unendliche Weisen offenbare.104

Das Herdersche System beginnt dort, wo er den Unterschied zwischen „Geist und Materie“, zwischen Transzendenz und Immanenz sogar auf der definitorischen Ebene streicht und dafür einen „Mittelbegriff“ einführt: den Begriff der substantiellen Kräfte. Durch ihn gelang es Herder, die Präsenz und Wirkung Gottes in der Materie sinnlich und anschaulich zu demonstrieren und damit den Ansatz Spinozas in gewissem Sinne zu einem logischen Schluss zu führen. Im Begriff der substantiellen Kräfte fand Herder die Lösung für die Frage, wie und auf welche Weise Gott und seine Schöpfung ein und dasselbe ist. Die substantiellen Kräfte – sind die Offenbarung, Präsenz, Gegenwärtigkeit und Demonstration Gottes in der Welt, ja die Welt selbst und damit die besondere, sinnliche und seiende Metaphysik der Welt. Dieser „Mittelbegriff“ war auch die Antwort Herders auf die globale Fragestellung der Epoche, welche im Pantheismusstreit evident wurde: er ist weder das „Scheinding“ Christentum noch vulgärer Materialismus oder gottloser Atheismus. Dem der deutschen Aufklärung innewohnenden Religionsgefühl konnte nun mit einem passenden Begriff und einem plausiblen philosophischen Konzept 104

Herder: Gott. S.709.

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entsprochen werden. Im Ergebnis stand der Rationalismus nun dem Glauben nicht mehr im Wege und umgekehrt konnte der Glaube nun durch die rationale naturwissenschaftliche Erkenntnis nur gestärkt werden. Dank Leibniz konnte Herder sowohl die Idee eines transzendenten, absoluten Geistes als auch die Vorstellung von der toten Materie vollkommen überwinden. Auf dieser Grundlage war es nun möglich, die Offenbarungen der christlichen Metaphysiker endgültig für „Hirngespinste“ zu erklären ohne einen puren Materialismus zu predigen. Die Materie lebe und wirke und diese lebendige Wirkung war laut Herder Gott: Sie (die Materie – A.P.) ist nicht tot; sondern sie lebet: denn in ihr wirken, ihren innern und äußern Organen gemäß, tausend lebendige mannigfaltige Kräfte. Je mehr wir die Materie kennen lernen: desto mehrere derselben entdecken wir in ihr, so daß der leere Begriff einer toten Ausdehnung bei ihr völlig verschwindet.105

Der Begriff der Kraft und ihrer Wirkung war aber für Herder immer noch zu abstrakt und zu wenig fassbar. Er ging nun einen entscheidenden Schritt weiter als Spinoza und behauptete, dass die substantiellen Kräfte organisch wirken: Theophron. Um dies einzusehn, dürfen wir nur betrachten, wie jede dieser substantiellen Kräfte in der Welt wirke. Sie sind doch einig mit mir darüber, Philolaus, daß sie organisch wirke? Philolaus. Allerdings: denn mir ist keine Kraft bekannt, die außer Körpern d.i. ohne Organe sich erweise; ob mir wohl eben so unbekannt ist, wie diese Kräfte und diese Organen sich zusammengefunden haben. […] Denn was nennen wir Körper? was nennen wir Organe? Im menschlichen Leibe z.B. ist nichts unbelebt: von der Spitze des Haars bis zum Äußersten Ihres Nagels ist alles von einer erhaltenden, nährenden Kraft durchdrungen und sobald diese das kleinste oder größte Glied verläßt, trennen es sich vom Leibe. Sodann ist es nicht mehr im Gebiet der lebendigen Kräfte unsrer Menschheit; dem Reich der Naturkräfte aber entfällt sie nie.106

Die Idee, dass die Lebenskraft jedes Körpers die organische Wirkung der göttlichen Kräfte ist, scheint aus der Herderschen Perspektive begründet zu sein: Wenn Gott die Mannigfaltigkeit der Körper 105 106

Herder: Gott. S.710f. Herder: Gott. S.773f.

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der Natur ist, dann kann die göttliche substantielle Kraft nicht außer diesen Körpern wirken, sondern muss sich in ihnen entfalten. Der Naturkörper ist laut Herder die Form, in der die göttliche Kraft wirkt. Dass dieser Gedanke tatsächlich ein Teil des Herderschen „Systems“ und nicht dem Einfluss Spinozas oder Leibniz’ zu verdanken war, wird aus dem besonderen Wert der Reizlehre Hallers in früheren Werken Herders ersichtlich.107 Den allumfassenden Begriff der substantiellen Kräfte hatte er damals noch nicht, aber der Reiz, der „Funke der göttlichen Kraft“, war einer der zentralen Begriffe seines Sensualismus. Auch andere frühere Entdeckungen übernimmt Herder in sein „System“. Die Idee, dass sich die Entwicklung jedes Naturkörpers und damit die Entfaltung jeder Lebenskraft nicht willkürlich, sondern in natürlichen Lebenssphären, im konkreten Raum und in konkreter Zeit vollzieht108: Er schuf das Mögliche und einem unendlichen Verstande mit einer unendlichen Macht begeleitet, ist alles Mögliche möglich. Dies alles nun ist, wie wirs nennen, durch Raum und Zeit, d.i. durch Ordnung verbunden: jedes hervorgebrachte Ding ist durch die vollkommenste Individualität bestimmt und mit ihr umschränkt: […].109

So wie das Empfinden und Erkennen eines Menschen durch die Rahmenbedingungen einer bestimmten Lebenssphäre, eines bestimmten Zusammenhanges von Raum und Zeit eingeschränkt ist, so wirkt auch Gott nicht willkürlich, sondern organisch, und zwar in jedem Körper der Natur an Raum und Zeit gebunden. Dank dieser Bedingung der Entwicklung erhält laut Herder jeder Körper in der Natur seine einzigartige Individualität und Bestimmtheit. Gott ist also nach Herder einerseits die körperliche Materie und andererseits die Lebenskraft dieser Materie. Die Formen, die konkreten natürlichen Organe, in denen diese Lebenskraft in Raum und Zeit zum Ausdruck kommen, sind zwar vergänglich, dem „Reich der Naturkräfte“ aber „entfällt“ die göttliche Kraft nie: Leben ist also Bewegung, Wirkung; Wirkung einer innigen Kraft, mit dem tiefsten Genuß und Bestreben einer Beharrung verbunden. 107 108 109

Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Empfinden und Erkennen bei Herder. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Empfinden und Erkennen bei Herder. Herder: Gott. S.734.

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Und da im Reich der Veränderung nichts unverändert bleiben kann und doch Alles sein Dasein erhalten will und muß: so ist alles in dieser rastlosen Bewegung, in dieser ewigen Palingenesie, damit es immer daure und ewig-jung erscheine.110

Die Ewigkeit der göttlichen Natur bedeutet die ewige Bewegung und Wirkung der göttlichen Kräfte. Die „rastlose Bewegung“ ist also das wahre Attribut der göttlichen Natur. Ohne Bewegung müssten das Leben und die Wirkung enden, was aber unmöglich ist, weil das den Tod Gottes bedeuten würde. Der Tod kann nur die konkreten organischen Lebensformen betreffen, die den Organen innewohnenden Kräfte versiegen jedoch nie: Denn sie (eine Blume – A.P.) selbst ist mit dieser Erscheinung nicht gestorben; die Kraft ihrer Wurzel dauert fort; aus ihrem Winterschlaf wird sie wieder erwachen und aufstehn in neuer Frühlings- und Jugendschöne, die Töchter ihres Daseins, die jetzt ihre Freundinnen und Schwestern sind, an ihrer jungfräulichen, holden Seite. Es ist also kein Tod in der Schöpfung; er ist ein Hinwegeilen dessen, was nicht bleiben kann, d.i. Wirkung einer ewigjungen, rastlosen, dauernden Kraft, die ihrer Natur nach keinen Augenblick müßig sein, stille sein, untätig bleiben konnte; […]. In einer Welt, wo sich alles verwandelt, ist jede Kraft in ewiger Wirkung, mithin in ewiger Verwandlung ihrer Organen: denn diese Verwandlung selbst ist eben der Ausdruck ihrer unzerstörbaren Wirksamkeit voll Weisheit, Güte und Schönheit.111

Es kann also keinen Tod in der Schöpfung geben, da Sterben nur die Verwandlung der „ewig-jungen, rastlosen, dauernden Kraft“ bedeutet. Die Materie stirbt nicht, sondern verwandelt sich in neues Leben, in einen neuen Zusammenhang der organischen Kräfte in Raum und Zeit: Das verwelkte Haar, der verworfne Nagel tritt jetzt in eine andre Region des Zusammenhanges der Welt, in welchem er abermals nicht anders als seiner jetzigen Natur nach wirkt oder leidet. […] So bildete, so erhält sich der Körper; so löset er sich täglich, so löset er sich endlich gar auf. Alles was wir Materie nennen ist also mehr oder minder selbst belebt; es ist ein Reich wirkender Kräfte,

110 111

Herder: Gott. S.790. Herder: Gott. S.789.

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die nicht nur unsern Sinnen in der Erscheinung, sondern ihrer Natur und ihrer Verbindung nach ein Ganzes bilden.112

Durch die Verwandlung bleibt die Materie immer jung und immer lebendig und wirkend. Obwohl die Kräfte in einzelnen, individuellen, organischen Formen wirken, bleibt die Materie durch die Verbindung dieser Kräfte ein „Ganzes“ oder eben das, was Herder unter dem Be-griff Gottes verstanden hat.

3.3

Die nihilistischen Seiten des Herderschen DaseinsKonzepts

Obwohl Herder glaubte, aus der Substanzlehre Spinozas „die Steine des Anstoßes“ „weggeräumt“ zu haben, lässt sich die Gefahr einer nihilistischen Reaktion doch auch auf das System Herders beziehen. Die entscheidende Frage ist dabei wieder, aus welchem Blickwinkel eine Lehre betrachtet wird: Ein Naturwissenschaftler, der Gott in „Steinen und Gräsern“ suchte, konnte den Lösungen Herders vielleicht begeistert zustimmen. Ein der Geisteswelt Jacobis ähnlich gestimmter Leser aber mochte den Ideen Herders mit Skepsis und den schon Spinoza gemachten Vorwürfen begegnen, weil die von Herder übernommene radikale Reduktion Gottes auf das dingliche Dasein den Erwartungen eines Metaphysikers nicht gerecht werden kann. Spinoza zählte den Verstand nicht zur naturenden, sondern zur genaturten Natur Gottes, woraus er später schloss, dass Gott keinen Zweck in seinem Handeln verfolgen kann, da dies bedeuten würde, dass es Gott an etwas mangele, was nicht stimmen könne.113 In diesem Punkt folgte Herder Spinoza buchstäblich: Und welcher Sterbliche wirds nicht tun müssen? sobald er von der innern Notwendigkeit, die durch sich selbst Güte ist, den Blick wegwendet und einzelne, äußere Absichten Gottes nach Konvenienz erraten will. Unvermutet sinkt er in ein Meer erdichteter Endzwecke, die er bewundert oder vermutet, bei welchen er aber den Grund der ganzen Erscheinung, die innere Natur der Sache selbst zu erforschen gar leicht aufgibt. Welche Menge Theodi-

112 113

Herder: Gott. S.774. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Die Religionskritik und der Skeptizismus Spinozas.

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zeen, Teleologien, Physiko-Theologien sind auf Leibnizens schönes Buch gefolgt, die aus Konvenienz dem höchsten Wesen oft nicht nur sehr eingeschränkte, kleine, schwache Absichten unterschoben, sondern meistens auch darauf ausgingen, alles zur Willkür Gottes zu machen, die Kette der Natur zu zerreißen und ein paar Gegenstände in derselben so zu isolieren, daß eben an dieser und jeder Stelle ein elektrischer Funke willkürlicher göttlicher Absicht fahre. Ich gestehe, das ist meine Philosophie nicht.114

So wie Spinoza, schien es auch Herder unmöglich, Gott „schwache Absichten“ zu „unterschieben“. „Äußere Absichten Gottes“ zu „erraten“ seien die Geschäfte der dogmatischen Theologen und bloß „Hirngespinste“ ihrer Phantasie. Gott könne keine oberen Zwecke in seiner Wirkung verfolgen, da er nicht willkürlich, sondern notwendig handeln würde. Wir haben oben gezeigt, dass Herder den Spinozistischen Begriff der Notwendigkeit der göttlichen Natur übernimmt und wie Spinoza Gott den freien Willen und das freie Handeln abspricht. Wenn Gott frei handeln könnte, würden nämlich die Gesetze der heiligen Notwendigkeit ihre Allgemeingültigkeit verlieren, und dem Naturforscher wäre die Erkenntnisfähigkeit genommen. Nur an einem Punkt versuchte Herder Spinoza zu korrigieren, denn die Vorstellung, dass der Verstand zu den Attributen Gottes gehöre und nicht der göttlichen Natur selbst zugeschrieben werden könne, war für Herder wohl doch zu radikal. In diesem Fall dürften dann auch die Menschen keinen Verstand besitzen. Er erklärte die Schwierigkeit damit, dass „Spinoza sich selbst in diesen Sätzen nicht völlig verstanden hat“: [Weil Gott] alle Vollkommenheit auf die vollkommenste Weise besitzet, kann er der vorzüglichsten derselben, des Denkens, nicht ermangeln: denn wie wären sonst Gedanken und Vorstellungsarten in eingeschränkten, denkenden Geschöpfen?115

Und weiter: Wohlan also, eine unendliche, ursprüngliche Denkkraft, der Urquell aller Gedanken ist nach Spinoza Gott-wesentlich; über die unendliche Wirkungskraft in ihm haben wir, diesem System nach, nicht zu zweifeln. […] denn nach Spinoza ist Verstand und Wille 114 115

Herder: Gott. S.732. Herder: Gott. S.724f.

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sogar Eins. […] Was fehlte ihm also, daß er die unendliche Denkund Wirkungskraft nicht verband und in dieser Verbindung das nicht deutlicher ausdruckte, was er in ihr notwendig finden mußte, nämlich: daß die höchste Macht notwendig auch die weiseste Macht, d.i. eine nach innern ewigen Gesetzen geordnete, unendliche Güte sei?116

Einerseits konnte Herder Gott den freien Willen eines persönlichen Gottes nicht zuschreiben, da Gott „keine Seele“ habe. Andererseits zu behaupten, dass in der göttlichen Wirkung, in der göttlichen Organisation der substantiellen Kräfte keine Vernunft existiere, hielt er jedoch für einen Denkfehler. So verstand Herder die „Denk- und Wirkungskraft“ als eine „weiseste Macht“, in der sich die Wirkung von der Vernünftigkeit dieser Wirkung nicht unterscheidet. Einem Naturforscher nun würde vielleicht eine solche Antwort ausreichen, aber kaum einem Menschen, der hinter jedem Lebensereignis einen göttlichen Plan vermutet. Genau diese Denkweise jedoch griff Spinoza mit seiner Kritik an den orthodoxen Religionen an, und Herder schloss sich dem an.117 Wenn auch nicht explizit, so folgte Herder auch der anderen Innovation Spinozas, welche sich aus der Prämisse der Zwecklosigkeit der göttlichen Natur ergab: dem Skeptizismus. So wie Spinoza lehrte, dass die Vorstellungen vom Gut und Böse, vom Schönen und Hässlichen etc. nicht göttlichen, sondern menschlichen Ursprungs seien,118 so schrieb Herder, dass es in der Welt der ewigen Bewegung und Wirkung der substantiellen Kräfte keinen Tod, keine Vernichtung und damit nichts „wesentlich Böses“ geben könne: Wenn alles Mögliche daist und nach dem Principium einer unendlichen göttlichen Kraft dasein muß: so muß in diesem All die geringste, wie die höchste Vollkommenheit dasein; nur alle sind mit der weisesten Güte verbunden und auch in der geringsten ist kein Nichts, d.i. nichts wesentlich Böses.119

Gott ist laut Herder weder gut noch böse, weil er keine übernatürliche Seele hat. An diesem Punkt war Herder wieder mit Spinoza 116 117

118

119

Herder: Gott. S.727. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Die Religionskritik und der Skeptizismus Spinozas. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Die Religionskritik und der Skeptizismus Spinozas. Herder: Gott. S.773.

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einig. Die Wirkung der göttlichen Kräfte ist die sinnliche Güte selbst, das heißt, dass sie genauso allumfassend und ewig jung wie die schaffende Wirkung dieser Kräfte ist. Den Gedanken des Nichts schrieb Herder Spinoza folgend der menschlichen willkürlichen Selbsteinbildung ein, einer „Verödung des Kopfs“: Es ist das Wesen des denkenden Geistes, daß er vom Nichts durchaus keinen Begriff hat und es gehört eine sonderbare Verödung des Kopfs dazu, sich nur einzubilden, daß das Nichts ein denkbarer Begriff sei. […] Die schönste Wahrheit ruhet darauf, nämlich: daß kein Nichts in der Natur sei, daß es auch nie gewesen sei und nie sein werde, weil es etwas Undenkbares, ein Nichts ist.120

Da es in der göttlichen Natur keine außer ihr stehenden metaphysischen Werte geben könne, nach denen Gott streben könne, so könne Gott keine weiteren Ziele verfolgen als die eigene Selbsterhaltung: Er (Gott – A.P.) darf, wenn das Dasein jedes Dinges auf einer innern Notwendigkeit seiner höchsten Weisheit und Güte ruhet, nichts mühsam tragen; alles trägt sich selbst, wie die Kugel auf ihrem Schwerpunkt ruhet: denn alles Dasein ist ja in seinem eignen ewigen Wesen, in seiner Macht, Güte und Weisheit gegründet.121

Gott „ruhet“ also laut Herder „auf einer innern Notwendigkeit seiner höchsten Weisheit und Güte“. Er „trägt“ „sich selbst“ in diesen Gesetzen, und zwar so, dass eine Veränderung der göttlichen Natur unmöglich sei. Nach Außen kann es also keine Entwicklung der göttlichen Natur geben, im Inneren könne aber laut Herder kein Stillstand in der Wirkung der Kräfte eintreten, denn dieser Stillstand würde das Ende des ganzen Daseins bedeuten: […] wenn sie bemerken, daß ohne diesen scheinbaren Tod in der Schöpfung alles wahrer Tod, d.i. eine träge Ruhe, ein ödes Schattenreich wäre, in welchem alles wahre, wirksame Dasein erstürbe. […] Hemmen Sie nun Ein Rad in der Schöpfung und alle Räder stehen stille: lassen Sie Einen Punkt dessen was wir Materie nen120 121

Herder: Gott. S.768. Herder: Gott. S.770.

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nen, träge und tot sein; so ist Tod allenthalben. […] Alles was erscheint, muß verschwinden; es verschwindet sobald es kann, es bleibt aber auch so lange es kann; hier wie allenthalben fallen die beiden Extreme zusammen und sind eigentlich Eins und dasselbe.122

Herder benutzt hier eher zufällig ein sehr anschauliches Bild für sein Daseinskonzept: Die alles verbindende Wirkung der substantiellen Kräfte beschrieb er als den Lauf mit einander verzahnter Räder. Wenn ein „Rad“ „in der Schöpfung“ gehemmt würde, dann blieben alle anderen Räder stehen, was zum Stillstand und zum Tod der ganzen Schöpfung führen würde. Dieses Bild kann das nihilistische Potential des Herderschen Systems veranschaulichen, wenn wir das Wort „Schöpfung“ durch das Wort „Maschine“ ersetzen. Die Schöpfung kann bei Herder als eine perfekt funktionierende Maschine verstanden und beschrieben werden, welche aus unzähligen mit einander verzahnten Rädern besteht, die niemals ruhen oder stehen bleiben. Diese Maschine funktioniert ohne ‚warum’ oder ‚wohin’, ihre Aufgabe ist die Funktion selbst, die rastlose Bewegung an sich, der perfekte Ablauf der Prozesse als solcher. Die Schöpfung ist zwar lebendig, aber es ist eine mechanische, nichts denkende, nichts wollende, nach nichts suchende und ausschließlich mit sich selbst befasste Existenz. Die Räder dieser Maschine bewegen sich nur der Bewegung halber, ohne jedes obere Ziel oder höhere Aufgabe. Diese Maschine funktioniert blind ohne jegliche moralische Werte und ohne zu wissen, was Gut und was Böse und was Liebe und Gnade bedeutet. Es gelang Herder mit dem von Spinoza gegebenen Anstoß, das Dasein jenseits der tradierten metaphysischen Werte123 zu konzipieren und zur logischen Vollendung zu bringen.

3.4

Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder

Herder widmet dem Menschen kaum Raum in seinem Text. Im Fokus seiner Betrachtungen steht nicht das Individuum, sondern das Dasein als solches, weil er den Menschen als ein organisches Teil, als eines der vielen Räder des Daseins betrachtete. Dem Menschen 122 123

Herder: Gott. S.787ff. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Die Religionskritik und der Skeptizismus Spinozas.

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kommt kein besonderer, übernatürlicher Status zu, er wird vielmehr wie alle anderen natürlichen Organisationen als Teil der Zusammenwirkung der göttlichen Kräfte verstanden. Gott selbst besitzt keine übernatürliche Seele und konnte so dem Menschen nichts anderes schenken als das nackte Dasein: Was konnte sie (die Gottheit – A.P.), indem sie auf eine uns unbegreifliche Art Wesen hervorbrachte, was konnte sie ihnen Höheres geben, als was in ihr selbst das Höchste ist, Dasein.124

Analog zu dem göttlichen Dasein, das keine Ziele außer sich selbst kennt und Sinn und Ordnung seiner Existenz in sich selbst trägt, so muss auch der Mensch in sich selbst „der Ordnung nachzusinnen“ versuchen: Kein edleres Geschäft also kennt unser Geist, als der Ordnung nachzusinnen, die der Ewige dachte. Jedes seiner Gesetze ist das Wesen der Dinge selbst, mithin ihnen nicht willkürlich angehängt; sondern Eins mit ihnen. Ihr Wesen ist auf sein Gesetz, sein Gesetz auf ihr Wesen und auf die Verbindung aller Wesen gegründet.125

Und weiter: Wir wollen uns auch bestreben, meine Freunde, den innern Lohn dieser seligen Wesen (der Notwendigkeit und göttlichen Ordnung – A.P.) zu genießen; ja warum dürften wir bei ihnen stehen bleiben, da uns allenthalben in der Natur das Vorbild unsres Vaters selbst vorleuchtet, der im Kleinsten und Größesten ohn’ alle schwache Willkür mit der ganzen Schönheit und Güte einer selbstständigen Vernunft, Wahrheit und Notwendigkeit handelt.126

Die Existenz der körperlichen Natur wird dem Menschen als Vorbild seines eigenen Daseins vorgeführt. Die Natur ist nach notwendigen Gesetzen organisiert und trägt dadurch die Weisheit und die Güte in sich wie „die Kugel ihren Schwerpunkt in sich trägt“. Der Mensch muss demnach seine eigenen Kräfte auch nach den notwendigen Gesetzen organisieren und dadurch zum Genuss seiner eigenen Existenz kommen. Das Leben und die eigene Existenz ist 124 125 126

Herder: Gott. S.767. Herder: Gott. S.735. Herder: Gott. S.767.

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die wahre, „innige Freude“ eines Menschen, „das Gefühl dieser Wirklichkeit ist der einwohnende Lohn seines Daseins“: Zuerst also, jedes Wesen ist, was es ist und hat vom Nichts weder einen Begriff, noch zu ihm Sehnsucht. Alle Vollkommenheit eines Dinges ist seine Wirklichkeit; das Gefühl dieser Wirklichkeit ist der einwohnende Lohn seines Daseins, seine innige Freude. In der sogenannten moralischen Welt, die auch eine Naturwelt ist, hat Spinoza alle Leidenschaften und Bestrebungen der Menschen auf diese innere Liebe zum Dasein und zu Beharrung in demselben zurückzuführen gesucht […].127

Die Vollkommenheit eines Menschen ist seine Wirklichkeit, sie macht seine innige Freude aus. Und wie das Dasein sich selbst genügt, so hat der Mensch als Teil dieses Daseins keinen Begriff von irgendetwas anderem außer seiner eigenen Wirklichkeit, ja er empfindet auch keine Sehnsucht nach etwas außerhalb seiner Wirklichkeit Liegenden. Um diese These anschaulicher zu machen, erlauben wir uns ein vereinfachendes Gleichnis: Das Dasein eines Menschen kann laut Herder mit dem Dasein einer Pflanze oder eines Baums verglichen werden. Dieses Dasein ruht auf den notwendigen Gesetzen ihrer Existenz, steht mit allem in einer Verbindung und bildet ein in sich geschlossenes, selbstgenügsames Ganzes, welches zu nichts strebt, weil es Freude und Sinn in sich selbst trägt. So wie das Dasein keine übernatürlichen moralischen Werte kennt, so liegt das menschliche Dasein ebenfalls jenseits von Gut und Böse, es ist befreit sowohl von den durch das Christentum auferlegten moralischen Vorstellungen als auch von dem christlichen Heilsplan. Die menschliche Existenz ist bei Herder im weiteren Sinne nur auf das körperliche Leben reduziert und konzentriert. In der Schrift Gott widmet Herder der menschlichen Persönlichkeit keine Zeile, er fragt nicht nach der Existenz einer unsterblichen Seele, die dem natürlichen Dasein nicht gänzlich unterliegt. Der Unterschied zu der christlich-dogmatischen Auffassung der menschlichen Individualität ist gravierend. Aus anderen Texten Herders haben wir gesehen, dass er die menschliche Individualität einerseits als ein Produkt eines besonderen Triebes – der Besonnenheit – und der Fähigkeit zu sprechen und andererseits als ein Ergebnis seiner natürlichen Umgebung verstanden hat.128 Dieser Vorstellung ent127 128

Herder: Gott. S.779. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Empfinden und Erkennen bei Herder.

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spricht in diesem Text die von uns schon angesprochene Idee, dass die Individualität nichts anderes als ein durch Raum und Zeit bestimmter Zusammenhang der Wirkung der substantiellen Kräfte ist. Die menschliche Persönlichkeit ist für Herder explizit natürlichen Ursprungs. Aus diesen Vorgaben lässt sich auch schließen, dass Gott in seiner Ganzheit dem Menschen vollkommen verborgen bleiben muss, denn einerseits existiert Gott nicht als eine allumfassende Idee, und selbst wenn sie existieren würde, so fehlen dem Menschen doch die Mittel, sie zu begreifen. Durch den Verstand kann der Mensch in die Gesetze der heiligen Notwendigkeit eindringen und sie auf eine beschränkte Art und Weise erfassen, er kann aber nie aus den vorgegebenen Schranken der natürlichen Existenz ausbrechen. In diesem Punkt blieb Herder ein Schüler des Kantschen Kritizismus. Aber wenn Kant lehrte, dass Gott als eine Idee vorauszusetzen sei, über die wir allerdings aus den Kräften des menschlichen Verstandes nichts Positives wissen können, da sie außerhalb der empirischen Erkenntnis liege,129 so schloss Herder diese Idee aus seinem Daseinskonzept vollkommen aus. Gott kann bei Kant im Sinne einer allumfassenden Idee als ein leerer Raum für die menschliche Erkenntnis verstanden werden, Herder aber behauptete, dass es in der Natur keinen leeren Raum gebe, welcher als Gott zu bezeichnen wäre. Aus diesem Grund wurde der Mensch im Herderschen Daseinskonzept in eine zwiespältige Situation gesetzt: einerseits eröffnete sich ihm die Möglichkeit einer endlosen naturwissenschaftlichen Forschung, andererseits gerät jeder Forscher mit einem metaphysischen Anspruch in die Situation eines unüberwindbaren Agnostizismus. Um deutlich zu machen, dass die Stellung des Menschen im Herderschen Daseinskonzept sich als eine höchst problematische erweist und ein enormes nihilistisches Potential freisetzen konnte, wenden wir uns an dieser Stelle zu einem früheren Text Herders, welcher im Jahre 1769 verfasst wurde: Zum Sinn des Gefühls. Diese Schrift bildet kein einheitliches Gedankengebäude und ist noch vor Herders intensiver Auseinandersetzung mit dem Spinozismus verfasst worden. Sie zeigt aber, inwieweit Herder aus dem eigenen Denken an die Ideen Spinozas heranwuchs und bietet uns gleichzei-

129

Vgl. das Kapitel I dieser Arbeit: Gott als leerer Raum.

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tig einige sehr einleuchtende Textstellen zum Thema der Position des Menschen im Herderschen „System“. Schon Ende der sechziger Jahre suchte Herder nach einer Möglichkeit, die Metaphysik als einen Körper Gottes zu beschreiben. Das Metaphysische der göttlichen Natur versuchte Herder in diesem Text mit der inneren Welt eines Blinden zu vergleichen, der nicht nach außen, sondern in sich selbst schaut: Versuch einer Annäherung, wie sich diese Empfindungen in ihm (in einem Blinden – A.P.) entwickeln. Er fühlt sich selbst: seine Glieder und hat sie sich erklärt (v.n.a). Hier würde eine Physiologie der Seele und des Körpers kommen, die wir noch nicht haben. Er würde sagen, was das ist: ich denke und fühle: ich denke und höre! Hier würde in diesen drei Be-griffen die ganze Metaphysik von Raum, Zeit und Kraft liegen: Kraft: wäre: ich denke; darum würke ich ins Universum darum bin ich Körper Raum: ich fühle: d.i. ich denke in einer eingeschränkten Sphäre Zeit: ich höre: d.i. ich denke Eins nach Eins!130

Die innere Welt eines Blinden wird also als ein inneres Universum beschrieben, das wie ein Körper in den Kategorien der Kraft, des Raumes und der Zeit existiert. Diese Eigenschaften des ertastbaren Körpers schrieb Herder der göttlichen Natur zu: Welche Metaphysik. Gottes Kraft ist also Allmacht; er würkt ins Universum, das sein Körper ist: der Körper seines Gedankens: Gottes Raum ist also unendlich, und er hat also keinen Raum: der Begriff ist bloß eine Verneinung unsrer Eingeschränktheit: Gott weiß nicht, was Raum ist. Gottes Zeit ist unendlich: er weiß von keiner Zeit: der Begriff ist Verneinung unsrer Eingeschränktheit, eine Schwäche nicht alles auf einmal denken zu können.131

Es wird also behauptet, dass Gott als solcher auch ein Körper einer anderen Art ist, der aber Raum, Zeit und Kraft der menschlichen Vorstellungen weit übertreffe.132 Wie die innere Welt eines Blinden 130 131 132

Herder: Zum Sinn des Gefühls. In: Werke. Bd.4. A.a.O., S.236. Herder: Zum Sinn des Gefühls. S.237. Diese Idee aus dem früheren Text finden wir in Gott wieder: „Deshalb aber ist die Welt nicht wie Gott ewig: denn sie ist nur eine Verbindung von Dingen der Zeit. […] Alle Dinge der Zeitenfolge sind bedingt, sind abhängig von einander und von der Ursache, die sie hervorbrachte; keins derselben ist also mit dem Dasein Gottes zu vergleichen. Was die Zeit für

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in den Gedanken dieses Blinden existiert, so ist die Schöpfung ein sinnlicher, tastbarer Gedanke Gottes: So fühlt Gott und tastet gleichsam in der ganzen Welt: so hört er in der ganzen Welt: so denkt er die ganze Welt, die ein Gedanke von ihm ist, der würklich existiert.133

Wenn aber Gott in Begriffen einer körperlichen Existenz (Kraft, Raum und Zeit) gefasst wird, so bildet dieser Körper Gottes eine eigene Lebenssphäre. Diese Lebenssphäre Gottes ist einerseits allumfassend, kann aber andererseits mit der Lebenssphäre eines Menschen nichts Gemeinsames haben, da die göttliche Sphäre die des Menschen in jeder Hinsicht übertrifft. Gott und Mensch stehen für Herder in einem Zusammenhang, aber der Mensch bedeutet Gott nicht mehr als ein Wurm, den er mit Füßen tritt: Gott gehört also zur Welt, und hat sie so durch seinen Gedanken gebauet, wie die Sonne durch ihre Anziehung und Zurückstoßung ihrer Wirbel. Er ist der Gedanke, die Kraft der Welt: ich stehe unter ihm, wie die Erde unter der Sonne; ich habe aber auch meinen Mond, meine Sphäre: ich bin ein Gott in meiner Welt. Ich bin würklich in der Kette mit Gott, wo wie ich in der Kette mit dem Wurm bin, den ich mit Füßen trete.134

Gott ist der Schöpfer und die wirkende Kraft des Universums, er ist der Gedanke, der alles leitet und alles durch sich existieren lässt. Der Mensch ist in dieses Universum eingeflochten, er steht mit allem in einer Verbindung. Diese Existenz des Universums ist aber artig in seine Lebenskreise eingeschlossen,135 und die Kommunikation ist nur innerhalb einer Art möglich. So befinden sich Gott und Mensch in verschiedenen Sphären wie „die Erde unter der Sonne“

133 134 135

die Folge ist: ist der Raum für die Koexistenz. Gott ist durch keinen Raum ausmeßbar, weil er mit keinem Dinge als Seines Gleichen koexistiert; er ist aber die ewige, unendliche Wurzel aller Dinge, so erhaben über unsere Einbildungskraft, daß in ihm aller Raum und alle Zeit verschwindet. Wir endliche Wesen, mit Raum und Zeit umfangen, die wir uns alles nur unter ihrem Maß denken, wir können von der höchsten Ursache nur sagen: sie ist, sie wirket; aber mit diesem Worte sagen wir alles.“ In: Herder: Gott. S.734. Herder: Zum Sinn des Gefühls. S.237. Herder: Zum Sinn des Gefühls. S.237. Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Empfinden und Erkennen bei Herder.

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DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

und, obwohl eine lebendige Verbindung zwischen den beiden da ist, sind sie von ihrer Natur aus etwas ganz Verschiedenartiges. In diesem früheren Text findet sich jene These, welche Herder in seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) später wiederholte: Wenn Gott der Herr in seiner Sphäre ist, so hat der Mensch auch seine Sphäre, über welche er sagen kann: „Ich bin ein Gott in meiner Welt“. Und diese besondere Position in der Natur verdankt der Mensch nicht Gott, sondern seiner natürlichen Fähigkeit, sich diese Herrschaft aktiv zu erobern.136 Diese herausgehobene Position des Menschen in der Natur ändert aber nichts an seiner Ohnmacht gegenüber dem Körper Gottes. Er sei nicht mehr als eine „Laus“, welche ohne weiteres Bedauern zertreten werden könne: Aber wie wenn es einen Gott der Erde, der Sonne; wo ist denn das Leben dieses Köpers? Artig, frage doch eine Laus, eine Made, die sich im Menschlichen Körper nährt, nach dem Leben des ganzen Körpers? Sie nennt höchstens ihren Wald, wenn sie in Haaren, und ihrem Schlamm, wenn sie im Schweiß lebt. Diese kennt sie besser, als der Philosoph mit seinem Vergrößungs Glase, aber auch nichts weiter; das übrige verschwindet für sie ins Unendliche. So auch mit uns. Wir kennen nur Menschen, Tiere, und was unsrer Art ist: das Leben der Pflanzen, kennen wir nicht: das Leben der Metalle, die ohne Zweifel auch leben, nicht; das Leben der ganzen Erde, wo diese Pflanzen, diese Mineral-Adern, Haare, u.s.w. sind; nicht. Wo kann ein Wurm das Ebenbild des Menschen betrachten und wissen, von wem er zertreten wird: er sieht den Menschen nicht, der Mensch ihn nicht: die Philosophie macht uns abergläubisch? Sie gibt uns einen Genius der Erde? Nein! nicht abergläubisch, der Genius hört auf mich so wenig, als ich auf das Schreien eines Wurms! Er ist zu Groß dazu: er spricht nur mit dem Genius des Monds, der Sonne! Ich bin ihm zu klein! Ich [bin] ein Gott auf seinem Rücken und zugleich eine Laus, ein Wurm darauf; also nicht anbeten, nicht rufen, nichts: Er hat mit sich so zu tun, wie ich mit mir, ohne daß ich den Wurm höre wenn ich gehen will und ihn zertrete.137

Diese sehr expressive Textstelle ist besonders wichtig für unsere Untersuchung. Denn Herder wechselt hier die Perspektive und lässt 136 137

Vgl. das Kapitel II dieser Arbeit: Empfinden und Erkennen bei Herder. Herder: Zum Sinn des Gefühls. S.238f.

DIE MODIFIKATION DER GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

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den Menschen zu Gott sprechen: „[...] der Genius hört auf mich so wenig, als ich auf das Schreien eines Wurms! [...] Ich bin ihm zu klein!“ Dieser Aufruf ist die beste authentische Illustration Herders zu der Gefühlslage des Menschen vor dem Angesicht Gottes. Dem Menschen ist bewusst, dass er „ein Gott auf seinem Rücken“, aber eben gleichzeitig auch „eine Laus“ sei. Bestimmend für das Leben des Menschen ist einerseits seine Einsicht in die ihm gegebene Herrschaft über die Natur und andererseits sein Wissen über seine absolute Nichtigkeit und seinen Agnostizismus. Herder verschärfte aber den Gedankengang noch dadurch, dass er die Beziehung von Gott und dem Menschen nicht allein durch den Begriff der Artigkeit des Daseins beschrieb, sondern auch durch die der Vernichtung, der Gleichgültigkeit und Erbarmungslosigkeit. Gott könne den Menschen genau so gleichgültig und unbekümmert „zertreten“, wie der Mensch einen Wurm oder eine Laus zertritt.138 Der Text Zum Sinn des Gefühls erscheint ungenau ausformuliert und dabei etwas verworren und brüchig. Vielleicht liegt hier ein Grund dafür, dass uns in diesem Text deutlich die nihilistische Seite des Herderschen „Systems“ begegnet, welche Herder selbst wohl auch bewusst war. Wir fragen nun nach der Idee eines Lebens nach dem Tode im Herderschen Daseinsentwurf. Da der Mensch eine organische Organisation der wirkenden Kräfte und damit ein Teil des Daseins Gottes sei, könne sich der Mensch seine eigene „Zerstörung“ nicht vorstellen, wie Herder in seiner Schrift Gott deutlich zu machen versucht: In Gott ists der Grund und Inbegriff alles Genusses, die Wurzel aller seiner unendlichen Kräfte; in jedem daseinden Dinge nicht minder. Aller unsrer Abhängigkeit ohngeachtet sind oder dünken auch wir uns Substanzen und fühlen unser Dasein mit so inniger Gewißheit, mit so sanfter Liebe und Freude, daß wir an die Zer-

138

In diesem Zusammenhang scheint Heideggers Interpretation des Nihilismus bei Nietzsche sehr einleuchtend zu sein, und zwar seine Feststellung, „ …daß die Namen Gott und christlicher Gott im Denken Nietzsches zur Bezeichnung der übersinnlichen Welt überhaupt gebraucht werden. Gott ist der Name für den Bereich der Ideen und der Ideale.“ Und weiter: „Das Wort ‚Gott ist tot’ bedeutet: die übersinnliche Welt ist ohne wirkende Kraft.“ In: Heidegger, M.: Holzwege. Frankfurt a.M. 1950, S.199ff. Vgl. Jonas, H.: Gnostik und spätantiker Geist. Göttingen 1934.

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störung unsrer nicht nur ungern denken, sondern auch mit aller Gewalt sie uns nicht vorstellen vermögen.139

Diese Worte lassen aber Raum für den Zweifel, dass eine solche Antwort einem Menschen, der doch auf die Unsterblichkeit seiner Seele baut oder zumindest hofft, ausreichen kann. Die tröstenden Worte, dass jene ewigen Kräfte, die den menschlichen Körper eine Zeitlang am Leben erhalten, ja nie vergehen werden, können bei einem selbst reflektierenden Individuum wohl wenig bewirken. Herder lehrte explizit, dass jede Form der Organisation der göttlichen Kräfte, also auch der Mensch, naturgemäß vergänglich ist: Theophron. Die Welt ist also auch mit Gott nicht gleich ewig? Philolaus: Sie kann dies nicht sein, weil sie Welt d.i. ein System der Dauer zu- und nach einander geordneter Dinge ist, deren keinem das absolute Dasein oder die unwandelbare Ewigkeit ohne Maß und Zeitendauer zukommt. [...] ...kein Geschöpft aber ist ewig wie Gott.140

Mit der Reduzierung der individuellen Existenz des Menschen auf seine Körperlichkeit sprach Herder also dem Menschen jede Möglichkeit nach einem irgendwie gearteten Weiterleben seiner Individualität ab. Dieser Gedanke mag vielleicht einem modernen Naturforscher akzeptabel erscheinen, für einen Menschen jedoch, der mit der Idee der Unsterblichkeit der Seele aufgewachsen war, musste er schockierend wirken. Als Konsequenz einer solchen Daseinsauffassung könnte eine kosmische Entwertung der eigenen Existenz des eigenen Ichs und des Dasein als solchen stehen. Es wird deutlich, dass Herder durch seine Rezeption des Spinozismus einerseits einen klaren mittleren Weg aus dem Dilemma der Zeitepoche entworfen hat. Andererseits musste aber die traditionelle Anthropologie an die neue Daseinslehre angepasst werden, was zu nihilistischen Impulsen führen musste. Wir versuchen nun, dieses Kapitel, in welchem das „System“ Herders untersucht wurde, zusammen zu fassen. Wir versetzen uns dazu in die Perspektive eines Menschen, der nicht bereit ist, sein persönliches, individuelles Ich ausschließlich mit dem Dasein der Natur zu identifizieren bzw. sich selbst auf seine Naturhaftigkeit zu reduzieren. 139 140

Herder: Gott. S.767. Herder: Gott. S.706.

DIE MODIFIKATION DER GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

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Der Mensch wird im Herderschen Entwurf durch seine besondere, aber natürliche Gabe zur Reflexion zum Monarchen der Natur erklärt. Er lebt in einer Welt der geheimnisvollen Reize, er empfindet unmittelbar durch seine organischen Sinne die Präsenz, die Offenbarung und die Wirkung Gottes. Dem Menschen sind der kosmische Genuss, die kosmische Freude seines Daseins und die absolute Freiheit gewährt. Diese Gaben scheinen aber dem sich selbst reflektierenden Ich angesichts des Wissens um den Tod keinen genügenden Trost bieten zu können, bedeutet doch für das individuelle Ich der Tod die restlose Auflösung im Nichts. Bedeutet die größte Freude des Menschen seine eigene Existenz, so muss er sich in jedem Augenblick dieses Daseinsgenusses der Endlichkeit seiner persönlichen Existenz bewusst sein. Der Gedanke an den Tod bedeutet dann die immerwährende Entwertung der Existenz des Individuums, denn außerhalb dieser irdischen Existenz bleibt dem Individuum kein anderes Ziel und keine höhere Erwartung. Nach Herders Modell gibt es also in diesem Universum für den Menschen überhaupt keine Ziele mehr, auch keine verborgenen oder unerkennbaren.141 Gott ist demnach nicht mehr ein liebender, fürsorglicher Vater, mit dem er in einer persönlichen, individuellen Verbindung stehen und dadurch seinem Leben einen überpersönlichen Wert verleihen kann, sondern eine selbstgenügsame, nur der eigenen Notwendigkeit gehorchende Macht. Für den Menschen erscheint dieser Gott dann als blinde, in seiner Notwendigkeit fürchterliche und dem Menschen gegenüber gleichgültige Gewalt oder Maschine, welche pausenlos und ohne erkennbaren Sinn waltet und welche jedes einzelne Individuum zu einer restlosen Vernichtung verdammt und welche bereit ist, den Menschen jederzeit als einen „Wurm“ zu zertreten. Dies war der Preis, den Herder, Spinoza und andere Aufklärer für eine Modernisierung die Religion zahlten, mit der sie das trans141

Vgl. wie diese Situation Hermann Rauschning beschreibt: „Die Fragen werden nicht mehr gefragt, und Antworten auf Fragen, die nicht mehr gestellt werden, bleiben leere Worte. Fragen nach einem Sinn sind sinnlos geworden. Der Mensch zweifelt nicht mehr, weil es nichts zu bezweifeln gibt. Er zweifelt und fragt nicht mehr, nicht weil er im Besitz der Wahrheit und Wirklichkeit ist, sondern weil es weder Wahrheit noch Wirklichkeit, weder Sinn noch Bestimmung in seinem Dasein gibt.“ In: Masken und Metamorphosen des Nihilismus. A.a.O., S.9.

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DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

zendente Numinose verweltlichten und auf eine natürlich wirkende Kraft reduzierten. Dieses dem damaligen philosophischen Diskurs angemessene Denken beraubte die Religion wesentlicher Dimensionen, die letztlich zum Verlust von Weltorientierung führen können. Zugespitzt wäre zu fragen, ob man überhaupt noch von „Gott“ sprechen kann, wenn dieser auf eine im Organismus des Individuums und in der Umwelt wirkende Kraft reduziert wird. Das Individuum stand mit der neuen Daseinslehre Herders auch in der Problematik, dass Moral und Ethik, die Fragen nach Gut und Böse, keinen allgemeinen, kosmischen Wert mehr haben konnten und vielmehr persönlich ohne bindende Orientierung durch die Religion beantwortet werden mussten. In letzter Konsequenz musste jede eingenommene Haltung in Fragen der Moral eine persönliche Einbildung bleiben. Im Kosmos sind ethische und moralische Werte nicht eingeschrieben, das All ist vielmehr durch mathematische Gesetze organisiert. Die Gefährdung eines sich in seinem Handeln orientierungslos, verlassen und machtlos fühlenden Individuums, das sich ganz auf sich selbst zurückgeworfen sieht, liegt auf der Hand. Wir können vermuten, dass die Dekonstruktion des christlichen Gottesbildes, welche in der Rezeption der Naturphilosophie Spinozas vollzogen wurde, in seinem inneren Wesen die Gefahr einer existentiellen Krise des menschlichen Individuums trägt.142 Den Kern dieser Krise hat Nietzsche in seiner Definition des Nihilismus erkannt, er erklärte, dass „die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‚Warum?’“143

142

143

Vgl. Walter Böchner zu dieser Erfahrung: „Eine ungeheuere Veränderung ist da mit dem Menschen vorgegangen. Der Mensch ist nicht mehr in der Welt zu Hause, er steht vielmehr dem Ganzen der Welt gegenüber, er stellt sie im Ganzen in Frage. Er ist aus ihr herausgelöst, von ihr frei geworden. Und doch bleibt die Welt da, der Mensch steckt in ihr darin und kann nicht aus ihr heraus. Er ist sogar ein Teil von ihr. Es gibt keine Sphäre, wohin die Welt nicht reichte, sie läßt seiner Freiheit keinen Raum, sie engt ihn aufs äußerste ein, sie ängstigt ihn.“ In: Im Strudel des Nihilismus. A.a.O., S.10. Friedrich Nietzsche: Der Nachlass der Jahre 1885-1889. In: Kritische Gesamtausgabe der Werke Nietzsches. VII,2. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin 1967, S.14.

DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

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B Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik als Reaktion auf die neue Weltanschauung 1

‚Poetischer Nihilismus’ als Selbstreflexion der Romantik

1.1

Die deutsche Romantik als Schnittstelle zur Makroepoche der ästhetischen Moderne und des europäischen Nihilismus

Die deutsche Romantik markierte nicht nur eine grundlegende Wende in der deutschen nationalen Literatur, sondern bedeutete auch den Anbruch der ästhetischen Moderne1 in Europa. Soweit die Moderne als eine Makroepoche in der Geistesgeschichte Europas verstanden werden kann,2 so gibt es sowohl interdisziplinär als auch innerhalb der verschiedenen methodologischen Ansätze der Literaturwissenschaft einen gewissen Konsens, die Makroepoche der Moderne in der von Reinhart Koselleck so genannten Sattelzeit um 1800, im weiteren Sinne zwischen 1750 und 1850, beginnen zu lassen. Damit stimmt sowohl der philosophiehistorische Modernebegriff von Jürgen Habermas3 wie der soziologische von Niklas Luhmann4 überein, und innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft konzentrieren sich systemtheoretische,5 problemgeschichtli-

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5

Vgl. Silvio Vietta, Dirk Kemper (Hg.): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik. München 1998. Vgl. Kemper, D.: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: Ästhetische Moderne in Europa. A.a.O. S.96-126. Habermas, J.: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. 3.Aufl. Frankfurt a.M. 1986. Luhmann, N.: Gesellschaftskultur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. 4 Bde. Frankfurt a.M. 1980-95, Bd.3, S.155. Plumpe, G.: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995.

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che6 und produktions- wie rezeptions-theoretische7 Ansätze auf die Epochenschwelle um 1800. Die mit der deutschen Romantik angestoßenen Modernisierungsprozesse in Europa8 verliefen nicht linear und kohärent, aber die als Katalysator wirkende Französische Revolution führte zu einem prinzipiellen Bruch mit der traditionellen Ständegesellschaft und zu der Modernisierung des sozialen, politischen und ökonomischen: kurz des gesamtgesellschaftlichen Lebens Europas.9 Die durch die Romantik in der ästhetischen Moderne Europas etablierten Leitideen der Autonomie, Reflexivität, Freiheit und Selbstbestimmung waren durch die europäische Aufklärung vorbereitet und in die Wege geleitet worden. Die europäische Aufklärung – nach Foucault die „Ermöglichung der europäischen Moderne“10 überhaupt – mit ihrem auf die Philosophie und Politik ausgreifenden Konzept einer allgemeinen menschlichen Vernunft, mit der Selbstreflexivität ihres Denkens, mit ihren Freiheits- und Rationalisierungsansprüchen, aber auch mit den durch sie eingeleiteten oder forcierten Entmythisierungs- und Säkularisierungsprozessen,11 mit ihrem Experimentalgeist und ihrem kritischen Bewusstsein, bildete den Nährboden der Romantik und der ästhetischen Moderne überhaupt. So kann und soll die Romantik einerseits als eine eigenständige und revolutionäre Epoche betrachtet werden,12 andererseits 6

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Vietta, S.: Die literarische Moderne. Eine problemgeschichtliche Darstellung der deutschsprachigen Literatur von Hölderlin bis Thomas Bernhard. Stuttgart 1992. Vgl. Bloom, H.: Einfluß-Angst. Eine Theorie der Dichtung. Basel, Frankfurt a.M. 1994; Steinmetz, H.: Moderne Literatur lesen. Eine Einführung. München 1996. In der Romantikforschung ist seit langem auf die Modernität dieser Epoche hingewiesen worden. Vgl.: Modernität der Romantik. Hg. von Dieter Bänsch. Stuttgart 1977; Die Aktualität der Frühromantik. Hg. von Ernst Behler, Jochen Hörisch. Paderborn 1987. Vgl. Vietta, Kemper: Einleitung. In: Ästhetische Moderne in Europa. A.a.O., S.1-55. Foucault, M.: Politics, Phylosophy, Culture. Interviews and other writings 1977-1984. New York 1988, S.94. Vgl. Vietta, S., Uerlings, H. (Hg.): Ästhetik- Religion- Säkularisierung. Bd.1: Von der Renaissance zur Romantik. München 2008. Vgl. Herbert Uerlings: „Die Verbindung zwischen der Romantik und der Moderne unter dem Vorzeichen der Selbstreflexion ist von Beginn an gut zu erkennen. Die Romantik ist eine Folge der seit dem 17. Jahrhundert

DER ‚POETISCHE NIHILISMUS’ IN DER ROMANTIK ALS REAKTION AUF DIE NEUE WELTANSCHAUUNG

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muss auch ihre Nachkommenschaft der Aufklärung betont werden.13 14 In diesem Kontext soll das Verhältnis Herders zur deutschen Romantik und explizit zu dem Jenaer Kreis betrachtet und verstanden werden. Herder war Aufklärer, aber als Vertreter des Sturm und Drang und als Sprachphilosoph und Befürworter der „dunklen Ästhetik“ Baumgartens wies er der Romantik den Weg. Wir kamen an mehreren Stellen dieser Untersuchung auf die Ambivalenz Herders in Bezug auf den Rationalismus zu sprechen. Wir stellten dabei fest, dass er in seinem „System“ versuchte, den Rationalismus durch den Sensualismus zu bereichern und zu erweitern. Gerade dieser Ansatz macht sein Denken so bedeutsam für unsere Arbeit. Die durch Herder modifizierte Aufklärung begründete viele Erscheinungsformen der Romantik: die Innerlichkeit, die Selbstreflexion, das Empfinden und Erkennen, den Naturalismus etc. Das Verhältnis des Herderschen „Systems“ zur Romantik kann als eine Relation der Theorie zur Praxis beschrieben werden. Denn das Herdersche Konzept ist rein philosophisch und abstrakt-theoretisch, die Romantik dagegen ist mehr Praxis, Erfahrung, ins Leben gerufene Theorie. Es ist kein Zufall, dass das Medium des romantischen Denkens und Philosophierens die Literatur und im weiteren Sinne die Kunst geworden ist. Die Kunst vermag passend zum Ausdruck zu bringen, was ein subjektives Ich in der Welt erlebt und erfährt, aber nicht abstrahiert und analysiert.

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14

geführten „Quere des Anciens et des Modernes“, des „Streits der Alten und der Modernen“, d.h. der Infragestellung der unbezweifelbaren Gültigkeit der Antike als Norm für die Kunst der eigenen Zeit.“ In: Theorie der Romantik. Hg. von Herbert Uerlings. Reclam, Stuttgart 2000, S.15. Vgl. Herbert Uerlings: „Wenn man dies berücksichtigt, dann läßt sich die Romantik als Produkt eines aufklärerischen Denkens bezeichnen, das keine zeitlose Normativität mehr anerkannte, sondern Kultur in Relation zu ihrer Zeit und ihrem Ort setzte und sich selbst als Beginn einer im ewigen Werden befindlichen Moderne verstand.“ In: Einleitung. In: Theorie der Romantik. A.a.O., S.14. Vgl. unter anderem: Behler, E.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Paderborn 1993; Pikulik, L.: Frühromantik. Epoche-Werke-Wirkung. München 1992; Bohn, V. (Hg.): Romantik. Literatur und Philosophie. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt 1987. Die Tradition, die Romantik der Aufklärung gegenüberzustellen, hat ihren Ursprung in der Vorlesung August Wilhelm Schlegels Über Literatur, Kunst und Geist des Zeitalters (1803) und ist von der Germanistik und Literaturwissenschaft bis heute nicht ganz überwunden worden.

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DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

Aus diesem Diskurs lässt sich auch der romantische Nihilismus besser fassen. Wenn der Nihilismus in der Theorie des aufgeklärten Denkens verankert ist (was wir an den Beispielen Kants, Fichtes, Spinozas und Herders zu zeigen versuchten), so muss er auch in der Romantik auftreten, aber in einer anderen Form: als durch ein Kunstwerk ans Licht getragene Erfahrung des Nihilismus. Wir vermuteten den Nihilismus in der Aufklärung als eine Folge des Wahrheitskonflikts zwischen dem traditionellen und dem aufgeklärten, den Weg der ästhetischen Moderne vorbereitenden Denken. Die Verwurzelung der Romantik in der Aufklärung führte Werner Kohlschmidt, den erster Forscher des Nihilismus der Romantik, zu der These, dass der romantische Nihilismus bereits „programmatisch da“ sei und dass er „aus der Mitte romantischen Lebensgefühls“15 wachse.16 Aber bisher bewegte sich dieser Wahrheitskonflikt innerhalb der theoretischen Studien, nun bekam er mit dem Aufbruch der Romantik eine neue Dimension und Dringlichkeit als ein tief greifender Generationenkonflikt. So müssen wir das Herdersche „System“ in die Untersuchung über den Nihilismus der Romantik mit einbeziehen, weil sich, wie noch zu zeigen sein wird, das nihilistische Potential des Herderschen Daseinskonzepts in der Romantik wieder findet. Es ist schwer feststellbar, ob Herders Text Gott einen direkten Einfluss auf die romantische Theorie hatte, aber man kann sicher davon ausgehen, dass dieser Text im Jenaer Kreis zumindest bekannt war. Auch seine Sprachphilosophie und sein Sensualismus, direkt vermittelt wie im Falle Wackenroders und Tiecks oder indirekt durch Hamann bekannt gemacht, sollte einen Beitrag zur romantischen Ästhetik leis15

16

„Der Nihilismus ist hier nicht eigentlich spekulativ. Er ist auch nicht existentiell in der Lebensform des Helden oder der Sinnbildlichkeit des Motivs beschlossen. Er ist hier sozusagen programmatisch da. [...] Wächst hier doch bewußter Nihilismus aus der Mitte romantischen Lebensgefühls und in reiner romantischer Form.“ In: Kohlschmidt, W.: Form und Innerlichkeit. A.a.O., S.176; Vgl. Hillebrand, B.: Die verwegene Schule der Romantik. In: Ästhetik des Nihilismus. Von der Romantik zum Modernismus. Stuttgart 1991; Gillespie, M.A.: The dawn of the demonic. Romanticism and nihilism. In: Nihilism before Nietzsche. A.a.O., S.101-135. Vgl. eine neuere Studie zum Problem des Nihilismus in der deutschen Literatur von Zofia Moros: Nihilistische Gedankenexperimente in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Georg Büchner. In: Posener Beiträge zur Germanistik. Bd. 17. Frankfurt a.M. 2007.

DER ‚POETISCHE NIHILISMUS’ IN DER ROMANTIK ALS REAKTION AUF DIE NEUE WELTANSCHAUUNG

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ten. Es ist auch bekannt, dass das Interesse der Romantiker (vor Allem von Brentano und den Brüdern Grimm) an Volksdichtung, Volksmärchen, Volkssagen und natürlich an Volks- und Muttersprachen unter dem direkten Einfluss der Herderschen Ideen der nationalen Literatur, Humanität und den Ideen zur Geschichte der Menschheit entstanden ist. Auch die Theoretiker der Romantik neigen dazu, eine revolutionäre Romantik von einer restaurativen17 zu scheiden. Unter der revolutionären Romantik werden die allumfassende Modernisierung und der Umbruch zur Epoche der ästhetischen Moderne verstanden. Unter dem restaurativen Aspekt versteht man aber das romantische Interesse für den Historismus, für die altdeutsche Literatur und die allgemeine Tendenz der Romantik, ein verloren geglaubtes Ideal in der Geschichte oder in der Zukunft wieder finden zu wollen: die aktuelle Geschichtlichkeit wird von einem schon im Ansatz antiquierten Historismus abgelöst. Dieser Wunsch nach der Restauration einer idealen Welt wird meistens mit den Schmerzen des Verlustes der gegenwärtigen Ideale oder mit der gegenwärtigen Erfahrung des Nihilismus verknüpft. So klagte Novalis über den jetzigen Zustand des Menschen: „Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge“,18 was nichts anderes bedeutet, als dass der Mensch nach Transzendenz strebt, aber nur die nackte materielle Welt vorfindet. Dieser Erfahrung entsprang dann das berühmte frühromantische Programm des Novalis´: die Welt müsse „romantisiert“ werden: Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisiren ist nichts, als eine qualitative Potenzirung. Das niedre Selbst wird mit einem bessern Selbst in dieser Operation identificirt. So wie wir selbst eine solche qualitative Potenzenreihe sind. Diese Operation ist noch ganz unbekannt. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch die Verknüpfung logarythmisirt – Es bekommt einen geläufigen 17

18

Vgl. Haym, R.: Die romantische Schule. Berlin 1949; Petersen, J.: Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik. Berlin 1926. Novalis: Blüthenstaub. In: Schriften. Bd.2. Hg. von Richard Samuel. Stuttgart 1981, S.413.

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DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

Ausdruck. romantische Philosophie. Lingua romana. Wechselerhöhung und Erniedrigung.19

Einerseits wird also festgestellt, dass die Welt im jetzigen Zustand nicht romantisiert, sondern vielmehr gemein, gewöhnlich und endlich sei. Andererseits bedeutet das unbedingte „muss“ des Novalis ein Programm, „den ursprünglichen Sinn“ wieder zu finden oder eben zu restaurieren. In der Umsetzung dieses Programms spielt das Ich eine zentrale Rolle: „Das niedre Selbst“ wird mit einem „bessern Selbst“ in dieser „Operation“ „identificirt.“ Das Ich bedeutet „eine solche qualitative Potenzenreihe“, welches in einem aktiven Aktus die Welt verklärt. Das Ich nämlich gibt „dem Gemeinen“, „dem Gewöhnlichen“ und „dem Endlichen“ „ein geheimnißvolles Ansehn“, „die Würde des Unbekannten“ und „einen unendlichen Schein“. Dieser schöpferische Akt des Individuums ist die eigentliche „Operation“ der Romantisierung. Und diese „Operation“ läuft nach beiden Seiten: „das Höhere“, „Unbekannte“, „Mystische“, „Unendliche“ müsse „logarythmisirt“ werden. Dieser gegenseitige Prozess der „Wechselerhöhung und Erniedrigung“ im romantischen Programm von Novalis ähnelt in seinem inneren Sinn dem, was wir als den mittleren Weg Herders beschrieben haben: So wie Herder den Verlust der Transzendenz und den drohenden Materialismus durch das Beleben der Materie zu vermeiden suchte, wollte Novalis „das Unbedingte“ im „Endlichen“ durch die „Potenzirung“ wieder finden. Der Nihilismus, den wir bei Herder als Reaktion auf die modifizierte Gottesvorstellung theoretisch vermuteten, trat nun bei Novalis als eine lebendige Selbst- und Welterfahrung ans Licht und prägte sein künstlerisches Credo. Die innere Verwandtschaft des im aufgeklärten Denken lauernden Nihilismus und der nihilistischen Lebenserfahrung der Romantik ist evident.20 19 20

Novalis: Vermischte Fragmente I. In: Schriften. Bd2. A.a.O., S.545. Vgl. bei Arendt: „Die Formel ist nicht zu gewagt: der Idealismus schlägt auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung um in Nihilismus. [...] ...dem Nihilismus als philosophisch-kritischem Begriff aber entspricht eine geistesgeschichtliche Erfahrung. Im Idealismus und in der Romantik – daran dürfte kein Zweifel sein – war diese Doppelsituation einmal modellhaft gegeben, dort wurde ein solcher Nihilismus erstmalig erkannt und erfahren und liegt also in der Tat der historische Ursprung des Nihilismus.“ In: Arendt, D.: Der Nihilismus-Ursprung und Geschichte im Spiegel der Forschungs-Literatur seit 1945. A.a.O., S.356.

DER ‚POETISCHE NIHILISMUS’ IN DER ROMANTIK ALS REAKTION AUF DIE NEUE WELTANSCHAUUNG

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An dieser Stelle sei noch ein Mal ausdrücklich betont, dass Herder persönlich nicht der Vorwurf des Nihilismus gemacht werden kann und darf. Er und andere Vordenker der Romantik, wie Lessing, Kant, Fichte, Wieland, Hamann, hatten nicht im Sinn, den Nihilismus programmatisch zu entwerfen. Im gewissen Sinne war Herder derjenige, der den radikalen Nihilismus in der Aufklärung vermeiden wollte, da er dem verborgenen religiösen Gefühl der deutschen Aufklärer nicht entsprach. Die in der Aufklärung einsetzende Säkularisierung führte jedoch notwendigerweise zu Nihilismuserfahrungen in der Romantik und prägte ihre Theorie und Praxis. Unser Gespräch über den romantischen Nihilismus gewinnt an Bedeutung, wenn wir im Auge behalten, dass die deutsche Romantik den Anfang der ästhetischen Moderne in Europa mit sich brachte. Die Wurzeln des europäischen und russischen Nihilismus im 19. und 20. Jahrhundert lassen sich bis in die Problematik der deutschen Romantik zurückverfolgen. Der Zusammenhang der russischen und deutschen Romantik im Hinblick auf den Nihilismus wird das Thema des nächsten Kapitels sein.

1.2

Jean Paul und sein Verständnis des ‚poetischen Nihilismus’

Wenn der Nihilismus der Romantik nicht als ein Programm der Romantik, sondern als eine einprogrammierte Erfahrung, die „aus der Mitte des romantischen Lebensgefühls“ wächst, angesehen wird, wäre es falsch, eine klare Definition des romantischen Nihilismus zu suchen und zu erwarten. So, wie ein bestimmtes Lebensgefühl in romantischen Werken verschiedene Formen und Facetten annehmen kann, so können sich die Definitionen des romantischen Nihilismus voneinander unterscheiden. Wenn es aber in der Romantik Reflexionen über den Nihilismus gibt, dann in der klaren Form einer Selbstkritik.21 Dies bekräftigt noch ein Mal die Leitidee 21

Vgl. Dieter Arendt: „Der Begriff „Nihilismus“ also entsteht als Bezeichnung schärfster Kritik und Selbstkritik im Augenblick des höchsten Selbstbewusstseins der Romantik. Zu fragen wäre nach seiner genauen Bedeutung im Zusammenhang mit den im letzten Jahrzehnt des Jahrhunderts beliebten Formeln und Worten wie „Nichts“, „Nichtigkeit“, „Vernichtung“, „Alles oder Nichts“, „Annihilation“ u.ä.“ In: Arendt, D.: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. A.a.O., S.7.

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DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

dieser Untersuchung, den Nihilismus als eine Reaktion zu verstehen. Das Nihilismusverständnis Jean Pauls als eines „poetischen Nihilismus“ ist ein Beispiel für einen solchen „kritischen Spiegel“22 der Epoche. Diese Definition finden wir in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik (1804), also in seinem theoretischen Werk über die Romantik, das auch eine klare Kritik des extremen Subjektivismus der Wissenschaftslehre Fichtes war. Den Anstoß zu dieser Definition schöpfte Jean Paul aus Jacobis Brief an Fichte. Schon in der Vorrede seiner Clavis Fichtiana von 1800 erwähnte Jean Paul den „geliebten Friedrich Heinrich Jacobi“ und dankte ihm: „Denn aus deiner (Jacobis – A.P.) Hand empfing ich die von der Schönheit damaszierte Waffe, an der die gegen das Leben gezuckten Zergliederungsmesser der Zeit zerspringen.“23 „Poetische Nihilisten“ sind für Jean Paul die „Verächter der Wirklichkeit“24: Es folgt aus der gesetzlosen Willkür des jetzigen Zeitgeistes – der lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um sich nur freien Spiel-Raum im Nichts auszuleeren, und welcher den Verband seiner Wunden als eine Fessel abreißet -, daß er von der Nachahmung und dem Studium der Natur verächtlich sprechen muß.25

Erstens sprach Jean Paul von einem bestimmten, „jetzigen Zeitgeist“ und meinte damit die Romantik und im weiteren Sinne die mit ihr angebrochene Epoche der ästhetischen Moderne. Zweitens beschrieb er diesen „Zeitgeist“ als „aus der gesetzlosen Willkür“ „ichsüchtig die Welt und das All“ vernichtend. Unter der ‚Ichsüchtigkeit’ wird natürlich der Subjektivismus Fichtes angesprochen, und dass dieser die Welt „vernichtet“, entspricht genau der Kritik Jacobis an Fichte.26 Der entschlossene philosophische Feldzug Jacobis gegen den Idealismus konnte also auch im Zusammenhang mit der Theorie der romantischen Ästhetik angewandt werden.

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24

25 26

Dieter Arendt: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. A.a.O., S.42. Jean Paul: Clavis Fichtiana. In: Sämtliche Werke. Bd.3. Hg. von Norbert Miller. München 1996, S.1018. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Sämtliche Werke. Bd.5. A.a.O., S.31. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. S.31. Vgl. Kapitel I dieser Arbeit: Egoismus als Nihilismus bei Fichte.

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Aber diese enge Verwurzelung darf nicht über die unterschiedlichen Prämissen Jacobis und Jean Pauls hinwegtäuschen. „Ich wiederhole: Gott ist, und ist außer mir, ein lebendiges, für sich bestehendes Wesen, oder Ich bin Gott.“,27 fasste Jacobi das Dilemma prägnant zusammen. Jean Paul dagegen interessierte sich weniger für einen transzendenten Gott. Sein Punkt ist nicht der, dass Gott geleugnet wird, sondern dass das schöpferische Ich eines Künstlers die Natur „verachtet“. So ist der Nihilismus bei Jacobi mit dem Gottverlust und mit der Selbstvergötterung des Ichs verbunden, bei Jean Paul hingegen mit dem Verlust der Naturerfahrung und der „Öde der Phantasterei“: Denn wenn allmählich die Zeitgeschichte einem Geschichtschreiber gleich wird und ohne Religion und Vaterland ist: so muß die Willkür der Ichsucht sich zuletzt auch an die harten, scharfen Gebote der Wirklichkeit stoßen und daher lieber in die Öde der Phantasterei verfliegen, wo sie keine Gesetze zu befolgen findet als eigne, engere, kleinere, die des Reim- und Assonanzen-Baues. Wo einer Zeit Gott, wie die Sonne, untergehet; da tritt bald darauf auch die Welt in das Dunkel; der Verächter des All achtet nichts weiter als sich und fürchtet sich in der Nacht vor nichts weiter als vor seinen Geschöpfen.28

Jean Paul sah das Problem nicht in einem schöpferischen und beinahe göttlichen Ich eines Künstlers, das danach strebt, sich selbst als Gott zu erklären. In diesem Punkt war Jean Paul doch ein Romantiker und Nachfolger der Ich-Philosophie Fichtes. Die Gefahr des ‚poetischen Nihilismus’ sah er vielmehr in der Willkür eines Ichs, welches das Prinzip der Nachahmung oder der Erfahrung der Natur überschreitet. An dieser Stelle finden wir wiederum bei Jean Paul das Echo des kritischen Idealismus sowohl Kants als auch Herders: Beide suchten auf verschiedene Weise die menschliche Erkenntnis an die tatsächliche - sei es durch Empfindung oder durch Kategorien gegebene - Erfahrung zu binden. Ohne diese Bindung verfalle das Ich in den „Chimärismus“ oder in die „Phantasterei“. Es ist auch zu beachten, dass Jean Paul unter dem „poetischen Nihilismus“ nicht die Romantik selbst oder den „Zeitgeist“ versteht, sondern eine Fehlentwicklung in der romantischen Dichtung. Er schrieb von „dichtenden Jünglinge[n], diese[n] Nachbarn der Nihi27 28

Jacobi: Jacobi an Fichte. A.a.O., S.49. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. S.31.

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listen“, die das „Studium der Natur“ „nicht allseitig“ beendet haben, sondern die Natur nur in „einzelnen Teilen einseitig beherrschen“.29 Solche falschen Romantiker versuchten ihre „angeborne Lyrik“, also eine aus sich selbst erdachte Dichtung, für „eine höhere Romantik auszugeben“: Kommt nun vollends zur Schwäche der Lage die Schmeichelei des Wahns, und kann der leere Jüngling seine angeborne Lyrik sich selber für eine höhere Romantik ausgeben: so wird er mit Versäumung aller Wirklichkeit – die eingeschränkte in ihm selber ausgenommen – sich immer weicher und dünner ins gesetzlose Wüste verflattern; und wie die Atmosphäre wird er sich gerade in der höchsten Höhe ins kraft- und formlose Leere verlieren.30

Als Ergebnis dieser Schwäche stehe „kraft- und formlose Leere“.31 Der Gedanke, dass nicht die Romantik selbst, sondern die durch Willkür zur Selbstsucht entartete Romantik das Wesen und die Gefahr des poetischen Nihilismus ausmache, wird uns später im russischen Streit um die Romantik wieder begegnen.

29 30 31

Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. S.33. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. S.34. Vgl. Dieter Arends Zusammenfassung: „Am Ende aber steht doch die zeitbedingte Nötigung, daß das von den traditionellen Normen sich frei wähnende Subjekt nun in sich selbst Norm und Sinn finden soll. Mit diesem Problem ist insofern eine Sinnfrage verbunden, als gleichzeitig, und zwar erstmalig in der Geistesgeschichte, die latente Frage mitschwingt, ob die im Subjekt angelegte transzendentale Denkstruktur zugleich von transzendenter Transparenz ist oder ob das Subjekt in sich selbst befangen bleibt wie in einem bloßen Funktions-Mechanismus. Das Subjekt steht bei seiner Flucht in die Innerlichkeit vor der extremen Versuchung, sich selbst zum ideellen Weltschöpfer zu machen, eine geistige Tathandlung, die zwar eine fiktive Welt rückerobern kann, aber die vorgegebene objektive Welt dabei verlieren muß; im Augenblick des Mißtrauens aber in die teleologische Relevanz der Denkstruktur des Subjekts kommt es zu einem bloßen Schweben zwischen einer unrealisierbaren Idee der Wirklichkeit mittels des poetischen Schaffens oder des kreativen Denkens und einer entrealisierten Wirklichkeit, und diese haltlose Lage birgt die Möglichkeit der Erfahrung des Nichts und des Nihilismus.“ In: Arendt, D.: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. Bd.1. A.a.O., S.14.

DER ‚POETISCHE NIHILISMUS’ IN DER ROMANTIK ALS REAKTION AUF DIE NEUE WELTANSCHAUUNG

1.3

133

‚Die Rede des toten Christus’ Jean Pauls als Warnung vor dem Nihilismus

In Jean Pauls Traumdichtung Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, an der er schon lange vor ihrer Veröffentlichung als einer Finale im Roman Siebenkäs (1796-1797) arbeitete, finden wir eine weitere Warnung vor dem Nihilismus. Weniger auf Fichte und die romantische Theorie bezogen, hat sie eher weltanschauliche Züge und betrifft den Themenkreis, welchen wir im Zusammenhang mit der deutschen Aufklärung skizzierten. Wichtig für uns ist, dass diese Warnung keine theoretische ist, wie in der Vorschule der Ästhetik, sondern eine poetische. Jean Paul entfesselte seine poetische Phantasie, um eine Traumszene auszumalen, in der er die Leugnung der metaphysischen Welt oder den Säkularisierungsprozess in der Aufklärung für einen kurzen Augenblick real werden lässt.32 Jean Paul verstand seinen Text als eine Mahnung an die gelehrten Anhänger der kritischen Philosophie, er wollte „einige lesende oder gelese Magister in Furcht setzen“. Den Begriff des Nihilismus kannte Jean Paul damals nicht, da Jacobis Brief an Fichte erst später im Jenaer Kreis kursierte. Aber wie Jacobi erkannte auch Jean Paul die Gefahr, welche von dem kritischen Idealismus ausging. In der Einleitung zu seiner Traumdichtung bestimmte er ganz genau, wem seine Warnung gelten soll: Auch hab’ ich die Absicht, mit meiner Dichtung einige lesende oder gelesene Magister in Furcht zu setzen, da wahrlich diese Leute jetzo, seitdem sie als Baugefangne beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen worden, das Dasein Gottes so kaltblütig und kaltherzig erwägen, als ob vom Dasein des Kraken und Einhorns die Rede wäre.33

Unter den Akademikern, die „als Baugefangne beim Wasserbau und der Grubenzimmerung der kritischen Philosophie in Tagelohn genommen worden“, sind natürlich die naturwissenschaftlich ge32

33

Vgl. einen ausführlichen Kommentar dieser Traumdichtung bei Rehm, W.: Experimentum medietatis. A.a.O., S.30ff; Rehm, W.: Jean Paul – Dostojewski. Eine Studie zur dichterischen Gestaltung des Unglaubens. Göttingen 1962. Jean Paul: Siebenkäs. Die Rede des toten Christus. In: Sämtliche Werke. Bd.2. A.a.O., S.271.

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stimmten Anhänger der kritischen Philosophie zu verstehen. Den „giftigen Dampf“ des „atheistischen Lehrgebäudes“ sah Jean Paul in der Leugnung der „Unsterblichkeit“ und einer transzendenten „Gottheit“: Ebenso erschrak ich über den giftigen Dampf, der dem Herzen dessen, der zum ersten Mal in das atheistische Lehrgebäude tritt, erstickend entgegenzieht. Ich will mit geringern Schmerzen die Unsterblichkeit als die Gottheit leugnen: dort verlier’ ich nichts als eine mit Nebeln bedeckte Welt, hier verlier’ ich die gegenwärtige, nämlich die Sonne derselben; das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahllose quecksilberne Punkte von Ichs, welche blinken, rinnen, irren, zusammen- und auseinanderfliehen, ohne Einheit und Bestand.34

Dass Jean Paul mit seiner Diagnose Recht behielt, wird aus unserer Untersuchung ersichtlich. Interessanter sind die Zusammenhänge, die er entwickelt: die Leugnung der Unsterblichkeit erscheint ihm noch erträglich, der Verlust Gottes aber würde das „ganze geistige Universum“, also alle moralischen und kulturellen Werte vernichten, was die Zersplitterung und Zerfaserung des Ichs bedeuten würde. Die Verabschiedung Gottes würde also zu einer existentiellen Krise des Individuums führen. Das Bild einer menschlichen Existenz, welche auf die primäre Materie des Daseins reduziert ist, haben wir schon bei Herder aufgewiesen und finden es ebenso bei Jean Paul: Niemand ist im All so sehr allein als ein Gottesleugner – er trauert mit einem verwaiseten Herzen, das den größten Vater verloren, neben dem unermeßlichen Leichnam der Natur, den kein Weltgeist regt und zusammenhält […].35

Die Natur, welcher der „Weltgeist“ oder wie bei Herder „die Seele“ entzogen wurde, müsse dem Menschen laut Jean Paul als „unermeßlicher Leichnam der Natur“ erscheinen. Dann bliebe der Mensch als ein beseeltes, lebendiges Wesen allein im Universum. Mit dem „Weltgeist“ verliere die menschliche, lebendige und nicht natürliche Seele ihren „größten Vater“.

34 35

Jean Paul: Die Rede des toten Christus. S.270. Jean Paul: Die Rede des toten Christus. S.270.

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Nach dieser Einführung beginnt der eigentliche poetische Teil des Kapitels: „Ich lag einmal an einem Sommerabende vor der Sonne auf einem Berge und entschlief.“ Der Protagonist schläft ein und in einer entfesselten Phantasie träumt er das Unmögliche: Er findet sich im Traum auf einem Friedhof wieder, als die Toten auferstehen und Christus36 die letzte Offenbarung verkündet, was die Toten im Jenseits erwartet: Jetzo sank eine hohe edle Gestalt mit einem unvergänglichen Schmerz aus der Höhe auf den Altar hernieder, und alle Toten riefen: „Christus! ist kein Gott?“ Er antwortete: „Es ist keiner.“ […] Christus fuhr fort: „Ich ging durch die Welten, ich stieg in die Sonnen und flog mit den Milchstraßen durch die Wüsten des Himmels; aber es ist kein Gott. Ich stieg herab, soweit das Sein seine Schatten wirft, und schauete in den Abgrund und rief: ›Vater, wo bist du?‹ aber ich hörte nur den ewigen Sturm, den niemand regiert, und der schimmernde Regenbogen aus Wesen stand ohne eine Sonne, die ihn schuf, über dem Abgrunde und tropfte hinunter. Und als ich aufblickte zur unermeßlichen Welt nach dem göttlichen Auge, starrte sie mich mit einer leeren bodenlosen Augenhöhle an; und die Ewigkeit lag auf dem Chaos und zernagte es und wiederkäuete sich. – Schreiet fort, Mißtöne, zerschreiet die Schatten; denn Er ist nicht!“ […] Da kamen, schrecklich für das Herz, die gestorbenen Kinder, die im Gottesacker erwacht waren, in den Tempel und warfen sich vor die hohe Gestalt am Altare und sagten: „Jesus! haben wir kei-

36

Vgl. Walter Rehm: Was ließ sich noch über die Rede des toten Shakespeare (in der ersten Fassung der Traumdichtung ließ Jean Paul die Rede Shakespeare sagen – A.P.) hinaus Unheimliches vorstellen, als daß jenes Dysangelium vom Tod Gottes, welches das Evangelium verhöhnte, den Menschen von Christus selbst verkündet werde? was war, mit anwachsender Symbolkraft, vernichtender, als daß er der tote, der ewig tote Christus, der Sohn Gottes war, [...] die widergöttliche „Kasual-Predigt“ hielt: daß kein Gott sei? Sein eigener Opfertod war also vergebens, sein Sieg über den Tod, seine Auferstehung ein Wahn, er selbst vernichtendes Beispiel für die kaum glaubliche Tatsache, daß Gott tot war und die Welt verlassen hatte. Christus, bislang Bürge der Entsühnung, der Auferstehung und eines ewigen Lebens, der menschgewordene Gottessohn, war in die allgemeine „Ordnung“ der Vernichtung mit hinabgestoßen; [...].“ In: Rehm,W.: Experimentum Medietatis. A.a.O., S.31.

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nen Vater?“ – Und er antwortete mit strömenden Tränen: „Wir sind alle Waisen, ich und ihr, wir sind ohne Vater.“37

An dieser Stelle berichtet Christus über seine Entdeckungen und seine Erfahrungen im Jenseits. Das Motiv des Suchens ist hier sehr stark: Christus sucht überall nach Gott und ruft: „Vater, wo bist du?“ Aber statt „des göttlichen Auges“, das heißt statt der Weltseele oder des Weltgeistes, starrt Christus nur eine „leere, bodenlose Augenhöhle“ entgegen. Ein stärkerer poetischer Ausdruck einer philosophischen Erfahrung ist kaum vorstellbar. Das letzte Wort von Christus an die gestorbenen Kinder war, dass wir „alle Waisen“ sind: „ich und ihr, wir sind ohne Vater.“ Waise zu sein, bedeutet, keine verwandte, ähnliche, zutrauliche und verständnisvolle Bezugsperson auf der ganzen Welt zu haben: „allein im All“ ist der Mensch mit seiner lebendigen Seele, mitten in dem „Leichnam der Natur“. Nach dieser Rede an die toten Kinder hebt „der höchste Endliche“ seine Augen empor „gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit“ und spricht zu diesem Nichts: […]: so hob er (Christus – A.P.) groß wie der höchste Endliche die Augen empor gegen das Nichts und gegen die leere Unermeßlichkeit und sagte: „Starres, stummes Nichts! Kalte, ewige Notwendigkeit! Wahnsinniger Zufall! Kennt ihr das unter euch? Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich? – Zufall, weißt du selber, wenn du mit Orkanen durch das Sternen-Schneegestöber schreitest und eine Sonne um die andere umwehest, und wenn der funkelnde Tau der Gestirne ausblinkt, indem du vorübergehest? – wie ist jeder so allein in der weiten Leichengruft des All! Ich bin nur neben mir – O Vater! o Vater! wo ist deine unendliche Brust, daß ich an ihr ruhe? – Ach, wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?..... 38

An dieser Stelle ist der Perspektivenwechsel von Bedeutung: Erstens versucht Christus, das Nichts anzusprechen. Eigentlich weiß er bereits, dass es keinen Vater gibt, der ihm zuhört aber trotzdem versucht er eine gewisse Verbindung mit dem Nichts aufzubauen, weil es sonst niemanden gibt, an den er sich mit seinen Fragen wenden könnte. Zweitens lässt Jean Paul Christus wie einen sterblichen 37 38

Jean Paul: Die Rede des toten Christus. S.273. Jean Paul: Die Rede des toten Christus. S.274.

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Menschen in der ersten Person sprechen. Es sind die Worte eines sterblichen Individuums angesichts der „leeren Unermeßlichkeit“ des Universums, nicht aber die eines unbeteiligten Beobachters oder Philosophen. Wie spricht Christus das Nichts an? Er gebraucht zwei philosophische Begriffe, welche wir im Zusammenhang mit Spinoza kennen lernten: „ewige Notwendigkeit“ und „wahnsinniger Zufall“. Beide Begriffe begegneten uns im Gespräch über den Willen und den Verstand der göttlichen Natur: Wenn Gott und Materie nach Spinoza eins sind und es keinen transzendenten Gott außer der Materie gibt, dann kann es in der Natur keinen außer ihr liegenden Verstand oder Willen geben. Die Natur existiert entsprechend den in ihr selbst verborgenen Gesetzen der heiligen Notwendigkeit.39 Wenn aber die Welt nicht von Gott und von der göttlichen Vorsehung verwaltet wird, dann wird sie es von der kalten Notwendigkeit und von dem Zufall.40 Wie wir schon am Beispiel von Augustinus verdeutlichten, kann für den gläubigen Menschen kein Ereignis seines Lebens zufällig sein, weil alles einem weisen göttlichen Plan unterworfen ist. Dem von Gott abgefallenen Menschen erscheint dagegen jedes Vorkommnis nur als ein sinnloses und darum zufälliges Zusammentreffen der notwendigen Gesetze der Natur. Jean Paul stellte sich die „verwaiste“ Welt im Grunde in Zügen der Spinozistischen Daseinslehre vor. Das ist keine Überraschung, denn seine Traumdichtung entstand nach dem Spinozastreit, außerdem pflegten Jacobi und Jean Paul eine innige Freundschaft, so dass man davon ausgehen kann, dass die beiden Schriftsteller die Inhalte des Streits diskutierten. In der Anrede von Christus wird aber noch ein weiteres philosophisches Konzept angedeutet, und zwar der Subjektivismus Fichtes. Nachdem Christus die Brust des Vaters nicht finden kann, sagt er, dass „jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist“. Obwohl dieser Text zwei Jahre vor dem Brief an Fichte Jacobis entstand, ist ein Einfluss Jacobis auf Jean Paul auch in dieser Frage nicht auszuschließen.

39

40

Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Die Notwendigkeit und Freiheit der göttlichen Natur; Der Verstand und die göttliche Natur. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Die Religionskritik und der Skeptizismus Spinozas.

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Dass es sich um ein nihilistisches Weltbild handelt, folgt nicht nur aus den Wendungen „Nichts“ und „leere Unermeßlickeit“, sondern auch aus dem, wie sich das Nichts zu dem Menschen verhält. Christus fragt die „Notwendigkeit“ und den „Zufall“: „Wann zerschlagt ihr das Gebäude und mich?“ Diese Frage korrespondiert eindeutig mit einer Textstelle bei Herder, wo sich der Mensch an Gott wendet und aufschreit, dass er zwar selbst Gott auf dem „Rücken Gottes“ sei, aber dass er jederzeit wie ein „Wurm“ gnadenlos „zertreten“ werden könne.41 Mit dem Verlust der väterlichen „Brust“ beginnt also auch die bewusste Entwertung der eigenen Existenz des Individuums: Das Individuum kann ohne Bedauern vom Universum blind „zerschlagen“ oder „zertreten“ werden, wenn dieses Universum nicht aus Liebe oder Vorsorge zu dem Menschen verwaltet wird. Dies war sowohl für Jean Paul in seiner poetischen als auch für Herder in seiner philosophischen Reflexion evident. Eine weitere Übereinstimmung entdecken wir bei Jean Paul und bei Herder: die Frage der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz. Herder reduzierte den Menschen auf sein körperliches Dasein und erklärte, dass der Mensch mit dem Tod seines Körpers als einer Organisation der substantiellen Kräfte restlos in andere organische Organisationen übergeht, was den endgültigen Tod des menschlichen Individuums bedeuten kann.42 Ähnlich wie Herder ließ Jean Paul Christus den Menschen als einen „Seufzer der Natur“ bezeichnen: Ist das neben mir noch ein Mensch? Du Armer! Euer kleines Leben ist der Seufzer der Natur oder nur ein Echo – ein Hohlspiegel wirft seine Strahlen in die Staubwolken aus Totenasche auf euere Erde hinab, und dann entsteht ihr bewölkten, wankenden Bilder. – Schaue hinunter in den Abgrund, über welchen Aschenwolken ziehen – Nebel voll Welten steigen aus dem Totenmeer, die Zukunft ist ein steigender Nebel, und die Gegenwart ist der fallende. – Erkennst du deine Erde?“43

Mit dem Abschied eines ewigen, von der Natur unabhängigen Weltgeistes verliert auch das „kleine Leben“ eines Menschen an Be41

42

43

Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder. Jean Paul: Die Rede des toten Christus. S.274.

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deutung und ist nichts mehr als ein „Seufzer der Natur“, ein „Echo“ oder ein „bewölktes, wankendes Bild“, also bloß ein Schatten der wahren Existenz. Mit dieser Erfahrung entwertet sich auch die Gegenwart und die Zukunft eines Menschen, da sie für das endliche Dasein eines Individuums irrelevant sind. Die hier angesprochene Entwertung der Gegenwart als eine nihilistische Erfahrung bleibt einerseits eines der grundlegendsten Merkmale der ästhetischen Moderne in Europa bis in unsere Zeit. Andererseits ist sie der Grund zu allerlei Versuchen, die Gegenwart zu „romantisieren“ oder zu „remythisieren“, wie in der Romantik geschehen.44 Wir haben in der Traumdichtung Jean Pauls ein wertvolles Zeugnis dafür, wie verschiedene Themen und philosophische Richtungen der Aufklärung in der Wahrnehmung der Romantik zu einem nihilistischen Weltbild zusammenschmelzen und poetisch aufgearbeitet und wahrgenommen werden. Der Traum endet mit der apokalyptischen Vision des Untergangs: Und als ich niederfiel und ins leuchtende Weltgebäude blickte: sah ich die emporgehobenen Ringe der Riesenschlange der Ewigkeit, die sich um das Welten-All gelagert hatte – und die Ringe fielen nieder, und sie umfasste das All doppelt – dann wand sie sich tausendfach um die Natur – und quetschte die Welten aneinander – und drückte zermalmend den unendlichen Tempel zu einer Gottesacker-Kirche zusammen – und alles wurde eng, düster, bang – und ein unermesslich ausgedehnter Glockenhammer sollte die letzte Stunde der Zeit schlagen und das Weltgebäude zersplittern…. als ich erwachte.45

Das „leuchtende Weltgebäude“, das „verwaist“ ist, ist es wert, mit dem „Glockenhammer“ in „der letzten Stunde der Zeit“ „zersplittert“ zu werden. An dieser Stelle erwacht der Protagonist und beendet damit den entfesselten Lauf der poetischen Phantasie. Nur im Traum, wo der menschliche Verstand sich der Realität entzieht, ist eine solche Vision möglich, so die Hoffnung und die Botschaft Jean Pauls. Das Erwachen des Protagonisten soll die Wiederentdeckung des sinnvollen, vom ewigen, liebenden Vater beschützten Daseins symbolisieren:

44

45

Vgl. Kemper, D.: Ästhetische Moderne als Makroepoche. In: Ästhetische Moderne in Europa. A.a.O., S.112ff. Jean Paul: Die Rede des toten Christus. S.275.

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Meine Seele weinte vor Freude, daß sie wieder Gott anbeten konnte – und die Freude und das Weinen und der Glaube an ihn waren das Gebet.46

Der Traum ist nur die Warnung vor dem Nihilismus und nicht die Realität. Diese Passage fasst jenes, was schon längst zu einer Grunderfahrung der ganzen Generation geworden ist, am tiefsten. Diese nihilistische Selbstreflexion der Romantik und im weiteren Sinne der ästhetischen Moderne ist um 1800 gängig geworden und viel allgegenwärtiger als der Aufruf Jean Pauls, in Freude und Weinen einen transzendenten Gott anzubeten. So ist diese Traumdichtung in die Literaturgeschichte weniger als Warnung, als viel mehr als eine Selbstbeschreibung der angetretenen Epoche des Nihilismus nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich und Russland eingegangen.

1.4

Offenbarung des Nichts in den ‚Nachtwachen’ von Bonaventura

Im Jahre 1804, also gleichzeitig mit der Vorschule der Ästhetik Jean Pauls, ist ein anderes Werk eines anonymen Autors47 in aller Munde: 46 47

Jean Paul: Die Rede des toten Christus. S.275. Die Autorschaft wurde lange Zeit dank Jean Pauls Brief an Thierot vom 14. Januar 1805 Schelling zugeschrieben: „Lesen Sie doch die Nachtwachen von Bonaventura, d.h. von S........ . Es ist eine treffliche Nachahmung meines Giannozzo; doch mit zu vielen Reminiszenzen und Lizenzen zugleich. Es verräth und benimmt viele Kraft dem Leser.“ Die Autorschaft der Nachtwachen wurde dann Brentano, E.T.A. Hoffmann, Caroline und vielen anderen zugeschrieben. Heutzutage kann man mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass der Autor des Romans August Klingemann war. Vgl. unter anderem: Schultz, Fr.: Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. Berlin 1909; Haller, R.: Die Romantik in der Zeit der Umkehr. Berlin 1941; Korff, H.A.: Geist der Goethezeit. München 1959; Meyer, R.: Nachtwachen von Bonaventura. In: Euphorion. 10. 1903, S.578-588; Frank, E.: Clemens Brentano. Der Verfasser der Nachtwachen von Bonaventura. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 4. 1912, S.417-440; Hofman, K.: Zur Verfassungsfrage der Nachwachen von Bonaventura. Diss. Prag 1921; Hunter-Lougheed, R.: Die Nachtwachen von Bonaventura: Ein Frühwerk E.T.A. Hoffmanns? Heidelberg 1985; Pötsch, M.: Bonaventura (August Klingemann). In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hg. von Gunter E. Grimm, Frank Rainer Max. Bd.5: Romantik, Biedermeier und Vormärz. Stuttgart 1989, S.121-132.

