Körper-Bewusstsein: Für eine Philosophie der Somästhetik 9783787321902, 9783787321704

In diesem elegant geschriebenen Buch entfaltet der Autor in Auseinandersetzung mit Foucault, Wittgenstein, Dewey und and

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Körper-Bewusstsein: Für eine Philosophie der Somästhetik
 9783787321902, 9783787321704

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Richard Shusterman (geb. 1949) ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Vertreter des Pragmatismus. Seit 2004 ist er Dorothy F. Schmidt Eminent Scholar in the Humanities an der Florida Atlantic University in Boca Raton und leitet dort das Center for Body, Mind, and Culture. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur somästhetischen Philosophie hat Shusterman u. a. zum Pragmatismus und zur analytischen Philosophie, zu Bourdieu, aber auch zur Kulturphilosophie, ostasiatischen Philosophie, Kunst und Populärkultur publiziert. Nebenbei praktiziert er seit zehn Jahren als Feldenkrais-Lehrer.

Richard Shusterman

Körper-Bewusstsein Für eine Philosophie der Somästhetik

Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heidi Salaverría

Meiner

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Body Consciousness. A Philosophy of Mindfulness and Somaesthetics in der Cambridge University Press.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2170-4 · ISBN E-Book: 978-3-7873-2190-2

© Richard Shusterman 2008 © für die deutsche Ausgabe: Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2012. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Kapitel 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

45

Somästhetik und Selbstsorge

Der Fall Foucault Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

85

Der schweigende, hinkende Körper der Philosophie

Somatisches Aufmerksamkeitsdefizit bei Merleau-Ponty Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

121

Somatische Subjektivität, somatische Unterwerfung

Simone de Beauvoir über die Geschlechter und das Altern Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

161

Wittgensteins Somästhetik

Erklärung und Verbesserung einer Philosophie des Geistes, der Kunst und der Politik Kapitel 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189

Tiefer ins Zentrum des Sturms

Die somatische Philosophie von William James Kapitel 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Die Rettung somatischer Reflexion

John Deweys Körper-Geist-Philosophie Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

287

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

In memoriam J. W. S., deren Körper mir Leben, Liebe und Bewusstsein schenkte.

… her pure and eloquent blood, Spoke in her cheeks and so distinctly wrought, That one might almost say, her body thought. She, she, thus richly, and largely housed, is gone. John Donne, »Of the Progress of the Soul: The Second Anniversary«

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Die Verkörperung stellt eine universale Eigenschaft des menschlichen Lebens dar. Das gilt auch für das Körperbewusstsein. Körperbewusstsein, so wie ich es verstehe, ist nicht bloß das Bewusstsein, das der Geist vom Körper als Objekt haben kann, sondern umfasst auch das verkörperte Bewusstsein, das ein lebendiger und empfindungsfähiger Körper sowohl auf die Welt richtet als auch in sich selbst erfährt. Durch solches Bewusstsein kann der Körper sich tatsächlich sowohl als Subjekt als auch als Objekt erfahren. Da der Begriff des Körpers zu häufig dem des Geistes gegenübergestellt und verwendet wird, um empfindungslose, leblose Dinge zu bezeichnen, und da der Begriff des Fleisches in der christlichen Kultur derart negative Konnotationen hat und sich darüber hinaus lediglich auf den fleischlichen Teil des Körpers bezieht, habe ich den Begriff Soma gewählt, um den lebendigen, fühlenden, dynamischen und wahrnehmenden Körper zu bezeichnen, der im Herzen des SomästhetikProjektes liegt, einem interdisziplinären – sowohl theoretischen als auch praktischen – Forschungsfeld. Ein Teil dieses Projektes betrifft die Gründe und Methoden zur Schärfung oder Erhöhung unseres gegenwärtigen Niveaus somatischen Bewusstseins, um unseren Selbstgebrauch zu verbessern und damit schließlich auch den traditionellen Anliegen der Philosophie näher zu kommen: der Erkenntnis, der Selbsterkenntnis, der Tugend, dem Glück und der Gerechtigkeit. Solche Fragestellungen des Körperbewusstseins stehen im Mittelpunkt dieses Buches, obwohl seine Überlegungen sich auch auf andere Dimensionen der Somästhetik erstrecken, einschließlich einer kritischen, verbessernden Perspektive auf Fragen der äußeren Körpererscheinung. Einige Kritiker nahmen an, Somästhetik sei lediglich eine Reflexion über die Körperverherrlichung in unserer Konsumgesellschaft, die sich im Wesentlichen den schönen Körpern in jenem stereotypen Sinn widmet, in dem Werbung und massenmediale Unterhaltung sie beharrlich einsetzen, um unser somatisches Denken zu beherrschen und verkümmern zu lassen. Aber ich vertraue darauf, dass KörperBewusstsein verdeutlichen wird, dass Somästhetik nicht nur kritisch | 9

mit Fragen umgeht, die die äußere Körperschönheit und andere darstellende somatische Normen betrifft, sondern gleichermaßen der kritischen, verbessernden Kultivierung der somatischen inneren Fähigkeiten wie der Wahrnehmung, den Gefühlen und dem Bewusstsein gewidmet ist. Das Soma ist unser grundlegendes, unveräußerliches Medium der Wahrnehmung, Handlung und des Denkens. Und doch ist die gesteigerte und fokussierte Aufmerksamkeit auf die eigenen Gefühle und Bewegungen lange – sogar von körperfreundlichen Philosophen – als eine destruktive Ablenkung kritisiert worden, die uns überdies durch ihre Selbstbezogenheit ethisch verderbe. Ich versuche solche Vorwürfe zu widerlegen, indem ich mich auf die einflussreichsten somatischen Philosophien des zwanzigsten Jahrhunderts beziehe und darüber hinaus Einsichten sowohl westlicher als auch asiatischer Disziplinen der Schulung einer Körper-Geist-Vergegenwärtigung integriere. Anstatt unlösbare ontologische Debatten über das Körper-Geist-Verhältnis wieder aufzuwärmen, besteht mein Ziel darin, die philosophische Erforschung dieses entscheidenden Zusammenhangs in eine fruchtbarere, pragmatistische Richtung zu lenken, die wichtige, aber vernachlässigte Verbindungen zwischen der Philosophie des Geistes, der Ethik, der politischen Theorie und den durchdringenden ästhetischen Dimensionen des alltäglichen Lebens verstärkt. *** Seit mehr als zehn Jahren arbeite ich im Forschungsfeld der Somästhetik, und dieses Buch legt am umfassendsten Rechenschaft ab von meiner Forschung auf diesem Gebiet, das sich aus meinen früheren Studien zu pragmatistischer Philosophie, Ästhetik und der Philosophie als Lebenspraxis entwickelt hat. Der von mir vertretene Pragmatismus stellt Erfahrung ins Zentrum der Philosophie und betrachtet Soma als den organisierenden Kern dieser Erfahrung. In meinem ersten auf Deutsch erschienenen Buch Kunst Leben1 unterstreiche ich nicht nur die prägende Rolle des Körpers bei der Schaffung und dem Verständnis von Kunst und argumentiere für eine Aufwertung des Körpers im Rahmen des ethischen Projekts der Richard Shusterman, Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus, übers. von Barbara Reiter, Frankfurt/M. 1994. 1

