Kultur als Chance: Konsequenzen des demografischen Wandels 9783412214364, 9783412206819

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Kultur als Chance: Konsequenzen des demografischen Wandels
 9783412214364, 9783412206819

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Kultur als Chance

Schriften des Deutschen Hygiene-Museums Dresden herausgegeben von Gisela Staupe Band 8

Kultur als Chance Konsequenzen des demografischen Wandels Herausgegeben von Karl-Siegbert Rehberg, Gisela Staupe und Ralph Lindner unter Mitarbeit von Manuel Frey und Christian Holtorf

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Ein Gemeinschaftsvorhaben des Deutschen Hygiene-Museums und der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die Kirchenruine von St. Pauli in Dresden, die heute als Theater genutzt wird. Foto: Oliver Killig.

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Lektorat: text plus form, Dresden Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-20681-9

Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Ein Kondominium für die Kultur – Bürger und Staat in gemeinsamer Verantwortung Eröffnungsrede des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich bei der Tagung „Kultur als Chance? Konsequenzen des demografischen Wandels für Sachsen“ . . . . . . . . . 19

I Demografie Karl-Siegbert Rehberg Negation der Wachstumslogiken? Zur „Kulturbedeutung“ demografischen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Karl Ulrich Mayer Die Folgen des demografischen Wandels: Tatsachen, Vermutungen und Fiktionen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Heinz Bude Politik der Emotionen im demografischen Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Matthias Dreyer Kultur und demografischer Wandel – Auswirkungen und Handlungsansätze .. . . 55 Eine Kultur der Eigeninitiative als Problemlösung Interview mit Kurt Biedenkopf .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

II Kultur Christoph Grunenberg „Kulturelles Kapital“? Verfall und Wiederaufstieg einer Weltstadt am Beispiel Liverpools . . . . . . . . . . . . . . . 87 Gisela Staupe Kultur braucht Publikum! Der demografische Wandel als Chance für das Museum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

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Inhalt

Pius Knüsel Zukunftsmusik. Grüße aus der Welt der Barbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Albrecht Göschel Kommentar zu Pius Knüsel: Zukunftsmusik. Grüße aus der Welt der Barbaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

III Ökonomie Dieter Haselbach Kultur und Demografie Was möchten Kulturnutzer – was können Steuerzahler tragen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff Von der Notwendigkeit höherer Kulturausgaben und ihrer Neuverteilung Ein optimistischer Blick in die Zukunft der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Hans Joachim Meyer Muss sich Kultur rechnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Autorinnen und Autoren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

Vorwort

Wie sich die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland gestalten wird, ist seit Langem bekannt. Die demografi­schen Daten sind weitgehend verlässlich, zumal sich Struktur und Verhalten von Bevölkerungen nur sehr langsam ändern. Die Deutschen, so die Prognosen, werden weniger, im Durchschnitt immer älter und in der Zusammensetzung heterogener. Aber damit ist noch nicht gesagt, welche gesellschaftlichen und politischen Reaktionen das auslöst. Und da Kulturpolitik keine unwesentliche Rolle in diesem Zusammenhang spielen wird, versammelt der vorliegende Band Analysen und Reflexionen aus unterschiedlichen Perspektiven über mögliche Auswirkungen dieses Umbruchs auf die Kultur und deren Einfluss auf die Veränderbarkeit von Einstellungen und Handlungsentwürfen. Das hat auch Konsequenzen für die Aufgaben der Kulturpolitik und der, auch zivilgesellschaftlichen, Kulturförderung. Ausgangspunkt für die Veröffentlichung war eine Tagung der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und des Deutschen Hygiene-Museums Dresden (DHMD), die im Mai 2009 unter dem Titel „Kultur als Chance? Konsequenzen des demografischen Wandels für Sachsen“ stattgefunden hat. Zuerst einmal sind die Teilprozesse der demografischen Verschiebung genauer wahrzunehmen, etwa dass der Anteil der gebildeten und hochqualifizierten Älteren steigen wird. Ambivalent dürften die Folgen der augenblicklich zu beobachtenden Veränderungen familialer Lebensformen zu bewerten sein, vor allem die geringen Geburtenraten, dann aber auch das Entstehen neuer quasiverwandtschaftlicher Beziehungen und Sozialisationsmuster.1 Gerade auch die kulturelle Infrastruktur wird sich auf diesen fundamentalen Strukturwandel einstellen müssen. Die Folgen dieses erwartbaren Umbruchs sind in den verschiedenen Regionen Deutschlands unterschiedlich stark zu spüren: Während in großen Städten bisher nur wenige Verän­derungen zu bemerken sind, verlieren ländliche Gebiete und viele Kleinstädte drastisch an Einwohnern, vor allem im Osten Deutschlands.2 Somit ist auch Sachsen vom demografischen Wandel stark betroffen: In seinem dünnbesiedelten Osten und Süden ist das Bundesland bereits jetzt mit einem erheblichen Bevölkerungsschwund konfrontiert. Die städtischen Ballungsräume Leipzig und Dresden hingegen erfreuen sich 1 Vgl. dazu auch Biedenkopf, Kurt/Bertram, Hans/Niejahr, Elisabeth, Starke Familie. Solidarität, Subsidiarität und Lebenskreise. Bericht der Kommission der Robert Bosch Stiftung „Familie und demographischer Wandel“, Stuttgart 2009. 2 Die nordwestliche Uckermark ist zum Beispiel schon jetzt eine Region, die nach den Kriterien der EU als unbewohnt gilt. Vgl. Hajo Cornel, laut Wortprotokoll der Anhörung „Auswirkungen der demografischen Veränderungen“ der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ am 6.11.2006.

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derzeit noch einer Zunahme der Einwohnerzahlen, aber in etwa zehn bis fünfzehn Jahren werden voraussichtlich auch die großen Städte wieder einen – wenn auch vergleichsweise moderaten – Rückgang ihrer Einwohnerzahlen zu verzeichnen haben.3 Sachsen eignet sich wegen der Heterogenität zwischen den drei großstädtischen Räumen und den ländlichen Regionen für einen nationalen und internationalen Vergleich im Hinblick auf den Umgang mit durch Gebur­tenrückgang und Abwanderung sinkenden Bevölkerungszahlen. Durch zwei ‚Demografiegipfel‘, eine Enquete-Kommission des Landtags und die von der Staatskanzlei eingesetzte Expertenkommission „Demografischer Wandel Sachsen“ war das Bundesland früh schon an der Diskussion beteiligt.4 Der Bevölkerungsrückgang hat voraussichtlich Folgen für die Nachfrage nach kulturellen Gütern, ohne dass eine parallele Entwicklung zwischen beiden Faktoren in der Weise anzunehmen wäre, dass eine Verringerung der Einwohnerzahl zu einem gleich hohen Rückgang der Nutzung kultureller Einrichtungen und Kulturangebote führen würde. „Aktives Altern“, besonders im Bereich der Arbeitsstrukturen, die Verbreiterung von Qualifikationen und die Vergrößerung von Chancen, diese in adäquate Berufspositionen umsetzen zu können und länger erwerbstätig zu bleiben,5 ebenso Formen gesteuerter Zuwanderung oder regionale Unterschiede dürften sich als wichtige Faktoren für die Teilhabe an der Kultur erweisen. Durch Rückgriff auf demografische Prognosen kann ein kultureller Kahlschlag also nicht legitimiert werden. Vielmehr gilt es, Strukturen durch rechtzeitiges Umsteuern den veränder­ten Bedingungen anzupassen. Ein kulturpolitisches Ziel sollte es dabei sein, nicht allein die finanzpolitische Not vieler Länder und Kommunen über zukünftige kulturelle Standards entscheiden zu lassen. Vielmehr sollten Kulturpolitiker im Zusammenspiel mit kreativen Kräften der Gesellschaft bestrebt sein, nach neuen Lösungen für eine veränderte Gesellschaft zu suchen. Das setzt eine genauere Kenntnis bisher in ihren Folgen nur vage vermuteter Tendenzen voraus: Wie gehen wir mit der kulturellen Infrastruktur um, wenn ganze Regionen allmählich verwaisen? Wie verändern sich in einer alternden und zugleich schrumpfenden Gesellschaft die Kulturbedürf­ nisse und der Stellenwert bisheriger Kulturangebote? Welche sozialen und damit auch kulturellen Folgen hat das „demografische Auseinanderdriften der Regionen

3 Vgl. die regionalisierte Bevölkerungsprognose für den Freistaat Sachsen, http://www.statistik. sachsen.de/bevprog und http://www.statistik.sachsen.de/bevprog/documents/Modellrechnung.pdf (letzter Aufruf 1.3.2011). 4 Vgl. den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Sächsischen Landtags „Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder“ unter http://www.landtag.sachsen.de/ dokumente/20080930-Bericht-Enquetekommission.pdf sowie den Bericht der Expertenkommission „Demografischer Wandel Sachsen“: „Empfehlungen zur Bewältigung des demografischen Wandels im Freistaat Sachsen“, Dresden 2006, unter http://www.demografie.sachsen.de/download/demografiegipfel2_expertenbericht.pdf (letzter Aufruf 1.3.2011). 5 Vgl. Börsch-Supan, Axel, Unsere gewonnenen Jahre, in: FAZ vom 25.2.2011.

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in Deutschland“6? Wie reagieren die kulturellen Angebote auf zunehmende Polarisierungen zwischen Stadt und Land, zwischen Familien und Kinderlosen, zwischen Jungen und Alten? Werden aufgrund der Vielfalt der Migranten in der Bevölkerung die Angebote vielfältiger oder bauen sich feindliche Parallelgesellschaften auf? Der Kulturbereich wird erst seit Kurzem in die Debatte um die Auswirkungen der Bevölkerungsentwicklung einbezogen.7 Nachdem das Thema auf die politische Tagesordnung gesetzt ist, erscheinen nun konkrete Fallbeispiele und fundierte Zukunftsszenarien besonders interessant, damit diskutiert werden kann, welche Entscheidungsspielräume bestehen. Zu Recht wird in diesen demografischen Umbruchszeiten von Kultur viel erwartet: Sie soll Identitäten befördern und Randgruppen integrieren; sie soll Orientierung schaffen, Vertrauen in die Gesellschaft stärken und Zukunftsorientierungen eröffnen. In Bildungsprozessen geht es um die Verbindung von kanonischem Grundwissen und mehr formalen Schlüsselqualifikationen, um traditionale ebenso wie in der Entwicklung der Moderne neu entstandene Werte. Daraus ergeben sich Fragen danach, welche Kultur vermittelt werden soll, ob die Traditionen des Bildungsbürgertums unverändert weitergetragen werden sollen und was „kulturelles Erbe“ eigentlich bedeutet, wenn die Gesellschaft sich tief greifend wandelt. Damit werden auch konkurrierende Positionen und Kulturbegriffe sichtbar, welche in der Kulturpolitik und in den Feldern kultureller Produktion nicht ignoriert werden sollten. Überkommene Kulturideale sind mit der Einstellung Jugendlicher konfrontiert, die etwa „Freude“ und „Spaß“ oft nicht mehr mit Kultur verbinden. Nicht zufällig versteckte das Kulturradio des Mitteldeutschen Rundfunks seinen Auftrag hinter dem 6 Kaufmann, Franz-Xaver, Der demografische Wandel in Deutschland und seine Folgen, in: Stiftung Niedersachsen (Hg.): „älter – bunter – weniger. Die demografische Herausforderung an die Kultur“, Bielefeld 2005, S. 34–41, hier S. 38. 7 Eines der ersten groß angelegten Initiativprojekte was das von der Kulturstiftung des Bundes geförderte unter dem Titel „Shrinking Cities“, ein erfolgreiches Projekt mit Symposien und einer unter anderem in Bulgarien, Italien, Japan, den USA und Deutschland gezeigten Wanderausstellung (http:// www.shrinkingcities.com; letzter Aufruf 9.2.2011). Darüber hinaus haben in den letzten Jahren mehrere Tagungen stattgefunden. Außerdem hat die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ am 6.11.2006 eine Anhörung explizit zum Thema der „Auswirkungen der demografischen Veränderun­gen“ durchgeführt; der Abschlussbericht wurde im Dezember 2007 vorgelegt. Vgl. u. a. Stiftung Niedersachsen (Hg.), älter – bunter – weniger. Die demografische Heraus­ forderung an die Kultur, Bielefeld 2005; Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen, Fachbereich Stadtentwicklung und Wohnungswesen (Hg.), Demografischer Wandel – Konsequenzen für die kulturelle Infrastruktur, Dortmund 2005 (http://www.ils-forschung.de/down/kultur-demogr.pdf; letzter Aufruf 9.2.2011); Landesarbeitsgemeinschaft Soziokultur Niedersachsen (Hg.), Dokumentation der Tagung „Demographie und Kultur – eine spannende Beziehung?“, 27.4.2006 (http://www.soziokultur-niedersachsen.de/fileadmin/ user_upload/pdf/publikationen/dokumentation-demografie-und-kultur-komplett.pdf; letzter Aufruf 9.2.2011); Kulturpolitische Mitteilungen, Heft 116 I/2007 „Kultur und Alter“. Der Abschlussbericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Kultur in Deutschland“ findet sich unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/070/1607000.pdf (letzter Aufruf 9.2.2011).

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zugkräftigeren Namen „Figaro“. Kultur würde jedoch erstarren, wenn ästhetische und stilistische, aber auch habituelle Ausdrucksformen unverändert blieben. Und doch hängen Innovationen, zumindest unterschwellig, immer auch von den Beständen ab, gibt es Rückgriffe auf die „legitime Kultur“, wie Pierre Bourdieu das nannte, in unterschiedlichsten Formen, als Parodie, als Popularisierung oder Neuentdeckung. Zu lernen ist also, dass es ein einheitliches Nutzerinteresse ebenso wenig gibt wie ‚evolutionär‘ in eine einzige Richtung sich entwickelnde Kulturmuster. In einer solchen Situation des Werte- und Formpluralismus sind kulturpolitisch Möglichkeitsräume zu schaffen, die sich keineswegs einheitlich an überkommenen Mustern der Hochkultur orientieren dürfen, ohne doch andererseits der großen Mehrheit nur ein trivialisiertes Unterhaltungsbedürfnis zuzuschreiben. Wichtig wird die Vervielfältigung von Medien einschließlich der Virtualisierung kultureller Angebote sein (man denke nur an die überall zugänglichen Musik- oder Filmproduktionen oder die digitalisierten Bibliotheken). Das alles setzt Umdenken und einen Bruch mit Angebotsroutinen voraus, dazu den Dialog zwischen Genres und den unterschiedlichsten institutionellen Ausformungen der Kultur. Noch gibt es keine Konzepte, die den Kulturbereich auf den demografischen Wandel hinreichend vorbereiten, sodass Unsicherheit einerseits Beharrungstendenzen stärkt, andererseits kurzschlüssige Umsteuerungen nahelegt. Gegen beides kann nur eine dialogische Weiterentwicklung kultureller Angebote gesetzt werden. Der vorliegende Band will – wie vergleichbare Studien – Anstöße dazu vermitteln. Die Transformation der kulturellen Infrastruktur angesichts einer schrumpfenden Bevölkerung und damit verbundenen sinkenden Steuereinnahmen (auch wenn diese beiden Tendenzen, zumindest im Hinblick auf die Wertschöpfung, nicht vollständig miteinander korrelieren) ist in ihren Folgen noch schwer abzuschätzen. Aber schon jetzt lässt sich sagen, dass die „leeren Kassen“ einer zumindest teilweise hoch verschuldeten „öffentlichen Hand“ (dabei insbesondere der für die Sicherung kultureller Angebote besonders wichtigen kommunalen Ebene) befürchten lassen, dass im Kulturbereich am ehesten und drastischsten gespart wird, zumal es sich hier ja nur um eine „freiwillige Aufgabe“ handelt, die allerdings in Sachsen Verfassungsrang hat, was ja auch im Kulturraumgesetz seinen Niederschlag gefunden hat. Allerdings dürfen auch Argumentationen nicht ungeprüft beiseitegeschoben werden, die eine Konzentration und andersartige Verteilung kultureller Angebote für unausweichlich halten. Das würde allerdings voraussetzen, dass neue Angebotsformen und zugleich die Sicherung der wichtigsten, zum kulturellen Erbe gehörenden Objekte mitbedacht würden. Die Abwägung zwischen kulturpolitischen Zielen und tatsächlicher Nachfrage ist in jedem Fall eine Gratwanderung, zumal bei allen Aufgaben einer Sicherung kultureller Aktivitäten letztlich eben doch gilt: „Es kann nur das überleben, was auch nachgefragt wird.“8 8 Hoppenstedt, Dietrich H., „älter – bunter – weniger.“ Die demografische Herausforderung an die Kultur, in: Stiftung Niedersachsen (Hg.): „älter – bunter – weniger.“ Die demografische Herausforderung an die Kultur, Bielefeld 2005, S. 7–10, hier S. 8.

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Aber offen ist, ob es tatsächlich unvermeidlich sei, die kulturelle Infrastruktur zusammen mit Wohnungsbau, Kanalisation und Nah­verkehr in denjenigen Regionen zu reduzieren, die von der Bevölkerung verlassen werden. Auch die Brandenburger Landesregierung formulierte in einem Werkstattbericht: „Kulturelle Leistungen sollten dort stattfinden, wo Menschen zusammenkommen.“9 Deshalb stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit, „Stärken zu stärken“, aber auch nach den Grenzen einer räumlich Konzentration. Denn es ist keineswegs ausgemacht, dass ein Bevölkerungsrückgang automatisch zu schrumpfenden Märkten führt – vielmehr könnte er auch zu einer qualitativen Um­schichtung der Nachfrage beitragen. Unverminderte Aufmerksamkeit für Kultur besteht an touristischen Zielen und Aus­ stellungsorten internationaler Kunst. Hier rechtfertigt das große Interesse öffentliche Investitionen, um die Kulturangebote zu erhalten und auszubauen. Dabei spielt zunehmend die Bereitschaft von Unternehmen eine Rolle, dabei unterstützend – sei es mit mäzenatischen oder mit Mitteln des Sponsorings – zu wirken. Wichtig ist, zu verstehen, dass kulturelle Angebote keineswegs nur unter dem Gesichtspunkt der „Kosten“ zu betrachten sind. Vielmehr sind sie strukturelle Investi­tio­nen, die Wirtschaftsstandorte, aber auch die Lebensqualität der dort Wohnenden fördern. Auch wird unumgänglich sein, die abnehmenden Finanzierungsanteile der Kommunen durch höhere Effizienz auszugleichen, indem Kooperationen und Vernetzungen her­gestellt, Stadt-UmlandPartnerschaften angestrebt und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft verkoppelt werden. Öffentliche Aufgaben und die Notwendigkeit privater Eigenleistungen werden gleichermaßen zunehmen. Im Wettbewerb um Investitions- und Betriebsmittel wird es unvermeidlich sein, kulturelle Zielsetzungen mit einem kundenorientierten unternehmerischen Denken in Verbindung zu bringen. Kultur, Bildung und Gesundheit werden zunehmend durch ältere Menschen nachgefragt. Die Generation „50 plus“ ist für Kulturangebote, aber auch für ehrenamtliche Formen der Selbstorganisation eine der wichtigsten Zielgruppen – schon heute und gewiss auch in der Zukunft. Dabei wird auch durch ältere Zielgruppen die Heterogenität ihrer Interessen immer deutlicher als Anspruch formuliert, worauf spezialisierte, neuerdings vermehrt auch mit Exklusivitätsversprechen verbundene Angebote im Rahmen des Massenkonsums reagieren. Mit „Senioren­programmen“ wird es für die „Rolling-StonesGeneration“, die sich auch im Alter noch als jung versteht, nicht getan sein! Die in diesem Band gesammelten Tagungsbeiträge spiegeln die aktuellen Herausforderungen und zeigen zugleich Lösungswege, wie die Kultur den demografischen Wandel produktiv nutzen kann. 9 Landesregierung Brandenburg, Staatskanzlei (Hg.), Demografischer Wandel in Brandenburg. Rahmenbedingungen, Konzepte, Handlungsempfehlungen. Werkstattbericht, Potsdam 2005, S. 58 (mit „Bildung und Wissenschaft, Kultur“ beschäftigen sich S. 51–61). Im Internet abrufbar unter http://www.brandenburg.de/media/lbm1.a.4856.de/werkstattbericht.pdf (letzter Aufruf 9.2.2011).

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Zu den Beiträgen In seiner Eröffnungsrede thematisiert der Sächsische Ministerpräsident Stanislaw Tillich das Verhältnis von staatlichem und bürgerschaftlichem Engagement bei der Kulturförderung. Die republikanische Tradition eines bürgerlichen Einsatzes in der Kultur und ihrer Finanzierung, die sich explizit in Abgrenzung und Konkurrenz zur Kultur des Adels entwickelt hatte, sei immer mehr in den Hintergrund getreten; angesichts dessen, dass heute der Großteil der Kulturförderung durch den Staat geleistet wird, könne man zugespitzt von einem Rückfall in eine monarchische Form der Kulturfinanzierung sprechen. Stanislaw Tillich plädiert für eine Revitalisierung solcher republikanischer Traditionsbestände. Er spricht sich für eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Staat und Bürgern bei der Kulturfinanzierung aus, für die es auch gegenwärtig schon herausragende – wenn auch noch zu wenige – Beispiele in Sachsen gebe. Insofern nicht zuletzt der demografische Wandel solche Fragen einer Aktualisierung des Verhältnisses von Staat und Bürgern aufwerfe, liege in ihm gerade die Chance, sowohl die Bedeutung der Kultur für den Zusammenhalt der Gesellschaft wieder deutlicher sichtbar zu machen als auch das Verhältnis von staatlichem Engagement und Eigeninitiative neu und positiv zu gestalten. Karl-Siegbert Rehberg diskutiert zuerst die (politische) Normativität von Bevölkerungszahlen und die mit ihnen verbundenen entwicklungstheoretischen Annahmen, welche eng verknüpft sind mit Überlegenheits- oder Inferioritätsgefühlen. Nach dem NS-Regime gab es in Deutschland eine lange wirksame Tabuisierung aller Bevölkerungsfragen, die inzwischen (nicht nur in Sachsen, wo der damalige Ministerpräsident Kurt Biedenkopf die politische Diskussion um das Thema besonders vorangebracht hat) einer breiten Erörterung gewichen ist. Gleichwohl sind die Einflüsse auf die Kultur wie auch umgekehrt der kulturellen Einflussfaktoren auf gesellschaftliche Makroprozesse noch wenig erforscht und erörtert. Zum einen ist das Thema verbunden mit der noch nicht abschätzbaren „Kulturbedeutung“ eines abgeschwächten Wirtschaftswachstums und des besonders in den neuen Bundesländern erwartbaren Bevölkerungsrückganges. In der Kontroverse, ob Kulturangebote parallel dazu vermindert werden sollten oder eine kompensatorische Intensivierung kultureller Anstrengungen notwendig sei, plädiert er vor allem für neue Formen kultureller Zusammenarbeit, besonders zwischen Bildungseinrichtungen und Kulturinstitutionen. Darüber hinaus seien aber auch neue, altersspezifische oder die verschiedenen Generationen in Kontakt miteinander bringende Initiativen notwendig. Dabei wird sich das Verhältnis hierarchischer Geltungsdifferenzen, etwa zwischen Hoch- und Popularkultur, ebenso verändern wie auch mobile und virtuelle Kulturangebote auf dem Lande zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Ein weitreichendes Theoriedefizit der Soziologie beklagt Karl Ulrich Mayer. Zwar gebe es in einzelnen Teildisziplinen, wie beispielsweise der Stadtsoziologie oder der Lebensverlaufsforschung, durchaus präzise, analytisch gestützte Beschreibungs-

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und Erklärungsansätze. Auf der Makroebene der Gesellschaftstheorie jedoch fehle eine hinreichende Beachtung demografischer Fragen, von einer theoretischen Integration ganz zu schweigen. Wie sich die Bevölkerungsentwicklung in den unterschiedlichen Teilbereichen auswirken werde, sei somit weithin terra incognita. Mayer warnt vor zwar plausiblen, möglicherweise aber zu einfachen Kausalannahmen und zu schnellen Schlüssen, deren Folgen sich – wenn beispielsweise ein eindeutiger Zusammenhang von schrumpfender Bevölkerung und Investitionen von Think Tanks propagiert und von politischen Akteuren zur handlungsleitenden Annahme gemacht wird – letztendlich als self-fulfilling prophecy erweisen könnten. In sechs prägnante Thesen fasst Heinz Bude seine Überlegungen zum Verhältnis von Politik, Emotion und demografischem Wandel. Dieser, so Bude, werde sich nur durch eine Kombination von drei Komponenten meistern lassen. Deren erste sei ein entsprechendes Wissen. Da sich jedoch gezeigt habe, dass sich Politik nicht allein auf der Basis von Einsichten in problematische Zustände machen lasse, müssten Marktmechanismen hinzutreten, die in der Lage seien, egoistische Motive in altruistische Effekte zu verwandeln. Letztlich bedürfe es einer Politik der Emotionen, da nur so schmerzliche Einsichten in zustimmungsfähige Politik verwandelt werden könnten. Auf eine besondere Problemlage weist Matthias Dreyer hin: Zwar würden inzwischen viele Publikationen zum Zusammenhang von demografischen Trends und Kultur vorliegen, jedoch lasse sich ein nur allzu deutliches „Umsetzungsdefizit“ konstatieren. Ein Grund dafür liege darin, dass einerseits demografische Megatrends hinlänglich bekannt seien, dass aber andererseits die Folgen demografischer Verschiebungen lokale sind und dass somit Kultureinrichtungen lokal spezifisch reagieren müssten. Querschnittsartig fasst Dreyer zentrale Befunde zu den demografischen Trends zusammen, um darauf aufbauend unterschiedliche Konsequenzen für die zentralen Akteure der Kultureinrichtungen, der Kulturpolitik wie der Kulturförderer zu skizzieren. Zuletzt wendet sich der Beitrag möglichen Folgen der Bevölkerungsentwicklung für die kulturelle Infrastruktur zu, betont dabei aber, dass allgemeingültige Aussagen kaum zu treffen und damit verbundene konkrete Handlungsanweisungen kaum zu geben seien. Die Erfüllung kultureller Grundbedürfnisse ebenso wie die grundsätzlichen Aufgaben (wie etwa das Sammeln, Bewahren, Forschen und Präsentieren durch Museen) hätten die Kultureinrichtungen auch in Zukunft zu leisten; im Hinblick auf die darüber hinausgehenden Kulturangebote sei jedoch vor allem eine verstärkte Nutzerorientierung gefragt. Auf diese Weise ließe sich der demografische Wandel als Chance begreifen – beispielsweise, um neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Institutionen dazu zu nutzen, Menschen unterschiedlichen Alters und/oder unterschiedlicher Herkunft zusammenzubringen. Kurt Biedenkopf sieht in der erwarteten Abschwächung wirtschaftlichen Wachstums in den „reichen Ländern“, also auch in Deutschland, und in den demografischen Entwicklungen, die er (gemeinsam mit Meinhard Miegel) früh schon öffentlich thematisiert hatte, vor allem eine Chance für eine neue Kultur der Selbstinitiative und ‑verant-

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wortung. In dem Interview, das Karl-Siegbert Rehberg geführt hat und das an Biedenkopfs Thesen anknüpft, die er in einer Abendveranstaltung der Tagung des Deutschen Hygiene-Museums „Kultur als Chance?“ dargelegt hatte, wird auch die Frage erörtert, ob eine auf Privateigentum beruhende Marktwirtschaft ohne Wachstum denkbar sei und was die Konsequenzen für die Gesellschaftsverfassung sein könnten. Biedenkopf geht entschieden davon aus, dass es unterschiedliche Wachstums-„Treiber“ gebe und dass dabei das staatliche Interesse an Umverteilung und organisatorischer Verfügungsmacht über die Gesellschaft nicht den geringsten Anteil an der „Wachstumslogik“ des Kapitalismus habe. Im Mittelpunkt seiner Vermutungen über die Rolle der Kultur steht jedoch deren wachsende Bedeutung – und zwar nicht in erster Linie als institutionell gesichertes Angebot, sondern als Ausdruck einer neuen Motivationslage in Gesellschaften, deren Prinzipien sich aus der genannten Abschwächung der Wachstumsdynamik ergeben dürften. Christoph Grunenberg schlägt einen Bogen weit in die Vergangenheit Liverpools, um die Dimension des Abstiegs einer ehemaligen Weltstadt zu verdeutlichen. Im 18. Jahrhundert durch Sklavenhandel reich geworden und aufgestiegen zum Handelsund Umschlagplatz mit globaler Bedeutung, erlebte die Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen dramatischen Abstieg: Rezession, Deindustrialisierung und Abwanderung machten Liverpool, einstmals die „zweite Stadt des Empires“, zu einem ebenso paradigmatischen wie drastischen Exempel eines mit einem dramatischen Bevölkerungsverlust einhergehenden urbanen Verfalls. Die Bewerbung um den und schließlich die Vergabe des Titels einer Europäischen Kulturhauptstadt an Liverpool waren politische Interventionen, die auf die Kultur als Standortfaktor setzten. Anhand der in vielerlei Hinsicht durchaus erfolgreichen Durchführung des Kulturhauptstadtjahrs zeigt Grunenberg Chancen, aber auch Grenzen einer auf die Kultur als Standortfaktor setzenden Politik auf. So konnte sich Liverpool wieder zu einem touristischen Anziehungspunkt entwickeln, aber auch zu einem neuen Zentrum der „Creative Industries“. Allerdings werde die Kultur tiefsitzende strukturelle Probleme nicht lösen können. Scheinbar unüberwindlich sei die Zentralisierung und Konzentration wirtschaftlicher und politischer Macht in London. Kultur könne weder strukturelle Probleme, wie dieses dramatische Gefälle zwischen Zentrum und Peripherie, noch die daraus erwachsenden sozialen Ungleichheiten beheben. Eine föderale, auf Vielfalt setzende und regionale Stärken nutzende Kulturpolitik, wie sie in Deutschland existiere, sei mithin ein kaum zu überschätzender Vorteil. Gisela Staupe geht davon aus, dass es heute nicht mehr ausreiche, wenn Museen sich – bewusst überspitzt formuliert – als „bloße Verwalter des kulturellen Erbes“ begreifen. Denn die sozialen, demografischen und damit kulturellen Wandlungsprozesse, in denen sich unsere Gesellschaft befindet, hätten bereits heute einschneidende Folgen für die Museen und andere Kultureinrichtungen, besonders auch in Bezug auf deren Publikum. Die bisherige klassische Zielgruppe von Kultureinrichtungen, nämlich das klassische Bildungsbürgertum mit ausgeprägter Identität, habe sich zahlenmäßig seit

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1945 kontinuierlich reduziert und der demografisch bedingte Strukturwandel verändere zunehmend die Besucherschichten der Kultureinrichtungen. Prognostiziert werden neue Mentalitäten, die sich von allgemeingültigen Begriffen wie kulturelles Erbe, allgemeine Werte und Bildung immer mehr entfernten, auch mit der Folge, dass vielfältige Kulturverständnisse entstehen. Wenn das Museum in diesen sozialen und kulturellen Wandlungsprozessen seine Funktion als „kulturelles Gedächtnis einer Gesellschaft“ und als „zentraler Träger gesellschaftlicher Identität(en)“ beibehalten möchte, dann müsse es sich immer wieder „neu“ erfinden und mehr als bisher auch als „Ort der Selbstbeobachtung der modernen Gesellschaft“ begreifen. Staupe stellt vier Strategien des Deutsche Hygiene-Museums Dresden vor, welche dieses entwickelt und umgesetzt hat, um auf derartige Strukturwandlungen zu reagieren. Einen an der Hochkultur orientierten Kulturbegriff macht Pius Knüsel zum Gegenstand seiner Kritik. Insbesondere in Zeiten knapper Mittel sei eine autoritäre Kulturpolitik, die dem klassischen bürgerlichen Bildungsgedanken verhaftet sei, im Hinblick auf ihre zentrale Aufgabe, Vertrauen in die eigenen, regionalen Kräfte zu schaffen, zum Scheitern verurteilt. Knüsels pointierte Forderung ist, dass sich Kulturpolitik zunächst endlich einmal mit der Welt der „Barbaren“ – wie er mit wohltemperierter Provokation diejenigen nennt, die kein Interesse an der sogenannten Hochkultur zeigen –, also mit der Welt der „Menschen von heute“ beschäftigen müsse. Seine zentrale Überlegung ist dabei, dass kulturelle Innovation prinzipiell vom extrakulturellen Rande herkomme und sich keineswegs herbeiplanen lasse. Statt dessen gelte es, das Regionale, Unkonventionelle zu stärken – ein „Mut zum Provinzialismus“ wird für die Kulturpolitik gefordert, die auf eine solche Weise letztendlich weitaus integrativer wirke als die mit einem immer herablassenden Bildungsimpetus daherkommende Hochkultur. Aber nicht nur ein Denken in den Kategorien einer an dieser orientierten Kulturpolitik gelte es zu überwinden, vielmehr müssten auch die Strukturen einer solchermaßen organisierten Kulturförderung abgebaut werden: Der Verzicht auf „Gutachterkaskaden“ sei ebenso wichtig wie der Mut, jungen Menschen Verantwortung zu übertragen. In seinem Kommentar zu Pius Knüsels Thesen kritisiert Albrecht Göschel insbesondere drei Aspekte. Erstens erwecke Knüsel den Anschein, er würde jedem Kulturbegriff misstrauen, nur um dann weitgehend umstandslos mit einen Qualitätsbegriff zu arbeiten, der ganz klassisch hochkulturell sei und beispielsweise auf musikalisches Können setze. Zweitens sei die Bestimmung des Verhältnisses von Innovation und Avantgarde fragwürdig. Die extrakulturellen Bedingungen seien zwar notwendig, die Innovation selbst jedoch geschehe prompt an Stätten etablierter Kulturpolitik, beispielsweise an Art Schools, also Kunsthochschulen. Ein Teil des Kunstbetriebes nutze also die Welt der „Barbaren“, um sie (und sich selbst) im Kunstbetrieb zu etablieren, jedoch dürfe dieser Teil nicht mit der Welt der Barbaren selbst verwechselt werden. Göschels dritter Kritikpunkt zielt auf die Forderung zu einem Mut zum Provinzialismus. Eine solche Konzentration der Kulturpolitik auf eine Förderung des Regionalen, des „Eigenen“ berge die Gefahr einer sich zunehmend abschließenden Integration nach innen. Spätes-

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tens dann, wenn solchermaßen produzierte kollektive Identitäten zum Gegenstand von Politik würden, vollziehe sich der Schritt in wirkliche Barbarei. Ein differenziertes Bild des Zusammenhangs von Kulturnutzung und unterschiedlichen kulturellen, sozialen und Altersfaktoren entwirft Dieter Haselbach. Unter Bezug auf unterschiedliche empirische Untersuchungen entwickelt er exemplarisch für ältere Kulturnutzer eine Typologie, die soziodemografische Merkmale und Kulturkonsum in Beziehung setzt. Daraus leitet er einen Katalog kulturpolitischer Forderungen ab, der von Maßnahmen für eine frühe Einübung in kulturelle Praktiken über eine veränderte Personalpolitik zur Einbindung von Migranten in kulturelle und Bildungsinstitutionen bis hin zu einem differenzierten, die gesellschaftliche Pluralisierung beachtenden Marketing reichen. In einem zweiten Schritt fragt Haselbach nach den Rahmenbedingungen künftiger Kulturpolitik und den angesichts einer problematischen Finanzlage verbleibenden Möglichkeiten. Angesichts eines unausweichlichen Konsolidierungsdrucks – auf den, so die Kritik, weder die Kulturpolitik noch die kulturellen Institutionen hinreichend vorbereitet seien – ließen sich voraussichtlich vier Kernbereiche öffentlicher Kulturförderung ausmachen: die Sicherung des Zugangs zu (regionalen) Traditionsbeständen, die Sicherung der kulturellen Bildung, die Sicherung des die gesamte Bevölkerung betreffenden kulturellen Erbes sowie das Angebot von Kultur für Dritte und kulturexterne Zwecke wie Tourismus, Standortprofilierung und weitere Felder. Angesichts der prekären Finanzlage fordert Haselbach eine klare kulturpolitische Steuerung. Optimistisch schaut Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff nach vorn – Kultur sei doch eine boomende Zukunftsbranche. Schließlich sei die Gesellschaft niemals zuvor so sehr auf Kreativität und Innovation, mithin auf Kunst und Kultur angewiesen gewesen wie heute, noch nie vorher habe es so viele kulturinteressierte Bürger gegeben. In einer zunehmend durch Migranten geprägten Gesellschaft sei Kultur nicht nur in erster Linie zweckrational als Mittel der Integration zu betrachten, sondern bringe bislang vollkommen unausgeschöpfte Potenziale mit sich, und nicht zuletzt würde die Tatsache sinkender Schülerzahlen zur Folge haben, dass im Bildungsbereich weniger Mittel benötigt würden, die sich für Kultur und kulturelle Bildung einsetzen ließen. Über diesen Befund hinaus plädiert er für ein Überdenken förderpolitischer Traditionsbestände. So sei beispielsweise zu überdenken, ob der Staat allen Bürgern den Zugang zu Kultur fördern müsse oder ob diese Förderung nicht in erster Linie auf die bedürftigen Bürger ausgerichtet sein sollte; ebenso seien diese in höherem Maße an den Kultureinrichtungen zu beteiligen – nicht nur in Form von Fördermitgliedschaften, sondern zum Beispiel auch in Form von Anteilseignerschaft an gemeinnützigen Aktiengesellschaften und gGmbHs. Nicht zuletzt verlangt er ein größeres Engagement der Wirtschaft in der Kulturförderung. Wenn Kreativität, Innovation und Diversity immer wichtigere Wirtschaftsfaktoren werden, hätten Unternehmen allen Grund, in Kultur(-förderung) zu investieren. In dieser Situation gäbe es genügend Gründe für einen sogar optimistischen Blick in die Zukunft der Kultur – vorausgesetzt, dass die Akteure sich weniger

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als Bittsteller in einem Kampf um immer knappere Mittel verstehen, sondern größeres Selbstbewusstsein entwickeln, das Grosse-Brockhoff entsprechend einfordert. Hans Joachim Meyer fragt nach einem Kulturbegriff im Kontext der jüngeren Debatten um die – wie auch immer genau definierte – ökonomische Verwertbarkeit von Kultur. Wenn menschliches Leben, so die einführende allgemeine Überlegung, prinzipiell immer auch Kultur sei, also jedwede Lebensform und -auffassung als Kultur bezeichnet werden könnte, so bräuchte man sich um Kultur nicht zu sorgen. Eine solche relativierende Gleichstellung jedoch entwerte den Kulturbegriff, würde dieser so doch beliebig und damit letztlich jede Kulturförderung, die ja das Förderwürdige bestimmen muss, konterkarieren. Meyer konzediert, dass sich Kulturangebote, damit Kultur die Funktion der Herstellung einer positiven Identität und die demografischen (und multikulturellen) Herausforderungen meistern kann, durchaus stärker an veränderten Bedürfnissen der Kulturnutzer orientieren sollte, warnt aber davor, Kultur an demoskopisch ermittelten Wünschen auszurichten – das Ergebnis einer solchen Praxis, nämlich kultureller Abstieg, lasse sich täglich im deutschen Fernsehen beobachten. Kultur müsse, um ihre Vitalität zu erhalten, auf individuelle Kreativität und individuelles Interesse setzen; Kulturpolitik aber müsse notwendig institutionenorientiert sein, da sich die Aufgabe des freiheitlichen Staates, kulturelles Leben und umfassende kulturelle Teilhabe in erster Linie in Institutionen verwirkliche. Vor dem Hintergrund der anstehenden Aufgaben, die Kultur übernehmen soll, verweist Hans Joachim Meyer auf das sächsische Kulturraumgesetz, durch das es gelungen sei, den Reichtum der sächsischen Kulturlandschaft zu erhalten. So bedeutsam bundesstaatliche (und regionale) Kulturförderung sei, so wichtig sei aber auch eine staatliche: Der Rückzug des Bundes aus der Kulturförderung sei absurd, sei doch Kulturförderung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Kultur, so Hans Joachim Meyer abschließend, lasse sich nicht rechnen, sie sei vielmehr eine gesellschaftliche Wertentscheidung. Das Buch wäre nicht zustande gekommen ohne die konzeptionelle und kenntnisreiche Mitarbeit von Prof. Dr. Christian Holtorf als damaligem Abteilungsleiter Wissenschaft im DHMD sowie von PD Dr. Manuel Frey von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. Ebenso ist Dipl.-Soz. Gunther Gebhard zu danken für die sorgfältige und fachlich fundierte Redaktion des vorliegenden Bandes. Die Herausgeber

Ein Kondominium für die Kultur – Bürger und Staat in gemeinsamer Verantwortung Eröffnungsrede des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich bei der Tagung „Kultur als Chance? Konsequenzen des demografischen Wandels für Sachsen“ am 14.05.2009

Sachsen ist ein Kulturland. Das prägt die Außenwahrnehmung von unserem Land genauso wie unsere Identität. Eine Umfrage hat das jüngst noch einmal bestätigt: Die Sachsen sehen sich selbst als besonders kulturbeflissen. Der wirtschaftliche Erfolg Sachsens beruht seit Jahrhunderten ganz wesentlich auf einem Klima der Kreativität, der Innovationsfreude und Weltoffenheit. Gemessen an den staatlichen Kulturausgaben pro Kopf ist Sachsen das Kulturland Nummer eins in Deutschland. Die Kultur als harter und weicher Standortfaktor – so wird in kulturpolitischen Debatten gerne begründet, warum der Staat die bisherige Kulturförderung auf dem gleichen hohen Niveau fortführen soll oder vielleicht hier und da sogar noch mehr in Kultur investieren soll. In der Tat: Angesichts des demografischen Wandels wird es mehr denn je darauf ankommen, alle Kräfte des Landes zu mobilisieren. Und das heißt auch: die kulturellen Kräfte zu stärken und zu entwickeln. Aber muss es ausschließlich der Staat sein, der das kreative Potenzial unseres Landes weiter aufschließt? Wir haben uns daran gewöhnt, dass der Löwenanteil der Kulturausgaben vom Staat getätigt wird. Das hat historische Gründe – auch und gerade in Sachsen. Ein großer Teil unseres kulturellen Erbes beruht auf der Kunstleidenschaft des Hauses Wettin. Die königlichen Sammlungen und Kultureinrichtungen sind 1918 schließlich dem republikanischen Staat zugefallen. Seit dem achtzehnten Jahrhundert hat sich daneben eine vitale bürgerliche Kultur entwickelt. Sie trat in Konkurrenz zur Kultur des Adels, die der höfischen und staatlichen Repräsentation diente. Damals und bis in das erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts hinein sind Kultur­ einrichtungen entstanden, die von Bürgern getragen wurden. Sie alle kennen Beispiele dafür: das Gewandhausorchester, das Bildermuseum und das Grassimuseum in Leipzig, die vom Wohlstand der Kaufmannschaft zeugen – und noch heute prägend sind für Leipzigs Kultur. Oder das Festspielhaus Hellerau als ein Ort künstlerischer Avantgarde und einer neuen Philosophie. Oder dieses Haus hier, das Hygiene-Museum, das von Anfang an im Dienst öffentlicher Aufklärung über die Gesundheit stand. Bürgerliche Kultur gab es aber nicht nur in den großen Städten: Das Bautzener Theater ist 1793 von betuchten Bürgern als Aktiengesellschaft gegründet worden.

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Die meisten dieser Einrichtungen sind seit der Weimarer Zeit kommunalisiert oder sogar verstaatlicht worden. Zugespitzt formuliert: Wir sind zurückgekehrt zu einer monarchischen Form der Kulturfinanzierung. Was heißt das? Dass wir vor der Aufgabe stehen, eine wahrhaft republikanische Form der Kulturförderung zu entwickeln. Ich sehe diese Form verwirklicht in einer gleichberechtigten Partnerschaft von Staat und Bürgern. So wie in einem Kondominium, in dem zwei souveräne Staaten gemeinsam die Hoheit über ein fremdes Territorium ausüben, mit exakt gleichen Rechten und Pflichten. Die Förderung der Kultur hat bei uns in Sachsen Verfassungsrang. Das begründet eine staatliche Fürsorge für das kulturelle Erbe unseres Landes. Und es rechtfertigt, dass der Staat Steuergelder in nicht unerheblichem Umfang für die Kultur ausgibt. Aber: Wir leben in einer Zeit, in der die Kultur nicht mehr die Domäne einer gesellschaftlichen Elite ist, sondern alle Kreise ansprechen will und soll. So hat es zum Beispiel der Architekt Heinrich Tessenow, der das Festspielhaus Hellerau entworfen hat, einmal ausgedrückt: „Ich wünsche keine Kunst für wenige, so wenig wie Erziehung nur für wenige oder Freiheit für wenige. Was haben wir überhaupt mit Kunst zu schaffen, wenn nicht alle daran teilnehmen können?“

In dieser demokratischen Sichtweise ist die Kultur kein Luxusgut. Sie ist vielmehr ein Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, ohne deshalb die Unterschiede zuzukleistern. Die Kultur dient der ganzen Gesellschaft, und sie wird von der ganzen Gesellschaft getragen. Das ist gerade kein Plädoyer für Kultur als Teil der staatlichen Daseinsfürsorge. Der Staat hat keine ureigene Zuständigkeit für die Kultur, genauso wenig wie für Werte, Anstand, Sitte oder Religion. Um mit Ernst-Wolfgang Böckenförde zu sprechen: Die Kultur ist eine jener Voraussetzungen, von denen der Staat zwar lebt, die er aber selbst nicht schaffen kann. Was kann der Staat aber dann leisten im Kondominium für die Kultur? Er kann Anreize schaffen, die bürgerliches Engagement verstärken, und damit Impulse dafür setzen, dass so viele Menschen wie nur möglich für die Kultur mobilisiert werden – als kritisches Publikum genauso wie als Künstler, die Traditionen bewahren und Neues schaffen. Wir müssen also in der staatlichen Kulturförderung immer fragen: Wem nützt sie? Oder anders formuliert: Wo trägt ein Euro im Kulturetat maximal dazu bei, dass sich die Bürger für ihre Kultur engagieren, dass sie ihre Museen und Theater besuchen oder selbst ein regionales Musikfestival auf die Beine stellen? Die Antwort würde ich im Einzelnen lieber den Fachleuten und den langjährig in der Kultur engagierten Laien überlassen. Sie sollten im Zweifel besser Bescheid wissen. Aber im Großen und Ganzen sehe ich drei große Blöcke.

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Erstens die großen kulturellen Errungenschaften, das Erbe der Wettiner, das sich beim besten Willen nicht privatisieren lässt: Den Zwinger zu unterhalten würde angesichts der immensen Kosten vermutlich auch die eifrigsten und vermögendsten Kunstfreunde überfordern. Zweitens die bewährte Struktur der Kulturräume. Sie gewährleistet, dass es auch in der Fläche Leuchtfeuer der Kultur gibt, Angebote für die Menschen, Kunst zu rezipieren und zu schaffen. Vor allem aber sehe ich – drittens – als wichtigste staatliche Aufgabe die kulturelle Bildung. Bildung ist das große Thema unserer Zeit. Zuweilen wird die Bildung allerdings unzulässig verengt auf die Schule und Hochschule als Lieferant von Fachkräften. Gewiss, für ein Industrieland sind die sogenannten MINT-Fächer Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik wichtig. Sachsen soll auch künftig die Ingenieurschmiede Deutschlands sein. Aber zu einer ganzheitlichen Bildung gehören auch die musischen Fächer dazu. Zumal es zwischen beiden Bereichen viele Überschneidungen gibt: Computerkunst zum Beispiel. Und was wäre Johann Sebastian Bachs Musik ohne seine Beschäftigung mit der Mathematik? Wie soll ein Architekt ohne künstlerische Begabung Häuser entwerfen, die nicht nur statisch einwandfrei, sondern auch elegant sind, ästhetisch reizvoll, ein ansprechendes Design bieten? Die Auseinandersetzung mit Kunst schärft zudem den Blick auf unsere Gesellschaft, auf ihre Vielfältigkeit, auf ihre Konflikte, aber eben auch auf die verbindenden Elemente. Die Kunst bereichert das Leben jedes Einzelnen, ob man in ihr Erbauung sucht oder die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken. Bildung hat die Entfaltung der Persönlichkeit zum Ziel. Gelingende Bildung bringt freiheitsbewusste, eigenverantwortliche, mündige Bürger hervor. Bildung kann das aber nur leisten, wenn sie auch kulturelle Bildung umfasst. Aber ehe jetzt die kulturelle Bildung gleich wieder vollständig zur staatlichen Aufgabe erklärt wird: Sie ist es nicht. So, wie ein erfolgreicher Schulabschluss eben auch ein gewisses Engagement der Eltern verlangt, so braucht kulturelle Bildung junger Menschen Ermutigung seitens der Eltern. Erinnern wir uns: Es war das aktive Bürgertum, das sich aus eigenem Antrieb die Kultur angeeignet hat. Auch die Arbeiterbewegung hat es als emanzipatorischen Auftrag verstanden, möglichst vielen Menschen den Zugang zu den Künsten zu eröffnen. Es war damals eben nicht der Staat, der für kulturelle Bildung gesorgt hat. Tempi passati, mag man sagen, jetzt haben wir ja einen demokratischen Staat. Aber soll es wirklich so sein, dass die staatliche Allzuständigkeit Eigeninitiative erstickt und die Kräfte der Kultur lähmt? Kann die Freiheit unter der Käseglocke staatlicher Allzuständigkeit Bestand haben? Meine Damen und Herren, das ist doch eine sehr suggestiv gestellte Frage. Klare Antwort: Nein. Deshalb müssen wir als Gesellschaft dafür sorgen, dass die kulturelle Bildung in der Schule durch vielfältige Angebote aus dem gesellschaftlichen Umfeld ergänzt wird. Nehmen wir als Beispiel die musische Bildung. Die erste Prägung erfolgt im Elternhaus, oft auch schon der erste Anlauf, damit ein Kind zum Beispiel eine musikalische Ausbildung bekommt. Manche Familie ist damit finanziell überfordert. Viele denken

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jetzt: Soll doch der Staat einspringen. Soll er wirklich? Wäre es nicht besser, dass sich andere Bürger zusammentun und für bedürftige Kinder Geld sammeln oder gebrauchte Instrumente einwerben? So etwas gibt es: den Verein „Bürger für Leipzig“. Er ist vor Kurzem mit dem Förderpreis 2009 des „Aktive Bürgerschaft e. V.“ ausgezeichnet worden. Es gibt an vielen Stellen in unserem Land beachtliches Engagement von Bürgern für Bürger. Dennoch reicht ihre Kraft allein aber nicht immer aus. Hier kann der Staat mit seinen größeren finanziellen Möglichkeiten unterstützend helfen. Genau das tut der Freistaat, indem er die Initiative „Jedem Kind ein Instrument“ unterstützt – aber eben weil es vorher bürgerliche Initiative gab. Ein Kondominium braucht zwei Partner, die beide ihre Verantwortung wahrnehmen. Sonst funktioniert das nicht. Kulturförderung ist kein Selbstzweck. Es geht nicht um die Erhaltung von Institutionen um ihrer selbst willen. Kultur ist vielmehr ein gesellschaftliches Ferment, sie schafft ein Klima, in dem Altes weiterentwickelt und Neues geschaffen wird. Gehen wir eine Etage tiefer: Wer Traditionen pflegt und schöpferisch Neues schafft, der leistet einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag. Kulturförderung muss deshalb viel stärker als bisher auf die Menschen abstellen, die Kultur schaffen, andere für Kultur begeistern und so das kreative Potenzial unseres Landes aktivieren. Wir sollten dabei „Kultur“ nicht zu eng definieren. Barockopern gehören genauso dazu wie Folkmusik, die Renaissancemöbel im Kunstgewerbemuseum genauso wie das Spitzenklöppeln als lebendige Volkskunst des Erzgebirges. Mir ist das wichtig. Denn auf die Kultur kommt es gerade angesichts des demografischen Wandels an. Wir Sachsen werden weniger, und damit wird die finanzielle Basis der Kulturpolitik schmaler. Aber das Geld scheint mir nicht das Hauptproblem zu sein. Auch personell wird es schwierig: Es wird schlichtweg weniger Sachsen geben, die ihre Museen und Theater besuchen können oder die selbst als Künstler tätig sind. Als weltoffenes Land, das in kultureller Hinsicht so stark von Zuwanderern bereichert worden ist, könnten wir sagen: Kein Problem, dann setzen wir auf mehr Kulturtouristen und holen einfach noch mehr Künstler ins Land. So hat es doch schon August der Starke gemacht. Weltoffenheit und Zuwanderung sind sicherlich ein Teil der Antwort. Aber hauptsächlich kommt es auf etwas anderes an: Dass es gelingt, dass ein größerer Anteil der Kinder und Jugendlichen als bisher sich künstlerisch betätigt, in Chören und Bands, auf Theaterbühnen und im Atelier. Und dass auch mehr Senioren ihre Kreativität nicht nur im Garten ausleben, sondern auch Kunstwerke schaffen und Kunst erleben wollen. Also: Wie schaffen wir es, dass noch mehr Bürger als bisher daran mitarbeiten, aus dem Verfassungsziel Kulturförderung eine vitale Verfassungswirklichkeit zu machen? Wir müssen uns von der Fixierung des Blicks auf finanzielle Zwänge lösen – und uns fragen, wie wir qualitativ für mehr kulturelle Mobilisierung im Land sorgen können. Diese Frage richtet sich an die Kulturpolitik, an die parastaatlichen Kulturvermittler,

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die Kulturstiftung zum Beispiel oder die Kulturkonvente, und ebenso an alle, die unsere Kulturlandschaft pflegen, ob staatliche Angestellte oder Privatleute. Also an Sie alle, meine Damen und Herren. Es geht dabei nicht nur um besseres Kulturmarketing, damit die Auslastungsquote des Theaters oder Museums steigt. Viel wichtiger ist ein inhaltliches Angebot an die Menschen im Land, Kultur zu erleben und selbst mitzugestalten. Otto Schily hat einmal gesagt: „Wer Musikschulen schließt, gefährdet die Innere Sicherheit.“ Positiv gewendet: Kultur mag oft etwas Rebellisches, Anarchisches an sich haben. Aber sie macht unsere Gesellschaft insgesamt friedlicher, unser Land lebenswerter, den Zusammenhalt stärker. Und das ist nicht nur eine Frage von Institutionen wie Musikschulen, sondern von individuellem Engagement. Wie begeistert man Kinder für die Oper? Vielleicht, indem man eine mit ihnen inszeniert. Wie hilft man Jugendlichen, ihre Potenziale zu entdecken? Durch Ausdruckstanz, wie viele tanzpädagogische Projekte zeigen. Und was hält einen als Rentner jung? Rockmusik, wie der amerikanische Film Young at Heart zeigt. Wir beziehen aus der Kultur, aus schöpferischem Tätigsein Kraft und Orientierung, als Einzelne wie als Gesellschaft. Und gerade eine Gesellschaft im Wandel ist auf die Kultur als Sinn und Zusammenhalt stiftendes Agens angewiesen. Ich sehe die demografische Entwicklung deshalb als Chance für das Kulturland Sachsen. Wenn Staat und Bürger gemeinsam Verantwortung für ihre Kultur übernehmen, dann werden die kulturellen Kräfte unseres Landes nicht schwächer, sondern stärker. Und wir werden uns damit das kreative Fluidum bewahren, das unser Land seit Jahrhunderten schon so attraktiv macht – und zu einer guten Heimat für alle Bürger. Vielen Dank!

Karl-Siegbert Rehberg

Negation der Wachstumslogiken? Zur „Kulturbedeutung“ demografischen Wandels*

1 Bevölkerungsmassen als Machtfaktor Im menschlichen Leben gibt es keine Tatsachen, die nicht gedeutet und durch gesellschaftliche Diskurse mitbestimmt wären. Ihre Realität hängt immer auch von ihrer jeweiligen „Kulturbedeutung“ ab, wie das der Soziologe Max Weber treffend genannt hat.1 Für die Beantwortung der Frage, ob und in welcher Weise Kultur angesichts der demografischen Entwicklungen neue Chancen eröffnet, ist diese Einsicht unerlässlich, denn oft wird suggeriert, dass Faktoren wie Lebenserwartung und Geburtenraten, somit auch Bevölkerungsexplosion oder ‑schrumpfung als unumkehrbare Naturprozesse zu verstehen seien, denen wir ausgeliefert sind. Seit jeher war der Volks-Begriff (und dies nicht nur im Deutschen) samt dessen quantitativer Repräsentanz eng verwoben mit Vorstellungen politischer und ökonomischer Macht. Seit dem 18. Jahrhundert dann wurde „Bevölkerung“ vor dem Hintergrund der Schwankungen agrarischer Produktion mit ihren Hungersnöten und den neuen zyklischen Auf- und Abwärtsbewegungen des kapitalistischen Systems zu einem Schlüsselbegriff sozialer Entwicklungstheorien. Und bis heute sind Populationsziffern als Indikatoren für gesellschaftliche Entwicklungspotenziale besetzt mit Hoffnungen und Ängsten, mit Überlegenheits- und Inferioritätsgefühlen. Zwar hatten Montesquieu und nach ihm Jean-Jacques Rousseau die Chancen zu einer freiheitlichen und demokratischen Selbstverwaltung an kleine Gemeinwesen gebunden, hingegen den großen Flächenstaaten (wie Frankreich) die („absolutistische“) Despotie oder – im Falle einer republikanischen Verfassung – allenfalls ein Repräsentativsystem mit Parlamentsherrschaft zugeordnet. Aber die Faszination von Populationszahlen war stets stärker als jede kluge Selbstbeschränkung. Im historischen Überblick ist die demografische Entwicklung zudem eng mit konkreten Ereignisketten wie Epidemien und Kriegen sowie im Kontext des hier behandelten Themas mit Modernisierungseffekten verbunden. Herzlich danke ich für die Unterstützung bei der Erarbeitung des Themas und der Verfassung des Aufsatzes Tim Deubel, Christian Holtorf, Matthes Blank, Dorothea Möwitz sowie für seine auch in der Sache wichtige Redaktionsarbeit Gunther Gebhard. 1 Vgl. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. 3., erw. Aufl., hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1968, S. 161 u. ö.

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Am Anfang der Frühen Neuzeit waren hohe Geburtenraten zu beobachten, dann im 19. und 20. Jahrhundert eine sinkende Sterblichkeit, schließlich in der Ausweitung des Wohlstandes und der Entwicklung des Massenkonsums sinkende Geburtenzahlen.2 Nun wird als Paradox bewusst: Je mehr Kinder sich die Gesellschaft leisten könnte, umso weniger leistet sie sich. Und doch sind die Machtassoziationen mit steigendem Wohlstand keineswegs aufgehoben: So ist es für die Deutschen etwa durchaus von Belang, dass sie seit der Wiedervereinigung das volkreichste Mitglied der Europäischen Union sind, und nicht minder, dass sie (unter Einbeziehung Österreichs und des nördlichen Teils der Schweiz) zur größten Sprachgruppe in Europa gehören.

2 Enttabuisierung der Demografie Wenn die nach der mörderischen Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus besonders in Deutschland lange tabuierten demografischen Zusammenhänge heute als Fragen von größter politischer Brisanz erscheinen, so sind es zwei Prozesse, die beunruhigend wirken: Vor dem Hintergrund des schnellen Wachstums der Weltpopulation (2025: 8 Milliarden, 2050: über 9 Milliarden) und dabei vor allem dem des Wachstums einiger bedeutender Schwellenländer wird auf der einen Seite der Bevölkerungsrückgang vieler „reicher“ Gesellschaften, andererseits die Verschiebung der Alterspyramide in diesen als Bedrohung empfunden. Beides hängt auch mit Modernisierungsprozessen zusammen: Die Infragestellung einer „die Alten“ (bis zur Vorbildhaftigkeit der Antike) prämierenden Autorität der Erfahrung ist in Zeiten schneller Informations- und Wissensveränderungen und sinkender Halbwertzeiten für das Erlernte naheliegend. Es scheint, als könnten alte Menschen in den beschleunigten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften so dysfunktional werden wie die Alten auf dem „Erbteil“ einstmaliger Bauernhöfe. Ihre Chance, im „Kampf um Anerkennung“ nicht an die Seite geschoben zu werden, ist heute jedoch nicht zuletzt durch die (ungebrochen bestehende) Bedeutung der Berufsarbeit bedingt. Einerseits kann die Periode des Alters zwar als legitime Form eines Lebens ohne Arbeit verstanden werden (wie sie früher nur dem Adel zustand, in den Arbeitsgesellschaften für die meisten jedoch nur um den Preis einer Isolation durch erzwungene Entberuflichung zu haben ist). Andererseits gibt es, vielleicht nicht nur in privilegierten Tätigkeitsbereichen, den zunehmenden Willen oder auch Zwang zu einer Ausweitung der Phase aktiver Berufsarbeit. Dieter Otten berichtet, dass dreißig Prozent aller in den Ruhestand Getretenen gerne weiter arbeiten würden und sich deshalb ein neuer Arbeitssektor

2 Vgl. auch Schmidt, Rainer, Die Jungen regieren. Das Alter der Bevölkerung als politisches Ordnungsproblem, in: Nikolaus Werz (Hg.): Demografischer Wandel, Baden-Baden 2008, S. 71–83.

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von Quasi-Selbstständigen gebildet hat.3 In diesem Zusammenhang ist besonders das Ehrenamt von Bedeutung, dem die ARD-Anstalten im Mai 2009 sogar eine Themenwoche widmeten und das in seinen institutionellen Möglichkeiten bei Weitem noch nicht genügend erschlossen ist. Axel Börsch-Supan hat darauf hingewiesen, dass bisher die durch Alterung „gewonnen Jahre“4 nicht genügend in die Betrachtung, vor allem einer Veränderung der Arbeitsbiografien einbezogen würden. Die weit verbreitete Vorstellung einer Bedrohung der Gesellschaft etwa durch steigende Gesundheitskosten sei „nicht nur einseitig, sondern schlichtweg falsch“. Gerade das Gesundheitswesen erweise sich nämlich keineswegs nur als Kostenfaktor, sondern vielmehr als Investition. Die Möglichkeit eines längeren aktiven (auch Arbeits-)Lebens vervielfältigen sich, zumal die Jahre, in denen die Menschen ohne ernsthafte gesundheitliche Einschränkungen leben können, sich schneller vermehren als die Lebenserwartung wächst. Am Beispiel Dänemarks weist der Direktor des Mannheim Research Institute for the Economics of Aging auf, dass ein früheres Berufseintrittsalter, kombiniert mit einer erheblichen Steigerung der Erwerbstätigkeit von Frauen und einem höheren Renteneintrittsalter, alleine schon genügen würde, um die Negativfolgen der Verschiebung der Altersstruktur „zu etwa drei Vierteln“ zu kompensieren.5 So sieht man, dass trotz aller, zumindest für etwa dreißig Jahre, determinierender Folgen aus dem heute in Deutschland beobachtbaren Geburtenrückgang doch erhebliche Einflussfaktoren denkbar sind. Auf der einen Seite kann die Lage sich durch Großkrisen verschärfen, auf der anderen Seite können Einwanderung, steigende Geburtenzahlen oder die Ausweitung der Arbeitsphasen innerhalb der durchschnittlichen Lebensverläufe kompensierend wirken. Eben gerade deshalb sind die Veränderung von Lebens- und Verhaltensweisen auf der Grundlage kultureller Perspektivverschiebungen und die daraus resultierenden oder ihnen zugrunde liegenden Funktionen „der Kultur“ von allergrößter Bedeutung.