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Die Nachtwachen. ‚Nachtwachen’ lautete der Serien-Titel für den Inhalt der im Herbst 1804 erschienenen 7. Lieferung des 3. Jahrgangs einer Reihe, die unter der Bezeichnung Journal von neuen deutschen Original Romanen seit 1802 in Penig (Sachsen) bei dem kleinen Verlag Dienemann und Comp. herauskam. Obwohl die umstrittene Autorschaft die Interpretation des Werks um einiges erschwert,48 zweifeln doch die Forscher an einer These immer weniger: Der Autor solle zum engeren oder weiteren Kreis der Jenaer Literatur-Kenner gehört haben und sein Werk sei demnach als ein ironischer Negativ-Spiegel des Jenaer Idealismus, der in einer pervertierten Form als ‚poetischer Nihilismus’ erscheint, zu interpretieren.49 Der ‚poetische Nihilismus’ lässt sich in diesem Fall also wieder als Reflexion der Romantik über sich selbst betrachten, andererseits steht er mit dem Jenaer philosophischen Idealismus in einem klaren Zusammenhang. Der pseudonyme Dichter bzw. der Erzähler hat in seinem Werk sechzehn Nachtwachen lose aneinandergereiht; ein literarisches Aufbauprinzip, bei welchem dem Leser nichts übrig bleibt, als der Willkür des Dichters Bonaventura zu folgen. Die strukturelle und inhaltliche Einheitlichkeit ist allein in der von ihm geschaffenen Perspektive des Nachtwächters Kreuzgang garantiert. Die Nachtwachen sind kein Roman, der ein Berufsleben schildert, sondern eine Sammlung, eine freie Komposition von Vigilien. Im Zentrum dieser Komposition befinden sich Monologe eines sich selbst reflektierenden Ichs. In diesem Sinne lassen sich die Nachtwachen umso mehr als eine Karikatur auf den Subjektivismus Fichtes50 interpretieren. Nicht zufällig wird Fichte namentlich in der neunten Nachtwache im Monolog eines Wahnsinnigen im Narrenhaus erwähnt, der „sich für 48

49

50

Vgl. Dieter Arendt: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik. A.a.O., S.483ff. Vgl. unter anderem: Schönert, J.: Fragen ohne Antwort. Zur Krise der literarischen Aufklärung im Roman des späten 18. Jahrhundert: Wezels Belphegor, Klingers Faust und die Nachtwachen von Bonaventura. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. 14. 1979, S. 183-229; Flieg, H.: Zersprungene Identität. Klingemann, Nachtwachen von Bonaventura. Göppingen 1974; Hunter-Lougheed, R.: Der Mann in Kants Schuhen und Lessings Perücke. Eine unbekannte Quelle zu den Nachtwachen von Bonaventura. In: Aurora. 40. 1980, S.147-151. Aus diesem Grund gab es Versuche, die Autorschaft der Nachtwachen eben Jean Paul zu zuschreiben. Vgl. Proß, W.: Jean Paul und der Autor der Nachtwachen. In: Aurora. 40. 1974, S.65-74.

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den Weltschöpfer hielt“.51 Dieses Ich erweist sich als höchst problematisch, als ein Schatten eines realen Ichs, denn hinter dem Namen Kreuzgang sollte sich ein realer Erzähler verbergen, der uns aber nur als ein Pseudonym bekannt ist. Der Beruf Kreuzgangs als Nachtwächter ist für die Romanstruktur nicht zufällig: Kreuzgang betrachtet eine Kleinstadt als ein Reich seines Ichs, welches dann tätig ist, wenn alle schlafen. Die Nacht verklärt die Stadt und macht Dinge sichtbar, die am Tage verschwinden. Umgekehrt verschattet die Nacht jene Dinge, die am Tage offensichtlich sind. Die Nacht als Ausnahmesituation verleiht Kreuzgang eine besondere Form der Freiheit, welche ihn die Kehrseite des Lebens in der Stadt erkennen lässt. Diese nächtliche Kehrseite einer Kleinstadt als Weltabbild entpuppt sich nun infolge der Monologe als eine Groteske, als eine Desillusionierung alles Menschlichen. Die durch die Nacht erworbene Freiheit und die Entfremdung von dem normalen Leben bei Tage führen bei Kreuzgang zu einer Entdeckung: Er erkennt die Welt als ein Marionettenspiel, in dem die Menschen die Narren in einem Narrenhaus sind.52 Das Lachen und die Ironie Kreuzgangs erweisen sich als Mittel, dem Schicksal zu entgehen und die Tollheit der Schöpfung und der Menschen rückgängig zu machen. Diese und andere Motive des ‚poetischen Nihilismus’ in den Nachtwachen sind in der Sekundärliteratur reichlich beleuchtet worden.53 Wir konzentrieren uns auf die letzte, sech51

52

53

Bonaventura: Nachtwachen. Hg. von Wolfgang Paulsen. Reclam, Stuttgart 2003, S.83. Das Grundmotiv der Nachtwachen als ein Hamlet-Motiv wurde von Karl Justus Obenauer erkannt: „Die Tragik dieser verhängnisvollen Vertauschung von Sein und Nichtsein wird nirgends in der Literatur dieser Zeit mit so grellen Lichtern blitzartig beleuchtet wie hier.“ In: Obenauer, K.J.: Die Problematik des ästhetischen Menschen in der deutschen Literatur. München 1933, S.298ff. Die Motive des Romans wie ‚Maximum der Verzweiflung’, ‚Die Welt als Bühne’ oder ‚zwischen Sein und Nichtsein, Wirklichkeit und Traum schwankenden Lebensgefühl’ können aber in die Tradition der Shakespeare-Rezeption der deutschen Romantik nicht einbezogen werden. Es handelt sich tatsächlich mehr um den Ausdruck der Erfahrung des poetischen Nihilismus in der Romantik. Vgl. Werner Kohlschmidt: Das Hamlet-Motiv in den Nachtwachen des Bonaventura. In: Dichter, Tradition und Zeitgeist. A.a.O., S.93-103. Vgl. unter anderem: Sölle-Nipperdey, D.: Untersuchungen zur Struktur der Nachtwachen von Bonaventura. Diss. Göttingen 1954; Stachow, J.:

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zehnte Nachtwache Kreuzgangs, in der die Selbstentfaltung seines Ichs zu ihrem Höhepunkt kommt. Der Nachtwächter Kreuzgang erfährt in der letzten Nachtwache, wer seine Eltern waren, und findet dadurch den Schlüssel zu seinem eigenen Ich: Welch ein helles Licht nach dieser Rede in mir aufging, das können nur Psychologen vorstellen; der Schlüssel zu meinem Selbst war mir gereicht, und ich öffnete zum ersten Mal mit Erstaunen und heimlichem Schauder die lang verschlossene Tür – da sah es aus wie in Blaubarts Kammer, und es hätte mich erwürgt, wäre ich minder furchtlos gewesen. Es war ein gefährlicher psychologischer Schlüssel!54

Die Gefährlichkeit dieser Erkenntnis liegt darin, dass Kreuzgang nicht nur seine Herkunft (er ist von einem Alchimisten und von einer Zigeunerin im Beisein des Teufels gezeugt worden) erfährt, sondern auch die letzte Wahrheit über Gott und die Welt. Er erfährt das Nichts. Die Handlung der letzten Szene spielt sich wie bei Jean Paul auf einem Friedhof ab. Während der Nacht kommt seine Mutter zu ihm, um ihrem Sohn die Wahrheit seiner Geburt zu offenbaren. Dafür muss er das Grab seines Vaters öffnen. Doch zunächst spricht er einen Wurm an, „als er sich eben bei dem Sarge aus dem Boden wühlte“: Der König ernährt sich von dem Marke seines Landes, und du dich wieder von dem Könige selbst, […]. An dem Gehirne wie vieler Könige und Fürsten hast du dich gemästet, du fetter Schmarotzer, bis du zu diesem Grade von Wohlbeleibtheit gekommen bist? Den Idealismus wie vieler Philosophen hast du auf diesen deinen Realismus zurückgeführt? Du bist ein unwiderleg-

54

Studien zu den Nachtwachen von Bonaventura mit besonderer Berücksichtigung des Marionettenproblems. Diss. Heidelberg 1957; Brinkmann, R.: Nachtwachen von Bonaventura. Kehrseite der Frühromantik? Pfullingen 1966; Paulsen, W.: Bonaventuras ‚Nachtwachen’ im literarischen Raum. Sprache und Struktur. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 9. 1965, S.474-510; Kayser, W.: Das Groteske. Oldenburg 1957; Terras, R.: Juvenal und die satirische Struktur der Nachtwachen von Bonaventura. In: German Quarterly. 52. 1979, S.18-31. Bonaventura: Nachtwachen. S.136.

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barer Beleg für die reelle Nützlichkeit der Ideen, da du dich an der Weisheit so mancher Köpfe wacker gemästet hast. –

Und ferner: Dir ist nichts mehr heilig, weder Schönheit noch Häßlichkeit, weder Tugend noch Laster; alles umwindest du, Laokoons Schlange, und beurkundest deine intensive Erhabenheit an dem ganzen Menschengeschlechte. Wo ist jetzt das Auge das so bezaubernd lächelte, oder so drohend gebot – Du Satiriker sitzest allein in der leeren Knochenhöhle und schauest frech und boshaft um dich, und machst das Haupt zu deiner Wohnung, […]. – Was ist nun dieser Palast, der eine ganze Welt und einen Himmel in sich schließt; dieses Feenschloß, in dem der Liebe Wunder bezaubernd gaukeln; […] dieses Schwanzstück der Schöpfung – das Menschenhaupt! - - die Behausung eines Wurmes. - O was ist die Welt, wenn dasjenige was sie dachte nichts ist und alles darin nur vorüberfliegende Phantasie!

Und dann kam er in seiner Anrede zum Schluss: Was sind die Phantasien der Erde, der Frühling und die Blumen, wenn die Phantasie in diesem kleinen Rund verweht, wenn hier im inneren Pantheon alle Götter von ihren Fußgestellen stürzen, und Würmer und Verwesung einziehen. O rühmt mir nichts von der Selbstständigkeit des Geistes – hier liegt seine zerschlagene Werkstatt, und die tausend Fäden, womit er das Gewebe der Welt webte, sind alle zerrissen, und die Welt mit ihnen. […] ich will ergrimmt in das Nichts schauen, und Brüderschaft mit ihm machen, damit ich keine menschliche Reste verspüre, wenn es auch mich zuletzt ergreift!55

Wie auch Jean Paul in seiner Rede des toten Christus ist Kreuzgang an dieser Stelle ein ironischer Satiriker, er spitzt die Ideen seiner Zeit zur Groteske zu. Und in dieser grotesken, übertriebenen Form lässt sich deutlich die Enttäuschung eines Menschen herauslesen, der sich im aufklärerischen Denken verfangen fühlt. Der Leitgedanke dieser poetischen Rede, dass „der Idealismus vieler Philosophen“ durch den Tod auf den „Realismus“ eines Grabwurmes „zurückgeführt“ werden könne, entspricht wiederum fast wortgenau dem, was wir als Herdersches „System“ ausgearbeitet haben: Ein philosophisches Daseinskonzept, welches das Metaphysische von Grund auf aus55

Bonaventura: Nachtwachen. S.140f.

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schließt und alles Wirkliche auf das Materielle reduziert. Das Auge, das Symbol der Seele, ist nur eine „leere Knochenhöhle“ und der Wurm ist ein „Satiriker“, der die Ideenwelt eines Menschen, welche „eine ganze Welt und einen Himmel in sich schließt“, lächerlich macht. Der Wurm ist der beste Zeuge und Beweis der letzten Wahrheit über den Menschen und über das Dasein: Der Mensch ist dem Tod ausgeliefert und mit dem körperlichen Tod bleibt von dem Menschen und seinem „Himmel“ nichts übrig. Es kann auch nichts übrig bleiben, denn es gibt in der Natur keine „Selbstständigkeit des Geistes“, und wenn das menschliche Haupt, diese „Werkstatt“ des Geistes, „zerschlagen“ wird, dann entpuppt sich die Ideenwelt dieses Hauptes als „nichts“ und als „nur vorübergehende Phantasie“. So wie auch Spinoza und Herder in ihren philosophischen Diskursen die Entwertung der menschlichen Werte verkündeten, so kommt auch Kreuzgang darauf in einer poetischen Form zu sprechen: Die „intensive Erhabenheit“ des Wurmes ist die Kunde, dass vor dem Tod „nicht[s] mehr heilig“ ist – „weder Schönheit noch Häßlichkeit, weder Tugend noch Laster“. Kreuzgang als Mensch kann sich in seinem Leben an nichts orientieren, was ihm noch irgendeines Halt bieten könnte, außer eben dem „Nichts“. Für Kreuzgang bedeutet diese Rede die Vorbereitung zur letzten Offenbarung, sie ist die Zusammenfassung seiner Weltanschauung und seiner prinzipiellen Lebenshaltung. Den Ernst seiner Worte und die Essenz seiner Ansichten begründet er mit dem Vorhaben, „ergrimmt in das Nichts [zu] schauen, und Brüderschaft mit ihm [zu] machen“. Dieses Bündnis mit dem Nichts will er schon zu Lebzeiten schließen, damit sein Tod – „wenn es auch mich zuletzt ergreift“ tatsächlich das endgültige Ende ist, bei dem keine „menschlichen Reste“ bleiben. Ohne Hoffnung, ohne Illusionen und ohne Glauben, was das Wesen des menschlichen Lebens anbetrifft, sollte sein Bündnis mit dem Nichts für ihn den endgültigen Riss mit den „Phantasien der Erde“ besiegeln. So ist es auch nicht verwunderlich, warum Kreuzgang zornig wird, als er den Vater mit im Gebet gefalteten Händen sieht. Sein Zorn entzündet sich an dem naiven Glauben der „vielen klugen Köpfe“, dass es irgendwo „im Himmelssee“, auf den „unzähligen Sternen“ ein Reich Gottes gebe. Kreuzgang argumentiert nüchtern und eigentlich naturwissenschaftlich, wenn er erklärt, dass mögliche andere Welten auf den Sternen doch nicht anders seien als unsere.

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Die Existenz anderer Welten würde nur bedeuten, dass der „Totentanz“ noch unermesslicher und größer ist als angenommen: „Und warum betet er denn?“ fragte ich zornig, „da drüben über uns im Himmelssee funkeln und schwimmen zwar unzählige Sterne, aber wenn es Welten sind, wie viele kluge Köpfe behaupten, so gibt es auch Schädel auf ihnen und Würmer, wie hier unten; das geht so fort durch die ganze Unermesslichkeit, und der Baseler Totentanz wird dadurch nur um so lustiger und wilder und der Ballsaal größer. – 56

Damit spricht er dem uralten Glauben der Menschheit, dass der Himmel von Göttern besiedelt sei und dass der Himmel und die Sterne eine besondere spirituelle Bedeutung hätten, jede Berechtigung ab. Was ist dann jene Welt, wenn nicht göttlich? O wie sie alle, die auf den Gräbern umherlaufen, und auf einer tausendfach geschichteten Lava vergangener Geschlechter – wie sie alle nach Liebe wimmern, und nach einem großen Herzen über den Wolken, woran sie mit allen ihren Erden einst ruhen können! Wimmert nicht länger – diese Myriaden von Welten sausen in allen ihren Himmeln nur durch eine gigantische Naturkraft, und diese schreckliche Gebärerin, die alles und sich selbst mit geboren hat, hat kein Herz in der eignen Brust, sondern formt nur kleine zum Zeitvertrieb, die sie umher verteilt – haltet euch an diese, und liebt und girrt solange diese Herzen noch zusammenhalten! – 57

Die kosmische Welt ist demnach eine „schreckliche Gebärerin“, eine „gigantische Naturkraft“, welche alles und sich selbst gebiert und welche „kein Herz in der eignen Brust“ hat. Wir befassen uns hier mit einer der präzisesten literarischen Beschreibungen des Daseinskonzeptes Spinozas und Herders. Nur wird diese Auffassung aus der Sicht eines Individuums artikuliert, welches sich innerhalb dieses Daseins befindet. Wir haben versucht, dieses Selbstbefinden eines Menschen innerhalb der Spinozistischen und Herderschen Daseinslehre theoretisch zu entwerfen.58 In diesem Text Bonaventuras finden wir genaue literarische Belege unserer Vermutungen. 56 57 58

Bonaventura: Nachtwachen. S.141f. Bonaventura: Nachtwachen. S.142. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder.

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Dass „diese Myriaden von Welten“ „in allen ihren Himmeln nur durch eine gigantische Naturkraft“ „sausen“, entspricht fast wortgenau der Herderschen Auffassung des Daseins als immer tätiger substantieller Kräfte, welche - wie auch im Fall Spinozas - der ewigen Notwendigkeit unterliegen. Die Natur oder die „Gebärerin“ ruht in sich selbst, sie gebärt blind „alles und sich selbst“.59 Diese Naturkraft erscheint Kreuzgang als eine blinde Macht, zu welcher keine Verbindung und kein Zugang möglich ist, denn „die Gebärerin“ hat „kein Herz“. Die Natur ist kein Reich der Liebe, sondern ein Reich des Todes. Der Tod ist der existentielle Schwerpunkt, die existentielle Auffassung des Lebens als „tausendfach geschichtete Lava vergangener Geschlechter“. Deswegen findet Kreuzgang das Wimmeln der Menschen „nach Liebe“ lächerlich. Die menschliche Hoffnung nach einem „großen Herzen über den Wolken“ erscheint ihm als unmöglich, 60 weil das Wesen des Daseins herzlos ist. Der Mensch wird nie göttliche Liebe finden, weil es keine gibt. Das menschliche Herz mit seinem Bedürfnis nach Liebe findet in diesem Dasein, in diesem Universum nie einen Widerklang oder eine Antwort, weil die „gigantische Naturkraft“ nur „kleine (Herzen – A.P.) zum Zeitvertrieb formt“. Diese Überzeugung Kreuzgangs deckt sich mit unseren Überlegungen, dass der Mensch und das menschliche Selbst in der spinozistischen und vor allem in der Herderschen Daseinsvorstellung aus diesem Dasein ausgestoßen bleiben muss.61 Wir haben auch beobachtet, dass in der aufklärerischen Daseinsvorstellung das Dasein dem Menschen gegenüber nicht nur als fremd, sondern als eine vernichtende Macht erscheinen kann.62 Kreuzgang bringt nun genau dieses Gefühl in einer poetischen Form zum Ausdruck:

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Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Die nihilistische Seite des Herderschen Dasein-Konzepts. Vgl. dazu die Stelle bei Goethe in seinem Gedicht Prometheus: „Da ich ein Kind war,/ Nicht wußte, wo aus, wo ein,/ Kehrt’ ich mein verirrtes Auge/ Zur Sonne, als wenn drüber wär/ Ein Ohr zu hören meine Klage,/ Ein Herz wie meins,/ Sich des Bedrängten zu erbarmen.“ In: Goethes Werke. Bd. 2. A.a.O., S.76. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Die nihilistische Seite des Herderschen Dasein-Konzepts.

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Ich will nicht lieben, und recht kalt starr bleiben, um womöglich dazu lachen können, wenn die Riesenhand auch mich zerdrückt! –63

Das Einzige, was der Mensch als Individuum dieser kalten Natur gegenüberstellen kann, ist kalter Trotz. In seiner Abneigung zu lieben, das heißt nach den sinnlosen Regeln des unbarmherzigen Daseins zu spielen, versucht Kreuzgang seine Individualität zu bewahren und sich gegenüber der „gigantischen Naturkraft“ zu behaupten. In der Negation der Liebe liege der höchste Akt des menschlichen Ichs: Der Mensch ist Mensch, wenn er nicht liebt und stattdessen über das Dasein lacht. Letztlich ist nur der ein freies und damit göttliches Individuum, der einen eigentlich sinnlosen Widerstand leistet, denn er wird am Ende ja trotzdem von der „Riesenhand zerdrückt“. Das „Bündnis mit dem Nichts“ bedeutete letztlich alles Menschliche im Menschen abzulegen und sich dem kalten Dasein soweit anzupassen, dass„alle menschlichen Reste“ im titanischen Ich überwunden werden. Kreuzgang wendet sich wieder an seinen Vater: Mit dir, alter Alchimist, möchte ich den Weg schon antreten; nur betteln sollst du mir nicht um den Himmel – nicht betteln – lieber ertrotze ihn, wenn du Kraft hast. Die stürzenden Titanen sind mehr wert, als ein ganzer Erdball voll Heuchler, die sich ins Pantheon durch ein wenig Moral und so und so zusammengehaltene Tugend schleichen möchten! Laß uns dem Riesen der zweiten Welt gerüstet entgegengehen; denn nur wenn wir unsere Fahne dort aufpflanzen, sind wir es wert dort zu wohnen!64

Nur der Weg des Titanismus bleibt Kreuzgang in seiner Selbsterhaltung übrig. Dieser Weg sollte die normale Weltordnung stützen, weil er sich auf diese Weise einen Platz im „Pantheon“ erobern will. In der üblichen Weltordnung hat der Mensch keinen Zutritt zu Göttern, er ist den Göttern zu klein. So wie Herder die Position des Menschen im Dasein als Laus oder Wurm auf dem Körper der Natur darstellte, die jederzeit zertreten werden konnten,65 verkündigt nun Kreuzgang:

63 64 65

Bonaventura: Nachtwachen. S.142. Bonaventura: Nachtwachen. S.143. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder.

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Nur alle (Menschen – A.P.) dürfen sie mir nicht erstehen wollen; alle nicht! – Was wollten so viele Pygmäen und Krüppel in dem großen herrlichen Pantheon, in dem nur die Schönheit thronen soll, und die Götter! O man schämt sich dieser Gesellschaft ja oft genug schon auf Erden, wie könnte man den Himmel mit ihnen gemeinschaftlich teilen! -66

Nach dieser Rede will Kreuzgang den Vater rühren und damit seinen Weg der Erkenntnis vollenden. An dieser Stelle muss eine andere Figur erwähnt werden: Der Geisterseher, den Kreuzgang in dieser Nacht auf dem Friedhof trifft. Der Geisterseher kann den Geist des Verstorbenen so lange über seinem Grab als ein Wölkchen sehen, bis die Leiche gänzlich verwest ist. Damit wird im Roman noch ein weiteres Mal deutlich gemacht, dass die Existenz des Geistes ohne den Körper aufhört und der menschliche Geist an sich nichts Unsterbliches oder Ewiges aufweist. Aus diesem Grund ist Kreuzgang so erstaunt, dass die Leiche des Vaters nach vielen Jahren praktisch unversehrt geblieben ist. Daraus muss er schließen, dass der Geist des Vaters durch seine alchimistische Tätigkeit und durch sein Bündnis mit dem Teufel gegen die Gesetze der Natur erhalten geblieben ist. Diese Annahme bestärkt seine Hoffnung auf den Erfolg seines titanischen Unternehmens. Die Leiche des Vaters zerfällt nun zu Staub: Wehe! Was ist das – bist auch du nur eine Maske und betrügst mich? – Ich sehe dich nicht mehr, Vater – und nur auf dem Boden liegt noch eine Handvoll Staub, und ein paar genährte Würmer schleichen sich heimlich weg, wir moralische Leichenredner, die sich beim Trauermahle übernommen haben. Ich streue diese Handvoll väterlichen Staub in die Lüfte und es bleibt – Nichts!67

Wie bereits oben erwähnt, bedeutet das Treffen Kreuzgangs mit seinen Eltern den Schlüssel zu seinem eigenen Selbst. Und in dem Moment, als er die väterlichen Hände aus der im Gebet gefalteten Stellung auseinander reißen und damit mit ihm zusammen den Weg des Titans einschlagen wollte, zerfällt die Leiche des Vaters zu Staub. Kreuzgang erkennt, dass der Vater und damit auch sein eigenes Ich nur Staub und Würmerfutter ist, also ein Nichts. Dies bedeutet für Kreuzgang die letzte Erfahrung des Nichts, die Erkenntnis der Vergeblichkeit jeder menschlichen Bestrebung, sich als Indivi66 67

Bonaventura: Nachtwachen. S.142. Bonaventura: Nachtwachen. S.143.

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duum zu erhalten und ins Pantheon der Götter eintreten zu können. Der menschliche Geist sei nur ein „Zeitvertreib“ der Natur, welcher in sich nichts Ewiges einschließt. Der Roman endet mit den Worten: Drüben auf dem Grabe steht noch der Geisterseher und umarmt Nichts! Und der Widerhall im Gebeinhause ruft zum letzten Male – Nichts!68

Während der Geisterseher den Geist seiner verstorbenen Geliebten umarmt und an dem Glauben festhält, dass seine Liebe über den Tod hinaus noch etwas bedeutet, ist Kreuzgang nun absolut desillusioniert und kennt die Wahrheit, die eine Offenbarung des Nichts ist. Dieser Text gehört zusammen mit der Rede des toten Christus Jean Pauls zu den deutlichsten Zeugnissen der engen Verschmelzung der philosophischen Aufklärung mit dem Selbstbewusstsein der Romantik einerseits und andererseits der tief greifenden Selbstreflexion innerhalb der Romantik, aus der die Problematik des ‚poetischen Nihilismus’ ans Licht tritt. Sowohl für Jacobi und Jean Paul als auch für Bonaventura war Fichte die zentrale Bezugsperson im Gespräch über die philosophische oder die poetische Erfahrung des Nihilismus. Der nihilistische Aspekt des romantischen Ich-Konzepts liegt in dem von der Romantik eingeschlagenen Weg des Titanismus selbst: das titanische, das schaffende, in sich das ganze Universum auflösende und nichts außer sich kennende Ich ist einerseits die Grunderfindung der Romantik und bedeutet andererseits die Gefahr des ‚poetischen Nihilismus’. Der Nihilismus muss ein unüberwindbarer Bestandteil der Romantik sein und bleiben, da das Ich zwar über das Universum herrschen kann, andererseits aber dieses übermenschliche Ich keine Macht und keinen existentiellen Grund im Jenseits kennt. Seine ganze Macht des Gefühls und des Verstandes ist nur auf das Diesseits, allein auf das Dasein der Natur bezogen. Hiermit ist das nihilistische Finale der menschlichen Existenz vorprogrammiert: der Titanismus an sich kann keinen Ausweg aus der nihilistischen Erfahrung des Individuums bedeuten. Eine schöne Illustration dazu haben wir am Beispiel Kreuzgangs bei Bonaventura gesehen: Aus eigenen Kräften ist das titanische Ich dem metaphysischen Nichts gegenüber machtlos und eben selbst ein Nichts. 68

Bonaventura: Nachtwachen. S.143.

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Wie es aus unseren Interpretationen folgt, wäre es aber falsch, den Nihilismus der Romantik nur aus der Wissenschaftslehre Fichtes ableiten zu wollen: Der gesamte und facettenreiche Nachlass der deutschen Aufklärung, welchen wir im einheitlichen „System“ Herders am deutlichsten zum Ausdruck gebracht vorfanden, lässt sich als die Geburtsstätte des romantischen Nihilismus bezeichnen. Die von uns im Gespräch über den Nihilismus in der deutschen Aufklärung erarbeiteten Themen wie die Erkenntnisproblematik und Erkenntnisgrenze, die Erfahrung, die Substanz, das Subjekt, die Natur, die Notwendigkeit, der Skeptizismus, der Sensualismus und das Nichts können wir in diesen Texten in Form einer poetischen Selbstreflexion erkennen. Unsere Auseinandersetzung mit dem ‚poetischen Nihilismus’ der Romantik wäre also nicht vollständig, wenn wir uns nur auf die Texte Jean Pauls und Bonaventuras (Klingemanns) beziehen würden, welche als eine gezielte Demaskierung des Idealismus verfasst wurden. Wir wollen uns nun an die eigentliche romantische Dichtung, und zwar an die Werke von Wackenroder und Novalis wenden und untersuchen, ob der ‚poetische Nihilismus’ sich auch dort wieder erkennen lässt.

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Poetischer Nihilismus’ als Erfahrung der Romantik

2.1

Die Entwertung des Daseins und die Krise des Individuums bei Wackenroder und Novalis

Die Figur des Musikers Joseph Berglinger in den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) und vor allem in den Phantasien über die Kunst, für Freunde der Kunst (1799) ist für unser Gespräch von besonderer Bedeutung, denn hinter dieser literarischen Gestalt sind biographische Erfahrungen und die Person Wilhelm Wackenroders selbst zu erkennen. Obwohl die Autorschaft Wackenroders von Berglingers Briefen im zweiten Abschnitt der Phantasien oft von der älteren Forschung in Frage gestellt worden ist, kann man heute mit einer großen Wahrscheinlichkeit behaupten, dass die für uns interessanten Stücke I bis IV doch Wackenroder zugeschrieben werden können.69 Wir können also davon ausgehen, dass die musikalischen Aufsätze von Joseph Berglinger in den Phantasien sowie die Gestaltung dieser zutiefst zerrissenen und gebrochenen Kunstfigur neben seinem schon früh erworbenen musiktheoretischen Wissen eigene schmerzliche Erfahrungen Wackenroders mit der Musik widerspiegeln. Von großem Einfluss auf Wackenroders Musikästhetik war das Schaffen Johann Friedrich Reichardts. Reichardts Musikroman Leben des berühmten Tonkünstlers Heinrich Wilhelm Gulden (1779), seine Musikessays und sein Musikalisches Kunstmagazin (1782, 1791) bildeten die Auffassung der Musik bei Wackenroder in der Tradition des Sensualismus und der subjektivierenden Musikästhetik, welche 69

Werner Kohlschmidt argumentierte z.B., dass mit einem Zweifel an Kunst erfüllte Briefe Berglingers „einen ausgesprochenen Fremdkörper in Wackenroders oeuvre darstellen“. In: Kohlschmidt, W.: Der junge Wackenroder und Tieck. In: Die deutsche Romantik. Hg. von H. Steffen. Göttingen 1967, S.42. Alewyn, Bollacher, Vietta u.a. zweifeln dagegen an der Autorschaft Wackenroders der Berglinger-Briefe nicht. Vgl. Alewyn, R.: Wackenroders Anteil. In: Gemanic Review. 19. 1944, S.48-58; Bollacher, M.: Wackenroder und die Kunstauffassung der frühen Romantik. Darmstadt 1983; Vietta, S.: Kommentar. In: Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Bd.1. Hg. von Silvio Vietta. Heidelberg 1991. S.367ff.

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deutlich von der Sprachphilosophie Herders geprägt wurden.70 Herder, auf den sich Reichardt auch hier berief, formulierte das für Wackenroder und Tieck bestimmende Prinzip der Musik als einer heiligen, göttlichen Stimme, welche vom Himmel herab spricht. Damit vollzog sich bei Wackenroder die Rückbesinnung der Musikästhetik durch die Empfindung des Herzens auf ihre ursprüngliche sakrale und damit auch erlösende Funktion.71 Elemente aus Wackenroders eigener Biographie fließen in die Geschichte des Kapellmeisters Berglinger ein, dessen Bewunderung der Kunst und der Musik durch das Verhältnis zu seinem Vater belastet ist, weil der Vater alle Künste als moralisch verderblich verachtete. Berglinger, der sich schließlich doch für die Kunst entscheidet, kann sich sein Leben lang nicht von der Last des Schuldgefühls befreien und verfällt in metaphysische Zweifel an der Nützlichkeit der Kunst, als sein Vater stirbt, seine Familie verarmt und er sich als Künstler dem Elend der Welt hilflos ausgeliefert sieht. Sicherlich stammte die Idee dieses im wahren Sinne romantischen Konflikts aus der eigenen Erfahrung Wackenroders. Er erwies sich früh als künstlerisch begabt, sein Vater gestattete ihm zwar eine musikalische Ausbildung, aber die Musik zum Hauptberuf zu machen, kam freilich nicht in Betracht. Wackeroder wurde durch den Willen seines Vaters zu dem nützlichen Beruf eines Juristen bestimmt, womit sich der junge Wackenroder in einen inneren Konflikt und in Zerrissenheit versetzt sah: Eine gewisse Entfremdung von der Welt und dem Leben erfuhr er schon früh. Gleichzeitig verinnerlichte er, dass seine künstlerische Berufung nicht dem realen Leben entsprach. Die Kunst mit ihren schnell verfliegenden Zuständen der schöpferischen Begeisterung bot ihm keinen sicheren Zufluchtsort. Sein Brief vom 11. Dezember 1792 an Tieck gilt als Zeugnis seiner melancholischen Stimmungsschwankungen von Begeisterung, Schmerzen und Ekel.72 So betrachtet auch Joseph Berglinger 70

71

72

Vgl. Hilbert, W.: Die Musikästhetik der Frühromantik. Remscheid 1911; Goldschmidt, H.: Die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts und ihre Beziehung zu seinem Kunstschaffen. Zürich 1915. Vgl. Strack, F.: Die „göttliche“ Kunst und ihre Sprache. Zum Kunst- und Religionsbegriff bei Wackenroder, Tieck und Novalis. In: R. Brinkmann (Hg.) 1978, S.369-391. „Die übertriebene Reizbarkeit meiner Nerven, für die ich keinen Namen habe, u auf dich ich in der That nicht stolz seyn darf, ist mir bey jenem Umgange auch sehr zur Last. Jedem andern würde ich Räthsel sprechen,

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die Welt nicht als einen Ort des Lebensgenusses und der Freude, sondern des Schmerzes, des Elends und der Verzweiflung: Und wenn mir nun der Anblick des Jammers in den Weg tritt, und Hülfe fordert, wenn leidende Menschen, Väter, Mütter und Kinder, dicht vor mir stehen, die zusammen weinen und die Hände ringen, und heftiglich schreyen vor Schmerz, - das sind freylich keine lüsternen schönen Akkorde, das ist nicht der schöne, wollüstige Scherz der Musik, das sind herzzerreißende Töne, und das verweichlichte Kunstgemüth geräth in Angst, weiß nicht zu antworten, schämt sich zu fliehn, und hat zu retten keine Kraft. Er quält sich mit Mitleid, - er betrachtet unwillkürlich die ganze Gruppe als ein lebendig gewordenes Werk seiner Phantasie, und kann’s nicht lassen, wenn er sich auch in demselben Momente vor sich selber schämt, aus dem elenden Jammer irgend etwas Schönes und kunstartigen Stoff herauszuzwingen.73

In diesen Zeilen kommt die Grundstimmung des ‚poetischen Nihilismus’ zum Ausdruck: Die Entwertung der Realität und eine

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aber Du wirst in meiner Seele eindringen, wenn ich Dir sage, daß der bloße Anblick eines Menschen wie – mir im eigentl. Verstande wehe thut, mir Schmerzen macht. Blos ihn ansehen, macht meine Brust so beklemmt, daß ich nicht frey Athem holen kann. Ja was mehr ist, ich kann ihn kaum ansehen, ohne in mir die unbehagliche Empfindung des Widerwillens u der Abneigung zu fühlen; eine Empfind., die gewiß, öfter wiederholt, einen nachtheil. Einfluß hat, den Kopf abstumpft, u – das Herz verdirbt. Jede Fröhlichkeit, jede Liebe, jede Zuneigung veredelt uns, ist selber Tugend; jedes Gefühl, wovon Haß Wurzel ist, verschlechtert u erniedrigt uns. Dies sind Grundsätze, von denen ich itzt vollkommen überzeugt bin. Ach verstehe ich itzt ungleich mehr, als sonst, was Du mir einst sagtest: daß der Anblick eines schönen u ausdrucksvollen Gemähldes, ja der Genuß des Schönen in allen Künsten, ganz unmittelbar das Herz veredelt, u die Seele erhebt. Ich fühl’s es so deutlich, wenn ich nur Dein Gesicht ansehe, so bin ich gut; aber sein Gesicht, das verstimmt ganz u gar die harmonischen Saiten meiner Seele.“ In: Sämtliche Werke und Briefe. Bd.2. A.a.O., S.99. Die in diesem Brief von Wackenroder ebenso nacherzählte Geschichte vom Schiffskapitän William Bligh, der von seiner Mannschaft auf offener See in einem Boot ausgesetzt und dabei schweren Entbehrungen preisgegeben worden war, gilt in der Forschung als Impuls zum I. Stück des zweiten Abschnitts der Phantasien: Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen. Wackenroder: Ein Brief Joseph Berglingers. In: Sämtliche Werke und Briefe. Bd.1. A.a.O., S.226.

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prinzipielle Gegenüberstellung des Künstlers und der Welt. In seinen Kunstüberlegungen geht Berglinger davon aus, dass die Welt voll „Jammer“ und „Schmerzen“ ist. Dem „Kunstgemüth“ bleibt keine andere Flucht vor diesen „herzzerreißenden Tönen“ und der „Angst“, als sich von ihnen zu distanzieren oder sie „unwillkürlich“ in ein „lebendig gewordenes Werk seiner Phantasie“ zu verwandeln. Die Kunst ist also ein Schutz- und Fluchtmittel aus dem grauen Elend der wirklichen Welt. Die entwirklichte Realität ist demnach nicht die Folge des künstlerischen Aktes, sondern die Grunderfahrung und Grundempfindung, die Ausgangssituation des romantischen Schaffens. Dem Ich eines Künstlers bleibt nichts übrig als sich diesem Elend zu stellen und es als eine „Rolle“ auf der „Bühne“ des Ichs zu betrachten. Durch die Relativierung und Verdichtung der Realität im künstlerischen Ich erfährt der Künstler eine Art Befreiung von der schmerzhaften Realität: Das ist das tödliche Gift, was im unschuldigen Keime des Kunstgefühls innerlich verborgen liegt. – [...] Das ist’s, daß der Künstler ein Schauspieler wird, der jedes Leben als Rolle betrachtet, der seine Bühne für die ächte Muster- und Normalwelt, für den dichten Kern der Welt, und das gemeine wirkliche Leben nur für eine elende, zusamengeflickte Nachahmung, für die schlechte umschließende Schaale ansieht. - 74

Der von Jean Paul formulierte ‚poetische Nihilismus’ als Willkür der künstlerischen Phantasie, die den Boden der Nachahmung der Natur verlässt, nennt Berglinger nun „das tödliche Gift“, welches im Kunstgefühl „verborgen liegt“. Durch die Verdichtung der Realität in eine Phantasiewelt des Ichs gelingt es zwar dem Künstler, „etwas Schönes“ “aus dem elenden Jammer“ „herauszuzwingen“ und dadurch vielleicht eine zeitlang der Realität zu entfliehen, doch bleibt dieser künstlerische Akt immer mit einem Schamgefühl verbunden. Der Künstler schämt sich seiner Flucht und seiner Hilflosigkeit gegenüber dem Elend. Berglinger gibt in seinem Brief auch eine Antwort auf die Frage, warum er die reale Welt als einen grauenvollen Ort betrachte: Denn „das ganze Leben des Menschen und das Leben des gesammten Weltkörpers“ ist nichts: Denn Gott hatte die lichte, mit Sonne geschmückte Hälfte seines großen Mantels von der Erde hinweggezogen, und mit der an74

Wackenroder: Ein Brief Joseph Berglingers. S.226.

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dern schwarzen Hälfte, worin Mond und Sterne gestickt sind, das Gehäuse der Welt umhängt, […]. […] – und so immer fort, bis in die fernsten Nebel der Zeiten, wo wir kein Ende absehen. Ach! dieser unaufhörliche, eintönige Wechsel der Tausende von Tagen und Nächten, - daß das ganze Leben des Menschen, und das Leben des gesammten Weltkörpers nichts ist, als so ein unaufhörliches, seltsames Brettspiel solcher weißen und schwarzen Felder, wobey am Ende keiner gewinnt als der leidige Tod, - das könnte einem in manchen Stunden den Kopf verrücken.75

Das Leben „des gesammten Weltkörpers“ wird mit einem „unaufhörlichen, seltsamen Brettspiel“ verglichen, welches kein Ziel kennt und für den Menschen am Ende nur den Tod bereithält. Das Dasein existiert in einer vorbestimmten Ordnung, es existiert in einer wechselhaften, ziellosen und blinden Bewegung nach vorne. Diese Fortbewegung oder dieses„Brettspiel“ kennt kein Ende, der Tod ist der letzte Gewinner im menschlichen Leben. Das Dasein und das menschliche Leben ergeben keinen Sinn in ihrer momentanen Existenz. Diese spezifische Wahrnehmung der Realität als Ausgangspunkt des künstlerischen Schaffens bei Wackenroder korrespondiert wiederum eindeutig mit dem Daseinsentwurf Herders. Die von Herder bei Spinoza entdeckte und so eifrig rezipierte Zwecklosigkeit des Daseins tritt bei Wackenroder als eine in poetischer Form ausgedrückte Grunderfahrung der Romantik ans Licht. In einem anderen Stück der Phantasien, Ein wunderbares morgenländisches Mährchen von einem nackten Heiligen, finden wir an zentraler Stelle die Wahrnehmung des Daseins als eines „Rades der Zeit“: Dieses wunderliche Geschöpf hatte in seinem Aufenthalte Tag und Nacht keine Ruhe, ihm dünkte immer, er höre in seinen Ohren das Rad der Zeit seinen sausenden Umschwung nehmen. Er konnte vor dem Getöse nichts thun, nichts vornehmen, die gewaltige Angst, die ihn in immerwährender Arbeit anstrengte, verhinderte ihn, irgend etwas zu sehn und zu hören, als wie sich mit Brausen, mit gewaltigem Sturmwindsausen das fürchterliche Rad drehte und wieder drehte, das bis an die Sterne und hinüberreichte. Wie ein Wasserfall von tausend und aber tausend brüllenden Strömen, die vom Himmel herunterstürzten, sich ewig, ewig ohne augenblicklichen Stillstand, ohne die Ruhe einer Sekunde ergossen, so tönte es in seine Ohren, und alle seine Sinne

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Wackenroder: Fragment aus einem Brief Joseph Berglingers. In: Sämtliche Werke und Briefe. Bd.1. A.a.O., S.215.

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waren mächtig nur darauf hingewandt, seine arbeitende Angst war immer mehr und mehr in den Strudel der wilden Verwirrung ergriffen und hineingerissen, immer ungeheurer verwilderten die einförmigen Töne durch einander: er konnte nun nicht ruhn, sondern man sah ihn Tag und Nacht in der angestrengtesten, heftigsten Bewegung, wie eines Menschen, der bemüht ist, ein ungeheures Rad umzudrehen. Aus seinen abgebrochenen, wilden Reden erfuhr man, daß er sich von dem Rade fortgezogen fühle, daß er dem tobenden, pfeilschnellen Umschwunge mit der ganzen Anstrengung seines Körpers zu Hülfe kommen wolle, damit die Zeit ja nicht in die Gefahr komme, nur einen Augenblick stillzustehen. […] Er zitterte vor Heftigkeit, und zeigte ihnen (Pilgern und Wanderern – A.P.) den unaufhaltsamen Umschwung des ewigen Rades, das einförmige, taktmäßige Fortlaufen der Zeit; er knirschte mit Zähnen, daß sie von dem Getriebe, in dem auch sie verwickelt und fortgezogen würden, nichts fühlten und bemerkten; er schleuderte sie von sich, wenn sie ihm in der Raserey zu nahe kamen. […] Eine zitternde Angst flog durch alle seine Nerven, wenn er nur ein einzigmal versuchen wollte, den schwindlichen Wirbel zu unterbrechen.76

Das Dasein kommt „einem höheren Geschöpf“ wie ein gewaltiges, „fürchterliches Rad“ der Zeit vor. Die Haupteigenschaft dieses Rades ist eine ewige, immer fortdauernde Bewegung „ohne augenblicklichen Stillstand, ohne Ruhe einer Sekunde ergossen“. Die Bewegung bedeutet für das Dasein seine eigene Existenz, das Leben. Ohne Bewegung, ohne Unruhe gibt es kein Leben, denn wenn das Rad auf „einen Augenblick stillstehen“ bleibt, bedeute dies „Gefahr“ und im weiteren Sinne den Tod. Der abstrakte Entwurf des Daseins bei Herder stimmt in seinem Kern mit dieser poetischen Empfindung und Beschreibung des Daseins überein. Was gegenüber Herder neu erscheint, ist ein anderer Zugang zum Problem: Das Dasein wird nun aus der inneren, empfindenden Perspektive eines „höheren Wesens“ beschrieben. Wackenroder führt in seinen Text etwas ein, was Herder kaum beachtet hat: Das Selbstbefinden eines Menschen in diesem Dasein. Dem Menschen selbst ist meist wie den Pilgern und Wanderern im Märchen nicht bewusst, dass sie „in das Getriebe verwickelt und fortgezogen“ sind. Das ändert aber an der Tatsache nichts, dass sie trotzdem ein Teil des „unaufhaltsamen Umschwung des ewigen Rades, 76

Wackenroder: Ein wunderbares morgenländisches Märchen von einem nackten Heiligen. In: Sämtliche Werke und Briefe, Bd.1. A.a.O., S.201f.