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Stilisierung des Selbst. Das Buch enthält auch eine ausführliche Würdigung von HipHop aufgrund seiner Verknüpfung philosophischen, politischen und körperlichen Bewusstseins durch leidenschaftlich rhythmische Poesie und Tanz. Mein zweites deutsches Buch (Vor der Interpretation2) macht darüber hinaus eine wertvolle Form von Verstehen stark, die unterhalb von Interpretation und sogar unterhalb von Sprache existiert. Paradigma eines solchen grundlegenden, unreflektierten und nichtsprachlichen Verstehens ist die somatische Erkenntnis. Aber ich bin auch – sowohl durch meine Tätigkeit als professioneller Feldenkrais-Praktiker als auch durch meine Arbeit mit Tänzern (die lange Zeit mein Denken inspirierten)  – zu der Schlussfolgerung gelangt, dass wir oftmals eine erhöhte, disziplinierte und reflektierte Vergegenwärtigung des Körpers benötigen, um dieses Verstehen zu verfeinern und die Handlungen und Vollzüge zu verbessern, die darauf zurückzuführen sind. In Philosophie als Lebenspraxis3 und in Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil4 behaupte ich, dass das Soma nicht nur den wesentlichen Ort darstellt, an dem sich der eigene Ethos und die eigenen Werte (und daher gewissermaßen die eigene Lebensphilosophie) körperlich manifestieren und auf attraktive Weise weiterentwickelt werden können. Das Soma dient auch als Medium, durch das die Wahrnehmungsfähigkeiten und die Fähigkeiten zum Vollzug durch kritische Reflexion verfeinert werden können, um den eigenen Gesichtskreis und die eigenen Handlungsspielräume für Tugendhaftigkeit und Glück zu verbessern. Im vorliegenden Buch werden diese Überlegungen in prüfender Auseinandersetzung mit Theorien und Argumentationen von sechs großen Körperphilosophen des zwanzigsten Jahrhunderts ausführlich entwickelt. Zugleich ziehe ich neue Forschungsergebnisse der Neurowissenschaften und der Psychologie heran und verknüpfe sie mit dem, was ich durch asiatische Meditations-Disziplinen und meine eigene professionelle Tätigkeit als somatischer Erzieher und Therapeut gelernt habe. Das Ders., Vor der Interpretation. Sprache und Erfahrung in Hermeneutik, Dekonstruktion und Pragmatismus, übers. von Barbara Reiter, Wien 1996. 3 Ders., Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus, übers. von Heidi Salaverría u. a., Berlin 2001. 4 Ders., Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, übers. von Robin Celikates, Heidi Salaverría u. a., Berlin 2005. 2

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vorliegende Buch, Körper-Bewusstsein, entwickelt das Projekt der Somästhetik weiter, indem es klarer aufzeigt, auf welche Weise die richtige Behandlung des Körper-Geistes auch die umfassenderen sozialen und kulturellen Zusammenhänge berücksichtigen muss, die das Soma gestalten, während die richtige Aufmerksamkeit auf das Soma umgekehrt dazu beitragen kann, jene Zusammenhänge zu verschieben. Deutsche Leserinnen und Leser, die mich als einen Philosophen kennengelernt haben, der in der Tradition des nordamerikanischen Pragmatismus steht, werden vielleicht überrascht sein, dass in diesem Buch der europäischen Philosophie mehr Kapitel gewidmet sind als der nordamerikanischen. Dies sollte nicht nur als Beleg für die charakteristische pluralistische Haltung pragmatistischer Offenheit gelesen werden, sondern auch als persönliches Zeugnis meiner tiefen Wertschätzung europäischer Kultur. Weil insbesondere französische Theorien (und Kulturen) der Verkörperung für mich eine wichtige Rolle spielen, hoffe ich, dass meine Kapitel zu Foucault, de Beauvoir und Merleau-Ponty zugleich meine Ehrerbietung und mein kritisches Verständnis ihrer Positionen zum Ausdruck bringen. Formuliert mein Buch einerseits Kritik an einer Tendenz in der französischen Philosophie, den Wert eines gesteigerten und reflektierenden Körperbewusstseins zu vernachlässigen, so kritisiert es andererseits am amerikanischen Pragmatismus die inadäquate Auseinandersetzung mit Sexualität, welche in der französischen Philosophie zu Recht als zentrale Dimension unseres verkörperten Lebens berücksichtigt wird. Wenn französische Philosophinnen und Philosophen zu wenig die Rolle des ausdrücklich aufmerksamen und reflektierenden somatischen Bewusstseins im Blick haben: liegt es vielleicht daran, dass die französische Sprache nicht so viele verschiedene Begriffe wie das Englische zur Verfügung stellt, um die verschiedenen Formen oder Ebenen des Bewusst-Seins zu bezeichnen? Im Englischen können wir das Wort awareness (Vergegenwärtigung) als Alternative zum Begriff des Bewusstseins (consciousness) verwenden und auf diese Weise eine andere Nuance bzw. eine reflektierte Intensivierung des Bewusstseins bezeichnen. Wir können daher davon sprechen, dass wir uns nicht nur eines körperlichen Gefühls bewusst sind, sondern auch, dass wir uns dieses bewusste Gefühl vergegenwärtigen. Im 12 | vorwort zur deutschen ausgabe

Französischen gibt es keinen alternativen Begriff für awareness, um die Wahrnehmung oder die verschiedenen Ebenen des Bewusstseins zu bezeichnen. Es gibt einfach conscience. Folglich regt die französische Sprache selbst das philosophische Denken nicht dazu an, über die Vorstellungen elementaren Bewusstseins und elementarer Aufmerksamkeit hinauszugehen zu höheren Ebenen gesteigerten Selbstbewusstseins oder reflexiver Achtsamkeit. Vielleicht ist die deutsche Sprache besser ausgerüstet, um diese verschiedenen Ebenen hervorzuheben, aber auch das Deutsche bringt seine eigenen Herausforderungen mit sich, um meine somatische Philosophie zu übersetzen – wie etwa seine zwei verschiedenen Begriffe Körper und Leib, für die es im Englischen nur einen Begriff, nämlich body, gibt. Weil meine somästhetischen Argumente sich so oft auf das Soma als empfindende Subjektivität konzentrieren und darauf, wie dessen Wahrnehmungsvermögen sich durch die Kultivierung des Körperbewusstseins verbessern lässt, fragen deutsche Kollegen häufig, warum ich darauf bestehe, sogar in deutschen Übersetzungen meiner Texte den Begriff des Soma anstelle des Leibs zu verwenden, der die Sinnessubjektivität und die Anerkennung somatischer Gefühle und Wahrnehmungen hervorheben würde. Meine Präferenz für den Begriff Soma hängt nicht nur damit zusammen, dass mir die Leib-Körper-Unterscheidung nicht vollständig klar ist, die überdies im deutschen philosophischen Diskurs durchaus umstritten ist.5 Sie hängt auch damit zusammen, dass Somästhetik ebenso sehr den Körper wie den Leib behandelt, da sie auch die äußere Darstellung des Körpers und seiner körperlichen Vollzüge für die ästhetische Stilisierung des Selbst erforscht. Von Anfang an habe ich betont, dass die somästhetische Sorge um die äußere Körperform im Wesentlichen kritisch und verbessernd sein sollte. Sie sollte darauf abzielen, die bedrückende Ausschließlichkeit stereotyper Schönheitsideale in Frage zu stellen und auf diese Weise die Spielräume ästhetischer somatischer Gestaltung des Selbst und ästhetischer Wertschätzung anderer Körper, die nicht Das betrifft beispielsweise die gegensätzlichen Varianten, in denen die Husserlsche Phänomenologie und Helmut Plessners philosophische Anthropologie die Leib-Körper-Unterscheidung bestimmen. Siehe dazu Shusterman, Soma und Psyche, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59 (2011) 4: 539 – 552. 5