3 Bevölkerungsrückgang und die Verschiebung des „Alters-Limes“ Für die Deutung der demografischen Veränderungen ist vor allem eine Neubewertung dessen entscheidend, was unter „Alter“ verstanden wird. Wenn Immanuel Kant zu seinem 50. Geburtstag mit „werter Greis“ angesprochen wurde, so fühlt jeder die Veränderungen auch jenseits dramatischer Formeln, wie sie etwa Frank Schirrmacher als Warnung vor dem „Methusalem-Komplott“ in Umlauf gebracht hat.6 Tatsächlich ist eine Verschiebung der an das Alter gebundenen Passivrollen zu beobachten, Otten

3 Vgl. Otten, Dieter, Die 50+ Studie, Reinbek 2008. 4 Vgl. Kocka, Jürgen/Staudinger, Ursula M., Gewonnene Jahre. Empfehlungen der Akademiengruppe Altern in Deutschland [Nova acta Leopoldina N.F. Bd. 107], Stuttgart 2009. 5 Vgl. Börsch-Supan, Axel, Unsere gewonnenen Jahre, in: FAZ vom 25.2.2011. 6 Vgl. Schirrmacher, Frank, Das Methusalem-Komplott, München 2004.

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vermutet eine Verlagerung vom 50. auf das 70. Lebensjahr.7 Das macht deutlich, in welchem Maße gesellschaftliche Konstruktionen die Realitätswahrnehmungen prägen. Es ist eben ein großer Unterschied, ob man (wie der einstige Bundespräsident Roman Herzog8) eine verstockt ihre Zufallsprivilegien bewahren wollende „Rentnerdemokratie“ am Horizont sieht oder neue Lebens- und Wertqualitäten, in denen nun gerade auch Kultur im weitesten Sinne eine wichtige Rolle spielt – ganz abgesehen von der Kaufkraft älterer Generationen in einem Handlungsfeld, das sich wirtschaftlich durchaus als Boom-Sektor erweist. Eine Erhöhung des Durchschnittsalters ist übrigens nach Berechnungen der Vereinten Nationen in der ganzen Welt zu beobachten: In Europa nimmt es von 1950 bis 2050 um 18,5 Jahre zu, in Lateinamerika samt Karibik sogar um 19,7 Jahre.9 Gleichwohl sind die Anteile junger und alter Menschen an der Gesamtpopulation dieser Gesellschaften dadurch nicht schon abzulesen, weil die Ausgangspositionen ganz verschiedene sind. Und zusammengenommen zeigt sich, dass zwischen 2000 und 2050 für die Entwicklungsländer ein Anstieg des Durchschnittsalters um 13,8, für die Industrieländer hingegen um 23,1 Jahre anzunehmen ist.10 In allen diesen Fällen handelt es sich um Faktoren, die zumindest mittelfristig gesellschaftlich verschoben werden können, wie das Beispiel der chinesischen Einkind-Politik belegt. So sind auch Geburtsraten kein Schicksal – die Infrastruktur der Kinderbetreuung, finanzielle Unterstützung, Arbeitslosenzahlen und vor allem das Verhältnis zwischen berechenbaren Lebensperspektiven und der Drohung prekärer Existenzformen sind von entscheidender Bedeutung. Nicht handelt es sich um Entwicklungsautomatismen, die sich etwa aus der bloßen Korrelation von Bruttosozialprodukt und Frauenbeschäftigung auf der einen Seite und Kinderwünschen und Geburten auf der anderen Seite ergäben. Auch ist es kein Quasi-Naturgesetz, dass Wohlfahrtssteigerung und eine hohe Berufstätigkeit von Frauen zu niedrigen Kinderzahlen führen müssten: In Europa können Luxemburg, Schweden oder Island als Gegenbeispiele zu den Trends etwa in Deutschland oder Italien gelten.11 So werden nicht nur in den Boulevardzeitungen Ängste davor geschürt, dass die Deutschen aussterben könnten.12 Um deren Bestand halten zu können, müsste bekann7 Vgl. Otten 2008 (wie Anm. 3), S. 209 ff. 8 Vgl. die gegenüber der Bild-Zeitung am 10.4.2008 geäußerte Kritik von Roman Herzog an der außerplanmäßigen Rentenerhöhung durch die Große Koalition, die eine Entkoppelung von Löhnen und Renten beschlossen hatte, weil erstere gesunken waren. 9 Vgl. beispielsweise zu weltweiten Geburtenraten als einem Grund für die Zunahme älterer Bevölkerungsteile, auch in den Ländern des „Südens“ oder Ostasiens: Le Bras, Hervé, Addio alle masse. Critica della ragion demografica, Eleuthera 2008. 10 Vgl. eine UN-Prognose, zit. in: Birg Herwig, Bevölkerungsentwicklung. Informationen zur politischen Bildung 282 (1/2004), S. 15. 11 Vgl. Klingholz, Reiner, Neues Deutschland. Wie die Demografie unser Leben nachhaltig verändert, in: kultur – kompetenz – bildung (Jan./Feb. 2006), S. 2. 12 Vgl. Sarrazin, Thilo, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010, das, seinerseits dramatisierend präsentiert, zu heftigen öffentlichen Debatten geführt hat.

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termaßen statistisch jede Frau 2,1 Kinder gebären. Im Weltmaßstab liegt der tatsächliche „Reproduktionsfaktor“ heute bei 3,1, in Deutschland bei 1,3. Dass Veränderungen gleichwohl möglich sind, zeigt schon die gute Nachricht, dass etwa Dresden nach einem erheblichen Geburtenrückgang nach der „Wende“ im Jahre 2006 (übrigens erstmals seit 1986) einen Überschuss der Lebendgeborenen über die Verstorbenen aufwies.13

4 Sachsen im Rahmen der Neuen Bundesländer Da alle demografischen Trends sich für Ostdeutschland in verschärfter Form zeigen, wurden – ähnlich wie in Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen – Folgen und Möglichkeiten, die sich aus dem demografischen Wandel ergeben, in Sachsen besonders eindringlich untersucht.14 Die von der sächsischen Staatsregierung beauftragte Expertenkommission „Demografischer Wandel Sachsen“ hatte unter der Leitung von Marcel Thum einerseits die hohe Attraktivität auch für junge Talente und die Dichte der kulturellen Bestände und Angebote im Freistaat festgestellt, musste aber eindeutig auch hier vom Paradigma des Bevölkerungsrückgangs ausgehen und von der deutlichen Verschiebung der Alterszusammensetzung: Während 2005 etwa 17 Prozent der hier Wohnenden jünger als 20 Jahre waren, werden es im Jahre 2020 nur noch 14,9 Prozent sein. Und im gleichen Zeitraum nimmt der Anteil der über Sechzigjährigen von 28,9 auf 36,3 Prozent zu und die demografische Negativbilanz wird ein Minus von fast einer halben Million Einwohner aufweisen.15 Der Auftrag zu dieser Analyse belegt ein besonders durch Kurt Biedenkopf, den ersten Ministerpräsidenten nach der Wiedervereinigung, angeregtes Interesse an Fragen der Bevölkerungspolitik.16 Der Regierungsstudie folgte ein umfangreicher Bericht über die „Demografische Entwicklung“, der von einer 2004 eingesetzten Enquete-Kommission des Sächsischen Landtages in vier Jahren erarbeitet worden war.17 Beide offiziellen Untersuchungen gehen auf „Kultur“ nicht eigens ein,

13 Vgl. Landeshauptstadt Dresden. Kommunale Statistikstelle (Hg.), Bevölkerungsbewegung 2007, Dresden 2008, S. 19 sowie Rehberg, Karl-Siegbert, Die wiedererstandene Stadt. Dresden nach der „Wende“ zwischen Aufbruch und Selbstisolierung, in: Holger Starke (Hg.): Keine Gewalt. Revolution in Dresden 1989 (Begleitbuch zur Ausstellung im Stadtmuseum Dresden vom 22.7.2009–10.1.2010), Dresden 2009, S. 168–192, hier: 170. 14 Auch die Konferenz des Deutschen Hygienemuseums „Kultur als Chance?“ im Mai 2009, welche den Anlass für die vorliegende Publikation gab, folgte einer Anregung der sächsischen Staatskanzlei und wurde von der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen mit geplant und finanziell unterstützt. 15 Vgl. die Empfehlungen der Expertenkommission „Demografischer Wandel Sachsen“, Dresden Staatskanzlei 2006, S. VII u. 3 ff. 16 Vgl. das Interview mit Kurt Biedenkopf im vorliegenden Band. 17 Sächsischer Landtag (Hg.), Bericht der Enquete-Kommission: Demografische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Lebensbereiche der Menschen im Freistaat Sachsen sowie ihre Folgen für die politischen Handlungsfelder, Dresden 2008.

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wohl aber auf den Bildungssektor und im Falle der Landtagskommission auch auf Wissenschaft und Forschung. Auch die sächsischen Entwicklungen sind noch einmal in einen größeren Zusammenhang zu stellen:18 Seit 1990 ist die Bevölkerung in Ostdeutschland (ohne Berlin) um fast 9 Prozent auf heute 13,4 Mio. Menschen geschrumpft,19 bis 2050 erwartet man sogar einen Rückgang um 25 Prozent.20 Zumeist werden als Hauptfaktor jene 2,4 Mio. Menschen angesehen, die vom Osten in den Westen gezogen sind und sich dort „erfolgreich und weitgehend geräuschlos integriert“ haben, während sich die Neuen Bundesländer als „unterentwickelte, randständige Region stabilisiert“ hätten.21 Eine Statistik für die Jahre 2001 bis 2003 zeigt allerdings auch, dass 862 000 Ostdeutschen, die nach Westen gingen, immerhin 715 000 Westdeutsche gegenüberstanden, die nach Osten kamen, allerdings vor allem in die urbanen Räume und dort wieder überproportional in einige Städte wie Jena und Dresden, während die Dörfer sich weiter entleeren.22 Vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen denkt man an die Abwicklung und Zusammenlegung von Bundesländern, etwa wenn für Sachsen-Anhalt angenommen wird, es werde 2020 eine halbe Millionen weniger Einwohner haben als heute, sodass die Befürchtung entstehen könnte, Teile des Ostens würden „versteppen, verblöden und vergreisen“.23 Zwar gibt es Landflucht auch in Westdeutschland und selbst in Bayern oder Baden-Württemberg kennt man die Abwanderung Jugendlicher. Aber dort vollziehen sich diese Prozesse sozusagen „über Kreuz“, während es sich im Osten (augenblicklich) um eine negative Einbahnstraße handelt. Jedoch wäre mit diesen Abwanderungen allein ein Ausbluten des Ostens nicht zu befürchten, wenn es nach 1990 nicht eine dramatische Halbierung der Geburten in jedem Jahrgang gegeben hätte, sodass seit 1993 die wirklichen Bevölkerungsverluste zu 80 Prozent (in Sachsen noch zu 60 Prozent) daraus resultieren, dass in den Neuen Bundesländern mehr Menschen sterben als geboren werden.24 Würde sich das fortsetzen, so schätzt das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), wäre bis 2050 die Zahl der Erwerbs-

18 Vgl. Rehberg, Karl-Siegbert, Ost/West, in: Stephan Lessenich/Frank Nullmeier (Hg.): Deutschland – eine gespaltene Gesellschaft, Frankfurt/New York 2006, S. 209–233. 19 Vgl. Schmid, Klaus-Peter/Tenbrock, Christian, Die einsamen Inseln. 15 Jahre nach der Wiedervereinigung ist der Osten ein geteiltes Land, in: Die Zeit vom 29.9.2005. 20 Ragnitz, Joachim, Schrumpfende Regionen in Ostdeutschland. Bleibt die Angleichung der Lebensverhältnisse eine Illusion?, in: Berliner Debatte Initial 16 (2005), H. 6, S. 4–12, hier: 7. 21 Bisky, Jens, Ost gegen West. Das Tabu, ängstlich gehütet. Die deutsche Einheit ist gescheitert, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.8.2005. 22 Vgl. Schröder, Richard, Was ist mit dem Osten los?, in: FAZ vom 25.8.2005 und Pöhl, Rüdiger (ehemaliger Direktor des IWH), Gemeinsam oder gar nicht. Nur mit einer Wachstumspolitik für ganz Deutschland kommt auch der Aufbau Ost voran, in: FAZ vom 13.11.2004. 23 Tabuzone Ost (Bericht über die Dohnanyi-Kommission), in: Der Spiegel vom 5.4.2004. 24 Vgl. Der erste wirtschaftliche Schub verliert an Schwung (Interview von Cornelia von Wrangel und Hans Riebsamen mit dem sächsischen Finanzminister Georg Milbradt), in: FAZ vom 29.4.2001 und Expertenkommission 2006 (wie Anm. 15), S. II.

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tätigen halbiert.25 So droht der Osten in besonderer Weise „eine Art Altenheim zu werden“26, wie die einstige Wirtschaftsministerin der DDR, Christa Luft, kassandrahaft mahnte. Aber das ist (nicht nur im flotten Missgriff „Kinder statt Inder“27, mit dem Jürgen Rüttgers auf Gerhard Schröders „GreenCard“-Aktion reagierte) durchaus auch von zukünftigen Entscheidungen und Handlungen abhängig. Insgesamt sind Haupttrends ziemlich sicher vorauszusagen, während die makrosoziologischen Veränderungsfaktoren immer noch relativ unbestimmt erscheinen. Deshalb warnen gerade Spezialisten für demografische Fragen vor kausalen Kurzschlüssen, etwa vor der Annahme einer linearen Verlängerung augenblicklicher Entwicklungen.28 Vor allem gibt es ein Missverhältnis zwischen dem steigenden Wissen um wahrscheinliche Langfristeffekte und den zögerlichen Initiativen zu deren Relativierung oder Umkehrung – am deutlichsten kann man das an der deutschen Familien- und Bildungspolitik feststellen, die programmatisch klare Ziele setzt, während deren Umsetzung oft nur zögerlich oder höchst eingeschränkt erfolgt. Überall droht die Skylla der Ignorierung der Fakten und die Charybdis einer resignationsfördernden self-fulfilling prophecy, in der Informationen gerade fatalistisch dazu benutzt werden, um Alternativmöglichkeiten zu verstellen. Letztlich haben wir nicht mit eindeutigen Zukunftsszenarien, vielmehr mit ambivalenten Zuständen zu rechnen, wie sie etwa in der griffigen Formel „älter, weniger und bunter“29 zum Ausdruck kommen. Besonders gravierend ist dabei, dass es überproportional qualifizierte junge Menschen sind, überhaupt scheinbar die „besseren Köpfe“, die in den Westen gehen. Das neueste Angstsyndrom heißt Frauenflucht und meint, dass Go West zum Motto vor allem besser ausgebildeter, selbstbewusster und mobiler junger Frauen zwischen 18 und 29 Jahren geworden ist, während schlechter ausgebildete und oft arbeitslose Männer deprimiert zurückblieben, wie das Berlin-Institut im Mai 2007 herauszufinden meinte: In einigen Regionen gebe es bereits einen Männerüberschuss von bis zu 25 Prozent, was Reiner Klingholz als einen Mitautor dieser „Not am Mann“ überschriebenen Studie zu dem bildhaften Vergleich veranlasste: „Selbst Polarkreisregionen im Norden Schwedens und Finnlands reichen an die ostdeutschen Werte nicht heran“, nur auf einigen einsamen griechischen Inseln ginge es den Männern noch schlechter.30 25 Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Kurzbericht: Projektion des Arbeitsangebots bis 2050. Demografische Effekte sind nicht mehr zu bremsen, Ausgabe Nr. 11 vom 26.7.2005, S. 5. 26 Redebeitrag von Dr. Christa Luft (PDS), in: Protokoll der 102. Sitzung (14. Wahlperiode) des Deutschen Bundestages vom 11.5.2000, S. 9523. 27 Vgl. Rüttgers, Jürgen, Interview der Nachrichtenagentur Associated Press im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung vom 8.3.2000. 28 Vgl. den Beitrag von Karl Ulrich Mayer im vorliegenden Band. 29 Der Ausdruck soll von Irmingard Schewe-Gerigk im Zusammenhang mit dem Abschlussbericht der Demografiekommission der GRÜNEN im Jahre 2006 geprägt worden sein. 30 Vgl. Kröhnert Steffen/Klingholz, Reiner, Not am Mann. Von Helden der Arbeit zur neuen Unterschicht? Lebenslagen junger Erwachsener in wirtschaftlichen Abstiegsregionen der neuen Bundesländer, Berlin 2007, S. 4 u. 38.

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Zu den zumeist innerdeutschen Westmigranten kommt noch mehr als eine halbe Million von Pendlern. So zeigt etwa die einstige sozialistische Vorzeigestadt Hoyerswerda, in der heute anstelle von 68 000 nur noch 43 900 Menschen leben, an Feiertagen überall Autos mit westdeutschen Kennzeichen, häufig verbunden mit der Buchstabenkombination „HY“ als einem „Heimwehzeichen“ nach ihrem Herkunftsort, der zwar viele Wohnungen, aber keine Arbeit mehr bieten kann, nach „einer Region, die stirbt.“31 Schon wird für den größten deutschen Landkreis, die Uckermark – mit der Fläche des Saarlandes und dünner besiedelt als Burkina Faso32 –, berichtet: „Schulgebäude stehen leer, Wohngebäude werden abgerissen, Straßen führen in Dörfer, wo es keinen Laden mehr gibt und der Weg zum nächsten Arzt mitunter 60 km lang ist“.33 Das Ende des Wachstums führt zunehmend auch zum Abriss von Großsiedlungen wie in Hoyerswerda, Schwedt oder in Halle-Neustadt, in Frankfurt/Oder, Dresden und anderswo. In einer Gesellschaft allgemeiner Euphemismen wie „Minuswachstum“ oder „Ich-AG“ werden beschönigende Programmbezeichnungen kaum verwundern, welche auch die Funktionäre des untergegangenen SED-Staates nicht besser hätten erfinden können: Vom „Stadtumbau Ost“ ist die Rede oder vom „Sanierungsvorhaben: Abriss“. Und die Leipziger Stadtverwaltung überschrieb den Plan, 700 Häuser aus der Gründerzeit niederzulegen, mit „Neue Gründerzeit“.34 Man könnte sagen, dass sich verkehrt habe, was man einst in dem (nach seiner Premiere verbotenen) Film von Heiner Carow und Ulrich Plenzdorf, „Die Legende von Paul und Paula“, hätte sehen können: „Alle zehn Minuten wurde ein verkommener Altbau gesprengt und durch einen keramikverkachelten Plattenbau“ als Symbol jener „freudlosen Beglückungspolitik der DDR“ ersetzt.35 Heute dagegen wird die Platte platt gemacht. Das sind Umkehrungen des Wachstums, die viele Menschen depressiv machen und im öffentlichen Diskurs Hoffnungslosigkeit verstärken. Selten wird erörtert, was die Vorteile, zumindest Ambivalenzen einer Bevölkerungsstagnation oder sogar eines Rückganges sein könnten. Dabei hilft allerdings kein Trost suchender Blick auf „kleine“ und wohlhabende Gesellschaften wie die Schweiz mit ihrer knapp über sieben Millionen liegenden Einwohnerschaft, denn entscheidend sind ja die Veränderungsrelationen. Gleichwohl könnten sich im Prozess des Bevölkerungsrückganges die Berufschancen 31 Vgl. Berg, Stefan/Wassermann, Andrea/Winter, Steffen, Permanente Revolution, in: Der Spiegel vom 5.9.2005. 32 Burkina Faso wird häufig zum exotischen Vergleichsfall: Francis Fukuyama hatte es 1992 als Beispiel für ein Land der Irrelevanz am „Ende der Geschichte“ (München 1992) genommen, während der damalige Finanzminister Peer Steinbrück es im Mai 2009 mit der „Steueroase“ Schweiz verglich, was der Botschafter des afrikanischen Landes mit diplomatischer Eleganz einen „bunten Vergleich“ nannte; vgl. auch Seibt, Gustav, Quagadougou. Die Schweiz, Lübeck und die Diplomatie der kleinen Länder, in: FAZ vom 12.3.2009. 33 Schmid/Tenbrock vom 29.9.2005 (wie Anm. 19). 34 Vgl. Berg/Wassermann/Winter vom 5.9.2005 (wie Anm. 31) sowie Engler, Wolfgang, Friede den Landschaften, in: FAZ vom 20.6.2001. 35 Richter, Peter, Frohen Osten!, in: FASZ vom 11.4.2004.

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der jüngeren Generationen erweitern, wenn diese insgesamt erheblich besser ausgebildet würden als der Durchschnitt heute. Allerdings sind die angsterzeugenden Veränderungen nicht ohne einen starken Zuzug von Ausländern schadlos zu überstehen, denen dann allerdings auch die deutsche Staatsbürgerschaft in größerem Umfang offenstehen müsste. Umso gravierender ist es, dass die heutige Zuwanderung von Ausländern (vor allem im Rahmen der Familienzusammenführung) fast ausschließlich in die westlichen Bundesländer (mit Ausnahme des auch statistisch vereinten Berlins) geht; der Unterschied zwischen dem 12-prozentigen Ausländeranteil in Baden-Württemberg und 1,9 Prozent in Sachsen-Anhalt (in Sachsen sind es immerhin 2,8 Prozent) markiert das.36 Und es ist dies gerade eine Einsicht, welche nach einer langen Homogenitäts- und Selbstabschließungsgeschichte die Ostdeutschen noch mehr schreckt als die Bewohner der Alten Bundesländer.

5 Kultur als Opfer oder Therapie? Vordergründig könnte man meinen, schrumpfende Gesellschaften erzwängen automatisch die Reduzierung von kulturellen Angeboten und erlaubten somit auch die Verminderung von Kulturetats. Gerade vor dieser Schlussfolgerung hatte die damalige sächsische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Eva-Maria Stange, mit Blick auf die Tagung des Deutschen Hygiene-Museums „Kultur als Chance?“ eindringlich gewarnt. Grundsätzlich erscheinen in der gesamten Debatte zwei Szenarien einander gegenübergestellt: Einerseits gibt es die Ansicht, dass sinkende Bevölkerungszahlen bei abnehmenden Steuereinnahmen auch zu einem abnehmenden Kulturbedarf führten, der den Rückzug öffentlicher Finanzierungen erlauben würde.37 Daraus ergibt sich die Forderung nach „intelligentem Schrumpfen“.38 Auf der anderen Seite steht die These von den notwendigen kompensatorischen Investitionen in Kultur, wonach es also gerade in Krisenregionen und -zeiten einer Intensivierung kultureller Angebote in besonderem Maße bedürfte.39 Sicher wird man nicht erwarten können, dass die kulturelle Attraktivität einzelner Gemeinden oder Regionen die Wirkungen der großen demografischen Trends auf lokaler Ebene unmittelbar zu beeinflussen vermag; was sicher auch gesamtgesellschaftlich gilt. Aber die verwickelten Kausalitäten sozialer Prozesse sind doch auch dadurch bedingt, dass Lebensstile und damit verknüpfte Erwartungen und Handlungsbereitschaften kulturell auf Veränderungen Einfluss haben können. Die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages setzte weniger auf daraus 36 Statistisches Bundesamt, Die Bundesländer. Strukturen und Entwicklungen, Wiesbaden 2006, S. 14 ff. 37 Gegen diese Ansicht wandte sich auch die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages; vgl. Schlussbericht in Drucksache 16/7000, S. 227. 38 Ein Plädoyer dafür findet sich vor allem im Beitrag von Dieter Haselbach im vorliegenden Band. 39 Vgl. zu dieser von mir geteilten These den Beitrag von Hans Joachim Meyer im vorliegenden Band.

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sich ergeben könnende Szenarien, empfahl Kultur deshalb eher nur als Medium der Reflexion über die neuen, insbesondere demografisch beeinflussten Gegebenheiten (eine Funktion, die sie sicher auch wahrnehmen kann). Kunstprojekte könnten etwa Erinnerungszeichen, aber auch Diskussionsanstöße in vom Abriss betroffenen und sich auflösenden Stadtteilen schaffen und dadurch eine aktive Auseinandersetzung mit den erzwungenen Veränderungen befördern. In diesem Sinne hatte die Bundeskulturstiftung schon der künstlerischen Reflexion über diese tiefen Eingriffe in die Lebenswelt früherer DDR-Bürger das Kunstprojekt „Superumbau“ gewidmet, das solche Prozesse am Beispiel von Hoyerswerda sinnfällig machte. Der Enquete-Bericht empfahl darüber hinaus, Kulturschaffende planmäßiger in die Kulturentwicklungsplanung und Modellprojekte für den Strukturwandel einzubeziehen.40 Liegt die Prognose für den dramatischen Rückgang von Schülern für das nächste Vierteljahrhundert auch fest, so sind daraus lineare Fortsetzungen des Geburtenrückganges und somit auch des Verhältnisses von älteren und jüngeren Generationen bei aller Pfadabhängigkeit nicht langfristig determiniert. Insofern ist Kultur mehr als ein „Standortfaktor“, was sie auch ist; vielmehr die Art und Weise, wie Einzelne und menschliche Gruppen, schließlich auch ganze Gesellschaften auf Probleme reagieren und diese verändern können.

6 Die Relativierung kultureller Geltungshierarchien Wichtig ist, dass „Kultur“ weder einseitig mit den Spitzenleistungen der Hochkultur, mit den Pinakotheken, Opernhäusern, Symphonieorchestern und Ensembletheatern identisch zu setzen ist, noch dass sie sich in der Beliebigkeit medialer Unterhaltungsdynamiken auflöst. Insbesondere sind Sicherungen des nun auch in den westdeutschen Sprachgebrauch eingegangenen „kulturellen Erbes“ eine unverzichtbare Aufgabe der öffentlichen Hand auf allen ihren Organisationsebenen, weshalb die Enquete-Kommission des Bundestages die Einrichtung eines entsprechenden Fonds durch die Bundesregierung (nicht nur zur Pflege des Weltkulturerbes) empfohlen hat.41 Aber in der oft konkurrierenden Gleichzeitigkeit von weit gestreuten Kulturpraktiken, Volks- und Popularkultur, medialen Angeboten und denen der Kulturinstitutionen im engeren Sinne kommt auch – wie das vor allem von postmodernen Autoren propagiert wurde42 – das Verhältnis von kulturellen Hochformen und populären Abspannungen zum Ausdruck: Immer bleibt die Beziehung zwischen kulturellen Geltungen in den verschiedenen Genres und bis zur Trivialisierung gehen könnenden Rezeptionsformen kultureller Angebote in einem Spannungsverhältnis. Deshalb sind derartige 40 BT-Enquete-Kommission (wie Anm. 37), S. 227. 41 BT-Enquete-Kommission (wie Anm. 37), S. 227. 42 Vgl. Welsch, Wolfgang (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin 1994.

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populäre Umgangsformen mit kulturellen Beständen nicht nur als Verlustgeschichte durch kommerzialisierte Oberflächlichkeit zu bewerten. In den besten Asterix-Folgen etwa steckt ein Teil der historischen und kulturellen Informationen, die sich einst im langsamen Gang der Durcharbeitung von Lateinbüchern festsetzten, wenngleich die bildgestützte und zumeist noch durch Filmversionen ersetzte Wahrnehmung keineswegs mit einer auch nur rudimentären Sprachkompetenz des Lateinischen oder einem systematischen Geschichtsunterricht in eins gesetzt werden soll. Aber schon an diesem Beispiel lässt sich zeigen, wie die Produzenten, besonders jedoch die Vermittler von Kulturgütern und ‑angeboten neue Kopplungsstrukturen zwischen einem traditionellen, oft noch ständisch geprägten kulturellen Kanon und den Interessen und Praktiken anderer Milieus und Generationen erzeugen. Insofern müssen die Kulturangebote sich keineswegs schlechthin an den heutigen Menschen als „Barbaren“43 orientieren, doch aber mit deren Wissens‑ und Interessenhorizonten rechnen. Auch die Institutionen der Hochkultur werden ihre Angebote genauer auf unterschiedliche Gruppen zu beziehen haben, als das heute oft zu beobachten ist. Das gilt für die Altersdifferenzierung nicht weniger als für die kulturelle Herkunft in einer Gesellschaft, die zunehmend auch auf die Integration von Immigranten angewiesen sein wird. Wenn man exemplarisch an eine Ausnahmeinitiative für die Verschmelzung kultureller Anspruchsniveaus ohne Nivellierungseffekt erinnern will, wäre das beeindruckende Beispiel einer fantasievollen „Subsidiarität“ zu nennen, mit welchem Sir Simon Rattle mit seinem kulturellen Sozialprojekt alle veranstaltete „Soziokultur“ sprengte: 2003 führte er gemeinsam mit dem Choreographen Royston Maldoom und 250 Berliner Kindern und Jugendlichen aus fünfundzwanzig Nationen sowie den Berliner Philharmonikern ein Tanzprojekt zu Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps durch. Seine stimulierende Besonderheit verdankte das Projekt dem dokumentierenden, sogar mit dem Bayerischen und dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneten Film Rhythm Is It! von Thomas Grube und Enrique Sánchez Lansch. Es war dies der Erfolg eines gruppenorientierten und auf Lebenslagen (einschließlich jugendlicher Resignation und Hoffnungslosigkeit) eingehenden Kulturexperiments. Der entgrenzende Überschuss von musikalischer und tänzerischer Bewegung und die mit ihr notwendig verbundene Selbstdisziplinierung begründeten einen Motivationsschub bei allen Beteiligten (sowie auch eine entsprechende Resonanz in den Medien). Es bedürfte einer Vervielfältigung solcher Beispiele. Da mag man auch an das von einem Produktivitätszentrum der aufstrebenden Industriegesellschaft zum Schmuddelkind der englischen Gesellschaft abgestiegene Liverpool denken, dem die Rolle als Kulturhauptstadt Europas neue Impulse gab44 oder an die verlorenen Stadtteile von Bilbao, die durch den Kulturmagneten des von Frank Gehry 43 Pius Knüsel hat das in (ironischer?) Zuspitzung formuliert; vgl. seinen Beitrag und die Kritik daran von Albrecht Göschel im vorliegenden Band. 44 Vgl. den Beitrag von Christoph Grunenberg im vorliegenden Band.

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geschaffenen Guggenheim-Museums eine Umwertung erlebt haben, die vielleicht sogar eine strukturbildende Umkehrung des gesamten Stadtimages erwartbar macht.

7 Kulturelle Bildung als institutionelle Koppelung All das hat auch mit „Bildung“ zu tun. Deshalb benötigen Kultureinrichtungen vor allem eine dauerhafte Intensivierung der Verbindung mit den Ausbildungssystemen auf allen Niveaus, vom Kindergarten bis zur Hochschule. Nicht von ungefähr ist „kulturelle Bildung“ ein Programm‑ und Schlagwort unserer Zeit, das durchaus zu beherzigen ist, wenn es nicht bloß eine Verschiebung der Informationsvermittlung von den überlasteten und gerade die Kulturfächer vernachlässigenden Schulen auf außerschulische Institutionen meint. Jedenfalls wird man nicht darauf warten dürfen, dass die „MethusalemGesellschaft“ bei gegebener Überalterung des Museumspublikums von alleine dazu führt, dass diese Häuser der Hochkultur überlaufen sein werden – mehr Rollstuhlrampen vorausgesetzt. Vielmehr bedarf es gezielter Anstrengungen, bereits jüngere Menschen mit diesen Institutionen in Kontakt zu bringen, weshalb dauerhafte Verbindungen zwischen Bildungseinrichtungen und Kulturinstitutionen von größter Bedeutung sind. Dass es sich dabei nicht um eine Leerformel handelt, belegt der Vergleich des durchschnittlichen Besucheralters von Kunstmuseen in Deutschland und Frankreich. Dort gibt es ein verhältnismäßig junges Museumspublikum, vor allem dadurch, dass Museumsbesuche in Frankreich in höherem Maße Teil der schulische Ausbildung sind, als man das für Deutschland sagen kann.45 In merkwürdiger Diskrepanz dazu stand das Gutachten „Museen der Zukunft – Fortschreibung der Museumskonzeption 2003 bis 2008“, welche das Sächsische Ministerium für Wissenschaft und Kunst 2003 bei dem Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen KPMG in Auftrag gegeben hatte und wo sich die Empfehlung findet, für das „Soll‑Konzept […] die Möglichkeit kostenloser Besuche zu überdenken“, somit auch die „Preisgestaltung für Schüler“.46 Demgegenüber ist die inzwischen realisierte „Museumskonzeption 2020“ des Freistaates Sachsen zu begrüßen, die es Kindern und Jugendlichen unter 16 Jahren erlaubt, kostenfrei staatliche bzw. staatlich geförderte Museen zu besuchen. Mehr noch wäre in diesem Fall Tony Blair doch auch einmal zu loben, der es immerhin geschafft hat, die alte Tradition des freien Eintritts in britische Museen für alle Altersklassen wieder aufleben zu lassen. Aber nicht nur die Frühsozialisation durch produktive Kontakte mit Kulturgütern ist wichtig, sondern es bedarf auch spezieller Angebote für die sich vergrößernde Gruppe, die man in politisch korrekter Schonung als „Generation 60 plus“ oder als Menschen 45 Vgl. Bourdieu, Pierre/Darbel, Alain, Die Liebe zur Kunst (frz. zuerst 1966), Konstanz 2006, S. 34 ff. 46 Vgl. KPMG, Museen der Zukunft. Fortschreibung der Museumskonzeption 2003 bis 2008 ([interner] Abschlussbericht), Leipzig vom 5.8.2003.

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in the Third or Fourth Age bezeichnet – von den „jungen Alten“ bis zu den Ältesten der Alten. Etwa hat die Attraktivität von Seniorenstudien auf der Angebots- und Nachfrageseite erheblich zugenommen, wenngleich es sich zumeist nur um den Besuch universitärer ‚Freizeitparks‘ mit vor allem ästhetischen Bildungsinhalten handelt. Besser erschiene mir eine wirkliche Beteiligung an den Studienangeboten der Hochschulen, sodass es sich nicht nur um ‚Schonprogramme’, vielmehr um Sensibilität und Intellektualität herausfordernde Angebote handeln würde, die an Gruppen mit den spezifischen Erfahrungen eines Berufslebens zu adressieren sind.

8 Kulturelle Grundversorgung Eines der größten ungelösten Probleme liegt darin, wie insbesondere in bevölkerungsärmeren Regionen Kultur präsent bleiben kann. Hier werden neue Formen der Mobilität wichtig sein, sowohl der Menschen, die eine Ausstellung oder Aufführung erleben wollen (und die steigenden Zahlen des organisierten Kulturtourismus, der vorwiegend ältere Bevölkerungsgruppen anzieht, belegen die Möglichkeit einer solchen Mobilisierung), als auch der Kulturangebote selbst. Bibliotheksbusse, Wanderausstellungen, wechselnde Theater- und Orchesteraufführungen an unterschiedlichen Orten werden gestärkt werden müssen, um die kulturelle Grundversorgung sicherzustellen (und dies ist eine Voraussetzung für alle Sonderleistungen, auch der „Leuchtturm“-Projekte). Zunehmend werden auch Formen virtueller Kommunikation wichtiger werden, die ihrerseits Infrastrukturen und Training voraussetzen. Wenn man bedenkt, was das (urheberrechtlich problematische, von der Literaturerschließung her jedoch fantastische) Google-Projekt der Digitalisierung der Library of Congress ebenso wie das eigene Projekt der größten Universitätsbibliothek der Welt, der Harvard University Library, und inzwischen vieler anderer Bibliotheken bedeutet, können neue Formen einer Allgegenwart von Informationen, Dokumenten, Texten und Bildern noch in den abgelegensten Provinzorten deren kulturelle Abkoppelung vermindern helfen. Es dürfte dies allerdings die aus Kostengründen ohnehin schon weit verbreitete Ersetzung von Dienstleistungen durch eine Do-it-yourself-Gesellschaft stärken, an die man sich beim Tanken, bei der Selbstbedienung in der Cafeteria oder elektronischen Banküberweisungen ebenso wie bei Flugbuchungen vor dem heimischen PC längst schon gewöhnt hat. Aber es eröffnet dies auch die Chance zu neuen kommunikativen Vernetzungen. Damit kann die sich vertiefende Kluft zwischen städtischem und ländlichem Leben substanziell zwar nicht überwunden werden. Aber bereits durch die Massenmedien sind Annäherungen zwischen Lebensentwürfen und Konsumgewohnheiten heute bereits viel größer, als die Klischees vom Stadt-Land-Gefälle es wahrhaben wollen.

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9 Staatsziel Kultur Aber handelt es sich bei all den hier diskutierten Erwartungen an die Kulturverantwortlichkeit der staatlichen und kommunalen Instanzen nicht wesentlich um „freiwillige“ Aufgaben, die man schon heute nicht einklagen kann und deren Beitrag zur Zukunftsbewältigung bloß appellativen Charakter trägt? Dazu ist in Erinnerung zu rufen, dass im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und sozusagen als „Nebenfolge“ des mit Verfassungsrang ausgestatteten Einigungsvertrages, durch den 1990 der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland geregelt wurde, „Kultur“, zumindest implizit, erstmals als Staatsziel anerkannt worden ist. In Artikel 35 heißt es: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation“, weshalb zur Erhaltung der Bedeutung als „Kulturstaat“ bindend vorgeschrieben wurde, „die Kultur der […] DDR zu erhalten und zu pflegen.“ In Sachsen hat diese Bestimmung durch das „Kulturraumgesetz“ darüber hinausgehend zu einer bundesweit vorbildlichen Selbstbindung des Staates geführt. Jährlich werden 86,7 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, damit ein Ausgleich von Zentrum und Peripherie, von Hochburgen der Kultur und einem von alten kulturellen Traditionen geprägten ländlichen Raum gefördert werde. Das betrifft auch neue Formen der Kooperation. Schon jetzt gibt es Bibliotheks- und Museumsverbünde (beispielsweise in der Oberlausitz). Zunehmend wirken zwangsfusionierte Theater und Orchester inzwischen identitätsbildend für einen ganzen Kulturraum, da sie kein verdünntes Angebot bieten, sondern vom Publikum angenommen und von den Menschen in der Region für wichtig gehalten werden. Mag sein, dass in Zukunft die Ausgabenstruktur sich verändern muss, mehr offene Innovationsmittel in riskante neue Kunstprojekte und Vermittlungsformen gesteckt werden müssen, damit auf dem Land nicht nur nacherlebt wird, was in den Städten innovativ sich herausgebildet hat. Aber in der Grundstruktur eröffnet diese gesetzgeberische Tat praktisch wirksame Problemlösungen. Die hier skizzenhaft benannten, im vorliegenden Buch weiter ausgeführten Problemlagen und exemplarischen Lösungsansätze müssen vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung systematisch weiter analysiert bzw. erprobt und erweitert werden. Wie so oft können Krisen eben nicht nur zu resignativer Hinnahme, sondern zur Eröffnung neuer Möglichkeitshorizonte beitragen. Und diese Chance sollte ergriffen werden.

Karl Ulrich Mayer

Die Folgen des demografischen Wandels: Tatsachen, Vermutungen und Fiktionen1

I Bevölkerung und Kultur Die englische Kulturanthropologin Mary Douglas hat die kulturellen Varianten ausbuchstabiert, mit denen Menschen und Gesellschaften ihre natürliche Umgebung konstruieren.2 Da gibt es die „kapriziöse“ Natur, die nicht vorhersagbar ist und daher Planung und Einflussnahme als sinnlos erscheinen lässt. Da gibt es die „robuste“ Natur als eine Art stabiles Gleichgewicht, welches zwar hin und wieder aus der Balance kommt, aber sich wie die Kugel in einer Schüssel nach einigen Ausschlägen wieder am Grund stabilisiert. Und da gibt es die Natur als Bedrohung, als ein prekäres Gleichgewicht wie eine Kugel auf einer umgekehrten runden Schüssel, die jederzeit herunterrollen könnte. Und schließlich gibt es die Vorstellung einer Natur, die in gewissen engen Grenzen im Gleichgewicht bleibt, aber über diese Grenzen hinaus prekär und bedrohlich wird. Die Wahrnehmung von Bevölkerung als Natur schwankt insbesondere zwischen den kulturellen Leitmotiven der „robusten“ und der „prekären“ Natur. Entweder es geht um wichtige, aber insgesamt bewältigbare gesellschaftliche Anpassungsprozesse, die durch „naturwüchsigen“ Bevölkerungswandel angestoßen werden, letzten Endes aber wieder in ein stationäres Gleichgewicht münden. Oder aber es geht um zwangsläufige, erdbebenartige Verschiebungen und deren massive gesellschaftlichen Folgen. Das Letztere entspricht der malthusianischen Vorstellung einer unausweichlichen Dynamik von Bevölkerungswachstum, Überbevölkerung, Armut und Krieg. Paul und Anne Ehrlichs Bücher über „The Population Bomb“ von 1968 und „The Population Explosion“ von 1990 haben für die Entwicklung der Weltbevölkerung solche Szenarien beschworen

1 Überarbeitete Fassung eines Beitrags, der unter dem Titel „Gesellschaft und Bevölkerung“ erschienen ist in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006, Frankfurt/New York 2008, S. 235–247. 2 Vgl. Douglas, Mary, Typology of Cultures, in: Max Haller/Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hg.), Kultur und Gesellschaft. Verhandlungen des 24. Deutschen Soziologentages, des 11. Österreichischen Soziologentages und des 8. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Zürich 1988, Frankfurt 1989, S. 85–97.

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Karl Ulrich Mayer

und die Entwicklungspolitik über Jahrzehnte bestimmt.3 Wie wir inzwischen wissen, wird die absolute Größe der Weltbevölkerung zwar noch einige Jahrzehnte weiter wachsen, aber mit deutlich abnehmenden Wachstumsraten. Diese Wachstumsraten nehmen tendenziell ab, weil geburteneinschränkende Maßnahmen erfolgreich waren und weil Frauen in Entwicklungsländern ihr Verhalten mit steigender Bildung­sbetei­ ligung ändern. Mit umgekehrten Vorzeichen (Mortalität statt Fertilität) passen die HIV/ AIDS-Epidemie, die ursprünglichen Prognosen über ihre wahrscheinliche Verbreitung und die Vermutungen über ihre verheerenden Folgen in einen Vorstellungsrahmen, in dem Bevölkerungsprozesse die Rolle exogener natürlicher Faktoren spielen, die für die betroffenen Gesellschaften und deren Entwicklung verhängnisvoll werden. Wenn in dieser Perspektive Bevölkerungsprozesse als „Naturtatsachen“ begriffen werden, wird daraus in der Regel abgeleitet, dass es sich um der Gesellschaft äußerliche Bedingungen handelt, die einer Eigendynamik unterliegen und daher nicht planbar, beeinflussbar und steuerbar sind.4 Man kann aber auch umgekehrt einer Perspektive folgen, die als „Gesellschaft der Natur“ zu umschreiben wäre. In welcher Weise ist ein spezifisches Bevölkerungsregime „natürlicher“ Ausdruck und Ausfluss spezifischer Gesellschaftsformationen? In welcher Weise war der „erste demografische Übergang“ in der Sequenz zunächst verminderter Sterberaten und danach sinkender Geburtenraten eine Folge der Industrialisierung und Modernisierung von Gesellschaften? Gibt es einen „zweiten“ demografischen Übergang, der alle entwickelten Länder in ein „Low-Low Birth Rate“-Regime überführt? Mit der Idee von der „Gesellschaft der Natur“ ist dann typischerweise die Vorstellung verknüpft, Bevölkerungsprozesse seien vor allem Ausfluss sozialen Handelns und könnten daher auch planvoll verändert werden. Die Evidenz leitet sich vor allem aus den ganz offensichtlich gesellschaftlich produzierten sinkenden Mortalitätsraten und einer verlängerten Lebensspanne ab. Wenn eine säkulare Verdoppelung der Lebenserwartung Folge teils absichtsvoller, teils unbeabsichtigter gesellschaftlicher Interventionen war, warum sollten dann nicht auch Geburtsraten nicht nur gesellschaftlich bestimmt, sondern auch gesellschaftspolitisch veränderbar sein? Ich will im Folgenden zunächst etwas über den Bezug der Soziologie zum Bevölkerungsthema ausführen und dann am Beispiel der gegenwärtigen Debatte über die Schrumpfung und Alterung der Gesellschaft das zur Zeit im Vormarsch begriffene Paradigma diskutieren, dass die Bevölkerung unser unausweichliches Schicksal sei („Natur der Gesellschaft“).

3 Ehrlich, Paul R., The Population Bomb, New York 1968. Ehrlich, Paul R./Ehrlich, Anne H., The Population Explosion, New York 1990. 4 Vgl. Kaufmann, Franz-Xaver, Schrumpfende Gesellschaft. Vom Bevölkerungsrückgang und seinen Folgen, Frankfurt 2005, S. 116.

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II Bevölkerung in der soziologischen Theorie: ein blinder Fleck Die (deutsche) Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg konnte mit der Eigenart und Dynamik von Populationen wenig anfangen: „Bevölkerung galt in diesem Sinne als etwas Vor-Soziologisches, kategorial Unerschlossenes: Etwas für den Sozialkundeunterricht der Gymnasiasten und Studienanfänger, aber nichts für die Höhen der soziologischen Theorie. Die soziale ‚Morphologie‘ gehört zu den überholten Traditionsbeständen der Disziplin. Dies hat sich in mehrfacher Hinsicht gerächt: als Wirklichkeitsverlust und – implizit – als Verabschiedung von der Gesellschaftspolitik, aber auch als eine selbstverschuldete Eingrenzung des Erklärungshorizontes.“5 Gesellschaftstheorien blenden die Bevölkerung als dynamisches Aggregat von Geburten und Sterbefällen weitgehend aus. Der Strukturfunktionalismus kennt (normbestimmte) Rollen und Positionen, aber wie viele es davon gibt und wie sich ihre Größenordnungen mit welchen Folgen verschieben, kommt kaum in den Blick. Die Systemtheorie entfaltet die Differenzierung von Kommunikationszusammenhängen als vielfältigen Subsystemen, deren Medien und internen Handlungscodes sowie ihren komplexen Verflechtungen: „Im Prinzip ist die Gesellschaft heute von demographischen Vermehrungen und Verminderungen einer Bevölkerung unabhängig.“6 In der luhmannschen Fassung verschwinden sowohl die Individuen auf der Mikroebene als auch die Populationen auf der Makroebene. Der Bevölkerungsdynamik theoretisch am nächsten kam in der Soziologie wahrscheinlich Karl Mannheim in seinem Aufsatz von 1928 über „Das Problem der Generationen“.7 Mannheims Aufsatz hat zwei Stoßrichtungen. Die eine Stoßrichtung befasst sich in einer genialen Analogie zur marxschen Klassentheorie mit einer potenziellen Strukturbildung infolge des Bevölkerungsprozesses, nämlich der von Generationen in der Form von Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit. Die andere Stoßrichtung entfaltet die Konstanz der Abfolge von Geburtskohorten als universaler Bedingung von Innovation. Generationen sind hier potenzielle (und wahrscheinliche) Träger des Kulturwandels. Es ist aber bemerkenswert, dass die relative Größe von Generationen in der mannheimschen Theorie unbeachtet bleibt. Die Dynamik und Sequenz von großen und kleinen Kohorten, von „baby boom“ und „baby bust“ (siehe für Deutschland Abb. 1) wird erst viel später und außerhalb der Soziologie zum Kernstück einer Spezialtheorie sozialen Wandels.8

5 Mayer, Karl Ulrich, Bevölkerungswissenschaft und Soziologie, in: Rainer Mackensen (Hg.): Bevölkerungsentwicklung und Bevölkerungstheorie. Deutsche Gesellschaft für Bevölkerungswissenschaft, 21. Arbeitstagung, Frankfurt 1989, S. 255–280, hier S. 257. 6 Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt 1997, S. 151. Siehe auch Kaufmann 2005 (wie Anm. 4), S. 21. 7 Mannheim, Karl, Das Problem der Generationen, in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie, VII/1928, S. 157–185, S. 309–330. 8 Easterlin, Richard A., Birth and Fortune, New York 1980.

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Karl Ulrich Mayer

3,0

2,5

Neue Länder (einschl. Berlin-Ost)1

2,0

1,5 Deutschland

Früheres Bundesgebiet1 1,0

0,5 1952 1960

1970

1980

1990

2000

2010

2020

2030

2040

2050

Geburtenziffer = Durchschnittliche hypothetische Zahl der lebend geborenen Kinder je Frau. Ab 2007 Annahmen einer annähernden Konstanz aus der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung. 1 Seit 2000 ohne Berlin.

Abbildung 1

Geburtenziffer bis 2050, Kinder je Frau9

Es ist zwar richtig, dass die soziologische Theorie beim Thema Bevölkerung weitgehend kapituliert, allerdings gilt dies vor allem für das Makroverhältnis von Bevölkerung und Gesellschaft. In empirischen Teilbereichen und auf der Mikroebene sieht die Situation zum Teil positiver aus. Dies gilt zum Beispiel für die Stadtsoziologie mit ihren Untersuchungen zur Entleerung und Überbevölkerung von Räumen, zur Überforderung von Infrastruktur und Dienstleistungen, zur Gettobildung, Verslumung und Abwanderung. Die Lebensverlaufsforschung und Sozialdemografie haben erhebliche Fortschritte bei der Analyse der zeitlichen Lagerung von Geburten erzielt, und Handlungstheorien bieten auf der Mikroebene ein Bündel von Erklärungsversuchen für Heirats- und Geburtenverhalten. Trotz dieser immer weiter verfeinerten Beschreibungs- und Erklärungsversuche haben diese methodischen Zugänge aber bislang keine befriedigenden Erklärungen für die internationalen Unterschiede zum Beispiel bei den Geburtenraten und deren Entwicklung zu leisten vermocht. Erklärungen, welche auf der intranationalen Individualebene als leistungsfähig erscheinen, wie zum Beispiel hinsichtlich des Zusammenhangs von Geburtenverhalten und Bildungsbeteiligung beziehungsweise Erwerbsverhalten von Frauen als einer rationalen Handlungslogik von Humankapitalinvestition und -verwertung, scheitern, wenn sie auf internationale Unterschiede und Entwicklungen angewandt werden. 9 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008, S. 21.

Die Folgen des demografischen Wandels

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Auch die Einbeziehung von Institutionen und Infrastrukturen hat die Unterschiede und Entwicklungen von Geburtenraten nur sehr partiell aufklären können. Es ist zwar mehr als plausibel, dass die Ausstattung mit Säuglingskrippen und Kindergärten sowie die täglichen Schulzeiten in Deutschland der Familienbildung abträglich sind, während umgekehrt Verhältnisse wie in Frankreich die Familienbildung fördern. Aber dies kann zum Beispiel nicht erklären, warum in den USA die Geburtenraten trotz viel schlechterer öffentlicher Kinderbetreuungseinrichtungen höher sind und sich auch nicht entsprechend dem Wandel im Bildungs- und Berufsverhalten von Frauen verändert haben.10 Institutionelle Theorien haben es in der Regel schwer, Verhaltensänderungen bei Konstanz des institutionellen Umfeldes zu erklären. Es gibt allerdings eine weitere Verknüpfung zwischen Bevölkerung und Gesellschaft, die ich kurz streifen möchte. Sie kommt zum Ausdruck in der feinsinnig-ironischen Erd- und Blumenbeetplastik von Hans Haacke im Innenhof des Berliner Reichstags.11 In ironischer Paraphrase zu dem über dem Reichstagsportal eingemeißelten „Dem Deutschen Volke“ heißt es bei Haacke „Der Bevölkerung“. Gesellschaft entspricht hier dem Nationalstaat und die Bevölkerung dem Volk als Staats- und Kulturvolk als Wertegemeinschaft. „Bevölkerung“ und „Staatsbürgerpopulation“ fallen auseinander. Es gibt einen in Theorie wie Politik vernachlässigten Zusammenhang zwischen der Offenheit für Zuwanderung einerseits und der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung andererseits. Beide Ziele sind nicht gleichzeitig zu erreichen, da Zuwanderung tendenziell die Solidaritätsgrundlagen des Wohlfahrtsstaates untergräbt. Das Ignorieren von Bevölkerungsprozessen in der soziologischen Theorie und das langjährige Ignorieren der Bevölkerungswissenschaft in der Soziologie ist in mehrfacher Weise folgenreich. Zum einen bleibt (mit Ausnahme von zwischennationalen Wanderungen) unterthematisiert, was zum Bevölkerungswachstum im Dritten Reich und zum Babyboom der fünfziger wie sechziger Jahre und zum überraschenden Geburtenrückgang der letzten Jahrzehnte geführt hat. Wir wären genauso überrascht und theoretisch unvorbereitet, wenn sich ein neuer Babyboom einstellen würde. Allerdings ist die Zurückhaltung der deutschen Soziologie in Sachen Bevölkerung nur allzu verständlich. Die Obsession des Nationalsozialismus für Bevölkerungsfragen ließ ja auch unsere Disziplin nicht unberührt. Nach fünfzig Jahren Abstinenz scheint aber das Pendel nunmehr wieder in die andere Richtung umzuschlagen.

10 Neyer, Gerda, Family Policies in Western Europe: Fertility Policies at the Intersection of Gen­ der, Employment and Care Policies, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 34, H. 1/2005; S. 91–102. 11 Den Hinweis auf die Erdskulptur von Hans Haacke verdanke ich Johannes Behrens und HeinzHerbert Noll.

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Karl Ulrich Mayer

III

Gesellschaftliche Entwicklung als Folge von Bevölkerungsprozessen

„Die ‚demographische Frage‘ als Leitmotiv des 21. Jahrhunderts“ – so überschreibt Franz-Xaver Kaufmann einen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25. September 2006 und fügt hinzu: „Wenn nicht alles täuscht, wird zum mindesten die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts in Europa von Fragen der Alterung und des Rückgangs der Bevölkerung sowie von deren Konsequenzen beherrscht werden. Hierbei spielt Deutschland eine führende Rolle.“12 Franz-Xaver Kaufmanns 2005 erschienenes Buch über die „Schrumpfende Gesellschaft“ ist bereits zum locus classicus zu diesem Thema geworden.13 Dass die Bevölkerungsentwicklung die weitere gesellschaftliche Entwicklung kanalisieren wird, ist zum beherrschenden Paradigma der sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Debatte geworden. Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung infolge niedriger und abnehmender Geburtenraten mit der Konsequenz einer Abnahme der absoluten Größe von Geburtskohorten sowie abnehmende Mortalitätsraten mit der Konsequenz einer durchschnittlich verlängerten Lebensspanne erscheinen als ebenso massive wie langfristige, kaum umkehrbare Entwicklungen (vgl. Abb. 2 und 3).

100

»Mittlere« Bevölkerung, Obergrenze

»Mittlere« Bevölkerung, Untergrenze

80

60 Altenquotient 40

20 Jugendquotient 0 2006

2010

2020

2030

2040

2050

2006

2010

2020

2030

2040

2050

Jugendquotient: unter 20-Jährige je 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren. Altenquotient: 65-Jährige und Ältere je 100 Personen zwischen 20 und 64 Jahren. Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung 2006 sowie ab 2010 der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (»mittlere« Bevölkerung, Unter- und Obergrenze).

Abbildung 2

Entwicklung des Jugend- und Altersquotienten14

12 Kaufmann, Franz-Xaver, Wenn der Nachwuchs ausbleibt und die Gesellschaft schrumpft. Die „demographische Frage“ als Leitmotiv des 21. Jahrhunderts, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.9.2006. 13 Kaufmann 2005 (wie Anm. 4). 14 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008, S. 24.

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»Mittlere« Bevölkerung, Obergrenze 20502

»Mittlere« Bevölkerung, Untergrenze 20502 Männer

Frauen

Männer

Frauen

65 Jahre und älter

22,9 (33%)

23,5 (32%)

20061 16,2 (20%)

20 bis unter 65 Jahre

35,5 (52%)

39,1 (53%)

20061 49,8 (61%)

0 bis unter 20 Jahre

10,4 (15%)

11,4 (15%)

20061 16,3 (20%) 800

600

400

200

0

0

200

400

600

800

800

600

400

200

0 0

200

400

600

800

1 Ergebnisse der Bevölkerungsfortschreibung 2006. 2 Ergebnisse der 11. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung (»mittlere« Bevölkerung Unter- und Obergrenze); animierte Variante unter www.destatis.de.

Abbildung 3

Altersaufbau der Bevölkerung in den Jahren 2006 und 205015

Dieser kaum noch kontroversen Einschätzung liegt eine einfache demografische Einsicht zugrunde. Das Gebärverhalten und selbst die altersspezifische Sterblichkeit können sich – als Verhaltensparameter – durchaus auch kurzfristig verändern. Beispiele dafür sind nicht nur das Ende des Babybooms in den sechziger Jahren, der Auf- und Abschwung der schwedischen Geburtenraten, die Erfolge bei der Reduzierung der Säuglingssterblichkeit (etwa in den USA), die drastisch gesunkene Lebensspanne russischer Männer oder der Geburteneinbruch in Ostdeutschland. Im Gegensatz dazu verhalten sich die Folgen aggregierter Bevölkerungsprozesse wie große Tanker. Die entscheidende Variable ist die Anzahl der Frauen im gebärfähigen Alter als jeweilige Folge früherer altersspezifischer Geburtenraten. Dieser Parameter kann zudem besonders hohen Ausschlägen unterliegen, weil Verhaltensveränderungen oft zu sogenannten demografischen Translationen führen. Wenn Frauen beginnen, früher und mehr Kinder zu bekommen als in den fünfziger und sechziger Jahren, überlagern sich die Geburten mehrerer Mütterkohorten kumulativ. In ähnlicher Weise kumulieren Geburtenausfälle, wenn Frauen beginnen, Geburten aufzuschieben und weniger Kinder zu gebären. Ein hoher oder ein niedriger Wert dieser Makrogröße kann sich dann weitgehend unabhängig von Verhaltensschwankungen über Jahrzehnte wellenförmig fortsetzen.16 Bevölkerungshistoriker haben errechnet, dass für die Erklärung jahrhun15 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hg.), Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2008, S. 23. 16 „Sundts Wellen“, siehe dazu Ohlsson, R., Population Cycles and Demographic Behavior, in: International Encyclopedia of the Social Behavioral Sciences, Amsterdam 2002, S. 11749–11755.

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dertelanger Entwicklungen in der Bevölkerungsgröße dieser Faktor der bei Weitem erklärungskräftigste ist. Arthur Stinchcombe nennt solche Implikationen, die sich aus veränderten Zusammensetzungen von Populationen ergeben, „demografische“ Erklärungen.17 Das Besondere an solchen Erklärungen ist, dass deren Gewicht häufig größer ist und dass ihre Auswirkungen langfristiger sind als Gewicht und Auswirkungen von Verhaltensänderungen (für die sich Soziologen und Mikroökonomen viel eher zuständig fühlen). Da es sich bei Geburtenausfällen und abnehmenden Mortalitätsraten aber um robuste demografische Makrogrößen handelt, sind nicht nur ihre Folgen für die Größe und Zusammensetzung von Populationen quantitativ leicht abschätzbar. Auch die sich daraus im Weiteren ergebenden Konsequenzen für gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen erscheinen berechenbar und durchsichtig. Das ist gerade das Attraktive an einer Perspektive, welche die Populationsdynamik als Grundlage der gesellschaftlichen Entwicklung ernst nimmt. Sie erscheint als eines der wenigen sozialwissenschaftlichen Felder, in denen präzises Wissen und präzise Vorhersagen möglich sind und daher auch der Beitrag der Sozialwissenschaft zur Aufklärung der Öffentlichkeit und zur Politikberatung unumstritten scheint. Man kann die gängigen Aussagen zu den Folgen des demografischen Wandels in einigen zentralen Aussagen zusammenfassen: 1) Die gravierenden unmittelbaren Folgen von verminderter Geburtenneigung und verlängerter Lebenserwartung liegen nicht einfach in einer Schrumpfung der Bevölkerung insgesamt, sondern in einer Schrumpfung zuerst der Zahl der Kinder und Jugendlichen und dann der aktiven Bevölkerung sowie in einer sprunghaften Zunahme der Alten und Hochaltrigen. 2) Die Verwandtschaftsstrukturen verändern sich, die Generationsspanne wird größer. Kinder haben weniger Geschwister, Onkel und Tanten. Großeltern leben zwar länger, haben aber weniger Enkel. 3) Die zunehmende Schieflage von Beitragszahlern und Rentenempfängern führt zu einer Unterfinanzierung der Alterssicherungssysteme und einer massiven Absenkung der Lohnersatzquoten. 4) Mit einem größeren Anteil der alten und hochaltrigen Bevölkerung steigt der Anteil der chronisch und akut Kranken, damit steigen die Kosten der Kranken- und Pflegeversicherungen. 5) Weniger Kinder und weniger junge Erwachsene dämpfen die Konsumnachfrage und gefährden das Wirtschaftswachstum. 6) Alternde und schrumpfende Bevölkerungen haben weniger Humanvermögen, sie sind weniger produktiv und weniger innovativ. 7) Die zunehmende Lebensspanne und die geringeren Alterseinkommen führen zu einer raschen Anhebung des faktischen Ruhestandsalters. 17 Stinchcombe, Arthur, Constructing Social Theories, Chicago 1987.

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8) Die Schrumpfung der Bevölkerung könnte nur durch millionenstarke Zuwanderungen ausgeglichen werden. Die sozialen Kosten und kulturellen Schranken solcher Migrationen sind aber (zu) hoch. Im Übrigen passen sich die Fertilitätsraten von Zuwanderern rasch denen der Einheimischen an und Zuwanderer entlasten die sozialen Sicherungssysteme bestenfalls vorübergehend. Deren niedrigere Qualifikationsausstattung führt zu eher höheren Soziallasten. Solche Ableitungen erscheinen nicht nur stringent, sondern auch quantitativ determiniert, nämlich direkt proportional zu den demografischen Entwicklungen. Tatsächlich sind aber demografische Ableitungen nur innerhalb der engen Grenzen von demografischen Aggregatbeziehungen zwangsläufig. Zwischen Bevölkerungsentwicklung und gesellschaftlichen Entwicklungen gibt es keine starren Beziehungen, sondern hohe Kontingenzen. Und hier ist unter anderem die Soziologie gefordert. Die Bestimmung der relativen Faktorgewichte von demografischen Tendenzen und anderen Entwicklungen sowie von deren Wechselbeziehungen ist freilich sehr viel schwieriger als demografische Simulationen. Wenn dies richtig ist, bedeutet es dann freilich aber auch, dass sich das Ensemble der Politikfelder und Politikinstrumente weit über eine Familien- und Bevölkerungspolitik hinaus erweitert. Dazu nur einige wenige Hinweise: Ohne Zweifel hat das Auf und Ab der Jahrgangsgrößen die Ausbildungssysteme in Deutschland – Schulen, Lehrlingsarbeitsmärkte und Hochschulen – enormen Schwankungen in der Nachfrage nach Ausbildungsplätzen ausgesetzt. Es ist auch richtig, dass in den siebziger Jahren von Georg Picht zu Recht die fehlenden Lehrer (und damit fehlenden Abiturienten und Studenten) unmittelbar aus den Jahrgangsgrößen abgeleitet wurden. Die neuere Bildungsentwicklung ist aber durch Expansionen und Stagnationen gekennzeichnet, die nur in einem geringeren Maße der Bevölkerungsentwicklung zugerechnet werden können. Die Zunahme der Gesundheitskosten verläuft weit überproportional zu dem steigenden Anteil der älteren Bevölkerung. Die relativen Belastungssteigerungen sind darüber hinaus institutionell geprägt. Krankenversicherungssysteme, die über Beiträge der Erwerbstätigen und Arbeitgeber finanziert werden, sind viel stärker betroffen als Systeme, die sich aus Steuerabgaben (und privaten Versicherungen) finanzieren. Ganz ähnlich gilt dies für Alterssicherungssysteme. Die meisten Untersuchungen für die USA zeigen, dass die Anzahl der Lebensjahre ohne chronische Krankheit trotz steigender Lebenserwartung eher fällt als steigt. Hilke Brockmann hat anhand von deutschen Krankenversicherungsdaten sogar nachgewiesen, dass besonders wenig in die Gesundheitskosten Hochaltriger investiert wird.18 Die Anzahl von Geschwistern blieb trotz des Geburtenrückgangs über viele Jahrzehnte bemerkenswert konstant. 18 Brockmann, Hilke, Why is less money spent on health care for the elderly than for the rest of the population? Health care rationing in German hospitals, in: Social Science & Medicine 55(4)/2002, S. 593–608.