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des einförmigen, taktmäßigen Fortlaufens der Zeit“ sind. Sowohl bei Wackenroder wie auch bei Herder sind die Menschen in das Dasein wie in eine Kette eingeflochten, sie sind ein Teil des riesigen Mechanismus der Natur. Wenn aber Herder die „innige Freude des Daseins“ im Menschen vermutet, so erfährt der nackte Heilige bei Wackenroder nur „gewaltige Angst“.77 Der Unterschied zwischen dem Heiligen und anderen Menschen liegt darin, dass sich der Heilige bewusst mit dem Dasein identifiziert. Seine Zugehörigkeit zu dem „Umschwung der Rades“ ist dem heiligen Nackten vollkommen bewusst, er versteht sich als ein Teil des Weltgeschehens. Und da das Wesen der Schöpfung in seiner ewigen Bewegung liegt, strengt sich das „wunderliche Geschöpf“ mit an, das Rad in Bewegung zu halten. Das Rad der Zeit weiter zu drehen, erweist sich als die einzige vernünftige Beschäftigung für den nackten Heiligen, wenn er sich dem Weltgeschehen zugehörig fühlen und an ihm partizipieren will. Jede andere menschliche Tätigkeit erweist sich dem nackten Heiligen als eine sinnlose und verschwenderische, die mit der realen Wirklichkeit der Welt nichts gemeinsam hat. Das Gefühl, dem Dasein bewusst zugehörig zu sein, vermittele aber nach Herder dem Menschen den Genuss des Lebens und der eigenen Existenz. Der nackte Heilige empfindet keine Lebensfreude, im Gegenteil: „eine zitternde Angst flog durch alle seine Nerven“ wenn er sich nur vorstellte, „den schwindlichen Wirbel zu unterbrechen“. Denn der nackte Heilige weiß nicht, dass er etwas anderes als ein „rasendes“ Dasein ist oder etwas anderes sein kann. Sein Leben versteht er als die Existenz des „fürchterlichen“ Rades. Wenn Joseph Berglinger sich nicht als Künstler, sondern als einen sterblichen Menschen betrachtet, so verfällt sein Gemüt in Angst und Zittern, ähnlich dem nackten Heiligen: Ach! mein innigst geliebter, mein ehrwürdiger Pater! ich schreibe Euch diesmal mit einem hochgetrübten Gemüth, und in der Angst einer zweifelvollen Stunde, wie sie mich, wie Ihr wohl wißt, schon öfter angefallen hat, und jetzt nicht von mir lassen will. Mein Herz ist von einem schmerzhaften Krampfe zusam77

Vgl. die eingehende und allseitige Analyse der Nihilismus-Problematik in Berglinger-Fragmenten incl. Angstproblematik, die Zeit als „Rad“ und Vergleich zu Bonaventura bei Elmar Hertrich: Weltverklärung und Weltangst. In: Joseph Berglinger. Eine Studie zu Wackenroders MusikDichtung. Berlin 1969, S.205ff.

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mengezogen, meine Phantasieen zittern zerrüttet durch einander, und alle meine Gefühle zerrinnen in Thränen. Meine lüsternen Kunstfreuden sind tief im Keime vergiftet; ich gehe mit siecher Seele umher, und von Zeit zu Zeit ergießt sich das Gift durch meine Adern. Was bin ich? Was soll ich, was thu’ ich auf der Welt? Was für ein böser Genius hat mich so von allen Menschen weit weg verschlagen, daß ich nicht weiß, wofür ich mich halten soll? daß meinem Auge ganz der Maaßstab fehlt, für die Welt, für das Leben und das menschliche Gemüth? daß ich nur immer auf dem Meere meiner inneren Zweifel mich herumwälze, und bald auf hoher Welle noch über die andern Menschen hinausgezogen werde, bald tief in den tiefsten Abgrund hinuntergestürzt? – 78

Die Grundstimmung, die Joseph Berglinger als Mensch, nicht als Künstler erleidet, ist wiederum Angst. Er muss sich immer wieder die existentielle Frage stellen „Was bin ich? Was soll ich, was thu’ ich auf der Welt?“ Es fehlen ihm Anhaltspunkte, durch die sein Ich existentiellen Halt erlangen könnte: Der „Maaßstab“ ist verschwunden, er fühlt sich der Welt, dem Leben und den Menschen als vollkommen entfremdet. Seine Selbstempfindung ist das Gefühl, aus der Schöpfung ausgestoßen und ihr vollkommen fremd zu sein. In dieser Leere herrscht eine Angst, in der „alle Gefühle zerrinnen in Thränen“. Berglinger kann sich als Künstler von der sinnlosen Fortbewegung der realen Welt loslösen und die Welt in das Schauspiel seines eigenen Ichs verwandeln, muss dabei aber im Sinne Jacobis und Jean Pauls in eine existentielle Krise des persönlichen, denkenden und selbst reflektierenden Individuums geraten, weil sich sowohl die Realität als auch das Ich als Erdichtungen oder Chimären erweisen.79 Die Schöpfung kann dem Menschen nur den Wert einer ewigen Bewegung vermitteln. Außerhalb dieser pausenlosen Unruhe gibt es für den Menschen keinen weiteren „Maaßstab“, der Mensch 78 79

Wackenroder. Ein Brief Joseph Berglingers. S.224. Vgl. „Diese Spannung zwischen dem göttlichen Wesen der Musik und den Ansprüchen des Gefühls in den musikalischen Aufsätzen Wackenroders ist somit Ausdruck und Erbe der zeitgeschichtlichen Tendenzen der Musikästhetik und der allgemeinen Geistesgeschichte des ausgehenden 18. Jahrhunderts im Kampf zwischen zunehmendem Subjektivismus und der Suche nach religiös- metaphysischer Rückbindung.“ Silvio Vietta: Kommentar. In: Wackenroder: Sämtliche Werke und Briefe. A.a.O., S.378.

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ist auf sich alleine gestellt - das ist die verborgene Botschaft und die Grundempfindung der Romantik, welche in ihrem Kern wesentlich mit dem übereinstimmt, was Herder in seinem „System“ philosophisch ausformulierte. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass Wackenroder der einzige war, der sich des ‚poetischen Nihilismus’ in der romantischen Kunsttheorie bewusst war - wir wollen uns nun Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, zuwenden, der als einer der wichtigsten Dichter und Theoretiker der Frühromantik gilt. Sein facettenreiches Schaffen, das immer wieder mit den Themen Annihilation, Nacht und Tod verknüpft ist, können wir im Rahmen dieser Untersuchung nicht einmal skizzieren.80 Wir konzentrieren uns auf einige Ähnlichkeiten, welche sich in Daseinsbeschreibungen bei Wackenroder und Novalis feststellen lassen. Dabei wenden wir uns an das bekannteste Werk von Novalis, die Hymnen an die Nacht von 1799. Die Hymnen sind fast zeitgleich zu den Phantasien Wackenroders entstanden. Sowohl die literarischen Beziehungen Novalis’ zu Young, Herder, Lavater und Schleiermacher81 als auch seine intensiven philosophischen Studien der idealistischen Philosophie (vor allem Kants und Fichtes) sind in der Forschung gründlich aufgezeigt worden und können als ein beziehungsreicher Hintergrund der Hymnen angesehen werden. Die Hymnen sind für unsere Forschung von besonderer Bedeutung, da der Hauptimpuls zu ihrer Entstehung biographischen Charakters ist: das so genannte Sophienerlebnis am Grab seiner Verlob-

80

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Vgl. unter anderem: Rehm, W.: Orpheus. Der Dichter und die Toten. Selbstdeutung und Totenkult bei Novalis-Hölderlin-Rilke. Düsseldorf 1950; Ritter, H.: Novalis’ Hymnen an die Nacht. Ihre Bedeutung nach Inhalt und Aufbau auf textkritischer Grundlage. Heidelberg 1974; Rank, B.: Romantische Poesie als religiöse Kunst. Studien zu ihrer Theorie bei Friedrich Schlegel und Novalis. Diss. Tübingen 1971; Schneider, R.: Novalis und der Tod. In: Schneider, R.: Dem lebendigen Geist. Heidelberg 1943; Diener, G.: Die Nacht in der deutschen Dichtung von Herder bis zur Romantik. Bamberg 1931; Komar, K.: Fichte and the structure of Novalis’ ‚Hymnen an die Nacht’. In: The Germanic Review. 54. 1979, S. 137144. Vgl. Unger, R.: Herder, Novalis und Kleist. Studien über die Entwicklung des Todesproblems in Denken und Dichten vom Sturm und Drang zur Romantik. Frankfurt 1922. Nachdr. Darmstadt 1968.

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ten im Jahre 1797.82 83 Den Inhalt und die Struktur der Hymnen dürften besonders zwei Quellen beeinflusst haben, zum einen der Brief seines Bruders Karl von Hardenberg, in dem dieser Passagen aus der Unsichtbaren Loge Jean Pauls paraphrasiert, die von Gustavs Gefühlen am Sterbebette seines Freundes Amandus handelten. Der Vergleich zwischen diesen Briefpassagen und einer Tagebuchnotiz, welche immer als Zeugnis des Sophienerlebnisses galt, zeigt, dass Novalis in seiner Notiz auf die Metaphorik des Bruders und Jean Pauls zurückgriff. Die zweite bedeutende Quelle, welche die Gesamtgestaltung der Hymnen geprägt hat, war Shakespeares Romeo und Julia, das er nachweislich an jenem Tag des Sophienerlebnisses las.84 Im Kontext unserer Überlegungen interpretieren wir dieses Werk aber allein im Hinblick auf den ‚poetischen Nihilismus’, wie wir ihn verstanden und definiert haben. In den Hymnen an die Nacht finden wir Belege dafür, dass das Dasein als solches kein menschenfreundlicher Ort ist und dass der Mensch in diesem Dasein zu Angst und seelischen Schmerzen verurteilt ist. Als Attribut des Daseins sah Novalis das Licht oder den Tag: 82

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Die älteste Spur ist die berühmte Tagebuch-Notiz vom 13. Mai 1797, die nahezu wörtlich in der dritten Hymne wieder auftaucht: „Abends gieng ich zu Sophien. Dort war ich unbeschreiblich freudig – aufblitzende Enthusiasmus Momente – Das Grab blies ich wie Staub, vor mir hin – Jahrhunderte waren wie Momente – ihre Nähe war fühlbar – ich glaube sie solle immer vortreten.“ In: Novalis. Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Bd. 4. Hg. von P. Kluckhohn und R. Samuel. Stuttgart 1975, S.35f. Vgl. Unger, R.: Das Visionserlebnis der dritten Hymne an die Nacht und Jean Paul. In: Euphorion. 30. 1929, S.246-249. Herbert Uerlings argumentiert aber gegen Überschätzung dieses Erlebnisses. Zwar räumt er ein, dass „Sophies Tod den persönlichen Ausgangspunkt der ‚Hymnen’ darstellt, um diese Argumentation aus den Angeln zu heben“, trotzdem aber: „Diese Leseart des ‚SophienErlebnisses’ braucht hier nicht mehr in extenso entfaltet zu werden. Sie ist, darin ist sich der ernstzunehmende Teil der Forschung einig, unhaltbar; die Fakten sprechen eine andere Sprache und legen andere Deutungen nahe.“ In: Uerlings, H.: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S.278f. Vgl.: „Die ‚Hymnen an die Nacht’ sind der unmittelbare dichterische Ausdruck des Sophienerlebnisses von 1797.“ In: Kluckhohn, P.: Friedrich von Hardenberg Entwicklung und Dichtung. In: Novalis. Schriften. Bd.1. A.a.O., S.47f. Rehder, H.: Novalis and Shakespeare. In: Publications of the Modern Language Association. 63. 1948, S.604-624.

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Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des verbreiteten Raums um ihn, das allerfreuliche Licht – mit seinen Farben, seinen Strahlen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens innerste Seele atmet es der rastlosen Gestirne Riesenwelt, und umschwimmt tanzend in seiner blauen Flut […]. Wie ein König der irdischen Natur ruft es (das Licht – A.P.) jede Kraft zu wahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart allein offenbart die Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.85

Und weiter: Noch weckst du, muntres Licht den Müden zur Arbeit – flößest fröhliches Leben mir ein – aber du lockst mich von der Erinnerung moosigem Denkmal nicht. Gern will ich die fleißigen Hände rühren, überall umschaun, wo du mich brauchst – rühmen deines Glanzes volle Pracht – unverdrossen verfolgen deines künstlichen Werks schönen Zusammenhang – gern betrachten deiner gewaltigen, leuchtenden Uhr sinnvollen Gang – ergründen der Kräfte Ebenmaß und die Regeln des Wunderspiels unzähliger Räume und Zeiten.86

Es gibt keine bessere poetische Auffassung der Herderschen Lehre von den substantiellen Kräften. Diese Beschreibung des Tages oder des Lichtes entspricht in vielen Zügen fast wörtlich dem Herderschen Daseinskonzept: Das Licht knüpft und löst endlose Verwandlungen und Bündnisse der Kräfte, welche sinnvoll und in einer bestimmten Ordnung in Raum und Zeit ihr „Wunderspiel“ betreiben. Diese unendliche und rastlose Bewegung mache die „Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt“ aus. Das Dasein verglich Novalis mit einem riesigen „künstlichen Werk“, in welchem alles in einem Zusammenhang steht und welches wie eine „gewaltige, leuchtende Uhr“ seinen „sinnvollen Gang“ läuft. Mit dem Licht verband Novalis die Welt der Naturwissenschaft und der rationalen Erkenntnis. Sobald aber Novalis wie Wackenroder eine anthropologische Komponente in diese Daseinsbetrachtung einführt, so entwertet sich des „Glanzes volle Pracht“ in eine „irdische Gewalt“ voller „unseliger Geschäftigkeit“ und „wahllose[r] Verwandlungen“: 85 86

Novalis: Hymnen an die Nacht. In: Novalis. Schriften. Bd.1. A.a.O., S.131. Novalis: Hymnen an die Nacht. S.137.

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Wie arm und kindisch dünkt mir das Licht nun – wie erfreulich und gesegnet des Tages Abschied. […] Muß immer der Morgen wiederkommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen Anflug der Nacht. […] … da kam aus blauen Fernen […] und mit einemmale riß das Band der Geburt – des Lichtes Fessel.87

Die Erfahrung der Nacht entwertet des Lichtes Reich oder entfremdet den Menschen der äußeren Natur. Das im Grunde mechanische Naturwerk erscheint dem Individuum als „arm und kindisch“, das Dasein entpuppt sich nun für den Menschen als „des Irdischen Gewalt“. Das Menschliche Ich wird nun dem Dasein direkt als „des Lichtes Fessel“ gegenübergestellt. Dem Individuum bleibt nur die Flucht in die Nacht als ein Rettungsversuch aus dieser „unseligen Geschäftigkeit“ des mechanischen Ganges der Natur: Hinunter in der Erde Schooß, Weg aus des Lichtes Reichen, Der Schmerzen Wut und wilder Stoß Ist froher Abfahrt Zeichen. […] Wohl hat der Tag uns warm gemacht, Und welk der lange Kummer. […] Zu suchen haben wir nichts mehr – Das Herz ist satt – die Welt ist leer.88

Der Mensch könne sich also freuen, sich von des „Lichtes Reichen“ verabschieden zu dürfen, denn dieses Reich sei ein Ort der „Schmerzen Wut“, in dem der Mensch nichts mehr „zu suchen“ habe. Der Tag bringe dem menschlichen Herzen die Sättigung an Empfindungen, aber auch die Erkenntnis, dass „die Welt leer“ ist.89 Wie auch bei Wackenroder ist der Mensch bei Novalis in diesem Dasein einer existentiellen Krise ausgeliefert: Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der Brust weht tiefe Wehmut. In Tautropfen will ich hinuntersinken und mit Asche mich vermischen. – Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kind87 88 89

Novalis: Hymnen an die Nacht. S.133f. Novalis: Hymnen an die Nacht. S.153. Vgl. Das Kapitel II dieser Arbeit: Empfinden und Erkennen bei Herder; Der Mensch als ein Teil des Daseins bei Herder.

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heit Träume, des ganzen langen Lebens kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen in grauen Kleidern […].90

Und auch der Anfang der Dritten Hymne: Einst da ich bittre Tränen vergoß, da in Schmerz aufgelöst meine Hoffnung zerrann, und ich einsam stand am dürren Hügel, der in engen, dunkeln Raum die Gestalt meines Lebens barg – einsam, wie noch kein Einsamer war, von unsäglicher Angst getrieben – kraftlos, nur ein Gedanken des Elends noch. – Wie ich da nach Hülfe umherschaute, vorwärts nicht konnte und rückwärts nicht, und am fliehenden, verlöschten Leben mit unendlicher Sehnsucht hing: - […].91

In „Schmerz“ sind die menschlichen „Hoffnungen“ aufgelöst. Der Mensch dürfe nicht hoffen, denn es gibt niemanden, von wem er erhört werden könne: „einsam“ sei der Mensch „wie noch kein Einsamer“ es je war. Diese transzendentale Einsamkeit entspricht der Weltempfindung Kreuzgangs, als er in das metaphysische Nichts der Welt starrt. Wie Berglinger fühlt sich auch der Mensch bei Novalis von „unsäglicher Angst getrieben“, im Universum verlassen und hilflos. Das Leben kommt ihm wie ein „enger, dunkler Raum“ vor, in dem es keine Hoffnungen und nur Schmerz gibt. Der Mensch fühlt sich aus dem Kosmos ausgestoßen. Damit schließt sich der thematische Kreis um den ‚poetischen Nihilismus’: Das in der Aufklärung philosophisch ausgearbeitete Daseinskonzept erweist sich auf der Erfahrungsebene der Romanik als menschenfeindlich. Nur die Flucht in die Innerlichkeit, in die Nacht oder in die Kunst kann ein Individuum von der sinnlosen Raserei des sichtbaren Daseins retten. Wichtig ist, dass den poetischen Reflexionen der Weltentwertung in den meisten Fällen biographische Erfahrungen dieser existentiellen Krise zugrunde liegen. Das bezeugt, dass der ‚poetische Nihilismus’ nicht nur eine poetisch-literarische Selbstreflexion der Romantik ist, sondern vielmehr eine aus der Aufklärung übernommene Lebenshaltung und Lebensgefühl der neuen Generation. Nicht nur Wackenroder oder Novalis schwankten zwischen künstlerischem Enthusiasmus und tiefer Wehmut, sondern auch Kleist, Fr. Schlegel92 und andere93 waren der romantischen und im weiteren 90 91 92

Novalis: Hymnen an die Nacht. S.131. Novalis: Hymnen an die Nacht. S.135. Die berühmte Kleist-Krise haben wir schon erwähnt. Fr. Schlegel schrieb an seinen Bruder August Schlegel am 11. November 1792: „Wenn ich auf

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Sinne der modernen Frage nach der Selbstbestimmung des Ichs ausgeliefert.

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dem Wege, den ich in Göttingen ging, - beständig mit dem Verstande zu genießen ohne zu handeln – blieb, so hätte er mich sicher in Kurzem zum Selbstmorde geführt.“ Ein paar Tage später, am 21. November 1792: „Seit fast drey Jahren ist der Selbstmord täglicher Gedanke bey mir.“ Und an Novalis am 9. August 1793: „Ich Flüchtling habe kein Haus, ich ward ins Unendliche hinaus verstoßen (der Kain des Weltalls) und soll aus eigenem Herzen und Kopfe mir eins bauen.“ In: Walzel, O.: Fr. Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm. Berlin 1890, S.38, S.70; Preitz, M.: Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in Briefen. Darmstadt 1957, S.43. Auch bei Hölderlin finden wir eine direkte Frage nach der menschlichen Bestimmung: „Was ist der Mensch? […] O ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von menschlicher Bestimmung, die ihr auch so durch und durch ergriffen seyd vom Nichts, das über uns wartet, das über uns waltet, so gründlich einseht, daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben an’s Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mälig überzugehen in’s Nichts – was kann ich dafür, daß euch die Knie brechen, wenn ihr’s ernstlich bedenkt? Bin ich doch auch schon manchmal hingesunken in diesen Gedanken, und habe gerufen, was legst die Axt mir an die Wurzel, grausamer Geist? und bin noch da.“ In: Hölderlin: Hyperion. Hg. von Michael Knaupp. Reclam, Stuttgart 2002, S.50. Der Hintergrund dieser Individuumskrise lässt sich ebenso wie bei Jean Paul, Wackenroder oder Novalis mit dem aufklärerischen Dasein-Konzept in einen Zusammenhang stellen. Wie die Forschung zeigt, handelt es sich bei Hölderlin - wie es auch bei Lessing, Goethe oder Herder der Fall war – um eine Rezeption des Spinozistischen Denkens, welche übrigens eigenwillig verlief: „Seine Bedeutung und spezifische „Authentizität“ gewinnt das spinozistische Motiv bei Hölderlin primär nicht aus dem originalen Kontext der Werke Spinozas, sondern aus dem der zeitgenössischen, vor allem aber seine eigenständigen (und eigenwillige!) Spinoza-Rezeption. Deren Untersuchung erwies, daß Hölderlin bereits sehr früh mit dem Namen Spinozas eine metaphysische Gesamtkonzeption des „Seyns“ verbindet, aus deren innerer Dynamik sich ihre Tauglichkeit auch als philosophische Begründung autonomer Individualität ergeben soll. Demzufolge stellt sich in seinen weiteren Überlegungen als „spinozistisch“ die zunehmend problematische, grundsätzliche Frage nach der Vereinbarkeit von absoluter Totalität und empirischer, selbstbewußter Individualität, d.h. nach der Möglichkeit einer ganzheitlichen Begründung der letzteren.“ In: Margarethe Wegenast: Hölderlins Spinoza-Rezeption. Tübingen 1990, S.125ff.

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2.2

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Die erhoffte Erlösung durch die Kunst

Wenn das Individuum im romantischen Denken keine Rückbindung mehr an eine metaphysische Welt findet, so benötigt das Ich auf seinem titanischen Weg ein Medium der Unsterblichkeit. An diesem Medium musste das Ich beteiligt sein können. Dieses Medium sollte außer dem Ich bestehen und an sich die Fülle und die Kraft des Universums enthalten können. In der Kunst glaubte die Romantik dieses Medium gefunden zu haben.94 Die Kunst erscheint als eine dritte Komponente, welche das Individuum aus dem Jacobischen Diskurs des ‚entweder – oder’ hinausführen und dadurch das Ich vor dem Nihilismus retten sollte. Durch das Medium der Kunst soll die Auflösung des Universums im Ich nicht den Nihilismus, sondern das produktive Nichts für das schaffende Ich bedeuten. Wenn Jacobi den Nihilismus darin erblickte, dass das Ich Gott und die Welt zu seinem eigenen „Gespenst“ macht, so verleiht die Romantik diesem Akt der Auflösung keinen nihilistischen, sondern einen schöpferischen Status. Durch die Auflösung und die Einschließung des Universums im Ich gelangt das Ich an die Kunst und an die absolute Freiheit, in welchen das Individuum seinen existentiellen Grund und vor allem das ewige Leben findet, weil der metaphysische Bereich der Kunst ewig sei.95 Die Kunst ermöglichte es dem Individuum, seinen romantischen Titanismus auszuleben, weil sie dem Ich einen existentiellen Grund außerhalb des Daseins ohne transzendentale Metaphysik verleihen konnte. Das titanische Ich gewann in der künstlerischen Begeisterung der Romantik eine absolute Selbstständigkeit und Freiheit zwischen der Welt und dem Nichts, zwischen dem Dasein und der verlorenen Transzendenz. Der verkündete Nihilismus im Sinne des Chimärismus Jacobis ist nun zum produktiven Nichts des titanischen 94

95

Vgl. Bollacher, M.: Wackenroder und die Kunstauffassung der frühen Romantik. A.a.O.; Köhler, R.: Poetischer Text und Kunstbegriff bei W.H. Wackenroder. Frankfurt 1990. Vgl.: „Aber man muß durch den Wust von Trümmern, worauf unser Leben zerbröckelt wird, mit muthigem Arm hindurchgreifen, und sich an der Kunst, der Großen, Beständigen, die über alle hinweg bis in die Ewigkeit hinausreicht, mächtiglich festhalten, - die uns vom Himmel herab die leuchtende Hand bietet, daß wir über dem wüsten Abgrunde in kühner Stellung schweben, zwischen Himmel und Erde!“ Wackenroder: Fragment aus einem Briefe Joseph Berglingers. S.215.

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Ichs geworden.96 Wenn das Ich die Welt in sich auflöst und sich von dem ganzen Dasein abtrennt, so musste dies nun nicht mehr bedeuten, dass das Ich zu einem „Gespenst“ wird, eben weil es jetzt durch die Kunst seine existentielle Begründung erlangt. Auf diese Weise konnte die Romantik in der Wahl zwischen dem Ich und Gott sich für das Ich entscheiden, während die Rückbindung an einen metaphysischen Gott als Lösung schon längst nicht mehr akzeptabel war. Der Aufstand Kreuzgangs musste misslingen, weil sich Kreuzgang nicht der Möglichkeiten der Kunst bewusst war. Die obere, ewige und existentielle Selbstbegründung des romantischen Individuums lag einerseits in der Bestrebung, das Universum in sich aufzulösen, sich davon zu trennen und es zu überwinden, und andererseits im Bereich der ewigen, unvergänglichen Kunst. Die Kunst nimmt dadurch tendenziell den Platz der göttlichen Metaphysik ein und wird damit das zentrale Thema des romantischen Denkens. Und die Kunst ist die Waffe und das Argument Wackenroders97 gegen die Verzweifelten. Die letzten, im wahren Sinne ‚poetischen Nihilisten’ stellte er sich folgendermaßen vor: Es geschieht nicht selten, daß Leute unseren Enthusiasmus (Kunstenthusiasmus – A.P.) dadurch zu hemmen suchen, daß sie uns die Nichtigkeit und Vergänglichkeit aller menschlichen Dinge vor Augen stellen. Vielen Gemüthern ist es eigen, daß ihre Phantasie schon unwillkürlich die Bilder von Tod und Ewigkeit erweckt, um der etwaigen Begeisterung ein bestimmtes Ziel zu setzen.98

Dieser Text ist ein Zeugnis dafür, dass die Gefahr des Nihilismus den Romantikern durchaus bewusst war und als poetische Selbstreflexion ans Licht trat. Den „vielen Gemüthern“ Wackenroders/Tiecks gleichen diejenigen, welche wir oben vor allem am Beispiel Kreuzgangs beschrieben haben. Jene sind an die Grenze des metaphysischen Nichts gelangt und haben dadurch die Nichtigkeit 96

97

98

Das Thema der ‚produktiven Negation’ gewinnt eine zentrale Bedeutung z.B. im Denken Friedrich Schlegels oder Novalis’. Vgl. Behler, E.: Philosophische Lehrjahre. Paderborn 1958ff, vielerorts. Der Verfasser des Textes Die Ewigkeit der Kunst war jedoch Ludwig Tieck. Vgl. Vietta, S.: Kommentar. In: Wilhelm Heinrich Wackenroder. Sämtliche Werke und Briefe. Bd.1. Hg. von Silvio Vietta. A.a.O., S.389. Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. In: Sämtliche Werke und Briefe. Bd.1. A.a.O., S.193.

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des Daseins, der Gegenwart, des eigenen Ichs und jeglicher menschlichen Bestrebung erfahren. Sie können keinen Ausweg aus der existentiellen Krise des Individuums finden. Aus ihrer Perspektive gibt es in der entwirklichten Realität keinen Platz für den „Enthusiasmus“ und die „Begeisterung“, weil die Welt nur vom Tod und von der ewigen, blinden Fortdauer bestimmt wird. Der Tod ist die Grenze, an welcher aller „Glanz verlöscht“: Gern möchtest Du (der Verzweifelte – A.P.) uns dadurch alles Große und Edle alltäglich machen, durch den schwarzen Schatten des Todes strebst Du allen Glanz zu verlöschen. Du bildest Dir ein, die bloße Vorstellung der Vernichtung, das blinde Ungeheuer Zeit dürften über unsere höchste und reinste Liebe triumphiren, unbekannten Götzenbildern müsse alles sich neigen, und desto furchtbarer sey die Gewalt, je räthselhafter und unverständlicher sie sey.99

Interessant ist, dass diese Beschreibung der Nihilisten in vielen Aspekten den Erfahrungen Kreuzgangs ähnelt: Vor allem in der Erfahrung des Todes, in der Erfahrung der Zeit und in der Erfahrung des Skeptizismus, welche zusammen zur Entwertung sowohl der persönlichen als auch der allgemeinen Existenz führen. Im Text wird eine dialogische Situation aufgebaut, mit ihr beabsichtigte Wackenroder/Tieck, einen Weg aus der Verzweiflung aufzuzeigen. Das Hauptargument in dieser Polemik ist die Kunst100: Wenn nun vor dem Bilde eines Helden, eines großen Künstlers unsre Seele (der Kunstliebenden – A.P.) in wollüstigen Schauern zittert, wenn wir gleichsam die ganze Welt und alle ihre Menschen in diesen Einen Moment, in diese Eine Anbetung zusam99 100

Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. S.193. Vgl. Hertrich, E.: Joseph Berglinger. A.a.O., S.163ff; Fricke, G.: Wackenroders Religion der Kunst. In: Fricke: Studien und Interpretationen. Ausgewählte Schriften zur deutschen Dichtung. Frankfurt a.M. 1955, S.186-349; Gladow, G.: Größe und Gefahr der WackenroderTieckschen Kunstanschauung. In: Zeitschrift für deutsche Bildung. 14. 1938, S. 162-169; Gregor, J.: Die deutsche Romantik aus den Beziehungen von Musik und Dichtung. W.H. Wackenroder. In: Sammelbände d. Intern. Musikgesellschaft 10. 1908-1909, S. 505-532; Lippuner, H.: Wackenroder/Tieck und die bildende Kunst. Grundlegung der romantischen Ästhetik. Zürich 1965; Wiedemann-Lambinus, M.: Die romantische Kunstanschauung Wackenroders und Tiecks. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 32. 1938, S. 26-45.

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menpressen möchten, und wie das innerste Rad eines Uhrwerks allen übrigen Seelen denselben Schwung mittheilen wollten: so lächelt ein andrer (der Nihilist – A.P.) oft wehmüthig und mit stiller Größe über unsern lautschallenden Hymnus, und zeigt auf die tiefen Abgründe der Vergangenheit, auf die unbekannte ewige Zukunft, wir scheuen ihn wie thörichte Kinder, und er möchte uns gar zu gern wieder das Gefühl der allgemeinen Unbedeutenheit mittheilen.101

„Ein großer Künstler“ ist gleichzeitig ein „Held“, also ein Kämpfer und ein Titan. Dieses „Bild“ oder dieses Ideal entfacht Begeisterung und inspiriert die Anhänger des Ideals in ihrem schöpferischen Akt. Dies geschieht, indem sie „die ganze Welt und alle ihre Menschen“ – also das ganze Universum - in einer künstlerischen „Anbetung“ „zusammenpressen“ und dadurch dem ganzen Dasein, diesem „Uhrwerk“, einen inneren „Schwung“ „mittheilen wollen“. Hier wird das Dasein wiederum als ein verzahnter Mechanismus verstanden. Was dabei neu ist, ist die direkte Teilnahme des Ichs an diesem „Uhrwerk“: Erst die Kunst bringt im eigentlichen Sinn das Leben, die Bewegung, „den Schwung“ des „innersten Rades“. Durch das Medium der Kunst kann der Mensch in das Innere der Gegenwart hineinschauen, an ihr partizipieren und in ihr die Ewigkeit entdecken und dadurch eine individuelle Rettung finden: Wir vergessen, daß die Gegenwart eben so gut ewig zu nennen sey, daß die Ewigkeit sich in den Umfang einer Handlung, eines Kunstwerks zurückziehn könne, nicht deswegen, weil sie unvergänglich daure, sondern weil jene groß, weil dieses vollendet ist. Statt nach außen geht hier die Ewigkeit gleichsam nach innen, einem Fruchtkorn sieht man nicht die Entwicklung der Felder und Saaten, sondern in Saat und Pracht des Gefildes das ehemalige Korn.102

Die Gegenwart – mit anderen Worten die diesseitige Existenz des Daseins – kann also vor der Nichtigkeit und vor der Entwertung durch die künstlerische Handlung gerettet werden, weil diese ein besonderer Bereich ist, in den die Ewigkeit sich „zurückziehn könne“. Wenn es in dem ganzen „Uhrwerk“ des Universums nichts Unvergängliches, nichts Höheres gibt - womit die Kunstanhänger stillschweigend einverstanden sind - so ist die Kunst ein besonderer 101 102

Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. S.193. Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. S.194.

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DER NIHILISMUS ALS LITERARISCH-POETISCHE REAKTION AUF DIE VERÄNDERTE GOTT- UND WELTVORSTELLUNG INNERHALB DER DEUTSCHEN AUFKLÄRUNG

Ort, an dem die Ewigkeit sich zurückzieht und der dem ganzen Universum Sinn und Halt verleiht. Das Kriterium der Ewigkeit ist dabei nicht die ewige zeitliche Fortdauer, sondern eine metaphysische, von der Zeit und von dem Dasein unabhängige Vollendung. Durch die Kunst wird die innere, verborgene und ewige Schönheit der Welt offenbart. Nicht in den notwendigen Gesetzen der Entwicklung - wie es Spinoza und Herder behauptet haben - sondern im Inneren der Dinge sei die absolute und die ewige Vollendung zu finden und zu offenbaren. Die Kunst ist dann viel mehr als ein Handwerk, Kunst ist ein Sammelbegriff für alles, was vollendet und also ewig ist: Alles, was vollendet, das heißt, was Kunst ist, ist ewig und unvergänglich, wenn es auch die blinde Hand der Zeit wieder auslöscht, die Dauer ist zufällig, Zugabe; ein vollendetes Kunstwerk trägt die Ewigkeit in sich selbst, die Zeit ist ein zu grober Stoff, als daß es aus ihr Nahrung und Leben ziehn könne.103

Die Kunst - wie in der traditionellen Vorstellung nur Gott - „trägt die Ewigkeit in sich selbst“. Damit wird noch ein Mal deutlich, dass die Ästhetik der Kunst in der romantischen Weltanschauung eine ontologische, existentielle Rolle spielte. Die in der Aufklärung vorprogrammierte Krise des Individuums konnte nun überwunden werden, weil die verlorene und durch das Nichts ersetzte Metaphysik nun im Bereich des Ästhetischen und der Kunst wieder gefunden werden konnte. Wie ehemals die Metaphysik trug die Kunst die Ewigkeit in sich selbst und bedeutete die individuelle, persönliche Rettung des Menschen: In der Vollendung der Kunst sehen wir am reinsten und schönsten das geträumte Bild eines Paradieses, einer unvermischten Seligkeit. Gemählde verbleichen, Gedichte verklingen; - aber Verse und Farben waren es auch nicht, die ihnen ihr Daseyn schufen. In sich selbst trägt die Gegenwart der Kunst ihre Ewigkeit, und bedarf der Zukunft nicht, denn Ewigkeit bezeichnet nur Vollendung.104

Die Kunst versprach dem Menschen „das geträumte Bild eines Paradieses, einer unvermischten Seligkeit“. Und in dieser künstlerischen Seligkeit sollte der Mensch sein titanisches Vorhaben realisie103 104

Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. S.194. Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. S.194.

DER ‚POETISCHE NIHILISMUS’ IN DER ROMANTIK ALS REAKTION AUF DIE NEUE WELTANSCHAUUNG

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ren, das heißt die verlorene individuelle Unsterblichkeit wieder erlangen: Lasset uns unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln, und wir dürfen kühnlich behaupten, daß wir dann schon irrdisch unsterblich sind.105

Die irdische Unsterblichkeit durch die Kunst sei dann der Zustand des seelischen Paradieses, eine neue, ästhetische Erlösung des Individuums sowohl von dem metaphysischen Nichts als auch vom mechanischen Dasein. So hat auch der nackte Heilige seine Erlösung vom sausenden „Rad der Zeit“ und von seiner existentiellen Angst in den Tönen der Musik gefunden: Mit dem ersten Tone der Musik und des Gesanges war dem nackten Heiligen das sausende Rad der Zeit verschwunden. Es waren die ersten Töne, die in dieser Einöde fielen; die unbekannte Sehnsucht war gestillt, der Zauber gelöst, der verirrte Genius aus seiner irrdischen Hülle befreyt. Die Gestalt des Heiligen war verschwunden, eine engelschöne Gestalterbildung, aus leichtem Dufte gewebt, schwebte aus der Hölle, streckte die schlanken Arme sehnsuchtsvoll zum Himmel empor, und hob sich nach den Tönen der Musik in tanzender Bewegung von dem Boden in die Höhe. Immer höher und höher in die Lüfte schwebte die helle Luftgestalt, von den sanftschwellenden Tönen der Hörner und des Gesanges emporgehoben; - mit himmlischer Fröhlichkeit tanzte die Ge-stalt hier und dort, hin und wieder auf den weißen Gewölken, die im Luftraume schwammen, immer höher schwang er sich mit tanzenden Füßen in den Himmel hinauf, und flog endlich in geschlängelten Windungen zwischen den Sternen umher; da klangen alle Sterne, und dröhnten einen hellstrahlenden himmlischen Ton durch die Lüfte, bis der Genius sich in das unendliche Firmament verlor.106

Das Paradigma kann folgenderweise aufgezeichnet werden: Die Kunst erlöst das Individuum vom entwerteten, mechanischen Dasein. Durch die Musik konnte der nackte Heilige Ruhe finden, so dass „der Genius sich in das unendliche Firmament verlor“. An einer anderen, weniger poetischen Stelle stellt Wackenroder die Welt der Musik als eine „kleine fröhliche Insel“, als ein „Land des Glau-

105 106

Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. S.195. Wackenroder: Die Ewigkeit der Kunst. S.204.

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bens“ dar, auf die sich der Mensch auf seiner Flucht vor dem Dasein zurückzieht und seine „Ruhe“ und Erlösung findet: Und bald, - welche herrliche Fülle der Bilder! – bald ist die Tonkunst mir ganz ein Bild unseres Lebens: - eine rührend-kurze Freude, die aus dem Nichts entsteht und ins Nichts vergeht, - die anhebt und versinkt, man weiß nicht warum: - eine kleine fröhliche grüne Insel, mit Sonnenschein, mit Sang und Klang, - die auf dem dunkeln, unergründlichen Ocean schwimmt. –

Ferner: Fragt den Tonmeister, warum er so herzlich fröhlich sey auf seinem Saitenspiel. „Ich nicht,“ wird er antworten, „das ganze Leben ein schöner Traum? eine liebliche Seifenblase? Mein Tonstück desgleichen.“ – Wahrlich, es ist ein unschuldiges, rührendes Vergnügen, an Tönen, an reinen Tönen sich zu freuen! Eine kindliche Freude! […] – o, so tauch’ ich mein Haupt in dem heiligen, kühlenden Quell der Töne unter, und die heilende Göttin flößt mir die Unschuld der Kindheit wieder ein, daß ich die Welt mit frischen Augen erblicke, und in die allgemeine, freudige Versöhnung zerfließe. […] – o, so schließ’ ich mein Auge zu vor all’ dem Kriege der Welt, und ziehe mich still in das Land der Musik, als in das Land des Glaubens, zurück, wo alle unsre Zweifel und unsre Leiden sich in ein tönendes Meer verlieren, - wo wir alles Gekrächze der Menschen vergessen, […] sondern alle Angst unsers Herzens durch leise Berührung auf einmal geheilt wird. […] – mit kühner Sicherheit wandern wir durch das unbekannte Land hindurch, […]. […] Dann ist dem Menschen, als möcht’ er sagen: „Das ist’s, was ich meyne! Nun hab’s gefunden! Nun bin ich heiter und froh!“Laß sie spotten und höhnen, die andern, die wie auf rasselnden Wagen durch’s Leben dahin fahren, und in der Seele des Menschen das Land der heiligen Ruhe nicht kennen.107

Das Land der Kunst oder „des Glaubens“ ist der einzige Zufluchtsort auf dem das Individuum auf seinem Weg „aus dem Nichts […] ins Nichts“ Frieden, Ruhe und fröhliche Heiterkeit findet. Damit glaubte die Romantik, die erkannte und die erlebte Gefahr des Nihilismus als einer existentiellen Krise des Individuums überwinden zu können. Aber dafür, wie wir oben schon angedeutet 107

Wackenroder: Die Wunder der Tonkunst. In: Sämtliche Werke und Briefe. Bd.1. A.a.O., S.205f.

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haben, sollte ein hoher Preis gezahlt werden: Das ganze Universum musste dem titanischen Ich des Künstlers zu Füßen fallen und letztlich als ein Schauspiel des Ichs fungieren. Wenn die Kunst das Individuum vom Dasein erlöst und ihm einen freien und eigenständigen Status im Universum verleiht, so bedeutet das für das titanische Ich eine programmatische Zielsetzung: das ganze Universum in das produktive Nichts dieses titanischen Ichs zu verwandeln. Damit aber schließt sich wiederum der Kreis und die Warnung Jean Pauls und Jacobis vor der Gefahr des ‚poetischen Nihilismus’ die neben der erlösenden Funktion der Kunst dem romantischen Lebensgefühl weiterhin vor Augen bleiben muss.

DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

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Kapitel III Der Begriff der ‚Pseudoromantik’ im russischen Kulturraum in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Verwandtschaft mit dem deutschen Nihilismusbegriff 1

Die Rezeptionsgeschichte der deutschen Romantik in Russland

Wir wenden uns nun der Nihilismusproblematik in Russland zu. Der Nihilismusbegriff ist in der Diskussion über das Wesen der Romantik in der russischen Publizistik Ende der zwanziger Jahre entstanden. Der Kern der publizistischen Auseinandersetzung liegt jedoch tiefer, denn es handelte sich um viel mehr als nur um die romantische Literaturtheorie. Am Anfang des 19. Jahrhunderts befand sich Russland in einem Prozess des durch die europäische Romantik angestoßenen Umbruchs.1 Dieser bedeutete nicht nur eine ästhetische Wende in der Kunsttheorie, sondern vielmehr einen grundlegenden weltanschaulichen Schwenk der russischen Geschichte zur Moderne. Die Heftigkeit der Diskussion um diesen Prozess in Russland war historisch bedingt, denn während diese Wende in Mitteleuropa (vor allem in Deutschland und in Frankreich) durch eine lange philosophische Entwicklungsphase vorbereitet war, vollzogen sich die Ereignisse in Russland beinahe explosionsartig. Obwohl Russland während der Herrschaft von Katharina II. (1762-1796) unter dem Einfluss der französischen und der deutschen Aufklärung stand, fanden diese Ideen nie eine tiefere Akzeptanz und Resonanz in der russischen Kultur. Die Antriebskraft der Kulturwende schöpfte die russische Gesellschaft auch nicht aus der Philosophie, sondern aus der Literatur. Unter dem Zeichen der Literatur und in einer sehr kurzen Zeitspanne (ca. von 1818 bis 1836) ereignete sich in Russland das, wofür 1

Thiergen, P.: Deutsche Anstöße der frühen russischen NihilismusDiskussion des 19. Jahrhunderts. In: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G419. Paderborn 2008.

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Europa viele Jahrzehnte und mehrere Generationen brauchte: Die Ablösung von den alten, christlich-metaphysisch determinierten Kulturwerten und die Entstehung eines neuen, im weiteren Sinne modernen Denkmodus, welcher nicht nur eine Erneuerung der Literatur bedeutete, sondern darüber hinausgehend die Neuformulierung der allgemeinen Kulturwerte zur Folge hatte. In diesem Prozess spielte die deutsche romantische Kunst- und Literaturtheorie (neben dem englischen Sensualismus und der französischen romantischen Schule) eine außerordentlich wichtige Rolle. Werke von Goethe, Schiller, Tieck und Wackenroder, Jean Paul, Herder, Friedrich und August Schlegel, Fichte und Schelling hatten eine ungeheure Wirkung auf die russische Gesellschaft. Wie aus dem Nichts begann mit der Präsenz dieser Werke innerhalb der russischen Kultur eine breite und leidenschaftlich geführte Diskussion. Diese Debatte, in die sich sowohl die Befürworter der romantischen Theorie als auch ihre Gegner verwickelt sahen, und dabei auch oft die Seiten wechselten, mündete in einen Prozess der geistigen Modernisierung. Die Diskussion um die romantische Schule in Russland erinnert an den Pantheismusstreit in Deutschland: Die neue Lehre wurde unterschiedlich gedeutet und bewertet, fand Gegner und Befürworter, war aber als neue Realität der Kulturentwicklung nicht mehr aufzuhalten. Die literarische Wende in der russischen Literatur basierte auf der Rezeption der deutschen Romantik, aus der sich die russische literarische Avantgarde drei Leitgedanken angeeignet hat: den Individualismus, den Nationalismus und den Universalismus.2 Diese drei Leitprinzipien haben das Verständnis des literarischen Schaffens und der Literatur selbst verändert und damit den ästhetischen Geschmack des breiten Publikums grundlegend neu geprägt. Das literarische Werk musste nun erstens auf der Individualität des Autors beruhen; zweitens einen Bezug auf eine reine, von der Zivilisation nicht angetastete und deswegen natürliche Volkskultur haben; und drittens in dieser künstlerischen Symbiose einen allgegenwärtigen und einen allumfassenden Universalismus erreichen. Unter diesen Prämissen sind unschwer jene Themen erkennbar, welche wir in den oberen Kapiteln dieser Arbeit im Bezug auf deutsche Aufklärung und deutschen Idealismus untersucht haben. Wir zeigten auch, dass die Entwicklungen der europäischen und insbesondere der deutschen Geistesgeschichte in ihrem komplexen Zusammenhang 2

Vgl. Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. T.1. Varšava 1903, vielerorts.

DIE REZEPTIONSGESCHICHTE DER DEUTSCHEN ROMANTIK IN RUSSLAND

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sich letztlich auf einen Konflikt der althergebrachten und der neuen, modernen Wahrheitsnormen zurückführen lassen. Erst in diesem Rahmen gewinnt der Nihilismusbegriff von N.I. Nadeždin im Jahre 1829 seinen Kontext, seine Bedeutung und seine Relevanz.