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in die eingefleischten gesellschaftlichen Stereotype passen, zu vergrößern. Doch ich begriff bald, dass die herrschende Körperideologie, die unsere durch die Werbung verblendete Lebenswelt durchdringt, diese Botschaft überschattete. Sogar gute philosophische Köpfe schlussfolgerten, Somästhetik sei im Grunde ein Symptom dieser oberflächlichen, narzisstischen und gewinnsüchtigen Welt verführerischer gefälliger Trugbilder. Deswegen ist es notwendig, zunächst die meditativen, kognitiven und wahrnehmungsbezogenen Dimensionen von Somästhetik hervorzuheben, um das Vorurteil zu überwinden, dass die Kultivierung der ästhetischen somatischen Erfahrung zwangsläufig eine seichte und triviale Angelegenheit sei. Dennoch habe ich immer darauf beharrt, dass die somästhetische Stilisierung der äußeren Form des Körpers kein oberflächliches und unkritisches Projekt sein muss, da ich glaube, dass Stil den Kern der Persönlichkeit berührt.6 Darüber hinaus geht die somästhetische Beschäftigung mit dem physischen Körper weit über die oberflächliche körperliche Erscheinung hinaus. Sie erstreckt sich auf seine anatomischen, physiologischen und neurologischen Funktionen, deren besseres Verständnis genutzt werden kann, um sowohl unsere Wahrnehmung und unsere sensomotorischen Kräfte zu verbessern als auch die Fähigkeit, für unser äußeres Erscheinungsbild zu sorgen und diesem unseren Stil zu verleihen. Kurzum, das Konzept des Soma, das in der Somästhetik entfaltet wird, umfasst sowohl den Körper als auch den Leib, denn Somästhetik befasst sich intensiv mit beiden Perspektiven und betrachtet sie – durch ihre produktiv aufeinander abgestimmte Wechselwirkung – als grundlegenden Bestandteil menschlicher Existenz und Erfahrung. Für die deutsche Leserschaft dieses Buchs über Somästhetik sollte ich anmerken, dass ich diese Idee zum ersten Mal nicht im Englischen, sondern in einer deutschen Veröffentlichung entwickelt habe, nämlich in Vor der Interpretation. Ich konnte dort das Konzept nur sehr knapp und schematisch einführen, da Somästhetik sich noch in einem frühen Entwicklungsstadium befand. Wie viele andere neue Ideen löste sie zu Beginn die in solchen Fällen übliche Siehe z. B. Richard Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, a. a. O., Kap. 9 sowie ders., Somatic Style, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 69 (2011) 2, 143 – 155. 6

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Mischung aus Neugier, Argwohn, Widerstand und Spott aus. Ein Rezensent der FAZ (28. 11. 1996) zum Beispiel zog es vor, sich mokant auszumalen, »dass man sich bei der Lektüre Kants geißeln, bei der Nietzsches bergsteigen und der Heideggers Atemübungen ausführen sollte« – statt meine beginnende Darstellung der Somästhetik zu analysieren. Es überstieg offenbar die Vorstellungskraft des Rezensenten, dass Somästhetik auch Aktivitäten umfasst, die sich nicht auf das Lesen philosophischer Texte beschränken, dass sie tatsächlich der Ausübung von Körperpraktiken bedarf, die über textuelle Praktiken hinausgehen. Diese praktische Dimension von Somästhetik ist äußerst wichtig, und ich versuche, sie durch praktische Workshops zu vermitteln. Doch schriftliche philosophische Vermittlung ist in diesem pluralistischen und interdisziplinären Unternehmen ebenfalls grundlegend. Darauf zu bestehen, dass das Verstehen und die Verbesserung somatischer Erfahrung nach mehr verlangt als Sprache heißt nicht, dass Sprache nicht wichtig wäre für die Förderung von Disziplinen, die mehr als linguistisch sind. Auf die gleiche Weise bedeutet die Anerkennung der Tatsache, dass spontanes somatisches Verstehen für unsere Wahrnehmung und unsere Handlungsvollzüge wesentlich sind, nicht, dass kritisches reflektierendes Körperbewusstsein nicht ebenso erforderlich und ausgesprochen nützlich ist, um unser spontanes Verhalten zu korrigieren oder zu verbessern. Beides sollte im richtigen Zusammenhang und in der richtigen Abstimmung aufeinander eingesetzt werden. Diese Botschaft verbessernden Pluralismus ist analog zu der, die ich in meinem Buch Kunst Leben vermittelt habe, in dem der Wert von sowohl populärer als auch hoher Kunst verteidigt wurde. Dieses Buch hat bereits von hilfreichen Fragen und der Kritik vieler Kommentatoren und Übersetzer meiner früheren Arbeiten zur Somästhetik profitiert. Ich möchte jedoch schließen, indem ich drei Personen danke, deren Beitrag zu dieser deutschen Version besonders hervorhebenswert ist. Marcel Simon-Gadhof vom Felix Meiner Verlag hat dieses Buch in der Blauen Reihe willkommen geheißen und lektoriert und macht es damit einem breiteren Publikum zugänglich. Professor Hans-Peter Krüger hat mit mir an einem dreijährigen Humboldt-Forschungsprojekt über somatische Philosophie zusammengearbeitet, die mein Denken zu diesem Thema in Bezug auf die deutsche Philosophie und Sprache anregte. Vor allem vorwort zur deutschen ausgabe | 15

möchte ich Dr. Heidi Salaverría danken, deren philosophische und linguistische Fähigkeiten ich nicht nur durch ihre früheren Übersetzungen meiner Arbeit ins Deutsche schätzen gelernt habe, sondern auch durch ihre eigenen philosophischen Texte. Leser, die das Vergnügen haben, diese deutsche Version von Körper-Bewusstsein zu lesen, sollten ihr, so wie ich es bin, für ihren Einsatz sehr dankbar sein. Boca Raton, im Mai 2012

16 | vorwort zur deutschen ausgabe

Vorwort zur amerikanischen Ausgabe

Unsere zeitgenössische Kultur leidet zunehmend unter Problemen der Aufmerksamkeit, unter Überreizung und Stress, und sie wird geplagt von wachsender persönlicher und sozialer Unzufriedenheit, die durch trügerische Körperbilder erzeugt wird. Das vorliegende Buch argumentiert dafür, dass ein verbessertes Körperbewusstsein dazu beiträgt, diese Probleme abzubauen und dadurch unsere Erkenntnisse und Vollzüge zu verbessern und unsere Lebensfreude zu steigern. Wenn das Thema Körperbewusstsein nicht unbedingt nach dem Geschmack konventioneller Philosophie ist, dann liegt das nicht daran, dass die Philosophie schon immer den Körper ignoriert hat, wie viele Verteidiger des Somatischen gerne behaupten. Der Körper ist tatsächlich auf sehr machtvolle (wenn auch größtenteils negative) Weise gegenwärtig bei der hartnäckigen Privilegierung des Denkens und des Geistes seitens der Philosophie. Sein vorherrschend negatives Bild – als Gefängnis, Ablenkung, Quelle von Irrtümern und von Korrumpierbarkeit – wird durch idealistische Vorurteile und die idealistische Missachtung somatischer Kultivierung, die westliche Philosophen generell an den Tag legen, sowohl widergespiegelt als auch verstärkt. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass Philosophie in der Antike als ausdrücklich verkörperte Lebensweise praktiziert wurde, in der somatische Disziplinen oftmals eine wichtige Rolle spielten, auch wenn solche Disziplinen manchmal einen für den Körper nahezu strafenden Charakter annahmen, in Philosophien, die glaubten, Geist und Seele würden durch strenge somatische Askese mehr Freiheit und Macht erlangen. Plotin beispielsweise war (seinem ihn bewundernden Biographen Porphyrios zufolge) so »beschämt darüber, in seinem Körper zu sein«, und so sehr bestrebt danach, ihn zu transzendieren, dass er nicht nur seine Ernährung drastisch einschränkte, sondern sich sogar »mit dem Besuch des Bads zurückhielt«. Auch heute noch, da Philosophie von einer globalen Lebenskunst zu einem engen Feld akademischen Diskurses zusammengeschrumpft ist, behält der Körper als theoretische (und manchmal machtvoll politische) Abstraktion eine unverändert starke Präsenz. | 17