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Da Kinder und Ältere mehr konsumieren und investieren als in der Vergangenheit, ist eine Gefährdung der Binnennachfrage vermutlich weniger gravierend als häufig unterstellt. Entscheidend für die potenziellen (negativen) Folgen der Bevölkerungsentwicklung ist daher zum einen, ob sich demografisch bedingte Veränderungen und davon unabhängige gesellschaftliche Entwicklungen verstärken oder konterkarieren, zum anderen, ob die Anpassungsfähigkeit moderner Gesellschaften unter den Bedingungen von Bevölkerungsschrumpfung höher oder geringer ist als in der Vergangenheit. Franz-Xaver Kaufmann vertritt mit Emphase die Position, dass die demografischen Folgewirkungen deshalb so gravierend seien, weil sie andere Tendenzen zumeist noch verstärken. Er weist daher den Kontingenzeinwand als „Verharmlosungsstrategie“ zurück: „Wachsende Anpassungszwänge stoßen im Fall schrumpfender Bevölkerungen auf sinkende Anpassungsfähigkeit.“19 Das ist plausibel, aber auch nicht mehr. Bei den Gesundheitskosten ist das vermutlich der Fall. Bei der mutmaßlichen Gefährdung des Humanvermögens ist das schon weniger sicher. Für das Verhältnis der Nachfrage nach Lehrlingsausbildungsplätzen und Absolventenjahrgängen hat Hillmert zum Beispiel nachgewiesen, dass sich die Chancen auf dem Lehrstellenarbeitsmarkt und dem Arbeitsmarkt nach dem Lehrabschluss sogar invers den Jahrgangsstärken verhalten haben.20 So plausibel und wichtig die demografischen Argumente sind, so sind sie doch bestenfalls Teil eines größeren Erklärungszusammenhanges.21 Es ist darüber hinaus die Frage zu stellen, wie man sich die kausalen Mechanismen vorzustellen hat. Beeinträchtigt eine schrumpfende Bevölkerung zum Beispiel die ökonomische Investitionsbereitschaft, weil verlässliche Daten über eine schrumpfende Nachfrage vorliegen oder weil volkswirtschaftliche „think tanks“ solche Annahmen zur Grundlage ihrer Einschätzungen machen? Sind die negativen Folgen schrumpfender Bevölkerungen Folgen einer „self-fulfilling prophecy“? Was die Frage einer höheren oder geringeren Anpassungselastizität anbelangt, so fehlt ein Scharnier in der üblichen Betrachtungsweise der Interaktion zwischen Populationsdynamik und sozialem Wandel. Das Zwischenstück zwischen den Einzelpersonen oder Einzelhaushalten in der Demografie einerseits und sozialen Systemen und Sozialorganisationen andererseits sind „Stellen“. Stellen kennzeichnen einerseits Positionen bzw. Rollen im Sozialgefüge, wie zum Beispiel bestimmte Berufe, andererseits 19 Kaufmann 2005 (wie Anm. 4), S. 141. 20 Hillmert, Steffen, Berufseinstieg in Krisenzeiten: Ausbildungs- und Arbeitsmarktchancen in den 1980er und 1990er Jahren, in: Steffen Hillmert/Karl Ulrich Mayer (Hg.): Geboren 1964 und 1971, Neuere Untersuchungen zu Ausbildungs- und Berufschancen in Westdeutschland. Wiesbaden 2004, S. 23–38. 21 Mayer, Karl Ulrich, Das Altern der Gesellschaft: Theorie- und methodenkritische Anmerkungen, in: Margaret M. Baltes/Martin Kohli/Karl Sames (Hg.): Erfolgreiches Altern. Bedingungen und Variationen, Bern 1989, S. 67–74.

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erlauben sie eine Antwort auf die Frage, wie viele es davon gibt. Der Denkfehler der Gesellschaftstheorie besteht nun darin, Sozialordnungen nur als Differenzierungen von Sozialkategorien zu denken und dann in dem, was wir üblicherweise „Sozialstrukturanalyse“ nennen, zu fragen, wie viele Personeneinheiten jeweils bestimmten Kategorien zugehören oder Positionen innehaben. Es gibt aber ein personenunabhängiges, quantitatives Moment in der Sozialorganisation, eben Stellen. Beispiele dafür sind unter anderem KVO-berechnete Studienplätze, Ausbildungsplätze für Lehrlinge, Lehrerstellen pro fixierte Schulklassengrößen, Stellenpläne für Beamte, Beförderungsschlüssel für Offiziere. Die Herausbildung einer „Stellengesellschaft“ ist etwas historisch relativ Neues und ein Kennzeichen von weder allein assoziationsmäßig noch allein marktmäßig organisierten Gesellschaften. Die Anzahl von Stellen ist fixiert und begrenzt, und Zugänge sind geregelt. Vor allem aber sind Stellen mit zum Teil hohen Kapitalausstattungen verbunden. Lehrlingsausbildungsplätze kosten zwischen wenigen Hunderten und fast Zehntausend Euro jährlich, Studienplätze schwanken zwischen solchen in der Soziologie und solchen in der Medizin im Verhältnis von über 1 : 10. Die jährlichen Kosten einer Max-PlanckDirektorenstelle in den Naturwissenschaften liegen bei mehreren Millionen Euro. Erst die Tatsache von Stellen macht die Anpassung zwischen Sozialstrukturen und Populationen so problematisch. Es gibt dann typischerweise zu wenige oder zu viele Stellen. Wenn Schulklassengrößen zunehmen, so lässt sich das noch leichter verkraften als eine starke Schwankung in der Nachfrage nach Lehrlingsausbildungsplätzen. Kindergartenplätze lassen sich noch vergleichsweise leichter schaffen als Lehrerstellen (vor allem wenn diese verbeamtet sind). Daraus ergibt sich zum einen, dass die Anpassungselastizität moderner Gesellschaften an Bevölkerungsschwankungen insgesamt eher geringer sein dürfte. Es ergibt sich daraus meines Erachtens aber auch, dass die Anpassungselastizitäten bei raschem Bevölkerungswachstum problematischer sind als bei Bevölkerungsschrumpfung. Fehlen in dem einen Fall Lehrer und Ausbildungsplätze, wird in dem anderen Fall das Betreuungsverhältnis günstiger und Ausbildungsplätze bleiben unbesetzt. Auf alle Fälle ist die Frage, wie sich Bevölkerungsschrumpfung und Alterung der Bevölkerung auf andere gesellschaftliche Teilbereiche auswirken werden, noch weithin terra incognita. Demografische Ableitungen auf der Aggregatebene liefern dafür wichtige Grundlagen, aber eben nur dies.

Heinz Bude

Politik der Emotionen im demografischen Wandel

1. Der demografische Wandel gilt als eine der zentralen Herausforderungen der Gegenwart. Die Daten sprechen eine eindeutige Sprache: Wie auch immer man den Zusammenhang von Lebenserwartungen, Geburtenraten und Wanderungssalden berechnet, aus der Bevölkerungsentwicklung wird sich in absehbarer Zeit keine Pyramide und kein Tannenbaum ergeben. Die Dinge drehen sich in der Weise um, dass eine größer werdende Zahl älterer Menschen auf eine kleiner werdende Zahl jüngerer Menschen angewiesen ist. Und zwar nicht allein bei der Finanzierung der gesetzlichen Rente. Das entsprechende Bild gleicht eher einer Urne. Es ist für das immer wieder ins Auge gefasste Jahr 2050 abzusehen, dass sich im günstigsten Fall die Zahl der nicht mehr erwerbstätigen Älteren, die auf den Schultern der erwerbstätigen Jüngeren stehen, um 75 Prozent erhöhen wird. Wahrscheinlicher aber ist, dass sich ihre Zahl verdoppeln wird. Womöglich noch viel mehr als das. Die Bewältigungsstrategie dieses Problems ist auch klar: Es lässt sich weder durch gezielte Einwanderung noch durch eine merkbare Erhöhung der Geburtenzahlen lösen. Der einzig realistische Weg besteht in einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit. 2. Diese Sachlage ist leicht zu verstehen und griffig zu erläutern. Trotzdem ist die Mobilisierung von Zustimmung zu einer zielführenden Strategie außerordentlich schwierig. Sie verlangt nämlich die Akzentuierung eines altruistischen Motivs, weil die heute Lebenden zusätzliche Belastungen zugunsten der Lebenschancen kommender Generationen hinnehmen müssen. Wenn heute die Rente mit 67 eingeführt wird, haben weder die Rentner noch die im mittleren Alter sich befindenden Erwerbstätigen von heute etwas davon. Denn die Effekte eines solchen Politikwechsels zahlen sich aufgrund der Trägheit der Bevölkerungsdynamik erst sehr viel später aus. Zwar findet man schnell Zustimmung zum Prinzip der Generationengerechtigkeit, aber genauso schnell kommen die Einwände darüber, dass andere für die Fehlentwicklungen der Gegenwart verantwortlich sind. Der demografische Wandel ist nur durch eine Politik moralischer Mehrheiten in unserer Gesellschaft zu bewältigen, die aber die Herausforderung als in irgendeiner Weise lebensbestimmend für sich ansehen müssen. 3. Hier zeigt sich das Dilemma einer Politik des demografischen Wandels. So wichtig das Wissen über die Veränderung der Bevölkerungszusammensetzung ist, so klar ist auch, dass politische Mehrheiten nicht aufgrund von Einsichten in proble-

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Heinz Bude

matische Zustände zustande kommen. Das Wissen muss die Politik begleiten, kann sie aber nicht ersetzen. Das ist der Grund dafür, dass die entsprechenden Stimmen, die schon vor einem Vierteljahrhundert vor den Entwicklungen, die uns heute vor Augen stehen, gewarnt haben, im Nichts verhallt sind. Die Warner von damals können sich heute als die besseren Politiker vorkommen, sie haben aber nichts Nachhaltiges bewirkt. 4. In Fragen, die die unmittelbare Lebenspraxis der Menschen betreffen, kann die Politik sich nicht in Aufklärung erschöpfen. Es braucht außerpolitische Zwänge für einen politisch induzierten Wechsel der Orientierung im Alltag. Das geht in der Regel nur über den Markt. Effektive Verhaltensänderungen müssen mit attraktiven Produkten verbunden werden, die die Menschen auf indirekte Weise zu einem Verhaltenswechsel bringen. Beim Thema des demografischen Wandels bleiben da eigentlich nur bestimmte Versicherungsprodukte, die den Versicherungsnehmern die Aussicht auf bestimmte Privilegien geben. Es handelt sich um das Spiel von individuellen Vorteilsnahmen im Dienste der allgemeinen Sache, wodurch die Frage des Wissens von problematischen Vorgängen in den Hintergrund tritt. Man muss egoistische Motive anreizen, um altruistische Effekte erzielen zu können. Deshalb bewirkt die Politik als Politik allein nichts. Der politische Unternehmer muss sich hinsichtlich eines gewünschten gesellschaftlichen Effekts im Verein mit wirtschaftlichen Unternehmern sehen. Politisch bedeutet das eine Regulierung durch die Setzung von Rahmenbedingungen und Vorteilsermöglichungen. 5. Aber auch das nützt alles nichts, wenn nicht ein drittes Element hinzutritt. Das sind neben dem Wissen und dem Markt die Gefühle. Zustimmung finden Reduktionen von Ansprüchen nur dann, wenn die Menschen sich insgesamt gefühlsmäßig dazu aufgefordert sehen. Erst die Gefühle machen aus den vielen Einzelnen ein Volk, das über sein Leben bestimmen will. Das kann freudig und enthusiastisch oder aufgrund von Angst und Sorge passieren. Beim Enthusiasmus ist man leicht bei der Kriegsbegeisterung und bei der Angst beim Zittern vor der Zukunft. Es braucht offenbar eine Mischung aus Freude und Sorge, die weder zu kollektiver Erregung noch zu kollektiver Depression neigt. 6. Die Politik der Emotionen betrifft am Ende die Performanz des politischen Personals. Es hängt letztlich an plausiblen Figuren, die schmerzliche Einsichten vermitteln können, ohne die Freude an der Zukunft zu nehmen. Das geht meistens nur, wenn sich ein Politiker oder eine Politikerin seiner oder ihrer Generation findet, der oder die die Belange, die sich aus einer besonderen Lagerung im geschichtlichen Geschehen ergeben, zu einem allgemeinen Ziel zu erheben vermag. Die Politik der Demografie verweist so auf eine Politik der Generation.

Matthias Dreyer

Kultur und demografischer Wandel – Auswirkungen und Handlungsansätze

Der demografische Wandel ist eine der dringenden und größten gesellschaftlichen Herausforderungen, die sämtliche sozioökonomischen Felder unserer Gesellschaft betrifft: den Arbeitsmarkt, die Sozialversicherungssysteme, den Wohnungsmarkt – um nur einige Beispiele zu nennen. Alle Akteure der Gesellschaft sind gefragt, mit Lösungskonzepten zum Umgang mit den bevorstehenden Veränderungen beizutragen. Auch der kulturelle Sektor, seine Einrichtungen und Förderer können sich der demografischen Entwicklung nicht entziehen.

1 „Die demografische Herausforderung für die Kultur“ – ein Thema ist angekommen! Die demografische Herausforderung für die Kultur ist mittlerweile sehr präsent, sie ist fast ein „Lieblingsthema“ auf der kulturpolitischen Agenda. Das dokumentieren die zahlreichen Tagungen und Symposien, die sich mit verschiedenen Fragestellungen dieses Wechselverhältnisses auseinandersetzen.1 Es liegen etliche Publikationen zu diesem Thema vor.2 Und auch Ausstellungen und Dokumentationen bestätigen die gestiegene Sensibilität für die Auswirkungen des demografischen Wandels auf Kunst und Kultur.3 Ein anderes Bild zeigt sich beim tatsächlichen Handeln und bei der Umsetzung von Maßnahmen. Der demografischen Herausforderung sehen sich alle Akteure des kulturellen Sektors gegenüber: die Kulturinstitutionen, die Künstler, die Kulturpolitiker, die 1 Siehe zum Beispiel Hausmann, Andrea/Körner, Jana (Hg.): Demografischer Wandel und Kultur: Veränderungen im Kulturangebot und der Kulturnachfrage, Wiesbaden 2009 und Stiftung Niedersachsen (Hg.): „älter – bunter – weniger“ Die demografische Herausforderung an die Kultur, Bielefeld 2006. 2 Siehe zum Beispiel Hippe, Wolfgang/Sievers, Norbert, Kultur und Alter. Kulturangebote im demografischen Wandel, herausgegeben vom NRW KULTURsekretariat Wuppertal, Essen 2006 und Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung und Bauwesen des Landes Nordrhein-Westfalen (ILS NRW) (Hg.): Demografischer Wandel – Konsequenzen für die kulturelle Infrastruktur, Dortmund 2005. 3 Siehe zum Beispiel LAG Soziokultur Niedersachsen (Hg.): Demografie und kulturelle Orte – Mit Soziokultur den Wandel gestalten, Hannover 2010.

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Matthias Dreyer

Kulturförderer und die Kulturverwaltung. Und bei vielen Beteiligten besteht noch ein gewisses Umsetzungsdefizit. Die Fragen zu den Konsequenzen des demografischen Wandels für den kulturellen Sektor und die empfohlenen Strategien und Maßnahmen sind nicht wirklich alle neu. Denn: Es gibt keine „demografiefreie Zeit“. Demografie findet immer statt! Der demografische Wandel ist ein kontinuierlicher Veränderungsprozess unserer Gesellschaft. Angesichts der Schnelligkeit und der Dimension der demografischen Entwicklung gewinnt die Auseinandersetzung mit diesem Thema aber an Brisanz; bekannte Konzepte sind in einem neuen oder zumindest in einem anderen Licht zu betrachten. Die wesentlichen demografischen Eckwerte des berühmten „Älter, Bunter, Weniger“ sind hinlänglich bekannt. Die „Megatrends“ wie zum Beispiel der zur „Unterjüngung unserer Gesellschaft“ mögen beeindrucken. Entscheidend ist der lokale und regionale Bezug der Veränderungen:4 Demografie findet immer vor Ort statt! – In den Gemeinden, Städten und Landkreisen. Und gerade diese Verortung des demografischen Wandels unterstreicht die Herausforderung für kulturelle Einrichtungen. Denn neben Konsequenzen für das Management der einzelnen Kulturinstitutionen müssen sich kulturelle Einrichtungen mit Blick auf die demografischen Veränderungen ihrer sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein – insbesondere in ihrem Umfeld und an ihrem Standort.

2 Kulturnutzer und demografische Trends Es liegt auf der Hand, dass – verändert sich die Bevölkerung eines Landes oder einer Region in ihrer Zahl und Struktur – sich Konsequenzen für die Nachfrage und damit für kulturelle Angebote ergeben.5 Kultureinrichtungen agieren auf Märkten; sie sind darauf angewiesen, dass die Menschen zu ihnen kommen. Die wesentlichen Aussagen zu den demografischen Trends sind hinlänglich bekannt. Ausgewählte Zahlen zum „Älter, Bunter, Weniger“ verdeutlichen die Herausforderung für die Kunst und Kultur.

2.1 „Älter“ Modellrechnungen prognostizieren, dass sich die Zahl der unter 20-Jährigen in den kommenden 40 Jahren von aktuell ca. 17 Millionen auf ca. 10 Millionen im Jahr 2050 4 Dreyer, Matthias, Bildung. Vernetzung. Emotion. Zum Wechselverhältnis von Kultur und demografischem Wandel, in: LAG Soziokultur Niedersachsen (Hg.): Demografie und kulturelle Orte, S. 56–59. 5 Dreyer, Matthias, Angebot und Nachfrage. Wie verändert der demografische Wandel unsere Museen? in: Vera Hennefeld/Ute Marie Metje (Hg.): Demografischer Wandel als Herauforderung für Kultur und ihre Evaluierung. Dokumentation der Frühjahrstagung 2010 des AK Kultur und Kulturpolitik, Hamburg, Saarbrücken 2010, S. 11–15.

Kultur und demografischer Wandel

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fast halbieren wird. Im gleichen Zeitraum wird die Anzahl der über 60-jährigen Menschen dagegen voraussichtlich von gut 18 Millionen auf etwa 28 Millionen steigen.6 Sind die „Älteren“ somit die Zielgruppe der Kultur von morgen? Sind sie der „Schatz im Silbersee“ (so eine häufig anzutreffende Umschreibung)? Fest steht: Infolge der Verschiebung der Altersstruktur werden sich kulturelle Einrichtungen einem veränderten Nachfrageverhalten gegenübersehen. Kulturnutzer verbinden abhängig von ihrem Lebensalter zum Teil verschiedene Bedürfnisse mit dem Besuch einer Aufführung, einer Ausstellung oder auch eines Museums. Dadurch ergeben sich veränderte Anforderungen an das Leistungsangebot der Kultureinrichtungen. Je nach Lebensphase sind zudem die Voraussetzungen, eine Kultureinrichtung oder kulturelle Veranstaltung zu besuchen oder sich aktiv für eine Einrichtung zu engagieren, unterschiedlich ausgeprägt. Zeitbudgets und die Mobilität der Menschen sind bei der Angebotsgestaltung zu berücksichtigen; Überlegungen zu „barrierefreien“ oder „demografiefesten“ Kultureinrichtungen finden in diesem Zusammenhang zunehmend Beachtung.7

2.2 „Bunter“ Eine ähnliche Brisanz folgt für kulturelle Einrichtungen aus der Migration – dem „Bunter“. Die Zuwanderung verändert die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung. Mehr als fünfzehn Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben derzeit in Deutschland. Schätzungen gehen davon aus, dass im Jahr 2040 in der jüngeren Altersgruppe der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund in Ballungsräumen bei über 50 Prozent liegen wird. Von Menschen mit Migrationshintergrund zu sprechen, heißt dabei: Es geht um eine breite ethnische Vielfalt, und nicht nur um Nichtdeutsche. Die Heterogenität dieser Bevölkerungsgruppe ist hoch. Die Augen vor dieser Entwicklung zu verschließen, würde für kulturelle Einrichtungen heißen, einen erheblichen Anteil an erreichbarem Publikum und an Besuchern auszublenden. Der Großteil der deutschen Kultureinrichtungen steht dem noch weitgehend unvorbereitet gegenüber, wie eine Studie des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft belegt, obgleich dieses Thema in der Kultur viel diskutiert wird.8 Aber auch auf der „Gegenseite“ – dem Besucher mit Migrationshintergrund – ist die Annäherung an den kulturellen Sektor noch nicht sehr ausgeprägt. Menschen unterschiedlicher Kulturen treffen auf das Angebot der Museen, Theater, Bibliotheken etc. in Deutschland. Ähnlich wie bei den Konsequenzen aus dem zunehmenden Anteil 6 Birg, Herwig, Dynamik der demographischen Alterung, Bevölkerungsschrumpfung und Zuwanderung in Deutschland. Prognosen und Auswirkungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 20/2003, S. 6–17. 7 Föhl, Patrick S./Erdrich, Stefanie/John, Hartmut/Maaß, Karin (Hg.): Das barrierefreie Museum: Theorie und Praxis einer besseren Zugänglichkeit. Ein Handbuch, Bielefeld 2007. 8 Neumann, Eva, Ethno-Marketing. Kulturelles Kapital von Migranten in Deutschland, in: Stiftung & Sponsoring. Das Magazin für Nonprofit-Management und Marketing 6/2009, S. 24 f.

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älterer Menschen gilt: Die Bevölkerungsgruppe der Migranten verbindet ihre eigenen, zum Teil differenzierten Bedürfnisse mit Kultureinrichtungen. Sie haben sehr unterschiedliche Zugänge zu den kulturellen Institutionen. Wenn hier von Barrierefreiheit gesprochen wird, geht es beispielsweise um Sprache oder um kulturelles Verständnis. Dass sich Institutionen wie Museen, Theater, Bibliotheken einerseits und Migranten andererseits aufeinander zu bewegen, setzt Offenheit voraus und stellt neue Fragen insbesondere an die Vermittlungsarbeit der kulturellen Einrichtungen.

2.3 „Weniger“ Eine weitere demografische Herausforderung für kulturelle Institutionen sind interne Wanderungsbewegungen – mit der Entleerung ganzer Landstriche und Regionen. Diese interne Migration zum Beispiel in den ostdeutschen Bundesländern oder in Südniedersachsen führt zu Überkapazitäten der öffentlichen Infrastruktur, auch bei kulturellen Einrichtungen. Neben dieser regionalen Verschiebung der Bevölkerungsdichte wird die Bevölkerung in Deutschland langfristig gesehen insgesamt schrumpfen. Je nach Geburtenfreudigkeit der Deutschen und dem Umfang der Ein- und Auswanderung wird es einen mehr oder weniger deutlichen Bevölkerungsrückgang geben. Worst-Case-Szenarien gehen von einer Schrumpfung von bis zu einem Drittel bis zum Ende dieses Jahrhunderts aus. Die kulturelle Infrastruktur bewegt sich in vielen Regionen Deutschlands in der Zahl und im Umfang der Angebote auf einem relativ hohen Niveau. Die Zahl der Museen beispielsweise ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Dieser Struktur werden in der Zukunft weniger (potenzielle) Besucher und Nutzer gegenüberstehen. Der bereits heute starke Wettbewerb um Besucher wird für viele Einrichtungen spätestens dann zur Existenzfrage. Der Besucher wird immer mehr zum begehrten Wesen. Bei der Analyse – und der Darstellung – der Auswirkungen der demografischen Veränderungen des „Älter, Bunter, Weniger“ auf die kulturelle Infrastruktur ist jedoch ein differenzierter Blick erforderlich:9 Die demografische Entwicklung weist erstens erhebliche regionale Differenzen auf. Es gibt zum Beispiel deutliche Unterschiede zwischen den west- und ostdeutschen Bundesländern. Situationsanalysen und die Ableitung von Handlungsempfehlungen für den kulturellen Sektor können daher nur in Kenntnis der jeweils spezifischen regionalen Ausgangsbedingungen entwickelt werden. Die Veränderungen ihres Publikums, denen sich die kulturellen Einrichtungen gegenübersehen, haben zweitens einen unterschiedlichen Zeithorizont. Die Überalterung unserer Gesellschaft und die Migration sind bereits gegenwärtig deutlich spürbar. Die beschriebene Schrumpfung der Bevölkerung wird dagegen in den nächsten zwei 9 Dreyer, Matthias, Der demografische Wandel und die Kultur – was haben beide miteinander zu tun? in: Andrea Hausmann/Jana Körner (Hg.): Demografischer Wandel und Kultur: Veränderungen im Kulturangebot und der Kulturnachfrage, Wiesbaden 2009, S. 35–48.

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Jahrzehnten weniger wahrnehmbar sein; danach ist aber von einem zunehmend stärkeren Bevölkerungsrückgang auszugehen. Unabhängig von diesen beiden Anmerkungen gilt aber, dass die skizzierten demografischen Trends die Besucher und das Kulturpublikum verändern werden: im Umfang und in der Zusammensetzung. Traditionelle Publikumsstrukturen und Nachfragepotenziale verändern sich oder brechen weg. Neue (kulturelle) Bedürfnisse entstehen.

3 Konsequenzen für die Akteure des kulturellen Sektors Der kulturelle Sektor kann sich – wie andere gesellschaftliche Bereiche – den demografischen Veränderungen nicht entziehen. Dabei lassen sich unabhängig von der kulturellen Sparte oder dem Standort einer kulturellen Einrichtung drei grundsätzliche Wechselwirkungen bzw. Anforderungen feststellen.

3.1 Grundsätzliche Wechselwirkungen Finanzierung Ein zentraler Punkt ist die Kulturfinanzierung. Die demografische Entwicklung wird den ohnehin schon bestehenden finanziellen Druck auf den kulturellen Sektor erhöhen: indirekt durch einen Rückgang beim relativen Steueraufkommen der öffentlichen Hand, direkt durch geringere Einnahmen infolge sinkender Besuchszahlen. Dem Kulturangebot auf hohem Niveau – als Teil der öffentlichen Infrastruktur – werden schrumpfende Budgets gegenüberstehen.

Kenntnis der Besucher und des Publikums Die zunehmende Alterung, der steigende Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und die interregionalen Wanderungsbewegungen verändern traditionelle Publikumsstrukturen und führen zu Konsequenzen auf der Kulturlandkarte.10 Vertreter der Kulturpolitik und der Kulturinstitutionen müssen eine genaue Vorstellung von ihrem 10 Siehe zum Beispiel für Deutschland Keuchel, Susanne, Auswirkungen des demografischen Wandels auf die künftige kulturelle Teilhabe unserer Gesellschaft. Zum Themenspektrum 50+, Nachwuchspflege und Migration, in: Vera Hennefeld/Ute Marie Metje (Hg.): Demografischer Wandel als Herausforderung für Kultur und ihre Evaluierung. Dokumentation der Frühjahrstagung 2010 des AK Kultur und Kulturpolitik, Hamburg, Saarbrücken 2010, S. 6–10, für die Niederlande Huysmans, Frank, Kultur und demografischer Wandel in den Niederlanden, in: Stiftung Niedersachsen (Hg.): „älter – bunter – weniger“ Die demografische Herausforderung an die Kultur, Bielefeld 2006, S. 175–188, oder für Kanada Jedwab, Jack: Canada’s Art of Diversity: Multiculturalism, Choice and Participation in the Cultural Sector, ebenfalls in: Stiftung Niedersachsen (Hg.): „älter – bunter – weniger“ Die demografische Herausforderung an die Kultur, Bielefeld 2006, S. 189–207.

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(potenziellen) Publikum entwickeln. Zielgruppenkenntnis – erworben beispielsweise durch Besucherbefragungen – sollte schon bisher für die Arbeit von Kultureinrichtungen selbstverständlich sein. Die demografischen Veränderungen verdeutlichen die Notwendigkeit, dass Kultureinrichtungen ihre Zielgruppen und mögliche Veränderungen der Nutzerstrukturen genau kennen sollten.

Bildung Im Zusammenhang mit der demografischen Herausforderung für die Kultur wird immer wieder der zentrale Stellenwert der (kulturellen) Bildung herausgestellt.11 In der Jugend müssen die Grundlagen zur Nutzung kultureller Angebote gelegt werden, damit auch im Erwachsenenalter Menschen für kulturelle Angebote gewonnen werden können. Dies schließt auch Menschen mit Migrationshintergrund ein. Das Potenzial der älteren Kulturnutzer wächst und die Älteren bleiben länger mobil. Das ist gerade für „dezentrale Kulturangebote“ von Vorteil. Gelingt es Kultureinrichtungen aber nicht, den „Nachwuchs“ für sich zu gewinnen, werden sie Probleme haben, in der Zukunft die Nutzerzahlen zu erreichen, die für den Bestand einer Einrichtung notwendig sind. Auch die kulturelle Bildung bzw. Vermittlung sollte – wie die Zielgruppenkenntnis – für Kultureinrichtungen eine Selbstverständlichkeit sein. Durch die demografischen Veränderungen gewinnt dieser Aspekt des kulturellen Angebots zusätzlich an Bedeutung. Neben diesen grundsätzlichen Auswirkungen des demografischen Wandels auf den kulturellen Sektor lassen sich für dessen Akteure – die Kulturpolitik, die kulturellen Institutionen und die Kulturförderer – folgende Konsequenzen ableiten.

3.2 Kulturpolitik Kunst und Kultur sind in Deutschland überwiegend Sache der Länder und Kommunen und sie werden im Wesentlichen aus Steuermitteln finanziert.12 Die angespannte Situation der öffentlichen Haushalte ist bekannt. Durch die sich abzeichnenden demografischen Veränderungen werden sich finanzielle Restriktionen verstärken. Notwendig ist deshalb eine „strategisch ausgerichtete Politik im kulturellen Sektor“.13 Gerade bei der Verteilung kultureller Angebote zwischen den ländlichen Regionen und den Zentren werden sich zukünftig Fragen nach Schließungen stellen. Nicht alles in Kunst und Kultur ist planbar – und sollte es auch nicht sein. Die Kulturpolitik muss sich angesichts 11 Keuchel, Susanne/Wiesand, Andreas J./Zentrum für Kulturforschung (Hg.): Das 1. Jugend-KulturBarometer. „Zwischen Eminem und Picasso …“, Bonn 2006. 12 Hetmeier, Heinz-Werner/Wilhelm, Rainer, Struktur und Entwicklung der öffentlichen Kulturfinanzierung auf kommunaler Ebene, in: Hans Brinckmann/Reinhart Richter (Hg.): Die Stadt von der Kultur her denken – die Kultur von der Stadt her denken. Strategische Kulturpolitik als Element strategischer Kommunalpolitik, Rehburg-Loccum 2006, S. 157–166. 13 Brinckmann/Richter 2006 (wie Anm. 12).

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der anstehenden Veränderungen aber mehr denn je über ihre Zielrichtung und Förderschwerpunkte im Klaren sein.14

3.3 Kultureinrichtungen Der beschriebene Wettbewerb der Kulturanbieter um die Kulturnutzer, um ihre Aufmerksamkeit, um ihre Zeit und auch um ihre Mittel ist bereits aktuell ein anspruchsvolles Unterfangen. Durch den demografischen Wandel wird sich die Konkurrenz verschärfen. Ein Aspekt, der deshalb für Kultureinrichtungen an Bedeutung gewinnt, ist die Kundenbindung.15 In diesem Zusammenhang sind insbesondere das Kulturmanagement und das Kulturmarketing gefordert: • Ein Ansatz ist die lebensphasenorientierte Nutzerbindung: Museen, Theater oder Bibliotheken müssen ihre potenziellen Besucher ausgerichtet an ihren Lebensphasen ansprechen und sie durch die verschiedenen Lebensphasen begleiten.16 • Ein zweiter Aspekt ist, dass die Verbundenheit zur Kultureinrichtung möglichst frühzeitig aufgebaut werden muss. Das „Lust machen auf Kultur“ bereits in jungen Jahren ist für alle Kulturinstitutionen eine rentierliche Investition.17 • Drittens sollte die Zielgruppenansprache in möglichst direkter Form erfolgen: Je direkter und individueller Besucher angesprochen werden, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Publikum einer Einrichtung treu bleibt. • Eine stärkere partizipative Ausrichtung der Kultur mit der Einbindung von Bürgern und des Publikums bei Planungs- und Entscheidungsprozessen im kulturpolitischen Kontext ist ein vierter Aspekt mit Blick auf eine engere und kontinuierliche Nutzer­ bindung.18 • Ein fünfter Punkt ist schließlich die emotionale Ansprache der Kulturnutzer: Verbundenheit lässt sich nicht nur über die ausschließliche Vermittlung kognitiver Inhalte

14 Sievers, Norbert, Herausforderungen und Handlungsoptionen für die Kulturpolitik angesichts des demografischen Wandels, in: Andrea Hausmann/Jana Körner (Hg.): Demografischer Wandel und Kultur: Veränderungen im Kulturangebot und der Kulturnachfrage, Wiesbaden 2009, S. 51–70. 15 Klein, Armin, Der Nicht-Besucher. Wer ist er und wie kann er für Kunst und Kultur gewonnen werden, in: Handbuch Kultur-Management, Stuttgart 2002, D 2.9. 16 Dreyer, Matthias/Wiese, Rolf, Demographischer Wandel und die Folgen für Museen, in: dies. (Hg.): Zielgruppen von Museen: Mit Erfolg erkennen, ansprechen und binden, Rosengarten-Ehestorf 2004, S. 163–180. 17 Reinig, Margot, „Kinder sind unsere Gegenwart!“ Kinder als Zielgruppe von Museen, in: Matthias Dreyer/Rolf Wiese (Hg.): Zielgruppen von Museen: Mit Erfolg erkennen, ansprechen und binden, Rosengarten-Ehestorf 2004, S. 137–144. 18 Föhl, Patrick S., Gesellschaftliche Mitwirkung und Teilhabe bei Planungs- und Entscheidungsprozessen: Governance-Aspekte einer zeitgemäßen Museumspolitik, in: Matthias Dreyer/Rolf Wiese (Hg.): Das offene Museum. Rolle und Chancen von Museen in der Bürgergesellschaft, RosengartenEhestorf 2010, S. 123–146.

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erreichen. Der individuelle Bezug zu einer Kulturinstitution entsteht hauptsächlich auf der emotionalen Ebene. Und auch für die Rolle als Arbeitgeber sind die demografischen Veränderungen für Kultureinrichtungen von Relevanz: Der Wettbewerb um qualifizierte und motivierte Arbeitskräfte wird für kulturelle Institutionen – wie für andere Unternehmen – eine Herausforderung werden. Mit Blick auf die Verantwortung bei der Migration und Integration ist zudem zu hinterfragen, ob die Einbindung von Mitarbeitern mit Migrationshintergrund ein Aspekt zukünftiger personalpolitischer Maßnahmen bzw. Konzepte der Personalentwicklung ist, der stärkere Berücksichtigung finden muss. Schließlich erweitern die demografischen Veränderungen die Möglichkeiten für bürgerschaftliches bzw. ehrenamtliches Engagement. Der zunehmende Anteil älterer Menschen beispielsweise bietet Engagementpotenziale, die aufseiten der Kultureinrichtungen eine weitere Professionalisierung beim Einsatz und der Betreuung der Ehrenamtlichen voraussetzen.19

3.4 Kulturförderer Die Frage nach den Auswirkungen der demografischen Veränderungen stellt sich auch für nichtstaatliche Kulturförderer. Zum einen können Projekte mit direktem inhaltlichen Bezug zum demografischen Wandel gefördert werden. Hierzu zählen beispielsweise kulturelle Vorhaben, die sich dem Thema Integration widmen, oder Angebote, die intergenerative Aspekte aufgreifen. Durch Projektunterstützungen wird für das Thema sensibilisiert, der Erkenntnisstand verbessert und es werden Lösungsansätze ermöglicht. Zum anderen betreffen die demografischen Veränderungen die Entscheidungen, bei denen es um die Schaffung oder den Erhalt kultureller Strukturen geht. Auch Kulturförderer müssen die demografische Komponente in ihre Bewertungen einfließen lassen. Das gilt für die Errichtung oder Erweiterung der kulturellen Infrastruktur genauso wie für die „laufende Bespielung“ vorhandener Einrichtungen. Es ist schwer zu rechtfertigen, mit knappen Ressourcen dauerhafte Strukturen zu schaffen oder aufrechtzuerhalten, für die zukünftig keine Nachfragepotenziale (mehr) bestehen werden. Kulturfördernde Einrichtungen stehen bei dieser Frage in der Regel erst am Anfang. Informations- und Wissenslücken müssen geschlossen und die eigene Position muss formuliert werden. Eines können private Kulturförderer in diesem Zusammenhang aber nicht leisten: an die Stelle der öffentlichen Hand treten. Sie können nur eine ergänzende Funktion in der Kulturförderung wahrnehmen. Die kulturpolitische Schwerpunktsetzung eines Landes – auch beispielsweise bei der Verteilung kultureller Angebote zwischen der Fläche und den Zentren – zählt zu den originären Aufgaben öffentlicher Kulturpolitik.

19 Dreyer/Wiese 2010 (wie Anm. 18).

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4 Entwicklung der kulturellen Infrastruktur im Kontext demografischer Veränderungen Kulturanbieter, Kunstförderer und Kulturpolitik agieren in Strukturen, die über Jahre gewachsen sind. Zum Teil wurden sie durch gezielte Entscheidungen geprägt; zum Teil sind sie das Resultat künstlerischer Entwicklungen. Wie kann und sollte auf kulturpolitischer Ebene mit den veränderten Rahmenbedingungen infolge des demografischen Wandels umgegangen werden? Welche Handlungsansätze bestehen für die Weiterentwicklung der kulturellen Infrastruktur? Folgender Entscheidungsrahmen mit vier grundsätzlichen Ausrichtungen, zwischen denen sich die Akteure des kulturellen Sektors bewegen, lässt sich systematisieren:

Ausbau versus Abbau Die erste Ausrichtung unterscheidet zwischen der gezielten Erweiterung und der Reduzierung der kulturellen Infrastruktur. Relevante Fragen in diesem Kontext sind: Können mit kulturellen Angeboten einer Region und deren bewusstem Ausbau demografische Trends, zum Beispiel die Abwanderung von Bevölkerung oder die Integrationsproblematik, abgemildert, gestoppt oder gar umgekehrt werden? Sind angesichts der demografischen Prognosen nicht gerade antizipierende Investitionen in den Kulturbereich erforderlich, die beispielsweise Entleerungstendenzen von Regionen vermeiden helfen? Dies wäre eine Erweiterung der Diskussion zur Kultur als „weichem“ Standortfaktor um eine demografische Komponente. Die Wirkung kultureller Angebote auf die demografische Entwicklung eines Standortes ist jedoch kaum nachweisbar. Kausalitäten sind nicht beziehungsweise nur schwer zu belegen. Kulturinstitutionen können mit ihren Leistungen zur Erreichung der genannten Ziele beitragen – dies aber in der Regel nur im Zusammenwirken mit Partnern anderer Bereiche wie zum Beispiel dem Bildungswesen oder dem sozialen Sektor. Vermeintlich einfacher ist dagegen die Entscheidung über die Konsolidierung kultureller Strukturen auf der Grundlage zurückgehender Besuchs- und Nutzerzahlen oder fehlender Ressourcen. Dieses Vorgehen kennzeichnet einen reaktiven Politikansatz, der für die Gestaltung kultureller Strukturen allein aber nicht ausreichen dürfte. Beide Überlegungen haben in der kulturpolitischen Ausrichtung eines Landes oder einer Region ihre Berechtigung.20 Wichtig ist, dass die Prioritätensetzung frühzeitig geklärt wird: Welche Stärken sollen ausgebaut und in welchen kulturellen Feldern können durch Konsolidierung Mittel für andere Verwendungen freigesetzt werden? 20 Neisener, Iken, Von der Kulturentwicklungsplanung zur „Kulturabwicklungsplanung“? – Kulturelle Planungen im Kontext des demografischen Wandels, in: Andrea Hausmann/Jana Körner (Hg.): Demografischer Wandel und Kultur: Veränderungen im Kulturangebot und der Kulturnachfrage, Wiesbaden 2009, S. 83–106.

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Wettbewerb versus Kooperation Die zweite Strategie bewegt sich zwischen einer wettbewerbsorientierten und einer kooperativen Ausrichtung. Die Konkurrenz von Kultureinrichtungen um schrumpfende öffentliche und private Fördertöpfe und um das „begehrte Wesen Kulturnutzer“ könnte stärker dem Wettbewerb überlassen werden. Die Alternative wäre die Intensivierung kooperativer Ansätze, mit denen die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen (regionalen) Standorten und den kulturellen Sparten gefördert würde. Beide Ausrichtungen können nebeneinander bestehen. Kooperationen sind in der Vergangenheit umgesetzt worden. Der Zusammenschluss von Theatern, Ausstellungsverbünde, die Zusammenarbeit bei der Öffentlichkeitsarbeit und der Vermarktung kultureller Angebote sind nicht neu.21 Sie werden angesichts der demografischen Veränderungen noch an Bedeutung gewinnen. Es wird zunehmend um Partnerschaften gehen, in denen Konzepte zusammen entwickelt und vor allem Ressourcen gebündelt werden. Erfolgreiche Kooperationen setzen dabei Partner auf Augenhöhe voraus, die jeweils eigene Kompetenzen einbringen.

Grundversorgung versus Nischenangebot Die „kulturelle Grundversorgung“ ist ein viel diskutiertes Thema. Dies schließt auch die Frage ein, ob in der Fläche ein umfassendes kulturelles Angebot vorgehalten werden kann. Alternativ geht es darum, Nischenangebote zu kreieren und sich auf enge inhaltliche Schwerpunktsetzungen zu beschränken. Ein Problem kultureller Nischenangebote kann sein, dass sich diese von der Bevölkerung vor Ort „abkoppeln“. Gerade die „Verankerung“ kultureller Einrichtungen an ihrem Standort erhält aber zunehmend Gewicht für deren Existenz. „Nische“ und „Multifunktionalität“ von Kultureinrichtungen stehen nicht im Widerspruch zueinander. Ein Kunstverein – der eher einen begrenzten Anteil von Kulturnutzern anspricht – hat zum Beispiel Möglichkeiten, sein Nutzerspektrum mit entsprechenden Angeboten zu erweitern und seine Präsenz und Etablierung vor Ort zu stärken.

Institutionalisierung versus Flexibilisierung Mit neuen Kulturinstitutionen und Strukturen geht häufig der Anspruch von Dauerhaftigkeit einher. Kultur benötigt einen institutionellen und organisatorischen Rahmen. Problematisch wird es, wenn der Großteil knapper Fördermittel nur noch zum Erhalt 21 Föhl, Patrick S., Potenziale von Kooperationen als Präventiv- und Anpassungsstrategie zur Gestaltung des demografischen Wandels im Kulturbereich, in: Andrea Hausmann/Jana Körner (Hg.): Demografischer Wandel und Kultur: Veränderungen im Kulturangebot und der Kulturnachfrage, Wiesbaden 2009, S. 203–227.

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bestehender Strukturen eingesetzt wird, ein gewisser Grad an „Überinstitutionalisierung“ entsteht und kein Spielraum für neue Entwicklungen verbleibt. Gerade Projekte und Ansätze, die sich mit den verschiedenen Facetten des demografischen Wandels auseinandersetzen und bei denen verschiedene Kultursparten zusammenarbeiten, haben oftmals temporären Charakter. Zu überlegen ist, ob bei der Aufteilung von Fördermitteln insbesondere in Flächenländern der Aspekt der Flexibilität größeres Gewicht erhalten sollte und verstärkt Projekte gefördert werden, die sich in einer Region nur für eine begrenzte Zeit einem bestimmten Inhalt widmen. Auch mit einem solchen Vorgehen könnte Kontinuität gewährleistet werden – bezogen auf die angesprochenen Besuchergruppen, auf die behandelten Themen und auf die Kulturschaffenden selbst.

5 Demografischer Wandel – Chance für die Kultur! Zur Entwicklung der kulturellen Infrastruktur vor dem Hintergrund der demografischen Veränderung ist keine allgemeingültige Aussage möglich. Es gibt auch nicht den Königsweg zur Bewältigung der bevorstehenden Herausforderungen. Zu unterschiedlich sind die demografischen Ausprägungen in den Regionen und zu verschieden sind die bestehenden kulturellen Angebote und strukturellen Rahmenbedingungen. Das „Älter, Bunter, Weniger“ lässt sich aber nicht umkehren und trifft den kulturellen Sektor ebenso wie andere gesellschaftliche Bereiche. Die Veränderungen werden auch zu Verteilungsfragen innerhalb der Kulturstandorte und der bestehenden Strukturen führen. Die Kultureinrichtungen müssen sich deshalb mit den Veränderungen auseinandersetzen und diese hinsichtlich der Konsequenzen analysieren – das schließt Chancen ein. So gravierend die demografischen Veränderungen aber sein mögen: Die Grundbedürfnisse, die Menschen mit Kunst und Kultur verbinden, bleiben unabhängig von der demografischen Entwicklung gleich, zum Beispiel der Wunsch, etwas zu lernen, oder die Suche nach Rekreation und sozialem Austausch. Ebenso werden grundsätzliche Aufgaben der kulturellen Einrichtungen trotz aller demografischen Veränderungen Bestand haben, wie etwa das Sammeln, Bewahren, Forschen, Präsentieren und Vermitteln durch Museen oder die Leseförderung in Bibliotheken. Kunst und Kultur sollten die demografischen Trends als Chance begreifen! Dies bedarf vor allem der Weiterentwicklung der Nutzerorientierung der Kultureinrichtungen. Die Ausrichtung von Angeboten an den demografischen Veränderungen bedeutet aber nicht, die verschiedenen Nutzergruppen in den Museen, Theatern, Bibliotheken separat voneinander zu betreuen. Kulturelle Einrichtungen haben die Möglichkeit, Menschen zusammenzuführen, alte und junge Menschen oder Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft. Dieser Raum für intergenerative oder interkulturelle bzw. integrierende Ansätze sollte genutzt werden. Dabei ist zu berücksichtigen: Das Thema „Demografischer Wandel“ und die Maßnahmen dürfen kein hastig abgearbeiteter Dis-

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kussionspunkt sein. Wesentlicher Erfolgsfaktor für Maßnahmen zur Bewältigung der Herausforderungen der demografischen Entwicklung ist Kontinuität.

Eine Kultur der Eigeninitiative als Problemlösung Interview mit Kurt Biedenkopf (geführt von Karl-Siegbert Rehberg am 30. September 2010)

Vorbemerkung Ob Kultur als Chance in Zeiten demografischen Wandels aufgefasst werden könne, war am 14. Mai 2009 auch das Thema eines Abendgespräches im Rahmen der Tagung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden zwischen dem früheren sächsischen Ministerpräsidenten Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Kurt Biedenkopf und dem in Kassel und Hamburg lehrenden und forschenden Soziologen Prof. Dr. Heinz Bude (das von Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg moderiert wurde). Ein Ausgangspunkt war dort Biedenkopfs frühe Aufmerksamkeit für die demografischen Veränderungen. Das hatte auch Konsequenzen für sein politisches Wirken in Sachsen. Zu erinnern ist an die von ihm eingesetzte Expertenkommission „Demografischer Wandel Sachsen“, die unter der Leitung von Marcel Thum tagte, an die 1996 gemeinsam mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber einberufene Zukunftskommission, die das Demografie-Thema vor allem unter dem Gesichtspunkt des Arbeitsmarktes erörtert hat, sowie an die vom Sächsischen Landtag 2004 beauftragte Enquete-Kommission „Demografische Entwicklung“. Alle diese offiziellen Untersuchungen waren auf „Kultur“ allerdings nicht eigens eingegangen. Kurt Biedenkopf machte schon damals deutlich, dass für ihn die Bewältigung der Zukunft nicht in erster Linie in der Garantie kultureller Angebote liege (vielleicht auch, weil das in seiner Regierung – vor allem vom damaligen Minister für Wissenschaft und Kunst, Hans Joachim Meyer – entwickelte Kulturraumgesetz gerade dafür ohnehin eine gute Basis geschaffen hatte). Ihm kommt es mehr darauf an, eine neue „Kultur“ der Selbstorganisation und Eigeninitiative zu fordern, von der allein eine innovative und erfolgreiche Krisenbewältigung zu erwarten sei. Das führte er bereits in seinem Buch „Die Ausbeutung der Enkel“ (Berlin 2006) aus und er hat dazu auch eine neue Publikation „Wir haben die Wahl: Freiheit oder Vater Staat“ (Berlin 2011) vorgelegt.

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Interview mit Kurt Biedenkopf

Interview Demografische Voraussetzungen Karl-Siegbert Rehberg: Anders als die meisten Politikerinnen und Politiker haben Sie bereits sehr früh auf die mit den demografischen Veränderungen verbundenen Pro­ bleme hingewiesen. Damals war die Thematisierung der erwartbaren Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik noch mit einem Tabu belegt, wie es nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus auch für andere Themen und Begriffe galt, etwa den der Gemeinschaft oder der Nation. Wissenschaftlich schien die demografische Forschung, vor allem in der Soziologie und Politikwissenschaft, zu eng mit der nationalsozialistischen Bevölkerungswissenschaft und den mit ihr verbundenen verbrecherischen Großprojekten verknüpft zu sein. Wenn ich recht sehe, haben Sie die künftige Entwicklung vor allem im Kontext der Rentenproblematik erörtert. Kurt Biedenkopf: Das geschah seit der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, um es genau zu sagen. Rehberg: Sie haben diese vorausschauende Fragestellung zusammen mit Meinhard Miegel entwickelt. Biedenkopf: Ich habe sie 1978 entwickelt und wir haben sie bis heute vorangetrieben. Rehberg: Die Fragestellung des vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden veranstalteten Kongresses und des daraus hervorgegangenen Buches bezieht sich auf die Rolle der Kultur in diesem Zusammenhang. Aber um das genauer erörtern zu können, müssen wir zuerst über die demografischen Entwicklungsprognosen sprechen. Biedenkopf: Es sind keine Prognosen mehr, es handelt sich inzwischen um Wirklichkeiten. Rehberg: Das gilt gewiss für bestimmte Zeiträume und deren Berechenbarkeit, aber es gibt darin doch sehr wohl immer auch prognostische Elemente im Sinne langfristiger Hoffnungen und Befürchtungen. Biedenkopf: Der Bereich der Bevölkerungsentwicklung ist der einzige, für den man mit größerer Verlässlichkeit langfristige Prognosen formulieren kann. Darauf beruht das ganze Lebensversicherungssystem. Denken Sie nur an die steigende Lebenserwartung. Ärzte können uns auf der Grundlage der Sterbetafeln bei einem bestimmten Gesundheitszustand unsere wahrscheinliche Lebenserwartung statistisch voraussagen. Die jetzige Problematik erwächst aber freilich nicht aus der Prognosegenauigkeit, sondern in

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erster Linie aus dem Zusammentreffen zweier Entwicklungen: der Verlängerung der Lebenserwartung und dem Sinken der Geburtenrate. Die geburtenstarken Jahrgänge haben 30 Prozent weniger Kinder großgezogen und sie werden, bei der heutigen Geburtenrate, 45 Prozent weniger Enkel haben als meine Generation. Wenn sich das Reproduktionsverhalten nicht ändert, wird es deshalb zu einer nachhaltigen Verringerung des Nachwuchses kommen. Gleichzeitig wird die Bevölkerung immer älter; die Lebenserwartung steigt jährlich um sieben Wochen. Das heißt, es öffnet sich eine Schere, die alle wesentlichen Entwicklungen der Gesamtbevölkerung und damit der ganzen Gesellschaft betrifft – keineswegs nur die Alterssicherung. Um die Folgen dieser Entwicklung zu bewältigen, bedarf es enormer Anstrengungen. Denn unsere Denkbesitzstände lassen sich am schwierigsten verändern, in der Regel nur unter dem Druck von Krisen. Hier liegt das eigentlich kulturelle, aber auch politische Problem: ob es uns gelingen wird, die notwendigen Veränderungen ohne tief gehende Krisen zustande zu bringen. Es ist interessant, dass die Diskussion über die demografische Entwicklung erst seit der Jahrtausendwende zunehmend intensiver geführt wird. Dadurch entsteht langsam ein Problembewusstsein. Es trifft jedoch auf jahrzehntelang gefestigte sozialpolitische Strukturen. Alle betroffenen organisierten Leistungsbereiche, wie die gesetzliche Rente, die gesetzlichen Krankenkassen, die staatliche Pflegeversicherung und der Arbeitsmarkt, sind zentralistisch organisiert und deshalb weder wettbewerbsorientiert noch anpassungsfähig. Es sind Organisationen, die um ihren Einfluss und um ihre Macht kämpfen. Es geht, mit anderen Worten, um Machtfragen. Die Bereitschaft, die richtigen Fragen zu stellen, ist inzwischen zweifellos vorhanden. Das war in den 1990er Jahren noch nicht der Fall. So konnte ich zum Beispiel als Ministerpräsident durchsetzen, dass auf einem kleinen CDU-Parteitag 1998 ein Streitgespräch über die Rentenreform zwischen Norbert Blüm und mir stattfand. Helmut Kohl saß mit auf dem Podium und achtete unter anderem darauf, dass die Delegierten richtig abstimmen. Bei der Abstimmung fand meine Position keine Mehrheit. Aber nach dem Streitgespräch kamen zahlreiche Delegierte auf mich zu und sagten, sie hätten sich nicht getraut, mir zuzustimmen. Die damals unterdrückte Debatte ist inzwischen aufgebrochen. Jetzt besteht die Gefahr, dass man unter dem Druck der Entwicklung unüberlegte Entscheidungen trifft und der Grundhaltung der Bevölkerung entgegenkommt, die schon seit den 1950er Jahren im Westen und heute in ganz Deutschland mehrheitlich der Auffassung ist, vor allem der Staat müsse die entstandenen Probleme lösen. Rehberg: Das ist nun die sehr deutsche Tradition der sozialstaatlichen Regulierung der kapitalistischen Entwicklung. Biedenkopf: Die Ursachen reichen wesentlich tiefer und wurzeln eher in der durch den feudalen und paternalistischen Staat geprägten kontinentaleuropäischen Einstellung

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Interview mit Kurt Biedenkopf

zum Verhältnis von Staat und Untertan, die sich von der kulturellen Einstellung der Angelsachsen stark unterscheidet. Diese Einstellung hat dann auch das Verhältnis von Fabrikant und Arbeiter bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. Rehberg: Das stimmt, jedoch ist in Deutschland dieses sozialpolitische Denken seit dem 19. Jahrhundert in besonderer Weise verankert. Ich möchte jedoch noch einmal auf die Treffsicherheit von demografischen Prognosen zurückkommen: Es ist auffallend, dass das Reproduktionsverhalten oft linear weiter geschrieben wird. Nun ist aber gerade dies kein Naturgesetz. Biedenkopf: Sicher nicht – aber doch Ausdruck einer nachhaltig wirkenden Einstellung. Rehberg: Beispielsweise gibt es reiche Gesellschaften mit hoher Frauenerwerbstätigkeit, die zugleich höhere Geburtenraten aufweisen. Demgegenüber weist eine traditionalistischere Gesellschaft wie etwa Italien eine dramatisch niedrige Geburtenrate auf, Frankreich hingegen eine deutlich höhere. So spielen also kulturelle und politische Faktoren wohl doch eine wichtige Rolle. Biedenkopf: Was unserer Familienpolitik leider weitgehend verborgen geblieben ist. Wie gesagt, die Lebenserwartung kann man, zumindest sofern man Pandemien oder Ähnliches ausschließt, relativ gut prognostizieren. Die Geburtenrate hingegen lässt sich, jedenfalls über längere Zeiträume, weniger verlässlich vorhersagen. Sicher ist es auch möglich, dass die jetzt nachwachsende Generation, also die bis 30-Jährigen, eine andere Haltung einnehmen könnte. Statt Kinder gegen ökonomischen Wohlstand abzuwägen, scheinen sie stärker auf die Familie, die kleinen Lebenskreise und auf Geborgenheit ausgerichtet zu sein. Denn sie müssen feststellen, dass der Staat seine Sicherheitsversprechen nicht halten kann. Andererseits lehrt die bisherige Entwicklung, dass die Geburtenraten in wohlhabenden Gesellschaften zurückgehen. Aber selbst wenn die Geburtenrate in der Generation meiner Enkel steigen würde – etwa auf zwei Prozent –, wären die Wirkungen erst in dreißig bis vierzig Jahren spürbar. Rehberg: Ja, das ist richtig. Nun sollten wir vor diesem Hintergrund über Sachsen und über die Sonderprobleme der neuen Bundesländer sprechen. Nach 1990 war eine kontinuierliche Halbierung – gewissermaßen ein Zusammenbruch – der Geburtenrate zu verzeichnen. In vielen Bereichen lässt sich eine Abwanderung aus dem Osten beobachten. Zwar ist die Zuwanderung auch ein wichtiger Faktor, aber auch hier gibt es einen Abwanderungsüberschuss. Die wirkliche Bevölkerungsverminderung aber geht auf die sinkenden Geburtenzahlen zurück. Zudem gibt es eine enorme Verzerrung zwischen Stadt und Land, die Zuwanderung ist vor allem ein Plus für Zentren wie Jena, Dresden, den Berliner Ballungsraum etc.

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Biedenkopf: Das ist aber auch ein westdeutsches Problem. Rehberg: Ja, das ist tendenziell in allen industrialisierten Gesellschaften so. Aber wie sehen Sie das für Sachsen? Biedenkopf: Unmittelbar nach der Wiedervereinigung haben die ostdeutschen Frauen ihr Verhalten dem der westdeutschen angeglichen. Das durchschnittliche Alter bei der Erstgeburt stieg von 21 auf 27 Jahre. Das führte dazu, dass die Reproduktionsrate in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung auf unter eins fiel; mit schwerwiegenden Folgen, etwa für die Grundschulen. Inzwischen haben sich die Geburtenraten im Westen und im Osten einander weitgehend angenähert. Derzeit ist sogar zu beobachten, dass die Geburtenrate wieder leicht steigt. Man darf jetzt allerdings nicht erwarten, dass sich mit dieser Entwicklung die demografischen Probleme sozusagen „von allein“ lösen werden. Vielmehr sollte alles dafür getan werden, ein politisches, geistiges und kulturelles Klima zu schaffen, das die Bereitschaft der Jüngeren unterstützt, sich und ihre Lebensziele nicht in erster Linie ökonomisch zu definieren. Dafür ist es wichtig, die kommunale Ebene zu reaktivieren und zu beleben. Denn ein wesentlicher Teil der in diesem Kontext relevanten Entscheidungen wird nicht auf Bundesebene getroffen. Die Menschen leben nicht im Staat, sie leben in der Stadt. Dort definiert sich ihr Lebensumfeld. Werden unsere Städte jedoch vorwiegend als administrative Verlängerungen der Länder gesehen – am Zügel staatlicher Finanzierung –, dann können sie ihrer Verantwortung den Bürgern gegenüber nicht mehr nachkommen. Es geht deshalb nicht nur um die Förderung der ökonomischen Strukturen. Es geht auch um die kulturellen und geistigen Entwicklungen „vor Ort“, um die Stärkung dezentraler Strukturen und der kleinen Lebenskreise, kurz um ihre Befestigung und nachhaltige Unterstützung. Nicht zuletzt deshalb, weil unserem Wirtschaftswachstum zunehmend engere Grenzen gesetzt sein werden. Wir werden uns darauf einstellen müssen, dass die verteilbaren Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts in Zukunft kaum noch wachsen werden. Der zweite Trend der demografischen Entwicklung zeigt sich im Altern der Gesellschaft. Wir sollten uns in den kommenden Jahren vor allem damit befassen und mit den Folgen auseinandersetzen. Die demografische Struktur Deutschlands wird sich nachhaltig verändern, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Die Generation der zwischen 1950 und 1970 Geborenen stellt derzeit den wesentlichen Teil der aktiven Arbeitsbevölkerung und besetzt die wesentlichen Spitzenpositionen in unserem Land. Die meisten Führungskräfte sind sich nicht darüber im Klaren, was es bedeutet, dass die gesamte Leitungsstruktur in absehbarer Zeit neu besetzt werden muss. Auch wenn sich für die Bevölkerungsentwicklung relativ genaue Prognosen formulieren lassen, ist es sehr schwer, sich auszumalen, wie sich die Bevölkerung, insbesondere im Hinblick auf die Altersgruppen, in einer Stadt, einer Gemeinde, einem Landkreis

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oder auch in einem Land wie Sachsen in zehn bis zwanzig Jahren nicht nur zusammensetzen, sondern auch verhalten wird. Deshalb sollte es schon heute darum gehen, die ökonomischen, sozialpolitischen, aber auch kulturellen und geistigen Voraussetzungen zu schaffen, um die demografischen Probleme zu bewältigen. Das ist die eigentliche und zugleich wichtigste Aufgabe, vor der wir stehen. Rehberg: Verhaltensänderungen resultieren unmittelbar nicht allein aus der Ökonomie, sondern aus deren Zusammenspiel mit kulturellen und geistigen Zusammenhängen. Wirtschaftliche Strukturen und Entwicklungen sind sicherlich wichtig, nicht zuletzt wird durch sie bestimmt, welche beruflichen Positionen zur Verfügung stehen und wie sich die Unsicherheiten der Lebensplanung künftig gestalten werden. Alles dies ist sicher eine wichtige Einflussgröße für das Geburtsverhalten. Dabei darf man nicht vergessen, dass sich die Perspektiven im Hinblick auf Berufslaufbahnen zunehmend verschieben. Nicht ist es länger ein Ideal oder eine Chance, dass man als Klempner sein Berufsleben (und dies noch in einer bestimmten Firma, in der vielleicht schon der eigene Vater gearbeitet hat) beginnt und aus diesem Beruf heraus in Rente gehen wird. Vor allem verändert sich der Wissensbedarf, kommt es zu einer Akademisierung vieler Berufe, die besondere Anstrengungen und Zeitaufwendungen verlangt. Dem aber folgt dann oft genug eine Arbeit, die nur an befristete Projekte geknüpft ist. Und hier, wie auch für weniger qualifizierte Tätigkeiten, kommt es zunehmend zu befristeten Stellen, zu erzwungener Teilzeitarbeit etc. Auch gibt es zunehmend Menschen, die von ihrer Arbeit nicht leben können; in den USA spricht man deshalb von den working poor. All dies hat selbstverständlich Auswirkungen auf das Familienleben (eingeschlossen alle möglichen Formen von Zweier- und Quasiverwandtschaftsbeziehungen) und somit auch auf die Kinderzahl. Für Ostdeutschland könnte allerdings das aus der DDR überkommene Kinderbetreuungssystem eine Chance gegenüber den westdeutschen Ländern bieten. Biedenkopf: Der Osten hat mehrere Chancen. Die Erfahrung mit der Kindererziehung gehört sicherlich dazu. Aber sie beruhte auf einer anderen ideologischen Grundlage und Realität. So waren in der DDR rund 90 Prozent der Erwachsenen berufstätig – mit allen damit verbundenen Strukturen und Folgen. Dabei handelte es sich, wie wir heute wissen, auch um eine, bis zu 30 Prozent hohe, verdeckte Arbeitslosigkeit. An der Überwindung der Folgen dieser Strukturen arbeiten wir heute noch. Weit wichtiger ist jedoch, dass wir in Ostdeutschland nach der Wende gelernt haben, was eine Bevölkerung unter Grenzbedingungen an umwälzenden Umbrüchen und Wandlungsprozessen verkraften kann. Wenn es um Veränderungen geht, sind die Ostdeutschen deshalb häufig mobiler und ihnen gegenüber offener als die Westdeutschen. Inzwischen sind übrigens einige der damaligen „Errungenschaften“ des Ostens auch im Westen übernommen worden, etwa Polykliniken, das achtjährige Abitur, die Kindergartenausstattungen oder die Mittelschule, die wir hier entwickelt haben und die

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jetzt tastend in Westdeutschland ausprobiert wird. Ich habe diesen Prozess der gegenseitigen Durchdringung als „Osmose“ bezeichnet.