1.1

Voraussetzungen der Romantikrezeption in Russland

Das am Anfang des 19. Jahrhunderts feststellbare Bedürfnis, das Kulturleben zu reformieren, hatte seine tieferen Wurzeln in der eigenartigen Entwicklung, welche die russische Kultur seit den Reformen Peters I. (1672-1725) erlebte.3 Peter I. ordnete aus etatistischen Gründen die russische orthodoxe Kirche dem staatlichen bürokratischen Apparat unter, was dazu führte, dass die Kirche durch diese Säkularisierung für die oberen Kulturschichten der russischen Gesellschaft ihre kulturbildende und ihre kulturbestimmende Rolle verlor. Die Reformen des ersten russischen Imperators bedeuteten im Grunde eine gezielte kulturelle Umorientierung Russlands nach dem Muster der weltlichen Mächte. Sie betrafen Bildung, Staatsaufbau, Militärwesen, Bauwesen, Jurisprudenz, Hofleben und sogar eine gesetzlich vorgeschriebene Mode und Kleidungsregeln. Die russischen Adligen hatten sich an dem Vorbild des Hoflebens Ludwigs XIV. in Frankreich zu orientieren, seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts waren die französische Sprache, Architektur, Theater und Literatur für den russischen Adel maßgebend geworden. Viele Russen wurden nach Frankreich und nach Deutschland an die Universitäten und Akademien geschickt, um dort in den Genuss europäischer Bildung zu kommen. Ein französischer oder ein deutscher Hauslehrer war in dieser Zeit eine Selbstverständlichkeit. Peter I. gründete im Jahre 1724 auch die Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg, im Jahre 1755 wird die Moskauer Universität (heute die Moskauer Lomonossov-Universität) gegründet. Diese Neugründungen kamen im Vergleich zu der europäischen akademischen Tradition um Jahrhunderte verspätet, so dass auf keine eigenen Gelehrten zurückgegriffen werden konnte. Die Professoren und Hochschuldozenten waren in Europa ausgebildet und 3

Nach wie vor eine tiefsinnige Darstellung dieser Zeit aus einer kulturhistorischen Perspektive: Mahna, V.: Diagnoz. In: Moskva. 1. 1996. Vgl. unter anderem: Förster, A.: Reformen für Russland: Leibniz und Peter I. und der Transformationprozess der Gegenwart. Berlin 1998; Burmistrov, T.: Sny Petra Velikogo. Moskva 2006.

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folgten zwangsläufig der europäischen akademischen Tradition. Diese Entwicklung musste dazu führen, dass die russischen kulturbildenden Schichten - mit dem europäischen Denken sehr vertraut die französische und dann die deutsche Hochkultur der eigenen russischen vorzogen. Es war bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Seltenheit, dass sich Adlige auf Französisch besser ausdrücken konnten als auf Russisch. Es gab bis zur besagten literarischen Wende keine russische Literatur oder Philosophie im eigentlichen Sinne des Wortes (es handelte sich bestenfalls um Nachahmungen nach den Regeln des französischen Klassizismus). Die kulturelle Umorientierung führte zu einer inneren Aufspaltung der russischen Kultur. Die russische Obrigkeit verlor jeglichen Bezug zu der russischen Volkskultur: Russische Traditionen, Bräuche und Sitten waren ihr unverständlich geworden und wurden als eine niedrigere Kulturstufe gering geschätzt. Aus der Vertrautheit mit den Neuentwicklungen der europäischen Kultur und dem wachsenden Bedürfnis, die kulturelle Spaltung zu überwinden und dadurch die Eigenständigkeit der russischen Kultur im Gegensatz zu der europäischen zu behaupten, entstanden am Anfang des 19. Jahrhunderts die Rahmenbedingungen für die Rezeption der neuen Kultur- und Literaturtheorie. Die romantische Theorie der Literatur, welche nun die Normen der Literatur nicht aus der Aristotelischen Poetik schöpfte, sondern den Akzent auf die Volkssprache und auf die nationale Volkskultur setzte, erschien nun als der Königsweg nicht nur zu der nationalen russischen Literatur, sondern auch zu der Selbstbestimmung der nationalen russischen Kultur als solcher und zu der Überwindung der historisch determinierten Spaltung der russischen Kultur. Diesen Prozess der Nationalisierung haben zwei historische Ereignisse in Bewegung gesetzt: Die Französische Revolution (1789) und der erste russische nationale Volkskrieg gegen Napoleon (1812). Nach der Französischen Revolution hat Katerina II. den Dialog mit der französischen Aufklärung abgebrochen und deren Erzeugnisse verboten. Die Erfahrung des Krieges mit Napoleon hat den Einfluss der französischen Kultur in Russland stark diskreditiert und zum ersten Mal die zwei Welten des Adels und des Volkes in einem gemeinsamen nationalen Selbstgefühl vereinigt. Von vielen ist der russische Staat und die russische Nation als Welterretter angesehen worden. Diese Entwicklung musste ein Interesse der russischen Gesellschaft an der eigenen Kultur wecken und war grundlegend für die breite gesellschaftliche Rezeption der Romantik.

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Die Ideen des Individualismus, des Nationalismus und des Universalismus mussten nicht nur zu einer Neubesinnung und Neupostulierung des Literaturwesens führen, sondern auch die Formen und Inhalte des politischen Lebens, des sozialen Aufbaus der Gesellschaft, der Bildung und der Erziehung in Frage stellen. Es ist nicht verwunderlich, dass die Zensur in romantischen Ideen und Werken eine akute Gefahr der politischen Revolution gesehen hat. Wir haben einige Belege dafür, wie hoch die Zensoren privat die romantischen Werke eingeschätzt haben, was aber nicht ihre Bedenken gegen die Verbreitung jener Bücher zerstreute. Sie hatten erkannt, dass die neuen literarischen Tendenzen in ihrem revolutionären Geist auch politische Folgen haben könnten, konnten aber in den betreffenden Werken selbst keine konkreten Gründe für ihre Vermutungen finden. Aus diesem Grund gab es keine klare Linie, nach welchem Muster Werke als gefährlich verboten werden sollten und welche nicht. Es kam vor, dass Schriften, die in Sankt Petersburg verboten waren, in Moskau zugelassen wurden und umgekehrt. So schrieb der Zensor Snegirev an den Fürsten Šalikov über die romantischen Balladen von Žukovskij: Die Ballade von Žukovskij habe ich mit Vergnügen gelesen, aber unterschrieben habe ich sie mit dem Zweifel in meiner Seele. Bringen Sie mich nicht in Versuchung, mein würdiger Fürst! Über sie habe ich etwas Ungünstiges gehört; ich glaube, die Zensur in Sankt Petersburg hat sie nicht durchgelassen.4

A.V. Nikitenko schreibt in seinem Tagebuch am 9. April 1834 über die Meinung des Bildungsministers über den Roman Der Glöckner von Notre-Dame von Victor Hugo: Ich war heute beim Minister. Ich habe ihm über einige Romane berichtet, welche aus dem Französischen übersetzt worden sind. „Die Kirche Gottesmutter“ Victor Hugos hat er befohlen nicht durchzulassen. Obwohl er über dieses Werk mit großem Lob ge-

4

Hier und weiter die Übersetzung aus dem Russischen des Autors. In: Iz pisem knjazja Vjazemskogo k Žukovskomu. Prilojenie k nim – Pis’ma Snegirjeva k kn. Šalikovu. In: Russkij Arhiv. T.1. 1900. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantieskij idealizm v russkom ob estve i literature 2030-tyh godov XIX stoletija. S.-Petersburg 1907, S.106.

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sprochen hat. Der Minister meint, dass es für uns noch zu früh sei, solche Bücher zu lesen.5

Mit ähnlicher Vorsicht sind die Zensoren auch bei anderen aus der russischen Sicht romantischen Werken (zum Beispiel bei Schillers Drama Wilhelm Tell oder bei Hamlet von Shakespeare) vorgegangen. Dass ihre Befürchtungen nicht ganz grundlos waren, beweist die terroristische Tätigkeit von mehreren politischen Organisationen in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts, deren politische Ideologie zweifellos in der ästhetischen Wende zur Moderne verwurzelt war. Eine grundlegende Voraussetzung für die Rezeption der Ideen der deutschen Romantik in Russland ist bisher kaum beachtet worden: Die enge Verbindung der deutschen und der russischen Freimaurer. Die russische Freimaurerei nahm ihren Anfang mit Peter I.: Es wird überliefert, dass der erste russische Imperator in den Niederlanden in eine Loge aufgenommen worden war. Der Beitritt zu den neu gegründeten Logen vor allem in Sankt Petersburg wurde schnell zu einer Modeerscheinung unter russischen Adligen. Zu einer gesellschaftlich wirksamen Macht hat sich die Freimaurerei aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt. Die entscheidende Rolle spielte dabei der deutsche Freimaurer Johann Georg Schwarz (1751-1784), der durch die Bekanntschaft mit dem Fürsten I. S. Gagarin im Jahre 1776 nach Russland übersiedelte und bereits im selben Jahr in Mogilev eine neue Loge gründete.6 Vor dieser Gründung existierten in Russland zwei freimaurerische Systeme: die nach dem englischen Prinzip organisierten Logen unter der Führung von I. P. Elagin und die nach schwedischem Muster arbeitenden Logen unter Leitung von P. V. Rejhel’. Schwarz gelang es, nicht nur beide Systeme zu vereinigen, sondern sie auch durch die Etablierung der mystisch-aufklärerischen Lehre der Rosenkreuzer neu zu inspirieren. Im Jahre 1781 unternahm Schwarz eine Reise nach Deutschland und wurde in Braunschweig in den Orden der Rosenkreuzer aufgenommen und in deren geheime Lehre eingewiesen. 1782 wurde Russland auf dem freimaurerischen Kongress in Wil5

6

In: Iz dnevnikov A.V. Nikitenko. In: Russkaja Starina. T.62. 1879. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantieskij idealizm v russkom ob estve i literature 20-30-tyh godov XIX stoletija. A.a.O., S.107. Vgl. Rauch, G.v.: Johann Georg Schwarz und die Freimaurer in Moskau. In: Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. Hg. von. Balàzs, È., Hammermayer, L.. Berlin 1979, S. 212-224.

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helmsbad als eine selbstständige freimaurerische Provinz anerkannt. Ihr Vertreter auf dem Kongress war Herzog Ferdinand von Braunschweig. Bereits ein Jahr später kam es jedoch zur Abspaltung Russlands, das nun der Berliner Loge Die Drei Globen der Rosenkreuzer beitrat. Die führenden Rollen in Russland hatten nun Schwarz, N. I. Novikov und P. A. Tatišev inne.7 Der enorme Widerhall und Einfluss der Rosenkreuzer in Russland ist aus der russischen Geschichte leicht erklärbar: Die Orthodoxe Kirche verlor seit den Reformen Peters I. ihre führende kulturbildende und spirituelle Rolle und wurde zunehmend als ein Teil der staatlichen bürokratischen Maschinerie angesehen. In dieses Vakuum stieß die mystische Lehre der Rosenkreuzer mit ihrer Innerlichkeit, Askese, Moralität und Gelehrtheit. Das Freimaurertum bot so einen naheliegenden Ersatz für die verlorene Spiritualität der Orthodoxen Kirche. Außerdem galt das Freimaurertum den Adligen als aufgeklärte Religion im Gegensatz zu dem orthodoxen Glauben, welcher als abergläubische Volksreligion angesehen wurde. In den importierten Gedanken glaubten die russischen Freimaurer ihre eigene nationale Religiosität wieder entdeckt und in ihnen eine Antithese gefunden zu haben gegen die atheistische und gottlose Philosophie der französischen Aufklärung, die auch politisch als gefährlich gedeutet wurde. Im Jahre 1790 schrieb einer der bedeutendsten russischen Freimaurer, I. V. Lopuhin, an seinen Freund, den Freimaurer im hohen Grade A. M. Kutuzov: „Ich glaube, dass die Aufsätze von Voltaire, Diderot, Helvetius und allen antichristlichen Freidenkern viel zu den heutigen Konvulsionen Frankreichs beigetragen haben.“ 8 Für unsere Untersuchung ist besonders die aufklärerische Seite der russischen Rosenkreuzer von Bedeutung.9 Durch die Intervention des Kurators der Moskauer Universität und Freimaurers M. M. Cheraskov bekommt Schwarz im Jahre 1779 eine Professur an der 7

8 9

Vgl. unter anderem: Braev, V.S.: Masony v Rossii ot Petra do naših dnej. Sankt Petersburg 2000; Pypin, A.N.: Religioznye dviženija pri Alexandre I. Sankt Petersburg 1998; Pypin, A.N.: Russkoe masonstvo XVIII i pervoj etverti XIX v. Red. i prim. G.V. Vernadskogo. Pg. 1916; Ivanov, V.F.: Ot Petra do naših dnej. Russkaja intelligenzija i masonstvo. Harbin 1934; Saharov, V.I.: Russkoe masonstvo v portretah. Moskva, 2004; Saharov, V.I.: Masonstvo i russkaja literatura XVIII-naala XIXvv. Moskva 2000. Braev, V.S.: Masony v Rossii ot Petra do naših dnej. A.a.O., S.482. Balàzs, È., Hammermayer, L. (Hg.): Beförderer der Aufklärung in Mittelund Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs. A.a.O., vielerorts.

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Moskauer Universität als Dozent der deutschen Philologie und Philosophie. In den folgenden Jahren entfaltet Schwarz in der Universität eine rege philologische Tätigkeit im Rahmen der universitären Bildung. Bereits 1779 stiftete Schwarz ein Pädagogisches Seminar (Uitel’skaja ili Pedagogieskaja seminarija) für die Ausbildung der Volksschullehrer, die erste private Lehranstalt in Russland, welche von russischen Freimaurern finanziert wurde. Wie zu erwarten, fand die allgemeine Bildung im Geiste der rosenkreuzerischen Ideen statt. Im Jahre 1781 stiftete Schwarz die erste wissenschaftlich-literarische Gesellschaft der Studierenden der Moskauer Universität (Sobranie universitetskih pitomcev). Die Aufgaben dieser Gesellschaft waren sowohl die Übersetzung als auch die Rezeption der deutschen und europäischen mystischen Aufklärer, die Mitglieder versuchten sich aber auch selber auf literarischem Gebiet. Die Gesellschaft unterhielt ein eigenes studentisches Journal, Das Morgenlicht (Untrennij svet). Im folgenden Jahr (1782) gründet Schwarz ein weiteres Seminar in der Moskauer Universität für die Ausbildung der Philologen und Übersetzer (Seminarija perevodeskaja), denn die publizistische Tätigkeit von Schwarz und Novikov verlangte qualifizierte Übersetzer für die Ausgaben der europäischen (vor allem der deutschen) schönen, philosophischen, mystischen und religiösen Literatur. In den zwanziger Jahren des folgenden Jahrhunderts bildeten die Studierenden der Moskauer Universität weitere Gesellschaften, deren Inhalt die Auseinandersetzung mit der deutschen Philosophie und Literatur war. 1782 Jahr gründeten Schwarz und Novikov Die wissenschaftliche Freundschaftsgesellschaft (Družeskoe uenoe obšestvo), welche eigentlich schon seit 1779 bestand, aber erst zwei Jahre später offiziell eröffnet wurde. Das Ziel dieser Gesellschaft war vor allem die Übersetzung und Herausgabe von Büchern mit geistigem, moralischem und spirituell-erzieherischem Inhalt. Die Mitglieder und Sponsoren dieser Gesellschaft waren fast alle bedeutende Politiker, Künstler, Literaten und gleichzeitig Freimaurer: N. I. Novikov, I. V. Lopuhin, S. I. Gamaleja, die Fürsten J. N. und N. N. Trubezkie, die Gebrüder E. P. und P. P. Turgenevs, V. I. Bašenov, M. M. Cheraskov, I. P. Strahov, Fürst A. M. Vjazemskij, A. M. Kutuzov, I. S und G. P. Gagarins, Fürst A. M. Dolgorukov und andere. Im Jahr 1784 stiftete diese Gesellschaft dann eine Typographische Gesellschaft (Tipografieskaja kompanija), welche mehrere Druckereien umfasste. Dann waren Die Wissenschaftliche Freundschaftsgesellschaft und Die Typographische Gesellschaft miteinander verzahnt und letztlich wuchsen alle von Schwarz und Novikov gegründeten Gesellschaften zu einer großen

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mystisch - erzieherisch - aufklärerischen Organisation zusammen. Schon im Jahre 1779 hatte Novikov die Druckerei der Moskauer Universität gemietet und gründete ein Buchgeschäft und die Zeitung Das Moskauer Nachrichtenblatt (Moskovskie Vedomosti), womit seine folgenreiche Arbeit als Verleger ihren Anfang nahm. Die Typographische Gesellschaft arbeitete seit ihrer Gründung bis zur Auflösung im Jahre 1792 auf kommerziell erfolgreicher Basis. Allein in Moskau verzehnfachte sich die Zahl der Buchgeschäfte innerhalb weniger Jahre von zwei auf zwanzig. Im Zeitraum von 1771 bis 1780 wurden in Russland 1466 Bücher herausgegeben, wovon 167 Ausgaben (11%) von Novikov verlegt wurden. Im Zeitraum von 1781 bis 1790 erschienen in Russland bereits 2685 Bücher, der Anteil der von Novikov und der freimaurerischen Gesellschaft verlegten betraf 28% oder 749 Bücher. Die Typografische Gesellschaft stiftete auch die ersten öffentlichen Bibliotheken, Apotheken und Krankenhäuser für Mittellose in Moskau und Sankt Petersburg. Schwarz, Novikov und Lopuhin konzentrierten sich nicht allein auf rosenkreuzerische Literatur. Die allgemeine Tendenz und das Ziel ihrer Verlagsarbeit blieb jedoch unverändert die allgemeine Aufklärung und Bildung im freimaurerischen Geiste. Selbst allgemeine und unterhaltende Literatur wurde als ein Mittel der Propagierung von rosenkreuzerischen Ideen verstanden, und mystischreligiöse Literatur bildete weiterhin den ideellen Kern und Sinn des ganzen Unternehmens. Bis zu 90% der von der Typografischen Gesellschaft gedruckten Bücher waren Übersetzungen aus dem Deutschen, Französischen und Englischen. Die Ausgaben können in vier Gruppen unterteilt werden: 1. Allgemeine- und Unterhaltungsliteratur: Prosa, Gedichte, Dramen, Komödien etc. 2. Bildungsliteratur: Aufsätze zu Geschichte, Literatur, Politik, Wirtschaft, Philosophie, Religion; 3. angewandte Literatur: Lexika, Lehrwerke, medizinische Nachschlagwerke, Wörterbücher etc. 4. Religiös-mystische Literatur, hauptsächlich Übersetzungen der deutschen Mystiker und der eigentlich freimaurerischen Literatur, die zum Teil nur für den internen Gebrauch gedruckt wurde. Die letzte Gruppe machte ungefähr ein Drittel aller gedruckten Bücher aus. Aus diesem kurzen Exkurs wird eindeutig erkennbar, dass die russische Aufklärung unmittelbar mit der Ideenwelt der Freimaurerei verbunden war, sie war von dieser nicht nur inspiriert, sondern auch finanziert. Die russischen Rosenkreuzer waren eng mit dem Leben der Moskauer Universität verbunden und unterrichteten eine

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neue Generation von jungen Intellektuellen, welche einerseits in ihrer spirituellen Erziehung vor allem nach Deutschland hin orientiert war und dabei ihre geistige Entwicklung mit der Literatur und mit dem Literaturwesen verband. Auch inhaltlich sollte die Freimaurerei die Rezeption der deutschen Romantik vorbereiten, denn die Konzentration auf das Individuum, auf Selbsterforschung und Innerlichkeit mit der Zuwendung zum Gefühlsleben, aber auch die Suche nach einem Absoluten im Ich und im Universum mussten sich für die Aufnahme auch der Ideen der Romantik als fruchtbarer Boden erweisen. Die Etablierung einer auf persönliche, mystische und religiöse Erziehung bedachten Literatur durch die FreimaurerAufklärung war der bedeutendste Schritt auf dem Wege der Entstehung der nationalen russischen Literatur. Durch die Sprache und Literatur einerseits und durch die produktive Aneignung von importierten Ideen andererseits suchten die russischen Rosenkreuzer ihre eigene kulturelle Identität gegen den allgemeinen französischen Einfluss zu bewahren und neu zu entdecken. Es ist kein Zufall, dass gerade diese Kreise sich - zunächst in aller Vorsicht - erstmalig nationalen Motiven, Liedern und Texten zuwandten. K. H. Batjuškov, G. D. Deržavin, D. I. Fonvisin, A. N. Radišev waren die ersten Freimaurer-Aufklärer, die es wagten, in ihren offiziellen und nach allen Regeln der klassizistischen Dichtkunst aufgebauten literarischen Werken nationale russische Volksmotive einzuführen. Deržavins Überlegungen über die Rolle des Volkes im nationalen Selbstgefühl beruhten auf Herder.10 Wir dürfen davon ausgehen, dass er in Herder nicht nur den Philosophen, sondern vielmehr den Bruder und Gleichgesinnten in einem höheren geistigen Bündnis sah. Vermutlich mit dieser Vorstellung von geistiger Führung durch Deutschland gingen viele russische Freimaurer auf ihre Bildungsreisen dorthin, um vor Ort in das höhere und geheime Wissen eingeweiht zu werden. Die bekannten Bildungsreisen nach Deutschland (vor 10

A.N. Radi ev, G.R. Deržavin und N.M. Karamzin waren die ersten Leser und Kenner Herders in Russland. Vor Allem seiner Ideen. Vgl. zum Thema Herder in Russland Danilevski, R.: Die erste Auffassung der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ in Rußland. In: Johann Gottfried Herder. Zur Herder-Rezeption in Ost- und Südeuropa. Hg. von G. Zeitgeist. Berlin. 1978, S.107f; Bittner, K.: J.G. Herder und A.N. Radi ev. In: Zeitschrift für slawische Philologie. 1-25. S. 8-53; Bittner, K.: J.G. Herder und G.R. Deržavin. In: Beiträge zur Einheit und Bildung der Sprache im geistigen Sein. Berlin 1957; Bittner, K.: J.G. Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ und ihre Auswirkungen bei den slawischen Hauptstämmen. In: Germanoslavica. 2. 1932/33.

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allem nach Berlin) haben hochgradige Freimaurer wie A. M. Kutuzov (1787), M. I. Nevzorov (1788), V. Ja. Kolokol’nikov oder M. N. Karamzin (1789) unternommen,11 um dort die Geheimnisse der Alchimie und des kabbalistischen Wissens zu studieren. Letzterer reiste mittellos, aber unterstützt von seinen Logenbrüdern und besuchte Hamann, Wieland, Herder und Nikolai in Berlin. Obwohl Karamzin sich später von den Freimaurern trennte, ist sein Einfluss auf den jungen A. S. Puškin – den Stifter der russischen Romantik, der auch der ‚russische Goethe’ genannt wurde und selbst Freimaurer war – unverkennbar und sehr tief gewesen. Sowohl die meisten Befürworter, Übersetzer und Verbreiter der deutschen Romanik in Russland als auch viele junge russische Romantiker selbst waren Freimaurer: I. F. Bogdanovi, K. H. Batjuškov, G. D. Deržavin, D. I. Fonvisin, A. N. Radišev, A. P. Sumarokov, M. N. Zagoskin, P. A. Vjazemskij, F. N. Glinka, V. F. Odoevskij, V. A. Žukovskij, M. N. Karamzin, A. S. Puškin, A. A. Delvig, V. K. Kjuhelbeker und viele andere. Zweifellos war die russische Freimaurerei eine der wichtigsten Voraussetzungen für die breite Rezeption der deutschen Romantik in Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

1.2

Die Wege der ästhetischen Wende in Russland

Es waren im Wesentlichen drei Quellen, durch welche das breite Publikum die Bekanntschaft mit neuen literarischen, philosophischen und ästhetischen Ideen machen konnte: das Theater, die literarisch-philosophischen Gesellschaften und vor allem die Presse.12 11

12

Vgl. Rothes, H.: N.M. Karamsins europäische Reise; Der Beginn des russischen Romans. Philologische Untersuchungen. Bad Homburg. 1968; Brang, P.: A.M. Kutuzov als Vermittler des westeuropäischen Sentimentalismus in Rußland. (Zum Problem der Attributierung anonymer Werke des 18. Jahrhunderts). In: Zeitschrift für Slavistik. 30. 1962. S. 44-57. Hier und folgend Informationen zum Gesellschaftlichen Leben, zum Pressewesen und zur Romantikrezeption in Russland in der ersten Hälfte des 19. Jh. aus mehreren Quellen. Vgl. vor Allem: Zamotin, I.I.: Romantieskij idealizm v russkom ob estve i literature 20-30-tyh godov XIX stoletija. A.a.O.; Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. T.1. A.a.O.; Bokova, V.M.: poha tajnih ob estv. Moskva 2003; Aronson, M., Rejser, S.: Literaturnye kružki i salony. Leningrad 1929. Repr. Leipzig 1973; Nedzveckij, V.A.: Russkaja literaturnaja kritika XVIII-XIX vekov. Kurs lektzij. Moskva 1994; Majmin, E.A.: O russkom romantizme. Moskva 1975; Saharov, V.I.: Stranizi

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Der Kenntnisstand der an Deutschland orientierten Gruppen der Philologen kann heute nur schwer abgeschätzt werden. Allgemein gilt, dass einerseits einige Kreise des gebildeten russischen Adels mit der Kulturentwicklung in Deutschland ziemlich vertraut waren und dass die Originaltexte oder ihre französischen Übersetzungen in der Regel zugänglich waren. Beim breiten kulturinteressierten und lesenden Publikum jedoch war noch am Anfang des 19. Jahrhunderts kaum Interesse an diesen Schriften vorhanden. Die Situation kann mit der Rezeptionsgeschichte Kants in Russland anschaulich gemacht werden. Eine erste, schlechte Übersetzung der Kritik der reinen Vernunft auf Russisch entstand erst in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Die zweite, bessere Ausgabe erschien sogar erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wurde Kant für das breitere Publikum frühestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, wahrscheinlich aber später, zu einem bedeutenden Begriff. Es wäre allerdings falsch zu behaupten, dass Kant vor dieser Zeit überhaupt keinen Einfluss in Russland gehabt hätte, weil der bereits von uns erwähnte Johann Georg Schwarz seine Vorlesungen zur Philosophie an der Moskauer Universität bekanntlich schon Ende des 18. Jahrhunderts über Kant hielt. Auch in der Geistesakademie in Sankt Petersburg war der philosophische Diskurs ebenfalls nach Kant ausgerichtet. Filaret Drozdov (der später Bischof und von der orthodoxen Kirche kanonisiert wurde) schrieb am 21. Juni 1809, als er als Philosophiedozent nach Sankt Petersburg eingeladen war, an seinen Vater: „Ich habe Aufsätze von Kant gekauft; für vier kleine Bücher im achten Format habe ich 25 r. bezahlt. So sind auch unsere Waren. Nicht nur sehr teuer, sie sind aber sehr wenige“.13 Es war übrigens eine lateinische Übersetzung von F. Born (die Leipziger Ausgabe 1796-1798), weil Drozdov der deutschen Sprache nicht mächtig war. In der akademischen Tradition war die deutsche klassische Philosophie schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts tonangebend, während die eigentlich russische philosophische Schule sich erst in einer frühen Entwicklungsphase befand. Mit anderen Worten: Wer sich für die deutsche Philosophie, Ästhetik oder Literatur interessierte, konnte an die entsprechenden Quellen gelangen, wenn nicht in deutscher, so doch in französischer Sprache (die lateinischen

13

russkogo romantizma. Moskva 1988; Zelinsky, B.: Russische Romantik. Köln 1975. Gavrjušin, V.K.: Razumnaja vera i mistieskoe duhovidenie. U istokov russkoj duhovnoj akademieskoj filosofii: svjatitel’ Filaret (Drozdov) meždu Kantom i Fesslerom. Moskva 2002, S.120.

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Übersetzungen der deutschen Texte, wie zum Beispiel Kants, waren ebenso keine Seltenheit). Dass das entsprechende Interesse in akademischen Kreisen und in dem Universitätswesen schon längst geweckt worden ist und bestand, haben wir vorhin schon gezeigt. Der erste Durchbruch der Romantik in das öffentliche Bewusstsein mitsamt dem folgenden Interesse an deutscher Philosophie, Ästhetik und Literatur fand allerdings im Theater statt. Der erste Erfolg einer nicht klassizistischen Tragödie datiert auf das Jahr 1812 und war mit dem Aufschwung des Patriotismus im Krieg gegen Napoleon verbunden. Bereits 1807 verfasst, handelte Ozerovs Tragödie Dmitrij Donskoj von dem Befreiungskampf des russischen Volkes gegen das Tatarenjoch. Das zunächst unbeachtet gebliebene Stück wurde nun ein enormer Erfolg. Diese Tragödie war zwar noch nicht als eine genuin romantische Schöpfung zu verstehen, aber entscheidend war, dass sie in russischer Sprache und ohne Berücksichtung der drei aristotelischen Regeln der Dramaturgie verfasst wurde. Subjekt der Tragödie war zum ersten Mal das einfache Volk, was als nahezu revolutionär empfunden wurde. Erfolgreich war auch das in Sankt Petersburg uraufgeführte Liebesdrama Dreißig Jahre oder das Leben eines Spielers von Djukanš. Es wurde damals für romantisch gehalten und versetzte der Autorität des Klassizismus einen entscheidenden Schlag. Zwei Jahre später, 1829, folgte Schillers Drama Don Karlos. Dem Publikum war Schiller bereits ein Begriff durch die früher aufgeführten Stücke Die Räuber und Kabale und Liebe. Für den Erfolg beim Publikum sorgte die Tatsache, dass das Stück erstens direkt aus dem Deutschen übersetzt und zweitens nicht nach den klassizistischen Mustern umgeschrieben wurde. Der Geschmack des Publikums veränderte sich so, dass nun der neue Geist der Stücke unverändert aufgenommen wurde. Noch in den vorherigen zehn Jahren wurden die Stücke Schillers, Lessings, Shakespeares meistens in französischer Übersetzung und den klassizistischen Formen angepasst gespielt. Diese Bearbeitungen, die kaum mehr als eine Ahnung vom Original vermitteln konnten, fanden nun immer weniger Zuspruch. Zu der allmählichen Wandlung des Geschmacks trug die Übersetzertätigkeit von Žukovskij, I. Turgenev, Vjazemskij, Fürst Odoevskij und anderen entscheidend bei. Diesen Übersetzern gelang es, Schiller, Lessing und Goethe neues Leben in russischer Sprache zu verleihen, nachdem noch in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts die romantischen Werke von dem russischen Publikum als unheimlich, erschreckend und geschmacklos empfunden wurden (so war zum

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Beispiel das Publikum zunächst von Goethes Faust entsetzt, weil es als vollkommen unmöglich erschien, den Teufel auf der Bühne darzustellen). Ab 1837 war kaum noch die Rede vom französischen Klassizismus im russischen Theater. Die Romantik - zumindest im Sinne des russischen Verständnisses von Romantik - hatte sich nun vollkommen durchgesetzt. Die eigentliche literarisch-ästhetische Revolution vom Klassizismus zur Romantik vollzog sich jedoch hinter den Kulissen in freien literarischen Versammlungen. Seit dem Anfang der zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts entstanden zahlreiche unpolitische, freie Gesellschaften und Versammlungen, welche sich ausschließlich mit Literatur, Ästhetik oder Philosophie beschäftigten. Ihre gesellschaftliche und kulturelle Rolle ist kaum zu überschätzen, denn es waren diese Diskussionsforen, in denen die neuen Ideen rezipiert und diskutiert wurden. Ein Prozess der Aussortierung und kritischen Diskussion ging der Weitergabe an das breitere Publikum voraus. Aus diesen Foren stammten die Schriftsteller, Maler und Architekten jener neuen Epoche, die wir dann auch in Russland ‚Romantik’ nennen. Der turbulente, gelegentlich chaotische und wilde Charakter dieser Versammlungen illustriert sehr anschaulich das Fieber, in dem sich die russische Kultur zu dieser Zeit befand. Den freigesetzten Enthusiasmus der literarischen und letztlich weltanschaulichen Erneuerung hat Zamotin treffend als ein „Bedürfnis nach der Romantik“14 beschrieben. Dieses Bedürfnis speiste sich aus der inneren Situation der russischen Oberschicht-Kultur, aus ihrer eigentümlichen, von den nationalen Wurzeln abgespalteten Lage; und war zunächst nur durch die Rezeption und Aneignung der französischen, vor allem aber der deutschen Romantik zu stillen. Dass ein fruchtbarer Boden dafür schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts gegeben war, haben wir oben erläutert. Um einen Eindruck der Atmosphäre der literarischen Versammlungen zu erlangen, zitieren wir aus den Notizen von K. A. Polevoj, dem Bruder von N. A. Polevoj: Die ganzen Abende sind in dem Meinungsaustausch über sie [die deutsche Philosophie] vergangen, und es war genug für meinen empfindlichen Bruder. Er eignete sich einige Ideen der Transzendentalphilosophie an und hat angefangen, Bücher zu lesen, welche in ihrem Geist geschrieben wurden; er war schon der Anhänger der neuen Ansichten, als das Schicksal ihn mit vielen jungen Leuten annährte, welche die deutsche Philosophie studierten. […] 14

Zamotin, I.I.: Romantieskij idealizm v russkom obšestve i literature 2030-tyh godov XIX stoletija. A.a.O., S.96.

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Šelichov erzählte: - Ich kam in Verzweiflung! Während meiner Auseinandersetzung mit dem „System des transzendentalen Idealismus“ musste ich mich für Hilfe an meinen lieben Bruder wenden und mich mit ihm beraten; manchmal sind wir in einen Zustand des Geistes geraten, dass wir weinten und uns die Haare aus dem Kopf rissen! Und nun? Alles hat sich für uns aufgeklärt, als wir „Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt“... gelesen haben.

An einer anderen Stelle: Ich kann mich gut erinnern, dass einmal an einem Abend ein Disput angefangen hat, welcher bis in die tiefe Nacht nicht aufhören wollte, um ihn zu beenden, haben wir uns verabredet, uns am nächsten Tag bei Kireevskij wieder zu versammeln. Am nächsten Tag sind alle Beteiligten erschienen, aber die leidenschaftliche Auseinandersetzung hat so lange gedauert, dass zum Schluss Rozberg, müde und erschöpft, im Gesicht von dem zweitägigen Disput gezeichnet, sich feierlich mit tiefer Überzeugung an Kireevskij wendend, sagte: - Ich bin nicht einverstanden, aber ich habe keine Kraft mehr, weiter zu diskutieren!15

Die Versammlungen fanden meist regelmäßig und im privaten Rahmen statt, waren aber gegenüber dem bekannten Salonleben des 19. Jahrhunderts bedeutend freier, denn unabhängig von Status, Beruf oder Abstammung waren alle Interessierten an der Literatur und Kultur willkommen. Die anspruchsvolleren Versammlungen hatten eine eigene Satzung samt Aufnahmeritual und leisteten sich ein eigenes Journal. Die Clubs verschwanden meistens nach sieben bis zehn Jahren, wurden aber durch Neugründungen ersetzt. Die meisten Literaten oder Journal-Herausgeber waren gleichzeitig an mehreren Gesellschaften beteiligt und gehörten oft zu den Freimaurern, so dass ein reger Austausch zwischen den Clubs gegeben war. Diese Versammlungen hatten keine festen ideologischen Richtlinien, sondern vollzogen sich in einem stetigen intellektuellen und personalen Fluktuationsprozess. Spaltungen, Sezessionen, Intrigen gegen andere Clubs und auch untereinander waren die Regel. Die Versammlungen hatten einen durchaus sinnlichen Charakter, denn die Debatten und Vorträge waren von gutem Essen und Trinken begleitet, die Stimmung war oft angeregt und heiter. Der Wein spielte dabei keine unbedeutende Rolle. Der Umgang der Teilnehmer unter 15

In: Polevoj, . .: Zapiski. S. 89, 154ff. Zitiert nach: Bokova, V.M.: poha tajnih ob estv. A.a.O., S.167ff.

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einander war frei und ungezwungen. Selbstverständlich war die Qualität solcher Versammlungen unterschiedlich: so wurde etwa der Liberalismus oft missverstanden und mit ‚dem Romantischen’ gleichgesetzt. Diese begriffliche Indifferenz öffnete Scharlatanen und Charismatikern aller Art die Türen und machte diese Treffen beinahe zu dionysischen Orgien. Erscheinungen dieser Art gehörten zu dem Geist der Epoche, beeinträchtigten aber nicht den wahren Kern dieser gesellschaftlichen Entwicklung.16 Ein kurzer Überblick über die bedeutendsten Versammlungen der zwanziger Jahre verdeutlicht die Bedeutung der Gesellschaften für die Rezeption der Romantik in Russland. Die Gesellschaft Das Gespräch der Liebhaber des russischen Wortes (Beseda ljubitelej russkogo slova) unter dem Vorsitz von Deržavin existierte bis zu dem Tod ihres Vorsitzenden im Jahre 1816 in Sankt Petersburg. Seit dem Dezember 1816 versammelte sich auch in Sankt Petersburg Die Freie Gesellschaft der Liebhaber der Mündlichkeit, Wissenschaften und Künste (Wolnoe obšestvo ljubitelej slovestnosti, nauk i hudožestv) unter dem Vorsitz von Izmajlov. Die meisten Mitglieder gehörten gleichzeitig der freimaurerischen Loge Auserwählter Michael (Izbrannogo Mihaila) an, so Izmajlov selbst, F. Tolstoj, Glinka, Gre, Delvig, Nikitin, Kjuhelbeker und andere. Žukovskij, Batjuškov, Puškin, Rileev, Somov waren zwar an den Versammlungen beteiligt, spielten aber keine besondere Rolle. Bemerkenswert ist die ideologische Spaltung, welche die Gesellschaft seit ihrem Neubeginn prägte, denn es gab eine Partei der Romantiker und eine gegnerische Fraktion, zu der Izmajlov selbst gehörte. Ab 1818 war das Journal Der Wohlgesinnte (Blagonamerennyj, Herausgeber Izmajlov) das offizielle Blatt der Gesellschaft, welches sich anfangs bemühte, eine neutrale Position im literarischen Ringen um die Romantik einzunehmen. Ab dem Jahre 1821 aber, als die romantische Partei dieser Gesellschaft eigene Versammlungen veranstaltete, nahm das Journal gegenüber Romantik eine ablehnende Position ein, was nach vier Jahren zu der Auflösung der Gesellschaft führte. Die führende Rolle im Kulturleben Russlands übernahm seit den zwanziger Jahren Moskau, weil hier die breitere Rezeption des deutschen Idealismus und der Romantik in der Literatur stattfand, welche den philosophischen, literarischen und im weiteren Sinne weltanschaulichen Ersatz der klassizistisch-französischen Tradition 16

Vgl. Pypin, A.N.: Obšestvennoe dviženie v Rossii pri Alexandre I. Sankt Petersburg 2001.

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bedeutete. Wie bereits erwähnt, war das Zentrum der Übersetzung, Assimilation und Verbreitung der deutschen Philosophie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts die Moskauer Universität. Der Naturwissenschaftler M.P. Pavlov und der Philosophiedozent G.A. Davidov vermittelten ihre Fächer im Geiste der deutschen Naturphilosophie, insbesondere derjenigen Schellings, welche mit Begeisterung und Enthusiasmus aufgenommen wurde. Es wurden zwei unterschiedliche, aber praktisch unzertrennliche Studiengesellschaften der Liebhaber der deutschen Philosophie gegründet, und zwar unter der Führung von S.E. Rai und D.V. Venevitov. Sie existierten von 1819 bis 1826 und sind für unsere Untersuchung bedeutend, weil sich aus diesen Kreisen schließlich die literarischen Gesellschaften bildeten, welche sich explizit der Beschäftigung mit der deutschen Romantik widmeten. Rai bildete zunächst Die Literarische Gesellschaft (Literaturnyj Kružok) (1819-1821) und später Die Freundschaftsgesellschaft (Obšestvo druzej) (1822-1825). Mitglieder waren Tjutev, Murav’jev, Dmitriev, Ševirjev, Polevoj, Odoevsij, Vjazemskij, Pogodin und andere. Venevitov war Gründer mehrerer Versammlungen: Die Gesellschaft der Philosophieliebenden (Obšestvo ljubomudrija), Der Kreis der Archivjungen (Kružok archivnyh junošej) und Die geheime Gesellschaft der Philosophieliebenden (Tajnoe obšestvo ljubomudrov). Die wichtigsten Figuren waren hier wieder Odoevskij, Puškin, Ozerov, Pavlov, Košeljev, Kireevskij, Ševirjev, Pogodin und Polevoj. Zu ihren Druckorganen gehörte Der Moskauer Bote (Moskovskij Vestnik) (1827-1830, Herausgeber Pogodin), Mnemozine (1824-1825, Herausgeber Kireevskij, Kjuhelbeker) und Der Moskauer Telegraph (Moskovskij Telegraf) (1825-1834, Herausgeber Polevoj). Karamzin hatte ebenfalls seinen eigenen Salon, der von 1818 bis zu seinem Tod im Jahre 1851 bestand. Er ist durch seine Sachlichkeit und thematische Breite bekannt geworden. Nicht nur die Literatur, sondern auch die Neuigkeiten des gesellschaftlichen und des sozialen Lebens, Staatsreformen, die Entwicklung der Innen- und Außenpolitik, die Fragen der Bildung, der Geschichte und des Rechtes waren Gegenstände der ungezwungenen Konversation. Dass bei diesen Versammlungen und ihren Presseorganen die Rede von allseitiger, auch politischer Modernisierung des Landes war, beweißt die Tatsache, dass sehr viele der genannten Herausgeber der Journale (Kireevskij, Kjuhelbeker, Ryleev, Odoevskij und andere) seit 1816 Mitglieder des Verbandes der Rettung (Sojuz spasenija) waren und im Jahre 1825 den Kern des politischen Dekabristen-Aufstandes ausmachten. Der Modernisierungsgeist der Romantik schlug in Russland am schnellsten in Europa in

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die Philosophie der Tat um.17 Auch nach 1836 fand in ähnlichen Versammlungen die Hegel-Rezeption in Russland statt: Aus dem bekannten Nikolaj Stankevi-Kreis entwickelten sich die russischen ‚Westeler’ mit dem Gedanken der radikalen Revolution. Alexandr Herzen, Mihail Bakunin, der sich als erster in Europa als einen Berufsrevolutionär bezeichnete,18 begannen ihre revolutionäre Kariere als entschlossene Linkshegelianer.19 Die rasche Entwicklung des Pressewesens in Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war aufs engste mit dem allgemeinen Aufbruch der russischen Kultur verbunden, und der innerkulturelle Streit um die Romantik und die allgemeine Rezeption des deutschen Weltbildes spiegelte sich auf den Seiten der damaligen Blätter wider. Wir unternehmen nun einen kurzen Überblick über einige der wichtigsten Presseorgane, welche in die weltanschauliche Auseinandersetzung involviert waren.

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19

Zum Thema der Verbindung der revolutionären Nihilisten mit russischer Romantik und Gesellschaftsleben in der ersten Hälfte des 19. Jh. vgl. Kupczanko, G.: Der russische Nihilismus. Leipzig 1884. Vgl. Grawitz, M.: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit. Hamburg 1998; Wittkop, J. F.: Mihail A. Bakunin. Rowohlt, Hamburg 1974. Vgl. unter anderem Jakowenko, B.: Ein Beitrag zur Geschichte des Hegelianismus in Russland. Prag 1934; Jakowenko, B.: Zweiter Beitrag zur Geschichte des Hegelianismus in Russland. Hegel und die Anfänge des Slawophilentums. Prag 1935; Jowtschuk, M.: Die Interpretation der Hegelschen Philosophie in Russland (bis Lenin). In: Hegel-Jahrbuch 1970. Meisenheim am Glan 1971, S.99-112; Jowtschuk, M.: Die Hegelsche Philosophie und die russische Philosophie des 19. Jahrhunderts. In: Voprosy filosofii. 4. Moskau 1957.

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2

Der Nihilismusbegriff in Russland

2.1

Die russische Presse im Streit um die Romantik und der Begriff der ‚Pseudoromantik’

Es wäre im eigentlichen Sinne des Wortes falsch, von einem Streit in der Presse zu sprechen, denn es handelte sich eher um eine produktive Polemik. Die Wende zum Romantischen ist in den zwanziger Jahren eine Tatsache geworden, und die Polemik um die neuen Begriffe hatte einerseits einen stark definitorisch-reflexiven Charakter und andererseits eine stark produktive Seite, denn es war klar, dass der Romantik nicht nur eine literarische, sondern auch eine soziale, gesellschaftliche, politische Wende folgen würde. Die Herausarbeitung der richtigen Begriffe, des Verständnisses, und des Wissens um die Zusammenhänge der Romantik gewann enorm an Wichtigkeit, weil es sich dabei um eine Neukodierung der russischen Kultur und um die zukünftige Entwicklung Russlands handelte. Die Polemik um die Romantik schwankte zwischen Reflexion und Produktivität und bedeutete in ihren Widersprüchen und Kontroversen insgesamt einen einheitlichen Prozess. Aus diesem Grund sind keine klar abgrenzbaren Parteien entstanden, der Meinungsaustausch trug vielmehr einen spontanen, geradezu chaotischen Charakter. Die Namen von Goethe und Schiller werden in der russischen Presse zum ersten Mal in dem Journal Korifej (1802-1807) erwähnt. Goethe wird als ‚ein zarter Goethe’ bezeichnet,1 Schiller wird als Autor der Räuber gewürdigt.2 Im Jahre 1805 wird in der Nördliche 1

2

Vgl. unter anderem Gorlin, M.: Goethe in Russland. In: Zeitschrift für slawische Philologie. 9. 1932. S.335-357; Jagoditsch, R.: Goethe und seine russischen Zeitgenossen. In: Germanoslavica. Bd. 1. 1931; Harnack, O.: Goethes Beziehungen zu russischen Schriftstellern. In: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte und Renaissanceliteratur. Bd. III. 4,5. Berlin 1890; Bittner, K.: V.A. Žukovskij und die klassische Dichtung. In: Ostdeutsche Wisenschaft. 6. 1959, 216-253; Veselovskij A.: V.A. Žukovskij. Petersburg 1904. Vgl. unter anderem: Wais, K.K.: Schillers Wirkungsgeschichte im Ausland. In: An den Grenzen der Nationalliteraturen: vergleichende Aufsätze. 1958 Berlin., S.62-100; Harder, H.-B.: Schiller in Rußland. Materialien zu einer Wirkungsgeschichte (1789-1814). Bad Homburg 1969; Harder, H.-B.: Schiller und die russische Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Wechselbeziehungen zwischen deutscher und slawischer Literatur. Köln 1978; Kostka, E.: Schiller in Russian Literature. Philadelphia 1965; yževskij,

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Bote (Severnyj Vestnik) zum ersten Mal auf den Begriff des ‚Romantischen’ eingegangen. Das ‚Romantische’ wurde demnach als das Wunderbare und als Synthese der Musik und der Poesie gedeutet.3 Der Artikel ist auf Grund einer Übersetzung aus dem Deutschen entstanden. Erst das Journal Mnemozine (1824-1825) setzte sich dann die Auseinandersetzung mit den neuen literarischen Ideen zum Ziel. Die Herausgeber hatten drei Aufgaben vor Augen: 1) Die richtigen Vorbilder und Autoritäten in der deutschen Romantik auszuwählen; 2) Die Idee eines ‚reinen’ Klassizismus und einer ‚reinen’ Romantik theoretisch zu definieren, wobei auch ein Begriff des Pseudoromantischen auszuarbeiten war; und 3) Die Wege der nationalen russischen Literatur zu entwerfen. Das Journal verstand sich als ein Organ, welches die Ideen der deutschen Philosophie und der Romantik verbreiten und zur Debatte stellen wollte. Eine Ablösung von den französisch-klassizistischen Idealen war dabei erklärtes Ziel. Odoevskij allerdings nahm in seinem Artikel Über die Richtung unserer Poesie (O napravlenii našej poezii) zu einigen Erscheinungen der Romantik eine kritische Haltung ein, wenn er polemisierte, dass in der romantischen Bewegung Schwermut und Demut dermaßen verbreitet seien, dass es scheine, die russischen Romantiker würden bereits als Greise zur Welt kommen. Die von den Romantikern beschworenen Bilder der Nebel über den Wassern, über Wald und Flur erschienen ihm als Nebel in den Köpfen der Verfasser. Das Journal existierte nicht lange und hat letztlich nur die erste der von uns genannten Aufgaben bewältigen können, nämlich die Aufmerksamkeit der russischen Kritik auf die deutsche Romantik zu lenken. Nachfolger des Blattes war Der Moskauer Bote (Moskovskij Vestnik) (1827-1830). Dieses Journal befasste sich eingehend mit der Ausarbeitung eines romantischen Konzepts und seiner Unterscheidung von der klassizistischen Theorie. Es bediente sich dabei weitgehend der deutschen Romantik. So wurden Übersetzungen von Goethe (Wilhelm Meister, Götz von Berlichingen, Faust) und Schiller (Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, Dramen) unternommen, und zum ersten Mal die Schriften zur Ästhetik von Friedrich Ast System der Kunsttheorie oder Aesthetik (1805) und Carl Friedrich Bachmann Die Kunstwissenschaft in ihren allgemeinen Umrissen dargestellt für akademische Vorlesungen (1811) vollständig veröffentlicht. Weiter wurden Werke von August und Friedrich Schlegel Vorlesun-

3

D.: Schiller und die „Brüder Karamazov“. In: Zeitschrift für slawische Philologie. 6. 1929, 1-42. Vgl. unter anderem: Zelinsky, B.: Russische Romantik. A.a.O..