Die Vorstellung, die Kultivierung des Körpers für ein gesteigertes Bewusstsein und für philosophische Einsichten zu nutzen, erschiene den meisten Philosoph/inn/en vermutlich als peinliche Verirrung. Ich hoffe, dass ich dieses Vorurteil entkräften kann. Anders als die Philosophie hat die Kunst im Allgemeinen dem Körper eine sehr bewundernde und verehrungsvolle Aufmerksamkeit zukommen lassen. In der Kunst hat man gemerkt, wie machtvoll und präzise sich unser geistiges Leben im Körperausdruck manifestiert, und daher gezeigt, wie die subtilsten Nuancen von Überzeugungen, Wünschen und Gefühlen sich in der Gestik und Haltung unserer Erscheinung und unseres Gesichtsausdrucks widerspiegeln. Gleichwohl haben Künstler, in ihrer Vergötterung des menschlichen Körpers, diesen normalerweise bevorzugt als das attraktive Objekt des Bewusstseins einer anderen Person portraitiert statt als strahlender Ausdruck des somatisch subjektiven erkundenden Bewusstseins des verkörperten Selbst. Frauen, insbesondere junge, verletzliche Frauen sind häufig Gegenstand solcher Objektivierungen und werden gerne als verführerisches sinnliches und williges Fleisch zum gierigen Ergötzen des Betrachters dargeboten. Das Streben des Künstlers danach, die Schönheit des Körpers als eines begehrenswerten Objekts zu glorifizieren, resultiert darüber hinaus oft in stilistischen Übertreibungen, die ein trügerisches Bild von körperlicher Leichtigkeit und Anmut propagieren. Solche Probleme können in dem Bild ausfindig gemacht werden, das auf dem Umschlag dieses Buchs zu sehen ist und die berühmte Badende von Valpincon von Ingres aus dem Jahr 1818 zeigt, aus seiner Serie gefeierter Haremsbilder und Darstellungen eines türkischen Bads, auf denen nackte Odaliske (weibliche Sklaven oder Harems-Konkubinen) portraitiert werden. Die junge Frau auf dem Bild posiert passiv auf einem Bett in einem luxuriösen und mit Vorhang ausgestatteten Interieur, ist frisch gebadet, nackt und bereit für den verlangten sexuellen Dienst. Sie präsentiert die liebreizende und leuchtende Rückseite ihres Körpers. Doch in ihrer statischen Pose, mit ihrem im Schatten befindlichen und abgewendeten Kopf und ihrem für uns unsichtbaren Gesicht und Blick, entwickeln wir kein Gefühl dafür, inwiefern sie ein aktives gedankenvolles Bewusstsein hat. Sie scheint sich sogar der Nähe des im Bild impliziten Betrachters nicht bewusst zu sein, der sie in fast vollständiger Nacktheit 18 | vorwort zur amerikanischen ausgabe

sieht, abgesehen von dem um ihr Haar gewickelten Turban und dem Handtuch an ihrem Arm – die dabei eher die Angebundenheit an ihre Leibeigenschaft als Bedeckung und Schutz suggerieren. Ingres intensiviert überdies die visuelle Schönheit und die erotische Aufladung der Frau durch die Art, wie er die Haltung und Anordnung ihrer Beine, ihres Rückens und ihres Kopfs darstellt, wodurch er ihre anmutigen langen Gliedmaßen und Kurven hervorhebt. Doch ist die Haltung weit davon entfernt, der Bequemlichkeit oder gar effektivem Handeln zuträglich zu sein. Was für ein Schock, als ich erfuhr, dass die Marketingabteilung dieses schöne, jedoch schmerzhaft irreführende für den Umschlag der amerikanischen Ausgabe meines Buchs über Körperbewusstsein ausgewählt hatte! Als Kritiker der trügerischen Objektivierungen des Körpers in unserer Medienkultur sowie als Feldenkraistherapeut, der für die Belastungen und Schmerzen der Wirbelsäule sensibilisiert ist, äußerte ich meine Bedenken. Mit Entschiedenheit wurde mir jedoch mitgeteilt, dass die überwiegende Mehrheit meiner potenziellen Leser nur durch die Schönheit des Ingres angezogen werden würde und niemals die unansehnlichen sozialen und somatischen Implikationen bemerken würde. Wenn das wirklich zutrifft, dann sind die Argumente dieses Buchs umso notwendiger, um ihnen die Augen für andere Formen und eine andere Schönheitsvorstellung des Körperbewusstseins zu öffnen. Beurteilen Sie dieses Buch nicht nach seinem Umschlag! Es ist jedoch ganz leicht nachvollziehbar, warum Künstler sich auf die schöne Darstellung der äußeren Form des Körpers konzentrieren und warum Philosophen das Thema Körperbewusstsein befremdlich finden und lieber über den Geist nachdenken. Denn Körper sind der klarste Ausdruck menschlicher Sterblichkeit, Imperfektion und Schwäche (inklusiver moralischer Schwäche), daher steht Körperbewusstsein, für die meisten von uns, in erster Linie für ein Gefühl der Unzulänglichkeit, dafür, weit zurückzubleiben hinter den herrschenden Schönheits-, Gesundheits- und Leistungsidealen – ein Punkt, der auch darauf hindeutet, dass Körperbewusstsein immer mehr ist als nur das Bewusstsein des eigenen Körpers. Darüber hinaus konzentriert man sich, trotz seines Anteils an intensiver Lust, vielleicht am stärksten und entschiedensten auf seinen Körper in der Erfahrung des Schmerzes. Verkörperung suggeriert darum eine unbehagliche Verletzlichkeit oder etwas Schlechtes, vervorwort zur amerikanischen ausgabe | 19