Zukunft ohne Wachstum? Rehberg: Um Gültiges über die Zukunft der Kultur sagen zu können, ist es unerlässlich, danach zu fragen, ob ein „Kapitalismus ohne Wachstum“ bzw. nur mit kleinen Zuwachsraten überhaupt möglich ist. Viele Ihrer Initiativen – auch Ihre Unterstützung für den in Dresden geplanten „Weltkulturgipfel“ – beruhen auf der Annahme, dass es in Zukunft keine relevanten wirtschaftlichen Zuwachsraten im bisherigen Sinne mehr geben werde, die Lebensfähigkeit der demokratischen Ordnung deshalb auch nicht von ihnen abhängig gemacht werden dürfe. Historisch gesehen ist das exponentielle Wachstum der Wirtschaft – im 19. Jahrhundert, dann während des „Wirtschaftswunders“ der 1950er Jahre und mit noch immer zunehmenden absoluten Zuwachsraten bis in unsere Gegenwart – ein Ausnahmefall. Wie würden Sie sich vor dem Hintergrund dieser Prämisse eine Gesellschaftsentwicklung vorstellen, wenn der Kapitalismus doch notwendig auf Expansion angewiesen ist? Biedenkopf: „Kapitalismus“ ist ein schwieriger Begriff und deshalb auslegungsbedürftig. Versteht man unter ihm eine Wirtschaftsordnung, die auf Eigentum beruht … Rehberg: … genauer: auf Kapitalinvestitionen … Biedenkopf: …, nicht nur, sondern Eigentum im Sinne des Art. 14 GG, also auch dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet, also auch Wohnungseigentum, privates Vermögen und freie Verfügungsmacht über Eigentum, dann haben wir es mit einer anderen Ordnung zu tun als der, die im 19. Jahrhundert mit dem Begriff Kapitalismus beschrieben wurde. Damals wurde die Wirtschaft, die auf Privateigentum beruhte, kritisiert und angegriffen, weil sie die Bildung von Monopolen und Kartellen zuließ und keinerlei soziale Verantwortung zeigte. Heute beruht der Schutz des Eigentums auf seiner Bedeutung für die Freiheit und eine freie Gesellschaft. Sein Schutz ist wertgebunden. Die Allgemeinwohlbindung begrenzt seinen Gebrauch ebenso wie das Verbot der Kartellbildung und die Kontrolle wirtschaftlicher Macht. Rehberg: Das gilt in eingeschränktem Maße, ist aber nicht der Kern des Problems. Mir geht es vielmehr darum, dass eine auf Privateigentum und auf Investitionen beruhende Wirtschaft expandieren muss, um langfristig Gewinne abzuwerfen. Biedenkopf: Das ist kein zwingender Zusammenhang. Eine Wirtschaftsordnung, die auf Eigentum beruht, ist nicht von dauerhaftem Wirtschaftswachstum abhängig, wenn sie bereit ist, dafür zu sorgen, dass der durch Wettbewerb vorangetriebene Innovations-

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und Entdeckungsprozess vor Vermachtung der Märkte geschützt bleibt. Die soziale Marktwirtschaft beruht auf diesem Axiom. Sie war die Antwort auf die wirtschaftlichen und politischen Folgen vermachteter Märkte vor dem zweiten Weltkrieg. Es handelt sich um eine der Gründungsideen der Bundesrepublik Deutschland. Sie fand bereits in den 1950er Jahren ihren Niederschlag im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung, dem Kartellrecht. Der Erhalt dieser Ordnung ist Voraussetzung für eine freie und soziale Gestaltung der Wirtschaft – und als solche eine politische und eine kulturelle Aufgabe. Leider gelingt es immer weniger, sie vor Erosionen durch neue Machtgebilde zu schützen, die weit mehr vom Staat als von der Wirtschaft ausgehen. Wir beobachten nicht nur in den Sozialsystemen, sondern auch in der gesamten Gesundheitswirtschaft … Rehberg: … oder in der Energiewirtschaft … Biedenkopf: … eine weitgehende Vermachtung. Man kann nicht behaupten, dass sich diese Bereiche wettbewerbsförmig entwickeln. Auch im öffentlichen Bereich, der ja fast 50 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet, ist die Einstellung verbreitet, Wettbewerb sei kein Ordnungsprinzip. Im Wesentlichen behauptet sich die Wettbewerbsordnung dagegen noch immer in den Märkten, die nicht vermachtet sind, vor allem im Bereich der mittelständischen Unternehmen und bei den freien Berufen. Dort spielt sie eine entscheidende Rolle. Dort sichert sie auch den Wohlstand unseres Landes. 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sind in diesen Sektoren beschäftigt. In diesen Bereichen sichert sie die offenen Strukturen, auf die der Staat wesentlich weniger Einfluss nehmen kann. Dennoch richtet sich das politische Interesse nicht auf diesen, für die Wertschöpfung auch durch die Großunternehmen entscheidenden Bereich. Es lassen sich derzeit einige Prozesse beobachten, die außerordentlich interessant sind. Die Automobilindustrie hat im letzten Jahr beispielsweise die Zuliefererfirmen subventioniert, damit diese nicht schließen mussten. Denn man hat inzwischen verstanden, dass die wichtigsten Innovationen von dort kommen. Solche Veränderungen sind nicht so offensichtlich, aber sie sind aufregend. Um zum „Kapitalismus“ zurückzukommen, muss man sich fragen: Was sind die Treiber für Wachstum? In meinem Buch „Die Ausbeutung der Enkel“ (2006) habe ich die wichtigsten von ihnen beschrieben. Der Antrieb zum Wachstum erwächst – allgemein formuliert – in der Regel aus Strukturen oder aus Situationen, in denen man die Wirklichkeit mit Instrumenten zu gestalten versucht, die überholt und deshalb immer weniger wirksam sind. Ein gutes Beispiel bietet die Subventionierung der Ruhrkohle. Sie verlor bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ihre existenzielle Bedeutung, als das Erdöl in den Energiemarkt eindrang und die Kohle nicht mehr die zentrale Energiequelle war. Schon damals wurde es möglich, Kohle nach Deutschland zu importieren, die nur ein Drittel des hiesigen Preises kostete. Trotz dieser neuen Entwicklungen hat man die alte Struk-

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tur über 25, 30 Jahre aufrechterhalten. Derzeit wird gerade wieder gestritten, ob Kohle noch bis 2018 oder nur noch bis 2014 gefördert werden darf. Parallel dazu entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Vorstellung, die Vermehrung des Bruttoinlandsproduktes sei eine Voraussetzung für den sozialen Frieden und damit für die Stabilität der Demokratie. Deshalb sei es auch gerechtfertigt, das Wachstum der Wirtschaft zu fördern. Allerdings zeigte sich schon bald, dass mit dem geförderten Wachstum der Wirtschaft auch die Staatsschuld wuchs. Vor diesem Hintergrund kam es 1979 zu einem Disput zwischen dem damaligen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff und mir als wirtschaftspolitischem Sprecher der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion. Es ging um Lambsdorffs Feststellung, die Wirtschaft brauche vier Prozent Wachstum. Gefragt, warum gerade diese Größenordnung, antwortete er, er könne die Frage nicht beantworten, ob auch zwei Prozent ausreichten, den sozialen Frieden zu sichern. Der zweite Wachstumstreiber hat mit den politischen Kosten zu tun, die durch jede Veränderung politischer Prioritäten verursacht werden, und mit den damit verbundenen politischen Risiken. Entscheidet sich die Regierung, ihre politischen Prioritäten im Rahmen des Verteilbaren zu ändern, dann kann sie dies nur, indem sie in bestehende Besitzstände eingreift – seien es soziale oder Subventionsbesitzstände. Derartige Eingriffe sind in der Regel mit Schrumpfungen des Bestehenden und dem Wachstum der neuen Prioritäten verbunden – beides nicht als Folgen des Wettbewerbs, sondern staatlichen Handelns. Also eines Wachsens und Vergehens, wie wir es aus der Natur kennen. Rehberg: Das erinnert an die Formel Joseph Schumpeters, der von einer „schöpferischen Zerstörung“ als Grundprinzip des Kapitalismus sprach. Biedenkopf: Auch das spielt dabei eine Rolle. Hier geht es jedoch darum, dass die politischen Kosten einer Veränderung der bestehenden Zuteilungen staatlicher Leistungen dann geringer sind, wenn die Verteilungsmasse ständig zunimmt. Mit anderen Worten: Wachstum ist die Voraussetzung dafür, dass neue Prioritäten zu vertretbaren politischen Kosten bedient werden können, ohne in bestehende Besitzstände einzugreifen. Wird die Sicherung von Wachstum aus diesen Gründen zur Bedingung für stabile politische Verhältnisse, dann wird der Zuwachs des BIP zunehmend zu einer conditio sine qua non der Demokratie. Rehberg: Aber bei alledem ist doch noch ungeklärt, inwieweit eine ständige Expansion eine notwendige Bedingung der Kapitalverwertung ist. Biedenkopf: Diese Zusammenhänge sind noch nicht geklärt. Geklärt ist nach meiner Überzeugung jedoch, dass die Explosion der Weltbevölkerung auf das mehr als Dreifa-

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che allein in meiner bisherigen Lebenszeit und die damit gewachsenen Ansprüche an die Ressourcen der Erde dem Wachstumsparadigma die Grundlage entziehen. Rehberg: Und dies ist ja ein wichtiger Punkt hinsichtlich der Wachstumsdynamiken. Biedenkopf: Deshalb gibt es eine Reihe von Leuten, die sich für eine Neugestaltung der Wirtschaftsordnung auf das Zinsverbot der katholischen Kirche beziehen. Aber davon einmal abgesehen: Wer will, dass sich Kapital verzinst, muss im gleichen Umfang auch die Vernichtung von Kapital akzeptieren, die mit dem Ausscheiden von Unternehmen aus dem Markt verbunden ist. Dadurch werden Ressourcen frei. Das eigentliche Wachstum der Zukunft wird die Zunahme der Intelligenz der Gesellschaft sein, beispielsweise des technischen Wissens; hier spielt das Zinsproblem keine zentrale Rolle. Dabei wird in der Regel eine Steigerung technischer Intelligenz ohne eine Vermehrung, vielleicht sogar mit einer Verminderung des Ressourcenverbrauchs Hand in Hand gehen. Andererseits haben wir uns seit dem 19. Jahrhundert daran gewöhnt, dass ein expansives Wachstum ohne Rücksicht auf die Folgen immer mit einer Vermehrung der potenziellen Wohlfahrt verbunden war. Seitdem wir festgestellt haben, dass ein exponentielles Wachstum nicht nachhaltig sein kann, sind wir ängstlich geworden. Interessant ist jedoch, dass wir Wachstum bisher kaum in absoluten Zahlen messen: im Zuwachs des BIP pro Kopf in Euro. Wenn das BIP pro Kopf 1000 Euro beträgt und um 4 Prozent pro Jahr wächst, erhöht sich das BIP pro Kopf und Jahr um 40 Euro. Beträgt das BIP pro Kopf 4000 Euro und wächst 1 Prozent pro Jahr, beträgt der Zuwachs pro Kopf ebenfalls 40 Euro. Vergleiche, die lediglich auf dem prozentualen Wachstum beruhen, ohne die Basis zu berücksichtigen, sind also nicht zielführend. Rehberg: Ich bin skeptisch, ob eine solche, von Ihnen gewünschte, alternative Entwicklung möglich ist, da es die großen – und von Ihnen kritisierten – vermachteten Wirtschaftsstrukturen gibt. Biedenkopf: Es gibt immer Hemmnisse in der Entwicklung von neuen Wegen. Was mich seit Mitte der 1970er Jahre beschäftigt und was dann auch Meinhard Miegel weitergeführt und jetzt noch einmal in seinem Buch Exit. Wohlstand ohne Wachstum (Berlin 2010) beschrieben hat, ist die Frage: Wie können Gesellschaftsentwicklung und Wachstumsbegrenzung zusammen gehen? Eine mögliche Antwort liegt in einer planwirtschaftlichen Haltung, wie sie jetzt auch in der Europäischen Kommission deutlich wird. Zum anderen besteht aber auch die von mir vertretene Möglichkeit – man könnte von einem kulturellen Sprung sprechen –, dass man Regelkreise neu entwickelt, wie wir sie etwa aus der Einführung von Zertifikatssystemen zur Regulierung von Emissionen kennen. Aber die Umsetzung ist sehr schwierig, weil Regelkreise die Möglichkeit von Interventionen begrenzen und dies wiederum die Macht der Regierenden begrenzt.

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Eine neue (politische) Kultur? Rehberg: Ich habe nach diesen wirtschaftlichen Entwicklungsszenarien gefragt, weil Sie die These vertreten, dass die Selbstbegrenzung einer Gesellschaft in besonderer Weise eine kulturelle Leistung ist. Man könnte daraus den Schluss ziehen – auch wenn es sehr eindeutig ist, dass Sie das gerade nicht meinen –, dass Kultur zur Kompensation in Zeiten der Stagnation wird … Biedenkopf: Diesen Schluss kann man nicht ziehen, obwohl immer wieder Versuche unternommen werden, die Suche nach Alternativen mit derartigen Argumenten zu verhindern. Rehberg: … oder der bloßen Beruhigung dienen soll? Biedenkopf: Es gilt dasselbe. Rehberg: Aber es geht doch um so etwas wie eine „geistige Wende“, wenn man sich an das Motto der CDU aus den späten 1970er Jahren erinnert. Gefordert wird eine Einstellungsveränderung, eine Anpassung der Erwartungen an die Verhältnisse, aber auch eine Mobilisierung durch Initiativen „von unten“. Da spielt Kultur eine Rolle, weshalb ich Sie fragen möchte, was diese für sie genau bedeutet. Biedenkopf: „Kultur“ lässt sich für mich nicht von „politischer Kultur“ trennen. Die Völker haben unterschiedliche Einstellungen zu den Dingen, die Amerikaner etwa zum Sozialsystem, obwohl sie im Zuge der Industrialisierung mindestens ebenso harte Erfahrungen gemacht haben wie wir. Man kann diese Einstellungen als gesellschaftlichen Grundkonsens bezeichnen, ohne den auch dezentrale Strukturen nicht funktionieren. Ohne eine normative Bindung gibt es deshalb auch keine Ordnung der Wirtschaft. Wenn dieser Grundkonsens aufgekündigt wird oder wenn er erodiert, ist das Ganze der Ordnung in Gefahr. Gerade die Initiativen Einzelner und deren bewusste Selbsteinschränkung bedürfen einer normativen Verankerung. Der Turmbau zu Babel ist ein wunderbares Bild für unkontrollierte Entgrenzung. Ich arbeite zurzeit an einem Projekt, das sich mit diesen Fragen beschäftigt; etwa unter welchen Bedingungen Demokratien zu legitimierten Formen der Begrenzung fähig sind. Rehberg: Die „Grenzen des Wachstums“ sind ja seit fast vierzig Jahren ein dominantes Thema. Man kann übrigens beobachten, dass im Aufstieg von Gesellschaften Aktions­ ethiken existieren, während wir es heute vor allem mit Vetoethiken zu tun haben. Lassen Sie uns aber vor diesem Hintergrund das kulturelle Leben im engeren Sinne betrachten. Da Sie ja durchaus zu etlichen Unternehmern Kontakte haben, würde mich interessieren, wie Sie die Rolle der Kulturattraktivität einer Stadt für Firmenansiedlun-

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gen und (nicht nur deshalb) für die Entwicklung einer Region bewerten. Es ist ja sehr umstritten, ob das kulturelle Angebotsniveau Entscheidungen über Firmenstandorte so stark beeinflusst, wie das aus Sicht der Kulturpolitik oft erhofft wird. Biedenkopf: Bei der Ansiedlung von AMD in Dresden war das so. Mr. Sanders war nicht nur mit der Lage des Grundstückes und der Förderung einverstanden. Für ihn waren die Menschen und die kulturelle Bedeutung der Stadt ausschlaggebend. Grundstück und Förderung hätten ihm auch in Irland zur Verfügung gestanden. Im Übrigen sollte man die Antwort auf Ihre Frage empirischer Forschung anvertrauen. Denn die jeweiligen Motivationen für Investitionen lassen sich nicht verallgemeinern. Betrachten wir zum Beispiel die Anreize, die durch Subventionsangebote ausgelöst werden und zu Investitionen in der Region führen, für die man sich sonst nicht entscheiden würde. In solchen Fällen kann das „kulturelle Kapital“ der Region den Ausschlag geben. Die kulturelle Ausstattung einer Region spielt auch bei Ansiedlungen wissensbasierter Industrien eine wichtige Rolle. Für sie werden Menschen gesucht, die zwar Spezialisten sind, aber auch die Fähigkeit besitzen, neben ihrem Spezialwissen auch mit anderen Wissenschaften zu kommunizieren und mit diesen eine gemeinsamen kulturelle Basis besitzen. Das erfordert erhebliche, auch kulturelle Bemühungen. Diese entfalten sich eher dort, wo entsprechend intensive kulturelle Anreize geboten werden. Ein kulturelles Umfeld, an dem man teilhaben kann, als Teil eines Publikums oder als Mitwirkender, bedeutet deshalb eine Standortverbesserung. Nicht nur werden kulturell interessierte Touristen angezogen, sondern auch Menschen, die Familien gründen wollen und einen kulturell ausgestatteten Ort suchen, in dem sich ihre Lebenspläne besser realisieren lassen. Vor diesem Hintergrund halte ich es nicht für unwahrscheinlich, dass wir in Ostdeutschland einen Zustrom von Menschen aus dem Westen Deutschlands erleben könnten, weil sich in diesem Teil Deutschlands attraktive Entwicklungschancen bieten, denen keine erstarrten Machtstrukturen im Wege stehen. Entscheidend wird sein, ob man eine Region, sei sie nun sehr dicht oder weniger besiedelt, mit einer kulturellen Identität zu verbinden vermag. Ich habe hier in Sachsen sehr schnell gelernt, dass die historische und kulturelle Identität dieses Landes ein gewichtiges Pfund ist, mit dem man wuchern kann. Deshalb wehre ich mich auch dagegen, Sachsen als ein „neues Land“ zu bezeichnen. Seine Geschichte als deutsches Land reicht rund 1000 Jahre zurück. Seine kulturelle Intensität ist ungewöhnlich stark. Rehberg: Trotz der auch von Ihnen geschilderten produktiven Seite der Kultur ist sie doch oft das erste Opfer des Rückgangs der öffentlichen Finanzmittel. Dazu gibt es ja eine ganze Reihe von Untersuchungen, die sich unter anderem mit der Frage befassen, welche Szenarien zu erwarten sind, wenn die Steuereinnahmen bei sinkender Bevölkerung zurückgehen. Gerade in den Bereichen, in denen nicht nur Abwanderung, son-

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dern auch eine Senkung des Qualifikationsniveaus zu befürchten ist, dürften die kulturellen Aktivitäten am ehesten gefährdet sein. Biedenkopf: Ob die Kultur dort gefährdet ist, kann ich noch nicht übersehen. Aber ich bin ohnehin etwas zurückhaltend, Kultur und Geld gleichzusetzen. Rehberg: „Gleichsetzen“ würde ich beides auch nicht, aber kulturelle Angebote bedürfen auch finanzieller Mittel. Biedenkopf: Soweit die kulturellen Institutionen und ihr Leben von öffentlichen Mitteln abhängen, müssen auch sie Federn lassen, wenn der staatliche oder städtische Haushalt um 20 Prozent zurückgefahren werden muss. Begrenzungen können dabei durchaus zu neuen innovativen Impulsen führen, die sonst unterblieben wären. Das ist auch in Sachsen nicht anders. Gleichwohl muss man auch hier differenzieren. Es ist ja nicht so, dass sich die hiesige Kultur in der Semperoper, in der Staatskapelle oder in den Schätzen des Grünen Gewölbes erschöpfen würde. Auch auf der kommunalen Ebene findet sich eine große Zahl kulturell relevanter Entwicklungen und Ereignisse, etwa Laientheater, Gesangsvereine, kleine Orchester, überhaupt Chancen zu musizieren. Auch das ist Kultur. Die Sächsische Staatsregierung fördert diese und viele andere kulturellen Äußerungen im Land durch das Kulturraumgesetz. Seine Unterstützung ist langfristig angelegt. Man kann die Förderung auch als „Saatgeld“ bezeichnen, oder als Starthilfe oder Teilfinanzierung. Es geht dabei sowohl um Ermutigung als auch um die Verstetigung kulturellen Lebens, ohne dass dies immer sehr teuer sein müsste. Entscheidend dürfte sein, inwieweit die Zivilgesellschaft motiviert werden kann, sich für die Erfüllung eigener kultureller Bedürfnisse auch finanziell zu engagieren. Gerade hier ändern sich in den letzten Jahren die Haltung und das Bewusstsein der Bürger. Ansätze dafür findet man schon heute vielfältig, etwa beim Musizieren, das – wie jüngst erst Ludwig Güttler auf einer Konferenz der Kommunalverbände dargelegt hat – Fähigkeiten entfalten hilft, deren sozialer Nutzen außer Frage steht: Innovationsfähigkeit, Selbstdisziplin, Ausdauer und Freude am erreichten Erfolg. Das kann auch jemand, der aus einem relativ einfachen Elternhaus kommt, wenn zum Beispiel die Kommune dafür Instrumente zur Verfügung stellt. Rehberg: Gerade deshalb sind ja auch Musikschulen so wichtig. Biedenkopf: Ja, aber das führt uns schon einen Schritt weiter. Zunächst einmal geht es um die Menschen, die selbst musizieren und andere dazu bringen, es ihnen gleichzutun. Die Grenzen zwischen der Laientätigkeit und der Bereitschaft Professioneller, ehrenamtlich zu helfen, bis zur Professionalisierung sind fließend. Aber all das gehört zur kulturellen Ausstattung einer Region. Sie wird dadurch auch für andere attraktiver:

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für Wissenschaftler, für Institute, für die wachsende Zahl mittelständischer Unternehmen mit relativ hohen Wissensansprüchen. Rehberg: Sicher gebe ich Ihnen Recht, dass Kultur nicht nur veranstaltete Kultur ist und erst recht nicht nur Hochkultur. Andererseits gibt es eine Geltungshierarchie der kulturellen Güter und Praktiken, die auf alle Ebenen des kulturellen Lebens ausstrahlt und einer Art Magnetwirkung auch für die dezentralen und selbst veranstalteten kulturellen Tätigkeiten hat. Beispielsweise ist die Familie nicht mehr die schichtbezogene Basis einer weit gestreuten bürgerlichen Hausmusikkultur. So bedarf es bestimmter Bedingungen, um das Musizieren überhaupt wahrscheinlich zu machen. Und auch Innovationen brauchen eine gewisse Grundsicherung kultureller Angebote. Es gibt ja dieses schöne, zuerst von der Bundeskulturstiftung geförderte Projekt, durch das Kindern im Schulunterricht Geigen zur Verfügung gestellt werden – aber das kostet eben auch wieder Geld. Biedenkopf: Natürlich kostet alles Geld, aber es kostet vor allen Dingen Fantasie, Anstrengung und Einsatz. Sobald diese Qualitäten vorhanden sind, findet sich auch Geld. Man kann zwar mit Geld keine kulturellen Initiativen auslösen, allenfalls im professionellen Bereich. Aber sie können mit kulturellen Initiativen Menschen bewegen, dafür Mittel zu spenden. Wenn die Bürger einer Stadt, in der 5000 oder 10 000 Einwohner leben und einige kleine oder mittelständische Unternehmen, ein kleines Orchester aufzubauen versuchen und dafür Instrumente brauchen, die zusammen vielleicht 10 000 Euro kosten, sind die Aussichten nicht schlecht, das notwendige Geld zu sammeln. Der Ausgangspunkt sollte also nicht die Frage nach dem Geld sein, sondern die nach dem Willen, etwas zu unternehmen. Rehberg: Zwei Fragen möchte ich noch anschließen. Die erste betrifft das sächsische Kulturraumgesetz. Dessen Besonderheit liegt darin, dass die Förderung von Kultur nicht nur in den drei großen städtischen Zentren, sondern wirklich überall im Freistaat sichergestellt wird – derzeit mit garantierten 86,7 Millionen Euro pro Jahr. Das ist ein vorzügliches Konzept. Es wird irgendwie überall bewundert, aber nicht wirklich nachgeahmt. Biedenkopf: Da sehen Sie, wie weit Fantasielosigkeit verbreitet ist – wohl auch, weil man sich gerne auf den Staat verlässt. Rehberg: Sehen Sie vor dem Hintergrund, den wir diskutieren, dass sich die Funktion des Kulturraumgesetzes ändern muss? Jetzt ist es noch ein Rahmen, der vor allem dazu dient, institutionelle Strukturen wie Orchester, Theater und andere feste Kultureinrichtungen zu sichern. Andererseits werden wir aber auch außerhalb der Zentren innovative und risikoreiche kulturelle Aktivitäten benötigen, etwa neue Verbindungen

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zwischen den Genres. Sehen Sie die Notwendigkeit, das Kulturraumgesetz stärker in diese Richtung zu entwickeln? Biedenkopf: Diese Notwendigkeit sehe ich nicht. Das Gesetz ist gedacht als eine Art Initialzündung, die dazu beiträgt, kulturelle Aktivitäten aller Art zu ermutigen, das Zusammenwirken von zivilgesellschaftlichen und professionellen Aktivitäten zu ermöglichen und auch den Neubürgern Integrationsmöglichkeiten zu eröffnen, die viel weiter reichen als die normale Anwesenheit, die Arbeitsstelle, die Wohnung, eventuell die Schulen und die Einkaufsmöglichkeiten. Rehberg: Sie setzen also auf eine kulturelle Basismobilisierung? Biedenkopf: Wir werden – wenn unser Land sich positiv entwickelt – heute und in Zukunft eine Rückbesinnung auf das erleben, was man die nichtökonomischen Qualitäten des Lebens nennt. Seit der Nachkriegszeit und bis in die Gegenwart hinein dominiert die Erfahrung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der alten und dann der vereinten Bundesrepublik. Die war und ist noch immer primär wirtschaftlich definiert. Man hatte für sie bis zur Jahrtausendwende Projekte entwickelt, die so heißen konnten wie „Deutschland AG“ und das Land auf ein Unternehmen reduzierten. Damit verfehlt man jedoch den wesentlichen Kern der Identität eines Volkes oder der Bevölkerung in einer Region. Inzwischen wird deutlich, dass sich diese, durch ständige wirtschaftliche Expansion ökonomisch definierte Sinngebung erschöpft. Meinhard Miegel und Thomas Petersen haben das in ihrer 2008 in München erschienenen Studie Der programmierte Stillstand beschrieben. Sie interessierte die Frage, ob in der Bevölkerung die Bereitschaft für eine Fortführung der Wachstumspolitik vorhanden sei. Die Antworten sind aufschlussreich. 70 Prozent der Befragten erklärten, Wachstum werde selbstverständlich gebraucht. 60 Prozent stimmten dem denkwürdigen Satz zu, „Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist auch alles nichts“; ein Satz, der vor wenigen Jahren noch in einem CDU-Programm stand. Die Frage hingegen, ob sie denn auch bereit seien, etwas für die Verbesserung ihrer ökonomischen Situation zu tun, beantworteten nur noch knapp 20 Prozent mit „Ja“. Die Mehrheit der über 40-Jährigen sieht sich nicht mehr veranlasst, große zusätzliche Anstrengungen zu machen, da sie eigentlich ganz zufrieden sind – und dies unabhängig von der jeweiligen Einkommenshöhe. Andererseits zeigt die Shell-Studie von 2010 ebenso wie andere Untersuchungen, dass die Visionen oder Lebensvorstellungen der Jüngeren mit der offiziellen Wachstumspolitik nicht mehr deckungsgleich sind. Zunehmend merken breitere Bevölkerungskreise und vor allem jüngere Leute, was selbst die Vorstände von Großunternehmen (wenn auch hinter vorgehaltener Hand oder nur im kleinen Kreis) inzwischen zugeben: dass in Zukunft das eigentliche Wachstum der Wirtschaft in China, in Indien oder hoffentlich in Afrika oder im Mittleren Osten zu erwarten sei und nicht mehr bei

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uns. Wenn wir das Niveau halten können, das wir erreicht haben, wäre das bereits ein unglaublicher Erfolg. Rehberg: Tatsächlich wäre das nicht wenig. Aber ist damit nicht eine Abriegelung der Zukunft verbunden, wie sie in Vorstellungen von einem „Ende der Geschichte“ (Roderick Seidenberg, Arnold Gehlen oder Francis Fukuyama) zum Ausdruck kommt? Es wäre dies eine Gesellschaft ohne bedeutsame Initiativgruppen. Oder wo könnten sich solche bilden? Biedenkopf: Überall dort, wo Menschen zusammenleben und feststellen, dass es Defizite gibt, aber keine Institutionen mehr, die sie beheben könnten. Dann müssen die Menschen für sich selbst die Grundentscheidungen treffen. Rehberg: Sie würden solche Initiativen also keinen speziellen sozialstrukturellen Gruppen zuordnen? Biedenkopf: Nein, der Hartz-IV-Empfänger kann genauso wunderbar im Chor mitsingen wie die anderen auch. Rehberg: Das sicher. Biedenkopf: Bei allen wirtschaftlichen Problemen würde eine solche Integration auf der kulturellen Ebene bedeuten, dass alle Beteiligten, wie es so schön heißt, auf „Augenhöhe“ mitwirken. Gerade eine derartige Teilhabe von Menschen mit einem geringen Einkommen würde die Behauptung der zentralistisch organisierten Sozialverbände widerlegen, ganze Bevölkerungsteile seien ausgegrenzt. Für sie sichert die Existenz von sechs Millionen Menschen, die wirklich oder angeblich an der Armutsgrenze leben, zum einen die Vormundschaftsrolle der zentralen Sozialeinrichtungen. Zum anderen sorgt sie für das schlechte Gewissen bei der Mehrheit der Bevölkerung, die ja zahlungsbereit bleiben muss, damit die Vormundschaft über diejenigen aufrechterhalten werden kann, die sich auch gerne selbst helfen würden, denen dafür jedoch die helfende Hand der kommunalen Bürgergesellschaft fehlt. Rehberg: Das hat in den 1950er Jahren der Soziologe Helmut Schelsky schon sehr ähnlich über die sozialen Klassen gesagt, dass deren Existenz nämlich wesentlich durch die Funktionäre von Großorganisationen, besonders der Gewerkschaften, behauptet werde, um die eigene Position zu sichern; allerdings hat mich das nie ganz überzeugt. Biedenkopf: In meinem Buch Wir haben die Wahl habe ich dafür Kant und de Tocqueville zitiert. Die größten Proteste werden immer von Organisationen ausgehen, die für sich eine vormundschaftliche Rolle beanspruchen. Denken Sie nur an die Demonstrationen

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in Frankreich gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 60 Jahre oder an die Proteste gegen die Einsparungen in Griechenland und Spanien. Aber die Macht dieser Organisationen schwindet, jedenfalls bei uns. Denn sie können ihre Versprechen nicht mehr einlösen. Stattdessen entwickelt sich – gerade im Bereich der Kultur – ein neues Klima der Selbstverantwortlichkeit, der Bereitschaft zu Initiativen und Innovationen und der Teilhabe. Darin sehe ich nicht nur einen kulturellen Gewinn, eine Relativierung der ökonomischen Dimension und eine wichtig Antwort auf den Zusammenhang von Demografie und Kultur.

Christoph Grunenberg

„Kulturelles Kapital“? Verfall und Wiederaufstieg einer Weltstadt am Beispiel Liverpools1

Vor einigen Jahren wurde allein die Idee, dass sich Liverpool um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt bewerben könnte, in Großbritannien noch mit Spott und Hohn bedacht. Heute wird Kultur als Retter einer Stadt gefeiert, die für Jahrzehnte im Niedergang begriffen war und zum Symbol des ökonomischen und sozialen Zerfalls im postindustriellen Zeitalter wurde. Liverpool hat in der Tat im letzten Jahrzehnt eine beispiellose Renaissance erfahren, die weit radikaler war als die vieler anderer europäischer Städte und insbesondere die der ehemaligen industriellen Zentren im Norden Großbritanniens wie Glasgow, Leeds oder Manchester. Der Wandel vom ehemaligen Paradebeispiel des industriellen Kollapses und linkspolitischen Extremismus der 1970er, 80er und 90er Jahre zur mondänen Kulturmetropole und zum Touristenmagneten kulminierte in Liverpools erfolgreichem Jahr als europäische Kulturhauptstadt im Jahr 2008. Heute wird in den britischen Medien von „Livercool“ geredet, die Stadt mit Mailand verglichen und als das „neue Barcelona“ gelobt.2 Die Zahlen sprechen in der Tat für sich: Der wirtschaftliche Nutzen des Kulturhauptstadtjahres wird auf beeindruckende 753,8 Millionen Pfund berechnet (basierend auf direkten Ausgaben vorwiegend in Liverpool und der Stadtregion und zu einem geringeren Grad in der Region des Nordwestens). 2008 wurden 9,7 Millionen zusätzliche Besuche in der Stadt gezählt, ein signifikanter Anstieg um 34 Prozent im Vergleich zum 1 Dieser Essay basiert teilweise auf der Einführung und dem Essay von Christoph Grunenberg und Robert Knifton, The Crater of the Volcano: Liverpool and the Avant-Garde, in: Christoph Grunenberg/Robert Knifton (Hg.): Centre of the Creative Universe: Liverpool and the AvantGarde, Liverpool 2007, S. 8–37 und dem Vortrag „Living on the Edge: Art, Culture and Regeneration in a Peripheral Capital“, Shenkar Forum for Culture and Society, Konferenz Centre and Periphery, Tel Aviv, März 2006. Ich danke Robert Knifton für seinen Beitrag zu diesen früheren Versionen. 2 O. A., Livercool, in: Tatler, März 2003, S. 158–181; Aidan, Rose, Liverpool Cool, in: The Times Magazine, 9.10.2004, S. 46–52; Adams, Tim, A Tale of two cities, in: The Observer, 22.5.2005, Review section, S. 1–2; Adams, Tim, May the North be with you, in: The Observer, 28.7.2002, Review section, S. 1–2. Siehe zur Wandlung des Image des Nordens auch: Curtis, Polly, Why it’s no longer grim up north, in: The Guardian, 24.5.2005, S. 11; Hetherington, Peter, North scorns study of gulf with south, in: The Guardian, 1.7.2004, S. 8 und Milestone, Katie, Regional Variations: Northernness and new urban economies of hedonism, in: Justin O’Connor/Derek Wynne (Hg.): From the Margins to the Centre: Cultural Production and Consumption in the Post-Industrial City, Aldershot 1996, S. 91–113.

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Vorjahr. Ein bedeutender Anteil dieser durch die Kulturhauptstadt motivierten Besuche (2,6 Millionen) kam aus dem Ausland; die überwiegende Mehrheit dieser Besucher (97 Prozent) kam zum ersten Mal in die Stadt.3 Der wichtigste positive Effekt der Kulturhauptstadt findet sich aber in dem Bereich, der sich am schwierigsten statistisch quantifizieren lässt: die entscheidende Imageverbesserung Liverpools und das wieder erstarkte Selbstbewusstsein der Stadt. Das überwiegend negative Bild Liverpools und die Assoziation der Stadt mit wirtschaftlichem Absturz, sozialen Problemen und Kriminalität wandelt sich dabei in den Medien dramatisch mit einer überwiegend positiven Berichterstattung über die Kulturhauptstadt und einem bedeutenden Anstieg an Mitteilungen über kulturelle Ereignisse.4 Viele Besucher waren angenehm von Liverpool überrascht, beeindruckt von der allgemeinen Atmosphäre und der Offenheit der Stadt und empfanden sie als sicherer als erwartet.5 Das Ziel Liverpools, sich als urbane europäische Metropole und Stadt der Weltklasse zu repositionieren, kann als weitgehend erreicht angesehen werden. Die Realität ist, wie immer, etwas komplizierter und nicht ganz so glanzvoll und eindeutig, wie die offizielle Rhetorik des Erfolges und die umgehende Mythisierung der jüngsten Vergangenheit vorgibt. Ich werde versuchen, hinter die Fassade zu schauen und am Beispiel Liverpools einige kritische Fragen über die Rolle von Kultur als Motor der Regeneration für strukturschwache Städte und Regionen in einer postindustriellen Gesellschaft zu stellen. Was sind die Gründe für das Gelingen und wie kann man den Fall und Wiederaufstieg Liverpools historisch verankern? Inwieweit kann Liverpool ein Modell dafür sein, die Wettbewerbsfähigkeit von Städten und Regionen durch Kultur zu fördern, und bietet ein solches Modell ein über nationale Grenzen hinaus übertragbares Rezept? Wie verhält sich die nachgewiesene Imageverbesserung Liverpools zu den weiterhin tiefsitzenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen der Stadt und einer desillusionierten Bevölkerung? Haben sich die großen Hoffnungen, die an den Tourismus und die sogenannten „Creative Industries“ geknüpft wurden, inzwischen erfüllt? Und letztendlich muss man fragen, wo die Grenzen des wirtschaftlichen Aufschwungs und sozialen Strukturwandels durch Kultur und Tourismus liegen, insbesondere in einer wirtschaftlichen Krisenperiode und bei schwindenden öffentlichen Subventionen. 3 Garcia, Beatriz/Melville, Ruth/Cox, Tamsin, Creating an Impact: Liverpool’s Experience as European Capital of Culture, in: Impacts08: The Liverpool Model. European Capital of Culture Research Programme, 2009, S. 25. Der Report ist auch zugänglich unter http://www.liv.ac.uk/ impacts08/Papers/Creating_an_Impact_-_web.pdf (letzter Aufruf 22.6.2011). 4 Siehe Garcia/Melville/Cox 2009 (wie Anm. 3), S. 34–36, 39–49. 5 Zwischen 2005 und 2008 stieg die Zahl derjenigen Bewohner des Vereinigten Königreiches, die angaben, positive Eindrücke von Liverpool zu haben, von 53 auf 60 Prozent, während die Zahl derjenigen, die angaben, eine negative Wahrnehmung zu haben, von 20 auf 14 Prozent fiel. Am Ende des Europäischen Kulturhauptstadtjahrs 2008 hatten 65 Prozent aller Bürger Großbritanniens Kenntnis davon, dass Liverpool Kulturhauptstadt war. Vgl. Garcia/Melville/Cox 2009 (wie Anm. 3), S. 43.

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Liverpool ist ein besonders instruktives Beispiel, da es Objekt einer ausführlichen wissenschaftlichen Studie war, die den sozialen und wirtschaftlichen Wert wie auch die kulturelle und die Medienwirkung der Kulturhauptstadt untersuchte. Bei diesem Gemeinschaftsprojekt von zwei Liverpooler Universitäten und der Stadt handelt es sich um eine Langzeitstudie, die kurz nach der Bekanntgabe der Ernennung zur Kulturhauptstadt initiiert wurde und so die nachhaltigen Auswirkungen wissenschaftlich fundiert nachweisen kann. Die sogenannte „Impacts08 Studie“ hat in der Tat bestätigt, dass das Jahr der Kulturhauptstadt ein außerordentlicher wirtschaftlicher, touristischer wie Public-Relations-Erfolg mit weitreichenden Konsequenzen für die Stadt war. Sie hat weiterhin ein anerkanntes Forschungsmodell für zukünftige Kulturhauptstädte etabliert, das im Rahmen eines wissenschaftlichen Ansatzes standardisierte Bewertungskriterien liefert.6

Liverpool: Die „zweite Stadt“ des Empires Um die immense Bedeutung der Verleihung des Titels der Europäischen Kulturhauptstadt an Liverpool zu verstehen, ist es notwendig zurückzuschauen – zu den Anfängen des Aufstiegs Liverpools, der Blüte der Stadt im 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und dem langen und katastrophalen Niedergang. Die Wurzeln von Liverpools Reichtum liegen im 18. Jahrhundert. Es war vor allem der Handel und nicht, wie oft angenommen, die industrielle Produktion, der den Grundstock für Liverpools Reichtum bildete, während sich die industrielle Revolution auf Manchester, 60 Kilometer im Landesinneren gelegen, konzentrierte. Bis heute kann man gelegentlich hören, wie Liverpooler von „Liverpool Gentleman und Manchester Man“ reden, um sich so von dem verarbeitenden Gewerbe und der Industrie zu differenzieren. Liverpool war der globale Umschlagplatz, an dem ein Großteil der Rohstoffe aus dem weltumspannenden Britischen Empire ankam und von dem aus Waren und Menschen in die Kolonien verschickt wurden. Bereits im Jahre 1800 passierten 40 Prozent der weltweit gehandelten Güter Liverpool. Insbesondere der transatlantische Sklavenhandel bildete seit dem 18. Jahrhundert das dunkle Fundament für Liverpools unaufhaltsamen Aufstieg zu einer führenden Handelsmetropole und der „zweiten Stadt“ des britischen Empires. Anfang des 19. Jahrhunderts war Liverpool zum wichtigsten Hafen des transatlantischen Sklavenhandels aufgestiegen, der London und Bristol weit hinter sich ließ. Im Dreieck des Sklavenhandels wurden britische Produkte nach Afrika transportiert, Sklaven in der sogenannten „Middle Passage“ von Afrika in die Karibik und nach Nordamerika und Zucker, Tabak, Rum, Reis, Baumwolle und andere Rohstoffe von dort nach England. 1807 wurde der Sklavenhandel in Großbritannien und 1833 im gesamten Britischen Empire gesetzlich 6 Siehe www.impacts08.net.

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verboten. Es muss der Stadt zugute gehalten werden, dass auch einige lautstarke Gegner des Sklavenhandels – wie etwa William Roscoe – in Liverpool wirkten. Liverpools langsamer Abstieg von der ehemals „zweiten Stadt des Empires“ zum Inbegriff des urbanen und sozialen Elends am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts lässt sich schwer auf einen entscheidenden Faktor oder Zeitpunkt reduzieren. Die Stellung der Stadt als Zentrum des Welthandels und des transatlantischen Passagierverkehrs hielt bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts an. Im goldenen Zeitalter der Nachkriegszeit blühten der Hafen und abhängige Industrien als Hauptbeschäftigungszweige, während die Stadt Schauplatz einer beispiellosen populärkulturellen Revolution war, die sich nicht nur in der Musik, sondern auch im Theater, in der Literatur und im Fernsehen manifestierte.7 Arbeitslosigkeit, wirtschaftliche Probleme, soziale Not und politische Antagonisierung wie Apathie nahmen in Liverpool, wie auch in anderen Städten des Nordens, in der Zeit des industriellen Niedergangs in den 1960er, 70er und 80er Jahren zu. Aber noch mehr als andere Städte des industriellen Kernlands und Nordens sah sich Liverpool mit einer außergewöhnlichen Schrumpfung der traditionellen Beschäftigungs- und Einkommenszweige konfrontiert und die Stadt verlor unaufhaltsam Arbeitsplätze, Einwohner und ihren guten Ruf. Die verheerenden Wirkungen einer schweren globalen Rezession, kombiniert mit der Abwanderung und Schließung hunderter Fabriken sowie einem radikalen Wandel im internationalen Transportwesen und der Verlagerung traditioneller Handelsrouten, trafen die Stadt schwer. Das langsame Verschwinden des transatlantischen Passagierverkehrs, der Niedergang des Commonwealth bei gleichzeitig wachsender Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft und geografischer Umorientierung des Handels hin zum Süden des Landes sowie die rapide Entwicklung des Containerverkehrs trugen dazu bei, Liverpools Rolle als globalen Umschlagplatz fundamental zu untergraben. Die Stadt war Opfer der zunehmend globalen Bewegung von Kapital und von kompromisslosen Geschäftsentscheidungen, die in multinationalen Konzernen ohne tiefere historische oder emotionale Beziehung zu Standorten getroffen wurden. Von den sechziger bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts schien sich Liverpool auf einer unaufhaltsamen Talfahrt zu befinden, die die Stadt zu einer „drastischen Illustration des urbanen Verfalls“ machte.8 Jon Murden beschreibt die schockierenden Statistiken, die das menschliche Elend nur erahnen lassen:

7 Zu Liverpool als kreativer und Musikstadt siehe insbesondere Paul Du Noyer, Liverpool: Wondrous Place – Music from the Cavern to Cream, London 2002; Grunenberg, Christoph/Knifton, Robert (Hg.): Centre of the Creative Universe: Liverpool and the Avant-Garde, Liverpool 2007; Melly, George, Revolt Into Style: The Pop Arts, London 1970; Murden, Jon, „City of Change and Challenge“: Liverpool Since 1945, in: John Belchem (Hg.): Liverpool 800: Culture, Character and History, Liverpool 2006, S. 393–485; Willett, John, Art in a City, London 1967 und die Folgepublikation von Bryan Biggs und Julie Sheldon (Hg.): Art in a City Revisited. Liverpool 2009. 8 Lane, Tony, Liverpool: Gateway of Empire, London 1987, S. 153.

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„Zwischen 1966 und 1977 schlossen in Liverpool nicht weniger als 350 Fabriken oder zogen woandershin, und die Beschäftigung in der Stadt fiel zwischen 1971 und 1985 um 33 Prozent. … Zwischen 1979 und 1981 beschleunigte sich die Geschwindigkeit der Arbeitsplatzverluste beängstigend. Anfang 1981 waren 20 Prozent der Arbeitskräfte in der Stadt arbeitslos und es wurde berichtet, dass es nur 49 Stellenangebote für die 13 505 registrierten jugendlichen Arbeitslosen gab. … Scheinbar überall standen leere Fabriken, waren Ladenfronten zugenagelt und Gelände verwildert, 15 Prozent aller Gebäude in Liverpool standen leer oder waren verfallen.“9

Die Bevölkerung nahm stetig ab und hatte sich im Vergleich zum Hoch im Jahr 1931, als die Stadt 855 000 Einwohner hatte, in den sechziger Jahren halbiert (heute zählt sie etwa 450 000 Bewohner, nachdem in den letzten Jahren die scheinbar unaufhaltsame Schrumpfung der Stadt endlich nachgelassen hat).10 Radikale Politik vertiefte die Krise der Stadt in den achtziger Jahren. Liverpool war Schauplatz eines dramatischen und zermürbenden Kampfes zwischen einer notorisch militanten Linksfraktion (bekannt als „Militant Labour“) und der konservativen Regierung in London.11 Mehr als jede andere Stadt in Großbritannien wurde Liverpool zum Inbegriff des Zusammenbruchs und Verfalls des ehemals reichen und produktiven industriellen Nordens. Die Stadt galt als hoffnungsloser Fall und 1982 empfahl selbst der linksgerichtete Daily Mirror: „Man sollte einen Zaun um Liverpool bauen und Eintritt verlangen. Traurigerweise ist es zum Schaustück geworden für alles das, was mit den großen britischen Städten falsch gelaufen ist!“12

Liverpool ist exemplarisch für das extreme Nord-Süd-Gefälle und teilt die oft schockie­ renden Statistiken mit anderen Ballungsgebieten des Nordens. Hinsichtlich aller Indikatoren der Wettbewerbsfähigkeit, des Bildungsgrads, der Beschäftigung und des Lebensstandards hinkt die Stadt hinterher und bildet oft das traurige Schlusslicht. Es handelt sich dabei nicht um Nuancen, die den Norden von London und den wohlhabenderen Süden unterscheiden, sondern um eine anhaltende und dramatische soziale Ungleichheit und um wirtschaftliche Nachteile. Zum Beispiel ist die Lebenserwartung eines Mannes im Süden Großbritanniens mit 80,1 Jahren noch immer elf Jahre höher als die eines Mannes in Glasgow mit nur 69,1 Jahren. Schottland und der Nordwesten Englands (in dem sich Liverpool befindet) haben den höchsten Anteil an frühzeitigen Todesfällen.13 In Liverpool befinden sich weiterhin einige der ärmsten Verwaltungsbe9 Murden 2006 (wie Anm. 7), S. 428–429; Übersetzung C. G. 10 Siehe Murden 2006 (wie Anm. 7), S. 429. 11 Siehe Murden 2006 (wie Anm. 7), S. 450–458 und Parkinson, Michael, Liverpool on the Brink, Hermitage, Berkshire 1985 für einen Abriss der Geschichte der „Militant Tendency“ und der „Liverpool Labour Party”. 12 Zitiert in Lane 1987 (wie Anm. 8), S. 13, Übersetzung C. G. 13 Siehe Carvel, John, North-south life expectancy gap grows wider, in: The Guardian, 16.10.2004, S. 6.

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zirke des Landes und im Stadtzentrum ist die Wahlbeteiligung national am niedrigsten. Diese Unterschiede sind so extrem, dass es heute in Europa scheinbar keine Parallelen gibt. In einem Fernsehprogramm der BBC über das Nord-Süd-Gefälle in England wurde interessanterweise der Vergleich zu Deutschland vor dem Fall der Mauer gezogen.

Der Verfall und Untergang des Britischen Imperiums Liverpool stand exemplarisch für den harten Übergang Großbritanniens von einer ehemals imperialen und industriellen Weltmacht zu einem von Krisen und endlosen Streiks geschüttelten Land, das langsam, aber sicher dem Ruin entgegenzurutschen schien. Die Liverpooler („Liverpudlians“ auf Englisch oder umgangssprachlich „Scousers“, nach einem skandinavischem Eintopfgericht) wurden zu den Ostfriesen Großbritanniens. Noch schlimmer: Sie wurden erbarmungslos nicht nur als dumm porträtiert, sondern auch als arbeitsscheue Kleinkriminelle karikiert, die von Sozialhilfe leben, in geschmacklosen Trainingsanzügen herumlaufen, einen unverständlichen Dialekt sprechen und alles stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist. In zahlreichen Witzen, Karikaturen und satirischen Fernsehsendungen wurde (und wird gelegentlich noch heute) ein Image propagiert, in dem pointierter Humor und scharfe Beobachtungen oft in aggressive gesellschaftliche Verachtung und Verspottung umschlagen.14 Anspielend auf die angeblich hohe Autokriminalität zeigte beispielsweise eine Karikatur einen Bürostuhl auf Backsteinen anstatt Rollen. Im „Scousers Monopoly“ führt jedes Feld zum Gefängnis. Popularisiert durch eine Komödienfernsehserie der neunziger Jahre werden Liverpooler Fußballanhänger stereotyp mit Dauerwelle und Schnauzbärten und in Trainingsanzüge gekleidet dargestellt. Und in einer Karikatur unter dem Titel „Scouse Mum“, die auf den hohen Prozentsatz von Schwangerschaften unter Teenagern anspielt (bekanntermaßen ein nationales Problem), fragt ein Kind seine Geschirr spülende Mutter: „Mama, warum sind deine Hände so weich?“ „Ich bin zwölf.“ Wie Peter Stallybrass und Allon White argumentiert haben, „ist das, was sozial peripher ist, symbolisch häufig zentral.“15 Liverpool ist gerade deshalb von herausgehobener Bedeutung und von symbolischer Signifikanz, weil es am Rande liegt – geografisch wie wirtschaftlich, sozial wie kulturell. Die Liverpooler scheinen eine Art des „kulturellen Anderen“ zu repräsentieren, das ohne Weiteres zum Ziel des Spotts gemacht und der Lächerlichkeit preisgegeben werden darf. Die Verachtung der Stadt und ihrer Bewohner, ihrer Sprache und Kultur steht symptomatisch für unverarbeitete gesellschaftliche und soziale Umwälzungen, insbesondere für die in fundamentalen 14 Siehe auch Boland, Philip, The construction of images of people and place: Labelling Liverpool and stereotyping Scousers, in: Cities, Band 25, No. 6, Dezember 2008, S. 355–369. 15 Stallybrass, Peter/White, Allon, The Politics and Poetics of Transgression, Ithaca, New York 1986, S. 5.

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ökonomischen Veränderungen begründeten Spannungen der Nachkriegszeit und für das Trauma des Verlusts des Empires. Wie so oft in Großbritannien stehen im Zen­ trum regionaler und kultureller Unterschiede tiefsitzende Klassenunterschiede, die sich nicht nur in humorvollen Charakterisierungen manifestieren, sondern in anhaltenden Vorurteilen und kaum versteckter Verachtung, in realer ökonomischer Benachteiligung, sozialer Vernachlässigung und im Ausschluss aus politischen Entscheidungsprozessen. Regionale Unterschiede gelten in diesem Fall wenig und es ist akzeptabel, gegen Prinzipien der Toleranz und der kulturellen Vielfalt zu verstoßen. Die tiefsitzende Abneigung, die Liverpool entgegengebracht wird, hat ihren Ursprung in der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts und der Spaltung, die den Norden der Arbeiterklasse von dem mehr „kultivierten“ Süden absonderte und die bis heute die Vorstellungen dominiert. Es waren „die neuen Beziehungen von Produktion und kommerziellem Austausch“, die sich durch die industrielle Revolution entwickelten und eine „ungleiche Geografie“ zwischen dem Norden und dem Süden etablierten. Diese „ungleiche Geografie“ mit „ihren Wahrnehmungen von sozialen Anomalien, der Drohung von Klassenkampf, der Herabsetzung des Lebensstandards und Lebensbedingungen [und] den politischen Herausforderungen, die die aufsteigende Mittelklasse“ stellte, wurde in der Sprache reflektiert, mit der der Norden beschrieben wurde. Es ist eine Sprache, die, wie Rob Shields analysiert hat, „einen räumlichen Diskurs festlegte, der das Zentrum privilegierte – London – und versuchte, den Norden nicht nur als eine ökonomische, sondern auch als eine kulturelle Peripherie um diesen Kern herum neu zu definieren.“16 In der Annahme eines sozialen Gefälles zwischen der angeblich Raffinesse der Metropole London und der „unkultivierten Rohheit“ der provinziellen Städte des Nordens verbanden sich regionale Vorurteile mit handfesten wirtschaftlichen Nachteilen. So war es immer wieder London, das von dem Erfolg internationaler Konglomerate wie zum Beispiel Unilever und der Großzügigkeit von Mäzenen wie Sir Henry Tate profitierte, dessen Reichtum seinen Ursprung in Liverpool hatte.17 Jenseits des Nord-Süd-Gefälles steht das traurige Vermächtnis des Empires, das in Liverpool vielleicht offensichtlicher ist als in jeder anderen britischen Stadt. Die sogenannten „drei Grazien“, Monumentalbauten vom Anfang des 20. Jahrhunderts, die das Bild der Stadt dominieren, künden von besseren und wohlhabenderen Zeiten – die imposante Skyline selbstbewusst dem Meer und der Welt zugewandt. Liverpool steht, 16 Shields, Rob, Places on the Margin: Alternative Geographies of Modernity, London and New York 1991, S. 214, Übersetzung C. G. Diese Unterscheidung lässt sich wenigstens bis in das 18. Jahrhundert zurückverfolgen und liegt so vor der Geburt des „Scouse“-Dialekts, wie eine Passage von John Walker in seinem Critical Pronouncing Dictionary von 1791 illustriert: „Der große Unterschied zwischen der Metropolis und der Provinz ist, dass die Leute von Erziehung in London frei sind von allen Sünden des Vulgären; die gebildetsten Menschen in der Provinz sind aber, wenn sie dort ständig ansässig sind, gezeichnet von dem Dialekt des Landes, in dem sie leben.“ Zitiert in: Belchem, John, Merseypride: Essays in Liverpool Exceptionalism, Liverpool 2000, S. 48, Übersetzung C. G. 17 Siehe Hatton, Brian, Shifted tideways: Liverpool’s changing fortunes, in: Architectural Review, Band CCXXIII, No. 1331, Januar 2008, S. 46.

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wie ein Kommentator geschrieben hat, als „sichtbare Erinnerung an das Empire“, aber auch an „den Verlust des Glanzes des Empires. Die Stadt ist auf der einen Seite der Sündenbock für die Vergehen des Empires und auf der anderen für die Krankheiten Englands in seinem postimperialen Trauma.“18 Mehr als jede andere Stadt mussten Liverpool und seine Bewohner für die schwierige wirtschaftliche und politische Transformation des Landes von einer Weltmacht zum postindustriellen Krisenherd symbolisch wie reell bezahlen. Es war dieses ambivalente historische Erbe – und seine architektonische Manifestation –, das in den 1980er Jahren unter dem Banner von Kultur, Kreativität und Tourismus als Rettung Liverpools aus der postindustriellen Malaise angerufen wurde. Wiederum kann die Stadt eine gewisse Vorreiterstellung für sich in Anspruch nehmen, wenn auch der erwünschte Effekt lange auf sich warten ließ. Der zentrale Anker der

Abbildung 1 Blick über Liverpool und die Mersey mit dem Albert Dock und Pier Head mit den sogenannten „Drei Grazien“ im Vordergrund, 23. April 1923 © Liverpool Record Office (352 ENG/2/4106) 18 Biggs, Lewis, Ducking and Weaving, in: Liverpool Biennial: The International 2002, Liverpool 2002, S. 32, Übersetzung C. G.

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Wiederbelebung der Stadt war Liverpools lange Handels- und Seefahrtsgeschichte und insbesondere der historische Albert-Dock-Komplex aus den 1840er Jahren. Lange vom Abriss bedroht, wurde die zentral gelegene monumentale Dock- und Speicheranlage der Fokus der Wiederbesinnung auf das historische Vermächtnis der Stadt und zum Zentrum des kulturellen Lebens.19 1986 eröffnete das Merseyside Maritime Museum und im Mai 1988 eine Zweigstelle der Londoner Tate Gallery. Restauriert mit Investitionen von insgesamt 100 Millionen Pfund, wurde das Albert Dock zu einer der populärsten Touristenattraktionen des Landes mit jährlich bis zu sechs Millionen Besuchern.

Abbildung 2

Tate Liverpool, Albert Dock, Liverpool © Credit: Tate Liverpool 2011

Böse Zungen behaupteten damals (und tun es noch heute), dass die Ansiedlung der Tate in Liverpool das direkte Resultat der Rassenunruhen im Jahre 1981 war, die nicht nur in Liverpool, sondern auch in dem Londoner Stadtteil Brixton und anderen britischen Großstädten ausbrachen. Ein ebenso hervorzuhebendes und hochgradig symbolisches Ereignis – wenn auch ebenso ohne direkten kausalen Zusammenhang – war die Schließung der prominenten Tate & Lyle Zuckerraffinerie 1981 in Liverpool, die 19 Die für die Region Liverpool verantwortliche Merseyside Development Corporation fand, dass „die Wiedereinführung von Wasser in die Docks die wichtigste singuläre Handlung sei, die vorgenommen werden könnte, um die physische Umgebung zu verbessern.“ Merseyside Development Corporation (MDC), Initial Development Strategy, Liverpool 1981, S. 17; zitiert nach Murden 2006 (wie Anm. 7), S. 23, Übersetzung C. G.

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mit dem Verlust von 1500 Stellen einherging (Sir Henry Tate, der der Tate Gallery ihren Namen gab, stammt ursprünglich aus Liverpool und sein Reichtum basierte auf dem Zuckerhandel).20 Die Zukunft der Stadt wurde zum Gegenstand erbitterter Kämpfe zwischen der radikal linken Stadtregierung und der konservativen Regierung Thatchers. In der Tat bemühte sich die konservative Regierung durch von der lokalen Regierung unabhängige „Urban Development Corporations“, eine Organisation zu etablieren, die zur „Wirtschaftsankurbelung Privatinvestitionen und Arbeitsplätze fördern würde, während sie Grundbesitz und Immobilien wieder effektiv nutzbar machen, eine attraktive Umgebung schaffen und Wohnungen und soziale Einrichtungen stellen würde, sodass Menschen ermutigt würden, in der Gegend zu arbeiten und zu leben.“21 Die Merseyside Development Corporation war bereits vor den Rassenunruhen etabliert worden. Sie führte die Arbeit vorhandener lokaler politischer Körperschaften fort und setzte in einigen Fällen schon existierende Strategien zur Regeneration der Stadt und der Region um. Der sogenannte „Minister für Merseyside“, Michael Heseltine, versuchte bereits seit 1979, Lösungen für die heruntergekommene und abgewirtschaftete Stadt am Rande der Explosion zu finden. Nach 1981 intensivierte die konservative Regierung die dafür notwendige finanzielle und politische Unterstützung. Die Rettung des Albert Docks wurde zum Vorzeigeprojekt, und für den Umbau des Lagerhauses in ein modernes Museum durch den postmodernen Stararchitekten James Stirling (der in Liverpool studiert hatte) wurden von staatlicher Seite 4,5 Millionen Pfund zur Verfügung gestellt. Nur wenige Abgeordnete der Stadt begeisterten sich jedoch für das Projekt einer „Tate Gallery of the North“, wie das Museum ursprünglich genannt wurde, viele andere hingegen sahen die Arbeitsplatzbeschaffung und den sozialen Wohnungsbau als wichtigere Prioritäten an.22

Vom Krisenherd zur Europäischen Kulturhauptstadt Als sich Liverpool Anfang des neuen Millenniums um den Titel der europäischen Kulturhauptstadt bewarb, war der politische Extremismus der achtziger Jahre lange vergessen. Dem nationalen Trend entgegen (1997 wurden „New Labour“ und Tony Blair in einem Erdrutschsieg gewählt) etablierte sich 1998 eine liberaldemokratische Regierung in Liverpool, die sich ausgesprochen offen, geschäfts- und investitionsfreundlich gab und in enger Partnerschaft mit staatlichen regionalen Behörden und der nationalen Labourregierung arbeitete, insbesondere im Rahmen von deren urbanen Regenerations- und sozialen Eingliederungsprogrammen. Großzügige europäische Subventio20 Siehe Murden 2006 (wie Anm. 7), S. 436–437, Übersetzung C. G. 21 Murden 2006 (wie Anm. 7), S. 439, Übersetzung C. G. 22 Siehe Spalding, Frances, The Tate: A History, London 1998, S. 223–224 und Tate Gallery Liverpool: Souvenir Guide, London 1999, S. 5–9.

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nen für strukturschwache Regionen halfen, Defizite in der Infrastruktur auszugleichen, kulturelle Vorzeigeprojekte zu finanzieren und das Stadtbild zu verbessern. Die Bewerbung war ein klares Zeichen des wiedererstarkten Selbstbewusstseins und Ehrgeizes einer Stadt, die zwar nach außen nie an ihrer eigenen Selbstglorifizierung gespart hatte, aber in den schwierigsten Zeiten kaum mehr ihren eigenen Werberummel glauben konnte. Das starke Team aus politischer Führung und dem Management der Stadt sah die Bewerbung als ein zentrales Element einer Langzeitstrategie, um die Stadt zu sanieren, den übergroßen öffentlichen Verwaltungsapparat abzubauen, sie geschäftsfreundlicher zu machen und neue Beschäftigungszweige und Einkommensquellen zu entwickeln. Der Wettbewerb um den britischen Vertreter der europäischen Kulturhauptstadt wurde vom nationalen Kulturministerium geleitet, das eine unabhängige Kommission einsetzte, die die endgültige Wahl traf. Liverpool setzte sich gegen die beeindruckende Konkurrenz von Bristol, Cardiff und Oxford und gegen die Mitfavoriten Birmingham und Newcastle/Gateshead durch. Die Bekanntgabe am 4. Juni 2003 wurde in der Stadt mit enormer Begeisterung gefeiert und viele sahen es als das Beste an, das der Stadt im letzten halben Jahrhundert widerfuhr – eine klare Anerkennung und Bestätigung, dass Liverpool wieder im Aufschwung begriffen war. Die Stadt war hungrig nach dem Titel, die Bevölkerung stand voll hinter der Bewerbung und die Jury realisierte, dass Liverpool dringend einen ‚Boost‘ benötigte und dass der Effekt in einer anderen Stadt kaum größer sein könnte. Der anfänglichen Euphorie folgte eine lange Reihe von weniger erfreulichen Skandalen, inklusive der Rücktritte des Geschäftsführers und der politischen Führung der Stadt, der künstlerischen Leiterin Robyn Archer Mitte 2006 und schlussendlich des Geschäftsführers der Liverpool Culture Company, die zur Realisierung des Programms gegründet worden war, einen Monat nach Beginn des Kulturhauptstadtjahrs. Das Prestigebauprojekt der sogenannten „Fourth Grace“ am Flussufer, das Will Alsop mit seinem mutigen Entwurf der „Wolke“ gewonnen hatte, wurde wegen eskalierenden Kosten und Fragen über die Realisierbarkeit des Projektes im Juni 2004 abgesagt. Die Krisen erinnerten mehr an das alte Liverpool als an die Vision einer wieder aufstrebenden und modernen Metropole.23 Die ambitionierte Verkündigung, die beste Kulturhauptstadt aller Zeiten liefern zu wollen, klang oft verdächtig nach realitätsfremder Hybris. Wie die Geschichte der europäischen Kulturhauptstädte aber zeigt, war Liverpool keine Ausnahme; der Weg der Kulturhauptstädte ist selten ohne Herausforderungen, und interne Probleme mit politischen Skandalen schienen eher die Norm als die Ausnahme zu sein.24 23 Siehe Ward, David, Crisis talks bring broader vision for Liverpool’s year of culture, in: The Guardian, 12.7.2006, S. 11; Campbell-Johnston, Rachel, Rubble, rubble, your place is a mess, in: The Times, Section 2, 22.8.2006, S. 15–16. 24 Siehe Palmer/Rae Associates, European Cities and Capitals of Culture, Study Prepared for the European Commission, Part II, August 2004, http://ec.europa.eu/culture/pdf/doc654_en.pdf (letzter Aufruf November 2010), S. 51–52.