DER NIHILISMUSBEGRIFF IN RUSSLAND

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gen über die Theorie der bildenden Künste, Geschichte der alten und der neuen Literatur, Schelling Naturphilosophie, Fichte Wissenschaftslehre, Herder Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit, Wackenroder/Tieck Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Phantasien über die Kunst, Lessing, Wieland, Winckelmann, E.T.A. Hoffmann und andere übersetzt und kommentiert. Aus diesen Quellen hat Der Moskauer Bote eine im Grunde neue Theorie der Literatur im Geiste der deutschen Romantik erarbeitet. Wir fassen einige Leitgedanken zusammen: 1) Literarisches Schaffen hat sich nach der historischen und örtlichen Umgebung zu richten (Prinzip der Zeit und des Raumes in der Literatur); 2) Der Klassizismus und die Romantik sind die wichtigsten Wendepunkte der literarischen Entwicklung Europas. Ihre Unterschiede und ihre Beziehung zueinander müssen erforscht werden; 3) Die Romantik ist die Literatur des neuen Europa. Ihr Wesen ist die Entfaltung des selbstreflexiven, schöpferischen Individuums, ihr Hauptmotiv ist der idealistische Universalismus, das Streben zum Unbedingten. Die Hauptbedingungen des künstlerischen Schaffens sind die unbegrenzte Freiheit der Kunst und des Künstlers gegenüber der materiellen Realität und der allgemeinen Moral. Weiter hieß es, die ideale Form der Romantik sei der Roman, aber auch die Ballade und das Drama werden eng mit der romantischen Literatur verbunden. Bemerkenswert ist, dass Herder eine besondere Rolle in der Entstehung der neuen Literaturtheorie in Europa zugeschrieben wurde. Pogodin betonte in seinem Kommentar zu den Ideen zur Geschichte der Philosophie der Menschheit, dass es Herder gelungen ist, alle Fragestellungen der neuen Epoche in einem einheitlichen Zusammenhang darzustellen und dabei alle unterschiedlichen Fäden dermaßen zusammen zu binden, dass sie später wieder auseinander laufen konnten.4 Auch der Moskauer Bote war jedoch nicht gänzlich unkritisch gegenüber der Romantik. Venevitov wies in einem Aufsatz beiläufig darauf hin, dass die wahre Romantik von der „pseudoromantischen Pest“ unterschieden werden müsse, denn diese biete nur „geistlose Gedichte, in welchen es weder Anfang noch Ende gibt, charakterlose Romane und Novellen, streitsüchtige Kritikern, welche nur aus Trotz gegen die eingeborenen Gesetze der Logik und die angenom4

Dass Herder einen starken Einfluss z.B. auf Žukovskij hatte, belegt die Studie von Bittner, K: J.G. Herder und V.A. Žukovskij. In: Zeitschrift für slawische Philologie. Band XXVIII, I. Heidelberg 1959, S.1-44.

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menen Normen des Anstands verfasst wurden. Sie gehören zu der Zahl der romantischen Werke noch weniger als die Poeme von Schapelen zu der klassischen Poesie.“5 Der Moskauer Telegraph (Moskovskij Telegraf) (1825-1834, Herausgeber Brüder Nikolaj und Ksenofont Polevoj) war ein bedeutendes Journal, welches zur Herausarbeitung der romantischen Literatur in Russland beitrug. Polevoj allerdings richtete seine Aufmerksamkeit stärker auf die französische Romantik. Diese Orientierung war der Tatsache geschuldet, dass die Epoche der Romantik in Deutschland in der Mitte der zwanziger Jahre bereits im Auslaufen begriffen war und von dem Realismus verdrängt wurde. Die romantische Schule in Frankreich dagegen erlebte gerade ihre Blütezeit. Polevoj interessierte sich auch weniger für abstrakte Literaturtheorie, sondern viel mehr für ihre historischen Entwicklungsaspekte und ihre praktische Anwendung auf die Realitäten in Russland. George Byron, Walter Scott, Victor Hugo, Prosper Mérimé, Honoré de Balzac interessierten den Herausgeber mehr als die abstrakte Naturphilosophie Schellings, obwohl auch deutsche Autoren wie Goethe, Schiller, Herder oder Jean Paul auf den Seiten des Journals präsent waren. Der Moskauer Telegraph war sich über die Verbindung des späten 18. Jahrhunderts mit der gegenwärtigen Entwicklung der Romantik in Russland bewusst und hat als erster das breite Publikum darauf aufmerksam gemacht. Die meisten Einwände gegen die Romantik kamen von den Journalen Der Wohlgesinnte (Blagonamerennyj, 1818-1825, Herausgeber: Izmajlov) und Der Bote Europas (Vestnik Evropi, 1815-1832, Herausgeber: M.T. Kaenovskij, N.I. Nadeždin). Diese Blätter knüpften an das Athenäum (Atenej), Der Geist der Journale (Duh žurnalov) und das Damenjournal (Damskij žurnal) an. Wie wir schon andeuteten, hatte die Opposition keinen systematischen Charakter und die Polemik keine klaren Richtlinien. Opposition darf hier nicht wörtlich verstanden werden: Der Bote Europas, Der Wohlgesinnte und das Athenäum sind anfangs auch als Befürworter der romantischen Theorie aufgetreten und änderten erst im Laufe ihren Standpunkt. Einige Beispiele sollen nun die Kritikpunkte der romantischen Opposition veranschaulichen.

5

In: Razbor rassuždenija g.Merzljakova. In: Soinenija D.V. Venevitova. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.108.

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Sowohl die oberflächlichen Imitationen der deutschen und der französischen Vorbilder als auch ein viel zu liberales Verständnis der Romantik zwangen den Moskauer Telegraphen zur Unterscheidung des wahrhaft Romantischen von „dem falschen Gebrauch dieses Wortes“: Wenn wir sehen, dass die Bezeichnung „romantisch“ oft an den dramatischen Werken festklebt, so müssen wir uns endlich gegen solchen Missbrauch oder, sagen wir es milder, gegen falschen Gebrauch dieses Wortes wehren. Viele Verfasser, übrigens nicht nur bei uns, sondern auch in anderen Ländern, verstehen die Bedeutung des Wortes „romantisch“ selbst nicht und sehen in ihm eine Ausrede, dank derer jedes Zeug mühelos akzeptiert werden kann. Alles was so einfällt, alles was so in den Kopf kommt, kann auf der theatralischen Bühne aufgeführt werden, und dann sagt der Verfasser: „Meine Herren, das ist – romantisch!“ – Und das Publikum schweigt, genau so, wenn Kritiker eine schlechte Übersetzung mit dem Original nicht vergleichen, wenn der Übersetzer sich so schlau machte, sich in der Überschrift mit den Worten „freie Übersetzung“ unantastbar zu machen.6

Viele romantisch gesinnte Literaten in Russland wollten die spezifisch klassizistische Trockenheit der Sprache überwinden und ihrer Sprache mit der Wärme des Gefühls und einer neuen Sinnlichkeit zu tieferer Ausdruckfähigkeit verhelfen. Dabei verfielen sie jedoch oft in Geschmacklosigkeit und in sinnlose Rhetorik. Das Damenjournal wollte seine Leserinnen über die neue romantische „Mode“ aufklären und bot aus diesem Grund ein satirisches Wörterbuch der romantischen Sprache an. Ein Beispiel vermag eine anschauliche Vorstellung von der übertrieben „romantischen“ Sprache zu vermitteln, auch wenn es sich dabei natürlich um Satire handelt: Der Mann. Ein Tier mit den Beinen im Matsch stehend und seinen Kopf im Himmel tragend. Die Tinte. Die schwarzen Äußerungen der Gedanken, welche der Bescheidenheit einer waltenden Schreibfeder anvertraut sind. Der Hut. Das Dach des menschlichen Gebäudes. Das Kind. Eine unentfaltete Knospe der aufgeblühten menschlichen Blume.7

6

7

In: Moskovskij Telegraf. XX. 1828. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.232. In: Damskij jurnal. II,9. 1828. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.248.

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Verbreitet war der Versuch, der Sprache durch die Verwendung von Fremdwörtern aus dem Deutschen, Englischen und Französischen Tiefsinn zu verleihen, was besonders dann ungeschickt war, wenn Begriffe aus der Ästhetik oder der Philosophie benutzt wurden, deren Bedeutung von den Autoren selbst nicht immer nachvollzogen werden konnte. Der Geist der Journale beklagte sich über die romantische Themenauswahl: „Wie tief werden wir von den Romantikern beleidigt! Aus welchem Grund muss das Glück der Räuber mit solchem Eifer dem ehrenhaften Publikum gemalt werden?“8 In dem Streben, aus dem klassizistischen Regelkorsett auszubrechen und die neuen Prinzipien der freien Kunst zu etablieren, gingen viele Romantiker so weit, dass sie die Absurdität streiften. Deswegen merkte Der Wohlgesinnte mit Recht an: „Ich glaube, dass die romantische Poesie, welche üblicherweise der klassizistischen gegenübergestellt wird, die Gedichte bedeutet, die ohne alle Regeln verfasst sind, welche sich im Laufe der Jahrhunderte etablierten und welche auf dem wahren Geschmack ruhen.“9 In einem anderen Artikel wird der Typ des neuen Literaten und Künstlers satirisch dargestellt: Der Dichter (der Romantiker) kennt keine Grenzen, seine feurige Phantasie umfasst das ganze Universum, sein Genie ist ein Despot, er gestaltet alles nach seinem Wunsch; sein Geschmack unterscheidet sich von dem üblichen; die Art des Ausdrucks ist besonders, wenn Sie wollen, seltsam, sogar manchmal unverständlich, weil die Dunkelheit selbst manchmal ihre Anziehungskraft hat; in seinem Schaffen merkt man eine „geniale“ Lässigkeit, und aus diesen Gründen hat es keine bestimmte Farbe, sondern vermischt in sich so zu sagen alle Farben…10

Auch das Athenäum äußerte sich in diesem Sinne: Im Artikel Was bedeutet der Romantismus? formulierte der Autor spöttisch: „Es ist 8

9

10

In: Viktor-Foma Tovarnickij: O tragedii grekov, francuzov i romantikov. O tragedii romantikov. III. Moskva 1830. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.244. In: Delo ot bezdelija ili kratkie zameanija na sovremennie jurnaly. In: Blagonamerennyj. XXIX. 1825. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.250. In: O novoj Škole sovesnosti. In: Blagonamerennyj. XXI. 1826. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.250.

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eine neue Art der Mündlichkeit, in welcher aus dem Zwecke der Knappheit der gesunde Verstand ausgelassen wird.“11 Diese spöttische Kritik bedeutete aber keine totale Ablehnung der Romantik. Auch auf den Seiten von Der Wohlgesinnte, im Athenäum oder im Boten Europas melden sich versöhnliche Stimmen: Unabhängige Kritiker wehren sich nicht gegen die romantische Poesie, sondern gegen die selbsternannten Romantiker, welche sich unter dem Vorwand, dass sie in dem romantischen Geschmack schreiben, sich alle möglichen Ungereimtheiten erlauben, obwohl in ihren Werken weder tiefe Gefühle noch Entzückungen der Träumereien zu merken sind, welche das Wesen der romantischen Poesie ausmachen.12

Aus diesen Beispielen ersehen wir, dass das Ziel der Satire nicht die eigentliche romantische Theorie, sondern ihr Missverständnis war. Angegriffen wurde schlechter Geschmack und niedriges Niveau einiger romantischer Werke. Schlechter Stil, Oberflächlichkeit, Verworrenheit und falsch verstandene und bis in die Absurdität getriebene Positionen der romantischen Schule sind von den genannten Journalen kritisiert worden. Die Befürworter der romantischen Theorie waren sich dieser unerwünschten Begleiterscheinung einer neuen Ästhetik durchaus bewusst und wehrten sich gegen die verfälschende Pseudoromantik ebenso heftig wie es die Gegner der ganzen Bewegung taten. Es lässt sich sagen, dass die Gegner der Romantik der neuen Ästhetik sogar einen Gefallen taten, wenn sie durch Kritik und Spott die allgemeine Qualität der romantischen Werke beförderten und das Publikum vor den schlechten Werken warnten. In diesem Zusammenhang ist eine lateinisch geschriebene Dissertation Nadeždins Über den Ursprung, das Wesen und Schicksal der so genannten romantischen Poesie, 1830 (O proishoždenii, svojstvah i sud’be poezii tak nazivaemoj romantieskoj) besonders wichtig. Sie ist einer der wenigen Versuche der Zeit, sich selbstständig mit der Theorie der Literatur zu befassen.13 Ein Teil dieser Dissertation Über 11

12

13

In: to takoe romantizm? In: Atenej. II. 1830. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.251. In: Razgovor o romantikah na ernoj reke. In: Blagonamerennyj. XXIII. 1825. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.251. Es lassen sich nur noch zwei andere theoretische Werke nachweisen, wo die Autoren versuchten, sich aus eigenen Kräften mit der Theorie des

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den Missbrauch und die Entstellung romantischer Poesie (O nastoja em zloupotreblenii i iskaženii romantieskoj poezii) wurde 1830 in der Bote Europas veröffentlicht. Das war einer der provokativsten Beiträge zur Romantik-Diskussion in Russland. Weite Sprachkenntnisse (einschließlich der antiken Sprachen), Belesenheit und philologische Methodik verschafften ihm früh den Ruf seltener, von manchen auch belächelter Erudition. Sein besonderes Interesse galt der philosophischen Ästhetik und hierbei vor allem deutschen Autoren wie Kant, Schelling, Schlegel, Schiller und später Hegel. Eine besondere Rolle für seinen philosophisch-ästhetischen Geschmack spielte Jean Paul. Von 1831 bis 1836 war er Professor für Theorie der schönen Künste an der Moskauer Universität; zu seinen dortigen Schülern gehörten unter anderen Belinskij, Gonarov und Stankevi. Wahre Romantik war für Nadeždin nur in vergangenen Zeiten und Werken des Mittelalters anzutreffen. Sein klassisches Bildungsideal beruhte ebenso auf der Antike wie auf der Klassik der Goethezeit. Vorarbeiten zur Dissertation hatte er bereits seit Ende der zwanziger Jahre in verschiedenen russischen Zeitschriften publiziert. Das gesamte Anliegen dieser Schriften war der entschiedene Kampf gegen als einen entarteten ‚Byronismus’ verstandene Romantik und ihre russischen Anhänger.14 Er fasste dieses Phänomen als ‚Neooder Pseudoromantik’ zusammen und im Rahmen seiner Kritik tauchten schon in Vorstudien zur Dissertation häufig die Begriffe wie das „Nichts“, der „ästhetische Nihilismus“ oder die „Nichtigkeit“ auf.15 Also nicht die romantische Theorie als solche, sondern ihre Entartung und Missverständnis waren die Zielscheiben seiner

14

15

Romantischen zu befassen: O. Somovs: Über die romantische Poesie (O romantieskoj Poesii, 1823); A.I. Galis: Die Erfahrung der bildenden Wissenschaft (Opit nauki izjašnogo, 1825). Vgl. Klein, J.: Byrons romantischer Nihilismus. In: Romantic Reassessment. Hg. von Dr. James Hogg. Salzburg 1979; Hoffmeister, G.: Byron und der europäische Byronismus. Darmstadt 1983; Žirmunskij, V.: Puškin und Byron. In: Zeitschrift für Slavische Philologie. 3. 1926, S.290310 sowie 4., 1927. S.20-42. Es gibt leider keine einigermaßen vollständige Ausgabe Nadeždins. 1972 erschien eine von J. Mann besorgte Teilausgabe Nadeždin, N.I.: Literaturnaja kritika i stetika. Moskva 1972. Da sind auch die Dissertation von Nadeždin und die Begriffe der „Nichtigkeit“ vielerorts zu finden. Vgl. Kozmin, N.K.: Nikolaj Ivanovi Nadeždin. Žizn’ i naunoliteraturnaja dejatel’nost’. 1804-1836. S-Petersburg 1912.

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Kritik und der Grund, warum er in einem pro-klassizistischen Journal aktiv wirkte. In seinen biographischen Notizen vermerkte er: Und mich betraf diese Diskussion aufs Lebendigste. Ich konnte sehen, dass alles (die ganze Diskussion – A.P.) von einem Missverständnis herrührt, dass alle Diskutierenden selbst nicht wussten, worüber sie diskutierten und deswegen, wenn auch zum Teil recht habend, zum größten Teil nur wirres Zeug redeten. Und einen besonderen Verdruss hatte ich wegen der Frechheit, mit welcher die Anhänger des so genannten Romantismus handelten. Sie haben alles mit Dreck gemischt, worauf mit Recht unsere nationale Mündlichkeit stolz war, und zeigten eine tiefe Unwissenheit in dem, was sie gar nicht aus eigener Überzeugung predigten, sondern nur von einer fremden, schlecht verstandenen Stimme. In meiner Seele habe ich die Seite des Klassizismus vertreten, das heißt für eine besonnene Dichtung, welche sich durch das klare Verständnis des Vergangenen steuern lässt. Meinem Herzen tat es besonders weh, wenn die achtungsvollen Alten mit unbegründeten Phrasen aus den deutschen Lehrbüchern niedergeschlagen wurden, und sie konnten sich nicht wehren, weil sie nicht wussten, woher diese Phrasen stammten. Ich habe zunächst nichts erwidert, weil meine Stimme viel zu unbekannt war. Inzwischen haben mich die Umstände mit Kaenovskij bekannt gemacht, welcher damals Professor für russische Geschichte an der Universität war…16

Nadeždin gab den Romantikern in ihrer Kritik an dem Klassizismus Recht, sein Punkt war aber ein anderer. Er fasste die Polemik der Klassiker und der Romantiker viel weiter, nämlich als eine kulturelle Wende vom Alten zum Neuen, wobei die Literatur nur ein Schlachtfeld dieses Kampfes war. In diesem Kampf stand Nadeždin nicht deswegen auf der Seite des Klassizismus, weil ihm die zum größten Teil importierte französisch-klassizistische Literatur besonders nahe war, sondern weil er mit dem Aufstieg der Romantik einen brutalen und sinnlosen Umbruch der literarischen und im weiteren Sinne der kulturellen Tradition befürchtete. Er wollte die russische Literatur nicht im Sinne der romantischen Theorie als wild und zerstörend, sondern als aufbauend und besonnen reformiert sehen. Aus diesem Grund schloss er sich Kaenovskij an, dem damaligen Herausgeber des Boten Europas, und veröffentlichte dort seine kritischen Artikel. In Nadeždins Fokus wurde die dunkle, ni16

Veröffentlicht in: Russkie vesti. T.II. 1856. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., S.268.

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hilistische Seite der Romantik deutlich.17 Vermutlich konnte Nadeždin selbst nicht wissen, wie tiefsinnig seine Worte waren und in wie weit sie sich in der weiteren Entwicklung der russischen Geistesgeschichte bewahrheiten würden. Die kritische Auseinandersetzung Nadeždins mit der Romantik gehört zu den besten Zeugnissen der Selbstreflexion der Epoche. Die Parallelität zu seinen deutschen Kollegen zuvor ist eindeutig. Sehr anschaulich ist ein Artikel von Nadeždin Die literarische Befürchtungen für das kommende Jahr (1828), weil es sich hierbei um einen der wenigen Beispiele der wissenschaftlich argumentierenden Opposition gegen die Übertreibungen der Romantik handelt. Dieser Artikel ist logisch im Geiste seiner Dissertation geschrieben und ist ein fiktiver Dialog eines byronschen Romantikers Tlenskijs und eines Kritikers. Der Kritiker ist Nadeždin als Kenner und Schätzer der deutschen Philosophie und Ästhetik selbst: Tlenskij: Und nun… das Genie, sich von den lebendigen Zwängen der schülerischen Sklaverei und des klassizistischen Pedantismus befreiend, schwebt feierlich wie ein Adler ins Gebirgsland der ewigen Ideale.

Nadeždin fand in der russischen Literatur diesen Schwebeflug nicht, muss aber die andere Seite dieser Erscheinung konstatieren: Den Trieb seiner eigenen Schwerkraft (zwingt das romantische Genie – A.P.) in den nebligen Abgrund der Leere, oder in das durch die gigantische Phantasie Byrons erschaffene, schreckliche Chaos. Tlenskij: Die wahre Poesie ist nichts anderes, als die höchste Selbsthingabe, ist der Wahnsinn. Nadeždin: Wer verbietet euch (den Romantikern – A.P.), sich jener wunderbaren Raserei hinzugeben?.. Aber, zum Unglück, der Wahnsinn unserer Dichter ist der echte, ungetrübte Wahnsinn. Ihre Begeisterungen sind wahre Halluzinationen, ohne Zusammenhang, Ordnung und Zweck.

17

Das Phänomen, das Nadeždin als ‚Pseudoromantik’ bezeichnete, wurde viel später in der Forschung als ‚Nachtseite der Romantik’ oder ‚schwarze Romantik’ bezeichnet. Vgl. Praz, M.: Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik. 3.Aufl., München 1988; Guthke, K.: Die Mythologie der entgötterten Welt. Göttingen 1971; Bohrer, K.: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. Frankfurt a.M. 1983; Boss, V.: Milton and the Rise of Russian Satanism. Toronto 1991.

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Tlenskij: Das Fehlen von Zusammenhang, Ordnung und Zweck... Das macht im Grunde ihre (der Dichter – A.P.) höchste Würde aus. Ist die Natur nicht genau so in ihrer unfassbaren Einheit? Wer kann ihre unendlich verschiedenenErscheinungen in ein bestimmtes System bringen? Nadeždin: Du machst die Natur zum Beispiel der Zusammenhangslosigkeit, der Unordnung und der Zwecklosigkeit, weil dein Blick unfähig ist, ihre unendliche Fülle zu einer allumfassenden Gesamtschau zu bringen... Die Sache der Kunst – den geheimen Stimmen der ewigen Harmonie zu lauschen und sie deutlich für unser Gehör in abgestimmten rhythmischen Akkorden darzustellen. Das soll das ursprüngliche und das wesentliche Thema jeder Poesie ausmachen... Und je leichter, je freier unsere Seele jene Einheit begreift, um so vollkommener ist das Werk! Das nämlich bedeutet in der mystischen Sprache der deutschen Ästhetiken die Idealisierung oder das Schaffen nach den Idealen!.. Das Ideal ist bei ihnen eine fantastische Einheit der Idee, welche der Künstler in seinem kreativen Werk zum Ausdruck bringt.18

Die Diskussion zwischen Tlenskij und Nadeždin ist besonders bemerkenswert, weil sie im Grunde zwischen zwei Romantikern stattfindet: Tlenskij ist der Literat einer neuen Formation und Nadeždin ist sein kühner Analytiker und Kritiker. Dieser musste mit Erbitterung feststellen, dass die erwartete und erwünschte Erneuerung der Kultur oft völlig auf die falsche Bahn geraten ist. Wenn die Romantiker wie Tlenskij ihr Leben, Denken und Schaffen als romantisch bezeichnen, so sind sie aus Nadeždins Sicht nur eine grässliche Parodie und Satire auf die wahren Ideen der romantischen und der naturphilosophischen Schule. Auf diese Weise erwies sich der Kritiker Nadeždin als ein Verteidiger der wahren Romantik. In der Fragestellung selbst und auch in dem Argumentationsvorgehen ist ohne weiteres der Einfluss Jean Pauls und seiner Vorschule der Ästhetik nicht zu verkennen,19 obwohl die Frage, ob 18

19

In: Literaturnye opasenija za budu ij god. In: Vestnik Evropy. 21. 1828. Zitiert nach: Zamotin, I.I.: Romantizm dvadzatyh godov XIX stol. v russkoj literature. A.a.O., 1910. S.272ff. Es ist durchaus möglich, dass Jean Pauls Begriff des ‚poetischen Nihilismus’ durch Žukovskij in mündliche Debatten um die Romantik eingebracht und verbreitet wurde. Es ist nachweislich, dass Žukovskij die zweite Ausgabe der Vorschule von 1813 besaß, sie eingehend studierte und genau die Stellen zum ‚poetischen Nihilismus’ und ‚poetischen Materialismus’ in seinen Notizen abschrieb. Außerdem ist es bekannt, dass Žukovskij im Juli 1821 Jean Paul persönlich kennen gelernt hat. Vgl. Januškevi, A.S.: Nemeckaja stetika v biblioteke V.A. Žukovskogo. In:

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Nadeždin tatsächlich diesen Text Jean Pauls kannte, bis jetzt offen bleibt.20 Tlenskij ist soweit ein Musterbeispiel für den ‚poetischen Nihilisten’ wie ihn Jean Paul definierte, weil er „lieber ichsüchtig die Welt und das All vernichtet, um nur freien Spielraum im Nichts auszuleeren“. Obwohl wir nicht sicher sind, ob Nadeždin Jean Pauls Text kannte, ist doch erstaunlich, dass er ganz im Sinne Jean Pauls argumentierte: dass Tlenskij als Romantiker „geheimen Stimmen der ewigen Harmonie [zu] lauschen“ oder in Worten Jean Pauls die Natur nachahmen und studieren soll.21 Diese kritische Auseinandersetzung unterscheidet sich bedeutend von den vorherigen, weil zum Einen dieser Disput einen wissenschaftlichen und nicht nur satirischen Charakter hat und zum Anderen weil hier nicht nur von Literatur die Rede ist, sondern auch von einem neuen Typus des romantischen Literaten, von einem Menschen – Tlenskij – für welchen die neue Literaturtheorie gleichzeitig ein neuer Denkmodus und neue Weltanschauung ist. Es geht hier nicht um die literarische, sondern um die weltanschauliche Praxis der romantischen Theorie. Es ist eine ganz neue Erfahrung, welche die russische Kultur im Laufe der Romantik-Rezeption machte. Diese Erfahrung war unumgänglich, weil die Voraussetzungen der Rezeption nicht auf der literarischen, sondern auf der kulturellen Ebene lagen. Damit glitt Nadeždin auf dem schmalen Grad zwischen der Kritik an der Romantik als einer neuen literari-

20

21

Biblioteka V.A. Žukovskogo v Tomske. Bd.2. Tomsk 1984, S.140-225;

ižickij, V.A.: V.A. Žukovskij i rannie nemeckie romantiki. In: Russkaja literatura. 1. 1979, S.120-128; Thiergen, P.: Deutsche Anstöße der frühen russischen Nihilismus-Diskussion des 19. Jahrhunderts. In: NordrheinWestfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G419. A.a.O., S.1724. Vgl.: „Uns ist zwar bisher keine Belegstelle bekannt, die zeigt, daß Nadeždin expressis verbis auf Jean Pauls „poetische Nihilisten“ bezieht, doch ist der Konnex nicht zu übersehen. Dabei ist sekundär, ob der Bezug direkt über die Vorschule oder über andere Vermittlung gelaufen ist. Die oben angeführten Zitate belegen zur Genüge, daß Nadeždins Angriffe gegen die „Pseudoromantiker“ exakt jene Argumente wiederholen, die Jean Paul und nach ihm andere gegen den ‚poetischen Nihilismus’ vorgebracht haben. In der Anwendung auf die Ästhetik liegt die gemeinsame Basis.“ In: Thiergen, P.: Jean Paul als Quelle der frühen russischen Nihilismus-Begriffs. In: Res Slavica. Festschrift für Hans Rothe zum 65. Geburtstag. Hg. von Peter Thiergen und Ludger Udolph. Paderborn 1994, S.308. Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Jean Paul und sein Verständnis des ‚poetischen Nihilismus’.

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schen Theorie und als einer allumfassenden kulturellen Wende an die ästhetische Moderne in Russland. Wir fassen nun das Gesagte kurz zusammen: Der Romantisierungsprozess in Russland verlief in zwei Etappen. Der ersten Etappe der theoretischen Rezeption der neuen Literaturtheorie begegnete praktisch kein Widerstand, im Gegenteil, die neue Ästhetik wurde mit allgemeinem Enthusiasmus und Begeisterung aufgenommen. Erst später, während der zweiten Etappe, als aus der Theorie konkrete literarische und kulturelle Formen erwuchsen, welche ganz neue, unbekannte Erfahrungen bedingten, kamen in ihrer Selbstreflexion sowohl die Befürworter der Romantik in Russland selbst als auch ihre Gegner auf den Missbrauch der Romantik und damit auf die ‚Pseudoromantik’ zu sprechen. Dabei spielte Nadeždin eine wichtige Rolle, in dem er sich mit dieser Entwicklung theoretisch auseinander setzte und ihr den trefflichen Namen des Nihilismus gab.

2.2.

Die Erstdefinition des Nihilismusbegriffs bei Nadeždin

Wie wir bereits erwähnten, erlangte der Begriff des Nihilismus seine bestimmte Prägung erst nach Turgenevs Roman Väter und Söhne (Otcy i deti) (1862).22 Der Begriff wird ein Bestandteil des epochalen Bewusstseins der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Russland, was sowohl Freunde als auch Gegner Turgenevs sofort anerkannten. Aus diesem Grund werden die Interpretationen des Nihilismus meist aus diesem literarischen Klassiker abgeleitet, und Turgenev gilt allgemein als der Erfinder oder der Begründer dieses Begriffs. Die Ersterwähnung des Begriffs oder genauer seine Erstprägung im Zusammenhang mit der Kritik der Pseudoromantik durch Nadeždin im Jahre 1829 war dagegen schnell in Vergessenheit geraten. Dafür gab es einen plausiblen Grund: Obwohl Nadeždins Verständnis des Nihilismus in seinem Kern ganz im Sinne Turgenevs 22

Vgl. Batjuto, A.: K vorprosu o proishoždenii slova ‚nigilizm’ v romane I.S. Turgeneva ‚Otcy i deti’. In: Izvestija Akademii nauk SSSR, otdelenie literatury i jazyka. 12. 1953. S.520-525. Es empfiehlt sich eine grundlegende Untersuchung zum Thema des Nihilismus in der russischen Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Schmidt, W.-H.: Nihilismus und Nihilisten. A.a.O.; Schaeder, H.: Der getarnte Tod. Rußland und der Nihilismus. In: Hamburger akademische Rundschau. 10. 1946/47. S.409-418.

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formuliert wurde, so bezog er sich auf den damaligen literarischtheoretischen Streit um die Romantik und konnte also noch nicht als ein allgemeiner Begriff der kommenden Epoche interpretiert und verstanden werden. Umso erstaunlicher ist die Tatsache, inwieweit die drei Nihilismusentwürfe von Jacobi und Jean Paul, Nadeždin und Turgenev in ihrem Wesen mit einander zusammenhängen und oft übereinstimmen. Nadeždins Ersterwähnung des Begriffs wurde erst nach Erscheinen von Turgenevs Roman neu entdeckt, als die ersten Untersuchungen zu der Geschichte dieses Terminus unternommen wurden.23 Wir haben unserer Arbeit einen zeitlichen Rahmen bis zu der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesetzt, deswegen widmen wir unsere Aufmerksamkeit der ausführlichen Analyse der Ersterwähnung des Nihilismusbegriffs bei Nadeždin und verzichten auf die eingehende Auseinandersetzung mit dem Begriff bei Turgenev. Aus dem Gesagten dürfte ersichtlich sein, dass Nadeždin nicht allein die Entartung der romantischen Theorie in eine „Pseudoromantik“ aufgefallen ist und dass der Begriff des Nihilismus bei ihm nicht zufällig, sondern im Kontext seiner langjährigen Beschäftigung mit der romantischen Ästhetik ans Licht trat. Der entscheidende Artikel Nadeždins, von dem nun die Rede sein wird, heißt Die Anhäufung der Nihilisten. Eine Szene aus dem literarischen Palaver (Sonmiše Nigilistov, Szena iz literaturnogo Balagana) und ist im Jahre 1829 in Der Bote Europas erschienen, wo Nadeždin als Mitherausgeber tätig war. Es handelte sich um eine sowohl äußere als auch inhaltliche Fortsetzung des von uns zitierten Artikels Die literarischen Befürchtungen für das kommende Jahr (1828): Nadeždin setzte seine Polemik mit den 23

Vgl. zur Geschichte des Begriffs in Russland: Strachov, N.: Iz istorii literaturnogo nihilizma. In: Vremja. Janvar’ 1863; Gogockij, S.: Nigilizm. In: Filosofskij leksikon. Kiev 1866; Ivanov, I.: Turgenev. Sankt Petersburg 1896; Mechel’son, M.I.: Hodjaie i metkie slova. Sankt Petersburg, 1896; Alekseev, M.: K istorii slova „nigilizm“. In: Stat’i po slavjanskoj filologii i russkoj slovesnosti. 3. Leningrad 1928. S.413-417; yževskij, D.: K predistorii slova nihilizm. In: Žurnal po slovjanskoj filologii. 18. 1942, S.383-384; Koz’min, B.: Dva slova o slove nigilizm. In: Izvestija Akademii nauk SSSR, otdelenie literatury i jazyka. 10. 1951, S.378-385; Koz’min, B.: E e o slove nigilizm. In: Izvestija Akademii nauk SSSR, otdelenie literatury i jazyka. 12. 1953, S.526-528; Avseenko, V.: Praktieskij nigilizm. In: Russkij vestnik. CVI-7. 1873. S.389-427; Oldenberg, K.: Der russische Nihilismus. Von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Leipzig 1888; Dippel, J.: Der russische Nihilismus: auf Grund zuverlässiger Quellen dargestellt. Passau 1882.

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Vertretern der Romantik wieder unter dem Pseudonym Nikodim Nadoumko fort. Nadeždin wählte für seine Kritik die von ihm schon ausprobierte literarische Form einer kurzen Erzählung, deren Inhalt und Hauptcharaktere wir im Folgenden kurz skizzieren. Der Erzähler der Geschichte ist Nadeždin selbst und die ganze Erzählung ist eine Mischung aus realen Ereignissen und ihrer rein satirisch-literarischen Darstellung. Damit kann Nadeždin mit seinem Einsatz der literarischen Satire als Medium der Pseudoromantik-Kritik in eine Reihe mit Jean Paul und Bonaventura gestellt werden. Nadeždin stilisierte die Sprache seiner Parodie zu einer volkstümlichen Sage, in der sich sein Protagonist Nikodim Nadoumko auf den Weg macht, um erleuchtet zu werden, was die Literatur in der Zukunft erwartet. Die Zeit für dieses Unternehmen ist passender Weise kurz nach Weihnachten, wenn junge Mädchen Blei gießen und ihre Zukunft voraussehen wollen. Auf der Strasse trifft Nadoumko zufällig seinen alten Bekannten Fljugerovskij, welcher zu den Romantikern übergetreten war. Er beschreibt ihn folgenderweise: Der junge Mann, nicht ohne Talente und nicht ohne Bildung, welcher zwar Anlass zu den besten Hoffnungen gab, sich aber zum Unglück an dem allgemeinen Aufschwung des pseudo-philosophischen Bildungshasses begeisterte, sich über die Bildung empörte, von sich die schwere Last der systematischen Disziplin abwarf und, ohne das Ende des Universitätskurses abzuwarten, kämpferisch auf das offene Feld unter den Fahnen eines literarischen Neologismus kam, welcher die Allwissenheit ohne Wissenschaft, den Ruhm ohne Arbeit, die Unsterblichkeit ohne Verdienst predigte.24

In der Figur von Fljugerovskij finden wir ein typisches Beispiel eines Pseudoromantikers. Es ist ein junger Mann nicht „ohne Talente“, studierte an der Universität und geriet erst später auf die falsche Bahn des „pseudo-philosophischen Bildungshasses“ und eines „literarischen Neologismus“. Es ist bemerkenswert, dass die Einstellung zur Bildung und dem Wissen den Trennstrich zwischen der ‚Normalität’ und der ‚Pseudoromantik’ zieht und damit die klare Grenze zwischen ‚neu’ und ‚alt’ markiert. In dieser einfachen Gegenüber24

Nadeždin, N.I.: Sonmiše Nigilistov, Szena iz literaturnogo Balagana. In: Vestnik Evropy. 1,2. 1829. Nachdruck In: Polnoe sobranie soinenij V.G. Belinskogo. T.1. Red. S.A. Vengerova. S.-Petersburg. 1914. S.475-491. S.478.

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stellung kommt der ganze Kampf der Spätaufklärer wie Herder oder Hamann und der Romantiker gegen den Rationalismus und dem mit ihm verbundenen Begriff der Zivilisation als eines besonderen Kulturtypus zum Tragen. Die noch von Rousseau in seinem zweiten Discours eingeführte kulturkritische Konfrontation der Zivilisation und eines ‚Naturzustandes’, welche ihre Resonanz besonders im Menschheitsbild Herders fand, wiederholt sich hier im Kampf des universitären Bildungsweges und derjenigen, die ihr „Genie“ in der „originellen Urwüchsigkeit“ sahen. Nikodim Nadoumko begleitet nun seinen alten Bekannten auf dem Weg in eine literarisch-philosophische Gesellschaft der Romantiker. Um in dieser Gesellschaft willkommen zu sein, gibt sich Nikodim Nadoumko als wohlhabender, literarisch interessierter Winzer auf Reisen aus. Fljugerovskijs Auskunft, dass der unbekannte Gast gänzlich ungebildet sei, verschafft dem falschen Winzer in der literarischen Gesellschaft Respekt: Zur Ehre meines Freundes muss ich sagen, dass er der wahre Sohn der Natur ist und durch den schülerischen Staub der Bildung nicht verdorben wurde. Seine Seele trägt die Prägung der originellen Urwüchsigkeit: Er ist ein autodidaktisches Genie!25

„Als wahrer Sohn der Natur“ attestiert, fand Nadouko schnell Zutritt zu dieser Gesellschaft. Für Nadeždin muss die Situation besonders lächerlich erscheinen, denn ihm als einem Romantikkenner musste es evident sein, dass die wahre Romantik ihr Ideal gerade in der Bildung und im Wissen sah. Andererseits gab sich die Romantik mit einer strikt rationalistischen Erkenntnistheorie und einem geometrisch-rationalistischen Weltentwurfs nicht zufrieden. In diesem Falle handelte es sich für Nadeždin tatsächlich um eine missverstandene Romantik. Das Unternehmen erweist sich für Nadoumko als gefährlich, weil er (also Nadeždin) vor kurzem den Artikel Die literarischen Befürchtungen… veröffentlichte und sich damit viele Feinde unter den Vertretern der neuen literarischen Schule machte. Als Anführer und „Speaker“ der alkoholisierten und rauchenden Versammlung erweist sich ein kleiner Mann über vierzig namens

adskij, den Fljugerovskij in schnellen Zügen für seinen Bekannten charakterisiert:

25

Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.481.

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Das ist der berühmte adskij, der Riese der philosophischen Dämmerung unserer Zeiten. Er kann alle neuesten philosophischästhetisch-romantischen Systeme auswendig, wie ich und du: Gott erbarme mich! Wunder was für ein Mensch!... In der dialektischen Strategie ist er so stark und findig, dass er mittels zweier Prämissen aus einer Fliege eine Wissenschaft machen kann. Deswegen, aus Respekt und Anerkennung vor solch ungesehener und unerhörter Weisheit, hat er hier das Privileg, gelegentlich lateinische Sprichwörter auszusprechen, welche für alle anderen genauso unverständlich sind, wie die heiligen Gesänge fratrum Ambarvalium für Ciceros Zeitgenossen.26

adskijs Ausdrucksweise ist ein Gemisch aus gelehrten griechischen und lateinischen Termini, die er mit einem starken russischen Akzent ausspricht und mit slawisch-volkstümlichen Endungen versieht. Natürlich handelt es sich dabei um eine literarische Parodie einer romantischen Versammlung, die aber nicht der Realitätsnähe entbehrt. Derartige Gesellschaften bildeten, wie bereits von uns gezeigt, das Zentrum des literarischen Lebens, und die Beschreibung karikiert höchstwahrscheinlich die Versammlungen des VenevitovKreises. Vermutlich zählte Nadeždin auch Puškin zu den Pseudoromantikern, was vielleicht einer der Gründe war, warum diese Satire von den Romantikern selbst verschwiegen wurde.27 Die Sprache des Sprechers und der meisten Beteiligten, der Verlauf, die allgemeine Stimmung und der Charakter der Sitzung sind also von Nadeždin nicht ausgedacht, sondern in einer zusammenfassenden Form malerisch dargestellt worden.

adskij belehrt die Versammlung über die neueste Philosophie und das neueste Verständnis von Poesie und Dichtung, und Nadoumko greift schließlich in die Diskussion ein, muss dann aber eiligst fliehen, ohne den Mantel und die Stiefel anziehen zu können, weil er befürchtet, entdeckt und erkannt zu werden. Grund für seine Sorge ist der Auftritt seines alten Bekannten Tlenskij in der Gesellschaft: Durch halbgeschlossene Türen konnte ich meinen alten Bekannten in einem fettigen Sonntagsanzug des Verstorbenen Bujanov

26 27

Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.482. Vgl. Thiergen, P.: Jean Paul als Quelle des frühen russischen NihilismusBegriffs. A.a.O., S.310ff; Trojansky, E.: Pessimismus und Nihilismus der romantischen Weltanschauung, dargestellt am Beispiel Puškins und Lermontovs. Frankfurt a.M. 1990.

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sehen, welcher den Schnee von dem Stiefel abklopfte. „Rette dich, sobald du kannst“ flüsterte mir Fljugerovskij ins Ohr: „sonst kann ich die Folgen nicht verantworten!“ Aber vergeblich! es war schon zu spät… Der verhängnisvolle Stiefel fiel von Tlenskijs Fuß ab und er stürmte wie ein Wirbelwind in den Saal ein. Auf seinem benebelten Gesicht hingen noch die Bleiwolken des unzerstreuten Schlafs, welcher seinen Ursprung bestimmt nicht in den einschläfernden Gewässern Lethes hatte. – ob von einer zentrifugalen Kraft oder vielleicht ob des Luftdrucks (es gab kein Erdbeben, das weiß ich gewiss) schwankte er auf halbem Weg so stark zu dem südlichen Pol des Raumes, dass nur die offenen Arme Kantorkins, welcher rechtzeitig da war, ihn vor einer senkrechten Lage zu der Wand und einer parallelen Lage zum Fußoden bewahrten. Solch ein romantisch-aufregendes Ereignis, welches alle Blicke auf sich zog, gab mir die Hoffnung auf Rettung.28

Auf dem Weg nach Hause fragt sich Nadoumko aufgewühlt: „Ist es denn möglich, dass für unsere arme Literatur keine Rückkehr vom Winter zum Sommer kommt? Ist es denn möglich, dass sie sich ewig in der düsteren Hölle des verderblichen Nihilismus irren muss?“29 Mit dieser verzweifelten Frage endet das Unternehmen Nadoumkos und die Erzählung Nadeždins. Wie wir sehen, ist der Nihilismus nicht das eigentliche Thema der Auseinandersetzungen Nadeždins: Der Begriff entsteht beiläufig als eine treffende Zusammenfassung seiner Beobachtungen über die Entwicklung der gegenwärtigen Literatur und des in der Literatur ausgetragenen kulturellen Konflikts. Wie auch im Falle Jacobis, Jean Pauls oder Bonaventuras erweist sich der Nihilismusbegriff bei Nadeždin als eine Reaktion oder besser genauer als eine Selbstreflexion einer neuen philosophischen und ästhetischen Epoche. Auf der anderen Seite entdeckte diese Selbstreflexion den Nihilismus als einen kulturellen Werte- oder Wahrheitskonflikt, ja sogar als einen kulturellen Generationenkampf der traditionellen Kultur und der eingebrochenen ästhetischen Moderne. In diesem Sinne setzte Nadeždin die von Jacobi angefangene Gedankenlinie fort,30 hatte aber eine viel schwierigere Aufgabe vor sich. Wenn Jacobi und Jean Paul vom Nihilismus in einem engeren Kontext und im klaren Zusammenhang mit einer bestimmten Philosophie, nämlich der Fichtes, sprachen und ihre Warnungen vor dem Nihilismus eher einen 28 29 30

Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.489. Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.489. Vgl. Kapitel I dieser Arbeit: Nihilismus als ein Konflikt des Wahren.