sinnbildlicht in Paulus Erklärung: »Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt.« Die Kultivierung von Körperbewusstsein ist darum immer wieder als psychologische, kognitive und moralische Gefahr attackiert worden, obwohl die Tatsache, dass die Philosophie sich der Selbsterkenntnis verschrieben hat, eigentlich die Schulung einer erhöhten somatischen Gegenwärtigkeit zur Folge zu haben scheint. Kant beispielsweise verurteilt aufs Schärfste somatische Introspektion, obwohl er die Selbstprüfung als entscheidende Pflicht betrachtet (und trotz seiner akribischen persönlichen Aufmerksamkeit auf Details seiner Ernährung und Körperertüchtigung). Auch William James warnt davor, dass ein erhöhtes Bewusstsein für die körperlichen Mittel beim Handeln zum Scheitern hinsichtlich des gesetzten Ziels führe. Funktionieren unsere Körper wirklich am besten, wenn wir sie so weit wie möglich ignorieren, statt auf achtsame Weise zu versuchen, ihr Funktionieren anzuleiten? Wie sollen wir diesen Ansporn zum Nichtdenken mit dem philosophischen Ziel kritischer Reflexion vereinbaren? Wie sollen wir ohne kritisches somatisches Bewusstsein falsche Gewohnheiten korrigieren und unseren somatischen Selbstgebrauch verbessern können? Wenn die Philosophie der Maxime des »Erkenne dich selbst!« verschrieben bleibt, wie können wir dann unser somatisches Selbst, unsere somatischen Gefühle und unser somatisches Verhalten erkennen? Wenn Philosophie gleichermaßen dem Ziel der Selbstverbesserung und der Selbstsorge verschrieben ist, könnten gesteigerte Fähigkeiten somatischer Gegenwärtigkeit es uns ermöglichen, unser Verhalten besser zu kontrollieren und zu dirigieren, mit unserem Schmerz besser umzugehen oder diesen zu verringern und auf fruchtbarere Weise unsere Lust zu multiplizieren? Wie sollen wir zwischen hilfreichen und nicht hilfreichen Formen des Körperbewusstseins unterscheiden? Wie sollen wir eine kritische körperliche Achtsamkeit mit den Anforderungen nach einer geschmeidigen Spontaneität im Handeln verknüpfen? Gibt es spezielle Prinzipien oder Methoden somatischer Introspektion, um unser Körperbewusstsein zu verbessern und um dann diese gesteigerte Gegenwärtigkeit für eine verbesserte Wahrnehmung und verbesserte sensomotorische Vollzüge zu nutzen? Auf welche Weise hängen solche Methoden mit den Kämpfen derjenigen Menschen zusammen, deren Körper dazu herhalten, ihren untergeordneten 20 | vorwort zur amerikanischen ausgabe

sozialen Status zu betonen? Wie erweitert somatische Propriozeption unser traditionelles Bild von den Sinnen und ihrer Rolle in der Wahrnehmung und im koordinierten Handeln? Ist Körperbewusstsein nichts weiter als ein ungelenker Begriff, um das reflexive Bewusstsein des Geistes vom Körper als eines externen Objekts zu bezeichnen, oder gibt es wirklich körperliche Formen der Subjektivität, Intentionalität und Gegenwärtigkeit? Solche Fragen und viele andere, die mit dem Körperbewusstsein zusammenhängen, werden in diesem Buch behandelt, das das Ergebnis eines gleichermaßen theoretischen wie praktischen Ringens mit dieser Frage für wenigstens eine Dekade darstellt. Obwohl dieses Ringen sich weiter fortsetzt, markiert dieses Buch ein erhebliches Maß an Fortschritt in meinem fortlaufenden Projekt der Somästhetik, das aus früheren Arbeiten zum philosophischen Pragmatismus als einer Philosophie des Lebens entstanden ist. Der Pragmatismus, für den ich eintrete, stellt Erfahrung in den Mittelpunkt der Philosophie und feiert den lebendigen, empfindenden Körper als organisierendes Zentrum von Erfahrung. In meinem Buch Kunst Leben. Die Ästhetik des Pragmatismus (Pragmatist Aesthetics, 1992), das die Kunst der Selbststilisierung umfasst, unterstreiche ich die formgebende Rolle des Körpers. Der Körper ist nicht nur der entscheidende Ort, an dem das eigene Ethos und die eigenen Werte sich körperlich manifestieren und auf attraktive Weise entwickelt werden können, sondern er ist auch der Ort, an dem das eigene Vermögen der Wahrnehmung und des Vollzugs verfeinert werden kann, um das eigene Denken und die Kompetenz für Tugendhaftigkeit und Glück zu verbessern. In diesem Zusammenhang führte Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus (Practicing Philosophy: Pragmatism and The Philosophical Life, 1997) den Begriff der Somästhetik als theoretisches und praktisches Feld ein, das später in Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil (Performing Life, 2000) weiter ausgeführt wurde. Dieses Buch stellt eine weitere Vertiefung des somästhetischen Projekts dar, mit einer viel ausführlicheren Aufmerksamkeit auf Fragen des Körperbewusstseins und ihrer problematischen Behandlung durch philosophische Denker des zwanzigsten Jahrhunderts. Ich ziehe es oftmals vor, von Soma statt vom Körper zu sprechen, um zu betonen, dass es mir um den lebendigen, fühlenden, wahrnehmenden und zweckvorwort zur amerikanischen ausgabe | 21

mäßigen Körper geht statt um einen lediglich physischen Korpus aus Fleisch und Knochen. Und wirklich, wenn ich nicht die Sorge gehabt hätte, das Buch durch einen auf linkische Weise fachterminologisch klingenden Titel zu belasten, hätte ich es vielleicht »Somatisches Bewusstsein« oder sogar »Somästhetisches Bewusstsein« genannt, um die negativen Assoziationen des Begriffs »Körper« zu vermeiden. Ich bin der Florida Atlantic University, an der ich (worüber ich sehr glücklich bin) den Dorothy-F.-Schmidt-Eminent-Scholar-Lehrstuhl innehabe, für ihre großzügige Unterstützung sehr dankbar. Drei weitere Institutionen haben auf besondere Weise meine Arbeit an diesem Buch unterstützt. Die Universität von Oslo lud mich freundlicherweise ein, bei ihnen den Monat Mai des Jahres 2006 zu verbringen, um meine somästhetischen Forschungen in einer interdisziplinären Forschungsgruppe zu Literatur und Krankheit zu diskutieren (ein besonderer Dank an Knut Stene-Johannsen und Drude von der Fehr). Im Herbstsemester 2006 veranstaltete die Université de Paris 1 Panthéon-Sorbonne (mithilfe von Dominique Chateau, Marc Jimenez und Jacinto Lageira) liebenswürdigerweise eine Vorlesungsreihe, in der ich die wichtigsten abschließenden Argumente des vorliegenden Buchs in einer fremden Sprache erproben konnte. Zuvor hatte mich die Hiroshima Universität (auf die Empfehlung von Satoshi Higuchi) großzügigerweise eingeladen, das gesamte akademische Jahr 2002–2003 dort als Gastprofessor (ohne Lehrverpflichtung) zu verbringen, um meine somästhetischen Forschungen voranzutreiben, und ermöglichte mir eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Japans außergewöhnlichen Körper-Geist-Disziplinen, von der Meditation bis zu den Kampfkünsten. Der Höhepunkt jenes Jahres war der Zeitraum, in dem ich in einem Zen-Kloster lebte und meditierte, dem Shorinkutsu-Dojo, das auf einem Hügel bei dem Küstenort Tadanoumi an einem wunderschönen Inlandsee liegt. Ich bin meinem Zen-Meister, Roshi Inoue Kido, für seine hervorragenden Anleitungen außerordentlich dankbar, in denen er auf verblüffende Weise kompromisslose Disziplin mit herzlicher Zugewandtheit verbindet. Es gab in dieser Zeit Momente inneren Kampfes, der Frustration, des Scheiterns, von Scham und Schmerz. Aber ich kann mich an kein vollkommeneres Glück erinnern und an 22 | vorwort zur amerikanischen ausgabe