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Phönix aus der Asche Dass Liverpools Jahr als Kulturhauptstadt objektiv als überragender Erfolg betrachtet werden kann, muss am Ende selbst die fanatischsten Lokalpatrioten und größten Optimisten überrascht haben. Hinsichtlich der Besucherzahlen und -ausgaben, der Investition in das Programm, der Sponsoreneinnahmen, der Teilnahme der Bevölkerung, der Medienberichterstattung und der radikalen Imageverbesserung lieferte „Liverpool08“ beeindruckende Statistiken.25 Insgesamt 15 Millionen Menschen besuchten ein kulturelles Ereignis oder eine lokale Touristenattraktion.26 Die Liverpool Culture Company investierte über einen Zeitraum von sechs Jahren beeindruckende 122 Millionen Pfund. Der Wert der globalen Medienberichterstattung wurde mit 200 Millionen Pfund angegeben. 25 Prozent der Besucher der Stadt (oder 3,5 Millionen) waren zum ersten Mal in Liverpool. Hotels verzeichneten mit insgesamt einer Million verkaufter Hotelübernachtungen Auslastungsraten von durchschnittlich 77 Prozent.27 In enger Zusammenarbeit mit dem kulturellen Sektor realisierte die Stadt ein Programm auf hohem internationalen Niveau, das von klassischen Kulturveranstaltungen wie Ausstellungen, Konzerten und Theateraufführungen bis zu touristischen Groß­ events, populärer Musik und spektakulärem Straßentheater reichte. Zu den Höhepunkten gehörten ein Gastspiel von Sir Simon Rattle mit den Berliner Philharmonikern in seiner Heimatstadt, die Gustav-Klimt-Ausstellung in der Tate Liverpool, King Lear mit dem britischen Hollywoodstar Pete Postlethwaite, die mechanische Spinne von Artichoke, die internationale Windjammerregatta, die europäischen MTV Music Awards und das fast obligatorische Auftreten der zwei noch lebenden Beatles Ringo Starr (der bei der Eröffnung spielte) und Paul McCartney. Das breite Spektrum der Veranstaltungen und die gezielte Einbeziehung und aktive Teilnahme der Bevölkerung waren ein essenzieller Bestandteil des Erfolgs. In diesem Jahr ließ sich ein Anstieg bei der Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen um 10 Prozent verzeichnen und ein beeindruckendes Wachstum der Besucherzahlen der sieben größten Besucherattraktionen der Stadtregion um 50 Prozent seit 2004 (mit insgesamt 5,5 Millionen Besuchern im Jahr 2008). 70 Prozent aller Bewohner besuchten 2008 ein Museum, den nationalen 25 Die Ausgaben übertrafen die aller anderen bisherigen Kulturhauptstädte; Übernachtungen stiegen um beeindruckende 34,9 Prozent und Hotelübernachtungen um 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr, ein größerer Gewinn, als andere Kulturhauptstädte (bis 2004) mit Ausnahme des relativ kleinen Weimar ihn verzeichnen konnten. Vgl. Palmer/Rae Associates 2004 (wie Anm. 24), Part I, S. 93–96, 110–113 und Garcia/Melville/Cox 2009 (wie Anm. 3), S. 27, 51. 26 Die Impacts08-Studie nennt eine Zahl von 10 Millionen Besuchern, während die Zahl von 15 Millionen Besuchern Ereignisse außerhalb des offiziellen Programms beinhaltet; vgl. Garcia/Melville/Cox 2009 (wie Anm. 3), S. 19. 27 Siehe Liverpool Culture Company, Final Report 2003–2008, Liverpool 2009, S. 13, 35. Siehe auch Liverpool ’08 European Capital of Culture: The Impacts of a Year Like No Other, Liverpool 2009, S. 89 und Garcia/Melville/Cox 2009 (wie Anm. 3), insbesondere die Übersicht der „Headline Messages“ am Anfang der Studie.

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Durchschnitt von 59 Prozent klar übertreffend.28 Das sozioökonomische Besucherprofil entsprach dem der lokalen Bevölkerung – wichtig für eine Stadt, die weiterhin unter extremer sozialer Ungleichheit leidet.29 Am Ende würdigte der Präsident der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, Liverpool als „eines der erfolgreichsten Kulturhauptstadtprogramme, das wir jemals hatten“.30 Zentral für den Erfolg des Kulturhauptstadtjahres war es, auf der bestehenden Substanz aufzubauen, insbesondere auf den zahlreichen international führenden kulturellen Einrichtungen, auf der faszinierenden Geschichte der Stadt und ihrer Reflexion in Liverpools imposantem Stadtbild sowie auf der langen Tradition der Kreativität und der künstlerischen Errungenschaften. Die Stadt kann einen kulturellen Reichtum aufweisen, der in England außerhalb Londons ohne Parallele ist, inklusiver zweier nationaler Museen, einer blühenden Szene zeitgenössischer Kunst mit der einzigen Biennale des Landes, Theatern mit langer Tradition und einer wieder aufstrebenden Philharmonie. 2004 wurde Liverpool aufgrund seiner maritimen und Handelsgeschichte wie seiner beeindruckenden Architektur zur Stätte des UNESCO Weltkulturerbes erklärt. Insbesondere war es für den Erfolg wesentlich, dass die Kulturhauptstadt kein isoliertes Ereignis war, sondern auf einem positiven Impuls aufbaute und Hand in Hand mit öffentlichen Regenerationsinitiativen sowie privaten Investitionen ging. So stellte die Impacts08-Studie fest: „Ein bedeutendes kulturelles Event kann ein kraftvoller Antrieb für sozialen und ökonomischen Wandel sein, aber es muss ergänzt werden um andere, auf einen langen Zeitraum orientierte Strategien, um eine nachhaltige Zukunft zu sichern.“31 In Liverpool fiel die Bewerbung um den Titel der Kulturhauptstadt mit einem bereits in vollem Gange befindlichen Regenerationsprogramm zusammen, unterstützt von großzügigen öffentlichen Subventionen (insbesondere von europäischen Fonds) und bedeutenden privaten Investitionen. Ohne Zweifel gab der angesehene Titel der Kulturhauptstadt diesem Prozess beachtlichen Auftrieb, stiftete notwendiges Selbstvertrauen, setzte zusätzliche Investitionen frei und machte bedeutende Infrastrukturprojekte möglich. So wurden seit dem Jahr 2000 in der Stadt Bauprojekte im Wert von 4 Milliarden Pfund realisiert. Zentrale Großprojekte für die Tourismusindustrie der Stadt waren das integrierte Konferenzzentrum mit Musikarena und die neue Anlegestelle für Kreuzfahrtschiffe. Der Flughafen hat innerhalb weniger Jahre die Passagierzahlen vervielfacht und kommt inzwischen auf jährliche Zahlen von über fünf Millionen. Das 28 Siehe Liverpool Culture Company 2009 (wie Anm. 27), S. 35. Siehe auch Liverpool ’08 European Capital of Culture (wie Anm. 27), S. 89. 29 So nahmen 66 Prozent der Liverpooler Einwohner mindestens an einer kulturellen Veranstaltung teil. Die Culture Company organisierte ein sogenanntes Creative Communities Programm, das jedes Schulkind und jede Gemeinde mit der Kulturhauptstadt in Kontakt bringen sollte. Garcia/Melville/ Cox 2009 (wie Anm. 3), S. 20–21, 23. 30 Liverpool Culture Company 2009 (wie Anm. 27), S. 4. 31 „Capital of Culture transforms perceptions of Liverpool, researchers find“, Pressemitteilung des Impacts08 Forschungsprogramms, 12.3.2010, http://www.liv.ac.uk/news/press_releases/2010/03/ impacts_report.htm (letzter Aufruf Dezember 2010), Übersetzung C. G.

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mit Abstand größte Projekt war das „Liverpool One“-Einkaufszentrum, das mit einer Milliarde Pfund Baukosten und gut vierzig neuen oder renovierten Gebäuden einen bedeutenden Teil der Innenstadt transformierte und Liverpool von Platz 15 unter die fünf erfolgreichsten Einkaufsziele des Landes katapultierte.32 Liverpool vermied dabei die Fehler vieler anderer Städte und entschied sich gegen einen großen Monolithen und bevorzugte vorsichtig in die Stadt integrierte Einzelbauten sowie eine im Großem und Ganzen qualitätsvolle Architektur.

Abbildung 3

Blick auf Liverpool One über Chavasse Park, 2010 © Courtesy of Grosvenor Britain & Ireland, London

Der wichtigste Effekt des Erfolgs der Kulturhauptstadt lässt sich jedoch nicht in Zahlen messen: Es ist die Wandlung des Images der einst (vor allem in Großbritannien) verrufenen Stadt und das internationale Medienprofil, das die Verleihung mit sich bringt. So zog die Bekanntgabe der Verleihung des Titels an Liverpool im Jahr 2003 den höchsten Prozentsatz an positiver Berichterstattung zwischen diesem Jahr und 2008 nach sich. Nach der anfänglichen Konzentration der Berichterstattung auf den wirtschaftlichen, sozialen und den Marketingeffekt der Kulturhauptstadt konzentrierten sich die Medien zunehmend auf die kulturellen Veranstaltungen des Ereignisses und repositionierten 32 Siehe http://www.englandsnorthwest.com/news_and_features/news/201011/retail_plans_explored_ for_live.aspx (letzter Aufruf November 2010).

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Liverpool so als ein besuchenswertes touristisches Ziel. Im Jahr 2008 selbst ließ sich eine bedeutende Zunahme (um 71 Prozent gegenüber dem Vorjahr) an Medienberichten mit überwiegend positiver oder neutraler Berichterstattung (90 Prozent) verzeichnen.33 Liverpool wurde nicht länger als hoffnungsloser Fall angesehen, vielmehr beschrieben es nun 79 Prozent aller in Großbritannien Befragten als eine „aufsteigende Stadt“, der höchste Prozentsatz unter allen Städten in Großbritannien.34 Die dramatische Wandlung des öffentlichen Bildes Liverpools darf nicht unterschätzt werden, gerade in einer Stadt, die, wie oben beschrieben, nicht nur unter einem extrem negativen Image litt, sondern auch unter eklatanter Diskriminierung mit handfesten Nachteilen. Somit schloss sich der Zirkel von viktorianischer Glanzzeit, langem Niedergang und kultureller Verwahrlosung und dem wundersamen, dem des Phönix aus der Asche gleichenden Wiederaufstieg der Stadt auf der Basis von Liverpools langer Geschichte und reichem kulturellen Erbe.

Das Vermächtnis der Kulturhauptstadt Zentrales Motto für Liverpool war, dass die Verleihung der Kulturhauptstadt-Ehre „ein Stipendium, nicht ein Pokal“ für bereits gelieferte Leistungen sei.35 2008 sollte nur ein Meilenstein auf der Reise zu einer „großen europäischen Metropole“ sein. In der Vorbereitungszeit wurde immer wieder betont, dass die Langzeitwirkung des Ereignisses der Maßstab für den Erfolg sein müsse, mit Glasgow als warnendem Beispiel einer erfolgreichen Kulturhauptstadt (1990), die in den Folgejahren unter einem „langen Kater“ litt. Liverpool konnte die Besucherzahlen, die es im Kulturhauptstadtjahr hatte, auch über das Jahr 2008 hinaus halten. So ging zum Beispiel die Zahl der Übernachtungen in Hotels 2009 nur um bescheidene 4 Prozent zurück, und dies trotz neu hinzukommenden Hotelzimmern.36 Ambitionierte Bauprojekte sind in Planung bzw. nähern sich der Vollendung, zum Beispiel der bedeutende Neubau des stadthistorischen Museum of Liverpool in direkter Nachbarschaft des Albert Docks und der Tate Liverpool mit der für Juli 2011 geplanten Eröffnung. Die Institution der Kulturhauptstadt hat eine würdige Nachfolge auch in der „UK City of Culture“ gefunden, einem alle vier Jahre in einer britischen Stadt stattfindenden Festival. Die erste Stadt, der diese Ehre verliehen wurde, war Derry/Londonderry in Nordirland, das ähnlich wie Liverpool große Hoffnungen auf die Kultur setzt, um von wirtschaftlichen Problemen und tiefen Konfessionskonflikten geprägte Jahrzehnte zu überwinden. 33 Siehe Garcia/Melville/Cox 2009 (wie Anm. 3), S. 39–40. 34 Siehe Liverpool Culture Company 2009 (wie Anm. 27), S. 35. 35 Siehe Mike Storey, zitiert in Christiansen, Rupert, In search of a new identity, in: Daily Telegraph, 30.12.2003, http://www.telegraph.co.uk/culture/3609310/In-search-of-a-new-identity.html (letzter Aufruf November 2010). 36 Siehe Garcia/Melville/Cox 2009 (wie Anm. 3), S. 27.

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Abbildung 4

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Das neue Museum of Liverpool (rechts) und der Pier Head mit den „Drei Grazien“ (Liver, Cunard und Mersey Docks & Harbour Board Gebäude), 2010 © Mills Media courtesy of National Museums Liverpool

„Creative Britain“ Tourismus allein kann jedoch eine Stadt der Größe Liverpools nicht erhalten. In der postindustriellen Metropole sind „wissensbasierte und Konsumgüterindustrien“ der Schlüssel zu einer erfolgreichen Wiederbelebung. Die Modeworte heute sind „kreative Gesellschaft“, „Wissensökonomie“ und „intellektuelles Kapital“. Die ehemalige Quelle des Reichtums soll dabei durch die sogenannten neuen Industrien des digitalen Zeitalters sowie den Dienstleistungsbereich ersetzt werden. Gerade im angelsächsischen Raum spielen die „Creative Industries“ in der Diskussion um die Regeneration von postindustriellen Städten eine wichtige Rolle. Zu ihnen gehören insbesondere Architektur, Design, Mode, Film, Werbung, Musik, darstellende Künste, Verlagswesen, Radio und Fernsehen, Computerprogrammierung und Softwareentwicklung – also im Grunde entmaterialisierte Wirtschaftszweige, die entscheidend auf Kreativität, Innovation und neuen Technologien basieren. In der Tat spielen diese in Großbritannien eine bedeutende Rolle; sie steuern inzwischen circa 6,2 Prozent zur Bruttowertschöpfung bei und beschäftigen knapp zwei Millionen Menschen (in London ist zum Beispiel nur der Finanz- und Servicesektor bedeutender).37 37 Die neuesten Statistiken liegen für 2007 bzw. 2008 vor. Siehe http://webarchive.nationalarchives. gov.uk/+/http://www.culture.gov.uk/reference_library/publications/6622.aspx (letzter Aufruf No-

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Entsprechend dem Argument, das Richard Florida in seinem Buch „The Rise of the Creative Class“ vorbringt, müssen Städte, die heute im globalen Wettbewerb um Investitionen und um hervorragende Talente bestehen wollen, ein entsprechendes kreatives, liberales und inspirierendes Milieu bieten. In der Gegenwart basiert wirtschaftlicher Vorteil genauso auf einer Transportinfrastruktur und qualifizierten Arbeitskräften wie auf Lebensqualität, der Attraktivität des lokalen Umfelds, einem starken Gefühl von Ortsverbundenheit und lokaler Identität und dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Die Idee, dass in der modernen Informationsgesellschaft Standortfragen irrelevant geworden seien, hat sich als Trugschluss herausgestellt, wie wiederum Florida feststellt: „Die kreative Wirtschaft organisiert sich heute weniger um nationale Grenzen und Industriebereiche, sondern mehr um Städte.“ Die Macht des Nationalstaates ist im Schwinden begriffen, während „die Rolle der Regionen als Schlüssel wirtschaftlicher und sozialer Organisationseinheiten zunimmt.“38 Die Städte, die sogenannte „Lifestyle-Optionen“ bieten können, werden erfolgreich kreatives Talent sowie Investmentkapital anziehen. Global mobile Arbeitskräfte suchen heute nach informellen Situationen, sozialer Interaktion, Vielfältigkeit, Toleranz und einem inspirierenden kulturellen Umfeld. Was Städte heute brauchen, sind sogenannte „Cluster“ – Konzentrationspunkte oder stimulierende Stätten, an denen gleichgesinnte Individuen und Geschäftsleute zusammenkommen können. Kultur kann diese Freiräume bieten, Städten und Regionen Identität geben wie auch Offenheit und Experimentierfreude demonstrieren. Vor allem ist es wichtig, sich zu erinnern, dass das Neue und Experimentelle gerade an den urbanen Randzonen und im Untergrund gedeiht. Florida argumentiert, dass „die Anwesenheit und Konzentration von Bohemiens ein Umfeld oder Milieu schafft, das … talentierte Individuen … anzieht. Die Anwesenheit von solchem Humankapital zieht wiederum innovative und technologiebasierte Industrien an.“39 Was bedeutet das für eine Stadt wie Liverpool? Wird die Stadt sich in ein Paradies von Computerspieldesignern verwandeln, die in Straßencafés sitzen und Latte Macchivember 2010). Siehe auch Rt. Hon. Patricia Hewitt, Secretary of State for Trade and Industry, Cabinet Minister for Women, Creativity in the Knowledge Economy, Rede vor der Citigroup, London, Dienstag, 29.6.2004, http://www.dti.gov.uk/ministers/speeches/hewitt290604.html (letzter Aufruf Dezember 2010); Smith, Chris, Creative Britain, London 1998; In the Frame 04-06. Culture North­ west, Manchester 2006, S. 12. Für eine Analyse des wirtschaftlichen Beitrags der „kulturellen“ und „kreativen Industrien“ in Liverpool siehe Liverpool City Council (Hg.): European Capital of Culture 2008. Socio-Economic Assessment of Liverpool’s Bid, May 2003, S. 25–39, A1-A3 und Ekos Consulting, Contribution of Culture to the North West Economy, Commissioned by culturenorthwest and Northwest Regional Development Agency, June 2005, insbesondere S. 10–23. 38 Florida, Richard, The Flight of the Creative Class: The New Global Competition for Talent, New York 2005, S. 161, Übersetzung C. G. 39 Florida, Richard, The Geography of Bohemia, New York 2001; zitiert nach Westwood, Andy/ Nathan, Max, Manchester: Ideopolis? London 2002, S. 39, Übersetzung C. G. Siehe auch Lloyd, Richard, Neo-Bohemia: Art and Commerce in the Postindustrial City, New York und London 2006.

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atos genießen, während sie drahtlos im Internet surfen? Oder wird der Charakter der Stadt und ihrer Einwohner durch die rationalisierende Kraft globaler Marken unterdrückt werden? Wird das Lokale durch den homogenisierenden Einfluss internationalen Kapitals vereinnahmt werden? Wird eine periphere Stadt auf der Suche nach verlorener Größe die eigene Bevölkerung marginalisieren, um ihr volles wirtschaftliches Potenzial zu realisieren? Wie Phil Cohen beobachtet hat, ist heute die zentrale Frage: Inwieweit schaffen „die Kulturindustrien eine neue Form des Nischenmarketings des Lokalen in und durch die globale Stadt …? Oder verstärken diese Strategien der urbanen Regeneration nur jegliche Formen der sozialen Spaltung?“ Ein Nebeneffekt der Regeneration ist ohne Zweifel „die Macht, diejenigen unsichtbar zu machen, deren Gesichter nicht zu dem Image passen, das zur Förderung des größeren Gemeinwohls geschaffen wurde. … Das geschieht insbesondere in den Vierteln der älteren Industriestädte Europas, die in den letzten hundertfünfzig Jahre Immigranten und die arme Arbeiterklasse aus der ganzen Welt aufgenommen haben, die aber jetzt primäre Stätten der Stadtsanierung sind, gerade deshalb, weil sie die favorisierten Orte der neuen Kulturindustrien sind.“40

Die Instrumentalisierung der Kultur durch die Politik Der Glaube an die Kultur als Regenerationsinstrument reflektiert die offizielle Regierungspolitik Großbritanniens in den 1990ern und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Insbesondere nach dem Wahlsieg der Labour Party im Mai 1997 wurden größte Hoffnungen auf „Creative Britain“ und „Cool Britannia“ gesetzt – auf die identitätsstiftende Glorifizierung des Landes als einer Nation der Kreativität in den Künsten (die sogennanten „YBAs“ – Young British Artists), der populären Musik („Britpop“), in Film, Design, Architektur, Werbung und anderen Sparten. Kultur wurde zu einem Lieblingskind von Labour. Sie wurde allgemein mit großzügigen Subventionen bedacht und ihr wurden durch bedeutende Bauprojekte wie die Tate Modern oder die Baltic in Gateshead Denkmale gesetzt.41 Die bevorzugte Argumentation wies dabei bewusst auf den wirtschaftlichen und sozialen Nutzen der Investition in Kultur hin und darauf, dass „man ohne Kultur kein neues Leben in Städte und Gemeinden bringen kann. … Kulturelle Regeneration bringt wirtschaftliche Vorteile, indem sie Beschäftigung und 40 Cohen, Phil, In Visible Cities: Urban Regeneration and the Local Subject in the Era of Multicultural Capitalism, in: Subculture and Homogenization, Barcelona 1998, S. 100, 94, Übersetzung C. G. Für die Problematik der Regeneration durch Kultur in Bezug auf Liverpool siehe auch Ben-Tovim, Gideon, Futures for Liverpool, in: Ronaldo Munck (Hg.): Reinventing the City? Liverpool in Comparative Perspective, Liverpool 2003, S. 227–244. 41 Es sollte nicht vergessen werden, dass der Ursprung vieler dieser Projekte (wie zum Beispiel das des Millennium Dome zur Feier des neuen Jahrtausends und das der Tate Modern, beide eröffnet im Jahre 2000) lange vor dem Wahlsieg Labours liegt.

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Einkommen bringt. Sie zieht Menschen und Firmen an. Das ökonomische und kulturelle Wohlergehen einer Region kann gemessen werden durch Faktoren wie Investitionen aus dem Ausland, Arbeitsplatzschaffung, Tourismus, die Nichtabwanderung von Graduierten und steigende Grundbesitzpreise.“42 Die Finanzierung von zahlreichen Bauprojekten durch die in den 1990er Jahren ins Leben gerufene staatliche Lotterie hat dabei eine wichtige Rolle gespielt; sie hat die kulturelle Landschaft in Großbritannien entschieden verändert, nicht nur in der Hauptstadt, sondern im ganzen Land. Die politische wie auch wirtschaftliche Favorisierung des kulturellen wie kreativen Sektors wirft die fundamentale Frage nach der endgültigen Funktion und dem Wert von Kultur auf. Hat Kultur nur dann eine Bedeutung, wenn man nachweisen kann, dass sie eindeutige wirtschaftliche, finanzielle oder soziale Vorteile bringt? Hat die Entdeckung der Kultur durch die Politik als ein Mittel des Wettbewerbs und Standortvorteils negativen Einfluss auf die eigentliche Bedeutung von Kultur? Gerade in Großbritannien musste die Kultur einen hohen Preis für die großzügige Unterstützung bezahlen. Das tiefsitzende englische Misstrauen gegenüber den frivolen und nutzlosen Künsten (insbesondere der bildenden Kunst) erlaubte es nicht, Subventionen ohne klare Ziele und ohne einen nachgewiesenen gesellschaftlichen Nutzen zu verteilen. Kulturförderung wurde zum Mittel der sozialen Manipulation und Labour wurde angeklagt, den Mangel an realen Lösungsvorschlägen für die Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheits-Krise wie die des öffentlichen Transports durch Investition in Kultur und Kreativität ausgleichen zu wollen.43 So wurde versucht, Kultur wie auch Sport als Mittel der sozialen Beruhigung zu instrumentalisieren, zum Beispiel bei der Integration von ethnischen Minderheiten, sozial Ausgeschlossenen, wirtschaftlich schlechter Gestellten und Langzeitarbeitslosen. Ist die Vereinnahmung der Kultur für politische Zwecke und die wirtschaftliche Wiederbelebung sowie die soziale Manipulation eher ein Fluch denn ein Segen? Dem kulturellen Sektor in England kann nachgesagt werden, dass er nur zu willig den Argumenten des Staates gefolgt ist und versucht hat, im Austausch für großzügige Sub­ventionen den ökonomischen wie gesellschaftlichen Wert der Kultur zu demonstrieren – im gerechtfertigten Glauben an das transformative Potenzial von Kunst wie in der kalkulierten Rechtfertigung der eigenen Existenz. Die Instrumentalisierung von Kunst und Kultur ging dabei Hand in Hand mit dem Versuch, den Effekt von kulturellen Erlebnissen nach formalen und wissenschaftlichen Kriterien zu erfassen. Ganze Forschungszweige widmen sich heute dem Vorhaben, die quantitative Wirkung und den wirtschaftlichen Wert von Kultur zu messen, zu dokumentieren und statistisch nachzuweisen. Wenn auch viele dieser Forschungsinitiativen durchaus ihre Berechti42 Department of Culture, Media and Sport (Hg.): Culture at the Heart of Regeneration, London 2004, S. 3, 5, Übersetzung C. G. 43 Siehe auch Brighton, Andrew, Towards a command culture: New Labour’s cultural policy and Soviet Socialist Realism, in: Mark Wallinger und Mary Warnock (Hg.): Art for All? Their Policies and Our Cultures, London 2000, S. 36–41.

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gung und ihren Zweck haben, werfen sie doch die fundamentale Frage nach dem Wert von Kultur auf und die, ob es in der Tat möglich ist, den Nutzen von Werken bildender Kunst, Literatur, Musik, Theater oder Tanz zu messen. Ein gewisser Grad an Verantwortlichkeit, die Rechtfertigung von Subventionen und die Erfüllung von klaren Planzielen haben durchaus ihren Platz. Viele europäische Kultureinrichtungen scheinen sich noch immer in einer Subventionskultur zu Hause zu fühlen, in der man sich wenig um Besucherzahlen, zeitgenössische Relevanz, Besucherfreundlichkeit oder eine größere ethnische oder soziale Vielfalt der Kunst wie des Publikums kümmert. Was heute vor allem nötig ist, ist einerseits eine offene Anerkennung der notwendigen politischen Rechtfertigungszwänge mit dem Nachweis der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Kultur und andererseits der Respekt vor dem inhärenten Wert der Kunst, der sich schwer artikulieren oder quantifizieren lässt, ohne dass man auf Begriffe wie Schönheit, Wahrheit, Freude oder Transzendenz zurückgreift. Der Kulturwissenschaftler John Holden hat vorgeschlagen, dass man ein neues Vokabular von Werten entwickelt, das sowohl „instrumentale“ als auch „immanente“ Werte als berechtigte Kriterien anerkennt. Er beruft sich dabei auf eine Reihe von Gebieten, die sich bewusst außerhalb der theoretischen Kunstwissenschaft und der Wirtschaftswissenschaften oder Soziologie befinden: insbesondere auf die Anthropologie, für die die Anerkennung von historischen, sozialen, symbolischen, ästhetischen und geistigen Werten zentral ist; darüber hinaus auf den Umweltschutz, der die Akzeptanz einer generationsübergreifenden Pflicht der Fürsorge und Erhaltung lehrt sowie das Verständnis, dass Vielfalt nötig ist, um ein widerstandsfähiges System zu produzieren. Diese neuen Kriterien sollten verhindern, dass an die Kultur unrealistische Forderungen gestellt werden, während die öffentliche Hand über die Mittel verfügt, um Kulturförderung zu rechtfertigen wie auch, um deren vielfältige Effekte zu erfassen. Interessanterweise hat sich im letzten Jahr auch ein Wandel in der englischen Kulturpolitik ergeben. Man bewegt sich langsam von der kaum verschleierten Instrumentalisierung der Kultur weg und erkennt an, dass sich Kultur an sich nicht quantifizieren lässt.44 Wie das Beispiel Liverpool demonstriert, kann Kultur in der Tat als Katalysator für urbane Regeneration und wirtschaftlichen Aufschwung ehemals verwahrloster und heruntergewirtschafteter Städte funktionieren. Entscheidend für den Erfolg ist dabei, dass auf Substanz aufgebaut wird, auf lokale Traditionen, Eigenheiten und Stärken. Kultur kann aber nur ein Baustein in einem breiten Programm von Interventionen sein. Investitionen in die Infrastruktur der Stadt, Transportverbindungen, die Aufrechterhaltung des Stadtbildes, die Verbesserung touristischer Einrichtungen wie Hotels und 44 Siehe McMaster, Brian, Supporting Excellence in the Arts – From Measurement to Judgement. Department of Culture Media and Sports, London, Januar 2008, http://webarchive.nationalarchives. gov.uk/+/http://www.culture.gov.uk/images/publications/supportingexcellenceinthearts.pdf (letzter Aufruf Dezember 2010). Siehe auch die Rede des Secretary of State for Culture, Olympics, Media and Sport, Jeremy Hunt, Arts Keynote Speech, The Roundhouse, London, 19.5.2010, http:// www.culture.gov.uk/news/ministers_speeches/7069.aspx (letzter Aufruf Dezember 2010).

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Konferenzzentren sind grundlegende Maßnahmen. Liverpool muss sich ebenso an seine multikulturelle Vergangenheit und lange Tradition der Offenheit erinnern und die nächste Welle der Immigranten empfangen, die die Stadt so lange geprägt haben. Schlussendlich muss Liverpool seinen Sonderstatus als periphere Stadt ausbeuten und gleichzeitig versuchen, sich in die weitere Stadtregion zu integrieren und insbesondere vom nahen Manchester mit seinen überlegenen Verkehrsanbindungen, seinem großen Bildungssektor und der Konzentration an Medienfirmen zu profitieren. Kunst und Kultur sind aber kein Wundermittel und es gibt Grenzen dessen, was angesichts tiefsitzender wirtschaftlicher oder sozialer Probleme erreicht werden kann. Noch immer leidet Liverpool unter schockierenden sozialen Problemen und eklatanten Defiziten in der wirtschaftlichen Entwicklung. Liverpool belegt weiterhin den traurigen ersten Platz des „Multiple Dipravity Index“, der den Grad sozialer Benachteiligung misst und einige der ärmsten Bezirke des Landes in der Stadt identifiziert. Für manche Einwohner der Stadt hat sich durch die Kulturhauptstadt wenig verändert, kämpfen sie doch mit Dauerarbeitslosigkeit, Mangel an Bildung, mit Armut, Krankheit, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Wiederum ist ein Blick auf Glasgow instruktiv: In der erfolgreichen Kulturhauptstadt von 1990 wurden trotz einer dramatischen Wandlung der Stadt auch vierzehn Jahre nach dem Ereignis hartnäckige soziale Probleme festgestellt.45 In Liverpool liegt die Beschäftigung im öffentlichen Dienst mit 40 Prozent weiterhin weit über dem Landesdurchschnitt und die Ansiedlung von bedeutenden privaten Arbeitgebern lässt zu wünschen übrig. So trifft die gegenwärtige Krise und das radikale Sparprogramm der konservativ-liberalen Koalition die Stadt (und den Norden) besonders hart, mit extremen Kürzungen des Stadtbudgets um circa 30 Prozent, die wesentlich höher sind als in vielen anderen Bezirken.46 Die zentrale Herausforderung, der sich Liverpool und im Prinzip alle Städte in Großbritannien außerhalb des magischen Rings um die Hauptstadt stellen müssen, ist die weiterhin absolut dominierende Zentralisierung des Landes. So sind zum Beispiel heute 90 Prozent der größten Firmen in der Hauptstadt ansässig, im Vergleich zu nur 60 Prozent im Jahr 1964. Solange die politische und wirtschaftliche Macht beinahe exklusiv in London und dem Südosten Englands konzentriert ist, müssen die beachtlichen Anstrengungen, die Finanzen, die kommerzielle Attraktivität, das Stadtbild und das Selbstbewusstsein Liverpools zu verbessern, wie oberflächliche Kosmetik erschei45 Siehe Scott, Kirsty, As the wealth and health gaps widen, Glasgow rebrands itself as city of style, in: The Guardian, 10.3.2004, S. 9. 46 Siehe Curtis, Polly, Spending cuts likely to leave cities facing triple whammy, in: The Guardian, 22.10.2010; Davies, Caroline, Spending cuts: Liverpool facing „worse than the worst-case scenario“, in: The Guardian, 22.10.2010; Patrick Butler’s Cuts Blog: Spending cuts: it’s grimmer up north, 26.10.2010, http://www.guardian.co.uk/society/patrick-butler-cuts-blog/2010/oct/26/spending-cutshit-north-england-hardest; Patrick Butler’s Cuts Blog: Council cuts: the rich get richer, while the poor get poorer, 25.11.2010, http://www.guardian.co.uk/society/patrick-butler-cuts-blog/2010/ nov/25/council-cuts-rich-get-richer (letzter Aufruf Dezember 2010).

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nen. Die britische Regierung muss anerkennen, dass das Vereinigte Königreich als Ganzes nicht florieren kann, wenn ein großer Teil des Landes fundamental benachteiligt wird. Und solange sich dieses Ungleichgewicht nicht elementar verschiebt, werden Städte wie Liverpool, Manchester, Leeds und Glasgow weiterhin unter einer ungleichen Verteilung von Wohlstand und Arbeitsplätzen sowie dem ungleichen Zugang zu zentralen Dienstleistungen – etwa denen des Gesundheitswesens, der Bildung, der Kultur und der Medien – leiden. Und das Land wird im europäischen wie globalen Wettbewerb nicht mithalten können und potenziell explosiven wirtschaftlichen wie sozialen Risiken ausgesetzt sein.47 So lassen sich aus dem Beispiel Liverpools wertvolle Lehren für andere europäische Länder ziehen. Insbesondere Deutschland sollte seine lange föderalistische Tradition und die damit verbundene breite Verteilung und den offenen Zugang zu einer reichen Palette von Kultur nicht vergessen. Der unwiderstehliche Sog der letzten Jahre in Richtung der Hauptstadt Berlin darf nicht zu einem Schwund der kulturellen Vielfalt in anderen Städten und Regionen führen. Eine zentralisierte Monokultur ist Ausdruck einer kulturellen und intellektuellen Verarmung und einer undemokratischen Ungleichheit, die sich schlussendlich nicht nur auf die Attraktivität und Wettbewerbs­ fähigkeit von Standorten, sondern auch auf kulturelle und kreative Innovationen und die Lebensqualität auswirken wird.

47 Im letzten Jahr wurde in Großbritannien eine rege Debatte über die Ungleichheit der britischen Gesellschaft im internationalen Vergleich und über deren Konsequenzen geführt, ausgelöst von der Studie von Richard Wilkinson und Kate Pickett, The Spirit Level: Why More Equal Societies Almost Always Do Better, London 2009.

Gisela Staupe

Kultur braucht Publikum! Der demografische Wandel als Chance für das Museum

Vor dreißig Jahren gab es in Deutschland circa 1500 Museen, mittlerweile hat sich die Anzahl der Museen auf etwa 6200 erhöht.1 Auch die Museumslandschaft insgesamt hat sich verändert. Das Kunstmuseum kann schon lange nicht mehr – zumindest aus Sicht des Publikums2 – als Leitinstitution unter den Museen bezeichnet werden. Welche Folgen haben diese Entwicklungen für die Visionen und Diskussionen über die Zukunft der Museen?3 Die Frage, wie der nachwachsenden Generation die Bedeutung des kulturellen Erbes vermittelt werden kann, zumal es heute unendliche viele Möglichkeiten und neue Orte gibt, die Teilhabe an Bildung und Aufklärung ermöglichen, beschäftigt zunehmend die Kultureinrichtungen. Wer sich über die Welt, über Vergangenheit und Gegenwart informieren will, braucht nicht unbedingt das Museum. Auch aus diesem Grund hat das Thema „kulturelle Bildung“ Hochkonjunktur. Offenbar hat eine Generation von Kuratorinnen, Kuratoren, Museumsleuten und auch anderen Kulturschaffenden die Vermittlung des „kulturellen Erbes“ an die nachwachsende Generation stark vernachlässigt. Für das Museum (wie auch für andere Kulturinstitutionen) wird die

1 Vgl. Huther, Christian, Das Museum als asynchroner Raum, in: KUNSTFORUM international, Band 182, Okt./Nov. 2006, S. 346–348, hier S. 346. 2 Nur circa 10 Prozent der Museen in Deutschland sind Kunstmuseen; circa 17 Prozent der insgesamt 107 Millionen Museumsbesuche 2009 waren Besuche in Kunstmuseen. Vgl. dazu Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/Institut für Museumsforschung (Hg.): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2009 (= Materialien aus dem Institut für Museumsforschung, Heft 64), Berlin 2010, besonders S. 19 und S. 20. 3 2009 gab es 6256 Museen in Deutschland. Davon gaben 4790 ihre Besucherzahlen an, die sich auf insgesamt 106 820 203 Besuche summierten. Den Hauptanteil daran, nämlich fast 58 Millionen Besuche, erbrachten jene 232 Museen, die mehr als 100 000 Besucher jährlich verzeichnen. 54 Prozent der Museen, die Zahlen meldeten, hatten weniger als 5000 Besucher (insgesamt 4,1 Mio. Besuche). Insofern kann die These aufgestellt werden, dass insbesondere die 232 großen Museen, gerade auch mit ihren großen Sonderausstellungen, mit einer erweiterten Öffentlichkeit und ihren zunehmenden pädagogischen Vermittlungsangeboten, für die Erfolgszahlen verantwortlich sind. Die Erfolgszahlen der Museumsbesuche müssen also immer differenziert betrachtet werden, wenn sie die Diskussion zur Zukunft der Museen wirklich voranbringen sollen. Vgl. dazu Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz/Institut für Museumsforschung (Hg.): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2009 (= Materialien aus dem Institut für Museumsforschung, Heft 64), Berlin 2010, besonders S. 16 und S. 17.

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Gisela Staupe

„Publikumsgenerierung“ vermutlich zukünftig schwieriger werden – eine Tendenz, die sich durch den demografischen Wandel noch verstärken wird. Der Begriff demografischer Wandel4 ist inzwischen in unsere Alltagssprache eingegangen, allerdings oftmals mit einer negativen Konnotation. Er bedeutet, dass unsere Gesellschaft zahlenmäßig schrumpft, gleichzeitig deutlich altert und in ihr immer mehr Menschen leben werden, die sehr unterschiedliche kulturelle Hintergründe und Kulturverständnisse haben. Welche Rolle werden Kultureinrichtungen in diesem Prozess zukünftig spielen? Können sie dazu beitragen, dass der demografische Wandel im kulturellen Kontext ein positiv besetzter Begriff wird? Am Beispiel des Deutschen Hygiene-Museums Dresden sollen im Folgenden Strategien vorgestellt werden, mit denen eine Kultureinrichtung auf diese demografische Entwicklung reagieren kann – und vielleicht wird der eine oder andere Ansatz zumindest von der Grundidee her auch auf andere kulturelle Institutionen übertragbar sein.

I Teilhabe an Kultur und demografischer Wandel Ein Museum ist wie jede andere Kultureinrichtung auf das Interesse der Bevölkerung angewiesen. Georg Franck, der Autor von „Ökonomie der Aufmerksamkeit“, schrieb dazu: „In der Kultur zählt, wie in der Ökonomie, das Ergebnis. Der höchste Anspruch nützt nichts, wenn die Rezeption ihn nicht aufnimmt.“5 Für die Kunstproduktion mag man diese Äußerung mit guten Gründen ablehnen. Hinsichtlich der Partizipation an Kultur postuliert sie jedoch eine hinreichende Bedingung: Jede Kultureinrichtung benötigt ihr Publikum. Wer ist bislang das Kernpublikum von Kultureinrichtungen? Die Teilhabe an klassischen Kulturformen ist nach wie vor das Privileg einer Bildungselite, wie eine Studie des Zentrums für Kulturforschung aus dem Jahr 2005 belegt.6 Gerade einmal 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung gehören zu den Stammnutzern der Angebote der Hoch4 Weitere Stichworte müssten in diesem Zusammenhang genannt und bei Problemlösungsfindungen in Korrespondenz zum demografischen Wandel berücksichtigt werden: Globalisierung, Veränderung der Erwerbsarbeit, Weiterentwicklung der Wissensgesellschaft, Auflösung eines einheitlichen Bildungskanons. Ich erlaube mir dennoch, in diesem Aufsatz primär nur die Korrespondenz von demografischem Wandel und Kultur zu betrachten. 5 Franck, Georg, Ökonomie der Aufmerksamkeit, München/Wien 1998, S. 160. 6 Vgl. Mandel, Birgit, Kontemplativer Musentempel, Bildungsstätte und populäres EntertainmentCenter. Ansprüche an das Museum und neue Strategien der Museumsvermittlung, in: Hartmut John/ Anja Dauschek (Hg.): Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld 2008, S. 75–78, hier S. 77. Die Ergebnisse solcher Kulturnutzerbefragungen müssen natürlich kritisch hinterfragt werden, denn sie sind abhängig von dem Kulturbegriff, welcher der Befragung zugrunde liegt. Geht man zum Beispiel von einem breiten Kulturbegriff aus, der auch den Besuch eines Rockkonzertes oder eines soziokulturellen Zentrums umfasst, so können etwa zwei Drittel der Bevölkerung zumindest punktuell für kulturelle Angebote mobilisiert werden. Vgl. hierzu Susanne Keuchel, Das Kulturpublikum in seiner gesellschaftlichen Dimension. Ergebnisse empiri-

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kultur, andere Studien sprechen sogar von nur 2 bis 5 Prozent. Es handelt sich bei diesen Personen ausschließlich um solche mit hohen Bildungsabschlüssen. Hingegen nehmen Menschen mit geringer Schulbildung kaum am klassischen Kulturleben teil. In dieser Hinsicht ist Kulturnutzung also bis heute noch mit sozialer Distinktion verknüpft. In Zukunft wird sich das Museum selbstverständlich weiterhin an den klassischen Museumsbesucher bzw. die klassische Museumsbesucherin wenden. Doch gefragt werden muss, wie dem Bildungsauftrag des Museums entsprochen werden kann, wenn sich in der jungen Generation das Kulturverständnis insgesamt erweitert: Die kulturellen Interessen und Aktivitäten (insbesondere bildungsschwacher) Jugendlicher beziehen sich auf ein äußerst weit gefächertes Spektrum an „Kulturen“, weniger auf eine das kulturelle Leben prägende Hochkultur.7 Selbst die heutige gut gebildete jüngere Generation besitzt ein geringeres Interesse an der (Hoch-)Kultur, wie Umfragen ergeben haben.8 Insgesamt könnte wohl die Behauptung aufgestellt werden, dass der Bildungsauftrag vieler, vor allem klassischer, Kultureinrichtungen schon heute an einem großen Teil der Bevölkerung vorbeigeht. Die gute Nachricht ist hingegen, so die oben genannte Studie aus dem Jahr 2005, dass circa 50 Prozent der Bevölkerung für Kultur zu mobilisieren wären. Hinzu kommt, dass Kultureinrichtungen auch davon profitieren können, neu entstehende Kulturverständnisse zu reflektieren und in ihre Arbeit zu integrieren. In diesem Zusammenhang muss auch darüber reflektiert werden, welchen Einfluss der demografische Wandel zukünftig auf das Kulturpublikum hat. Am Beispiel Sachsens soll dieser Frage vor dem Hintergrund einiger Prognosen zur demografischen Entwicklung nachgegangen werden. Die Gesellschaft wird kleiner: In Sachsen ist die Bevölkerungszahl von 1990 bis 2005 um 13 Prozent zurückgegangen und bis 2020 wird Sachsen nochmals 11,4 Prozent seiner Einwohner verlieren.9 Das ist primär darauf zurückzuführen, dass zu wenige Kinder geboren werden. Ein großer Teil der Bevölkerung – und das gilt insbesondere für Akademiker – hat keine Kinder mehr. Konkret in Zahlen ausgedrückt: scher Studien, in: Birgit Mandel (Hg.): Kulturvermittlung – zwischen kultureller Bildung und Kulturmarketing. Eine Profession mit Zukunft, Bielefeld 2005, S. 51–64, hier S. 53 f. 7 Vgl. Hübner, Kerstin, Kulturinteresse, Kulturnutzung, kulturelle Aktivität – Ein Verhältnis in Abhängigkeit von Bildungsniveau und Sozialstatus Jugendlicher, in: Jens Maedler (Hg.): TeilHabeNichtse. Chancengerechtigkeit und kulturelle Bildung (= Kulturelle Bildung, Bd. 4, hrsg. v. d. Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung Remscheid), München 2008, S. 38–49. 8 Vgl. Reuband, Karl-Heinz, Sinkende Nachfrage als Determinante zukünftiger Museumskrisen? Der Einfluss von Alter und Bildung auf den Museumsbesuch und kulturelle Interessen, in: Kulturmanagement 41 (2010), Themenschwerpunkt „Museum in der Krise“, S. 21–28, hier S. 48. 9 Die folgenden Fakten sind nachzulesen in: Empfehlungen zur Bewältigung des demografischen Wandels im Freistaat Sachsen (= Expertenkommission „Demografischer Wandel Sachsen“), Dresden, Oktober 2006, vgl. besonders S. 2 f., S. 17, S. 21 f. URL: https://publikationen.sachsen.de/bdb/ download.do?id=1391 (letzter Aufruf 23.8.2010).

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Im Jahr 2020 wird die Bevölkerungszahl des Freistaates voraussichtlich circa 4 Millionen Einwohner betragen; das werden bis zu 400 000 Einwohner weniger sein als im Jahr 2010.10 Zudem lässt die Prognose auch eine räumlich ungleiche Bevölkerungsdichte erkennen: Dresden und Leipzig werden bis 2020 ihre Bevölkerungszahl vermutlich halten. Dagegen wird es in großen Teilen Ostsachsens zu starken Bevölkerungsverlusten kommen; in den ländlich-peripheren Räumen wird der Schrumpfungsprozess also anhalten. Die Gesellschaft wird älter: Der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung wird sich bis 2020 von gegenwärtig 28,9 auf 36,3 Prozent erhöhen; Sachsen wird dann bundesweit den höchsten Anteil an über 80-Jährigen haben und die Hälfte der Bevölkerung wird älter als 51 Jahre sein. Gleichzeitig wird der Bevölkerungsanteil der unter 20-Jährigen bis 2020 auf 14,9 Prozent sinken, was zur Folge hat, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler weiter zurückgehen wird. Von 1992/93 bis 2009/10 hat sich die Zahl der Schüler halbiert – von 617 979 auf 301 252 Schüler. Die Zahl der Mittelschüler reduzierte sich von 1992 bis 2010 von 223 047 auf 81 276 Schüler, die der Gymnasialschüler sank von 137 753 auf 79 078. Die Ressourcen der Gesellschaft werden geringer: Die Schrumpfung der Bevölkerungszahl wird unter anderem dazu führen, dass die Zahl der Erwerbstätigen in Sachsen zwischen 2004 und 2020 um rund 22 Prozent zurückgehen wird. Dies bedeutet jedoch keine automatische Verminderung der Arbeitslosenquote, denn die hohe Arbeitslosenquote bei den Geringqualifizierten wird sich durch den Bevölkerungsrückgang nicht wesentlich reduzieren, während es in anderen Bereichen eher zu einem Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften kommen wird. Bis 2020 wird sich die Anzahl der 18- bis 25-Jährigen halbieren. Bereits ab 2010 wird die Zahl der Berufseinsteiger die Zahl der Berufsaussteiger nicht mehr kompensieren. Diese Entwicklung führt insgesamt dazu, dass erheblich geringere Steuereinnahmen einer erheblichen Mehrbelastung der öffentlichen Kassen gegenüberstehen werden. Den Kulturinstitutionen werden vermutlich zukünftig deutlich weniger finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Die Gesellschaft wird sozial und kulturell differenzierter: In Sachsen ist der Anteil der Migranten – im Vergleich zu anderen Bundesländern - vergleichsweise gering. Die Integration von Bürgern mit Migrationshintergrund ist für Sachsen eine wichtige, aber vorläufig noch nicht die zentrale Herausforderung für die Zukunft – auch nicht innerhalb der kulturellen Bildungsarbeit.11 Aber ein anderer bundesweiter Trend zeichnet

10 Statistisches Landesamt des Freistaates Sachsen, Pressemitteilung 154/2007, 29.6.2007. URL: http:// www.statistik.sachsen.de/12/pressearchiv/archiv2007/pm15407.htm (letzter Aufruf 23.8.2010). 11 Vgl. Miegel, Meinhard/Wahl, Stefanie/Schulte, Martin, Von Verlierern und Gewinnern – Die Einkommensentwicklung ausgewählter Bevölkerungsgruppen in Deutschland (= Institut für Wirtschaft und Gesellschaft e. V. Bonn), Bonn 2008. URL: http://www.iwg-bonn.de/fileadmin/user_upload/ pdf/Einkommensstudie_mit_Graphiken_160608.pdf (letzter Aufruf 23.8.2010). Vgl. außerdem Baur,

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sich ab, nämlich eine wachsende Einkommens- und Bildungsungleichheit. Damit verbunden sind natürlich ungleiche Chancen auf kulturelle, politische und soziale Teilhabe. Beobachtet werden muss, ob das Bildungsniveau breiter Bevölkerungsgruppen infolge des demografischen Wandels zukünftig sinken wird und dadurch noch breitere Schichten von kulturellen Bildungsangeboten ausgegrenzt werden. In der Zukunft wird die Bevölkerung also, überspitzt gesagt, kleiner, älter, ärmer sowie sozial und kulturell differenzierter sein und die Steuereinnahmen werden sinken – nicht nur in Sachsen, sondern bundesweit. Prognostiziert werden die Auflösung eines einheitlichen Bildungskanons sowie neue Mentalitäten, die sich von allgemeingültigen Begriffen wie kulturelles Erbe, allgemeine Werte und Bildung immer mehr entfernen, auch mit der Folge, dass unterschiedliche Kulturverständnisse entstehen. Gilt für die (Hoch-)Kulturbereiche möglicherweise das, was für Wirtschaftsunternehmen bereits seit jeher gilt: Langfristig wird nur überleben, was nachgefragt wird? Die Kultur-Macher stehen somit vor einer großen Herausforderung: Das Museumspublikum, das sich bislang aus dem gut gebildeten und verdienenden Bürgertum rekrutierte,12 verändert sich angesichts des demografischen Wandels stark. Wie kann es zukünftig gelingen, in einer schrumpfenden und sozial wie kulturell differenzierteren Gesellschaft neue Zielgruppen für Kultureinrichtungen zu gewinnen – und das unter erschwerten materiellen Bedingungen?13

II Herausforderungen des demografischen Wandels für die Kultur Kultureinrichtungen müssen zukünftig aktiver versuchen, ihr Publikum neu aufzubauen.14 Im Zusammenhang mit dieser Aufgabe hat der Begriff der kulturellen Bildung zur Joachim, Die Musealisierung der Migration. Einwanderungsmuseen und die Inszenierung der multikulturellen Nation, Bielefeld 2009. 12 Die bisherige klassische Zielgruppe von Kultureinrichtungen, nämlich das klassische Bildungsbürgertum mit ausgeprägter Identität, hat sich zahlenmäßig seit 1945 kontinuierlich reduziert. Vgl. dazu: Bollenbeck, Georg, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main/Leipzig 1994, besonders S. 305 ff. 13 Als Vertreterin einer Kultureinrichtung konzentrierte ich mich natürlich auf diesen Aspekt und muss daher in diesem Zusammenhang folgende kulturpolitische Fragestellungen vernachlässigen: Wird sich zukünftig die kulturelle Infrastruktur verändern müssen? Wird es sozusagen weniger Angebote für weniger Menschen geben? Wie kann Kultur auf die Entwicklungsunterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen reagieren und welche Folgen hat diese Entwicklung sowohl für sogenannte Leuchtturm-Projekte als auch für das breite Kulturangebot? Welche Folgen haben langfristig sinkende Schüler- und Studentenzahlen sowie die Alterung und zahlenmäßige Abnahme der Erwerbstätigen für die Kulturangebote? Reicht es zukünftig noch aus, wenn Museen – bewusst provokant formuliert – sich als „bloße“ Verwalter des kulturellen Erbes begreifen? 14 Vgl. hierzu z. B. Forteau, Claude, Ein Museumspublikum aufbauen, in: Hartmut John/Jutta ThinesseDemel (Hg.): Lernort Museum – neu verortet. Ressourcen für soziale Integration und individuelle Entwicklung. Ein europäisches Praxishandbuch, Bielefeld 2004, S. 83–89.

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Zeit Hochkonjunktur.15 Er bedeutet ganz schlicht: Teilhabe eines möglichst breiten Bevölkerungsspektrums an Kultur. Kulturelle Bildung ist zum Hoffnungsträger geworden – jedenfalls offiziellen Deklarationen nach – und soll ganz wesentlich dazu beitragen, zukünftig ein neues, breiteres Publikum für Kultur zu begeistern, das repräsentativer für die Gesellschaft als Ganze steht. Dieses Ziel in Angriff zu nehmen bedeutet sowohl eine große Chance als auch eine Herausforderung für die Kultur, nämlich zu lernen, das kulturelle Erbe so zu vermitteln, dass es nicht nur eine Bildungselite, sondern auch ein sozial wie kulturell differenziertes Publikum anspricht. Teilhabe an Kultur über Bildung wurde im 19. Jahrhundert zum bürgerlichen Statussymbol und messbaren Gut; sie gab einer Gesellschaftsschicht Identität und Selbstbewusstsein und war gleichzeitig eine wichtige Voraussetzung für die soziale und politische Teilhabe. Bildung und kulturelle Partizipation fungierten somit auch als gesellschaftliches Ausgrenzungskriterium. In der heutigen Gesellschaft gibt es immer größer werdende soziale Gruppen, die nicht in die Mehrheitsgesellschaft integriert sind. Gerade deswegen sollte die Teilhabe an Bildung und Kultur immer weniger zum Distinktionsmerkmal werden. Im Gegenteil: Es sollte versucht werden, über kluge und sinnvolle, an unterschiedlichen Zielgruppen orientierte Kulturvermittlungsangebote sehr viel breitere Besucherschichten als bisher zu gewinnen. Ist nicht speziell das Museum mit seinen vielseitigen Gestaltungs- und Vermittlungsmöglichkeiten das Medium schlechthin, um bildungsmüden und eher „bildungsferneren“ Menschen wieder die Lust am Erkennen, Entdecken, am Denken – eben an Bildung – zu vermitteln beziehungsweise zu ermöglichen? Hat nicht gerade das Museum gute Chancen, eine Bildungsanstalt neuen Typs zu werden, eine Institution, die in der allgemein beklagten Bildungsmisere neue Wege aufzeigen könnte? Am Beispiel des Deutschen Hygiene-Museums soll gezeigt werden, mit welchen Strategien eine Kultureinrichtung auf diese neue Situation reagieren kann. Diese sollten jedoch nicht als Patentrezepte für Museen im Allgemeinen verstanden werden. Denn: Von Museen sollte nicht immer im Plural gesprochen werden, sie sind nämlich auch „Individuen“16 und haben sehr unterschiedliche Lebens- und Arbeitsbedingungen. Weil jedes Museum seiner eigenen Identität, Zielgruppe und seinen finanziellen Möglichkeiten entsprechend agieren und erfinderisch sein muss, gibt es keine Patentrezepte.

15 Im Gegensatz zu vielen immer noch vorherrschenden Definitionen zur kulturellen Bildung sollte zukünftig darüber nachgedacht werden, ob dieser Begriff nicht erweitert werden muss – auch gerade angesichts der Diskussionen über die Zukunft der Museen. Bisher wird darunter immer noch primär die Vermittlung des kulturellen Erbes, von Literatur-, Musik- oder Kunstkenntnissen, also primär ästhetische Bildung verstanden. Aber gehört die Vermittlung zum Beispiel von Kenntnissen aus der Wissenschaftsgeschichte nicht auch zum kulturellen Erbe? Vgl. hierzu Bollenbeck 1994 (wie Anm. 12) mit interessanten Anregungen. 16 Borsdorf, Ulrich, Sammlung und Vermittlung. Der Beitrag des Museums im gesellschaftlichen Diskurs, in: Museumskunde 73 (2008), Heft 2, S. 37–41, hier S. 38.

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Das Deutsche Hygiene-Museum. Foto: Oliver Killig

III Das Deutsche Hygiene-Museum – mehr als ein Museum Bevor im Folgenden auf die Strategien des Deutschen Hygiene-Museums eingegangen wird, soll kurz das Profil des Museums vorgestellt werden. Denn: Ausgangspunkt einer jeden Strategieentwicklung ist immer das Selbstverständnis, das eine Kultureinrichtung von sich hat. 1. Im Jahr 2010 besuchten rund 284 000 Menschen das Deutsche Hygiene-Museum. Es gehört damit zu den circa 4 Prozent aller Museen in der Bundesrepublik Deutschland, die mehr als 100 000 Besucher pro Jahr haben, und folglich zu den sogenannten Leuchttürmen in der Museumslandschaft.17 Diese Tatsache ist deshalb so wichtig, weil ein „Leuchtturm-Museum“ natürlich ganz andere Möglichkeiten als kleinere Einrichtungen hat, erfolgreiche Ausstellungen und Bildungsprogramme zu entwickeln und umzusetzen. Dennoch kann sicherlich die eine oder andere vorgestellte Strategie – zumindest von der Idee her – auf andere, auch auf kleinere, Museen übertragen werden.

17 Vgl. dazu Anm. 3.

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Sonderausstellung „Schlaf und Traum“, 2007. Foto: David Brandt

Sonderausstellung „Glück – welches Glück“, 2008. Foto: David Brandt

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Sonderausstellung „Arbeit. Sinn und Sorge“, 2009/10. Foto: Oliver Killig

Sonderausstellung „Was ist SCHÖN?“, 2010. Foto: Oliver Killig

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2. Das Deutsche Hygiene-Museum versteht sich als ein „Themen- und Programm­ museum“, als „Das Museum vom Menschen“. Sein Themenspektrum lässt sich mit den drei Bereichen Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft umreißen, wobei der moderne Mensch, seine gegenwärtige Lebensweise und seine Verantwortung für die Zukunft die zentralen inhaltlichen Bezugspunkte darstellen. In seiner musealen Arbeit versucht es auch, das Verhältnis von Museum und Wissenschaft, von Museum und Publikum neu zu denken und zu bestimmen. 3. Das Deutsche Hygiene-Museum begreift sich als Diskurs-Museum. Es möchte Besucherinnen und Besucher über seine Ausstellungen zu einer diskursiven Auseinandersetzung mit der Rolle des modernen Menschen in Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur anregen. Das Deutsche Hygiene-Museum war und ist aber auch ein Ort des Wissenserwerbs, des ästhetischen Erlebens von Bildung – und auch der Unterhaltung. Eines der zentralen Vermittlungsziele ist es, die Materialität des kulturellen Erbes im Medium der Ausstellungen für Fragestellungen der Gegenwart zum Leben zu erwecken. Die Entwicklung von miteinander vernetzten, gänzlich neuen ausstellungsbegleitenden Bildungsangeboten für unterschiedliche Zielgruppen ist für das Deutsche Hygiene-Museum zukünftig von noch größerer Bedeutung als bisher.

IV Die Strategien des Deutschen Hygiene-Museums Für eine große Kultureinrichtung wie das Deutsche Hygiene-Museum rücken angesichts des demografischen Wandels neue Aufgaben für die kulturelle Bildung in den Vordergrund, die es künftig zu lösen gilt. Hierbei geht es im Grunde genommen um die Klärung von drei grundsätzlichen Fragen: Welche Position können die Museen in der Bildungslandschaft zukünftig einnehmen, welchen Bildungsauftrag haben Museen und wie können neue Besuchergruppen für die Kultur gewonnen werden? Mehr als bisher wird darüber nachgedacht werden müssen, wie das Museum unterschiedliche Zielgruppen erreichen kann und welche konkreten Bildungsaufträge damit verbunden sind. Wenn der Museumsbesuch nicht zum Distinktionsmerkmal werden soll, müssen zukünftig noch intensiver als bisher die breit gefächerten Erwartungen des Publikums reflektiert werden. Die existierenden Unterschiede hinsichtlich Informationskompetenz und Interessenschwerpunkten sollten ebenso wie die individuellen Erfahrungshorizonte bei der Konzeption der Vermittlungsarbeit stärker mitgedacht werden.18 Experten müssen ebenso angesprochen werden wie Laien, einkommens- und bildungsschwache Gruppen ebenso wie einkommens- und bildungsstarke Bürger, Seni18 Schwan, Stephan, Lernen und Wissenserwerb im Museum, in: Hannelore Kunz-Ott/Susanne Kudorfer/ Traudel Weber (Hg.): Kulturelle Bildung im Museum. Aneignungsprozesse – Vermittlungsformen – Praxisbeispiele, Bielefeld 2009, S. 33–43.

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oren ebenso wie Kinder und Jugendliche, Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen und Kulturverständnissen ebenso wie das klassische Museumspublikum. Wie kann es insgesamt gelingen, ein Publikum zu gewinnen, das repräsentativ(er) für die Gesellschaft als Ganze steht? Dies ist tatsächlich eine große Herausforderung. Die zentrale Strategie des Deutschen Hygiene-Museums hinsichtlich dieser Aufgabe ist zunächst ganz schlicht: Das, was kulturelle Bildung genannt wird, nimmt das Deutsche Hygiene-Museum seit mehr als zehn Jahren sehr ernst. Allen Äußerungen zum Trotz, die das plötzliche „Dauerpalaver“ über die kulturelle Bildung kritisieren und meinen, das unentwegte Sprechen darüber verhindere das, was eigentlich zu tun wäre, sollen im Folgenden einige zentrale Strategien der kulturellen Bildungsarbeit des Deutschen Hygiene-Museums vorgestellt werden.