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abstrakten und theoretischen Charakter hatten, so stand Nadeždin vor den realen geistes-historischen und darum viel komplexeren Entwicklungen, welche nun als Früchte der durch die Romantik in Gang gesetzten Wende zur ästhetischen Moderne ans Licht traten. Nadeždin hatte nicht mit Fichte, Herder, Wackenroder, Schelling, Kant oder Spinoza zu kämpfen, sondern mit einem eigenartigen Kulturgebilde, welches alle diese Lehren in sich implementierte, sie zum größten Teil missbrauchte und als Parolen und Devisen im Kampf gegen traditionelle Kulturformen instrumentierte. Eine andere Sache ist, dass, wie wir es im Laufe dieser Untersuchung zu zeigen versuchten, die Ursachen des möglichen Missbrauchs dieser Theorien in ihnen selbst verankert waren. In diesem Sinne ist es nicht verwunderlich, dass einiges an aufklärerischem und romantischem Denken in den nihilistischen Reden adskijs wider hallt. Um das Wesen des neuen Zeitgeistes zu veranschaulichen, benutzte Nadeždin in seiner Geschichte den „Speaker“ der Versammlung, adskij. Dieser verkündet auch die letzte Wahrheit der neuen Epoche, nämlich dass die Götter tot seien: So, meine Freunde! Noch findet nicht für alle die furchtbare Nichtigkeit einen klaren und eindeutigen Widerklang: noch erscheint nicht für alle die Gegenwart ohne Hoffnung und Zukunft- weil die Trockenheit der prosaischen Bildung dem starken Talent die Entschlossenheit, ohne die tröstenden Lügen des Altertums und die feierlichen Wahrheiten der Religion auszukommen, raubt. Nein! Nicht über alle donnern die furchtbaren Worte, welche Tiberius einmal im Getöse der Stürme, mitten in den Wellen des Ozeans zu hören glaubte: „Die Götter sind tot!“ Die eingefleischten Altgläubigen, welche unzertrennlich mit dem toten Schädel der Dinglichkeit verwachsen sind, haben nicht den Mut zu denken, dass hinter den geheimnisvollen Schleiern, wo das leichtgläubige Altertum den Götzen der lebensquellenden Iside zu gewinnen hoffte, nur ein Leichnam des Daseins verborgen ist! Die höheren Geheimnise der Nichtigkeit entsprechen ihren altersschwachen Kräften nicht.31

Diese Stelle weist ganz deutlich sowohl auf die aufklärerische Daseinslehre, welche wir am Beispiel Herders genauer unter die Lupe genommen haben, als auch auf ihre Erfahrung, welche wir im Zusammenhang mit der deutschen Romantik veranschaulichten. In der Auffassung des Daseins wird eine kulturelle Linie zwischen den 31

Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.484.

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„eingefleischten Altgläubigen“ und den „starken“ und „entschlossenen“ „Talenten“ gezogen: Die ‚Alten’ glauben an die „Lügen des Altertums“, an die „feierlichen Wahrheiten der Religion“, dass die materielle, dingliche Welt in „geheimnisvollen Schleiern“ verdeckt ist. Mit den „Schleiern“ ist natürlich die Metaphysik und ein transzendenter, allem Existierenden Sinn gebender Geist gemeint. „Das höhere Geheimnis“ der „Entschlossenen“ ist eben, dass dieser Glaube an Sinn und Geist in der Natur „Lügen“ seien, dass hinter diesen „Lügen“ der „Leichnam des Daseins“ verborgen sei und dass es „die Gegenwart ohne Hoffnung und Zukunft“ wahrzunehmen gelte. In dieser Auffassung kommen deutlich die spinozistische Daseinslehre und der gesamte Säkularisierungsprozess der Aufklärung zum Vorschein. Ebenso erkennen wir die Erfahrungen innerhalb der deutschen Frühromantik wieder, dass die Metaphysik ein Nichts ist (Bonaventura), dass „Götter tot sind“ (Jean Paul) und dass die Gegenwart sich entwertet. Wie auch Novalis stellt adskij fest, dass die Menschheit keine Hoffnungen, keine Träume und kein Zukunftsgefühl haben darf.32 Interessant ist, dass die „Trockenheit der prosaischen Bildung“ laut adskij den ‚Alten’ im Wege steht, um die „furchtbare Nichtigkeit“ zu erkennen. Vielleicht war Nadeždin der erste, der die Formulierung „Die Götter sind tot!“ im Zusammenhang mit der ästhetischen Moderne und der kulturellen Nihilismus-Erfahrung verwendet hat, also fast siebzig Jahre vor Nietzsche. Dieses Bild schöpfte er aber, wie noch zu zeigen sein wird, sehr wahrscheinlich aus der Rede des toten Christus Jean Pauls.

adskij entwickelte seinen Gedanken über den „Leichnam des Daseins“ und formulierte die Aufgabe, praktisch das Programm des „munteren Geistes unserer Zeiten“: Der Leichnam des Daseins, welcher sich den eindringlichen Augen des Weisen bloßstellt, wird noch in unseren Bildern mit prachtvollen Blumen geschmückt […]. Aber – unvergleichbar wahrheitstreuer und unheuchlerisch ist das hohe philosophische Genie, der Gast der neuen Völker. Die Alten […] hatten es gern, überall das Leben, das Licht und die Harmonie zu verbreiten […]: dem munteren Geist unserer Zeiten steht es zu, das Universum von gefälschten klassizistischen Verschönerungen zu entblößen, 32

Vgl. Kapitel II dieser Arbeit: Der ‚poetische Nihilismus’ in der Romantik als eine Reaktion auf die neue Weltanschauung.

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unter welchen es geschmückt, lachend und hübsch erschien! und es mit dem Kleid der düsteren, erschreckenden Größe zu bedecken, welches nur etwas sein lebloses Gerüst verschleiern soll.33

„Der Weise“, „das hohe philosophische Genie“ soll nun mit dem Irrtum, den „gefälschten klassizistischen Verschönerungen“ der Alten mit ihrem Glauben an „Licht“ und „Harmonie“ aufräumen und sie beseitigen: Es steht diesem „Gast der neuen Völker“ gerade als eine historischen Aufgabe zu, das Dasein als ein „lebloses Gerüst“ zu „entblößen“, was „unvergleichbar wahrheitstreuer und unheuchlerischer“ ist. Wichtig ist, dass adskij hier genau den Wahrheitskonflikt der „alten’ und der ‚neuen’ Völker anspricht. Die wenigen entschlossenen „Weisen“, welche die Kraft und den Mut dazu haben, sollen die unangenehme Wahrheit der Welt verkünden, welche eigentlich auch den ‚Alten’ bekannt war, aber immer durch Lügen „geschmückt“ wurde. Im Zentrum des Wahrheits- und Offenbarungskonflikts befand sich eben das Dasein und die Frage, ob es mechanisch und, wie die Aufklärung behauptete, in sich selbst ruhend existiere, oder ob es eine außer ihm liegende transzendentale und ihm sinngebende Instanz gebe, wie es die traditionellen Religionen lehrten. Wenn das „Fehlen der ewigen, allbelebenden Quelle des Lebens“ „vorausgesetzt“ wird, dann bleibt nur der Weg des ‚poetischen Nihilismus’ im Sinne Jean Pauls: Durch die nackte Dinglichkeit und den verachtenden Zweifel geprägt, findet er (der Geist unserer Zeiten – A.P.) für sich die höchste Genugtuung, mästend im Gefühl des Nichtseins, sinkend in der chaotischen Vermischung der Anfänge ohne Formen, ohne Relationen, ohne Notwendigkeit, ohne Gegenstand, welche die Einbildung sich selbst zu kreieren gezwungen ist, voraussetzend das Fehlen der ewigen, allbelebenden Quelle des Lebens.34

„Der Geist unserer Zeiten“ muss „die Einbildung sich selbst kreieren“, weil das Ich sich zwischen der „nackten Dinglichkeit“ der Welt und dem „verachtenden Zweifel“ befindet und seine „Genugtuung“ im Chaos findet, in dem es keine „Formen“, keine „Relationen“, keine „Gegenstände“ und keine „Notwendigkeit“ gibt. Ein sich selbst genießendes, titanisches Ich waltet nun im Chaos jenseits des verdinglichten Daseins. Nadeždin ließ adskij in seiner Rede 33 34

Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.485ff. Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.486.

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Lord Byron und den russischen ‚Byronism’ wie auch in seiner Dissertation als Beispiel des absoluten poetischen Titanismus erwähnen. adskij rief aus: Ruhe im Frieden der allergrößte Byron! – Der inspirierte Deuter aller Gefühle, aller Leidenschaften, aller Torheiten des gegenwärtigen stürmischen Zeitalters, des einzigartigen in der ewigen Fortdauer der Zeiten – er hat als erster das Geheimnis der ihm gegenwärtigen Epoche und Poesie erraten – das Geheimnis der Nichtigkeit!35

Dann erläuterte adskij, was das Besondere im Werk Byrons sei: So ist die Poesie des großen Byron! Die Schöpfungen seines wilden, unbesonnenen, inkonsequenten, rasenden Genies sind im Grunde die Poeme (höchstwahrscheinlich wird hier der Manfred36 gemeint – A.P.) seltsame und erschreckende: es scheint so, dass das Fieber sie diktierte! Von der tiefsten Verachtung und Abscheu gegenüber allem Existierenden erfüllt, erstreckt er über die ganze Welt den Schleier seiner Gedanken und Eindrücke und präsentiert uns überall die erschreckende Phantasmagorie des Genies, eines gewaltigen und verderblichen. Er tritt mit den Füßen das entblößte Universum, schellt mit der nackten Armseligkeit des Seins, reizt und macht rasend die tüchtigen Spinnereien des gesunden Verstandes, welcher blind an die Zeichen der Dinglichkeit glaubt, und mit der sarkastischen Ausgelassenheit zerstört er (Byron – A.P.) die Stützen, auf welchen die leichtgläubige Menschheit ihre Hoffnungen, ihre Größe und ihr Wohlbefinden befestigt! Mit einem Wort – seine Poesie ist eine unendliche Ironie und Parodie auf alles Seiende!37

Byron, ein „gewaltige[s]“ und „verderbliche[s]“ „Genie“ trat nun als ein Beispiel eines absoluten ‚poetischen Nihilisten’ auf, der mit „Verachtung und Abscheu gegenüber allem Existierenden“ erfüllt ist, und in seiner „Phantasmagorie“ das „entblößte Universum“ „tritt“ und die „nackte Armseligkeit des Seins“ „schellt“. Damit zerstört er die „Stützen“, auf welchen die „leichtgläubige Menschheit“ ihre „Hoffnungen, ihre Größe und ihr Wohlbefinden befestigte“. Die allgemeinen menschlichen Ideale zu zerstören, die Welt zu entmythisieren und zu „entblößen“, war nun das Tätigkeitsfeld des neuen 35 36

37

Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.486. Vgl. Klein, J.: Der Nihilismus in „Manfred“. In: Byrons romantischer Nihilismus. A.a.O., S.35-108. Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.486.

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Titans. In gewissem Sinne wurde hier die Poesie Byrons mit der Ironie Kreuzgangs in eine Reihe gestellt, der als ein einsamer Titan über die ganze Stadt lacht.38 So war auch die Poesie Byrons laut

adskij „eine unendliche Ironie und Parodie auf alles Seiende“. Aber wie auch der Nachtwächter Kreuzgang der titanischen Einsamkeit im Dasein ausgeliefert ist, ist das Gefühl der „eigenartigen Einsamkeit in der Wüste des Seins“ auch dem ‚Byronismus’ eigen: Und jener Menschenhass, jener Abscheu, diese eigenartige Einsamkeit in der Wüste des Seins – machen die besondere Prägung von Byrons Poesie oder besser – des gegenwärtigen Zeitalters, dessen treues Echo sie war. Byron hat seine Poesie nicht erschaffen; da der Mensch nichts erschafft: er hat nur das Geheimnis der ihm gegenwärtigen Epoche erraten.39

Durch den ‚poetischen Nihilismus’ des „Menschenhasses“ und „Abscheus“ ist das Gefühl der besonderen, „eigenartigen“, kosmischen Einsamkeit nicht nur Eigenschaft der Poesie Byrons, sondern auch des „gegenwärtigen Zeitalters, wessen Echo sie war“. Wieder erweiterte Nadeždin sein Blickfeld auf die „gegenwärtige Epoche“, welche das eigentliche Ziel seiner Satire war. Schon am Anfang seines Artikels verdeutliche er seine eigene Position: Unbestritten, dass die kindische Einfalt und Zutraulichkeit unserer Urväter für das gegenwärtige Zeitalter schon veraltet sind, welches durch den rasenden Drang zur Urwüchsigkeit und unzögernden Verschmähung aller uralten lächerlichen Vorurteile gekennzeichnet ist: […] Zum Glück bin ich nicht in der gleichen Gemeinde mit jenen Titanen, welche gegen den Himmel kämpfen, die Menschheit verachten: und deswegen geniere und ekele ich mich nicht, manchmal ein wenig die unschuldigen Irrtürme und Schrullen der gutherzigen Alten zu teilen, welche sich langsam auf den Krücken der Zurückhaltung im Rahmen des dinglichen Lebens, welches noch nicht bis zur grenzenlosen Leere auseinander gezogen ist, weiter schleppen.40

Diese ausgewiesene Stellungsnahme Nadeždins soll im weiteren Sinne den Weg der wahren Romantik charakterisieren: Die kulturel38

39 40

Vgl. unter anderem: Prang, H.: Die romantische Ironie. Darmstadt 1972; Strohschneider-Kohrs, I.: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. Tübingen 1960; Behler, E.: Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie. Zum Ursprung dieser Begriffe. Darmstadt 1981. Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.487. Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.475f.

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le Tradition „unserer Urväter“ sei zu modernisieren und dabei gelte es, vorsichtig mit den „gutherzigen Alten“ umzugehen, auch wenn diese durch „kindische Einfälle“, „lächerliche Vorurteile“ und „unschuldige Irrtürme“ „gekennzeichnet“ seien. Dies sei der richtige Entwicklungsweg der russischen Literatur und der Kultur, nicht derjenige der ‚poetischen Nihilisten’, „jener Titanen, welche gegen den Himmel kämpfen, die Menschheit verachten“. Man fragt sich natürlich, inwieweit Nadeždin sich der romantischen Tradition der Selbstkritik bediente, denn die inhaltlichen Übereinstimmungen und Zusammenhänge liegen auf der Hand. Und tatsächlich sprach er in seinem Artikel ein „deutsches Poem“ an, welches eindeutig auf Jean Pauls Rede des toten Christus hinweist.

adskij sagt zu der Versammlung: […] in so weit hat nun für uns jene Finsternis (die Finsternis der Nichtigkeit – A.P.) in ihrer ganzen furchtbaren Nacktheit den höchsten ästhetischen Wert! – Es gibt ein deutsches Poem, in welchem in erschreckenden Bildern das Wesen der Dichtkunst unseres Zeitalters veranschaulicht wird. Bei ersten Strahlen des Mondes, welche durch das Fenster der einsam liegenden Kirche dringen, kommen alle Überreste der Toten in Bewegung, erheben sie die bedeckende Erde, werfen die Grabsteine ab und setzen sich auf die Särge, leblos und erschreckend. Sie fordern die ihnen versprochene Unsterblichkeit: und die ewige Stimme verkündet ihnen die Nichtigkeit! Dieses Bild mit furchtbarer Größe zeigt vortrefflich die Idee unseres Zeitalters: es ist die Darstellung der neusten Dichtkunst!..41

Hinterfragt wird aber auch, ob Nadeždin den Begriff des Nihilismus nun selbst entwickelte oder ob er ihn von Jean Paul übernahm. Die Antwort kann nicht eindeutig gegeben werden, denn es ist nicht nachweisbar, dass Nadeždin die Vorschule der Ästhetik oder Die Rede des toten Christus im Original gelesen hat. Über die erste könnte er wohl aus den mündlichen Debatten informiert gewesen sein, welche durch Žukovkij und seine nachgewiesene Lektüre des Textes geprägt wurden. Es ist auch wahrscheinlich, dass Die Rede ihm im Original ebenso wenig bekannt war, sondern durch Madame de Staëls Fassung Un Songe (ein Traumbild) in ihrem Buch Del’ Allemagne vermittelt wurde.42 Das Buch war auf Französisch verfasst 41 42

Nadeždin: Sonmiše Nigilistov. S.487. Zur russischen Staël-Rezeption vgl. Zaborov, P.R.: Žermena de Stal' i russkaja literatura pervoj treti XIX veka. In: Rannie romantieskie

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und die Nacherzählung sehr unpräzise: So ließ Madame de Staël beispielsweise jene Szene, in welcher der Protagonist Jean Pauls aufwacht und Gott wieder anbetet, ganz aus. Diese Szene wird bei Nadeždin auch nicht erwähnt. Die Tatsache, dass Nadeždin das Wort ‚Nigilizm’ nicht nur in diesem Artikel, sondern auch lange vor und nach 1829 als Bezeichnung der ‚Pseudoromantik’ verwendete, sprach für Alekseev und andere russische Forscher dafür, dass er diesen Begriff aus dem Lateinischen selbst ableitete.43 Trotzdem folgt aus unserer Untersuchung deutlich, dass der Nihilismusbegriff Nadeždins sich sowohl inhaltlich als auch als Selbstreflexion der romantischen Epoche in einem engen Zusammenhang und einer inneren Verwandtschaft mit dem deutschen Begriff interpretieren lässt. Mit dem Tod des Vaters der russischen Literatur, Alexander Puškin, im Jahre 1837 endete die Epoche der Romantik in Russland, womit auch der Nihilismusbegriff Nadeždins an Aktualität verlor und in Vergessenheit geriet. Das von ihm erarbeitete Konzept des Nihilismus als ‚Pseudoromantik’ blieb aber noch immer aktuell als Bezeichnung jener dunklen Entwicklung in der russischen Geistesgeschichte, welche auch nach dem Tod Puškins noch nicht abgeschlossen war. Der Geist „unseres Zeitalters“ kam nun in aller Präzision im realistischen Roman44 Lermontovs, Ein Held unserer Zeit, zum Ausdruck.

43 44

vejanija. Leningrad 1972, S.168ff. Im Buch fehlen aber jegliche Hinweise auf Nadeždin und seine Rezeption Jean Pauls. Vgl. Alekseev, M.: K istorii slova „nigilizm“. A.a.O., 415. In diesem Sinne teilte die russische Romantik in ihrer Umkehr in den Realismus das Schicksal der deutschen romantischen Schule. Vgl. Hof, W.: Im Übergang von der Romantik zum Realismus. In: Pessimistischnihilistische Strömungen in der deutschen Literatur vom Sturm und Drang bis zum Jungen Deutschland. A.a.O., 107-175.

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3

DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

Die Erfahrung des ‚poetischen Nihilismus’ bei Lermontov

Mihail Lermontov (1814-1841) gehörte zu der Generation, die in einer Übergangsepoche lebte: Einerseits mit den Idealen der Romantik aufgewachsen,1 war er sich auch der Unerreichbarkeit dieser Ideale bewusst, andererseits war er für den revolutionären linkshegelianischen Realismus von Belinskij und Herzen noch nicht reif genug. Diese Zwischenstellung und Zweiseitigkeit prägte das ganze Leben und die Person Lermontovs.2 Lermontov stammte aus einer sehr reichen adligen Familie, er wurde vorwiegend von seiner Großmutter erzogen, welche durch ihre Eigenwilligkeit und ihren Lebensstil noch das 18. Jahrhundert verkörperte. Sie verwöhnte Mihail von jung auf mit dem ganzen Überfluss der zügellosen Obrigkeit im Geiste der Ekaterinischen Zeiten. Dem jungen Adligen war eine glänzende Offizierskarriere in der Leibgarde und der Zugang zu der obersten Gesellschaft Sankt Petersburgs vorbestimmt. Mit sechzehn Jahren kommt er auf die Moskauer Universität, wo er mit der romantischen Strömung, welche die Jugend begeisterte, in Berührung kam und seine ersten literarischen Versuche machte. Es folgte das militärische Studium, welches er 1834 beendete. Im Jahre 1837, nach dem tödlichen Duell Puškins, schrieb er das Gedicht Der Tod des Dichters (Na smert’ poèta), welches ihm erste literarische Anerkennung einbrachte, aber als ein politisches Werk interpretiert wurde. Er musste zum ersten Mal in den Kaukasus, wo er ein Jahr verbrachte, und kam danach für kurze Zeit nach Sankt Petersburg zurück. Er wurde in die Kreise Karamzins und Žukovkijs (Puškins Freunde) herzlich aufgenommen, musste jedoch schon im Februar 1840 wegen eines Duells wieder in den Kaukasus, wo er aktiv an Kämpfen teilnahm. Nach einem Jahr folgte ein Ehrenurlaub nach Sankt Petersburg als eine militärische Auszeichnung, welcher wegen unsittlichen Benehmens in der

1

2

Vgl. Grigor’jan, K.: Lermontov i romantizm. Moskva-Leningrad 1964; Grigor’jan, K.: Lermontov i ego roman „Geroj naego vremeni“. Leningrad 1975. Vgl. Gusljarov, E., Karpuhin, O.: Lermontov v žizni. Kaliningrad 1998; M.Ju. Lermontov: pro et contra. Linost’ i tvorestvo Mihaila Lermontova v ocenke russkih myslitelej i issledovatelej. Antologija. Sankt-Perterburg 2002; Ejhenbaum, B.: Stat’i o Lermontove. Moskva-Leningrad 1961.

DIE ERFAHRUNG DES ‚POETISCHEN NIHILISMUS’ BEI LERMONTOV

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oberen Gesellschaft vorzeitig beendet wurde.3 Lermontov ging in den Krieg zurück und wurde am 15. Juli 1841 bei einem Duell in Pjatigorsk mit 26 Jahren erschossen. Lermontov war ein Einzelgänger mit einem ziemlich verschlossenen Charakter, er war so etwas wie ein Draufgänger der mehrfach für seine rücksichtlose Tapferkeit ausgezeichnet wurde. Es lagen ihm alle Möglichkeiten des Lebens zu Füßen, er fühlte sich aber zu keiner der gesellschaftlichen Gruppen der damaligen Gesellschaften hingezogen: Weder zu den literarischen Kreisen der auslaufenden Romantik noch zu dem höfischen Adel oder zu den Dienst leistenden Militärs. Sein kurzes Leben bestand aus Reisen und Feldzügen im Kaukasischen Krieg, in welchem er vermutlich den Widerklang seiner sozialen und inneren Entwurzelung fand. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass sein Hauptwerk stark autobiographisch geprägt ist.4 Lermontov verfasste den Roman zwischen 1838 und 1839; die erste Novelle des Romans Bela wurde 1839 im Journal Oteestvennye zapiski gedruckt, ihr folgten Der Fatalist und Taman. Das Vorwort des Romans wurde jedoch erst im Jahre 1841 hinzugefügt, als die Gesamtausgabe als zusammenhängendes Werk folgte. Während die Lyrik Lermontovs als romantisch gilt, wird der Roman Ein Held unserer Zeit meistens als ein Werk des Realismus gelesen.

3.1

Zur Struktur des Romans ‚Ein Held unserer Zeit’

Der Roman besteht aus fünf in sich geschlossenen Novellen, welche sich erst nach dem Lesen des Romans chronologisch gliedern lassen: Auf dem Weg von Sankt Petersburg in den Kaukasus hält Peorin5 in Taman’ an (Taman), nach einem militärischen Einsatz fährt er zur Kur in Pjatigorsk und Kislovodsk, wo er bei einem Duell Grušnickij erschießt (Prinzeß Mary); er wird in eine Festung unter dem Kommando von Maksim Maksimy verbannt (Bela); er verlässt für zwei Wochen die Festung und reist zu einer Kosakenstaniza, wo er auf 3

4 5

Vgl. Manujlov, V., Nazarova, L.: Lermontov v Peterburge. Leningrad 1984. Vgl. Rodzevi, S.: Lermontov kak romanist. Kiev 1914. Hier und folgend behalten wir die neuere Variante der Transkription der Eigennahmen aus dem Russischen. Im zitierten Text behalten wir jedoch die alte Rechtschreibung und die ältere Variante der Transkription. Die zitierte Ausgabe des Romans: Mihail Lermontow: Ein Held unserer Zeit. Übers. Günther Stein. Reclam, Leipzig 1980. Zum Beispiel Petschorin statt Peorin.

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DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

Vuli trifft (Der Fatalist); fünf Jahre später reist Peorin nach Persien und trifft auf dem Weg Maksim Maksimy und einen reisenden Schriftsteller (Maxim Maximytsch). Auf dem Rückweg aus Persien stirbt Peorin, sein Verleger schreibt ein zweites Vorwort zu dem Tagebuch Peorins. Ein sofort entschlüsselbarer chronologischer Aufbau der Novellen wurde bewusst außer Acht gelassen, um zu zeigen, dass allein Peorins Persönlichkeit die narrative Einheit und den Erzählrahmen des Romans bildet. Die Kompositionsähnlichkeit zu den Nachtwachen Bonaventuras ist verblüffend. Die Schwierigkeit liegt jedoch darin, dass Peorin nicht nur aus einer, sondern aus gleich drei Erzählperspektiven dargestellt wird: Maksim Maksimy und der reisende Schriftsteller berichten über den ungewöhnlichen jungen Mann, Peorin selbst gibt über sich durch seine Tagebücher Auskunft. Wir haben also drei Erzähler, welche jeweils aus der IchPerspektive in verschiedenen Novellen über Peorin berichten und damit die Kompositionseinheit des Romans festlegen. Lermontov nutzt diesen Kunstgriff, um die Eindeutigkeit in der Einschätzung Peorin zu erschweren. Der Roman besticht durch eine besondere Struktur des Erzählens: Notizen von Reisenden und Tagebücher verraten eine besondere Offenheit und Intimität, mit der der Verfasser seine eigene innere Welt, seine Gedanken und Beobachtungen ausbreitet. Durch die Multiperspektivität und das ausgesuchte Genre der Erzählung gelang Lermontov die offene und wahrheitsgetreue Schilderung Peorins, gleichzeitig vermochte sich der Autor des Romans damit hinter mehreren Fassaden zu verbergen und die Position eines unabhängigen Beobachters ein zu nehmen. Erst aus dieser unbeteiligten Stellungnahme rückt Lermontov das Ich Peorins in den Fokus des Lesers: Die Lektüre dieser Aufzeichnungen hat mich (den reisenden Schriftstellen und den Verleger Peorins Tagebücher – A.P.) von der Wahrhaftigkeit des Menschen überzeugt, der seine eigenen Schwächen und Laster so rücksichtslos angeprangert. Die Geschichte einer menschlichen Seele, sei sie auch noch so unbedeutend, dürfte beinahe kurzweiliger und ersprießlicher als die Geschichte eines ganzen Volkes sein, besonders wenn es aus Beobachtungen erwächst, die ein reifer Geist am eigenen Ich vor-

DIE ERFAHRUNG DES ‚POETISCHEN NIHILISMUS’ BEI LERMONTOV

221

nimmt, und wenn sie frei von dem eitlen Verlangen geschrieben ist, Mitgefühl oder Bewunderung zu erwecken.6

Den Wert dieser Geschichten sieht der Verleger in ihrer „Wahrhaftigkeit“ und in ihrer Intimität, welche im weiteren Sinne die Modernität des gesamten Werkes ausmachen: Das menschliche Subjekt in seiner wahrheitstreuen Schilderung begann nun den Schriftsteller mehr zu interessieren als die „Geschichte eines ganzen Volkes“. Um die Wahrheitstreue noch zu betonen, lässt Lermontov den reisenden Schriftsteller Peorin auch persönlich kennen lernen. Sie treffen sich in der Novelle Maxim Maximytsch, in welcher der Leser eine zweite, genaue Beschreibung des Äußeren Peorins erhält, die erste stammt von Maksim Maksimy. Aber es gibt noch einen weiteren Grund, warum Lermontov diese Novelle als erste platziert, denn in diesem Treffen wird deutlich das Thema des Generationenkonflikts angesprochen. Maksim Maksimy ist ein typisches Beispiel für einen Menschen der alten Generation, die zwei Ideale im Leben kannte: Freundschaft und den militärischen Dienst. Er ist der Typus eines einfachen, ehrlichen und treuen Mannes, der „keine metaphysischen Erörterungen“7 mag und nicht imstande ist, Peorin auch nur annährend zu verstehen. Nicht zufällig fragt er seinen neuen Reisebegleiter, den Schriftsteller: „‚Merkwürdig! Sagen Sie mir bitte’, fuhr der Stabskapitän, an mich gewandt, fort, ‚Sie sind doch in der Hauptstadt gewesen, und zwar vor nicht allzu langer Zeit – sind die jungen Menschen dort etwa alle so (wie Peorin – A.P.)?’ “ Ich (der reisende Schriftsteller - A.P.) antwortete, es gebe viele Menschen, die sich derart äußerten, darunter wahrscheinlich auch solche, die die Wahrheit sprächen. Im übrigen breite sich die Enttäuschung, wie alle Moden, zunächst in den höchsten Kreisen aus und sickere allmählich zu den untersten Schichten durch, die sie nun abtrügen. Diejenigen, die sich mehr als die anderen wirklich langweilten, seien heutzutage darauf bedacht, dieses Mißgeschick wie ein Laster zu verbergen. [...] „Man sagt doch, die Franzosen hätten die Langeweile in Mode gebracht?" ,,Nein, die Engländer." [...] „Ach, so ist das!“ erwiderte er (Maksim Maksimy – A.P.). „Sie waren ja seit eh und je ausgemachte Trunkenbolde.“

6 7

Lermontov, M.: Ein Held unserer Zeit. Übers. Günther Stein. A.a.O., S.59. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.165.

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DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

Ich entsann mich unwillkürlich einer Moskauer Dame, die erklärte, Byron sei nichts weiter als ein Säufer.8

Als sich Maksim Maksimy von dem Wiedertreffen mit Peorin enttäuscht zeigt, sagt er zu seinem Reisebegleiter: „‚Wie sollen wir ungebildeten Alten mit euch Schritt halten! Ihr jungen Leute seid weltmännisch und stolz.’“9 Der Generationenkonflikt ist sogar dem gutmütigen Maksim Maksimy bewusst: Er zählt Peorin und auch seinen Reisebegleiter zu den „jungen“ und gebildeten Leuten, welche der „Mode“ frönen, sich zu langweilen. Auch der Kumir dieser neuen „weltmännischen und stolzen“ Generation hat einen Namen: Byron. Byron wird im Roman in verschiedenen Zusammenhängen vier Mal erwähnt. Damit erhält der Generationenkonflikt klare Umrisse, es handelt sich im weiteren Sinne um den kulturellen Konflikt, welchen die ästhetische Wende zur Moderne mit sich brachte. Die Erfahrung dieser Wende ist demnach das eigentliche, verdeckte Thema des Romans. Es gibt noch zwei weitere Figuren in dem Roman, welche der neuen Generation angehören: Prinzess Meri und Grušnickij. Prinzess Meri ist ein junges gebildetes Mädchen aus einer guten moskauer Familie. Sie hat „Byron in englischer Sprache gelesen“, „kennt sich in Algebra aus“ und wie „die jungen Damen in Moskau“ hat sie sich „auf die Wissenschaft gelegt“.10 Deswegen ist es nicht überraschend, dass sie sich Peorin „in ihrer Phantasie zu einem Romanhelden nach neuestem Geschmack“ macht.11 Prinzess Meri ist ein Beispiel jener verträumten jungen Damen, welche Romantik spielten und dafür aus der Sicht Peorins bestraft werden mussten. Grušnickij dagegen ist eine Parodie auf die Romantik schlechten Geschmacks oder auf die ‚Pseudoromantik’. Ähnlich dem Tlenskij Nadeždins ist er relativ dumm und ein eingebildeter Schwätzer: Er spricht schnell und geziert; er gehört zu den Menschen, die für alle Ereignisse des Lebens fertige, wohltönende Phrasen bereithalten, keinen Sinn für einfache Schönheit besitzen und sich prahlerisch mit ungewöhnlichen Gefühlen, erhabenen Leidenschaften und exklusiven Leiden drapieren. Effekt erzielen - bedeutet ihnen höchsten Genuß; die romantischen Provinzfräulein sind ihnen bedingungslos ergeben. [...] Ihre Seele birgt oft viele gute Eigen8 9 10 11

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.38. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.54. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.86. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.85.

DIE ERFAHRUNG DES ‚POETISCHEN NIHILISMUS’ BEI LERMONTOV

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schaften, aber nicht für einen Heller Poesie. Gruschnizki deklamierte leidenschaftlich gern; er überschüttete jeden mit einem Wortfall, sobald das Gespräch den Bereich der gewöhnlichen Begriffe verließ; ich konnte mich nie mit ihm streiten. Er antwortet nämlich nicht auf die Erwiderungen des anderen, er hört ihn nicht. Sobald man innehält, beginnt er eine lange Tirade, die scheinbar mit dem zusammenhängt, was man gesagt hat, aber in Wirklichkeit nur die Fortsetzung seiner eigenen Rede ist. [...] Sein Ziel ist, Held eines Romans zu werden. Er hat sich so oft bemüht, andere davon zu überzeugen, er sei nicht für diese Welt geschaffen und zu besonderen geheimen Leiden verurteilt, daß er es beinahe selber glaubt. Auch deswegen trägt er seinen dicken Soldatenmantel so stolz. - Ich habe ihn durchschaut, und er kann mich deshalb nicht leiden.12

Peorin durchschaut Grušnickij und Prinzess Meri gleichermaßen und gewinnt dadurch eine Macht über beide, die er zerstörerisch gegen sie ausspielt. In dem Generationenkonflikt gehört Peorin keiner Partei an, obwohl er natürlich Vertreter der neuen Generation ist. Im Gegensatz zu vielen Altersgenossen ist sein ‚Byronismus’ echt, er lebt die Romantik in ihrer dunklen, titanischen Seite tatsächlich aus. Die alte Generation samt der höfischen Obrigkeit ist ihm zu langweilig; die begeisterten Romantiker mit ihrem schlechten Geschmack sind ihm fremd. Wie Lermontov selbst kann auch Peorin keine soziale oder kulturelle Nische für sich finden. In der bedingungslosen Wahrheitstreue aber liegt die Einmaligkeit des literarischen Porträts Peorins, in dem die Züge der nachromantischen Generation zu erkennen sind. In dem Vorwort zu der ersten Gesamtausgabe des Romans vernehmen wir die unverstellte Stimme Lermontovs: Der Held unserer Zeit, meine sehr geschätzten Herren, ist tatsächlich ein Porträt, aber nicht das eines einzelnen Menschen; es ist ein Porträt, das sich aus den voll ausgereiften Lastern unserer ganzen Generation zusammensetzt. Sie werden mir wiederum sagen, der Mensch könne nicht so schlecht sein, aber ich sage Ihnen: Wenn Sie die Existenz aller tragischen und romantischen Bösewichte für möglich gehalten haben, warum glauben Sie dann nicht an die Wirklichkeit eines Petschorins? Wenn Sie sich an bedeutend schrecklicheren und mißgestalteren Phantasiegeschöpfen ergötzt haben, warum findet dann dieser Charakter, dieses Phan-

12

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.76f.

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DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

tasiegeschöpf, vor Ihnen keine Gnade? Etwa weil in ihm mehr Wahrheit ist, als Ihnen lieb wäre?13

Hier tritt Lermontov als Schriftsteller auf und spricht seine Kollegen an, die natürlich der romantischen Schule angehören. Lermontov hat sich damit klar positioniert: Durch den Blick in das Innere einer einzelnen Seele möchte er das Porträt einer ganzen Epoche zeichnen, und zwar in schonungsloser Offenheit und Rücksichtslosigkeit. Dass die „tragischen Bösewichte“, mit denen die romantische Schule so gerne literarisch spielte, zu einer realen Erfahrung einer ganzen Generation geworden sind, war die erschreckende Botschaft des Romans. Lermontov stellte sich das Erschrecken seiner Leser vor, der Roman ist eine scharfe Satire oder, wie Lermontov selbst meinte, eine „bittere Medizin“: Sie sagen, die Sittlichkeit gewinne dadurch nichts? Entschuldigen Sie – die Menschen sind zur Genüge mit Süßigkeiten gefüttert worden; sie haben sich daran den Magen verdorben. Was not tut, sind bittere Medizin, unangenehme Wahrheiten. [...] Es genügt, daß die Krankheit gezeigt ist. Wie sie geheilt werden muß – das weiß Gott allein!14

Der Roman gehört eindeutig in die Reihe der deutschen und russischen Literatur, welche als Selbstreflexion der Epoche verstanden werden kann. Aus diesem Grund muss von der Problematik des ‚poetischen Nihilismus auch im Zusammenhang mit diesem Werk Lermontovs gesprochen werden, obwohl der Begriff des Nihilismus in dem Roman gar nicht vorkommt. Peorin ist als wahrhaft romantischer Charakter mit der angebrochenen Epoche der ästhetischen Moderne aufs engste verbunden, steht aber als ‚poetischer Nihilist’ klar in Opposition zu einer naiven, schwärmerischen Romantik. Es ist nicht nachgewiesen, ob Lermontov Nadeždins Polemik gegen die ‚Pseudoromantiker’ verfolgte und ob er sich vielleicht von dessen bekanntem Artikel inspirieren ließ, ausgeschlossen ist ein Zusammenhang nicht. Denn zwischen 1828 und 1832 war Lermontov mit der Moskauer Universität verbunden, in jener Zeit datieren erste literarische Versuche wie das Gedicht Dämon von 1829. Es ist jedoch erstaunlich, inwieweit Nadeždins Beschreibung des ‚poetischen Nihilismus’ als ‚Byronismus’ zu dem Titanismus eines Peorin passt. 13 14

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.5f. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.6.

DIE ERFAHRUNG DES ‚POETISCHEN NIHILISMUS’ BEI LERMONTOV

3.2

225

Der ‚Byronismus’ Peþorins

In verschiedenen Gesprächen erzählt Peorin die Geschichte seines Lebens: In meiner frühesten Jugend, von dem Augenblick an, da ich die elterliche Obhut verließ, gab ich mich wild allen Genüssen hin, die man für Geld haben kann, und diese Genüsse wurden mir selbstverständlich zuwider. Dann stürzte ich mich in die große Welt, aber bald ödete mich auch die Gesellschaft an; ich verliebte mich in vornehme Schönheiten und wurde wiedergeliebt, doch deren Liebe stachelte nur meine Phantasie und meine Eigenliebe an; das Herz blieb leer... Ich begann zu lesen, zu studieren - auch der Wissenschaften wurde ich überdrüssig; ich sah, daß weder Ruhm noch Glück von ihnen abhängen, weil die glücklichsten Menschen die Unwissenden sind, und Ruhm, Erfolg - um sie zu gewinnen, muß man nichts als geschickt sein! Da überkam mich Langeweile..15

Die Langeweile Peorins ist direkt mit seinen existentiellen Erfahrungen verbunden16, sowohl sinnliche Leidenschaft als auch das geistige Streben nach Wissen vermögen nicht sinnstiftend zu wirken und die tief empfundene innere Leere zu füllen. Alles, was gemeinhin das ‚menschliche Glück’ ausmachen kann, verkehrt sich bei Peorin ins Negative, so die Leidenschaft zu Eigenliebe und die Wissenschaft zu einem überdrüssig machenden und nutzlosen Geschäft. Peorin, des profanen, ‚normalen’ menschlichen Glückes spottend, gelingt es nicht, ein sinnstiftendes Ziel für sich zu entdecken. In der Nacht vor dem tödlichen Duell mit Grušnickij17 denkt er über sein Leben nach:

15 16

17

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.36. Vgl. Trojansky, E.: Pessimismus und Nihilismus der romantischen Weltanschauung, dargestellt am Beispiel Puškins und Lermontovs. A.a.O.; Revers, W.: Die Psychologie der Langeweile. Meisenheim am Glan 1949; Völker, L.: Langeweile. Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs. München 1975; Rakuša, I.: Studien zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur. Bern-Frankfurt a.M. 1973; Rehm, W.: Gontscharow und Jacobsen oder Langeweile und Schwermut. Göttingen 1963. Das Duell mit Grušnickij wird im Roman als eine Farce dargestellt. Vgl. Scholle, Ch.: Das Duell in der russischen Literatur. Wandlungen und Verfall eines Ritus. München 1977.

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DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

Was dann? Wenn ich sterben soll, dann sterbe ich - es wäre kein großer Verlust für die Welt; auch ich selbst finde alles schon todlangweilig. Ich bin wie ein Mensch, der auf dem Ball gähnt und der nur deswegen nicht zum Schlafen nach Hause fährt, weil seine Kutsche noch nicht da ist. Die Kutsche ist vorgefahren? Lebt wohl! Ich lasse in Gedanken meine ganze Vergangenheit an mir vorüberziehen und frage mich unwillkürlich: Wozu habe ich gelebt? Zu welchem Zweck bin ich geboren worden? Es hat doch sicherlich einen gegeben, und sicherlich war ich zu Hohem bestimmt, denn ich spüre in meiner Seele unermeßliche Kräfte; aber ich habe diese Bestimmung nicht erraten, habe mich von den Verlockungen hoher und undankbarer Leidenschaften hinreißen lassen; ihren Schmelzofen verließ ich hart und kalt wie Eisen, ich habe für immer die Glut edler Bestrebungen verloren, die schönste Blüte des Lebens.18

„Die Glut edler Bestrebungen“ oder die romantische Begeisterung hat Peorin für immer verloren, da diese „Glut“ nur durch ein höheres Ziel der eigenen Existenz entflammt werden kann. Peorin spürt in den „unermeßlichen Kräften“ seiner Seele eine höhere „Bestimmung“, welche er nicht „erraten“ kann. Hier findet sich die Idee Jacobis wieder, dass das menschliche Ich ohne „das Wahre außer sich“, also die Erfahrung der Transzendenz, dem Egoismus und dem Titanismus ausgeliefert sei.19 Den Zustand des ‚poetischen Nihilismus’ beschreibt Peorin als existentielle Langeweile: „Ich selbst finde alles schon todlangweilig“. So steht Peorin wie das „hohe philosophische Genie“ Nadeždins vor dem „entblößten Universum“, da er „das Geheimnis [der] ihm gegenwärtigen Epoche“ erraten hat und zwar das Geheimnis der „furchtbaren Nichtigkeit“. Diese Erfahrung der Entwertung alles Menschlichen und des Verfehlens eigener Bestimmung bleibt die zentrale und ihn leitende Erfahrung Peorins, daraus resultiert sein gefährlicher Titanismus. Interessant ist, dass Peorin die Tragik seiner Lage bewusst ist. So sagt er zu Werner über die schöne, liebende Seite seiner Seele: „Ich wurde ein moralischer Krüppel; die eine Hälfte meiner Seele existierte nicht mehr, sie war verdorrt, verdunstet, gestorben. Ich schnitt sie ab und warf sie weg [...].“20 An anderer Stelle spricht er zu Maksim Maksimy, als dieser über den Tod Belas weint: „Ob ich ein Tor 18 19 20

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.136. Vgl. Kapitel I dieser Arbeit: Egoismus als Nihilismus bei Fichte. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.110.

DIE ERFAHRUNG DES ‚POETISCHEN NIHILISMUS’ BEI LERMONTOV

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oder ein Bösewicht bin, weiß ich nicht; doch steht es fest, daß ich ebenfalls sehr zu bemitleiden bin, vielleicht mehr als sie (die sterbende Bela – A.P.).“21 In sein Tagebuch schreibt er in der Nacht nach dem Duell: „Ich lese die letzte Seite noch einmal. Albern! Ich glaubte, ich würde sterben; das konnte nicht geschehen – ich habe den Kelch des Leides noch nicht geleert, und jetzt fühle ich, daß ich noch lange leben werde.“22 Peorin nimmt die Welt also als einen Ort des Leidens wahr, während er seine eigene Existenz als bemitleidenswert betrachtet, denn denjenigen Teil seiner Seele, die zur Liebe und zur Verbindung zur Gegenwart fähig sein sollte, hat er eigenhändig „abgeschnitten“ und „weggeworfen“. An einer anderen Stelle im Tagebuch notiert er: „Manchmal verachte ich mich selbst... Vielleicht verachte ich deshalb auch die anderen? Ich bin edler Gefühlsregungen unfähig geworden; ich habe Angst, ich könnte mich vor mir selber lächerlich machen.“23 Diese Erfahrung Peorins, dass es in der Welt keinen Platz für „edle Gefühlsregungen“ gibt, ist der Grund dafür, dass das Universum ihm - in Worten Nadeždins - als „entblößt“ oder „verdinglicht“ vorkommt. Peorin meint: „Ideen sind organische Geschöpfe, hat einmal jemand gesagt – ihre Geburt gibt ihnen bereits die Form, und diese Form ist die Tat; [...]“24 Die Liebe nennt er „Erbärmliche Trägheit des Herzens“25, die Entstehung der Leidenschaft betrachtet er materialistisch als einen physischen Prozess: ... ihr Busen (er spricht von Prinzess Meri – A.P.) wogte... Was war zu tun? Ein Musselinärmel ist ein schwacher Schutz, und ein elektrischer Funke sprang von meinem Arm auf ihren über. Fast alle Leidenschaften fangen so an, und wir betrügen uns oft selber, wenn wir denken, eine Frau liebe uns unserer körperlichen oder sittlichen Vorzüge wegen; freilich, sie bereiten das Herz vor, machen es geneigt, für den Empfang des heiligen Feuers. Trotzdem entscheidet die erste Berührung.26

Auch die Schönheit einer Frau beschreibt Peorin weniger poetisch. Als er nach seiner ersten Begegnung mit Prinzess Meri mit 21 22 23 24 25 26

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.37. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.137. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.128. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.108. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.93. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.112.