keine größere Wahrnehmungsschärfe als die, die ich durch Roshis Anleitung erfahren habe. Diese Zen-Erfahrung hat mich in meinem Glauben bestärkt, dass trotz der Probleme und Risiken somatischen Bewusstseins seine disziplinierte Kultivierung (in angemessener Form, mit angemessenem Fokus und im angemessenen Kontext) sich als unschätzbares Werkzeug erweisen kann für die Gestaltung eines philosophischen Lebens der Selbstentdeckung und der Selbstverbesserung, die auch über das Selbst hinausgeht. Ich habe diese Überzeugung zum ersten Mal gewonnen durch meine vierjährige Ausbildung zum Feldenkrais-Trainer und meine darauf folgende Ausübung der Tätigkeit, ebenso wie durch einige frühere Erfahrungen mit der AlexanderTechnik. Diese Körper-Geist-Disziplinen haben mich eine wichtige Lektion gelehrt: dass das philosophische Verständnis des Körperbewusstseins gesteigert werden kann durch praktisches Training in Disziplinen reflexiver somästhetischer Vergegenwärtigung; dass unser somatisches Bewusstsein normalerweise auf eine Weise fehlerhaft ist, die systematisch unsere Vollzüge gewohnheitsmäßigen Handelns behindert, die uns eigentlich in der effektiven Durchführung leicht fallen sollten, sich aber dennoch als schwierig, sperrig oder schmerzhaft erweisen, und dass somästhetische Einsichten uns mit kreativen Strategien versorgen können, durch die wir solche falschen Gewohnheiten und andere somatische, psychologische und verhaltensbezogene Störungen überwinden können. Körperbewusstsein ist deswegen nicht, wie viele beklagen, etwas, dessen Kultivierung nur die Jungen, Starken und Schönen anspricht. Obwohl Alter und Gebrechlichkeit ein befremdliches somatisches Bewusstsein mit sich bringen, das wir zu vermeiden versuchen, wird die Notwendigkeit doch, je älter wir werden, umso größer, durch unsere Körper zu denken, um unseren Selbstgebrauch und unsere Vollzüge für den effektiven Verfolg unserer täglichen Aktivitäten und der Ziele, nach denen wir streben, zu verbessern. Ich weiß dies nicht nur durch die Erfahrung der Sorge für andere als Feldenkrais-Lehrer, sondern auch durch meine persönliche Erfahrung des Alterns. Ich bin nicht nur meinen Lehrern in somatischen Disziplinen der Achtsamkeit dankbar, sondern auch den vielen Wissenschaftlern, die dazu beigetragen haben, das Feld der Somästhetik durch krivorwort zur amerikanischen ausgabe | 23

tische Analyse und erkundende Interpretationen zu verfeinern, weiter zu entwickeln und auszudehnen, auf Gebieten, die von Tanz und Kunstperformances über Feminismus, Drogenpädagogik und Sport bis zur Spiritualität reichen. Indem ich mich auf einen Ausschnitt aus englischen Veröffentlichungen beschränke, möchte ich insbesondere die Diskussionen von Jerold K. Abrams, Peter Arnold, Deanne Bogdan, Jon Borowicz, Liora Bressler, David Granger, Gustavo Guerra, Casey Haskins, Kathleen Higgins, Robert Innis, Martin Jay, James Scott Johnson, Thomas Leddy, Barbara Montero, Eric Mullis, Richard Rorty, Simo Säätelä, Shannon Sullivan, Ken Tupper, Bryan Turner und Krystyna Wilkoszewska hervorheben. Ebenfalls Dank schulde ich den talentierten Philosophen, deren Übersetzungsarbeit mich oftmals dazu brachte, meine Sichtweise zu verfeinern und zu überdenken: Jean-Pierre Cometti, Peng Feng, Wojciech Małecki, Fuminori Akiba, Nicolas Vieillescazes, Alina Mitek, József Kollár, Satoshi Higuchi, Emil Visnovsky, Ana-Maria Pascal, Jinyup Kim, K.-M. Kim und Barbara Formis. Bei der Erprobung der Überlegungen dieses Buchs in vorangegangenen Artikeln konnte ich mich glücklich schätzen über die vielen hilfreichen Kommentare vieler Kollegen, die zu nennen hier den Rahmen sprengen würde. Danken möchte ich besonders Roger Ames, Takao Aoki, Richard Bernstein, Gernot Böhme, Peg Brand, Judith Butler, Taylor Carman, Vincent Colapietro, Arthur Danto, Mary Devereaux, Pradeep Dhillon, George Downing, Shaun Gallagher, Charlene Haddock-Seigfried, Mark Hansen, Cressida Heyes, Yvan Joly, Tsunemichi Kambayachi, Hans-Peter Krüger, Morten Kyndrup, José Medina, Christoph Menke, James Miller, Alexander Nehamas, Ryosuke Ohashi, James Pawelski, Naoko Saito, Manabu Sato, Stefan Snaevarr, Scott Strout, John Stuhr und Wolfgang Welsch. Ich danke Chuck Dyke und Jerold J. Abrams für die Lektüre eines frühen Entwurfs dieses Buchs und für die sehr wertvolle Hinweise, die sie mir anschließend gaben, ebenso wie zwei Lesern der Cambridge University Press (die sich hinterher als Robert Innis und Shannon Sullivan herausgestellt haben). Einige Überlegungen dieses Buchs sind bereits in Artikeln in The Monist, Hypatia, The Philosophical Forum, The Cambridge Compagnion to Merleau-Ponty und in The Grammar of Politics: Wittgenstein and the Political (Cornell University Press) erprobt worden. Ich 24 | vorwort zur amerikanischen ausgabe

bin dankbar für die Möglichkeit, einiges von diesem jetzt grundlegend überarbeiteten und erweiterten Material verwenden zu können, um daraus eine ausgereiftere, nachhaltigere und einheitliche Studie in Buchlänge zu machen. Meine Frau Erica Ando und unsere Tochter Talia Emi haben durch ihre anmutige Intelligenz in ihrem Handeln und ihre heitere Schönheit in Ruhephasen kontinuierlich meine Arbeit inspiriert. Dieses Buch hätte ohne sie nicht geschrieben werden können. Boca Raton, im Mai 2007

vorwort zur amerikanischen ausgabe | 25

Einleitung

I.

Im Mittelpunkt dieses Buchs steht das Körperbewusstsein: ein Begriff mit einer Vielzahl an Bedeutungsschattierungen und einem weiten Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten. Dieses Buch setzt sich darüber hinaus für eine größere Aufmerksamkeit auf somatisches Selbstbewusstsein ein, in der Theorie wie in der Praxis. Es tut dies, indem es eine Vielfalt an Formen und Schichten des Körperbewusstseins und der verschiedenen Fragestellungen und Theorien erforscht, durch welche die Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts versucht hat, die Rolle des Körpers in unserer Erfahrung zu erklären. Ich plädiere nicht nur für ein erhöhtes somatisches Bewusstsein, indem ich einflussreiche philosophische Positionen widerlege, die den Wert eines solchen Bewusstseins bestreiten, sondern ich entwerfe auch ein systematisches philosophisches Modell, durch das die verschiedenen Formen somatischen Bewusstseins, der somatischen Kultivierung und des somatischen Verstehens besser miteinander vereinbart und so effektiver zur Geltung gebracht werden können. Das Modell dieser Disziplin, der Somästhetik, wird im ersten Kapitel dieses Buchs erläutert, und deren Begriffe und Prinzipien strukturieren auch die darauf folgenden Gedankengänge. An dieser Stelle sei Somästhetik kurz folgendermaßen umrissen: Diese Disziplin widmet sich der kritischen Erforschung und der verbessernden Kultivierung der Art und Weise, wie wir Erfahrungen machen und den lebendigen Körper (oder das Soma) als Ort sinnlicher Wertschätzung (Aisthesis) und der kreativen Selbsterschaffung verwenden. Somästhetik ist also eine Disziplin, die sowohl Theorie als auch Praxis umfasst (wobei letztere eindeutig in der Idee einer verbessernden Kultivierung enthalten ist). Der Begriff »Soma« zielt auf den lebendigen, fühlenden und empfindungsfähigen Körper und nicht bloß auf den physischen Körper, der auch leb- und empfindungslos sein könnte. Das »Ästhetische« der Somästhetik nimmt hingegen die Doppelrolle ein, einerseits den Wahrnehmungsaspekt des Soma zu betonen (dessen verkörperte Intentionalität dem Körper| 27