1. Strategie: Positionierung des Museums in der Gesellschaft immer wieder „neu“ denken Das Deutsche Hygiene-Museum versteht unter kultureller Bildung oder Kulturvermittlung mehr als „nur“ die Entwicklung und Umsetzung von pädagogischen Begleitprogrammen zu Ausstellungen, die quasi kulturelle Übersetzungsarbeit für die Besucherinnen und Besucher, besonders für Schülerinnen und Schüler, leisten sollen. Der Begriff kulturelle Bildung muss heute umfassender verstanden werden, wenn er sinnvoll die Vermittlung des kulturellen Erbes fördern soll. Wenn kulturelle Bildung zum Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und Chancengleichheit in der Gesellschaft werden soll,19 sollte sie in Zukunft „Chefsache“ sein, so, wie es das Deutsche Hygiene-Museum seit Langem praktiziert. Im Unterschied zum Begriff des Wissens ist im Begriff der kulturellen Bildung eine Absicht angelegt. Aus diesem Grund stellt das Deutsche Hygiene-Museum keine pädagogischen Einzelprojekte, keine pädagogischen „Best-Practice-Modelle“ (obwohl es diese auch gibt) in den Mittelpunkt seiner kulturellen Bildungsarbeit. Stattdessen wird bei der Entwicklung von Strategien zur Umsetzung von kultureller Bildung das Museum als Ganzes mitgedacht. Der Fokus bei der Umsetzung dieser Strategien richtet sich dabei nicht primär nur auf zielgruppenorientierte pädagogische Maßnahmen, sondern es wird hierbei die gesamte Positionierung als Museum immer wieder neu überdacht: Die Perspektive der potenziellen Nutzer spielt hierbei eine ebenso wichtige Rolle wie die Frage, was ein Museum für die Gesellschaft heute leisten kann. Das Museum wird als ein lebendiger Ort wechselseitigen Dialogs und gegenseitiger Lernprozesse verstanden, das als Vermittler von sozialer und interkultureller Kompetenz dienen kann.20 19 Vgl. Deutscher Bundestag, Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Drucksache 16/2000 vom 11.12.2007, S. 440. 20 Deutscher Kulturrat (Hg.), Kulturelle Bildung. Eine Herausforderung durch den demografischen Wandel, Berlin 20.9.2006, S. 2. URL: http://www.kulturrat.de/detail.php?detail=845&rubrik=1 (letzter Aufruf 6.9.2010).

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Dauerausstellung „Abenteuer Mensch“, Raum 4: Sexualität. Foto: Oliver Killig

Dresdner Kinder-Museum – Der Erlebnisbereich im Deutschen Hygiene-Museum. Foto: Oliver Killig

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2. Strategie: Das Museum auch als Labor für das Publikum begreifen Für das Deutsche Hygiene-Museum ist das Medium Ausstellung der zentrale Vermittler von kultureller Bildung. Ausstellungen werden als soziale Räume der Kommunikation verstanden, in welchen die Reflexion von aktuellen Erfahrungen durch das Zusammenspiel von Objekt und Inszenierung im Raum ermöglicht werden soll. Natürlich gibt es keine standardisierten Leitfäden, auch keine bewährten Methoden, um die Dinge in einer Ausstellung für eine bestimmte Zielgruppe zu einem bestimmten Thema zum Sprechen zu bringen. Zum Gelingen gehören auch immer Talent, Mut und künstlerische Freiheiten der Kuratorinnen und Kuratoren. Wenn eine Ausstellung als Medium einer Selbstreflexion und Aufklärung der Gesellschaft begriffen wird und von Anfang an das Publikum mitgedacht wird, dann erfordert dieser Anspruch natürlich eine ständige Reflexion der eigenen Ausstellungsarbeit. Bei der Entwicklung und Umsetzung der konzeptionellen wie inszenatorischen Dramaturgie einer Ausstellung müssen sich dann die Kuratorinnen und Kuratoren, die Gestalterinnen und Gestalter sowie das jeweilige Museum immer wieder neu mit folgenden Fragen auseinandersetzen: Welche Ausstellungsthemen sind für große (und verschiedene) Teile der Gesellschaft relevant? Welche Fragestellungen stoßen (bei wem) auf Interesse? Wie kann man diese Themen für unterschiedliche Zielgruppen, also gewissermaßen „binnendifferenziert“ aufarbeiten und wie kann das Museum mit seinem Medium Ausstellung dadurch unterschiedliche Zielgruppen erreichen?21 Wie kann man über sogenannte „Blockbuster-Ausstellungen“ hinaus auch für komplexe und anspruchsvolle Themen ein breites, neues Publikum gewinnen? Es wäre wohl verwegen zu behaupten, dass das Deutsche Hygiene-Museum all diese Fragen beantworten könnte. Aber hinter diesen Fragen steht ein hoher Anspruch an das Medium Ausstellung, und diesen versucht das Deutsche Hygiene-Museum immer wieder in die Praxis umzusetzen. Seine Ausstellungen begreift es daher immer auch als Experimentierfelder,22 als Versuche, über das experimentelle Spiel mit den Dingen, 21 Im September 2010 wird in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20 in Düsseldorf eine große Beuys-Schau eröffnet. Die Direktorin, Dr. Marion Ackermann, dankt ihrem Publikum mit: „Man muss damit rechnen, dass es unterschiedliche Betrachter gibt: diejenigen, die viele Beuys-Ausstellungen gesehen haben, diejenigen, die vielleicht zum ersten Mal – gar nicht so wenige – eine BeuysAusstellung besuchen und diejenigen, die aus Düsseldorf kommen und eigene Geschichten im Kopf haben. Die Wahrnehmung wird daher auf verschiedenen Ebenen stattfinden.“ Interview Dr. Marion Ackermann, in: Kunsttermine 3 (2010), S. 18–20, hier S. 18. 22 Auswahl von Ausstellungen (Kataloge und Begleitbücher): Unter anderen Umständen – Zur Geschichte der Abtreibung, hrsg. von Gisela Staupe und Lisa Vieth, Berlin 1993. Darwin und Darwinismus – Eine Ausstellung zur Kultur- und Naturgeschichte, hrsg. v. Bodo-Michael Baumunk und Jürgen Rieß, Berlin 1994. Die Pille – Von der Lust und von der Liebe, hrsg. von Gisela Staupe und Lisa Vieth, Berlin 1996. Der Neue Mensch – Obsessionen des 20. Jahrhunderts, hrsg. vom Deutschen Hygiene-Museum, Ostfildern-Ruit 1999. Kosmos im Kopf – Gehirn und Denken, hrsg. vom Deutschen Hygiene-Museum, Ostfildern-Ruit 2000. Der (im-)perfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit, hrsg. von der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum, Ostfildern-Ruit 2001. Evolution.

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auch über Verfremden und Trivialisieren, die Gegenstände im Raum in immer wieder neuen gestalterischen und inhaltlichen Kontexten für die Besucher zum Sprechen zu bringen. Sie sollen einen Spagat schaffen zwischen dem avancierten Experiment für Fachleute und der Vermittlung komplexer Themen an ein breites Publikum. Sie dürfen vieles – Bilder bauen oder zerstören, Dinge ausstellen oder weglassen, interaktiv sein oder beschaulich, laut oder leise. Dazu gehört viel Erfahrung, ein feines Gespür für das Publikum und ein großes Bedürfnis des jeweiligen Museums, das Publikum in seiner Ausdifferenziertheit wirklich ernst zu nehmen.

3. Strategie: Zielgruppenorientiertes Lernen im Museum intensivieren Diese Strategie ist wahrlich nicht neu. Das Deutsche Hygiene-Museum versucht schlicht und einfach, die gute, alte pädagogische Vermittlungsarbeit im Museum stark zu machen und auszubauen – allerdings unter veränderten Voraussetzungen. Noch bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein beinhaltete das, was Museumsleute unter Vermittlung verstanden, eine ‚monologische Form der Verkündigung‘. Experten verfügten über ein Wissen, das sie an gebildete Laien weitergeben wollten. Vom Publikum wurde primär die Fähigkeit des Merkens, weniger die des selbstständigen Denkens erwartet. Diese Ausrichtung hat sich inzwischen in fast allen Museen geändert. So entwickelt inzwischen auch das Deutsche Hygiene-Museum dialogorientierte und zielgruppengenaue Bildungsangebote. Für Kindergarten-, Hort- und Schulgruppen bis hin zu verschiedenen Berufsfachgruppen werden Übersichtsführungen, thematische Führungen sowie Projekte entwickelt; an den Wochenenden offeriert das Museum zusätzliche Angebote für Familien. Nach fast zehn Jahren Aufbauarbeit werden mittlerweile mehr als 3000 Angebote pro Jahr mit rund 60 000 Teilnehmern durchgeführt. Doch in Zukunft wird nicht primär die Quantität der abgerufenen Angebote im Vordergrund stehen. Vermehrt „bildungsfernere“ und neue Schichten für das Museum zu gewinnen, erfordert eine inhaltlich noch qualifiziertere pädagogische Umsetzung der Angebote sowie eine Neuausrichtung und neue Schwerpunktsetzung des Bereiches kulturelle Bildung. Aus diesem Grund wird für die Museen die Beschäftigung mit den folgenden Fragen zukünftig von noch größerer Bedeutung sein: Wie können die Vermittlungsbedingungen und -strategien in der kulturellen, insbesondere der altersspezifischen BilWege des Lebens, hrsg. für die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum von Johann Grolle, München 2006. Glück. Welches Glück, hrsg. für die Stiftung Deutsches Hygiene-Museum von Gisela Staupe und Beate Hentschel, München 2008. Krieg und Medizin, hrsg. für das Deutsche Hygiene-Museum und die Wellcome Collection von Melissa Larner, James Peto und Colleen Schmitz, Göttingen 2009. 2 Grad. Das Wetter, der Mensch und sein Klima, hrsg. für das Deutsche Hygiene-Museum von Petra Lutz und Thomas Macho, Göttingen 2009. Arbeit. Sinn und Sorge, hrsg. für das Deutsche HygieneMuseum von Daniel Tyradellis und Nicola Lepp, Berlin 2009. Was ist schön?, hrsg. für das Deutsche Hygiene-Museum von Thomas Macho, Sigrid Walther und Gisela Staupe, Göttingen 2010.

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Bildungsangebot im Kinder-Museum. Foto: Oliver Killig

dungs- und Vermittlungsarbeit verbessert werden? Wie können Museen tatsächlich zu Orten lebenslangen Lernens werden?

4. Strategie: Vernetzungen mit Schulen stärken Häufig beklagen Kultureinrichtungen, dass Museen zu den Verlierern des PISA-Prozesses gehören und viel stärker als Teil der kulturellen Bildung wahrgenommen und gefördert werden müssten. Es stimmt sicherlich, dass Museen in den aktuellen Debatten über PISA-Studien oder die Zukunft der Wissens- und Informationsgesellschaft häufig nur am Rande erwähnt werden. Relevante Orte nachhaltiger, zukunftsgerichteter Bildung scheinen Museen zwar von ihrem Selbstverständnis, nicht aber unbedingt immer von ihrer Außenwahrnehmung her zu sein. Das muss sich ändern,23 aber wohl nicht durch Zwangsmaßnahmen. Es gibt Stimmen, die fordern, in den Lehrplänen den Besuch einer Kultureinrichtung pro Schulklasse pro Jahr festzuschreiben. Diese Zwangsverpflichtung ist eigentlich nicht notwendig. Zwar ist in den Lehrplänen der Schulen das Thema „Kulturelle Bildung an außerschulischen Lernorten“ nicht verankert (anders als zum Beispiel in den Niederlanden), dennoch kann jeder Lehrer mit seinen Schülern Museen besuchen, wenn er das möchte und er den Besuch begründen 23 Vgl. Deutscher Bundestag vom 11.12.2007 (wie Anm. 19), S. 391.

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Lehrer-Informationstag im Deutschen Hygiene-Museum. Foto: Steffen Giersch

kann. Aber Schulen besuchen häufig keine Museen, weil vielen Lehrern und Schulen die Bedeutung und das Potenzial des Museums als außerschulischem Lernort nicht wirklich bekannt sind.24 Auch in einem Museum wird gelernt, wenn auch ohne nachweisbare Standards. Aber wie laufen Lernprozesse im Museum ab und was wird dort gelernt? Museen müssen Schulen künftig mehr als bisher aufzeigen, welche Möglichkeiten ein Museum als außerschulischer Lernort für die Schülerinnen und Schüler bietet. In dieser Hinsicht müssen Museen viel aktiver werden und noch sehr viel Aufklärungsund auch Forschungsarbeit leisten.25 Oft wird in diesem Zusammenhang beklagt, die politische Diskussion begreife kulturelle Bildung weniger in ihrer Bedeutung für die 24 Vgl. dazu Parmentier, Michael, Zum Bildungswert der Dinge oder: Die Chancen des Museums, in: Zeitschrift zur Erziehungswissenschaft, 1 (2001), S. 39–50. 25 Das Deutsche Hygiene-Museum wird ab Oktober 2010 gemeinsam mit dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Sächsischen Staatsministerium für Kultus und Sport ein Modellprojekt im Bereich der kulturellen Bildung umsetzen, dessen Ergebnisse die pädagogische Basisarbeit verbessern sollen. Geplant ist die Entwicklung eines praxisorientierten pädagogischen Leitfadens, der sich an alle pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilungen Kulturelle Bildung/Museumspädagogik in den Museen richtet. Alle Museen, sei es ein Kunstmuseum oder ein kulturwissenschaftliches Museum, zeichnen sich dadurch aus, dass sie Dinge, also Objekte oder Bilder präsentieren. In allen Museen kann daher die Kulturtechnik der Erkenntnis über das Sehen und die Wahrnehmung von Dingen angewandt werden. Damit diese von Kulturvermittlern qualifiziert in die Praxis umgesetzt werden kann, benötigen sie eine Ausbildung,

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Persönlichkeitsentwicklung und für die gesellschaftliche Teilhabe des kulturell gebildeten Menschen, sondern fokussiere sich zu sehr auf den Erwerb von sogenannten arbeitsmarktgängigen Kompetenzen oder sogenannten „Soft Skills“ sowie deren soziale Integrationsleistung. Diese Kritik übersieht, dass sich die Teilhabe an Kultur und Bildung schon im 19. Jahrhundert zunehmend auch am praktischen Leben orientierte; Bildung allein genügte bereits damals nicht, sondern sollte Nutzen und zudem möglichst noch Gewinn bringen.26

5. Strategie: Kommunikation mit dem Publikum ausbauen Es erschien dem Deutschen Hygiene-Museum in den letzten zehn Jahren immer notwendiger – auch um als Diskursort verstärkt wahrgenommen zu werden –, die Themen der Dauer- und Sonderausstellungen neben den pädagogischen Vermittlungsangeboten mit einem breiten Angebot von wissenschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen (wie Vorträgen, Tagungen, Workshops, Lesungen bis hin zu Thea-

Lesung mit Uwe Tellkamp in der Empfangshalle des Museums. Foto: Oliver Killig

die sich an bestimmten Qualitätskriterien orientiert. Ein solcher pädagogischer Leitfaden soll dafür als Schulungs- und Orientierungshilfe dienen. 26 Vgl. hierzu Bollenbeck 1995 (wie Anm. 12), besonders S. 19.

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Internationale Tagung im Marta-Freankel-Saal. Foto: Oliver Killig

teraufführungen oder Konzerten) in die Öffentlichkeit zu tragen. Es finden pro Jahr inzwischen 80 bis 100 Veranstaltungen statt, die sehr viel dazu beigetragen haben, dass das Deutsche Hygiene-Museum in der Öffentlichkeit als ein Ort der Diskussion, als ein wichtiges Forum zu zentralen Fragen der Zeit, gerade auch für „Nischenthemen“ oder Randaspekte übergeordneter Fragestellungen, wahrgenommen wird. Mitunter werden so neue Besucher gewonnen, die nicht wegen der Themenausstellung, wohl aber wegen einer Veranstaltung in unser Museum kommen, dieses kennenlernen und dann vielleicht beim nächsten Mal eine Ausstellung besuchen.

Ausblick Museen werden gebraucht – als Stätten der Selbstreflexion; sie sind die kulturellen und sozialen Gedächtnisse unserer Gesellschaft. Aber das Museum muss natürlich auch seine Funktion als Gedächtnisort immer wieder neu reflektieren. Denn das Gedächtnis ist nach Luhmann kein einfacher Speicher für vergangene Zustände oder Ereignisse, sondern ein laufendes Diskriminieren zwischen Vergessen und Erinnern.27 Insofern ist ein Museum immer auch Bühne – im Sinne von Berge- und Lagerraum, aber auch 27 Vgl. dazu: Luhmann, Niklas, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 75.

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im Sinne einer Schaubühne.28 Und wie jede Bühne braucht auch das Museum seine Besucher, denn der Erfolg einer jeden Kultureinrichtung steht und fällt auch mit der Aufmerksamkeit, die ihren Inhalten und Objekten zuteil wird. Dieses Interesse muss geweckt, gepflegt und erweitert werden – gerade und ganz besonders in Zeiten des demografischen Wandels. Das ist nach wie vor eine große Herausforderung – für alle Kultureinrichtungen. Trotz der großen kulturpolitischen Bedeutung, die der kulturellen Bildung zugeschrieben wird, klafft zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer noch eine große Lücke. Diese Lücke gilt es zu schließen.

28 So Korff, Gottfried, Zum Verhältnis von Deponieren und Exponieren im Museum, in: Museumsdinge, hrsg. u. a. von Martina Eberspächer, Köln, Weimar, Wien 2002, S. 174.

Pius Knüsel

Zukunftsmusik. Grüße aus der Welt der Barbaren

Die Westeuropäische Kulturpolitik hat die Globalisierung – diese verwirrende Kombination von Mauerfall, Internet und rasender Migration von Menschen und Gütern – noch nicht verdaut. Doch tut sie, als ließe sich Karl Valentins ironischer Zwang zum Theater durchsetzen und hält Ideale hoch, mit denen die bunte Gesellschaft des dritten Jahrtausends wenig anfangen kann. Wenn der Verdauungsprozess einmal abgeschlossen ist, wird Kulturpolitik allerdings nicht mehr von der Furcht vor der trivialen Gesellschaft getrieben sein, die der einleitende Text zur Tagung „Kultur als Chance“ beschwört und die uns allen als legitimatorisches Perpetuum mobile dient. Künftige Kulturpolitik wird mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr autoritär sein, wird nicht mehr Emanzipation – von der Vergangenheit, vom Kitsch, vom Kommerz – zur Hochkultur propagieren, sondern die horizontale Integration vielfältigster Gruppen und Schichten pflegen und Räume für Eigeninitiative und kulturelles Unternehmertum öffnen – bei reduziertem Engagement des Staates. Um dazu in der Lage zu sein, muss sie sich erst einmal mit den Barbaren beschäftigen, die von der Hochkultur nichts wissen wollen. Also mit den Menschen von heute (die Bildungsbürger ausgenommen). Sie sind die große Ressource. Bevor ich die These vertiefe, ein Wort zu meiner Art von Zukunftsforschung. Am schönsten illustriert sie Franz Fühmann, Schriftsteller aus hiesigen Landen. 1981 verfasste er die Kurzgeschichte „Ohnmacht“, erschienen im Band „Saiäns-fiktschen“ (Hinstorff ). Die Novelle beschreibt die Anstrengungen eines DDR-Wissenschaftsinstituts, in die Zukunft zu schauen. In einem kollektiven sozialistischen Kraftakt gelingt der Blick zehn Minuten über die Gegenwart hinaus. Was sehen die Wissenschaftler? Ein Kleinkind, das von der Balkonbrüstung eines Hochhauses in der Nachbarschaft stürzt. Der Versuchsleiter sagt sich: Zehn Minuten Vorsprung, das reicht, das Kind zu retten, und stürzt aus dem Labor. Bei roter Ampel rennt er über die Straße, wird von einem Polizisten angehalten und in eine ausufernde Befragung verwickelt. Der Polizist kann nicht glauben, dass der Wissenschaftler weiß, dass in wenigen Minuten ein Kind zwölf Etagen tief fallen wird. Zur sächsischen Sache. Der Bevölkerungsschwund, wie Sachsen ihn erlebt, wird einen Rückgang der Nachfrage, des Steueraufkommens und der daraus abgeleiteten Finanzierungen zur Folge haben. Die Überalterung wirkt sich hingegen verzögernd auf das kulturelle System aus, da die Wirkungskette mehrere Stufen hat und die Veränderung der Nachfrage nur allmählich sichtbar wird – die jetzt aktiven Generationen

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werden ihre kulturellen Vorlieben in die Zukunft tragen. Sachsen wird, solange die Bevölkerungspyramide kopfsteht, also ein eher gestriges Angebot pflegen. Die primäre kulturpolitische Aufgabe, die sich daraus ergibt, ist relativ einfach, wenn auch schmerzhaft. Das Land wird Zuwendungen für einzelne Institutionen, deren Leistungen sich mit jenen anderer überschneiden, streichen oder direkt Institutionen zusammenlegen. Klaus Winterfeld hat in den „Kulturpolitischen Mitteilungen“ I/2009 die sächsische Kulturraumplanung dargelegt; offenbar laufen die Überlegungen in die angedeutete Richtung. Wichtig scheint mir, dass beim absehbaren Mittelmangel die Förderung der Institutionen gekürzt wird, nicht die Unterstützung der unabhängigen Kunstproduktion. Letztere ist die Gärzelle neuen Kulturlebens und für die Zukunft unersetzlich; sie greift als erste Tendenzen von außen auf und gestaltet sie zu gelebter Kultur um. Denn Innovation kommt grundsätzlich vom extrakulturellen Rande her. Theater oder Museum, etabliert oder alternativ, machen sie im besten Falle salonfähig. Institutionen wirken durch inhärente Trägheit grundsätzlich verzögernd, wenn es um Veränderung geht, politisch wie ästhetisch. Eines der gängigen Rezepte für Städte und Regionen in Existenz- oder Identitätskrisen ist – und viele Kulturmanager im Saft träumen davon –, Kultur als Mittel der Standortförderung einzusetzen, die wirtschaftliche und soziale Verjüngung Sachsens also mit den Mitteln der forcierten Kunst herbeizuführen. Den einen geht der Begriff Kulturindustrie, den anderen die Vision der internationalen Festivalstadt oder -landschaft durch den Kopf. Von beidem würde ich abraten. Solche Projekt verschlängen über Jahrzehnte gigantische Ressourcen, wie sie Berlin dank seiner Sonderstellung zukamen. Selbst wenn diese Mittel in einer Zeit des drohenden Staatsbankrotts verfügbar wären, bliebe der Erfolg ungewiss: Einen industriellen Kreativitätspol zu schaffen, setzt kulturelle Parameter voraus, die mit Geschichte und Mentalität zu tun haben und sich nicht herbeiplanen lassen. Es braucht viel mehr als Geld, nämlich Unternehmer- und Erfindergeist, eine Nase für nachgefragte Produkte, für Talente, Kenntnisse in Venture-Kapitalisierung und so fort. Nicht einmal ein ostdeutsches Silicon Valley hat sich herbeiplanen lassen, obwohl man hier immerhin den Weltmarkt vermessen konnte! Die Festivallandschaft wiederum ist so dicht überbesetzt, da sehe ich in europäischer Perspektive keine freie Nische, die Sachsen besetzen könnte. Vor allem aber setzt ein kreativwirtschaftlicher Pol wie ein Festivalzentrum Märkte voraus, innere und äußere, ohne die alle Produktion nichts nützt. Diese Märkte aber existieren nur in einer gesunden Weltwirtschaft. Die sich von uns eben verabschiedet hat. Vom allergrößten Hindernis, das nicht Sachsen-spezifisch ist, einmal gar nicht zu reden: Die europäische Kulturwelt steht in erbitterter Opposition zum Prinzip des kommerziellen Erfolgs. Was sich verkauft, kann keine Qualität haben. Was sich verkauft, ist amerikanisch, Amerika aber ist das Gegenteil von Anspruch. Doch wer eine Kulturwirtschaft aufbauen will, der muss mit profitabler Produktion rechnen, sonst schießt er sich in den eigenen Fuß. Wie Berlin. Es wird viel produziert. Allein, die Defizite wachsen mit.

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Kulturpolitik kann Zukunft, hier liegt der Trost, auch jenseits von Ökonomie vorbereiten. Ob die Gesellschaft nun schrumpft, altert, immer heterogener wird, bunter und paralleler – die grundlegende Aufgabe bleibt dieselbe. Kulturpolitik muss zuallererst Vertrauen schaffen in die eigenen Kräfte der Region, in die Überlebenskräfte. Sie richtet sich also zuvörderst nach innen. Und dabei nicht an die Verteidiger der Hochkultur – also uns –, welche in Richtung Altersasyl streben und bei denen Innovation sich bestenfalls kunstimmanent abspielt. Wir sind schon kompetent, wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben, wir verfügen über Maßstäbe. Kulturpolitik richtet sich vielmehr an die Barbaren, an die große Mehrheit jener, die vom staatlich finanzierten Kulturbetrieb nichts wissen wollen. Von dort, aus dem Reich der Kulturlosen, kam in der Vergangenheit jede Erneuerung. Neue Medien – Fotografie, Film, Fernsehen, Internet, Computer – wurden nicht von Künstlern erfunden und domestiziert, sondern von Dilettanten. Die von der Politik lange ignorierte „Bewegung“ der 1980er Jahre, gleichzusetzen mit dem Punk, hat zum Beispiel die Schweiz gewaltsam in die kulturelle Zukunft katapultiert. Mode, Design, Musik und Film sind noch heute erkennbar von der Ästhetik des Punks beeinflusst. Aber selbst die Linke hatte damals Mühe, das Kulturelle, ja das Künstlerische in diesem Umbruch zu erkennen. Sie fürchtete, dass ihr die Kontrolle über die Bewegung entgleiten würde. Denn die Linke kritisierte zwar die Dogmen der Väter, aber nicht, um das Prinzip des kulturellen Dogmas abzuschaffen, sondern um neue, sozialistische durchzusetzen. Diese Haltung hat Tradition. Die Statthalter Napoleons schrieben nach der Besetzung der Schweiz im Jahre 1789, also 200 Jahre vor „Züri brännt“, ihrem Chef in Paris: „Es sind Wilde, die aufzuklären und der gesellschaftlichen Vervollkommnung näher zu bringen, wir uns zur Aufgabe gemacht haben.“ Auch Johann Wolfgang von Goethe vermittelte 1779 in seinen Reisebeschreibungen aus der Schweiz eher den Eindruck barbarischer Verhältnisse: „Wie man auch nur hereintritt, so ekelts einem, denn es ist überall unsauber; Mangel und ängstlicher Erwerb dieser privilegierten und freien Bewohner kommt überall zum Vorschein.“ Doch aus Dreck hat Gott die Welt erschaffen! Seit es eine dezidierte Kulturpolitik gibt, in der Regel seit der Gründung der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, verfolgt sie ein autoritäres Konzept, welches über Mittelzuschreibungen der Menschheit Streben nach Höherem beflügeln will. Sie setzt Werte und will Gesellschaft gestalten, sie will dem Schöneren, Besseren, Wahreren unter dem Titel „Qualität“ zum Durchbruch verhelfen. Oder das Durchzusetzende gilt als schöner, besser, wahrer, weil es mit staatlichen Mitteln durchgesetzt wird. Dabei orientiert Kulturpolitik sich nach hinten und verhält sich neuerungsfeindlich; gerade die Erneuerung ist ihr Zerfall der zivilisatorischen Werte, welche sie verteidigt. Das theoretische Fundament dafür hat Friedrich Schiller mit der „Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ gelegt. Deshalb war selbst die Kulturpolitik der antiautoritären Achtundsechziger rigide autoritär. Sie fußte auf einem kritischen Kulturbegriff. An die Stelle der bürgerlichen Erhabenheit stellte sie den Widerstand, den gute Kunst zu leisten habe – Widerstand gegen die Mächtigen, Widerstand gegen die herrschenden Kulturmuster,

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Widerstand gegen die gültigen Wahrnehmungsprinzipien. Wir verdanken ihnen die geltende Kulturnorm. Und die Wiederauferstehung der Idee des Kulturstaates, die in Deutschland diskutiert wird. Die Idee impliziert eine Kulturnorm, welche von der Elite gelebt und qua Mittelzuschreibung durchgesetzt wird. Sie besagt, dass es in jedem Staatswesen Kulturbürger und Nichtkulturbürger, also Barbaren gibt. Viele aus letzterer Gattung erkennt man derzeit daran, dass sie Computerspiele nutzen. Ein Drittel der Bevölkerung zwischen 16 und 49 verhält sich auf diese Weise besonders barbarisch. Sie verbringen täglich fünf bis sechs Stunden mit „Gamen“. Der Ruf des Mediums Computerspiel ist, dass es die jungen Menschen verblöde, brutalisiere und vom wirklichen Leben fernhalte. Im Schweizer Parlament ist sogar ein Antrag anhängig, Killerspiele zu verbieten. Erstaunlich, wie die Argumente sich gleichen. Sogar die Schrift sollte, als sie sich verbreitete, verboten werden, da sie die Menschen vom Zuhören abhalte. Bücher waren an vielen Orten verboten, da sie den Unsinn der Welt greifbar machten und die Fantasie befreiten. Film und Fernsehen wurden bei ihrer Einführung als Medien der Verblödung dargestellt, und am Comic blieb nie ein guter Faden. Trotzdem haben alle diese Medien sich zu Trägern der Kunst und der Kultur entwickelt, sind zu Instrumenten ästhetischer Gestaltung geworden, die unsere Fantasie anregen. Auch das Computerspiel bietet alles, was eine neue Kunstform ausmacht, vor allem aber bietet es eine komplett neue Dimension: die Interaktivität. Nur: Es wurde nicht von Künstlern erfunden und popularisiert, sondern von Technikern, Programmierern und Leuten, die auf der Suche nach etwas wirklich Neuem waren. Jetzt bricht es mit aller Macht in den Kulturmarkt ein und wirbelt die Ordnung durcheinander. Kein Wunder, dass die Hüter des Systems erschrecken und in ein kollektives Jammern ausbrechen, da sie ihre subventionierten Felle davonschwimmen sehen. Zwar ist der Deutsche Kulturrat vor drei Jahren aufgewacht und kämpft seither um Anerkennung für solche Potenziale der Zukunft, jedoch: Die Förderung politisch korrekter Kreativität, wie sie auf seinem Programm steht, ist natürlich das Gegenteil von Förderung. Das gilt grundsätzlich – wer fördern will, muss das Risiko mit fördern. Aber beweisen wollte ich mit den Computerspielen nur, dass Kulturpolitik zu spät kommt. Dann nämlich, wenn ein neues Medium die Gesellschaft längst durchdrungen hat, versucht Kulturpolitik, die Entwicklung zu bremsen, zu retten, was noch zu retten ist, statt die Entwicklung mit Überzeugung mitzugestalten. Der Fall der Mauer, das Internet sowie die beschleunigte Zirkulation von Gütern, die immer auch Kulturträger sind, haben die von der Popkultur bereits geschwächten kulturellen Koordinatensysteme der bürgerlich-humanistischen Weltordnung zerstört. Wertsetzungen erscheinen heutzutage bedeutungslos, jeder ist seine eigene Avantgarde und findet seinen eigenen Experten, der ihn zum Künstler adelt; der Kampf um Aufmerksamkeit hat das Showbusiness geboren, die Kunst ist zum Kampfplatz des Kapitals verkommen, die Kritik schwindet, weil kulturelle Werte ihre Leitfunktion gerade wegen ihrer Allgegenwart und der Beliebigkeit, mit der sie gehandelt und

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gelobt werden, verloren haben. Dazu kommt die weltweite Migration. Remscheid, die unbekannteste Stadt Deutschlands, zählt 50 Prozent Immigranten. Renens, die unbekannteste Stadt der Schweiz, zählt unter 20 000 Einwohnern 12 000 Menschen aus 90 anderen Kulturen. Gar nicht zu reden von den Kulturen, die immer schon da waren, aber von der Kulturpolitik schlicht ignoriert, gelegentlich in die Sozialdepartemente ausgelagert wurden: 50 000 Schweizer jodeln – der Graus der wahren Komponisten. 60 000 Schweizer sind in Laientheatergruppen zusammengeschlossen – der Horror der Intendanten. 1000 Popbands zählen wir im Land – der Schreck der akademischen Musikkultur. Die Schweizer Volksmusik ist ein Produkt der Söldnerei (die Söldner durften jeweils ihre Musikinstrumente mit nach Hause nehmen, so wurde die Schweiz im 17. und 18. Jahrhundert musikalisiert), deshalb nicht image- und zukunftstauglich – so die Kulturverwalter. Zwölf Millionen Spieler aus aller Welt spielen gemeinsam „World of Warcraft“ via Internet. Eine gewaltige, aber unbekannte Zahl von Menschen löst Kreuzworträtsel und trainiert ihr Hirn mit Sudoku. Alle diese Menschen stellen sich Herausforderungen. Alle diese Menschen verhalten sich kulturell, viele sogar künstlerisch, ohne dass sie mit ihren Tätigkeiten jemals Objekt, geschweige denn Subjekt der Kulturpolitik geworden wären. Im Gegenteil, heutige Kulturpolitik ist bestrebt, sie von anderem zu überzeugen. Es kommt noch schlimmer. Essenzielle Unterscheidungen wie Kunst und Kommerz, Experiment und Erfolg, Relevanz und Vergnügen lösen sich auf. Das Publikum will nichts mehr wissen von einer autoritären Politik, welche vorgeben will, was für den Bürger gut ist. Nur eine bekannte Minderheit nutzt die subventionierten Angebote. Umgekehrt erstickt das staatliche Finanzierungsmonopol, das gemacht ist, um Verluste wegzustecken, die private unternehmerische Initiative im Kulturbereich. Weshalb soll jemand noch Kapital riskieren, wenn anderswo der Staat dafür aufkommt? Man lese dazu den Aufsatz von Alessandro Barrico, „Fermez les théâtres publics – Schließen wir die öffentlichen Theater“, erschienen in Le Courrier international im April 2009. Barrico, dem wir unter anderem den wunderbaren Roman „Seide“ verdanken, zieht darin gegen eine Kulturpolitik zu Felde, welche Qualität monopolisiert und Kulturunternehmer disqualifiziert. Und damit der Kulturszene langfristig großen Schaden zufügt, indem sie die Kultur von der gesellschaftlichen Realität abschneidet. Doch je realitätsferner die Kulturproduktion, umso mehr sieht staatliche Kulturpolitik sich bestätigt, denn wer einmal begonnen hat, zu subventionieren, sieht sich einer wachsenden Nachfrage nach Risikobefreiung gegenüber; die Risikobefreiung wird zum Selbstzweck. Selbst die Banken haben dieses kulturelle Prinzip kapiert, auch sie übertragen ihre Risiken neuerdings an den Staat. Das zugehörige kulturpolitische Konzept heißt „aktivierende Kulturpolitik“; der gut meinende Staat tritt überall auf den Plan. Bald, so meine Polemik, trägt er die Hunde zum Jagen. Die Kulturpolitik der letzten 40 Jahre, orientiert an nationalen Wertesystemen, die sich im freundlichen Austausch bewähren sollten, scheitert nicht nur an der Globalisierung. Sie steckt auch in der Fängen einer Demokratie, welche die Machtzentren in ein

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und derselben Gesellschaft bewusst vervielfacht hat, weil die Vielfalt der Optionen ein wirtschaftlicher und sozialer Erfolgsfaktor ist. Macht ist etwas, was ihren Trägern nur noch temporär und begrenzt zukommt. So erweitert sich die Freiheit des Individuums. Solch demokratische Dezentralisierung der Macht schwächt umgekehrt die staatliche Klammerfunktion und trägt dazu bei, dass die kulturellen Kanons wirkungslos werden. Frei ist der einzelne, anything goes das zugehörige kulturelle Programm. Dieses Programm nützt auch der Wirtschaft, die sich, anders als die Altlinken denken, stark an kulturellen Prozessen orientiert. Denn anything goes befreit die Kreativität und schafft neue Märkte. So fallen konstitutionelle Macht und kulturelle Macht immer weiter auseinander. Der Umstand, Bürger Deutschlands zu sein, hat nichts mehr mit meiner kulturellen Orientierung zu tun. Goethe könnte mir sogar gestohlen bleiben, ich wäre trotzdem Deutscher. Der intelligenteste Schweizer Verlag ist ein deutscher. Der weltbeste Alphornspieler ist ein Russe. Ben Vauthier, Schweizer Künstler, schmückte den Schweizer Pavillon auf der Weltausstellung 1992 mit dem Slogan „Die Schweiz existiert nicht“. Damals ein Skandal, gilt es heute als geflügeltes Wort. Es gibt keinen Begriff mehr für die kulturelle Substanz dieses oder irgendeines Landes. Es existiert als Land, aber nicht als kulturelle Einheit. Jede heutige Gesellschaft ist ein unübersehbares Puzzle von Gruppen, die alle gleichermaßen berechtigte kulturelle Ausdrucksformen leben. Oper steht nicht höher als serbische Folklore, experimentelles Video ist nicht wertvoller als Fahnenschwingen. Außer man nimmt den Herstellungspreis zum Maßstab gesellschaftlicher Wertung – über Jahrhunderte war die Herstellung von Kunst teuer, man musste sie sich leisten können; darin steckte ein großer Teil ihres Wertes, der dann ins Symbolische übertragen wurde. Dem haben die letzten Jahrzehnte jedoch Abhilfe geschaffen; jeder kulturelle Aufbruch, und jener der siebziger Jahre am deutlichsten, bewies, dass der Herstellungspreis nur gesellschaftliche Machtverteilung spiegelt, nicht aber kulturelle Produktivität, kam er doch immer aus dem finanziellen Off. Um viel Geld kann es also nicht gehen. Hier liegt die Chance von Sachsen wie jeder anderen Region. Die schlummernden Kräfte zu wecken, Foren zu schaffen, auf denen die unmöglichsten kulturellen Ausdrucksformen ans Licht kommen, in der eigenen Gesellschaft zu suchen, in uns selbst – jeder von uns hat viele kulturelle Existenzen –, das muss das Programm der Wiederauferstehung sein. Wir alle sind längst multikulturell. Es muss im sächsisch-regionalen Leben Aspekte geben, welche man in Wert setzen und entwickeln kann. So, wie drei Ostschweizer Kantone solches 2007 und 2008 im Projekt „Festjagd“ gemacht haben und dabei auf 150 unterschiedlichste Festivals gestoßen sind, die meisten von ihnen auf dem Radar der öffentlichen Förderer nicht sichtbar, für die Dynamisierung der regionalen Kulturszene aber willkommene Transmissionsriemen. Oder wie Altdorf, die 16 000 Köpfe zählende Hauptstadt des Kantons Uri, den Turnaround geschafft hat. Nach der Eröffnung der Gotthardautobahn im Jahre 1980 verschwand Altdorf von der Landkarte. Bis dahin unvermeidlicher Etappenort

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auf der Gotthardstrecke, brausen die Reisenden jetzt mit 120 Stundenkilometern vorbei. Sie merken nicht einmal, dass jenseits der Lärmschutzwand eine kleine Stadt liegt. Der wirtschaftliche Niedergang machte die Altdorfer initiativ. In den neunziger Jahren entwickelten sie das Konzept eines Musikfestivals, das ausschließlich auf Traditionen des alpinen Raums aufbaut. 2001 war es so weit, die erste Ausgabe der „Alpentöne“ ging über die zwei Altdorfer Bühnen – und schlug ein wie eine Bombe. Aber nicht, weil das Festival sich nach außen gerichtet hätte, an die übrige Schweiz, sondern weil die Botschaft nach innen ging: Wir sind noch wer, uns gibt’s noch, unter uns gibt es kreative Köpfe und flinke Hände. Die „Alpentöne“ gelten nach fünf Ausgaben als wichtiges Festival in der Schweiz. Und sie haben viel zur Renaissance einer Schweizer Volksmusik aus dem Geiste des Experiments beigetragen. Ganz ähnlich wie das Comic-Festival „Fumetto“ in Luzern, welches lange von den zweifelhaften Qualitäten der lokalen Kunsthochschule lebte. Die Treue zu dieser Begrenzung und der daraus abgeleitete Charme des Unperfekten haben auch „Fumetto“ zu einem kulturellen Begegnungsort gemacht. Die Moral aus solchen Geschichten? Seien Sie provinziell. Dass die Berliner darob mitleidig lächeln, sei egal. Es gibt genügend Beispiele in der europäischen Kulturlandschaft, wie der Charme des Provinzialismus eine unglaubliche Verführungskraft entwickelte. Wie die Eingesessenen stolz auf sich selbst sein durften. Und die Menschen herbeiströmten, um von genau dieser Ungekünsteltheit zu kosten. Das wäre also der erste Ratschlag: Mut zum Provinzialismus. Weltläufigkeit herbeiplanen klingt gut, kostet aber viel bei inexistenter Erfolgsgarantie. Der zweite: Fördern Sie kulturelles Unternehmertum. Unterstützen Sie jene, welche den Willen zum Erfolg haben. Und davon leben wollen. Verlage, Festivals, Musicals, Clubs, Wettbewerbe – Kommerz und drohende Reinfälle sind kein Grund zur Ängstlichkeit. Beherzt müssen Kulturförderer heute Anfänge ermöglichen und ihre Ansprüche an Hochkultur hintanstellen. Barbarentum lautet das Stichwort, ungestaltetes Rohmaterial! Der Staat muss nicht aktivieren. Er muss nur zulassen! Drittens, die kleine Begleiterscheinung: Schluss mit Bürokratie und Kontrollen. Was es heute braucht, ist eine bunt gemischte Truppe von Kulturförderern, welche rasch, unkompliziert und auf ein paar Jahre begrenzt fördern, was ihnen vors Visier läuft. Und dieses Visier muss beweglich sein, auf Unkultur geeicht. Ich bin überzeugt, dass Sachsen, befolgte es solche Ratschläge aus der Ferne, drei Ziele erreichen würde: Der Staat schafft Selbstvertrauen unter den Bürgern, indem er lokale Ressourcen mobilisiert und mit lokalen Ansprüchen kombiniert. Er benötigt keine Konzepte aus der globalisierten Konzeptwirtschaft, um die eigenen Kräfte zusammenzuraufen. Sachsen schafft es! So trägt des Land zur sozialen Integration bei, nicht nur zugewanderter Kulturen, sondern aller Klassen und Schichten überhaupt. Integration beginnt bekanntlich mit Respekt vor den Leistungen anderer, der Eliten einerseits, der Barbaren andererseits. Stück für Stück, Projekt für Projekt bildet sich soziale Vielfalt kulturell ab. So entsteht Raum für wirklich Neues. Weil sich hier die drei Schlüssel-

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funktionen von Kunst vereinen, wenn sie mit politischen Mitteln zu Kultur wird: dem Selbstbehauptungswillen Ausdruck zu verleihen. Auf die Existenz unterschiedlichster Lebensentwürfe aufmerksam zu machen. Neues zu ermöglichen, von dem wir, gegen meinen Willen mit Theodor W. Adorno gesprochen, noch nicht wissen, was es bedeutet. Erstaunlicherweise haben mich die Vereinigten Staaten inspiriert, welche in unsern Augen eine schreckliche Kulturpolitik verfolgen: Ihr Modell zeichnet sich durch das galoppierende Fehlen staatlicher Beihilfen für die Kulturproduktion aus und bringt nur Massenkultur hervor – in der europäischen Wahrnehmung. Über diesen Eindruck, der sehr einem Vorurteil gleicht, das vom selben Adorno eifrig genährt wurde und sich seither als Argument für eine dauerdefizitäre europäische Kulturpolitik hält, ließe sich trefflich streiten. Hier aber geht es um den Aspekt der sozialen Diversität, den das amerikanische Kultursystem bestens abbildet. Die Beinahe-Abwesenheit von Subvention gibt die Kulturpflege jeder Community und ihrer Spendenfreudigkeit anheim, und entsprechend entwickeln sich kulturelle Systeme von geringerer Dichte als hierzulande, doch von hoher Diversität. Nicht nur die Bevölkerungsdynamik drängt zu ständig weiterer Ausdifferenzierung, auch der Markt verlangt zusätzliche Spezialisierung. Es entstehen mexikanische Galerien, indianische Ensembles und chinesische Bühnen, eingebettet in kommunale Zusammenhänge und soziale Netze. Unternehmergeist ist unerlässlich. Europäischer avantgardistischer Geist ist da nur eine Facette unter vielen. Alles wird hybrid und damit neu. Die kulturellen Systeme sind konstitutiv für die jeweiligen Gruppen, sie stiften, was man auf dieser Seite des Atlantiks so gerne hätte: Identität aus Differenz. Der gemeinsame Nenner aller Differenz, der die Gesellschaft zusammenhält, ist Erfolg: Selbstbehauptung aus eigener – individueller oder kollektiver – Leistung. Ein Banause, wer meint, dabei werde nur Kitsch produziert. Vor allem entstehen kulturelle Archetypen, welche die restliche Welt verändern: der Jazz, das Kino, der Pop, der HipHop. Anders als das Börsenblatt des Deutschen Buchhandels ahnte, welches im Jahre 1913 schrieb, das Kino habe „mit der Romanverfilmung einen verhängnisvollen Abweg betreten. Der Buchroman in Kinovorführung ist eine Barbarei.“ Edles, eitles Europa! Klingt alles so einfach, das ist wahr. Doch die kulturellen Barrieren, die es zu überwinden gilt, sind zahlreich – besonders für unsereins als Kulturförderer. Pro Helvetia hat das mit dem Volkskulturprogramm erfahren. Nur kurz die Fakten: Von 2006 bis 2008 hat die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, typische Verteidigerin der Hochkultur, nach Brücken zum traditionellen, folkloristischen Teil der Schweizer Kultur gesucht. Erstens sind dort 10 Prozent der Bevölkerung aktiv, zweitens trägt jeder von uns Elemente dieser Kultur in sich, drittens hat die Globalisierung die Neugier darauf verstärkt. Doch der Diskurs, den die Anhänger der Tradition führen, ist ein ganz anderer als der unsere. Das mussten wir „Öffentlichen“ erst lernen. Es geht nicht um eine Ökonomie der Aufmerksamkeit, nicht nur um Geldflüsse. Die Währung, die auf dem Spiel steht, heißt schlicht Anerkennung, Anerkennung seitens jener, welche über die Macht verfügen zu definieren, dass auch traditionelle, ja folkloristische Kultur ein rele-

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vanter und identitätsstiftender Teil der kulturellen Gegenwart ist. Umgekehrt wecken solche Ausweitungen sofort die Bedenken der bisherigen Nutznießer unserer Systeme. Sie stemmen sich am stärksten gegen Veränderung. Anerkennung baut Brücken, auf denen sich plötzlich Unerhörtes ereignet: Noch nie gab es in der Schweiz so viele musikalische Produktionen, die identitäre Elemente mit modernen Konzepten verbinden – zum Vergnügen eines weltweiten Publikums übrigens. Auf diese Weise legen wir überdies auch unsere individuelle Transkulturalität frei, machen unsere globalisierte Existenz zum Stoff der Kunst aller Arten. Anerkennung wird geteilt, dadurch verdoppelt, die Barbaren entpuppen sich als Kultursubjekte. Mehr kann Kulturpolitik nicht wollen. Es bleibt eine weitere Schwierigkeit: Es geht nicht um die planmäßige Bereitstellung von Angeboten für alle möglichen Bevölkerungsgruppen, also um ein Comic-Festival in der Stadtbibliothek und eine Reihe von Slam-Battles im Stadttheater. Nach Maßgabe der kulturellen Vernunft zu planen, wäre das bekannte Muster leicht modernisiert; unsere Verfügungsmacht käme einfach etwas milder daher. Die Befreiung der kulturellen Kräfte einer Gesellschaft kann nur erfolgreich sein, wenn wir Strukturen schaffen, welche alle möglichen Gruppen in jene Prozesse einbeziehen, welche Ressourcen zuteilen und Gewichte setzen! In jene Prozesse also, in denen Macht portioniert wird. Da brauchen wir Experten des realen Lebens, nicht der Musikgeschichte und nicht der Pixeltheorie. Solches lässt sich im Zeichen der Bürgergesellschaft gerade nur in der Kultur praktizieren: dass wir 20-jährigen Bürgerinnen und Bürgern Verantwortung übertragen, fremdsprachige Menschen und Szenenschnüffler als Experten anstellen – und auf Gutachterkaskaden verzichten. Die allerletzte Schwierigkeit hat mit uns selbst zu tun. Immerhin müssen wir mit einem Rollenwechsel fertig werden. Wir treten in die zweite Reihe zurück; statt die Hüter der Qualität sind wir Ermöglicher von Dingen, die uns vielleicht gar nicht gefallen. Das wird Überwindung brauchen! Wenn solches ginge, wunderte es mich nicht, wenn Sachsen plötzlich zum Mekka der Entdeckungssüchtigen würde – gerade weil es auf sich selbst blickt. Da gäb’s dann Festivals mit türkischer Musik, kombiniert mit Thea­ ter aus dem islamischen Raum, begleitende Ausstellungen religiöser Kunst im Museum. Eine Reihe mit hausgemachter Musik, ergänzt um Homemade-Computerspiele. Eine Konzertbühne, welche Comics vertont und Werbefilme neu bespielt. Game-Battles. Graffiti-Festivals. Ein Produktionszentrum von digitalen Animationsfilmen, das ganz ohne Geld auskommt, und so weiter. So lange ich es denken kann, ist es noch nicht interessant genug. Aber lassen wir die Leute denken. Es wird mehr kommen, als wir alle uns vorstellen können. Weil uns die Begriffe fehlen für die Kultur der Barbaren.

Albrecht Göschel

Kommentar zu Pius Knüsel: Zukunftsmusik. Grüße aus der Welt der Barbaren

Jeder Leser dieses Textes, der seit Längerem die kulturpolitischen Debatten in Deutschland verfolgt und dessen materielles und existenzielles Überleben nicht von einer großen oder auch kleineren Institution des öffentlichen Kulturbetriebs abhängt, wird der Intention des Autors mit gewissem Wohlwollen, aber auch mit Erstaunen begegnen, bilden doch die Thesen, die hier aufgestellt werden, seit Jahren den Kanon jeder sich „kritisch“ gebenden Äußerung zur üblichen Kulturpolitik. Dazu gehören zunächst die sattsam bekannten Einwände gegen die großen Einrichtungen, die „Tanker“ des Kulturbetriebs, die, obwohl sie nur minimale Anteile der Bevölkerung oder sogar des Kulturpublikums erreichen, den Löwenanteil der öffentlichen Förderung verschlingen; sodann die nunmehr seit Jahrzehnten unermüdlich wiederholten Vorwürfe gegen das Restaurative oder nur Konservatorische der traditionellen Einrichtungen, die damit jeder Innovation entgegenstünden; und schließlich die Polemiken gegen eine Staatsorientierung, ja geradezu Staatshörigkeit eines „Bildungsbürgertums“, das den eigenen Kunstgeschmack verabsolutiert und für diesen dann, weil als Maßstab setzend und sakrosankt behauptet, bedingungslos öffentliche, staatliche Förderung erwartet – eine Haltung, die schließlich in der Forderung nach einer Verankerung von Kulturförderung im Grundgesetz kulminiert. Alle drei Kritiken werden – wie gesagt – seit Jahren geäußert und diskutiert, sodass dem Text von Pius Knüsel in dieser Hinsicht eigentlich nichts Provokantes zu entnehmen wäre. Die faktische soziale Selektivität eines zum Allgemeinen erhobenen und daher auch mit einem allgemeinen Förderungsanspruch versehenen Kulturbegriffs ist in der kulturpolitischen Debatte seit Langem Stein des Anstoßes, und die gleichfalls seit etlichen Jahren, etwa seit Beginn der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts, prognostizierten Krisen dieses Förderkonzeptes scheinen, blickt man zum Beispiel nach Wuppertal oder Leipzig, bereits aktuell Realität zu werden. Die „unpolitische Forderungshaltung“, die den Förderungsansprüchen zugrunde liegt, wurde bereits Anfang der sechziger Jahre als ein Symptom diagnostiziert, das sich bei Weitem nicht nur im viel gescholtenen „Bildungsbürgertum“, sondern in der gesamten Bevölkerung findet. Überdeutlich wurde das in den „neuen sozialen Bewegungen“, aus denen unter anderem die sogenannte Soziokultur hervorging, die sich zwar selbst als „alternativ“ bezeichnete, bereits mit ihrem Entstehen jedoch sofort zur „BAT-Kultur“ gerann, das

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heißt genauso auf öffentliche Förderung aus war wie die verurteilte „bürgerliche Kultur“: Statt eine Debatte über kulturpolitische Alternativen zu stimulieren, ging es also um nichts anderes als um einen Verteilungskampf zwischen unterschiedlichen Milieus – traditionelles Bildungs- oder Niveaumilieu vs. neues, tendenziell kleinbürgerliches Selbstverwirklichungsmilieu von sozialen Aufsteigern, die von der Bildungsreform profitiert hatten –, in dem jedes mit der gleichen Formel von der „allgemeinen Bedeutung“ des faktisch je spezifisch Eigenen zu punkten suchte. Auch die Forderung, das Unkonventionelle, das noch nicht zur Institution Geronnene, das Experimentelle zu fördern, ist wohl so alt wie die Kulturpolitik selber. Aber bislang hat der etablierte Kulturbetrieb alle derartigen Kritiken unbeschadet überstanden und erfreut sich heute in großen Teilen nicht nur ungebrochenen, sondern ungeahnten Zuspruchs: Von Besucherzahlen, wie sie Sonderausstellungen wie MoMA in Berlin oder Vermeer in Delft erzielen, können experimentelle Ansätze „vom Rand her“ nur träumen; die deutschen Museen erreichen in ihrer Summe locker die Zuschauermassen der Bundesliga; wenn auf der Berliner Museumsinsel eine rekonstruierte Einrichtung wiedereröffnet wird, muss der geneigte Interessent Monate warten, bis ihm der Besuch gelingt, und die Konzerte aller Spitzenorchester sind notorisch ausverkauft und könnten ein Vielfaches ihrer Hörer anziehen, wenn die entsprechenden Raum- und Spielkapazitäten vorhanden wären. Dass es daneben auch die aus kunsthistorischer Sicht gut bestückten „Provinzmuseen“ gibt, in denen man in wunderbarer Einsamkeit auch an Regentagen durch leere Säle wandert, ist die andere Seite einer „Kultur der Barbaren“, die sich am Event begeistert, Randständiges aber unbeachtet lässt. Aber all das sind natürlich keine Einwände gegen Knüsels Vorwurf, der Großteil der Bevölkerung würde das, was die Kulturpolitik fördert, schlicht nicht zur Kenntnis nehmen, ein Vorwurf, der vermutlich zutrifft. Dass diese Förderung darüber hinaus in der Regel einer Umverteilung von „unten nach oben“ gleichkommt, verschlimmert das Problem, das sich auch mit dem Einwand, kulturpolitische Förderung dürfe keinen Umverteilungskriterien unterliegen, nicht aus der Welt räumen lässt. Der erwähnte „Kulturkonflikt“ zwischen „etablierter“ und „alternativer“ Kultur der achtziger Jahre zeigt ja, dass es im Grunde nur darum geht. Man wird Pius Knüsel also in vieler Hinsicht zustimmen wollen. Und dennoch lässt einen der Text mit einem unguten Gefühl zurück, und dies aus mehreren Gründen. Zum Ersten erwecken die Ausführungen anfangs den Eindruck, als würde der Autor jedem Qualitätsbegriff misstrauen. Dann aber erfahren wir mit Erstaunen, dass „der beste Alphornspieler der Welt“ ein Russe sei, wobei nicht die Nationalität verblüfft, sondern die Tatsache, dass es nach Auffassung des Autors eindeutig einen „besten“ gibt. Also muss es doch Qualitätskriterien geben, und diese dürften sich doch wohl auf das musikalische Können des Russen beziehen und nicht etwa auf gymnastische Fähigkeiten, zum Beispiel in der Verwendung des Alphorns zum Speerwerfen, Stabhochspringen respektive Fahnenschwingen. Es kann sich also doch wohl nur um eine hervorragende, vielleicht sogar virtuose Fähigkeit des Spielers im Produzieren von Tönen handeln, die seinem Instrument angemessen sind. Ein solches Können aber,

Kommentar zu Pius Knüsel

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das Pius Knüsel hier ohne Vorbehalte als Qualitätskriterium voraussetzt oder akzeptiert – womit er die „klassische“ Ansicht teilt, dass Kunst von Können komme, nicht von Wollen, denn dann hieße es Wunst –, findet sich nun mal in der Regel in professionellen Ensembles, bei professionellen Solisten, nicht in der sogenannten „Breiten-, Volks- oder Laienkultur“. Dass sich ein solches Können nicht auf tradierte Spielweisen beschränkt, dass gerade das Durchbrechen anerkannter Regeln hier zu einem Standard gehört, der nicht minder von Könnerschaft geprägt ist, gehört zu den Grundbeständen jedes angemessenen Kunstverständnisses, aber gerade diese Vorgänge machen avancierte Kunstproduktion, also eine, die auf Können basiert, häufig – nicht immer – tatsächlich zur ziemlich hermetischen Veranstaltung. Aber dem entrinnt man nicht, solange man „Können“ zum Qualitätskriterium erhebt, wozu sich – dankenswerterweise – auch Pius Knüsel genötigt sieht. Die „alternative“ Soziokultur der siebziger und achtziger Jahre hat lange versucht, auf ein solches Können zu verzichten, um sich als Breitenkultur zu empfehlen. Sie hat sich damit – auch angesichts der simplen Tatsache, dass selbst die Stars der Popkultur in der Regel über ein solches exzellentes Können verfügen – schlicht nur lächerlich gemacht und zum schnellen eigenen Verschwinden beigetragen. Während man sich in diesem ersten Punkt vermutlich schnell mit Pius Knüsel verständigen könnte, erscheint ein zweiter deutlich schwieriger: die Frage von Innovation und Avantgarde. Der Autor behauptet, das „Neue“ käme in der Regel aus Randbereichen, aus der verachteten, nicht zur Kenntnis genommenen „Welt der Barbaren“, von denjenigen, die nicht am etablierten, öffentlich geförderten Kulturbetrieb teilnehmen. Von den beiden Bestandteilen des Arguments ist der erste vermutlich zutreffend, der zweite vermutlich nicht, oder jedenfalls nicht direkt, nicht so, wie es hier nahegelegt wird. Kulturell-künstlerische Innovationen kommen zwar aus Randbereichen, nicht aber aus der „Welt der Barbaren“. In geradezu „idealtypischer“ Weise stammen zum Beispiel die meisten Mitglieder englischer oder nordamerikanischer Rock- oder PopGruppen aus den sogenannten „Art Schools“, also aus Kunsthochschulen, in denen Nachwuchs für kulturelle Dienstleistungsberufe zum Beispiel in den Medien oder in der Werbung ausgebildet wird. An diesen „Art Schools“ entstand, wie nicht anders zu erwarten war, sehr bald ein Überangebot an Studenten und Absolventen, die in den vorgesehenen Berufszweigen nur minimale Chancen hatten, also auf Alternativen sinnen mussten. Als Kunstprofis verfielen sie auf das probateste und seit Langem erprobte Mittel der Durchsetzung, Elemente einer „Volkskultur“, von denen sich der etablierte Betrieb distanzierte, aufzunehmen, diese hoch professionell und mit hohem Können zu verarbeiten und als Protest gegen das Etablierte erscheinen zu lassen. Damit folgten sie dem klassischen Muster moderner Kunstproduktion, das „Unsichtbare sichtbar“, hier in den meisten Fällen „hörbar“ zu machen. Anders formuliert: Ein Teilbereich des Kunstbetriebs nutzt Versatzstücke einer „Kultur der Barbaren“, um sich im Kunstbetrieb durchzusetzen, aber es bleibt ein Teilbereich des Kunstbetriebs, aus dem die „Barbaren“ in der Regel ausgeschlossen bleiben, auch wenn Teile ihrer Kultur erscheinen und einzelne Akteure damit kurzfristig oder sogar auf Dauer gigantische Erfolge erzie-

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len. Schon Mozart und Haydn haben auf diese Weise wie die Stones, die Beatles, wie Schubert oder Rod Stewart „Volkskultur“ genutzt, ohne es deswegen zu sein. Und selbst der Jazz hat seine Ursprünge in quasiprofessioneller schwarzer Sakralmusik. Selbst also, wenn Innovation nicht aus den Zentren, den „großen Tankern“ des Kulturbetriebs stammen sollte, entspringt sie doch immer dem „Kulturbetrieb“, niemals der „Welt der Barbaren“, die bestenfalls zur Distinktion geeignete Elemente oder Versatzstücke liefert, und dies bis in die „Alltagswelt“ hinein: Bert Brecht war ein Bewunderer des Boxsports und besonders Max Schmelings, und Andy Warhol publizierte seine höchst anspruchsvolle Zeitschrift Interview im Erscheinungsbild der Boulevardpresse, um das „Bildungsbürgertum“ zu provozieren. In der „Welt der Barbaren“, aus der Versatzstücke entliehen werden, gibt es selten ein „Können“ und noch seltener irgendeine Art von Innovationsbereitschaft oder gar -fähigkeit. Eine ganz andere Frage, auf die hier nicht eingegangen werden soll, ist natürlich, ob „Avantgardismus“ überhaupt noch erstrebenswert ist in einer Welt, in der das, was heute schon von morgen ist, morgen mit Sicherheit von vorgestern sein wird, in der also nichts so schnell altert und bedeutungslos wird wie das „Neue“. Der etablierte Kulturbetrieb ist ja deswegen so erfolgreich, weil er den „Bestand“ garantiert, also vor einer Entwertung durch Innovation schützt und damit eine Sicherheit gegen Verschleiß bietet wie sonst kein Feld des Lebens in einer sich ständig beschleunigenden Welt. Aber auch zu diesem Punkt über die Mechanismen und Bedingungen kulturellkünstlerischer Innovation ließe sich sicherlich, würde man in eine längere Debatte mit dem Autor eintreten, in vielerlei Hinsicht Übereinstimmung erzielen. Für einen dritten Aspekt des Textes aber scheint das fast ausgeschlossen, da sich in ihm mehr als nur eine graduelle Differenz offenbart. Gemeint ist das Postulat, Kultur habe eine horizontale „Integration nach innen“ zu leisten, habe auf das „Eigene“ zu rekurrieren, habe einen Stolz auf das Eigene zu begründen und zu artikulieren und stehe damit im Gegensatz zu einer Kultur oder Kulturpolitik, die als „Emanzipation“, als „Kritik“, als das „Andere“ auftrete. Hier vernachlässigt der Autor nun wirklich ein halbes Jahrhundert kulturwissenschaftlicher Forschung, kulturwissenschaftlichen Diskurses, der ja gerade deutlich macht, dass das „Geschmacksurteil“, der Kulturbegriff, die Wertung bestimmter kulturell-künstlerischer Leistungen – immer – als Element des Habitus eine nach innen, ein Milieu, eine Schicht oder Klasse integrierende Funktion hat, gleichgültig wie „kritisch“, „emanzipatorisch“, angepasst oder unangepasst sie sich nach „außen“ geben mag; und je schärfer diese Außenabgrenzung bestimmt wird, umso deutlicher ist die Wirkung der Binnenintegration. Diese Binnenintegration ist die kultursoziologisch einzig relevante Funktion des „Geschmacksurteils“, und damit ist sie nicht das Ziel, sondern das Problem kultureller oder künstlerischer Urteile. Diese konstituieren distinktive und sich voneinander abgrenzende kollektive Identitäten, deren Ungleichheit über die Mechanismen des Habitus nicht als sozial, sondern als quasi naturgegeben erlebt und dargestellt werden. Solange es um kulturell definierte Lebenswelten geht, mag das hinzu­nehmen sein und muss wohl hingenommen werden. Werden diese kul-

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turell bestimmten kollektiven Identitäten aber zur Basis von Politik – und diese Gefahr droht immer –, vollziehen sie den Schritt in die Barbarei, und diesmal nicht in der ironisierenden Weise, in der Pius Knüsel diesen Begriff verwendet, sondern als reale Bedrohung zivilisatorischer Standards: Politische Gemeinwesen lassen sich nach liberalem Verständnis nur auf diese zivilisatorischen Standards, also auf Menschenrechte gründen, nicht aber auf eine kulturell definierte kollektive Identität, da diese nicht nur abgrenzend, sondern unabdingbar immer auch abwertend gegenüber anderen Identitäten wirkt. Wer der „Kultur“ die Aufgabe zuweist, Stolz auf das Eigene und damit eine kollektive kulturelle Identität zu begründen, eröffnet einer „Naturalisierung sozialer Ungleichheit“ die Tür, die im schlimmsten Fall in einer auf biologischen Argumenten beruhenden Minderwertigkeitsverurteilung ganzer Bevölkerungsgruppen, im besten Fall in einem bornierten Patriotismus – und sei es „nur“ Lokalpatriotismus – münden muss, von dem schon Leibniz gesagt hat, dass es sich dabei um ein Gefühl handle, das eines aufrechten Mannes unwürdig sei. Mit Sicherheit verfolgt Pius Knüsel keine derartigen Intentionen, die als Implikationen seiner etwas lockeren Äußerungen zum kulturellen Stolz und zur Binnenintegration mitgedacht werden müssen. Vermutlich meint er vielmehr, dass auf diesem Wege eine milieu- oder schichtübergreifende Integration gesichert werden könne. Aber ob „Kultur“ dazu überhaupt in der Lage ist, das wäre zu fragen, anstatt in leichtfertiger Weise etwas als Ziel zu formulieren, was man beim besten Willen nur als schwere Hypothek des „Kulturellen“ verstehen kann, in welcher Form auch immer es sich darstellen mag. Und in einer Zeit, in der „historisch-kulturell“ begründete kollektive Identitäten nachgerade zum politischen Programm erhoben werden, sei es in der Regional-, sei es in der Migrationspolitik, wo also ein „neues Stammesdenken“ wieder als salonfähig gilt, erscheint die Propagierung dieses Zivilisationsverlustes als besonders erschreckend und bedrückend. Zum Abschluss, nur um das Bild abzurunden, möchte ich noch einige Anmerkungen zur Argumentationsweise des Textes machen, die seine Einordnung ermöglichen. Der Text argumentiert nicht wissenschaftlich-analytisch, sondern in seiner „Auratisierung des Banalen“, die in der Aufwertung der „Welt der Barbaren“ versucht wird, funktioniert er selbst nach künstlerischen Prinzipien. Es gilt als Prinzip der Kunstproduktion, Unsichtbares sichtbar zu machen, und da mag der Text dann auch seine Verdienste haben. Aber er verfehlt das „rationale Argument“ wissenschaftlicher oder politischöffentlicher Debatten, wenn zum Beispiel Fahnenschwingen gegen klassische kulturelle Praxis gesetzt wird. Ersteres bleibt, so eindrucksvoll und schwierig es immer sein mag, eine gymnastische Übung, vergleichbar vielleicht mit Wasserballett, Peitschenknallen oder Ähnlichem. Die spezifischen gehirnphysiologischen Effekte, die eine kulturelle Praxis wie das Musikmachen, auch das Alphornspielen, bewirkt, treten aber vermutlich nicht ein – diese Effekte sind inzwischen durch entsprechende Forschung recht gut belegt, auch wenn sie natürlich keine moralisch besseren Menschen machen. Die gleiche Argumentationsfigur findet sich, wenn Computerspiele gegen die traditionelle

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Kulturpraxis in Stellung gebracht werden. Erstens überschätzt der Autor, wie aktuelle Jugendstudien nahelegen, mit Sicherheit die Bedeutung solcher Spiele, zweitens sind die „zwölf Millionen weltweit“, die solche Spiele spielen, nachgerade ein Klacks gegen die mindestens genauso vielen allein in Deutschland, die ein klassisches Instrument spielen – und die als Laien von den professionellen Musikern ganz und gar nicht verurteilt, sondern, wo es geht, gefördert werden –, und drittens wäre nach den jeweiligen psychischen und intellektuellen Folgen zu fragen, und da tappen wir bei den Computerspielen eher im Dunkeln. Auch hier geht es dem Autor also offensichtlich eher um die provokative Wirkung, die im Kunstbetrieb die genannte „Auratisierung des Banalen“ immer noch und immer wieder ausübt, obwohl diese Argumentationsfigur doch eigentlich sattsam bekannt sein müsste. Weil sich Pius Knüsel mit dieser Art der Argumentation zutiefst als Mitglied eben des Kulturbetriebs ausweist, den er selbst kritisiert, entgehen ihm dann auch die fatalen Implikationen und Konsequenzen seiner Thesen zur „kulturellen Binnenintegration“. Muss abschließend noch betont werden, dass dieser Kommentar aus deutlichem Respekt für den kritisierten Autor geschrieben wurde, ein Respekt, der unter anderem aus dem Versuch resultiert, die notorische und notorisch gedankenlose Forderungshaltung gegenüber „dem Staat“ zu durchbrechen und die blanke Förderungsroutine überhaupt für kulturpolitische Entscheidungen zu öffnen?