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DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

Grušnickij über sie spricht, sagt er: „Sie hat so samtene Augen, ja genau samtene – ich empfehle dir, diesen Ausdruck zu benutzen, wenn du von ihren Augen sprichst; [...]. Hat sie eigentlich weiße Zähne? Das ist sehr wichtig! Schade, daß sie zu deiner fulminanten Phrase nicht gelächelt hat.“ Über die Schönheit der Augen spottet Peorin, während er die Qualität der Zähne einer Frau wichtig schätzt. Grušnickij merkt treffend an: „Du sprichst von einer hübschen Frau wie von einem englischen Pferd.“27 Nach einer schlaflosen Nacht vor dem Duell mit Grušnickij erfrischt sich Peorin mit einem Bad, was ihn zu der lakonischen Aussage bewegt: „Ich verließ das Bad frisch und munter, als wollte ich zum Ball gehen. Da sage mir noch einer, die Seele hänge nicht vom Körper ab!“28 Auch in der Kunst sieht Peorin keinen besonderen metaphysischen Sinn. Als die Frage der Prinzess Meri, ob er die Musik nicht liebe, da er ihrem Musizieren nicht zugehört habe, antwortet er: „Im Gegenteil. Besonders nach dem Essen.“ „Gruschnizki hat recht, wenn er sagt, sie hätten einen höchst prosaischen Geschmack. Wie ich sehe, lieben Sie die Musik in gastronomischer Hinsicht...“ (so Prinzess Meri – A.P.) „Sie irren sich abermals, ich bin gar kein Gastronom; ich habe einen verteufelt schlechten Magen. Aber Musik nach dem Mittagessen schläfert ein, und es ist gesund, nach dem Essen zu schlafen; also liebe ich die Musik in medizinischer Hinsicht. Abends dagegen peitscht sie meine Nerven zu sehr auf; [...].“29

Natürlich könnte man seine Worte als Salon-Scherze verstehen, wenn wir nicht wüssten, dass Peorin in diesem spielerischen Ton seine Weltsicht preisgibt. Die Erfahrung, dass die Welt „entblößt“ ist, führt auch dazu, dass Peorin nicht zu diskutieren bereit ist. Denn wenn es keine allgemeine, allumfassende und übermenschliche Wahrheit gibt, kann der Mensch auch keine festen Überzeugungen oder sogar Meinungen haben. Nach Peorin glauben nur „Dummköpfe“ etwas zu wissen. So beschreibt er seine erste Begegnung mit Werner, einem Arzt in Pjatigorsk: Unsere Bekanntschaft begann folgendermaßen: Ich traf Werner in S... ; die Unterhaltung wurde gegen Ende des Abends philosophisch metaphysisch; wir sprachen von unseren Überzeugungen, und jeder vertrat eine entgegengesetzte Meinung.

27 28 29

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.79. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.137. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.105.

DIE ERFAHRUNG DES ‚POETISCHEN NIHILISMUS’ BEI LERMONTOV

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,,Was mich betrifft, so bin ich nur von einem einzigen überzeugt", sagte der Arzt. ,,Wovon also?" fragte ich, um die Meinung desjenigen zu erfahren, der bislang geschwiegen hatte. ,,Davon", antwortete er, ,,daß ich früher oder später eines schönen Morgens sterben werde." ,,Ich bin reicher als Sie", sagte ich, ,,ich besitze noch eine Überzeugung mehr, und zwar die, daß ich an einem überaus widerwärtigen Abend das Unglück hatte, geboren zu werden". Alle fanden, wir redeten ungereimtes Zeug, doch im Grunde sagte keiner von ihnen etwas Klügeres. In diesem Augenblick hatten wir uns in der Menge erkannt. Wir trafen uns des öfteren und erörterten zu zweit sehr ernsthaft abstrakte Dinge, bis wir beide gewahr wurden, daß wir uns zum besten hielten. Dann brachen wir, nachdem wir einander bedeutsam in die Augen geblickt hatten, in ein schallendes Gelächter aus, wie dies nach Ciceros Worten einst die römischen Auguren getan, und trennten uns höchst zufrieden über diesen Abend.30

Die tiefsinnigste Überzeugung Peorins ist es also, dass es keine weiteren Gewissheiten geben kann, außer dass man geboren wurde und sterben wird. Alles andere erscheint ihm und seinem Freund Verner lächerlich. Diese Haltung korrespondiert stark mit dem Skeptizismus der Spinozistischen Lehre, die besagt, dass alle menschlichen Überzeugungen über das Schöne und Hässliche, über Gute und Böse, über Gott und die Religion nur menschliche Einbildungen sind. Diesen Gedanken haben wir bei Herder und den deutschen Romantikern wieder gefunden. Es ist fraglich, ob Lermontov Spinoza gelesen hat, aber er wiederholte doch den Spinozistischen Gedankenzug, dass sich in einem „entblößten“ Dasein nur der Skeptizismus als eine kluge Überzeugung erweist. Die Gleichgültigkeit allem gegenüber außer sich selbst ist also die geheime Offenbarung der beiden Skeptiker über die Welt. Peorin sagt zu Verner: Sehen Sie, wir beiden gescheiten Menschen wissen im voraus, daß man sich über alles endlos streiten kann, und streiten uns deshalb nicht. [...] Das Traurige mutet uns lächerlich, das Lächerliche traurig an, und im Grunde sind wir, um die Wahrheit zu sagen, gegen alles recht gleichgültig, außer gegen uns selbst.31

30 31

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.83. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.84.

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DER BEGRIFF DER ‚PSEUDOROMANTIK’ IM RUSSISCHEN KULTURRAUM

Diese skeptische Haltung, diese Gleichgültigkeit gegenüber den in der Gesellschaft angenommenen metaphysischen Werten ist aber alles andere als harmlos, sie ist vielmehr die geheime Waffe Peorins. Als er in Taman’ das Leben einer Familie einfach aus Neugier zerstört, spricht er zu sich selbst: „Was scheren mich die Freuden und Leiden der Menschen, mich, einen reisenden Offizier, noch dazu einen, der sich auf Dienstreise befindet.“32 Dieser Skeptizismus ist eine der Ausdrucksformen seines ‚poetischen Nihilismus’ oder seiner Langeweile. Die Offenbarung des Daseins zeigt sich ihm in seiner „furchtbaren Nichtigkeit“ mit der skeptischen Entwertung der Gegenwart und der Verödung des gegenwärtigen Lebensgefühls. Peorin bleibt wie einst Heinrich von Kleist nur ein Mittel, um als Individuum zu bestehen, und zwar die Flucht vor der Gegenwart durch Reisen: „... alles ist mir zu gering, an die Traurigkeit gewöhne ich mich ebenso leicht wie an den Genuß, und mein Leben wird von Tag zu Tag öder; mir bleibt nur ein Mittel: reisen. [...] ... und vielleicht ereilt mich unterwegs der Tod!“33 Peorin stirbt schließlich auf einer Rückreise von Persien. Wenn Peorin seinen ‚poetischen Nihilismus’ als existentiell tragisch empfindet, so ist sein ‚Byronismus’ nicht nur passiv. Peorin handelt. Seine Botschaft der „Nichtigkeit des Daseins“ bleibt nicht nur verbal geäußert wie bei dem Kreuzgang Bonaventuras oder dem toten Christus Jean Pauls. Peorins Verhalten anderen Menschen gegenüber spiegelt seine Erfahrung der existentiellen Verzweiflung.34 So wie es „dem munteren Geist unserer Zeiten“ Nadeždins zustand, „das Universum von gefälschten klassizistischen Verschönerungen zu entblößen, unter welchen es beschmückt, lachend und hübsch erschien!“, so findet Peorin den einzigen Genuss seines Lebens eben darin, „die Hoffnungen anderer zu zerstören“: „Ist es denn, so dachte ich, meine einzige Bestimmung auf Erden, die Hoffnungen anderer zu zerstören?“35

32 33 34

35

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.73. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.37. Vgl. Furst, L.: The Romantic Hero, or is he an Anti-Hero? In: Studies in the Literary Imagination. 9-1. 1976. S.53-67; Guski, A.: M.Ju. Lermontovs Konzeption des literarischen Helden. München 1970; Marcuse, L.: Die Überwindung des romantischen Menschen. In: Die Dioskuren. Bd.2. 1923; Gillespie, M.A.: Romanticism and nihilism. The demonic hero. In: Nihilism before Nietzsche. A.a.O., S.101-135. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.115.

DIE ERFAHRUNG DES ‚POETISCHEN NIHILISMUS’ BEI LERMONTOV

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Die Erfahrung der „furchtbaren Nichtigkeit“ treibt Peorin in seinem ‚Byronismus’ dazu, sein zynisches Programm einer „Antimetaphysik“ auch an anderen Menschen zu exemplifizieren. Die Welt der anderen zu entwerten und Zweifel zu säen an Werten und Idealen wie der Güte, der Gerechtigkeit oder der Liebe, erscheint als der innerste, lebenserhaltende Trieb Peorins: „Ich spüre in mir die unersättliche Gier, die alles verschlingt, was ihr in den Weg tritt: ich betrachte die Leiden und Freuden der anderen nur im Zusammenhang mit mir, wie eine Speise, die meine seelischen Kräfte erhält.“36 Als er Prinzess Meri an den Rand der Verzweiflung bringt und sich vorstellt, wie die Unglückliche nach einem „nervösen Anfall“ schlaflos liegt, denkt er: „Dieser Gedanke bereitete mir unermeßlichen Genuß. Es gibt Augenblicke, in denen ich den Vampir verstehe!“37 An einer anderen Stelle beschreibt er seinen nihilistischen Drang als „Hunger“: ... ich liebte für mich, zu meinem eigenen Vergnügen; ich stillte nur das seltsame Verlangen des Herzens, indem ich gierig die Gefühle der anderen verschlang, ihre Zärtlichkeit, ihre Freuden und ihre Leiden, und ich wurde nie satt. So schläft ein vor Hunger Ausgezehrter erschöpft ein und sieht vor sich üppige Speisen und schäumende Weine; er verzehrt entzückt die luftigen Gaben der Phantasie und glaubt, ihm sei leichter geworden. Doch kaum erwacht er, verschwindet der Traum, es bleibt der verdoppelte Hunger und die Verzweiflung!38

Für diesen Akt der Entwertung des Daseins auch der Mitmenschen findet Peorin wie einst Nadeždin eine treffende Metapher: Es geht darum, „den Zauberschleier herunterzureißen“.39 Prinzess Meri, Grušnickij und Maksim Maksimy sind Opfer seiner ‚Entzauberung’. Als er sich mit Grušnickij anlegt, fragt er sich selbst: Warum bemühe ich mich so? Aus Neid auf Gruschnizki? Der Arme, er verdient ihn gar nicht. Oder ist das die Folge jenes häßlichen, aber unbesiegbaren Gefühls, das uns veranlaßt, die süßen Verirrungen unseres Nächsten zu zerstören, um das kleinliche Vergnügen zu haben, ihm auf seine verzweifelte Frage, woran er glauben solle, zu antworten: ,,Mein Freund, mir ist es ebenso ergangen! Doch du siehst, ich esse zu Mittag, esse zu Abend, schlafe 36 37 38 39

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.108. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.125. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.136. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.122.

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gut und hoffe, ich werde einst ohne Geschrei und Tränen zu sterben verstehen." Und doch liegt ein grenzenloser Genuß im Besitz einer jungen kaum erblühten Seele! Sie ist wie eine Blume, die ihren schönsten Duft dem ersten Sonnenstrahl entgegenhaucht; man muß sie in diesem Augenblick pflücken und sie, wenn man sich an ihrem Duft satt getrunken hat, auf den Weg werfen - vielleicht hebt sie jemand wieder auf.40

Wegen Peorin verrät der alte Offizier Maksim Maksimy seine Lebensprinzipien: Er zweifelt nun an der Freundschaft und verletzt zum ersten Mal in seinem Leben seine Dienstpflichten. Das Vergnügen, „die süßen Verirrungen unseres Nächsten zu zerstören“, ohne dabei persönlich gegen die Unglücklichen eingenommen zu sein, zeigt den Titanismus Peorins am deutlichsten. So wie Kreuzgang in seiner titanischen Aufwallung gegen den Himmel das Nichts verkündete, kann auch das Handeln Peorins als eine Botschaft über den wahren Wert des Lebens und des Daseins an jene Menschen verstanden werden, mit denen ihn das Schicksal zusammenführte: Wie oft habe ich seit jener Zeit schon in den Händen des Schicksals die Rolle des Henkersbeils gespielt! Wie das Richtschwert fiel ich auf das Haupt der bezeichneten Opfer nieder, oft ohne Zorn und immer ohne Erbarmen.41

So wie Kreuzgang die schlafende Stadt als ein Schauspiel seines titanischen Ichs und als Feld seiner Ironie versteht, betrachtet Peorin jede Lebenssituation und die Schicksale anderer Menschen einerseits als eine Herausforderung und andererseits als eine Komödie, um seine Langeweile zu vertreiben. Auf eine Wette mit Maksim Maksimy hin verführt er Bela, was zu ihrem Tod führt; die Situation um Prinzess Meri und Grušnickij betrachtet er als einen „Knoten“, für deren Lösung er schon „sorgen“42 wolle. Am Ende dieser Belustigung ist Grušnickij tot und Prinzess Meri ohne Erbarmen als Persönlichkeit vernichtet. Als Bela stirbt, versucht Maksim Maksimy Peorin zu trösten: Ich wollte ihn trösten, mehr anstandshalber, wissen Sie, und fing an zu sprechen; er hob den Kopf und lachte... Mir lief es eiskalt

40 41 42

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.107. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.136. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.85.

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über den Rücken, als ich dieses Gelächter hörte... Ich ging den Sarg bestellen.43

In ihrem letzten Gespräch mit Peorin verlangt die verletzte Prinzess Meri eine Erklärung: „‚Prinzeß’, sagte ich, ‚Sie wissen, daß ich meinen Spott mit Ihnen getrieben habe! Sie müssen mich verachten.’“44 Wie Nadeždin in der Poesie Byrons „eine unendliche Ironie und Parodie auf alles Seiende“ sah, lacht Peorin letztlich nicht über seine Opfer wie Bela, Grušnickij, Maksim Maksimy, Grušnickij, Vera oder Prinzess Meri, sondern über die erkannte Nichtigkeit „alles Seiende[n]“ und über den irrigen Glauben der Menschen an ewige Ideale.

3.3

Wenn die Sterne schweigen

Aus unseren Überlegungen ist es ersichtlich, dass die Erfahrung des ‚poetischen Nihilismus’ und des Skeptizismus mit einem bestimmten philosophischen Konzept des Daseins verknüpft ist. So sprach Jacobi vom Chimärismus als Folge der Leugnung eines „außer mir“ liegende[n], „lebendige[n]“, „für sich bestehende[n] Wesen[s]“; Jean Paul und Nadeždin verkündeten im Grunde den Tod Gottes; Bonaventura lies Kreuzgang das Nichts ausrufen und Spinoza und Herder sprachen von der Immanenz und dem Naturalismus Gottes. Auch das Bild von Peorins ‚Byronismus’ als Porträt einer neuen Epoche wäre nicht vollständig, wenn es nicht in einen theologischen Kontext gesetzt würde. In der letzten Novelle um das Leben Peorins, Der Fatalist, schließt der Antiheld an einem Abend zwei Wetten ab: Die erste mit einem Leutnant Vuli, die zweite mit seinem Schicksal. Die erste Wette entwickelt sich aus dem Gespräch über den Gedanken, dass „der mohammedanische Glaube, das Schicksal eines Menschen stehe in den Sternen geschrieben, auch bei uns Christen viele Anhänger finde“.45 Es wird also die vielschichtige philosophische Frage zur Diskussion gestellt, ob der Mensch als ein denkendes Subjekt in seinen Entscheidungen und in seinem Handeln frei sein könne, oder ob jeder seiner Schritte in „den Sternen“, also durch göttlichen Plan vorgezeichnet sei: 43 44 45

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.43. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.153. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.155.

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,,All das ist Unsinn!" sagte jemand. ,,Wo sind diese zuverlässigen Leute, die eine Liste gesehen haben, auf der unsere Todesstunde eingetragen ist? Und wenn es tatsächlich eine Vorherbestimmung gibt, wozu ist uns dann Wille und Vernunft gegeben? Warum müssen wir über unsere Handlungen Rechenschaft ablegen?"46

Im weiteren Sinne geht es darum, ob es überhaupt im Universum einen Gott, „Sterne“ oder eine andere Kraft gibt, die sich um das Schicksal des Menschen kümmere und der der Mensch in seiner angeblichen Autonomie eine „Rechenschaft“ schuldig wäre. Peorin wettet nun, dass es keine Vorherbestimmung gäbe. Um die Streitfrage zu klären, hält sich Vuli eine Pistole an den Kopf, ohne zu wissen, ob sie geladen ist, und drückt ab. Peorin überlegt: Trotz seiner Kaltblütigkeit glaubte ich auf seiner bleichen Stirn das Siegel des Todes zu erkennen; ich habe beobachtet, und viele alte Krieger haben meine Beobachtung bestätigt, daß oft das Gesicht eines Menschen, der einige Stunden später sterben muß, von dem unvermeidlichen Schicksal seltsam gezeichnet ist, so daß sich das geübte Auge schwerlich täuschen kann. ,,Sie werden heute sterben", sagte ich zu ihm.47

Die Waffe versagt, aber als Vuli gleich danach ohne nachzuladen auf eine Mütze an der Wand zielt, löst sich ein Schuss. Peorin bekennt seine Niederlage und gesteht nun zu, dass er jetzt an die Vorherbestimmung glaube, merkt dabei aber an Vuli gewendet an: „nur verstehe ich jetzt nicht, wieso mir schien, daß Sie heute unbedingt sterben müßten.“48 Peorin stellt also sein eigenes „geübte[s] Auge“, seine Erfahrung und seinen Verstand dem so offensichtlichen Beweis einer metaphysischen Vorbestimmung gegenüber. Vuli wird eine Stunde später auf dem Weg nach Hause von einem betrunkenen Kosaken auf offener Straße ermordet. Bevor er stirbt, sagt er noch: „Er hat recht.“49 Peorin behielt gleich zweifach recht: einerseits in seiner nüchternen Beobachtung und andererseits, dass nicht die göttliche Vorherbestimmung, nicht der göttliche Plan das menschliche Schicksal bestimmen, sondern der Zufall. Wie Spinoza und später Herder glaubten, dass alle „Zweckmäßigkeiten“ der Natur die „Erdichtungen der 46 47 48 49

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.155. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.157f. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.159. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.162.

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Philosophen“ und „Idealisten“ seien, so muss Peorin in seinem Skeptizismus ähnlich Spinoza und Herder über diesen Irrtum der Menschheit lachen: Ich ging durch die menschenleere Gassen der Staniza nach Hause zurück; [...] die Sterne leuchteten ruhig an dem dunkelblauen Himmelsgewölbe, und ich mußte lachen, als ich daran dachte, daß es einst äußerst kluge Menschen gegeben hat, die wähnten, die himmlischen Gestirne nähmen Anteil an unseren nichtigen Streitigkeiten um einen Fetzen Land oder eingebildete Rechte! Und wie sieht es wirklich aus? Diese Lämpchen, die ihrer Meinung nach nur entzündet wurden, um ihre Schlachten und Siege zu bescheinen, erstrahlen im früheren Glanz, aber die Leidenschaften und Hoffnungen jener Menschen sind längst mit ihren Trägern erloschen, wie das kleine Feuer, das der sorglose Wanderer am Waldrand entfacht hat. Was für eine Willenskraft gab ihnen jedoch die Überzeugung, daß der ganze Himmel mit seinen zahllosen Bewohnern sie voll stummer, doch unwandelbarer Anteilnahme betrachte! Aber wir, ihre erbärmlichen Nachfahren, die wir auf der Erde umherirren, ohne Überzeugungen und Stolz, ohne Genuß und Furcht - außer jener unwillkürlichen Angst, die das Herz bei dem Gedanken an das unvermeintliche Ende ergreift -, wir sind großer Opfer nicht mehr fähig, weder zum Wohle der Menschheit noch zu unserem eigenen Glück, weil wir wissen, daß es unmöglich ist, und gleichgültig schreiten wir von Zweifel zu Zweifel, verfallen wir wie unsere Vorfahren von einem Irrtum in den anderen, ohne daß uns gleich ihnen die Hoffnung oder wenigstens jener unbestimmbare, obgleich wahre Genuß zuteil wird, den die Seele in jedem Kampf mit den Menschen oder mit dem Schicksal empfindet.50

Wie Herder schrieb, dass der Mensch für Gott als „Wurm“ zu „klein“ sei und dass der Mensch Gott „nicht rufen“ könne, so lacht Peorin mit seinem titanischen Lachen über den Irrtum der Menschheit, dass die Sterne an ihren kleinen Problemen „Anteil“ haben sollen. Aber in gewisser Hinsicht beneidet Peorin seine Vorfahren, denen dieser Glaube an die „zahllosen Bewohner“ des Himmels die „Willenskraft“ gab, an Ideale zu glauben und ein großes Opfer zum „Wohle der Menschheit“ zu bringen. Der gegenwärtigen Generation Peorins sind diese Ideale entzogen, ihr bleibt ähnlich Berglinger und Kreuzgang nur die „unwillkürliche Angst“ vor dem Tod, vor dem Gedanken „an das unvermeintliche Ende“ und 50

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.159f.

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der Weg des Skeptizismus, der Weg „von Zweifel zu Zweifel“. Es ist eher unwahrscheinlich, dass Lermontov mit der Philosophie Spinozas oder sogar der deutschen Aufklärung vertraut war. Umso erstaunlicher erscheint das spinozistische Bild,51 welches Lermontov in den Hintergrund von Peorins Handeln stellt und welches hinter der romantischen Ästhetik durchblickt. Peorin geht aber noch weiter. Auch er will nun sein Schicksal wie Vuli auf die Probe stellen und eine Wette mit den „Sternen“ abschließen, indem er den Versuch unternimmt, den bewaffneten und wahnsinnig gewordenen Kosaken mit bloßen Händen fest zu nehmen. Der Kosak schießt und seine Kugel verfehlt Peorin nur knapp, reißt aber eine Epaulette von seiner Schulter. „Sollte man nach alledem nicht wirklich Fatalist werden?“52 fragt sich der tollkühne Peorin danach. Aber ‚ein Fatalist zu sein’ würde bedeuten, dass Peorin doch eine Überzeugung im Leben gewinnen würde. Peorin bleibt aber seinem Skeptizismus treu: „Aber wer weiß denn genau, ob er von etwas überzeugt ist oder nicht? Und wie oft halten wir eine Täuschung der Gefühle oder eine Verirrung der Vernunft für eine Überzeugung!“53 Das einzige, was ihm bleibt ist eine absolute, titanische Freiheit, welche er durch seinen existentiellen Zweifel und durch seine Erkenntnis „der Nichtigkeit des Daseins“ gewonnen hat: Ich zweifle gern an allem; diese Eigenschaft behindert keineswegs die Entschlossenheit des Charakters - im Gegenteil; was mich betrifft, so schreite ich stets kühner voran, wenn ich nicht weiß, was mich erwartet. Etwas Ärgeres als der Tod kann keinen treffen und dem Tod entgeht man nicht!54

Der Roman endet mit einer klaren Gegenüberstellung zweier Generationen und zweier Epochen, welche einander nicht verstehen können. Peorin kehrt in die Festung zurück und berichtet Maksim Maksimy über den Vorfall. Der gute Mensch weiß nichts anderes zu sagen als: „Ja, schade um den armen Kerl... Der Teufel muß ihn

51

52 53 54

Vgl. die zitierte Stelle bei Spinoza im Kapitel II dieser Arbeit: Die Religionskritik und Skeptizismus Spinozas. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.164. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.164. Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.164.

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geritten haben, nachts einen Betrunkenen anzusprechen! Übrigens scheint ihm das von klein auf bestimmt gewesen zu sein...“55 Mit Ein Held unserer Zeit schloss Lermontov eine der wichtigsten Epochen in der Kulturgeschichte Russlands, nämlich die Epoche der ästhetischen Wende zur Moderne ab. Mit der Geschichte eines kämpfenden, desillusionierten, aber in seinem Wesen immer noch romantischen Titans ahnte er die kommende Zeit des revolutionären Nihilismus voraus, welcher die zweite Hälfte des 19. und das 20. Jahrhundert Russlands prägen sollte. Die Problematik des Romans überschreitet aber den russischen Kulturraum und kann als Warnung vor einer „Krankheit“ in dem Zeitalter der ästhetischen Moderne in Europa gelesen werden, welche sich im Laufe der Zeit wiederholt bestätigte. So wie der Nihilismus sich nicht nur als eine typisch russische Erscheinung erwies, sondern als allgemeine und tief greifende Reaktion auf den europäischen Kulturwandel und den damit verbundenen Generationenkonflikt auftrat, so kann und muss das Thema des russischen Nihilismus im Kontext der europäischen Kulturentwicklung erforscht, interpretiert und verstanden werden.

55

Lermontov: Ein Held unserer Zeit. S.165.

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Nachwort Vom ‚poetischen’ zum revolutionären Nihilismus Die philosophisch-literarische Diskussion über das Wesen des Nihilismus am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts ist für das Verständnis der revolutionären Bewegung in Russland in der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht zu unterschätzen. Es ist sogar anzunehmen, dass die marxistische Oktoberrevolution im Jahre 1917 ohne die Rezeption der deutschen Romantik kaum möglich gewesen wäre. Aus unserer Untersuchung wird deutlich, dass der Nihilismus immer als Generationskonflikt auftritt, hinter dem sich der Konflikt zweier inkommensurablen Wahrheits- und Wertesysteme verbirgt. Dieser Konflikt äußerte sich zunächst in philosophisch-literarischen Formen sowohl in Deutschland als auch in Russland, entwickelte sich aber in Russland rasch zu einem gesellschaftlich-politischen Kampf. Zwei unterschiedliche Wertesysteme können in einem Kulturraum kaum friedlich koexistieren, ihre gegenseitige Nichtakzeptanz konnten wir am Beispiel der Polemik Nadeždins gegen die Pseudoromantiker verfolgen. Der philosophische Streit blieb nicht lange auf dem Papier, es folgten bald die Aufforderungen zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen.1 Die Geburtsstunde des revolutionären Nihilismus war der Dekabristen-Aufstand am 24. Dezember 1825 in Sankt Petersburg.2 Die Anführer des Aufstandes waren Adlige, welche einerseits mit den 1 2

Vgl. Kupczanko, G.: Der russische Nihilismus. A.a.O. Vgl. Hösch, E.: Geschichte Rußlands: Vom Kiever Reich bis zum Zerfall des Sowjetimperiums. Stuttgart 1996; Neander, I.: Russische Geschichte in Grundzügen. Darmstadt, 1988; Stökl, G.: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1990; Haumann, H.: Geschichte Russlands. Zürich 2003. Vgl. unter anderem zum Thema des Dekabristen-Aufstandes: Nedzveckij, V.A.: Russkaja literaturnaja kritika XVIII-XIX vekov. Kurs lekzij. A.a.O., S.28ff.; Lemberg, H.: Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen. Köln 1963; Dudek, G.: Die Dekabristen – Dichtungen und Dokumente. Leipzig 1975; Vincey, J.: Die Brüder Christi in Rußland: Erinnerungen, Briefe und Zeitzeugen einiger Dekabristen. Norderstedt 2004; Gordin, J.A.: Mjatež reformatorov: 14 dekabrja 1825 goda. Leningrad 1989.

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Idealen der Romantik und andererseits während des patriotischen Aufschwunges nach dem Napoleonkrieg aufgewachsen waren. Es waren westlich gebildete junge Leute, welche Mitglieder der literarischen Versammlungen und der zahlreichen freimaurerischen Logen waren und damit aktiv an dem philosophisch-literarischen Leben teilnahmen. I.V. Kireev, P.I. Pestel’, S.P. Trubeckoj, N.M. Murav’ev, K.F. Ryleev gehörten unmittelbar zum literarischen Puškin-Kreis. Selbstverständlich wurden in diesen Versammlungen auch politische Themen leidenschaftlich diskutiert und es ist nicht verwunderlich, dass die jungen Intellektuellen sich die politische Zukunft Russlands anders vorstellten als die politische Gegenwart. Ihre hochpatriotische Erziehung führte sie in Verbindung mit den neuen philosophischen und politischen Werten dazu, dass sie in Sankt Petersburg den Eid auf den neuen Zaren Nikolaus I. verweigerten. Ihre Forderungen waren selbstverständlich noch weit von sozialistischen Ideen entfernt: Die Einschränkung der Souveränität des Monarchen durch eine Verfassung, die Abschaffung der Zensur, die Liberalisierung der Gesellschaft und die Abschaffung des Leibeigentums waren ihre Motive. Sie glaubten im Interesse des Vaterlandes ähnlich wie ihre Väter im Krieg gegen Napoleon zu handeln, sahen das Wohl des Landes aber in einem aufgeklärten, säkularisierten und liberalisierten Staat. Diese Vorstellungen bedeuteten ein völlig anderes Wertesystem als das ihrer Väter. Der Generationskonflikt nahm zum ersten Mal politisch-revolutionäre Formen an. Die Wurzeln des russischen Marxismus und seiner radikalen Form des Bolschewismus lagen in der Aneignung der Hegelianischen Philosophie in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, welche der Rezeption des deutschen Idealismus, wiederum in philosophisch-literarischen Versammlungen, folgte.3 Zu dem Kreis der radikalen Linkshegelianer gehörten vor Allem N.V. Stankevi, M.A. Bakunin, V.G. Belinskij, A.I. Herzen, welche sich als ‚Westler’ bezeichneten und sich die Zukunft Russlands in den Bahnen der europäischen aufgeklärt-säkularisierten Philosophie vorstellten. Diese Demokraten mit ersten sozialistischen Ideen hatten nichts mit dem späteren revolutionären Terror der Bolschewisten gemein. Ihre ideologischen Gegner waren die russischen ‚Slawophi3

Vgl. Jakowenko, B.: Ein Beitrag zur Geschichte des Hegelianismus in Russland. A.a.O.; Jowtschuk, M.: Die Interpretation der Hegelschen Philosophie in Russland (bis Lenin). A.a.O.; Löwith, K.: Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts. Hamburg 1978.

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len’.4 In ihrer Argumentation stützten diese sich ebenso auf Schelling, Fichte und Hegel, aber sie leiteten aus diesen Ideen einen besonderen spirituellen Weg Russlands ab, in dem die metaphysischen Grundsätze der russischen Orthodoxie bewahrt werden sollten. Die ‚Slawophilen’ folgten der Linie, welche Nadeždin vorgezeichnet hatte: die Modernisierung der Kultur solle mit der Bewahrung und auf Grund der tradierten metaphysischen Werte vollzogen werden. Die ‚Westler’ interpretierten die Befreiung des Geistes nach Hegel in der Notwendigkeit der radikalen Reformierung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne. In dieser ideologischen Opposition, welche ihren Ursprung wiederum in verschiedenen Wertesystemen hatte, zeigte sich bereits die spätere kulturelle Aufspaltung in Russland: Auf der einen Seite stand die Renaissance der christlich-orthodoxen Philosophie und Kunst, auf der anderen Seite die sozialistisch-demokratische Bewegung, welche später in den revolutionären Bolschewismus mündete. Der romantische Generationskonflikt ist nach der romantischen Epoche in Russland nicht verschwunden, sondern entfaltete sich vielmehr in die Entstehung zweier sich ausschließenden Denkarten. Dementsprechend bildeten sich die Typen des religiösen Philosophen und des sozialistischen Revolutionärs heraus. Der ‚poetische’ Nihilismus der Philosophen und der Literaten schlug nun in den revolutionären Nihilismus um. Dieser Umbruch kann am Besten am Beispiel von Michael Bakunin nachvollzogen werden. Michael Bakunin war der erste Berufsrevolutionär Europas, der erste russische Marxist und einer der ersten wirklichen Hegelkenner in Russland.5 Wie viele der ‚Westler’ unternahm er eine Bildungsreise nach Berlin, um dort die Hegelsche Philosophie aus erster Hand zu studieren. Seine frühe Schrift Die Reaktion in Deutschland (1842) zeigt deutlich, inwieweit er die Grundprinzipien der Hegelschen Philosophie auf die zeitgenössische Geschichte übertrug und daraus das Prinzip der politischen Negation legitimierte. Bakunin fragte: „Freiheit, Realisierung der Freiheit – wer kann es leugnen, daß dies 4

5

Vgl. Jakowenko, B.: Zweiter Beitrag zur Geschichte des Hegelianismus in Russland. Hegel und die Anfänge des Slawophilentums (1839-1849). A.a.O. Vgl. Grawitz, M.: Bakunin. Ein Leben für die Freiheit. Hamburg 1999; Brupbacher, F.: Der Revolutionär Michael Bakunin. Der Satan der Revolte. Berlin 1979; Eltzbacher, P.: Der Anarchismus. Eine ideengeschichtliche Darstellung seiner klassischen Strömungen. Bd. 1., Berlin 1987; Huch, R.: Michael Bakunin und die Anarchie. Frankfurt 1988.

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Wort jetzt obenan steht auf der Tagesordnung der Geschichte?“6 Bakunin glaubte in einem Zeitalter zu leben, in dem die Freiheit des Geistes nach Hegel nun in der Geschichte realisiert werden konnte und musste. Das Prinzip des Gegensatzes der Hegelschen Philosophie glaubte er in der Geschichte verwirklicht zu sehen: „Sie sehen, meine Ansicht über die Natur des Gegensatzes ist nicht nur einer logischen, sondern auch einer historischen Bestätigung fähig“.7 Daraus leitete er ab, dass „das Positive“ oder die existierende politische und gesellschaftliche Ordnung von dem „Negativen“ aufgelöst werden muss: Es (das Negative – A.P.) soll aber nicht egoistisch sein – es soll sich mit Liebe dem Positiven hingeben, um dasselbe zu verzehren und um in dieser religiösen, glaubensvollen, lebendigen Tat der Vernichtung die unerschöpfliche und zukunftsschwangere Tiefe seiner Natur zu offenbaren.8

Die totale Vernichtung der existierenden Ordnung stand also für Bakunin auf dem Programm des historischen Geschehens, denn diese Vernichtung bedeute das allgemeine Gesetz der Naturentwicklung und die notwendige Bedingung der praktischen Realisierung der Freiheit. Seinen Artikel endete er mit dem Aufruf: Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust!9

Die Revolution bedeutete also für Bakunin einen notwendigen Teil des historischen Prozesses: Die Vernichtung oder den revolutionären Nihilismus betrachtete er als die Verwirklichung des Hegelschen Gegensatzprinzips in der Geschichte. In dem kommunistischen Gesellschaftsmodell glaubte er später die Zukunftsvision der Freiheit des Geistes erkannt zu haben. Seine Verwandlung aus einem Metaphysiker in einen Philosophen der Tat und Kommunisten beschrieb er im Jahre 1851 folgenderweise:

6

7 8 9

Bakunin, M.: Die Reaktion in Deutschland. In: Philosophie der Tat. Auswahl aus seinem Werk. Hg. von Rainer Beer. Köln 1968, S.61. Bakunin, M.: Die Reaktion in Deutschland. S.89. Bakunin, M.: Die Reaktion in Deutschland. S.81. Bakunin, M.: Die Reaktion in Deutschland. S.95.

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Als ich mit den metaphysischen Fragen näher vertraut wurde, überzeugte ich mich ziemlich rasch von der Nichtigkeit und Eitelkeit der ganzen Metaphysik: ich suchte Leben in ihr, aber sie ist langweilig, wirkt tödlich, ich suchte Taten, sie ist aber die absolute Untätigkeit... ich gab die Philosophie preis und ergab mich der Politik. Damals erschienen in Deutschland viele Broschüren, Zeitschriften und politische Gedichte, die ich sämtlich mit Feuereifer las. In dieser Zeit hörte ich zum ersten Mal etwas vom Kommunismus; [...]. Es eröffnete sich mir eine neue Welt, auf die ich mich mit Gier eines Verdursteten stürzte. Es schien mir als hörte ich eine neue Verheißung, die Offenbarung einer neuen Religion der Erhabenheit und Würde, des Glückes und der Befreiung des ganzen Menschengeschlechtes.10

In diesen starken Worten lässt sich die Motivation der jungen Generation der ersten russischen Revolutionäre erkennen. Da war einerseits das Gefühl der tiefen Enttäuschung über die Nichtrealisierbarkeit jener durch die Romantik vermittelten höchsten Ideale. Andererseits spürten sie einen enormen Drang zur Tat und zum politischen Kampf, in dem sie die neuen Werte zu realisieren suchten. Am Beispiel Bakunins wird deutlich, dass die revolutionäre Bewegung in Russland in den tiefen Modernisierungsprozessen wurzelt, welche durch die Rezeption der deutschen Romantik in Russland inhaltlich und gesellschaftlich in Gang gebracht wurden. Die ersten russischen Sozialdemokraten waren auch auf dem literarischen Gebiet sehr produktiv und erfolgreich.11 Sie versuchten in ihrer Publizistik und ihren Romanen, ihre Visionen geltend zu machen. Mit den Romanen von A.I. Herzen Wer ist schuldig? (Kto vinovat?) (1847), I.A. Gonarov Oblomov (Oblomov) (1859), I.S. Turgenev Väter und Söhne (Otcy i deti) (1862), N.I. erniševskij Was tun? (to delat’?) (1863); der Publizistik von D. I. Pisarev Bazarov (Bazarov) (1862), Realisten (Realisty) (1864), N.A. Dobroljubov Ein Lichtstrahl im finsteren Reich (Lu sveta w temnom carstve) (1859), oder den Dramen von A.N. Ostrovskij Armut ist keine Schande (Bednost’ ne porok) (1853), Gewitter (Groza) (1860) ist eine neue Generation der Sozialisten aufgewachsen, welche das Bild der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte. 10

11

Bakunin, M.: Beichte aus der Peter-Pauls-Festung an Zar Nikolaus I. Berlin 1926. Zitiert nach: Jakowenko, B.: Ein Beitrag zu Geschichte des Hegelianismus in Russland. A.a.O., S.37. Vgl. Stender-Petersen, A.: Geschichte der russischen Literatur. Bd.1-2., München 1957.

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Wenn die Träger der demokratisch-sozialistischen Ideen vor 1861 vor Allem die gebildeten Adligen, zu denen auch Bakunin gehörte, waren, änderte sich die Situation radikal ab dem Jahre 1861, als die Leibeigenschaft der Bauern abgeschafft wurde. Die rasche Industrialisierung Russlands brachte die Entstehung der so genannten ‚Raznoincen’, der Intellektuellen nicht adliger Herkunft, und einer neuen Klasse des Proletariats mit sich. Im Mittelpunkt des Romans Väter und Söhne (Otcy i deti) von Ivan Turgenev steht die Figur des Raznoincen und Medizinstudenten Bazarov. Bazarov ist kein Revolutionär, aber ein Träger der neuen Weltanschauung, welche mit den Prinzipien der ‚alten Welt’ kollidieren muss. Diese Kollision wird im Roman auf der ideologischen Ebene in der Diskussion mit einem Vertreter des Liberalkonservatismus, Pavel Kirsanov, dargestellt. Von diesem wird RaznoinecBazarov als ‚Nihilist’ bezeichnet. Turgenevs Verwendung des Begriffs in seinem berühmten Roman sollte die Rezeption des Nihilismusbegriffs entscheidend prägen. In der Literatur ist die Geisteshaltung der ‚Slawophilen’ am ehesten durch das Genie F. M. Dostoevskijs vertreten. Sein Roman Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie) (1866) war als Antwort auf Väter und Söhne (Otcy i deti) gedacht und rückte ebenfalls einen Raznoincen in den Mittelpunkt des Geschehens – Rodion Raskolnikov. Durch einen Mord stellt er die christlich-moralischen Werte der ‚alten Welt’ in Frage und muss dabei mit seinem Experiment scheitern. Die auf einem authentischen Fall beruhende Geschichte des radikalen Revolutionärs S. G. Neaev wurde von Dostoevskij in seinem Roman Die Dämonen (Demony) (Erstpublikation 1871-1872 bei Russischer Bote (Russkij Vestnik), 1873 als Einzelausgabe) aufgearbeitet. Pjotr Verchovenskij bildet wie Neaev revolutionäre Widerstandsgruppen und läßt den Studenten Šatov, ein Mitglied der Gruppe, umbringen, um die Mitglieder des Zirkels zu einer Blutgemeinschaft zusammen zu schweißen. Durch die literarische Tätigkeit der frühen Demokraten verbreiteten sich die sozialistischen Ideen in den sechziger und siebziger Jahren unter den Raznoincen. Der Generationskonflikt war nun nicht mehr das ideologische Ideengut einiger weniger Ausreißer unter Adligen, sondern eine Aufspaltung der Gesellschaft. Aus der Propagierung sozialistischer Ideen erwuchs bald die Motivation eines bewaffneten Terrorkampfes.

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Im Jahre 1873 entstand die Organisation Land und Freiheit (Zemlja i Volja), deren Gründer noch von Bakunins Ideen inspiriert waren und einen friedlichen ‚Gang unter das Volk’ unternahmen.12 Sie wollten das Volk durch sozialistische Ideen aufklären, was zwei Jahre später natürlich zu heftigen staatlichen Repressionen führte. Viele der Organisationsmitglieder wurden zu Todesstrafen verurteilt, andere sind später in Gefängnissen umgekommen. Das war der Anfang eines revolutionären Kampfes gegen die Regierung und die existierende gesellschaftliche Ordnung und damit das Ende des sozialdemokratischen ‚Populismus’. Im Herbst 1876 wurde die Gesellschaft Volkswille (Narodnaja Volja), welche sich als Nachfolgerin von Land und Freiheit (Zemlja i Volja) verstand, gegründet. Sie zog aus den Repressionen ihre Lehre und griff zum Mittel des Terrorismus.13 Die ersten Schüsse fielen am 21. Januar 1878, als Vera Zasuli auf den Petersburger Polizeichef Trepov schoss. Am 1. März 1881 folgte dann einer der größten Erfolge der terroristischen Gruppen: der junge Student Rysakow warf eine selbst gebastelte Bombe auf den Zaren Alexander II. und tötete ihn. Ihre Taten verstanden sie als eine konsequente Verwirklichung der Ideen von Bakunin, Lavrov und Tkaev. Die revolutionären Ideen fanden jedoch auf dem Land wenig Zuspruch, denn für die Bauern blieben die sozialistischen Ideen weitgehend unverständlich. Dafür stießen sie in den Städten auf umso mehr Resonanz. In den achtziger Jahren bildete sich das Proletariat zu einer sozialen Gruppe, welche fähig war, die marxistischen Ideen zu verinnerlichen.14 So entstand die marxistische Gruppe Befreiung der Arbeit (Osvoboždenie Truda) im Jahre 1883, an derer Spitze G.V. Plechanov, P.B. Axelrod, V.I. Zassuli standen. Das Ziel der Gruppe war, die marxistischen Ideen in Russland zu verbreiten und das Klassenbewusstsein der Arbeiter zu stärken. Plechanov hatte einen engen Kontakt zu Engels und war Mitbegründer der II. Internatio12

13

14

Vgl. Dan, T.: Der Ursprung des Bolschewismus. Zur Geschichte der demokratischen und sozialistischen Idee in Rußland nach der Bauernbefreiung. Hannover 1968. Thiergen, P.: Deutsche Anstöße der frühen russischen NihilismusDiskussion des 19. Jahrhunderts. In: Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G419. A.a.O., S. 31-34. Vgl. Kotow, W.: Eindringen und Verbreitung der Ideen von Karl Marx und Friedrich Engels in Rußland. Berlin 1956; Haus, R.: Hegel oder Marx? Berlin 1931; Ulbrich, R.: Russische Philosophie und Marxismus. Frankfurt a.M. 1996.

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nale.15 Das zentrale Propagandaorgan der Gruppe war die Zeitung Der Funke (Iskra), in der Georgij Plechanov und Vladimir Uljanov (Pseudonym Lenins) zusammen arbeiteten. Sowohl Plechanov als auch Lenin speisten ihre Ideenkraft aus der Hegelschen Geschichtsphilosophie, wie es auch die ersten Sozialdemokraten wie Bakunin oder Tkaev taten. Lenin glaube jedoch sein eigenes System der materialistischen Dialektik zu entwickeln. Seit 1895 existierte in Sankt Petersburg der Petersburger Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse (Sojuz bor’by za osvoboždenie truda) unter der Leitung von V.I. Lenin und J.O. Martov. Dieser Bund setzte stärker auf den Terrorismus als es Plechanov tat. Es gab in den achtziger und neunziger Jahren etwa ein Dutzend größere Arbeitergruppen und mehrere Dutzend kleinere Zeitungen, Komitees und Kampfgruppen. Die russische Arbeiterbewegung zentralisierte sich 1889 im weißrussischen Minsk, wo die SozialDemokratieskaja Raboaja Partija (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands) (SDAPR) gegründet wurde. Seit dieser Zeit nahm der politische Kampf (auch mit terroristischen Mitteln) eine rasante Entwicklung, welche in die erste Revolution 1905-1907 und dann in die Oktoberrevolution 1917 mündete. Die SDAPR wurde im Jahre 1918 in Kommunistische Partei Russlands (Kommunistieskaja Partija Rossii) (KPR) umbenannt, aus welcher die Kommunistische Partei der Sowjetunion (Kommunistieskaja Partija Sovetskogo Sojuza) (KPSS) hervorging. Diesem Buch liegt die Einschätzung fern, die Ergebnisse der Oktoberrevolution mit den Zielen der ‚Westler’ oder der ersten Sozialdemokraten wie Bakunin, Belinskij oder Herzen zu identifizieren. Tatsache ist jedoch, dass die russische Revolution 1917 eine totale Umwertung aller bislang existierenden kultur-gesellschaftlichen Werte und Normen bedeutete. Es war eine totale „Vernichtung“ des „Positiven“, von der Bakunin träumte, und damit der totale Sieg des revolutionären Nihilismus. Die Wurzeln dieses Nihilismus lagen in den philosophisch-ästhetischen Säkularisierungsprozessen im Deutschland des 18. Jahrhunderts und der Rezeption dieser Ideen in Russland.

15

Vgl. Jowtschuk, M.: Georgi Plechanow. Eine Biographie. Berlin 1983.

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