Geist-Dualismus widerspricht) und anderseits dessen ästhetischen Gebrauch in der Stilisierung des Selbst wie in der Wertschätzung der ästhetischen Qualitäten anderer Personen und Dinge stark zu machen.1 An dieser Stelle könnten Leser bereits einwenden: Warum sollte man sich für noch mehr Aufmerksamkeit auf den Körper einsetzen und sogar eine systematische Disziplin dafür entwickeln? Ist unsere Kultur nicht längst schon viel zu körperbezogen und übermäßig darauf fixiert, wie unsere Körper aussehen, wie viel sie wiegen, wie verführerisch sie duften, wie elegant sie geschmückt werden und wie fit für athletische Leistungen sie durch Drogen und ausgefeilte Trainingsdisziplinen gemacht werden können? Leiden wir daher nicht eher an einem monströs übersteigerten Körperbewusstsein, dessen unerschütterliches Anwachsen sogar Bereiche wie die Philosophie ansteckt, die traditionellerweise dafür respektiert wird, dass sie sich dem Geist und nicht dem Körper widmet? Wenn das der Fall wäre, müsste dieses Buch als trauriges Symptom einer kulturellen und philosophischen Misere erscheinen statt als Instrument zu dessen Verbesserung. Ein weiterer Einwand liegt nahe. Unsere Wahrnehmungskräfte sind mit dringlicheren Fragen als der Kultivierung somatischen Bewusstseins beschäftigt. Wir haben bereits genug damit zu tun, uns um die anhaltende Informationsrevolution in der uns umgebenden natürlichen, sozialen und virtuellen Erfahrungswelt zu kümmern, die uns verändert und uns mit einer wachsenden Zahl an Zeichen, Bildern und Halbwahrheiten überschwemmt. Warum sollten wir dann einen Teil unserer beschränkten und überstrapazierten Aufmerksamkeit darauf verwenden, unsere eigene somatische Erfahrung zu beobachten? Wie sollen wir uns das leisten können? Außerdem scheinen unsere Körper ohne jedes somatische Nachdenken oder erhöhte Bewusstsein perfekt zu funktionieren. Warum sollten wir nicht einfach unsere körperlichen Erfahrungen und Vollzüge gänzlich den automatischen Mechanismen des Instinkts und der unreflektierten somatischen Gewohnheiten überlassen, so dass wir unsere Aufmerksamkeit auf Dinge richten können, die wirklich der Aufmerksamkeit bedürfen und diese verdienen: die Ziele, nach denen wir streben, und die Mittel, Instrumente oder Medien, die wir einsetzen müssen, um diese Ziele zu erreichen? 28 | einleitung

Auf diese Fragen lässt sich mit einem der leitenden Prinzipien dieses Buchs antworten: Wir sollten uns daran erinnern, dass der Körper eine grundlegende und elementare Dimension unserer Identität darstellt. Er bildet unsere grundlegende Perspektive oder Form der Verbindung zur Welt und bestimmt (häufig unbewusst) die Wahl unserer Ziele und Mittel. Dies tut er, indem er unsere Bedürfnisse, Gewohnheiten, Interessen, Freuden und unsere Leistungsfähigkeit selbst strukturiert, auf die sich die Bedeutung der Ziele und Mittel bezieht. Dies schließt natürlich die Strukturierung unseres geistigen Lebens ein, das im nach wie vor hartnäckigen Dualismus unserer Kultur zu oft unserer körperlichen Erfahrung entgegengesetzt wird. Wenn verkörperte Erfahrung für unser Dasein und unsere Verbindung zur Welt so prägend ist, wenn (in den Worten Husserls) der Körper »das Mittel aller Wahrnehmung« ist,2 dann ist die Kultivierung des Körperbewusstseins sicherlich gerechtfertigt, nicht nur, um unsere Wahrnehmung zu schärfen und die daraus resultierende Befriedigung zu genießen, sondern auch, um der zentralen Maxime von Philosophie gerecht zu werden: dem sokratischen »Erkenne dich selbst«, das Sokrates vom Delphischen Tempel Apollos übernahm und damit seine die Philosophie begründende Suche initiierte und inspirierte. Am Körper manifestiert sich die Zweideutigkeit des Menschen: als subjektive Sensibilität, welche die Welt erfährt, und als eines in dieser Welt wahrgenommenen Objekts. Wenn man das Soma als in die Welt ausstrahlende Subjektivität auffasst, die das »Innerste unserer Erfahrung« konstituiert, kann der Körper als bloßes Objekt gar nicht angemessen verstanden werden. Dennoch fungiert er in unserer Erfahrung unvermeidbar als ein Objekt des Bewusstseins, sogar in unserem eigenen verkörperten Bewusstsein.3 Wenn ich mit dem Zeigefinger eine Unebenheit auf meinem Knie berühre, wird meine körperliche Subjektivität dazu hingeleitet, einen anderen Körperteil als Objekt meiner Erkundungen zu empfinden. Deswegen bin ich ebenso ein Körper, wie ich einen Körper habe. Normalerweise erfahre ich meinen Körper als transparente Quelle meiner Wahrnehmung oder Handlung und nicht als ein Objekt meiner Vergegenwärtigung. Er ist das, von dem aus und durch welchen ich die Dinge der Welt, auf die ich meinen Fokus richte, begreife oder mit ihnen umgehe, doch ich erfasse ihn nicht als ausdrückliches Objekt einleitung | 29