Dieter Haselbach

Kultur und Demografie Was möchten Kulturnutzer – was können Steuerzahler tragen?

Zwei Themen werden in diesem Aufsatz bearbeitet. Der erste Teil1 befasst sich mit den Ergebnissen empirischer Forschung zum Wandel von Kulturverhalten. Am Ende dieses Teils werden Schlüsse im Hinblick auf das Kulturmarketing und die kulturelle Bildung gezogen. Hier ist viel zu tun. Der zweite Teil hat eine dunklere Färbung: Gefragt wird, in welcher gesellschaftlichen Umgebung diese Arbeit getan werden muss. Dabei rücken Kulturfinanzen wie auch demografische Trends in den Fokus. Wie wird sich der Sektor öffentlicher Kulturförderung entwickeln, wenn diese Trends anhalten? Was kann durch öffentliche Förderung noch bewegt werden? Aufschlussreich ist ein Blick in die östlichen Flächenländer Deutschlands, die – nach allem, was wir jetzt wissen – Vorreiter einer demografischen Entwicklung sind, die in den nächsten Jahrzehnten die ganze Republik erfassen wird.

Kulturverhalten Die folgenden Ausführungen fassen drei Untersuchungen zum Kulturverhalten2 zusammen, die das Zentrum für Kulturforschung in den letzten Jahren veröffentlicht hat. Es können nur einige wesentliche Ergebnisse dargestellt werden, für Einzelnachweise und weitergehende Interpretationen sei auf die entsprechenden Publikationen verwiesen. Ich möchte das Material entlang dreier Thesen zum Kulturkonsum im Verhältnis zum Lebensalter oder zum Lebenslauf erschließen. 1 Die Verantwortung für die folgenden Aussagen und Thesen liegt beim Autor. Dass er über diese kulturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse schreiben kann, verdankt er der Zusammenarbeit mit Susanne Keuchel, die die hier herangezogenen Arbeiten verfasst und die Ergebnisse in vielen Diskussionen mit dem Autor geteilt hat. 2 Keuchel, Susanne/Wiesand, Andreas J. (Hg.): Das 1. Jugend-KulturBarometer. „Zwischen Eminem und Picasso …“ , Bonn 2006; Keuchel, Susanne/Wiesand, Andreas J., Das KulturBarometer 50+. „Zwischen Bach und Blues …“, Bonn 2008; Zentrum für Kulturforschung (Hg.): 8. KulturBarometer, Tabellenband, Bonn 2005.

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• Lebensaltersthese Diese These postuliert, dass Kulturkonsum davon abhängig ist, in welcher Lebensaltersstufe man sich befindet. Kulturkonsum in der frühesten Kindheit wird durch beißfeste Bilderbücher dominiert, Jugendliche gehen in die Disco. Dann kommen erst Schauspiel, dann Oper und Musiktheater, und alte Menschen treffen sich im Konzertsaal. „Der Weg des Kulturmenschen geht von der Disco zum Silbersee.“ Ist dies so, muss sich zumindest die Hochkultur, die besonders die höheren Lebensalter anspricht, noch für lange Zeit keine Sorgen machen: Bis die jüngeren und kleineren Generationskohorten durch die Altersstufen gewachsen sind, ist noch viel Zeit. • Schichtungsthese Hier wird angenommen, dass Kulturkonsum von Menschen je nach Zugehörigkeit zu bestimmten Schichten variiert. Um es wieder ein wenig klischeehaft darzustellen: Die einen gehen sonntags auf den Fußballplatz, die anderen ins Museum. Je höher die soziale Schicht, in der ein Mensch verortet werden kann, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass hochkulturelle Angebote nachgefragt werden. „Kultur ist etwas für ‚die Reichen‘.“ Wenn dies so ist, würde man Kulturangebote vor allem dort erwarten, wo die Bessergestellten leben. Wichtiger als die Demografie wäre die Entwicklung der sozialen Schichtung und die Organisation der sozialen Gruppen im Raum, um Kulturangebote zu planen. • Sozialisationsthese Nach der Sozialisationsthese ist Kulturkonsum ein gelerntes Verhalten. Was früh in Lernprozessen angelegt ist, wird später im Erwachsenenalter den Kulturkonsum prägen. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“ Wenn dies so ist, werden jetzt die kulturellen Bedürfnisse für die Zukunft veranlagt. Kulturinstitutionen und das Bildungssystem würden jetzt durch ihre Aktivitäten festlegen, was in kommenden Zeiträumen kulturell zu erwarten ist. Das heute zu beobachtende kulturelle Verhalten wäre in der Vergangenheit gelernt worden. Was das unter den Bedingungen der demografischen Veränderung heißt, ist in einem Satz nicht vorauszusagen: Es kommt eben darauf an, wie kulturelle Sozialisation verläuft. Natürlich fällt allen zu jeder These etwas ein! Es gibt Beispiele, ‚anekdotische Evidenz‘, die die eine oder andere These zu stützen oder zu widerlegen scheint. Kulturkonsum mag ein sehr komplexes Phänomen sein und alle Thesen zu einfach. Welche Interpretationen werden von den Untersuchungen gestützt? Zunächst zur Frage, wer sich wofür in der Kultur interessiert. Das Interesse an unterschiedlichen Kultursparten ist je nach Altersgruppe sehr unterschiedlich. Alter spielt

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eine größere Rolle als der Unterschied zwischen Jugendlichen mit und ohne migrantischem Hintergrund (diese Unterscheidung steht für die älteren Gruppen nicht zur Verfügung). Hinsichtlich der drei Thesen sagt dies noch nichts. Eine Momentaufnahme kann Sozialisationsverläufe nicht darstellen und nach der Schichtung von Interessen wurde nicht gefragt. Sie belegt nur, dass zum Befragungszeitpunkt Ältere ein deutlich anderes Interessenprofil als Jüngere hatten.

Musik Film Comedy Literatur/Bücherlesen Musical Tanz Museen/Ausstellungen BildendeKunst

Bevölkerunginsgesamt

ModernesTheater

JugendͲKulturBarometer14bis24Jahre g

Kabarett

davon junge Migranten

Klassisches Theater

Bevölkerung 50+

Oper 0%

Abbildung 1

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

Interesse an einzelnen Kultursparten bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen differenziert nach Alter3

Auch andere Ergebnisse aus diesem Fragenumfeld lassen noch keinen Schluss zu den Thesen zu. Betrachtet man allein die Kulturnutzung durch Jugendliche, so wird deutlich, dass der Schichthintergrund (hier operationalisiert in der Schulbildung) eine Rolle spielt. Durchgängig gibt es einen Zusammenhang zwischen Bildungshintergrund und kulturellem Interesse: Mit hoher Schulbildung ist das Interesse an Kultur größer. Aber auch die Sozialisationsthese wird gestützt. Ein deutlicher Zusammenhang besteht zwischen Kulturinteresse und dem elterlichen Vorbild; gemeinsame Kulturbesuche mit den Eltern korrelieren sehr hoch mit dem kulturellen Interesse. Das geht noch weiter: Je mehr Anregung es gab, auch von der Schule und anderen Institutionen, desto deutlicher ist das Kulturinteresse bei Jugendlichen ausgeprägt. Vorbilder wirken. Einige Antworten stützen also die Schichtungsthese. Mit Blick auf die Ergebnisse der hier referierten Untersuchungen kann man zuspitzend sagen, dass die dankbarste 3 Keuchel/Wiesand 2006 sowie Keuchel/Wiesand 2008 (wie Anm. 2).

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Klientel für Kultur gebildete junge Frauen mit künstlerisch-kreativen Erfahrungen aus einem bildungsnahen Elternhaus sind. Aber andere Beobachtungen sprechen für die Sozialisationsthese: Kultur ist ein lernbares Verhalten und Vorbilder zählen. Die Daten des Zentrums für Kulturforschung lassen auch zu, einen Blick auf Jugendliche zu werfen, die einen Migrationshintergrund haben. Das Interesse an Kultur ist hier bei einem muslimischen Migrationshintergrund kleiner als bei Jugendlichen mit zwei deutschen Eltern, aber größer als bei Jugendlichen mit einem Hintergrund aus Osteuropa oder anderen Weltgegenden. Solche Durchschnittszahlen zeichnen aber ein sehr grobes Bild, sie dürfen nicht überinterpretiert werden: Jugendliche aus gebildeten Familien (mindestens ein Elternteil hat Abitur) mit muslimischem Hintergrund haben ein deutlich höheres Interesse an Hochkultur als Jugendliche aus deutschen Familien mit ähnlichem Bildungshintergrund. Von der Mehrheit aller Befragten wurde der Wunsch geäußert, mehr für Austausch und kulturelle Verständigung zu tun. Dieser Wunsch war besonders ausgeprägt bei Jugendlichen mit einem muslimischen Hintergrund: Hier könnte man die Entfremdung auf der einen, die Sehnsucht nach einem besseren kulturellen Verstehen auf der anderen Seite aus den Daten herauslesen. Man kann in diesen Daten – bei aller Vorsicht der Interpretation – ein weiteres Motiv entdecken, das sich mit anderen Forschungsergebnissen deckt: Migration ist eine kulturell mobilisierende Erfahrung. Migration wird kulturell erfahren und kulturell verarbeitet. Wo Menschen sich im Medium der Kultur treffen, ist ihr Umgang entspannter als dort, wo Kulturen sich nicht wahrnehmen. Schon vor der „SarrazinDebatte“ gibt es ein besonderes muslimisches Leiden an kultureller Entfremdung. – Die Sozialisationsthese weitet sich aus: Es gibt neben Elternhaus und Bildungssystem andere für die Kulturnutzung relevante Sozialisationsinstanzen. Richten wir den Blick auf alte Menschen. Das Interesse der Altersgruppe über Fünfzig am Kulturgeschehen ist etwas größer als das der Bevölkerung insgesamt, erst ab einem Alter von etwa 80 Jahren fällt es deutlich ab. Es ist aus den Daten nicht zu erklären, wie dies zustande kommt. Die Lebensalter- wie die Sozialisationsthese bieten Erklärungen. Dass jenseits der Achtzig das Kulturinteresse abnimmt, hängt mit der im hohen Alter wachsenden Gebrechlichkeit zusammen. Ein starker Hinweis auf die Sozialisationsthese lässt sich aus nachstehender Grafik ablesen. Gefragt wurde, welche Konzerte in den letzten drei Jahren besucht wurden, ausgewertet wurde nach Genre und Altersgruppe. Es fällt sofort auf, dass es im Bereich der populären Musik eine scharf markierte Verhaltensänderung zwischen den Alterskohorten gibt. Rock und Pop sind relativ neue musikgeschichtliche Erscheinungen, sie fallen ungefähr mit der Sozialisation ins Musikhören bei den jetzt 50- bis 59-Jährigen zusammen. Die Umfragedaten passen sehr gut mit den Berichten im Feuilleton zusammen, dass das Publikum auf den Konzerten gemeinsam mit den Pop- und Rockstars altert. Die Interpretation liegt nahe, dass die

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Kultur und Demografie

Klassikkonzert VolksmusikͲ/Schlagerkonzert Jazzkonzert Popkonzert

80Jahreu.älter 70bis79Jahre

Rockkonzert

60bis69Jahre 50bis59Jahre

RockͲ/PopͲ und/oderJazzkonzert 0%

Abbildung 2

5%

10%

15%

20%

25%

30%

35%

40%

Konzertbesuche in den letzten drei Jahren in der Bevölkerung 50+, differenziert nach Alter4

jungen Alten in ihrem Kulturverhalten möglicherweise nicht (oder nicht ausschließlich) in den ‚Silbersee‘ eines ‚altersspezifischen Musikverhaltens‘ einmünden, sondern dass sie ihre eigene musikalische Sozialisation durchhalten. Die Aussagen zu Konzertbesuchen sind so ein starker Indikator für die Sozialisationsthese. Aber die Sozialisationsthese bietet keine Erklärung für alles an. Bei einer Tiefenuntersuchung zeigen die Daten, dass es immer wieder Zusammenhänge gibt, die sich nicht eindeutig einer der Thesen zuordnen lassen. Es gibt offensichtlich kulturelle Faktoren, soziale Faktoren und Altersfaktoren, die Kulturkonsum erklären. Die soziale Welt ist eben nicht eindimensional. Zu drei Typen von älteren Kulturnutzerinnen und Kulturnutzern lassen sich die empirischen Beobachtungen verdichten. Zunächst sind die Erlebnisorientierten Aktiven zu nennen, sie finden sich am ehesten in der Gruppe der 50- bis 59-Jährigen. • Soziodemografische Merkmale o Höhere Schulabschlüsse o Weniger Kinder/Enkelkinder, höhere Scheidungsrate als die gleich zu nennenden Gruppen o Voll im Berufsleben stehend o Unabhängige Wohnverhältnisse o Mehr Singles o Offen für (Weiter-)Bildung o Umgang mit Neuen Medien 4 Keuchel/Wiesand 2008 (wie Anm. 2).

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• Kulturelle Aktivität o Klassische Kulturinteressen o Zunehmend jedoch auch offen für neuere Kunstrichtungen, Angebote und Formate wie Musicals, Popmusik oder Events o Tendenziell spontaner und mobiler o Bindeglied für eine Umorientierung der Kultureinrichtungen hin zu den Bedürfnissen eines jüngeren Zielpublikums Die zweite Gruppe sind die Kulturell Aktiven, am ehesten zu finden in der Altersgruppe der 60- bis 69-Jährigen. • Soziodemografische Merkmale o Eher „erlebnisorientiert“ als die „Passiven Älteren“ (siehe unten) o Aber stärkere familiäre Bindung als diese • Kulturelle Aktivität o Klassische Kulturinteressen o Traditionelle Inhalte und Angebotsformate o Kulturell sehr aktiv und mobil o Eher als die „erlebnisorientierten Aktiven“ in Vereinen organisiert Der dritte Typ sind schließlich die Passiven Älteren, am ehesten zu finden unter den über 70-Jährigen. • Soziodemografische Merkmale o Niedrige Schulabschlüsse o Mehr Verwitwete (Sterbefälle verkleinern Freundeskreise) o Gesundheitliche Einschränkungen o Zunahme betreuter Wohnverhältnisse o Wenig Interesse für Weiterbildung o Kein Umgang mit Neuen Medien o Wenig Umgang mit jungen Menschen (Enkel oft wegen beruflicher Erfordernisse in entfernten Städten lebend) • Kulturelle Aktivität o Vielfach gesundheitlich in der kulturellen Teilhabe eingeschränkt o Bevorzugung langfristiger Planung, von Angeboten in Wohnort- und Stadtteilnähe sowie traditioneller Angebotsformate Welche kulturpolitischen Folgerungen lassen sich aus den Forschungsergebnissen ziehen? Schon, wenn es darum geht, das Kulturpublikum von morgen heranzuziehen, gibt es in der Jugendkulturarbeit gute Gründe für ein intensives Engagement. Wirkungsziele von Kulturpolitik sind dabei noch nicht angesprochen: Eine kulturell aktive Gesellschaft sei, von dieser Überzeugung ist kulturpolitisches Engagement häufig getragen, toleranter, lernfähiger, innovationsfähiger als eine kulturferne. Kultur muss aber eingeübt werden: Nur zwei Prozent der Befragten beim KulturBarometer 50+ wurden erstmals im Alter kulturell aktiv, alle anderen hatten zu früheren Zeitpunkten gelernt,

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Kultur zu nutzen. Jugendkulturarbeit sollte viele Multiplikatoren einbeziehen, sie sollte unterschiedliche Angebote machen, sowohl in sachlicher Differenzierung als auch altersgruppenspezifisch. Kulturelle Bildung für junge Menschen – wie Kulturangebote generell – dürfen auch Spaß machen. Kultur ist nicht nur, wenn es wehtut. Kulturelle Bildung wäre idealerweise ein lebenslanges Angebot! Kultur ist ein Integrationsfaktor: Kulturinteressierte tun sich leichter, mit Differenz umzugehen. Das gilt in Einwanderungsmilieus genauso wie für die Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Es gibt zu wenige Vorbilder und Ansprechpersonen mit migrantischem Hintergrund in klassischen Kulturinstitutionen. Hier sollte sich die Personalpolitik ändern. Für die Alten müssen Kulturangebote adäquat zugeschnitten sein. Ehrenamt ist möglich, aber braucht auch Anerkennung und professionelle Betreuung. Eintrittspreise werden von alten Menschen oft als hoch empfunden; sie stehen in Relation zu einer sinkenden Konsumkraft nach der Phase der Berufstätigkeit. Je älter die Klienten, desto wohnortnäher und erreichbarer muss das Angebot sein. Die spezifischen Bedürfnisse von alten Menschen müssen berücksichtigt werden (Abhol- und Bringdienste, besondere Betreuung, altersangepasste Öffnungs- und Veranstaltungszeiten etc.), wenn kulturelle Teilhabe alter Menschen eine kulturpolitische Priorität ist. Marketing muss berücksichtigen, dass Ziel- und Altersgruppen nicht trennscharf sind, sondern sich mit der fortschreitenden gesellschaftlichen Pluralisierung immer mehr überlappen und ausdifferenzieren. Eher ist auf Nutzer-Typen abzustellen (vgl. die drei Nutzertypen oben). Es braucht Differenzierungsstrategien und Fantasie in der NutzerAnsprache. Nicht umsonst ist ‚Audience development‘ in den letzten Jahren zu einer eigenen Spezialisierung im Kulturmanagement geworden. All dies spricht dafür, dass kulturelles Marketing intensiver Aufmerksamkeit bedarf. Der Nachholbedarf in öffentlich geförderten Kulturinstitutionen ist am größten, denn hier ist ein Teil der Finanzierung jenseits der Publikumsresonanz sichergestellt und der Druck zur Veränderung geringer.

Demografie und Kultur Es ist eine Sache, eine kulturpolitische Wunschliste aufzustellen: Immer kann noch mehr getan werden! Und es ist eine andere, die Spielräume öffentlich geförderter Kultur angesichts demografischer und fiskalischer Trends zu markieren. Nur wenn man beides zusammen betrachtet, können sich die Konturen von Kulturpolitik und Kulturförderung für die Zukunft abzeichnen. Fern davon, eine Lösung anzubieten, soll der nachstehende Teil zeigen, dass die Spielräume für das, was getan werden soll, eng werden. In der demografischen Entwicklung zeigen sich im Osten der Republik Trends, die nach derzeitigem Wissensstand den Rest des Landes mit einiger Verzögerung treffen werden. Deswegen soll hier exemplarisch auf die neuen Bundesländer geblickt werden.

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Die viel zitierte Formel zur Demografie in Deutschland – „Wir werden weniger, älter und bunter“ – stimmt für den Osten der Republik nur zum Teil: Bei derzeitigen Trends wird die Bevölkerung dort nicht bunter, eine nennenswerte Einwanderung in den Osten gibt es derzeit nicht. Vielmehr wird der Altersdurchschnitt steigen und die Bevölkerungszahl zurückgehen. Neben der fast überall im Land ähnlich niedrigen Reproduktionsrate ist der Osten durch interregionale Abwanderung geprägt. Abwanderung ist ein starker Beschleuniger bei der Verminderung der Bevölkerung, denn es wandern die ökonomisch und reproduktiv aktiven Bevölkerungsteile. Allerdings gibt es auch Anzeichen, dass sich solche Trends sehr schnell ändern können. Wanderung folgt vor allem ökonomischen Anreizen: Diese können sich sehr schnell ändern. So gibt es im Osten erste Klagen über knapper werdende Arbeitskräfte. Ein attraktives Angebot an gut bezahlen Arbeitsplätzen vor Ort ist kein Auslöser von Abwanderung. Attraktive Ballungsgebiete sind von jener starken Abwanderung derzeit noch nicht betroffen. Das gilt im Osten der Republik z. B. für Berlin, für Dresden und auch wieder für Leipzig, jeweils mit dem suburbanen Umland. Hier wird die Schrumpfung der Bevölkerung ausgeglichen oder sogar mehr als ausgeglichen durch eine interregionale Einwanderung vom Land und aus kleinen Städten. Das beschleunigt natürlich umgekehrt den Bevölkerungsrückgang dort. Dörfliche Strukturen, das „platte Land“ behält ein Minimum an Bevölkerung, solange es eine ländliche Ökonomie gibt. Die dramatischen Verlierer in der Bevölkerungsentwicklung im Osten sind die kleinen Städte. Hier ist die Schrumpfung der Bevölkerung mit ihren Begleiterscheinungen deutlich wahrnehmbar, wachsender Leerstand und eine Verlangsamung des Lebens sind nicht zu übersehen. Die kleinen Städte im Osten werden immer melancholischer. Aber auch hier gibt es starke regionale Unterschiede: Es gibt nicht nur ‚eine‘ Demografie. Fragt man nach der Relevanz der Bevölkerungsverschiebungen für die Kulturpolitik, so ist ein weiterer Aspekt zu berücksichtigen. Laut Statistik der öffentlichen Kulturausgaben gibt es einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Größe von Kommunen und den kommunalen Ausgaben für die Kultur pro Kopf der Bevölkerung. Zwar liegen die Zahlen nicht nach alten und neuen Bundesländern differenziert vor, aber die Verhältnisse dürften ähnlich sein. Die Formel ist einfach: Je kleiner die Gebietskörperschaft, desto geringer sind die Kulturausgaben. Die Spanne reicht von 122 Euro pro Jahr und Kopf in Großstädten mit über 500 000 Einwohnern bis zu 3 Euro in Gemeinden mit unter 3000 Einwohnern.5 Kultur ist städtisch. Oder andersherum: Das Niveau, von dem aus in kleinen Städten auf demografische Veränderungen kulturpolitisch reagiert werden wird, ist von vornherein niedrig. Solange kulturaktive Ballungszentren von der demografischen Schrumpfung ausgenommen bleiben, betrifft das Thema „Kulturpolitik 5 Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hg.): Kulturfinanzbericht der statistischen Ämter des Bundes und der Länder, Wiesbaden, 2008, S. 30. Landesausgaben sind in diesen Zahlen nicht berücksichtigt: Diese sind nach unserer Erfahrung mehr in Ballungsräumen als auf dem Land konzentriert.

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und Demografie“ vor allem doppelt schwache Strukturen in den kleinstädtischen und ländlichen Gebieten: Den Akteuren stehen nur geringe Mittel zur Verfügung, und die Zahl der Akteure sinkt. Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen Kultur und demografischer Entwicklung? Schrumpfen kleine Städte womöglich deswegen, weil sie sich kulturpolitisch weniger anstrengen als die Metropolen, um ihre Bevölkerung zu halten? Zwei Wirkungsrichtungen sind denkbar. Kunst und Kultur könnten aktive Einflussfaktoren für Demografie sein, sie könnten demografische Trends beeinflussen oder verändern. Kunst und Kultur könnten aber auch abhängige Faktoren sein: Dann würden demografische Trends auf Kultur wirken. Belastbare empirische Daten zu diesem Thema gibt es nicht. Einige Autorinnen und Autoren vertreten die Ansicht, dass Kulturpolitik einen Einfluss auf demografische Entwicklungen haben könne: Das kulturinduzierte soziale Klima und Image eines Standorts, das Lebensgefühl in einer Stadt oder Region könne Einfluss auf Reproduktions- oder Wanderungsentscheidungen haben. Meist jedoch werden in der kulturpolitischen Diskussion aktive Wirkungen von Kunst und Kultur auf die demografische Entwicklung verneint. Im Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Bundestags heißt es prägnant: „Kultur kann weder die Ursachen noch die Folgen des demografischen Wandels ändern oder abschwächen.“6 Und „[a]ufgrund des Angebots an Kunst und Kultur wird kaum ein Abwanderungswilliger zum Bleiben bewegt werden.“7 Aber die Enquete-Kommission sieht immerhin Raum für eine aktive Gestaltung der Demografie: „Die Kulturinstitutionen und die Kulturschaffenden sind nicht nur Betroffene des demografischen Wandels, sondern auch Akteure, die demografischen Wandel in den Städten und Regionen gestalten können. Kulturpolitik kann so zu einem zentralen Handlungsfeld für gesellschaftlichen Wandel werden.“8 Die Entwicklung in den Neuen Bundesländern insgesamt ist Beleg dafür, dass der Einfluss von Kulturpolitik auf Demografie bestenfalls nur klein sein kann, denn wenn es einen solchen Einfluss gibt, wird er von anderen Faktoren überlagert. Zum Zeitpunkt der deutschen Vereinigung war die kulturelle Infrastruktur im Osten weitaus dichter als in den alten Bundesländern und bis heute sind die kulturellen Ausgaben der öffentlichen Hand pro Kopf deutlich höher als im Westen. Ihre Bevölkerung konnten die Neuen Länder gleichwohl nicht halten. Versuche, durch Kultur und durch einen Wettstreit um öffentlich alimentierte kulturelle Infrastrukturen einen ‚Kampf um die Bevölkerung‘ zu gewinnen, müssen ins 6 Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Drucksache 16/7000, 11.12.2007, veröffentlicht im Internet auf der Seite der Enquete-Kommission unter http://dip21.bundestag.de/ dip21/btd/16/070/1607000.pdf sowie auf der CD-ROM, die der Buchveröffentlichung des Schlussberichts der Kommission beiliegt: Deutscher Bundestag (Hg.): Kultur in Deutschland, Regensburg 2008, S. 277. 7 Schlussbericht der Enquete-Kommission vom 11.12.2007 (wie Anm. 6), S. 333. 8 Schlussbericht der Enquete-Kommission vom 11.12.2007 (wie Anm. 6), S. 327.

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Leere führen. Der Gewinn eines Standorts ist der Verlust eines anderen, solange sich die Grundgesamtheit nicht ändert. Zwar stiege die Dichte der kulturellen Versorgung, parallel stiege der Bedarf an öffentlicher Finanzierung und – so ist zu befürchten – es wüchsen dann auch die öffentlichen Schulden. Dass die demografische Entwicklung auf kulturelle Infrastruktur wirkt, ist eine banale Einsicht, sie kann fiskalisch oder von der Kulturnutzung her formuliert werden. Wo weniger Menschen leben, steht der öffentlichen Hand weniger Geld zur Verfügung. Das Steueraufkommen wird von den Menschen erwirtschaftet. Die Verteilung von Steuermitteln erfolgt in Deutschland weitgehend entlang von Einwohnerzahlen. Oder andersherum: Wo weniger Menschen leben, werden Besuchs- und Nutzungszahlen von Kultureinrichtungen sinken, wenn die verbleibende Bevölkerung ihr Kulturverhalten nicht signifikant ändert und durch wachsenden kulturellen Eifer die Verluste ausgleicht. Wie steht es derzeit mit den Kulturausgaben in den Neuen Ländern? Aus der DDR erbten die Neuen Länder eine reiche und verzweigte kulturelle Infrastruktur. Dies spiegelt sich bis heute in den Kulturausgaben. Nach einer Untersuchung des ifo Instituts Dresden lagen die Kulturausgaben (Landes- und kommunale Ausgaben addiert, inklusive der Ausgaben für kirchliche Angelegenheiten) in den Flächenländern im Osten 2003 bei 108 Euro pro Einwohner.9 Das entspricht über 180 Prozent der Ausgaben in den „finanzschwachen Westflächenländern“, jenen, deren Zahlungssaldo aus dem Länderfinanzausgleich positiv ist.10 Politische Prioritäten werden in den Haushalten der Neuen Länder teilweise anders gesetzt als in den alten Ländern. Dank einiger Sondereinflüsse auf die Einnahmen – namentlich durch den Solidarpakt II – sind die fiskalischen Bedingungen in den östlichen Ländern derzeit noch günstiger als in den finanzschwachen Ländern des Westens. Der Solidarpakt soll bis zum Jahr 2019 auslaufen. Sinken die Einnahmen der östlichen Flächenländer auf das Niveau der finanzschwachen westlichen Länder, dann müssen die Ausgaben insgesamt diesem Trend folgen. Hinzu kommt das schnellere Sinken von Bevölkerungszahlen in den östlichen Flächenländern. Zusammengenommen machen diese Entwicklungen absehbar, dass auf den Haushalten der Flächenländer im Osten und ihren Kommunen ein starker Konsolidierungsdruck liegen wird.11 Nimmt man die finanzschwachen Westländer als Maßstab und berücksichtigt man eine mittlere demografische Prognose, lässt sich der Konsolidierungsbedarf im Kul9 Im Folgenden beziehen wir uns auf die ifo Dresden Studien 41 (ifo Institut für Wirtschaftsforschung: Die demographische Entwicklung in Ostdeutschland, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie, München 2007). 10 Der Vergleich mit den finanzschwachen Ländern des Westens ist methodisch gerechtfertigt: Die Ostländer werden sich nach Auslaufen der Sonderförderung in dieser Gruppe finden, wenn die Parameter des Länderfinanzausgleichs nicht grundsätzlich verändert werden. 11 Man kann zusätzlich noch darauf hinweisen, dass die Haushalte der finanzschwachen Westländer unter Konsolidierungsdruck stehen.

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turbereich bis zum Auslaufen des Solidarpakts II auf mehr als 50 Prozent berechnen. Natürlich bedürfen solche Rechnungen einer politischen Bewertung. Politik kann Prioritäten anders setzen und bei anderen Aufgaben stärker kürzen als in der Kultur. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass Kultur unter Konsolidierungsdruck geraten wird – obwohl sie als kleiner Haushaltsposten nur einen geringen Teil der Konsolidierung erbringen kann. In der derzeitigen kulturpolitischen Debatte sieht man wenig Vorbereitung auf solche Konsolidierungen. Die Grundfärbung fast aller kulturpolitischen Äußerungen zu Kultur und Demografie ist: „Kultur darf nicht gekürzt werden!“ Zwar sei – insgesamt und langfristig – vielleicht nicht ganz auszuschließen, dass angesichts der demografischen Perspektiven in Deutschland über eine Neuorganisation von Kultur nachgedacht werden müsse, aber Kultur sei, so wie sie jetzt gefördert wird, ‚unverzichtbar‘.12 Dass dies so ist, überrascht nicht: Die Fachpresse in der Kultur ist weitgehend mit einer ausgefächerten Verbandspresse identisch. Die Aufgabe von Verbänden ist es, die Weltläufe im Licht der Interessen ihrer Mitglieder zu bedenken. Aber eine Politik, die sich einseitig auf den vollständigen Erhalt von kultureller Infrastruktur richtet, greift zu kurz. Sie verzichtet darauf, den Rückbau zu gestalten. Probleme verschwinden nicht, nur weil man sie nicht mag. Der kulturelle Sektor steht mit seiner Haltung nicht allein da, zunächst noch zu verdrängen, welche Veränderungen in Politik und Infrastruktur der demografische Wandel erfordert. Es scheint so, als gäbe es eine Hemmung in Politik und Fachdiskussion, einzugestehen, welche tief greifenden Einschnitte Wanderung und demografische Entwicklung in allen Lebensbereichen mit sich bringen werden. Und wenn das Thema doch aufgegriffen wird, wird fast nie kommuniziert, dass die Anpassung an demografische Trends eine dauernde Aufgabe bleiben wird und dass es mit einmaligen Kraftakten nicht getan ist, solange diese Trends anhalten. Um der demografischen Entwicklung außerhalb der wenigen derzeit stabilen Ballungsgebiete gerecht zu werden, muss vorurteilslos über folgende Probleme nachgedacht werden: Ein Rückgang der Bevölkerung bedingt einen laufenden Anpassungsbedarf bei den kulturellen Angeboten. Das potenzielle Publikum wird kleiner und verändert seine Zusammensetzung. Haushaltsmittel für Kultur sinken zusammen mit dem allgemeinen Steueraufkommen. Die Verteilung der Bevölkerung in der Fläche verändert sich. Das Angebot muss deswegen gleichzeitig schrumpfen und sich qualitativ ändern. Es gibt vielerlei Instrumente für diesen Anpassungsprozess. Ihre Anwendung muss sich immer daran messen, dass die Ziele der qualitativen Angebotsschärfung und der 12 Natürlich gibt es auch einige wenige kulturpolitische Äußerungen, die nachdenklicher und realitätsfester den Veränderungsbedarf ansprechen. Vgl. zum Beispiel Sievers, Norbert, Aktuelle gesellschaftspolitische Fragen und Rahmenbedingungen für die Kulturpolitik. Vortrag auf dem 1. Thüringer Kulturforum am 21.5.2010, S. 7.

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budgetären Anpassung nach unten in Summe eingehalten werden. Für geförderte Kultureinrichtungen müssen Aufgabenmodifikationen, müssen Zusammenschlüsse und Bündnisse,13 der Einbezug Ehrenamtlicher,14 die Übergabe an private Träger, die Schließung u. a. m. bedacht werden. Infrastrukturen müssen im Raum anders dargestellt werden, wenn sich die Besetzung des Raumes und räumliche Bezüge ändern. All dies bedarf sorgfältiger Planung. Kulturpolitische Energie wäre besser für die Gestaltung dieser Veränderungsprozesse mobilisiert als für Abwehrkämpfe, die gegen gesellschaftliche Großtrends und knapper werdende Finanzmittel nur ein trotziges ‚Weiter so!‘ setzen. Wo es keine öffentliche Kulturförderung gibt, verschwindet nicht die Kultur, sondern nur der staatlich unterhaltene Teil von Kultur. Kultur ist keine Veranstaltung der öffentlichen Hand. Kunst und Kultur sind nicht mit dem geförderten Kultursektor identisch. Formen und Institutionen, die staatsfern aus der Gesellschaft wachsen, existieren unabhängig von Kulturförderung, solche Kulturformen werden sogar einen größeren Raum einnehmen können. Es ist aufschlussreich, die Geschichte von Kunst und Kulturpolitik auch aus dieser Perspektive zu betrachten.15 Bei einem Rückbau öffentlicher kultureller Infrastrukturen werden es kulturelle Einrichtungen außerhalb von Städten und Verdichtungsgebieten am schwersten haben. Hier ist öffentlich geförderte Kultur bereits jetzt dünn gesät und hier wird die Verminderung der Bevölkerung am stärksten zu spüren sein. Hier besonders wird es darauf ankommen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Gebiete selbst tätig werden und sich bürgerschaftlich die Strukturen selbst schaffen und erhalten, die sie als kulturelle Ausdrucksformen wünschen und brauchen. Überall wird versucht, kulturelle Einrichtungen zu erhalten, indem neue Besucher und Nutzerinnen ‚erschlossen‘ werden. Diese Strategie ist nur begrenzt erfolgversprechend. Die Mobilisierung der Bevölkerung für Hochkultur hat Grenzen. Darüber hinaus bleibt intensive Kulturnutzung auf ein kleines Bevölkerungssegment begrenzt, daran haben 40 Jahre ‚Kultur für alle‘ wenig geändert. Auch ist nicht überall plausibel, dass Kulturtouristinnen wegbrechende Kulturbesuche kompensieren werden. Nur dort, wo die infrastrukturellen Voraussetzungen für einen intensiven Tourismus stimmen, können auch Kultureinrichtungen von externen Nutzern profitieren oder sich auf sie einrichten. Festivals sind nicht beliebig vermehrbar. Strategien kultureller Mobilisierung laufen leicht in eine Kostenfalle. Die Erschließung zusätzlicher Zielgruppen verlangt zuerst einmal zusätzliches Geld: Neue Programme müssen aufgelegt, kulturelles Marketing muss verstärkt werden. Auch wenn die kulturpolitische Rechnung aufgeht und sich neues Publikum einstellt, sind zusätzliche Kosten bei den Kulturträgern zu schul13 Auch über die Grenzen der Kultur hinaus. 14 Das bringt in der Regel allerdings zusätzliche Kosten mit sich. 15 Wagner, Bernd, Fürstenhof und Bürgergesellschaft. Zur Entstehung, Entwicklung und Legitimation von Kulturpolitik, Essen 2009 bietet hierzu umfassendes Material.

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tern, die nur teil- und ausnahmsweise durch zusätzliche Nutzungsentgelte kompensiert werden. Zudem: Auch eine kleiner werdende Bevölkerung verfügt über begrenzte Zeitbudgets. Es muss ja auch gearbeitet und geschlafen werden. Gelegentlich sind sogar Kinder großzuziehen. Systematisch lassen sich vier öffentliche Aufgaben in der Kulturförderung unterscheiden, die je eigene Zugänge und Aufmerksamkeit verlangen. Ein Bevölkerungsrückgang an einem Standort wirkt sich unterschiedlich auf diese Aufgaben aus. • Kulturelle Anschauung Der Bevölkerung sollte weiter möglich sein, Zugang zu Kulturgütern, Traditionsbeständen, Trends, Kunstformen zu haben, um mit Kunst und Kultur eigene Erfahrung machen zu können. Es kommt nicht darauf an, dass wohnortnah alle und jede Erfahrung gemacht werden kann, dass alles verfügbar ist. Der Begriff der ‚kulturellen Grundversorgung‘ greift hier zu weit und zu kurz. Zu weit, weil insinuiert wird, dass es einen Kanon gebe und dass der Grund verloren gehe, wenn die ‚Versorgung‘ mit diesem Kanon nicht mehr sichergestellt ist. Zu kurz, weil Grundversorgung ein Minimum definiert, das zu überschreiten bei karger Verfügung über öffentliche Mittel sehr schwierig sein wird. Anschauung ist immer exemplarisch. Wer alles sieht, sieht nichts. Der Reichtum in der Anschauung liegt in der Vertiefung in das Anschaubare. Das öffentliche Angebot an kultureller Anschauung muss zwei Kriterien gerecht werden: Es soll für die Bevölkerung Anschauung möglich sein. Und das kulturelle Angebot soll finanzierbar bleiben. • Kulturelle Bildung Ähnliches gilt in der kulturellen Bildung. Sie ist Teil des öffentlichen Bildungsauftrags. Sie führt – wenn sie gelingt – dazu, dass Menschen eine Chance bekommen, als Kulturproduzentin und als Kulturkonsumentin am Traditionsbestand wie am kulturellen Geschehen teilzuhaben. Kulturelle Bildung ist eines unter vielen Bildungsfeldern. Die öffentliche Aufgabe ist nicht, alle denkbaren kulturellen Bildungsangebote überall verfügbar zu machen. Es muss keine Infrastruktur kultureller Bildung zusätzlich zu und neben den Bildungsinstitutionen aufgebaut werden. Wie Anschauung kann kulturelle Bildung exemplarisch sein, sie entlässt ihre Klienten nicht aus der Selbstverantwortung für ihre Bildungsprozesse, sondern führt sie zu ihnen hin. Kulturelle Bildung wird der ansässigen Bevölkerung angeboten. Sie muss entsprechend dimensioniert werden. • Kulturelles Erbe Angebote kultureller Anschauung und kultureller Bildung beziehen sich auf eine ortsansässige Bevölkerung. Kulturelles Erbe besteht unabhängig von der Bevölkerung. Beim immobilen Erbe, dem überkommenen Schatz an Bauten und Landschaftsbildern, kann es passieren, dass einer kleiner werdenden Bevölkerung nicht

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mehr genügend Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um das bestehende kulturelle Erbe privat oder öffentlich zu schützen. Spätestens dann wird eine Gesellschaft darüber zu verhandeln haben, in welchem Maße sie ihr Erbe antreten möchte oder kann, in welchem Maße sie den Verfall von Bauten und den Renaturierungsprozess von Landschaftsbildern in Kauf nehmen möchte. Mobiles kulturelles Erbe (Archive, Museen, Forschungs- und historische Bibliotheken) kann leichter organisiert und zusammengefasst werden. Aber auch hier kann Erbe die Erbenden strukturell überfordern. Es ist dann ein hoher Aufwand zu leisten, wenn das Erbe erhalten werden soll. Was regional nicht erhalten werden kann, muss überregional gestützt werden. Kennzahlen über kulturpolitische Ausgaben pro Kopf sind hier keine Hilfe. Es muss über das Erbe befunden werden. • Kultur für Dritte oder für kulturexterne Zwecke Kulturangebote für den Tourismus oder Kultur für Zwecke wie Standortprofilierung, Alleinstellung, Marketing oder Standortkonkurrenz unterliegen anderen Bewertungskriterien als die vorher dargestellten öffentlichen Aufgaben. Wenn öffentliche Kulturangebote anderen als kulturellen und edukativen Zwecken dienen, sind sie betriebswirtschaftlichen Rationalitätskalkülen unterworfen. Zwar muss sich ein Tourismus stimulierendes öffentliches Kulturangebot nicht unmittelbar ‚rechnen‘, also ertragreich sein. Aber die Frage, ob das öffentliche Geld für die gewünschten Zwecke sinnvoll eingesetzt wird, muss immer geprüft werden. Öffentliche kulturelle Ausgaben kommen hier an eine ordnungspolitische Grenze. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Engagement der öffentlichen Hand für die Kultur zusammen mit der Bevölkerung zurückgehen wird. Kulturpolitik sollte sich auf einen solchen Rückgang vorbereiten. Oder es muss ihr in der politischen Konkurrenz um öffentliche Finanzmittel gelingen, ständig wachsende Anteile der verteilbaren Mittel für kulturelle Zwecke zu erkämpfen. Kulturausgaben sind nicht investiv, so oft auch das Mantra gebetet werden mag, dass „Kulturausgaben eine Investition in die Zukunft“ seien. Bei einem Rückgang der Bevölkerung wirken öffentliche Defizite noch dramatischer als in Zeiten demografischen und wirtschaftlichen Wachstums. Kulturausgaben müssen aus den laufenden Haushalten finanzierbar sein. Die Lage ist schwierig: Auf der einen Seite erwachsen aus der Forschung zur Kulturnutzung Anforderungen an Kultureinrichtungen, viel mehr Energie in die kulturelle Bildung und ins Audience Development zu investieren, um die Potenziale von Kultur zu heben. Auf der anderen Seite verschlechtert sich mit der demografischen Entwicklung voraussichtlich die finanzielle Basis öffentlich geförderter Kultur. Damit werden die Mittel fehlen, um das zu tun, was fachlich sinnvoll erscheint. In dieser Lage bedarf es klarer kulturpolitischer Steuerung.

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Von der Notwendigkeit höherer Kulturausgaben und ihrer Neuverteilung Ein optimistischer Blick in die Zukunft der Kultur

Angesichts der gegenwärtigen demografischen Entwicklung kann einem auch für die Kultur in Deutschland auf den ersten Blick in doppelter Hinsicht Angst und Bange werden: Werden wir mit immer weniger Menschen und Steuerzahlern unsere denkbar reiche, aber zu einem großen Teil öffentlich finanzierte Kulturlandschaft erhalten und weiter ausbauen können? Und wie wird unsere historisch gewachsene örtliche, regionale, nationale und europäische Kultur in wenigen Jahrzehnten aussehen, wenn mehr als ein Viertel unserer Gesamtbevölkerung und in nicht wenigen Großstädten und Regionen sogar die Mehrheit aus Migranten bestehen wird?

Die Lage ist ernst, aber keineswegs hoffnungslos – im Gegenteil! In der deutschen Kulturszene macht sich in der Tat – verstärkt durch die derzeitige globale Finanzkrise – ein beachtlicher Kulturpessimismus breit. Betrachtet man die Situation jedoch etwas genauer, so hat die Kultur eigentlich – auch wenn es zunächst reichlich paradox erscheinen mag – allen Anlass zu größtem Optimismus.

1. Noch nie waren wir so auf Kreativität und Innovationskraft und folglich auf Kunst und Kultur angewiesen wie heute Die Informationsgesellschaft lebt in ständig wachsendem Maße von der Produktion und Verbreitung immaterieller, geistiger und immer weniger von der Erzeugung und dem Vertrieb agrarisch oder industriell erzeugter Produkte. Die Wahrnehmung und Verarbeitung von Bildern, Zeichen, Tönen etc. nimmt einen immer größeren Raum in unserer Arbeit und allgemein in unserem Leben ein. Dementsprechend kommt es nicht nur auf das logozentrische Erlernen von Wissen und dessen Anwendung (kognitive Bildung) an, sondern zunehmend auch auf die Fähigkeit, seine Sinne gebrauchen und die Bilder, Zeichen und Töne „wahrnehmen“ (sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen) und sich auch anders ausdrücken zu können als durch unsere herkömmliche

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Sprache und durch Zahlen, nämlich durch die Sprache des Körpers (Mimik, Gestik, Tanz), der Musik, der Literatur und des bildnerischen Gestaltens, also durch die Sprache der Künste (ästhetische Bildung). Die neuere Hirnforschung hat längst erwiesen, dass kognitive und ästhetische Fähigkeiten nicht voneinander zu trennen sind, sondern dass sich beide gegenseitig beeinflussen, ja sogar potenzieren können. Dem wird unsere Bildungspolitik bis zum heutigen Tage nicht gerecht. Seit der cartesianischen Wende hängt sie immer noch dem Ideal einer durch Abtrennung des Geistigen vom Körperlichen erzielten Abstraktion an, das die Erklärung von Begriffen durch andere Begriffe statt durch die dynamische Wirklichkeit bevorzugt und auf diese Weise zu einer geistigen Verengung führt, die das sinnvolle Umgehen mit dem gespeicherten Stoff kaum noch möglich macht und die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt und damit sein „Lernen“ auf das Empfindlichste gestört hat.1 So fordern wir nach wie vor eine „Wissensgesellschaft“ statt einer „Bildungsgesellschaft“, die in einem ganzheitlichen Sinne kognitive und ästhetische Bildung als die zwei Seiten ein und derselben Medaille umfasst. Wolfgang Welsch stellt dem „rechnenden Denken“ das „ästhetische Denken“ gegenüber: Das Denken könne auch durch die Sinne in Gang kommen und dadurch erst „Sinn“ machen. Er bezieht sich dabei auf Peter Sloterdijks These, dass heute die Schranke zwischen dem Ästhetischen und dem Logischen hinfällig werde, und formuliert selbst: „Ausschlaggebend für … diese Verlagerung von einem logozentrischen zu einem aisthetischen Denken ist eine Veränderung der Wirklichkeit selbst … Heutige ‚Wirklichkeit‘ ist wesentlich über Wahrnehmungsprozesse, vor allem über mediale Wahrnehmung konstituiert. Daher ist ihr auch nur noch mit einem wahrnehmungsfähigen Denken beizukommen.“2 Wie wenig neu dies ist, beweisen Friedrich Schillers Briefe „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“: Die einseitige Aufklärung des Verstandes reiche nicht aus, um die tatsächliche Ohnmacht der Vernunft gegenüber der Politik aufzuheben. Erst der Kunst komme hierfür die zentrale Rolle zu, und zwar durch die Ausbildung des Empfindungsvermögens! „… der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“3

2. Noch nie gab es so viele kulturinteressierte Bürger mit so viel Zeit und Geld wie heute Die in ihrer Gesamtheit seit Langem stetig steigende Nachfrage nach Kulturangeboten beweist, dass Kultur längst keine Angelegenheit mehr für nur wenige Privilegierte ist. 1 Vgl. Vester, Frederic, Die Kunst, vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für den Umgang mit Komplexität. München 2008. Ders., Denken, Lernen, Vergessen. München 2009. 2 Welsch, Wolfgang, Ästhetisches Denken, Stuttgart 1993, S. 111. 3 Schiller, Friedrich, Über die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. V, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1993, S. 570 ff., insbesondere Achter Brief, S. 592, und 15. Brief, S. 618.

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Vielmehr gibt es einen boomenden Markt für Kulturangebote, dessen Sättigung – aufs Ganze gesehen – längst noch nicht erreicht ist. Es spricht vieles dafür, dass geschickt am Markt platzierte Angebote eine wachsende Nachfrage bewirken: • Die Menschen in der Informationsgesellschaft verfügen über ein zunehmendes Ausmaß an Freizeit. • Die strikte Abgrenzung von Arbeit und Freizeit verwischt sich ohnehin mehr und mehr durch eine „Tätigkeit in freier Zeit“, das heißt: Bezahlte Arbeit findet auch in freier Zeit statt (zum Beispiel arbeitsbezogene Kommunikation bei kulturellen, sportlichen und gesellschaftlichen Anlässen) und Freizeitbeschäftigungen werden zu einer arbeitsähnlichen und zielgerichteten, freilich unentgeltlichen Tätigkeit. Dazu gehören insbesondere die eigene Weiterbildung und das ehrenamtliche Engagement. • Tätigkeit in freier Zeit wird insbesondere bei der Gruppe der über Sechzigjährigen, zum Teil auch bei Jüngeren zu einem bisher nur unzureichend erkannten Marktfaktor: Die Bereitschaft, hierfür Zeit wie auch Geld zu investieren, ist bei einem Großteil der Angehörigen dieser Gruppe, wenn auch nicht bei allen, vorhanden. So ist es ein großer Irrtum, „alt“ mit „arm“ gleichzusetzen und daher a priori für alle Senioren Preisnachlässe vorzusehen, statt auch hier zu differenzieren. • Auf der Suche nach Sinn hat die Kultur – man mag es beklagen oder auch nicht – den Kirchen den Rang streitig gemacht: Dass die sonntägliche Kulturveranstaltung an die Stelle des Gottesdienstes getreten ist, mag dafür nur ein äußeres Zeichen sein. Der Tatbestand reicht viel tiefer: Kultur ist insgesamt zu einem – wenngleich hinterfragbaren – Religionsersatz geworden. • Nach der vorletzten Jahrhundertwende erleben wir zur Zeit zum zweiten Mal in unserer Geschichte, dass eine Gründergeneration – damals war es die nach 1870, heute ist es die in den 1950er, 60er und 70er Jahre zu Vermögen gekommene Generation – ihre durch lange Friedenszeiten beträchtlich gewordenen Vermögen in Billionenhöhe an eine selbst schon relativ saturierte, womöglich gar vermögend gewordene und keineswegs mehr junge Generation vererbt. Welches Potenzial hier gerade auch für die Kultur besteht, wird derzeit viel zu wenig erkannt.

3. Noch nie haben so viele Kulturen unter uns existiert wie heute Was vielen zunächst als unübersteigbares Problem erscheinen mag, ist – ohne die Problematik kleinreden zu wollen – tatsächlich ein großes Potenzial für die Kultur: Welche Bereicherung bedeutet es für uns, dass Menschen aus rund 150 Nationen unter uns leben und uns in unserem eigenen Land – potenziell – mit ihren kulturellen Eigenheiten bekannt machen und – ebenfalls potenziell – mit unserer Kultur bekannt zu machen sind? Kulturelle Integration im Sinne eines gegenseitigen Im-Fremden-das-Eigene- und Im-Eigenen-das-Fremde-Erkennens ist – rein marktmäßig betrachtet – eine Heraus-

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forderung ohnegleichen, wenn, ja wenn es uns gelingt, zu einer entsprechenden Steigerung von Angebot und Nachfrage zu kommen. Es ist kein Naturgesetz, dass der Migrantenanteil an unserer Bevölkerung deutlich im zweistelligen Prozentbereich liegt, der im Publikum unserer traditionellen Kulturbetriebe dagegen nur einige wenige Prozente beträgt, von den Prozentsätzen deutschstämmigen Publikums in Veranstaltungen der hier lebenden Migranten ganz abgesehen.

4. Seit Langem gab es keinen solchen Rückgang an Schülerzahlen wie heute und in den nächsten 10 Jahren Die Schülerzahlen von derzeit etwa 11,7 Millionen werden bis 2020 um rund 2 Millionen auf 9,7 Millionen sinken.4 So bedauerlich dies auf der einen Seite zwar sein mag, so ergibt sich auf der anderen Seite aus diesem Umstand doch ein Potenzial von rund 10 Milliarden Euro, die entweder eingespart oder aber in eine qualitative Verbesserung der Bildung, unter anderem durch einen systematischen Ausbau der kulturellen Bildung in unseren Kindertagesstätten und Schulen, investiert werden können.

Schlussfolgerungen Über die Zukunft der Kultur müssen wir uns – trotz aktueller Finanzprobleme – keine Sorgen machen: Sie ist eine boomende Zukunftsbranche. Ohne Kultur keine Bildung, keine Innovationen in Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, keine Integration, kein Zusammenhalt der Gesellschaft. Kulturausgaben sind mehr denn je Investitionen in unsere Zukunft. Die Vertreter der Kultur haben daher allen Grund, selbstbewusster als bisher aufzutreten und vernehmlich klare Forderungen zu stellen, statt sich an den Kabinetts- und Verwaltungsvorstandstischen und in den Parlamenten mit den immer weniger für sie abfallenden Brosamen zu begnügen oder gar, wie jüngst in Hamburg geschehen, mit vorauseilendem Gehorsam selbst zu kastrieren. Denn ohne Kultur läuft künftig nichts mehr.

1 Oberste Priorität gebührt der kulturellen Bildung Wenn wir das Erfordernis „ästhetischen Denkens“ (vgl. oben, Ziffer 1) ernst nehmen, dann haben wir einen sich explosionsartig entwickelnden Bedarf an kultureller Bildung aller Generationen. Hier schlummert ein Nachfragepotenzial, das die meisten Kulturbetriebe noch nicht einmal erkannt, geschweige denn befriedigt haben. Für Erwachsene lässt es sich sogar weitgehend kostendeckend erschließen, was freilich bedeutet, 4 Pressemitteilung der Robert Bosch Stiftung vom 17.7.2006.

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dass die Minderheit derer, die die Angebote objektiv nicht zum vollen Preis bezahlen können, von der Mehrheit derer, die es können, quersubventioniert wird. Den allergrößten und keineswegs kostendeckend zu befriedigenden Bedarf an kultureller Bildung haben wir allerdings bei unseren Kindern und Jugendlichen in den Kindertagesstätten und Schulen. Hier haben wir alle – Schule, Politik wie Elternhäuser – in den letzten Jahrzehnten versagt: Spätestens seit der Ausrufung der „Bildungskatastrophe“ durch Georg Picht (1961) haben wir zwar Milliarden in Schulen und Universitäten gesteckt, diese aber fast ausschließlich in die kognitive Bildung investiert und derweil übersehen, dass wir damit eine ästhetische Bildungskatastrophe angerichtet und deswegen auch die picht’sche Bildungskatastrophe nicht wirklich behoben haben. Musik- und Kunstunterricht findet immer weniger statt oder wird fachfremd erteilt. Und haben wir dafür gesorgt, dass jedes Kind wenigstens einmal im Jahr ein Theater, ein Museum und einen Konzertsaal besucht und im Laufe seiner Schullaufbahn mit allen Kunstsparten passiv und aktiv in Berührung kommt und sich in einer davon ausbilden oder gar vervollkommnen lassen kann, wie es das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten vier Jahren in der Musik zusammen mit der Kulturstiftung des Bundes am Beispiel des Projekts „Jedem Kind ein Instrument“ vorexerziert hat? Und was ist zum Beispiel aus dem Singen in unseren Schulen – und in unseren Elternhäusern – geworden? Bessere Werte bei PISA erreichen wir nicht nur durch besseres Lesen-, Schreibenund Rechnen-, sondern auch durch ästhetisches Lernen Seit Bekanntgabe der ersten PISA-Ergebnisse verharren wir in einer Schockstarre und stieren wie das Kaninchen auf die Schlange: Bisher ist den Schulpolitikern nichts anderes dazu eingefallen, als Milliarden in Ganztagsschulen und die unmittelbare – vermeintliche – Behebung von Lese-, Schreib- und Rechenschwächen zu stecken, statt umzudenken und zu erkennen, dass man die Ganztagsschule dazu nutzen kann, auf dem Umweg über die Beschäftigung mit ganz anderen Dingen, zum Beispiel mit ästhetischer Erziehung, auch zu besseren Ergebnissen im Lesen, Schreiben und Rechnen zu kommen, von den übrigen Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung ganz abgesehen. Wenn wir auch noch am Nachmittag den gleichen Unfug betreiben, wie wir ihn jahrzehntelang – mit dem Ergebnis, das die bisherigen PISA-Studien dokumentieren – am Vormittag betrieben haben, dann zementieren wir endgültig schlechte PISA-Ergebnisse! Kulturbetriebe sind Bildungseinrichtungen und Künstler Bildungsvermittler Angesichts dieser Fehlentwicklung sollten wir freilich nicht den Fehler machen, nunmehr auch noch die Kultur zu verschulen. Abgesehen davon, dass Schule derzeit gar nicht dazu in der Lage ist, sollten wir die Chance nutzen, dass Kultur von denen, die in ihr tätig sind, in Kindertagestätten und Schulen an Kinder und Schüler herangetragen wird, dass diese dort „abgeholt“ und in die Kultureinrichtungen hineingeholt

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werden. Denn nicht nur jede Musik- und Kunstschule, sondern auch jedes Museum, jedes Theater, jede Konzerthalle, jedes Archiv und fast jeder alternative Kulturbetrieb sind Lernorte kultureller Bildung und folglich Bildungsinstitutionen – nur haben es die wenigsten von ihnen bisher begriffen! Der allmähliche Ausbau unserer Kindergärten und Schulen zum Ganztagsbetrieb eröffnet ungekannte und leider noch unzureichend genutzte Möglichkeiten für eine enge Zusammenarbeit zwischen diesen und der Kultur. Auch fast jeder Künstler ist partiell ein potenzieller Vermittler von Bildung. In Nordrhein-Westfalen gehen inzwischen beispielsweise alljährlich Tausende von Künstlern und Künstlerinnen einmal pro Woche in Schulen, um gemeinsam mit Schülern und Schülerinnen Kunstprojekte zu entwickeln und umzusetzen. Integration beginnt bei der Kultur – und folglich bei der kulturellen Bildung Wo, wenn nicht bei der Kultur, beginnt jede Integration?! Denn wo sonst – außer im Aussehen, in der Hautfarbe etc. – liegen die Unterschiede? Wo also sollen deutschstämmige wie nicht deutschstämmige Kinder, Jugendliche und auch die Erwachsenen die Unterschiede kennen- und schätzen lernen, wenn nicht in der Kultur und der kulturellen Bildung? Zumal Letztere meist auch ohne Sprache funktioniert, besteht eine einmalige Chance, über kulturelle Bildung auch zu Fortschritten in der Integrationspolitik zu kommen. Wer jemals erlebt hat, wie im Ruhrgebietsprojekt „Jedem Kind ein Instrument“ (JeKi) deutschstämmige und nicht deutschstämmige Schüler deutsche und türkische Musik nebeneinander einüben, der weiß, wovon ich rede. Ausgaben für kulturelle Bildung sind Bildungsausgaben Das alles kostet Geld, viel Geld sogar! Hier werden zusätzliche finanzielle Aufwendungen erforderlich, die die herkömmlichen Kulturetats sprengen würden. Allein die landesweite Einführung von „Jedem Kind ein Instrument“ wird das Land NordrheinWestfalen auch bei angemessen erhobenen Gebühren (und Stipendien für diejenigen, die sie sich nicht leisten können) rund 80 Millionen Euro p. a. kosten. Doch was sind diese 80 Millionen Euro angesichts eines Schuletats des Landes von rund 14 Milliarden Euro?! Knapp 0,6 Prozent oder 6 ‰! Für den – in den letzten 5 Jahren bereits verdoppelten – Kulturhaushalt des Landes von 140 Millionen Euro (1 Prozent des Schuletats!) dagegen sehr viel! Auch bundesweit sieht es ähnlich aus: Hier beträgt das Verhältnis der Ausgaben der öffentlichen Hand für Kultur zu denen für Bildung 8 : 100 Milliarden Euro. Fazit: Aus den herkömmlichen Kulturhaushalten wird sich die kulturelle Bildung nicht finanzieren lassen! Und es ist auch gar nicht einzusehen, dies zu tun! Denn Ausgaben für die kulturelle Bildung sind nun einmal Bildungsausgaben! Wo die erforderlichen Kosten etatisiert werden – ob im Schul- oder im Kulturetat – ist zunächst sekundär. Entscheidend ist, dass die Gelder her müssen – und tatsächlich

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schon da sind! Wie so oft geht es nur noch darum, Prioritäten zu setzen – das Geld ist da:

Im Verteilungskampf um die durch sinkende Schülerzahlen freiwerdenden und durch das Ziel „10 Prozent vom BIP für Bildung“ neu zu schaffenden Mittel muss die kulturelle Bildung angemessen berücksichtigt werden Nachdem sich die Politik einvernehmlich darauf verständigt hat, künftig 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Bildung und Forschung zu investieren, und angesichts dessen, dass dieses Ziel noch längst nicht erreicht ist, muss über eines nicht mehr gestritten werden: Dass die durch die sinkenden Schülerzahlen freiwerdenden Mittel in den Schuletats von den Finanzministern und Kämmerern eingespart werden. Dennoch ist der Verteilungskampf längst im Gange: Die Kinder- und Jugendpolitiker wollen das Geld in den Ausbau von Kindertagesstätten stecken, die Schulpolitiker dagegen in den Ausbau von Ganztagsschulen sowie in kleinere Klassen – und die Finanzminister haben ihr Ziel, die Mittel trickreich in Pensionsrückstellungen zu überführen, immer noch nicht aufgegeben. Nur die Kulturpolitik schläft und schweigt, statt vehement für eine angemessene Berücksichtigung der kulturellen Bildung zu kämpfen! Der Zeitpunkt ist günstig, doch bald vorbei – und dann können wir die Zukunft der kulturellen Bildung endgültig vergessen! Gehandelt werden muss jetzt! Die Forderung muss lauten: Bis 2020 10 Prozent der schulischen Bildungsausgaben für die kulturelle Bildung! Bisher haben weder Kultur- noch Bildungspolitik den Mut aufgebracht, den Bedarf an kultureller Bildung zu quantifizieren und kostenmäßig zu berechnen. Dies kann hier aus Platzgründen nur kursorisch geschehen, soll aber, um einen Anhaltspunkt für die erforderlichen Dimensionen zu erhalten, versucht werden: Wenn wir uns zum Ziel setzen, dass jedes Kind im Laufe seiner Kindergarten- und Schulzeit mit allen Kunstsparten und allen Kulturbetrieben seiner Gemeinde, seines Kreises bzw. seiner Region Bekanntschaft machen soll und sich in mindesten einer Kunstsparte aktiv betätigen und ausbilden lassen kann, dann kann man zunächst einmal die bekannten Kosten pro teilnehmendem Kind in den NRW-Projekten „Jedem Kind ein Instrument“ in Höhe von rund 370,– Euro p. a. und „Kultur und Schule“ in Höhe von rund 125,– Euro als Ausgangspunkt nehmen. Auch wenn sich erstere nach der Grundschulzeit durch Ensemblebildung etc. im weiterführenden Schulbereich auf schätzungsweise 250,– Euro reduzieren lassen, muss für die übrigen Kunstsparten und den Besuch von Kulturbetrieben, für Fahrt-, Raum- und Organisationskosten in den weiterführenden Schulen mindestens ein Betrag von weiteren 125,– Euro p. a. hinzugerechnet werden. Damit lägen die Kosten pro Kind bei 500,– Euro p. a., was 10 Prozent der derzeitigen durchschnittlichen öffentlichen Ausgaben pro Schüler an den öffentlichen Schulen Deutschlands (5000,–

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Euro) entspricht.5 Für die Kindertagesstätten dürften die Relationen nicht völlig anders aussehen.

2 Eine Neuverteilung der Kosten für Kultur und kulturelle Bildung zwischen privater und öffentlicher Hand tut not In 65 Jahren Nachkriegszeit haben wir uns an ein „Monopol“ der Länder und Kommunen in der Kultur gewöhnt. Dies entspricht in keiner Weise unserer Tradition: Dass Deutschland nach wie vor eine der bedeutendsten Kultur- und Industrienationen ist – und ich behaupte: beides, Kultur- und Industrienation, bedingt sich gegenseitig –, hat seine historischen Ursachen einerseits in einem einzigartigen Wettbewerb von zahllosen Duodezfürsten untereinander (der sich im heutigen Föderalismus widerspiegelt) und andererseits in einem nicht minder einzigartigen Wettbewerb der sich diesen Fürsten gegenüber emanzipierenden Bürger im 18., 19. und ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Unsere älteren Theater, Museen, Konzerthallen etc. sind Gründungen entweder von Fürsten oder aber von einzelnen oder meist auch von mehreren Bürgern. Infolgedessen haben wir in Deutschland in der Trägerschaft von Kultur sowohl eine staatliche als auch eine bürgerliche Tradition. Letztere ist durch die Gleichschaltungspolitik der Nazis zerstört und nach dem Krieg kaum wiederbelebt worden, sondern auf die Kommunen übergegangen, die damit heute angesichts der oben beschriebenen neuen Bedeutung von Kultur hoffnungslos überfordert sind. Angesichts dessen muss sich die öffentliche Hand immer stärker auf den Substanzerhalt und insbesondere das konzentrieren, was es noch schwer hat, also auf das ganz Neue, noch „Anstößige“, Avantgardistische, für das sich sonst keiner finanziell engagiert, sowie auf das, was es schon wieder schwer hat, weil es sonst in Vergessenheit zu geraten droht: unsere Archiv- und Magazinbestände, unsere Bibliotheken, die Sicherstellung einer angemessenen kulturellen Bildung etc. Für Ausstellungen, „Events“ und einzelne Projekte lassen sich dagegen eher private Geldgeber finden. Der Bürger als Träger der Kultur Heute haben wir allen Anlass, uns auf die bürgerliche Kulturträgerschaft zu besinnen: Nicht nur, weil die Kommunen pleite sind, sondern auch, weil wir endlich wieder auf dem Wege zu einer Bürgergesellschaft sind. Weder der Staat noch die Kommunen können Kultur „machen“, sondern nur die Bürger. Die Kultur eines Landes ist nur so gut wie die Kultur seiner einzelnen Bürger. Die Kultur zählt nun einmal zu den Voraus-

5 Statistisches Bundesamt (Hg.): Bildungsausgaben. Ausgaben je Schüler/-in in 2007, Wiesbaden 2010, S. 6, 8 und 10.

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setzungen, von denen der Staat, so Wolfgang Böckenförde, zwar lebt, die er aber nicht selber schaffen kann. Was die demokratische Legitimation von Kultur als meist ins Feld geführtes Gegenargument anbelangt, so ist eine multilaterale Trägerschaft von Kultur mindestens so wertvoll wie die derzeit noch eher monopolistisch strukturierte und schnell zum Mittelmaß neigende parlamentarisch kontrollierte Kulturträgerschaft der öffentlichen Hand: Ein „schwieriges“ Werk von Beuys anzukaufen ist eher mit Privaten als mit jedem durchschnittlichen deutschen Kulturausschuss möglich …! Wie oben dargestellt, ist auch der Zeitpunkt da, sich wieder auf die bürgerliche Traditionsschiene von Kulturträgerschaft zu besinnen: Noch nie war so viel Geld, so viel Zeit und so viel Interesse von Bürgern vorhanden, sich für Kultur zu engagieren. Der derzeitige Stiftungsboom, auch und gerade im Bereich der Kultur, spricht für sich: Auch kleinere Vermögen wie das eines schuldenfreien Einfamilienhauses kinderloser Erblasser wird inzwischen zum Gegenstand von Kulturstiftungen, die als unselbstständige Stiftungen an andere Stiftungen wie zum Beispiel Bürgerstiftungen angedockt werden, um einen jährlichen Kulturpreis oder einzelne alljährliche Projekte zu finanzieren und die Verwaltung der jeweiligen Oberstiftung zu überlassen. Die Kulturträgerschaft des Bürgers beginnt beim Eintrittspreis Es ist ein – freilich weitverbreiteter – Irrtum, die Preise für Kultur niedrig zu halten, um ihren Zugang möglichst für alle zu öffnen. Zwar ist es richtig, den Zugang zur Kultur allen Bürgern zu ermöglichen. Aber warum müssen Staat und Kommunen allen Bürgern gleichermaßen den Zugang erleichtern, statt – möglicherweise viel stärker als bisher – nur denjenigen, die die Preise in der Tat nicht zahlen können? Und warum gibt es nicht eine viel stärkere Staffelung der Preise einschließlich drastischer Mengenrabatte beispielsweise für Familien oder Vielnutzer? In Ansätzen sind wir hier zwar schon zu Veränderungen gekommen, aber es fehlt nach wie vor der Mut, den Bürgern, die es können, auch eine entsprechende Mitfinanzierung der Kultur abzuverlangen. Die nächste Stufe der Kulturträgerschaft des Bürgers ist die der Mitgliedschaft in Fördervereinen. Aber warum beteiligen wir ihn nicht direkt an unseren Kulturbetrieben? Ich behaupte, dass es heute manchen Förderverein von Kulturinstituten gibt, dessen Mitgliedsbeitrag den wirtschaftlichen Vorteil der Mitgliedschaft (freier Eintritt, Einladungen zu Veranstaltungen etc.) unterschreitet. Wir haben uns hier an Beitragssätze gewöhnt, die fast schon einen Hohn darstellen. Wieso ist es nicht selbstverständlich, dass ich als Fördervereinsmitglied 500,– oder 1000,– Euro zahle oder es zumindest eine Staffelung gibt, bei der jedes Mitglied eine Selbsteinschätzung vornimmt?

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Nachdem wir richtigerweise einen Großteil unserer Kulturbetriebe in private Rechtsformen überführt haben, stellt sich die Frage, warum wir nicht interessierte Bürger daran beteiligen, zum Beispiel durch die Zeichnung von gemeinnützigen GmbHAnteilen oder die Ausgabe von dividendenlosen Aktien? Der Gefahr, dass darunter die Unabhängigkeit und künstlerische Freiheit der Institute und ihrer Leiter leiden könnte und die Häuser der parlamentarischen Kontrolle entzogen wären, kann man mit einer Mehrheit der Stimmrechte bzw. mit Vetorechten der Vertreter der öffentlichen Hand und einer satzungsmäßig verankerten Unabhängigkeit der Leitung des Hauses begegnen. Und ob die Kontrolle durch diejenigen Bürger, die die Arbeit des Hauses wirklich interessiert, weniger wirksam wäre als die durch die Parlamente und Verwaltungen, darf füglich bezweifelt werden …! Warum also sollte beispielsweise ein Opernhaus nicht bis zur Hälfte denen gehören und von denen zu einem Teil mitfinanziert werden, die sich mit ihm identifizieren und es mehrmals im Monat besuchen? Wohlgemerkt, wir haben das vor rund 100 Jahren alles schon einmal gehabt: So ist zum Beispiel das Deutsche Schauspielhaus Hamburg als Aktiengesellschaft und das Düsseldorfer Schauspielhaus als GmbH gegründet und geführt worden. Damals mögen einige wenige Großbürger Aktionäre bzw. Gesellschafter gewesen sein, aber warum sollte dies nicht auch in demokratischeren Zeiten mit vielen, nicht zwangsläufig so vermögenden, aber so engagierten Bürgern wie damals funktionieren, indem man zum Beispiel die zu zeichnenden Anteile pro Person begrenzt? In Düsseldorf ist insoweit bei der Deutschen Oper am Rhein gGmbH, der Stiftung museum kunst palast und der Stiftung Schloss und Park Benrath ein Anfang gemacht worden, als unter anderem wenigstens die jeweiligen Fördervereine beteiligt wurden. Für eine Umwandlung der Oper in eine gemeinnützige AG mit unmittelbarer, breit gestreuter Beteiligung von Bürgern war die Zeit noch nicht reif – sie scheiterte am erbitterten Widerstand der Gewerkschaften …! In der Kommunikationsgesellschaft von heute erhalten auch Kleinstspenden eine ganz neue Dimension: Über die Medien, insbesondere Internet und Mobilfunk, lassen sich per „Crowdfunding“ für eine gute Sache auch große Summen einwerben Musikbands und Designer haben es uns vorgemacht: Um Plattenaufnahmen oder die Entwicklung eines neuen Designprodukts zu finanzieren, haben sie per Internet binnen kürzester Zeit fünf- bis sechsstellige Beträge eingeworben, indem sie je nach Höhe der Beträge auch Gegenleistungen wie die Lieferung der neuen CD oder des fertigen Design­produkts, den kostenlosen Besuch von Konzerten bis hin zu Hauskonzerten anboten etc.6 Und warum soll nicht in einem Konzert von Kindern aus dem Projekt „Jedem Kind ein Instrument“ zu Spenden von 5 Euro zugunsten von Instrumentenkäufen oder der Teilnahme von Kindern, die die Gebühren nicht bezahlen können, 6 Süddeutsche Zeitung vom 30./31.10. und 1.11.2010, S. 1.

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per Mobilfunk noch während des Konzertes aufgerufen werden? Technisch möglich ist diese Form der bürgerlichen Mitträgerschaft von Kultur in kleinsten Dosen schon heute – warum nutzen wir sie dann nicht?! Auch die unentgeltliche Tätigkeit in freier Zeit ist eine sich verbreitende Form der bürgerlichen Trägerschaft von Kultur Wir alle singen das Loblied auf das bürgerliche Ehrenamt. Dabei übersehen wir jedoch viel zu sehr, dass es nicht nur um das ehrenamtliche Engagement beispielsweise in den Vorständen von Fördervereinen geht. Vielmehr ist inzwischen die alltägliche unentgeltliche Mitarbeit in Kulturbetrieben zu einer ebenso ernst zu nehmenden wie freilich oft von den hauptamtlichen Mitarbeitern gefürchteten Ressource vieler Kulturbetriebe geworden. Würden wir einmal systematisch statistisch den Prozentanteil unentgeltlicher Mitarbeit an der in unseren Kulturbetrieben geleisteten Arbeit erfassen, wären wir erstaunt. Was uns freilich diesbezüglich fehlt, ist eine „Kultur des Ehrenamtes“ innerhalb der Kultur: Die bezahlten hauptamtlichen Mitarbeiter argwöhnen oft, dass ihnen die ehrenamtlichen die Stellen wegnehmen und im übrigen nicht genügend fachliche Voraussetzungen mitbringen. Nicht selten beklagen sie, dass die ehrenamtlichen Mitarbeiter in unerträglichem Maß in fachliche Belange hineinreden und unzulässigen, bisweilen auch nivellierenden Einfluss auf die Arbeit nehmen. Diese Einwände sind oft durchaus berechtigt und ernst zu nehmen. Und doch gibt es inzwischen zu viele gelingende Beispiele von nicht mehr wegzudenkender ehrenamtlicher Mitarbeit: Sei es bei der wissenschaftlichen Recherche, sei es bei der Übernahme pädagogischer Dienste, sei es bei Sekretariats- und anderen Verwaltungsaufgaben oder dem Aufsichtsdienst usw. Entscheidende Voraussetzung für das Gelingen eines solchen Engagements ist immer zweierlei: Einerseits die Bereitschaft der hauptamtlichen Mitarbeiter, die ehrenamtlichen ernst zu nehmen, fortzubilden und in die Arbeit des Betriebs wirklich einzubinden, statt sie als Fremdkörper und Störenfriede zu betrachten. Andererseits die Bereitschaft der Ehrenamtlichen, sich zurückzunehmen, sich nicht aufzudrängen und Disziplin zu wahren, sich als Lernende zu betrachten, die Grenzen zur hauptamtlichen professionellen Arbeit zu wahren und deren Entscheidungen zu respektieren. Das alles lässt sich lernen – sowohl von den ehrenamtlichen als auch von den hauptamtlichen Mitarbeitern. Im Sozialbereich gibt es hierfür längst Fortbildungsnetzwerke und -akademien – warum nicht auch im Kulturbereich?! Zu wertvoll und ernst zu nehmen sind die hier brachliegenden Ressourcen, um sie zu ignorieren. Letztlich geht es um eine Demokratisierung dessen, was im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert einige wenige besitzende Bürger durch die Gründung von Kulturinstituten an eigenen kulturellen Interessen verfolgt haben: Das, was sie selbst interessiert hat, in kulturelle Institutionen einfließen und Dritten bzw. der Allgemeinheit zugutekommen zu lassen.

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Neben dem Bürger müssen auch die Wirtschaftsunternehmen wieder zu (Mit-)Trägern der Kultur werden Die oben beschriebene bürgerliche Traditionslinie in der Kulturträgerschaft erstreckt sich auch auf unsere Unternehmen. Denn es waren in der Gründerzeit im wesentlichen Bürger, die als Unternehmer kulturelle Institute gründeten und/oder förderten. Da Inhaberschaft und Managementspitze in einer Hand lagen, wurde oft gar nicht unterschieden, ob nun das Unternehmen oder der Unternehmer als Privatperson handelte. Vor allem war das Interesse des Unternehmers an kulturellen Fortschritten oft untrennbar mit dem Unternehmensinteresse verbunden: Der Unternehmer wusste, dass seine eigene Innovationskraft wie die seiner Mitarbeiter von der Beschäftigung mit kulturellen Angelegenheiten abhing. Nachdem sich inzwischen ganz weitgehend Eigentum und Management an unseren – jedenfalls größeren – Unternehmen getrennt haben, müssen auch die Unternehmen und ihr Management Interesse an kulturellen Angelegenheiten haben. Kurt Biedenkopf hat bereits 1985 auf den Punkt gebracht, warum die Wirtschaft ein solches Interesse haben sollte: „Nicht die traditionellen Kapitalmärkte und die Kapitalausstattung unserer Wirtschaft, sondern die Märkte für Geistkapital – für menschliche Fähigkeiten zu Kreativität, Organisation von Vielfalt, Entwicklung besserer Strukturen – werden die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft, letztlich ihre Überlebensfähigkeit bestimmen.“7 Und wenn die Wirtschaft heute zu Recht das „Diversity Management“ – also die Nutzbarmachung der Vielfalt von Herkunft, Geschlecht, kultureller und religiöser/ weltanschaulicher Orientierung etc. ihrer Mitarbeiter8 – entdeckt, kommt sie an dem Thema der Förderung der kulturellen Bildung ihrer Mitarbeiter nicht vorbei. Das gängige Sponsoring ist nur eine Form des kulturellen Engagements der Wirtschaft. Als Geschäft auf Gegenseitigkeit ist es freilich keine Förderung, auch wenn die Kultur heute ohne Sponsoring nicht mehr leben kann. Das Sponsoring hat auch nach wie vor eine große Zukunft, ist das Internet doch der beste Beweis dafür, dass die Verbreitung geistiger Produkte – welcher Qualität auch immer – fast ausschließlich mithilfe von Sponsoren finanziert wird …! Hinzukommen muss jedoch der fördernde Aspekt, die Identifikation eines Unternehmens mit bestimmten Kultureinrichtungen oder -projekten. Gerade das Funktionieren der kulturellen Bildung muss jedem Unternehmen im ureigenen wie im Interesse seiner Mitarbeiter und deren Familien ein besonderes Anliegen sein. Hier bieten sich für jedes Unternehmen größere und auch kleinere Mög-

7 Biedenkopf, Kurt, Die Neue Sicht der Dinge. Plädoyer für eine freiheitliche Wirtschafts- und Sozialordnung, München/Zürich 1985, S. 334. 8 Sonderveröffentlichung der Süddeutschen Zeitung: Vielfalt erleben. Das Magazin für Diversity Management. Hrsg. von Accenture, Daimler, Deutsche Telekom, HypoVereinsbank, November 2010, S. 4 ff.

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lichkeiten für ein auch auf längere Dauer ausgerichtetes Engagement, das sich zudem meist mit einem Sponsoring kombinieren lässt. Die rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten für eine solche Mitträgerschaft sind vielfältig: Sie reichen von regelmäßigen Spenden, der vertraglichen Übernahme bestimmter Kosten, der Unternehmensmitgliedschaft in Förder- oder auch Trägervereinen, Beteiligungen an Stiftungen, Träger-GmbHs oder -AGs (siehe oben) bis hin zur Gründung eigener Kulturbetriebe oder -stiftungen, wobei Letzteres in den vergangenen Jahren in erfreulicher Weise zugenommen hat. Jedenfalls sollte jedes etwas größere Unternehmen sein eigenes Kulturförderkonzept haben. Der Idealfall ist immer noch die Form einer institutionalisierten Public-Private-Partnership, wie sie zum Beispiel die E.ON AG in Düsseldorf in der Stiftung museum kunst palast mit der Stadt und dem Förderverein des Museums eingegangen ist: Dort hat E.ON sich mit einem beachtlichen Betrag an der Stiftung beteiligt und zusätzlich zu jährlichen Leistungen verpflichtet. Daneben engagiert sich E.ON regelmäßig auch als echter Sponsor bei Ausstellungen etc. Der Teilneubau des Museums wurde möglich, indem E.ON den nicht mehr benötigten Grundstücksteil von der Stiftung zum Marktpreis kaufte, um dort seine Unternehmenszentrale zu errichten. Im Kuratorium hat keiner der Partner die Mehrheit: Stadt, E.ON sowie der Förderverein und unabhängige Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft stellen jeweils ein Drittel der Mitglieder. Für wenige Fälle wie zum Beispiel den Verkauf von Grundstücksteilen ist ein Vetorecht der Stadt vorgesehen.

Zwischenfazit Kein Kulturbetrieb kommt an einem systematischen Fundraising vorbei. Dabei geht es um mehr als um bloßes Sponsoring oder Spendensammeln, sondern um die systematische Pflege, Unterhaltung und Erweiterung eines Beziehungsgeflechts von Partnern aller Art.

3 Auch bei der öffentlichen Hand müssen wir zu einer Neuverteilung der Ausgaben für Kultur und kulturelle Bildung kommen Das vorstehende Plädoyer für eine stärkere Wiederbelebung der Tradition einer privaten Kulturträgerschaft neben der der öffentlichen Hand soll nicht den immer häufiger laut werdenden Ruf nach einem Rückzug von Staat und Kommunen aus der Kulturfinanzierung unterstützen – im Gegenteil: Der Erhalt unserer einzigartigen und in der Tat reichen kulturellen Substanz, zu der auch die kulturelle Bildung gehört, macht die Anstrengungen aller erforderlich! Und wer den amerikanischen oder britischen Weg einer nahezu ausschließlich privaten Finanzierung der Kultur propagiert, übersieht nur

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zu gern, welchen einzigartigen, auch wirtschaftlichen Reichtum uns der Dualismus von öffentlicher und privater Kulturfinanzierung gebracht hat: Wäre Deutschland ohne diesen noch immer eine der führenden Industrienationen der Welt? Und würden wir ohne enorme öffentliche wie private Ausgaben dafür eine solche bleiben? Sollte uns nicht zu denken geben, dass selbst ein so weitgehend auf private Kulturfinanzierung ausgerichtetes Land wie Großbritannien inzwischen die kulturelle Bildung seiner Kinder zu einer der ersten staatlichen Prioritäten erklärt und dafür ein beachtliches staatliches kulturelles Bildungsprogramm mit einem langfristig Milliarden erfordernden Aufwand entwickelt hat? Das alles schließt aber nicht aus, sondern vielmehr ein, dass wir auch unter den einzelnen Ebenen der öffentlichen Hand zu einer Neuverteilung kommen müssen: Die Kommunen Die Kommunen in Deutschland sind schon jetzt mit dem Substanzerhalt ihrer Kultur überfordert. Mehr und mehr müssen die Länder (wie zum Beispiel NRW) und auch der Bund Substanzerhaltungsprogramme auflegen, damit der Inhalt unserer Magazine, Archive und Bibliotheken auch und gerade in kommunalen Einrichtungen nicht im wahrsten Sinne des Wortes zu Staub zerfällt. Den Kommunen auch noch den Ausbau der kulturellen Bildung aufzubürden, hieße, sie zu überfordern. Der Part der Kommunen an der kulturellen Bildung sollte in der Vorhaltung ihrer kulturellen Bildungseinrichtungen, also der Theater, Museen etc. bestehen. Damit sind sie schon überfordert genug! Die Länder Die Übernahme der zusätzlichen Kosten für eine kulturelle Bildungsoffensive obliegt grundsätzlich den Ländern; sie sind in deren Haushalten als Bildungsausgaben zusätzlich zu etatisieren. Ob und inwieweit dies im Schul-, Kultur- bzw. Kinder- und Jugendetat geschieht, ist letztlich zweitrangig. Entscheidend ist, dass alle drei Ressorts zuzüglich des Wissenschaftsressorts (wegen der Ausbildungsrelevanz für Lehrer, Künstler, Kindergärtnerinnen etc.) in diesem Bereich eng – zum Beispiel als Kabinettsausschuss – zusammenarbeiten und gemeinsam über die Mittelverteilung entscheiden. Der Bund Aus den oben dargestellten Gründen ist die kulturelle Bildung derzeit eine Aufgabe von auch nationaler Bedeutung. Dementsprechend müsste sich der Bund hieran beteiligen, was freilich unsere Verfassung derzeit verbietet. Deshalb muss der Bund aus ureigenem Interesse den Ländern bei der Verteilung der Finanzmasse helfen, um diese Aufgabe von nationaler Bedeutung zu erfüllen. So sehr unser Kulturföderalismus auch zu unserer einzigartigen kulturellen Blüte beigetragen hat, so falsch ist unsere sehr deutsche Art, ihn zu perfektionieren (was Johannes Rau einmal dazu verleitet hat, von den „Föderasten“ zu sprechen). Ob das

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derzeit geltende, durch die Föderalismusreformen verstärkte und leider völlig undifferenzierte Verbot einer Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern auf dem Gebiet von Kultur und Schule im Grundgesetz der Weisheit letzter Schluss ist, mag zu bezweifeln sein. Jedenfalls ist es erfreulich, dass es seit längerer Zeit einen bei der Bundeskanzlerin angesiedelten „Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien“ mit einem stetig wachsenden Etat gibt, der seit 2010 auch eine – wenngleich geringfügige – Position für kulturelle Bildung enthält. Und die segensreiche Wirkung der Kulturstiftung des Bundes ist inzwischen auch unstrittig. So ist jedenfalls ein Anfang gemacht. Die Länder sollten Anlass genug haben, nicht ständig eifersüchtig über die Enthaltsamkeit des Bundes in Fragen der Kultur und der kulturellen Bildung zu wachen. Andernfalls gilt das oben zitierte Diktum von Johannes Rau …! Die Lösung des Föderalismusproblems: Eine von den Kulturstiftungen des Bundes und der Länder sowie von der Wirtschaft getragene Stiftung kulturelle Bildung Rebus sic stantibus bietet sich daher nur an, dass die Kulturstiftung des Bundes und die Kulturstiftung der Länder – eventuell zusammen mit einem oder mehreren der deutschen Großunternehmen – unter Einbeziehung der kommunalen Spitzenverbände eine „Stiftung kulturelle Bildung“ gründen, die sich einzelnen Projekten der kulturellen Bildung – wie beispielsweise der Ausweitung von „Jedem Kind ein Instrument“ auf alle Bundesländer – widmen könnte. Es ist höchste Zeit, darüber ernsthaft nachzudenken und entsprechende Schritte in die Wege zu leiten. Fazit: Nicht jammern, sondern „Mannesmut vor Fürstenthronen“ in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft!

Hans Joachim Meyer

Muss sich Kultur rechnen?

Muss sich Kultur rechnen? Kultur kann sich nicht rechnen. Aber wer Kultur aus seinem politischen Kalkül ausschließt, muss später kräftig draufzahlen. Politische Karrieren mag man auch ohne Kultur machen können. Wer jedoch Politik als Dienst an Staat und Gesellschaft begreift, der muss vor allem anderen um den Wert von Kultur wissen. Kultur ist keine Zugabe, die man sich leisten will, wenn man sie sich leisten kann. Vielmehr ist Kultur von der Qualität des menschlichen Lebens und vom Charakter einer Gesellschaft nicht zu trennen. Erst durch Kultur werden für Menschen das eigene Leben und das gesellschaftliche Zusammenleben möglich. Mit der Kultur verhält es sich ähnlich wie mit Bildung und Wissenschaft. Wer Bildung mit arbeitsmarktrelevanten Qualifikationen gleichsetzt und in der Wissenschaft nur eine Quelle von verwertbaren Innovationen sieht, ruiniert Bildung und Wissenschaft. So, wie der Mensch durch sein Handeln die Natur zur Wüste machen kann, so kann er auch die Quellen künftigen geistigen Lebens austrocknen lassen. Denn die Wirkungen von Bildung und Wissenschaft sind wie die prägende Kraft von Kultur ihrem Wesen nach langfristig. Das ist nicht zuletzt eine Erfahrung der Geschichte: Als im Deutschland des 19. Jahrhunderts Bildung und Wissenschaft um ihrer selbst willen geachtet wurden, stieg dieses Land im Verlauf der Jahrzehnte zu einer Industriemacht auf. Als im Osten Deutschlands Bildung und Wissenschaft politisch und ideologisch instrumentalisiert wurden, war das Ergebnis ein gesellschaftliches Desaster, an dessen Folgen wir noch lange tragen werden. Gleichwohl ist es politisch notwendig, die gegenwärtigen und künftigen Möglichkeiten des kulturellen Lebens in Sachsen zu prüfen, wenn die Zahl der Menschen kleiner und die verfügbaren finanziellen Mittel geringer werden. Das soll durch die Eingangsfeststellungen nicht bestritten werden. Sie sollen vielmehr die Haltung beschreiben, mit der wir uns der Frage nähern, wie die Politik ihrer Verantwortung unter sich verändernden und fraglos viel schwierigeren Bedingungen gerecht werden kann. Dazu will ich im Folgenden einige prinzipielle Überlegungen vorstellen, die zum Nachdenken über die Zukunft der Kulturräume beitragen sollen. Auch wenn die Eingangsthese, Leben werde erst durch Kultur menschlich, richtig ist, so ist sie dennoch missdeutbar. Denn wenn menschliches Leben stets auch Kultur ist, brauchten wir uns eigentlich um die Existenz von Kultur nicht zu sorgen. Befördert wird dieses Missverständnis durch den sich ausbreitenden Sprachgebrauch, das Wort „Kultur“ als wertfreie Bezeichnung jedweder Lebensform und Lebensauffassung zu

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verwenden. Zugespitzt formuliert ist damit heute auch jede Unkultur eine Kultur. Die relativierende Gleichstellung jeder Stufe und jedes Verständnisses von Kultur entwertet den Kulturbegriff. So gesehen gäbe es in der Kulturgeschichte weder Fortschritt noch Zugewinn. Gewiss lebt die Menschheit seit je in unterschiedlichen Kulturkreisen, und eurozentrische Hybris ist unangebracht. Trägt darum jede Art zu leben und sich zu äußern in gleich bedeutsamer Weise zur Menschheitskultur bei? So unabweisbar die Einsicht in die Vielfalt von Kultur ist, so kann sie gleichwohl zur Beliebigkeit und zum Niveauverzicht verführen. Gewiss ist Kultur primär Ausdruck eigenen Willens und eigenen Vermögens. Zu­gleich eröffnet sie Angebote und erhebt Ansprüche, welche auch andere Menschen berühren und verändern können. Es ist diese überindividuelle Wirkung, welche sie gesellschaftlich bedeutsam macht. Die Begegnung und der Umgang mit Kultur verlocken und befähigen Menschen dazu, ihre Persönlichkeit zu entfalten. Kultur ist Einsicht und Erkenntnis, ist gemeinschaftsstiftendes Erlebnis, ist Orientierungsnorm. Dabei formen Bildung, Wissenschaft und Kunst die Menschen in einer je eigenen Weise. Bildung als durchdachter Prozess sucht Menschen sowohl rational wie emotional zu prägen. Die Zugangswege der Wissenschaft sind ganz überwiegend begrifflich-argumentativer Natur. Der Sinn von Bildung und Wissenschaft mag sich uns nur mühsam erschließen; ihr Wert bleibt gleichwohl unbestritten. Die kulturelle Formung des Menschen durch die Kunst steht dagegen häufig im gesellschaftlichen Widerstreit. Denn in der Kunst – der bildenden und der darstellenden Kunst, der Musik und der Literatur – begegnen uns Bilder, Formen, Bewegungen und Töne, die sich zu Eigenwelten zusammenfügen. Diese mögen uns anziehen, abstoßen oder gleichgültig sein. Setzen wir uns ihnen aus, so entdecken wir in ihnen Eindrücke, Erfahrungen und Empfindungen unseres inneren Lebens wie unserer Umwelt. Künstler haben sie erahnt und gespürt und dann schöpferisch zum verdichteten und deutenden Ausdruck gebracht. Künstlerische, musikalische und literarische Werke führen uns dazu, menschliche Haltungen und Verhaltensweisen zu erkennen und zu bewerten. Sie helfen uns zu einem Umgang mit uns selbst und zum Miteinander mit anderen. In der Kunst verbinden sich höhere Unterhaltung und geistiger Gewinn – sei er intellektueller oder charakterlicher Natur. Ist uns Kunst nicht nur Genuss und Zeitvertreib, so kann sie uns einen ganz eigenen und dem gedanklich-abstrahierenden Zugriff durchaus gleichwertigen bildlich-konkreten Weg zur Erkenntnis eröffnen. Dadurch erhöht sie auch unsere eigene Erlebnis- und Wahrnehmungsfähigkeit und macht uns sensibel für die Wege anderer Menschen und anderer Völker. Kultur befähigt Menschen zum gesellschaftlichen Leben und gibt einer Gesellschaft inneren Zusammenhang und geistige Gestalt. Das erweist sich in der engen Beziehung von Kultur und Religion, wie aber auch von Kultur und jedwedem ethisch bedingten sozialen Verhalten. Diese Beziehung mag früher eindeutiger und offenkundiger gewesen sein. Aber weder moderne Vielfalt noch modische Beliebigkeit können den Zusammenhang von Kultur und Gesellschaft aufheben.

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Das Wissen um die gesellschaftliche Bedeutung von Kultur war – ob ausgesprochen oder nicht – der Grund für das Sächsische Kulturraumgesetz. In einer Zeit des Umbruchs und der radikalen Infragestellung fast aller bisherigen Lebensumstände entschlossen sich der wieder erstandene Freistaat und die wieder autonom gewordenen Kreise und Kommunen zu einem solidarischen Akt, welcher den besonderen Reichtum der sächsischen Kulturlandschaft bewahren und neue Wege zu deren künftiger Entwicklung eröffnen sollte. Mit diesem innovativen Gesetz hat sich Sachsen in ganz Deutschland zunehmenden Respekt erworben. Das sächsische Selbstverständnis hat sich inzwischen mit diesem Gesetz verbunden. Seine Vitalität ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass es ein realistisches Konzept kultureller Identität verwirklicht. Identität ist ein umkämpfter Begriff. Wer Kultur ausschließlich oder ganz überwiegend in einem rein individuellen Sinn versteht, empfindet den Begriff als Bedrohung. Eine solche Haltung verkennt die gemeinschaftsstiftende Rolle von Kultur. Kulturelle Gemeinsamkeit ist die Voraussetzung jedes sozialen Handelns. Eine Gesellschaft, die keine kulturellen Gemeinsamkeiten hat oder haben will, kann sich nicht darüber verständigen, wie den Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen und die Perspektiven der Zukunft zu verstehen sind. Wer freilich meint, im Zeitalter der Globalisierung würde die Gesellschaft ohnehin durch einen möglichst unbegrenzten Wettbewerb bewegt, der wird die Notwendigkeit kultureller Gemeinsamkeit und kultureller Identität nicht begreifen wollen. Es war jedoch nicht zuletzt ein solches Konzept, das uns in eine Finanz- und Wirtschaftskrise stürzte, weil es kulturelle Unterschiede vernachlässigte und stattdessen auf eine globale Gesellschaft setzte, welche englisch spricht und amerikanisch denkt. Die Globalisierung ist nur dann eine Chance, wenn man auf solche ideologischen Schimären nicht hereinfällt. Identität kann freilich auch im Sinne reiner Vergangenheitsbewahrung missverstanden werden. Wer nur auf die Tradition vertraut und sich allem Neuen verschließt, hat keine Zukunft. Dass eine Zeit radikalen Wandels zu einer solchen Haltung verführen kann, ist unbestreitbar. Wesentlich am Begriff der kulturellen Identität ist jedoch das geistig verbindende Moment im Denken und Verhalten der Gesellschaft. Das geistig Verbindende ist geschichtlich gewachsen und erinnert an die Werte der Vergangenheit. Daraus muss aber die Kraft erwachsen, auf die Zukunft zuzugehen und für deren Herausforderungen gemeinsame geistige Antworten zu finden. Darum gehören Identität und Dialog zusammen. Kulturelle Identität ist nur dann lebensfähig, wenn man sie in einem dynamischen Sinne versteht. Ein richtiges Verständnis kultureller Identität ist nicht nur wichtig, um den Sinn des Sächsischen Kulturraumgesetzes zu verstehen. Es muss sich insbesondere erweisen im Umgang mit zwei Entwicklungen, die zunehmend unsere unmittelbare Zukunft bestimmen werden: dem demografischen Trend zu einer schrumpfenden und alternden Gesellschaft einerseits und den Chancen und Risiken einer Einwanderungsgesellschaft andererseits. Dass beide Probleme eng zusammenhängen, ist unübersehbar.

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Manche Äußerungen über den Zusammenhang zwischen der Demografie Sachsens und der Zukunft des Kulturraumgesetzes lassen den Verdacht aufkommen, die erste, wenn nicht einzige Konsequenz aus der Bevölkerungsabnahme müsse es sein, das kulturelle Angebot zu reduzieren. Die demografische Katastrophe in Deutschland ist aber das Ergebnis kulturellen Versagens. Geschichtliche Ehrlichkeit gebietet es hinzuzufügen, dass dies heute für ganz Deutschland eine altbundesdeutsche Erbschaft ist. Die SED-Führung hatte nämlich die Gefahr erkannt und – keineswegs erfolglos – versucht, gegenzusteuern. Freilich waren es ganz überwiegend Maßnahmen, die nur in einem Mangelsystem greifen konnten und daher konkret für uns ohne Interesse sind. Überdies waren sie ideologisch motiviert. Trotzdem bleibt wahr: Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR nahmen erst 1990/91 die Zahlen der Geburten und der Eheschließungen um weit mehr als die Hälfte ab, und sie liegen seitdem – trotz gewisser Erholung – immer noch unter den entsprechenden Zahlen in den alten Bundesländern. Worin bestand nun das kulturelle Versagen der altbundesdeutschen Gesellschaft? Es war der mangelnde Wille, Familie und Elternschaft in eine realistische Beziehung zu bringen zur Gleichberechtigung der Frauen und zu deren mehrheitlichem Wunsch, auch die Chancen voller Berufstätigkeit leben zu können. Zugespitzt bestand die konservative Antwort darauf, am Konzept der traditionellen Familie mit dem Vater als Alleinverdiener so lange wie möglich festzuhalten und die berufstätige Mutter als begründungspflichtigen Sonderfall zu behandeln. Mit diesem Modell konkurrierte die progressive Antwort, welche meinte, die Familie und insbesondere die Ehe seien bürgerliche Institutionen, welche der Gleichberechtigung der Frau entgegenstünden. Beide Konzepte waren individualistisch orientiert und leugneten vehement die Berechtigung eines öffentlichen Interesses an der Zahl der Kinder in der Gesellschaft. Wer an den Zusammenhang von Familienpolitik und Bevölkerungspolitik erinnerte, konnte wahlweise als kommunistisch oder nazistisch beschimpft werden. Dass europäische Länder wie Frankreich längst mit Erfolg andere Wege gingen, interessierte nur wenige. Die Relevanz von Kultur für den Willen zur Familie und zu Kindern ergibt sich nicht zuletzt aus der Tatsache, dass kulturelles Erleben stets konkret und darum überwiegend lokal oder regional ist. Diese These lässt sich durch regionale Daten zur Familienbereitschaft untermauern. Eine der familienfreundlichsten Gegenden in Deutschland sind zum Beispiel die Stadt und der Landkreis Osnabrück. Das ist umso bemerkenswerter, als beide konfessionell seit Jahrhunderten nicht homogen sind und sowohl durch ihre Wirtschaft als auch durch ihre Hochschulen an der generellen Entwicklung teilhaben. Sie fallen also keineswegs aus den üblichen Mustern gesellschaftlicher Pluralität heraus. Gleichwohl wird in Osnabrück Familienfreundlichkeit parteiübergreifend als örtliches Markenzeichen betont und hochgehalten. Es gibt keinen Grund, warum das nicht auch für die sächsischen Kulturräume gelten sollte. Vergleichbares gilt für die multikulturelle Herausforderung, auch wenn diese in weiten Teilen Sachsens weniger durch die Zahl von Menschen mit Migrationshintergrund als leider eher indirekt durch engstirnige Ablehnung von „Fremden“ aktuell ist. In

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den Kulturräumen erweist sich nämlich konkret, dass kulturelle Identität nur dann zur Zukunft befähigt, wenn sie für Neues und Neue offen ist und dieses beziehungsweise diese in sich aufnehmen will. Kulturelle Begegnung bereichert. Schließlich sind die sächsische wie die deutsche Kulturgeschichte eine Geschichte gelungener Integrationen. Freilich gilt umgekehrt auch, dass derjenige, der die multikulturelle Karte ausspielt, um sich von der deutschen Kultur und von der deutschen Sprache zu distanzieren, der Integration einen Bärendienst leistet. Warum sollten sich Menschen, die zu uns kommen, in eine Gesellschaft integrieren wollen, die sich gerade sprachlich und kulturell von sich selbst verabschiedet? Tatsächlich kann eine Einwanderungsgesellschaft nur dann funktionieren, wenn sie das Willkommenheißen von Hinzukommenden selbstbewusst mit kulturellen Erwartungen an diese verbindet. Demografie und multikulturelle Herausforderung stehen in einem schwierigen Wechselverhältnis, zumal, wenn man die zunehmende kulturelle Differenz in der Gesellschaft mit bedenkt. Ist die zunehmende Zahl sogenannter „Alt-Junger“ unter den kulturell Interessierten eher eine Chance oder ein Problem? Einerseits erhöht sich so der Stellenwert des Vertrauten und als wertvoll Geschätzten, was wiederum die programmatische Arbeit erleichtert. Andererseits könnte durch das Gewicht von Tradition eine größere kulturelle Kluft entstehen, und zwar nicht nur zu den ins Land Dazukommenden, sondern zur nachfolgenden Generation insgesamt. Früher wuchsen die jungen Menschen meist in die vorgefundene Kultur hinein, um sie sich dann in einer Mischung von Zuneigung und Revolte anzuverwandeln und zu eigen zu machen. Heute ist „Jugendkultur“ weithin bestimmt durch die demonstrative Abgrenzung von der „bürgerlichen Kultur“ und durch die Absage an das kulturelle Gedächtnis. Wer näher hinsieht, stößt allerdings auf nicht wenige Jugendliche, deren kulturelle Neigungen durchaus dem nahestehen, was früher unter dem Streben nach Bildung verstanden wurde. Wird unser typisches Bild von der jungen Generation zu stark von einer mächtigen Unterhaltungsindustrie bestimmt, die sich ausschließlich an jene wendet, welche im Leben „ihren Spaß“ haben wollen? Und sind deren Massen-Events wirklich eine weiterführende Antwort auf individuelle Bindungslosigkeit? Kulturräume wären ein Ort, dies herauszufinden. Darum ist es fraglos richtig zu fordern, dass sich deren Kulturangebote stärker an veränderten Bedürfnissen orientieren und neue Vermittlungsformen erkunden müssen. Die Frage ist nur, was dies konkret bedeutet. Zwar kann man argumentieren, dass in Deutschland die Grenzen zwischen „ernster Kunst“ und „Unterhaltungskunst“ besonders scharf gezogen sind. Aber eine solche Feststellung ist nur dann hilfreich, wenn Menschen durch neue Angebotsformen auch Zugang zu anspruchsvolleren Kunstangeboten finden. Bisher scheint die Rede von „E“ und „U“ jedoch nur Letzterer genützt zu haben. Kein Weg führt an der Wahrheit vorbei, dass Kultur nur prägt, wenn sie auf ein Bedürfnis trifft. Und dass Kultur gerade daher auf ihren Anspruch nicht verzichten kann. Was dabei herauskommt, wenn sich Kultur nach demoskopisch ermittelten Wünschen richtet, kann täglich im deutschen Fernsehen besichtigt werden. Dessen kultureller Abstieg während der letzten zwanzig Jahre ist eklatant.

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Die Vitalität von Kultur beruht auf individueller Kreativität und individuellem Interesse. Daher ist der Wille zur Freiheit die wichtigste Voraussetzung für Kultur. Das gilt zunächst einmal für jede staatliche und gesellschaftliche Ordnung. Gerade in Zeiten der Unfreiheit kann Kunst zu einer Kraft werden, welche die Herrschenden herausfordert. Davon zeugt die ganze Kulturgeschichte. Das zeigen uns auch unsere Erfahrungen in der DDR. Kulturpolitik, welche der Freiheit verpflichtet ist, würde unglaubwürdig, wenn sie – wie ideologische Herrschaftssysteme – versuchen würde, künstlerische Inhalte und Ausdrucksformen zu beeinflussen oder gar vorzuschreiben. Vielmehr muss sie Kunst und Kultur in Freiheit ermöglichen. Darum verwirklicht sich freiheitliche Kulturpolitik in der Errichtung und im Erhalt kultureller Institutionen und in der absichtslosen Förderung von Kunstwerken und kulturellen Projekten. Sie verwirklicht sich ebenfalls in der tätigen Sorge dafür, dass das künstlerische Angebot und die Teilhabe am kulturellen Leben möglichst allen Bürgerinnen und Bürger offensteht. Denn diese Chance ist wiederum von ausschlaggebender Bedeutung für die gesellschaftliche Bindungswirkung von Kultur. Obwohl dynamische Kultur vom individuellen Engagement lebt, muss deshalb öffentliche Kulturpolitik selbstverständlich institutionenorientiert sein. Denn vor allem in Institutionen verwirklicht sich die Aufgabe des freiheitlichen Staates, kulturelles Leben und kulturelle Teilhabe in einem umfassenden Sinne zu ermöglichen. Die Behauptung, auf Institutionen käme es immer weniger an, ist modisches Gerede. Dahinter versteckt sich entweder das kulturelle Desinteresse der Reichen und Mächtigen oder deren Meinung, es käme allein auf ihre eigenen kulturellen Interessen an. In der politischen Auseinandersetzung nützt der antiinstitutionelle Affekt in aller Regel faktisch nur einem bornierten Fiskalismus. Mit dem Argument, der Staat müsse sich in Zeiten knapper Kassen auf seine Kernaufgabe konzentrieren, bestreitet er die kulturellen Aufgaben des Staates. Eine solche These widerspricht jedoch nicht nur dem Staatsverständnis der freiheitlichen Demokratie, wie es in Deutschland geschichtlich entstanden ist. Sie leugnet auch die Festlegung der Verfassung des Freistaates Sachsen in Artikel 11, nach der das Land „das kulturelle, das künstlerische und wissenschaftliche Schaffen“ fördert und „(d)ie Teilnahme an der Kultur in ihrer Vielfalt (…) dem gesamten Volk“ ermöglicht. Die kulturelle Zuständigkeit des Staates besteht also darin, zu fördern und zu ermöglichen. Damit hängt der Erfolg jedes kulturpolitischen Bemühens letztlich von der Bereitschaft und der Initiative der Bürgerinnen und Bürger ab. Ein solches wechselseitiges Verständnis von kultureller Aktivität und Vitalität entspricht unserem Verständnis von Freiheit. Die westliche Welt kennt auch ein anderes Verständnis von öffentlicher Verantwortung. In den USA spielt die öffentliche Förderung der Künste nur eine geringe Rolle und ist überdies in der öffentlichen Meinung stets umstritten. Ausmaß und Qualität des kulturellen Lebens hängen dort fast ausschließlich vom bürgerschaftlichen Engagement ab. Dessen dominierende Rolle entspricht dem generellen Verständnis der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft in den USA. Die US-amerikanische Kultur lebt also von der Intensität von Patriotismus und Bürgersinn in der US-amerikanischen

Muss sich Kultur rechnen?

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Gesellschaft. Dieses völlig andersartige Modell mag man bewundern; übertragen kann man es nicht. Denn es folgt aus dem kulturellen und ethischen Grundverständnis dieser Gesellschaft. Die USA sind zwar ein kultureller „Schmelztiegel“, aber die Gestalt des Tiegels wird bis heute bestimmt durch den hohen Stellenwert von Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, der für die calvinistischen Einwanderer nach New England lebensprägend war. Der Staat war ihnen immer nur ein lästiges und möglichst klein zu haltendes Übel. Zum west- und nordeuropäischen Demokratieverständnis gehört dagegen die Überzeugung von der Notwendigkeit öffentlicher Verantwortung für die Kultur wie für den sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft. Daher wäre es auch geschichtlich nicht gerechtfertigt, wenn wir unsere staatliche Kulturpolitik in eine monarchische Tradition und das bürgerschaftliche Kulturengagement in eine republikanische Tradition stellen würden. Im Übrigen sollte man sich von der Effizienz des US-amerikanischen Modells keine falschen Vorstellungen machen: Ein unvorstellbar großer personeller und finanzieller Einsatz zur Einwerbung privater Mittel führt nur zu einer für uns unvorstellbar kleinen Zahl kultureller Institutionen und Aktivitäten. Für die Zukunft der Kulturräume bleibt die Tatsache wichtig, dass Sachsens Gesicht von drei großen Städten und vielen mittleren und kleinen Städten geprägt ist. Schon früh in seiner Geschichte gehörte Sachsen zu den urbanisierten deutschen Ländern. Auch wenn die meisten Kulturräume an geschichtlich gewachsene Landschaften anknüpfen, so sind sie doch keineswegs „ländlich“. Zugespitzt könnte man sagen: Neben der heute meist menschenarmen Landwirtschaft konzentrieren sich gerade in der gefährdeten Situation vieler Klein- und Mittelstädte die demografischen und wirtschaftlichen Probleme Sachsens. Gelingt es nicht, diese in den Griff zu bekommen, dann besteht das künftige Sachsen aus drei großen Städten in einem weiten Naturpark mit einzelnen Wohnstätten und wenigen kulturellen Restbeständen. Niemand kann wissen, was uns die Zukunft bringen wird. In der Geschichte sind schon viele Kulturländer zu Wüsten geworden – meist als Folge des Handelns von Menschen. Daher wäre es leichtfertig zu meinen, die Antwort auf die gegenwärtige und künftige kulturpolitische Herausforderung könne darin bestehen, jenen in Sachsen, deren kulturelle Bedürfnisse nicht durch Buch, Hörfunk und Fernsehen in der eigenen Wohnung befriedigt werden, zu raten, doch nach Leipzig, Dresden oder Chemnitz zu fahren. Die Dramatik dessen, was auf unsere Gesellschaft in Sachsen und in ganz Deutschland zukommt, ist atemberaubend. Daher ist es dringend geboten, darüber nachzudenken, ob die gegenwärtigen Rahmenbedingungen für das kulturelle Leben ganz generell noch zukunftsfest sind – und ob die Abkehr vom kooperativen Föderalismus nicht eine große Torheit war. Im sächsischen Interesse lag diese Reform jedenfalls nicht und wird sie auch nie liegen. Die Vorstellung, Kultur sei zwar für die deutsche Gesellschaft wichtig, aber keine Bundesaufgabe, ist absurd – so absurd wie eine Bildungsrepublik ohne Bildungskompetenzen. Sachsen und die anderen durch die friedliche Revolution wieder erstandenen Länder haben in den Jahren nach der Einheit erfahren, wie wertvoll, ja, wie unverzichtbar das kulturpolitische Engagement des Bundes für sie war. Es

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Hans Joachim Meyer

ist höchste Zeit, das Wort vom Kulturföderalismus mit neuem Inhalt zu füllen. Sein Sinn sollte jedenfalls nicht darin bestehen, die kulturelle Zusammenarbeit von Bund und Ländern zu verhindern. Kultur lässt sich nicht rechnen. Kulturpolitik beruht auf gesellschaftlichen Wertentscheidungen. Gleichwohl muss sie das, was sie tut und bewirken will, rational begründen können. Nur in diesem Sinne ist Kulturpolitik auch eine Rechenaufgabe.

Autorinnen und Autoren

Kurt Biedenkopf Studium der Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre in den USA sowie in München und Frankfurt. 1964 Berufung zum Ordinarius für Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der Ruhr-Universität Bochum, die er von 1967 bis 1969 auch als Rektor leitete. 1971–1973 Mitglied der zentralen Geschäftsführung des Chemiekonzerns Henkel. Von 1973 bis 1977 Generalsekretär der CDU, ab 1976 nacheinander Mitglied des Deutschen Bundestages sowie der Landtage von Nordrhein-Westfalen und des Freistaates Sachsen, dessen Ministerpräsident er von 1990 bis 2002 war. Vorsitzender bzw. Mitglied verschiedener Beiräte und Kommissionen. Zahlreiche Publikationen. Heinz Bude Studium der Soziologie, Philosophie und Psychologie in Tübingen und Berlin. 1978 bis 1983 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, danach Projektmitarbeiter, Habilitationsstipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Tätigkeit als selbstständiger Sozialforscher. 1986 Promotion, 1994 Habilitation. Seit 1992 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und seit 1997 dort Leiter des Bereichs „Die Gesellschaft der Bundesrepublik“. 1996 Visiting Scholar am Center for European Studies der Cornell University. Seit 2000 Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel. Zahlreiche Zeitungsbeiträge und wissenschaftliche Aufsätze. Matthias Dreyer Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hannover, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität Hannover. Forschung zur Kulturökonomik, Promotion zur Museumsfinanzierung, unterrichtet Museumsmanagement, Non Profit Management, insbesondere Stiftungswesen, sowie Kulturmanagement an mehreren Universitäten. Zwischen 1996 und 2001 Referent im Amt für Koordinierung, Controlling und Stadtentwicklung der Landeshauptstadt Hannover, seit 2001 Leitung der Verwaltung der Stiftung Niedersachsen, Hannover. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Museums- und Stiftungsmanagement.

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Autorinnen und Autoren

Albrecht Göschel Studium der Architektur und Stadtplanung in Hannover und Berlin sowie der Soziologie, Sozialplanung, Sozialpolitik an der University of Essex, England. Promotion in Soziologie (Dr. rer. pol.) an der Universität Bremen. Tätig als Stadtplaner in München und Frankfurt/M., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Göttingen, Bremen, an der Hochschule der Künste Bremen, von 1987 bis 2006 Projektleiter am Deutschen Institut für Urbanistik, Berlin. Forschung und zahlreiche Publikationen zu Kultur- und Sozialpolitik, Generationenwandel in West- und Ostdeutschland, Wertewandel, allgemeiner Stadt- und Kommunalforschung, zur Zukunft der Stadt. Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff Studium der Rechtswissenschaften und Geschichte. 1982 zuerst Kulturamtsleiter, später Kulturdezernent und Stadtdirektor der Stadt Neuss, ab 1992 Kulturdezernent und später Stadtdirektor der Landeshauptstadt Düsseldorf. Von 2005 bis 2010 Kulturstaatssekretär beim Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, von 2005 bis 2006 zusätzlich Chef der Staatskanzlei. In Neuss machte er sich einen Namen mit dem Projekt der Stiftung Insel Hombroich, dem Erwerb des rekonstruierten Shakespeare-Theaters und dem Aufbau des Kulturforums Alte Post. In Düsseldorf gründete er zahlreiche Public-Private-Partnerships im Kulturbereich, u. a. zusammen mit der E.on AG die Stiftung Museum Kunstpalast, sowie das Projekt „Kultur und Schule“. Als Staatssekretär für Kultur des Landes NRW übertrug er dieses Projekt auf das ganze Land und initiierte u. a. die Stiftung „Jedem Kind ein Instrument (JEKI)“. Christoph Grunenberg Geboren und aufgewachsen in Deutschland. Studium der Kunstgeschichte mit Abschluss als Master of Arts und Ph.D. am Courtauld Institute of Art, University of London. Anschließend Tätigkeit an der National Gallery of Art in Washington, D.C., der Kunsthalle in Basel sowie am Institute of Contemporary Art in Boston, dort von 1995 bis 1999 Kurator und von 1997 bis 1998 geschäftsführender Direktor. Seit August 1999 Kurator bei den Sammlungen der Tate, London und seit März 2001 Direktor der Tate Liverpool. Kurator einer Vielzahl von Ausstellungen. 2007 Vorsitzender der Jury des Turner Preises. Dieter Haselbach Studium der Soziologie. 1991 Habilitation und Privatdozent, 1994 bis 1997 Associate Professor für Soziologie an der University of Victoria, B.C., Canada. 1998 bis 2000 Reader and Director of Politics and Modern History an der Aston University in Birmingham, U.K. Seit 2001 apl. Prof. an der Philipps-Universität in Marburg. Seit 1988

Autorinnen und Autoren

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bei der Unternehmensberatung culturplan, seit 2008 geschäftsführender Partner in der ICG culturplan GmbH in Berlin. Seit 2009 Geschäftsführer des Zentrums für Kulturforschung in Bonn. Veröffentlichungen zu Sozialer Marktwirtschaft, Kulturwirtschaft und Kultursoziologie sowie zahlreiche Beratungsberichte.

Pius Knüsel Nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Literaturkritik an der Universität Zürich Kulturredakteur beim Schweizer Fernsehen. Von 1992 bis1997 Programmleiter des Jazz Clubs MOODS und Mitglied des Direktoriums des Europe Jazz Networks. 1996 Programmleiter des ersten Jazznojazz-Festivals in Zürich. Von 1998 bis 2002 Leiter des Kultursponsorings der Credit Suisse. 2000 Mitbegründer des Forums Kultur und Ökonomie. Seit 2002 Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Sporadische Lehrtätigkeit im Fach Kulturmanagement an verschiedenen Universitäten. Ralph Lindner Studium der Kunstgeschichte, Archäologie und Neueren Geschichte in Bochum und Berlin. Zwischen 1997 und 2001 wissenschaftlicher Mitarbeiter, selbstständiger Kunstwissenschaftler und Unternehmensberater in den Bereichen Ausstellung, Kommunikation und Kunstmanagement. 2001 bis 2003 Leiter des Kunstfonds des Freistaates Sachsen. Seit 2003 Stiftungsdirektor der Kulturstiftung des Freistaates Sachsen und Geschäftsführer des Sächsischen Kultursenats. Seit 2006 Mitglied des Beirats des Bundesverbands Deutscher Stiftungen. Lehraufträge an der Technischen Universität Dresden und Veröffentlichungen zu Kunstpolitik und Kunstgeschichte. Karl Ulrich Mayer Studium der Germanistik, Philosophie und Soziologie in Tübingen, Spokane (Was.), New York und Konstanz. Promotion an der Universität Konstanz, wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten Frankfurt und Mannheim. Ab 1979 Programmdirektor, dann Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim. Seit 1979 Leitung der Deutschen Lebensverlaufsstudie. Von 1988 bis 1998 zusammen mit Paul Baltes Leiter der Berliner Altersstudie. 1983 Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und dort bis 2005 Leiter des Forschungsbereichs „Bildung, Arbeit und gesellschaftliche Entwicklung“. 2003–2010 Stanley B. Resor Professor für Soziologie an der Yale University und KoDirektor des Yale Center for Research on Inequalities and the Life Course (CIQLE). Seit 2010 Präsident der Leibniz-Gemeinschaft. Zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur Bildungspolitik.

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Autorinnen und Autoren

Hans  Joachim Meyer Studium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft in Potsdam. 1958 wegen „mangelnder Verbindung zur Arbeiterklasse“ exmatrikuliert, Beschäftigung im VEB Lokomotivbau Potsdam-Babelsberg. 1959 bis 1964 Studium der Anglistik und Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, anschließend Lehrer im Hochschuldienst und Oberassistent. 1971 Promotion, 1981 Habilitation, seit 1985 außerordentlicher Professor für angewandte Sprachwissenschaften. Von April bis Oktober 1990 Minister für Bildung und Wissenschaft der DDR, von 1990 bis 2002 Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst. 1997 bis 2009 Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Karl-Siegbert Rehberg Buchhändler, Journalist, Abgeordnetenassistent im Deutschen Bundestag, Studium der Soziologie und Politischen Wissenschaft in Köln und Aachen, Hochschullehrer seit 1986; seit 1992 als Gründungsprofessor Inhaber des Lehrstuhles für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden; seit 2009 Seniorprofessor der TU Dresden. 2003–2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Zahlreiche europäische Gastprofessuren und Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Beiräte. Zahlreiche Projekte und Publikationen zur Kunst- und Kultursoziologie. Arbeitsschwerpunkte: Soziologische Theorie (besonders Institutionenanalyse, Philosophische Anthropologie), Geschichte der Soziologie und Kultursoziologie (besonders Kunstsoziologie), 2011 Preis der Aby-Warburg-Stiftung. Gisela Staupe Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik in Münster und Berlin. Seit 1985 als Ausstellungskuratorin tätig. Seit 1991 am Deutschen Hygiene-Museum als Kuratorin (bis 1996), Leiterin des Forschungskollegs (bis 1993), Kuratorin für Sonderausstellungen (bis 1999). Seit 1999 Museums- und Ausstellungsleiterin und stellvertretende Direktorin sowie 1. Stellvertreterin des Vorstandsvorsitzenden der Stiftung Deutsches Hygiene-Museum. Kuratorin und wissenschaftliche Leiterin mehrerer Ausstellungen des Deutschen Hygiene-Museums. Veröffentlichungen und Publikationen zu „Szenographie und Ausstellungen“ und „Kulturelle Bildung“. Stanislaw Tillich Studium an der Technischen Universität Dresden mit Abschluss als Diplomingenieur für Konstruktion und Getriebetechnik, anschließend Konstrukteur in einem Elektronikunternehmen. Ab 1987 beim Rat des Kreises Kamenz, dann selbstständiger Unternehmer. Von März bis Oktober 1990 Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer der

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DDR. 1991 bis 1994 Beobachter, dann bis 1999 Mitglied des Europäischen Parlaments, anschließend Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten, gleichzeitig Bevollmächtigter des Freistaates Sachsen beim Bund, ab Mai 2002 Chef der Staatskanzlei. 2004 bis 2007 Staatsminister für Umwelt und Landwirtschaft, 2007 bis 2008 Staatsminister der Finanzen. Seit 2008 Ministerpräsident des Freistaates Sachsen.

Schrif­ten­deS­­ deut­Schen­hy­gie­neMu­Se­uMS­dreS­den

Band 4: Anke te Heesen, Petra Lutz (Hg.)

Im AuftrAg des deutschen hygIene-museums dresden hg. von gIselA stAupe.

2005. 194 S. 8 s/w- und 43 farb. Abb. auf 30 Taf. Br. ISBN 978-3-412-16604-5

dIngwelten dAs museum Als erkenntnIsort

Band 5:

Eine Auswahl.

Hans Joas (Hg.)

dIe Zehn gebote eIn wIdersprüchlIches erbe?

Band 2: Petra Lutz, Thomas Macho, Gislea Staupe, Heike Zirden (Hg.) der (Im-)perfek te mensch metAmorphosen von normAlItät und AbweIchung

2003. 483 S. 38 farb. u. 67 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-08403-5

Bearbeitet von Christian Holtorf. 2006. 188 S. Br. ISBN 978-3-412-36405-2

Band 6: Christian Holtorf, Claus Pias (Hg.) escApe! computerspIele Als kulturtechnIk

2007. 295 S. mit 24 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-01706-4

Band 3: Hartmut Böhme, FranzTheo Gott wald, Christian Holtorf, Thomas Macho, Ludger Schwar te, Christoph Wulff (Hg.) tIere eIne Andere AnthropologIe

TR808

2004. 329 S. 37 s/w-Abb. Br. ISBN 978-3-412-16003-6

Band 7:

Klaus-Dietmar Henke

tödlIche medIZIn Im nAtIonAlsoZIAlIsmus von der rAssenhygIene Zum mAssenmord

2008. 342 S. Br. ISBN 978-3-412-23206-1

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