des Bewusstseins, selbst wenn der Körper manchmal als Hintergrundbedingung der Wahrnehmung dunkel erahnt wird. Häufig jedoch, besonders in zweifelhaften oder problematischen Situationen, nehme ich meinen Körper auch als etwas wahr, das ich habe und gebrauche, und nicht als etwas, das ich bin, als etwas, dem ich Befehle erteilen muss, um das zu vollziehen, was ich will. Oftmals scheitert der Körper dann aber an der Durchführung und wird zu etwas, das mich ablenkt, stört oder leiden lässt. Solche Dissonanz trägt zur somatischen Entfremdung bei und zu der vertrauten herabwürdigenden Objektivierung des Körpers zum bloßen (beklagenswert schwachen und verwundbaren) Instrument, das dem Selbst angehört, anstatt den wesentlichen Ausdruck des Selbst auszumachen. Aber selbst, wenn wir den Körper objektivieren oder instrumentalisieren (und in einem gewissen Ausmaß müssen wir dies pragmatisch zum Zweck somatischer Selbstsorge tun), besteht deswegen kein Grund, davon auszugehen, dass er nicht unseres aufmerksamen Bewusstseins bedarf oder dieses nicht verdient. Selbst wenn der Körper als ein Instrument des Selbst verstanden wird, muss er doch anerkannt werden als unser ursprünglichstes Werkzeug aller Werkzeuge, als grundlegendstes Medium, in dem wir mit unseren verschiedenen Umgebungen interagieren, als notwendige Bedingung all unserer Wahrnehmungen, Handlungen und sogar unseres Denkens. So wie sachkundige Baumeister über ein Expertenwissen ihrer Werkzeuge verfügen müssen, so benötigen wir bessere somatische Kenntnisse, um unser Verständnis und unsere Vollzüge in den diversen Disziplinen und Praktiken zu verbessern, die zur Meisterschaft in der höchsten aller Künste beiträgt – der Kunst, ein besseres Leben zu führen. Eine differenziertere Vergegenwärtigung unseres somatischen Mediums kann daher seinen Gebrauch bei der Entfaltung all unserer anderen Werkzeuge und Medien verbessern. Denn sie erfordern alle eine Form körperlichen Vollzugs, selbst wenn es sich lediglich um das Drücken eines Knopfs oder ein Augenblinzeln handelt. Der Rolle des Körpers als unser fundamentales Instrument oder Ur-Medium ist längst schon erkannt worden. Die grundlegenden somatischen Begriffe des ›Organs‹ und des ›Organismus‹ leiten sich von dem griechischen Begriff für Werkzeug, dem Organon, ab. Und doch führte die aristokratische Tendenz der griechischen Philoso30 | einleitung

phie, ideale Ziele zu preisen und demgegenüber materielle Mittel als bloße niedere Notwendigkeit zu verunglimpfen, bei Plato und später bei den Idealisten dazu, den Körper als Medium zu verachten, statt ihn zu feiern. Dabei wurde seine Instrumentalität dazu genutzt, ihn von dem auszuschließen, was im menschlichen Dasein wesentlich und wertvoll ist. Ein Medium oder Mittel steht typischerweise (wie die Etymologie zeigt) zwischen zwei anderen Dingen, zwischen denen es vermittelt. Indem es sich in der Mitte befindet, als eine Schnittstelle mit zwei Seiten, verbindet ein Medium die dadurch vermittelten Begriffe und trennt sie zugleich. Dieser doppelte Aspekt ist auch in dem instrumentellen Sinn des Mediums als eines Mittels zu einem Zweck gegenwärtig. Während es einen Weg zum Zweck oder Ziel darstellt, steht es auch im Weg und markiert die Entfernung, die zwischen der Absicht und ihrer Erfüllung zu durchqueren ist. Platons wirkungsmächtige Verurteilung des Körpers als Medium im Phaidon (65c – 67a) konzentriert sich auf dessen negativen Störaspekt. Ein in der heutigen Medienkritik vorherrschendes Argument vorwegnehmend, behauptet er, dass der Körper uns von der Wirklichkeit und der Suche nach wahrer Erkenntnis ablenke, indem er unsere Aufmerksamkeit mit jeder Art von sensationslüsterner Aufregung störe und unser Denken durch Leidenschaft, Fantasie und Unsinn zerstreue. Darüber hinaus verzerre unser somatisches Sinnesmedium die Wirklichkeit durch irreführende Wahrnehmungen. Der Körper wird sogar als eine multimediale Ansammlung verschiedener Sinnesmodalitäten und Technologien dargestellt (wie den Augen, Ohren, den empfindenden Gliedern usw.), und diese Pluralität und Vielfältigkeit gibt Platon noch mehr Gründe an die Hand, den Körper im Gegensatz zur unteilbaren Seele zu degradieren, die nach der Wahrheit strebe, trotz ihrer Gefangenschaft im verzerrenden Gefängnis des Körpers.4 Diese antiken Argumentationsfiguren, die vom Neoplatonismus angeeignet wurden und in die christliche Theologie und den modernen philosophischen Idealismus eingeflossen sind, haben auf verheerende Weise unsere Kultur geprägt; ähnlich wie ein anderes platonisches Argument (Alcibiades, 129c – 131d), mit dem der Körper als Instrument verunglimpft und uns entfremdet wird: Wir unterschieden deutlich zwischen einem Werkzeug und der Nutzung einleitung | 31

des Werkzeugs, zwischen dem Instrument und dem Handelnden: Daher müsse, wenn der Körper unser Werkzeug oder Instrument sei (ganz gleich, wie vertraut und unentbehrlich er für uns sei), dieser sich insgesamt von dem Selbst unterscheiden, welches ihn verwendet, weswegen er für dieses ein bloß äußerliches Mittel darstellen müsse. Daraus folge (so lautet die Argumentation), dass das wahre Selbst allein den Geist oder die Seele darstellen müsse und dass darum Selbsterkenntnis und Selbstkultivierung nichts mit der Kultivierung von Körpererkenntnis und Körperbewusstsein zu tun haben könne. Allgemeiner gesprochen lässt sich die Annahme des Körpers als eines äußerlichen Instruments, das vom Selbst genutzt wird, leicht übersetzen in das vertraute Bild des Körpers als eines Dieners oder Werkzeugs der Seele. Dadurch wird überdies die abschätzige Gleichsetzung des Somatischen mit den beherrschten Klassen (einschließlich der Frauen) befördert, eine Assoziation, die wechselseitig den untergeordneten Status und die Verachtung für alle damit verbundenen Begriffe verstärkt. Platons Überlegung kann jedoch sicherlich in Frage gestellt werden, nämlich indem man seine Grundannahme mit ihren entzweienden Objektivierungen zu einer reductio ad absurdum erweitert. Sicherlich nutzen wir weit mehr Teile unseres Selbst als nur unsere Körper. Wir verwenden unseren Geist zum Denken und unsere Seele zum Wünschen, Hoffen, Beten, Entscheiden oder um tugendhaft zu handeln. Folgt aus dem Gebrauch unseres Geistes oder unserer Seele, dass sie ein bloßes äußerliches Instrument darstellen und nicht einen wesentlichen Teil unserer Identität? Wenn wir all das, was das Selbst verwendet, von dem abziehen, was wirklich zu ihm gehört, bleibt uns nichts übrig. Denn tatsächlich benutzen wir unser Selbst, wann immer wir andere Dinge nutzen, und selbst dann, wenn wir es nicht tun. Selbstgebrauch ist kein Widerspruch in sich, sondern eine Lebensnotwendigkeit. Und zu zeigen, warum ein gesteigertes somatisches Bewusstsein unseren Selbstgebrauch verbessern kann, ist eines der Hauptziele dieses Buchs. Deswegen wird hier jedoch kein freudloser Instrumentalismus vertreten, denn ein verbesserter Selbstgebrauch beinhaltet auf jeden Fall eine größere Fähigkeit, mit sich im Einklang zu sein. Das Soma stellt dabei zweifellos eine Schlüsselerfahrung (viel mehr als nur ein Mittel) der Lust dar. 32 | einleitung

II.

Die zeitgenössische Kultur verschwendet zweifellos sehr viel und, in mancher Hinsicht, zu viel Aufmerksamkeit auf den Körper. Das ist jedoch nicht die Art von Aufmerksamkeit, die diesem Buch am Herzen liegt und die hier befördert werden soll. Wie sehr die herrschenden Muster, in denen unsere Kultur das Körperbewusstsein steigert, im Wesentlichen dazu dienen, Profite zu maximieren (durch die gewaltige Kosmetik-, Diät-, Mode- und ›Schönheits‹-industrie), dabei zugleich soziale Herrschaftsverhältnisse weiter verstärken und einer Vielzahl von Menschen Selbsthass einimpfen, haben Soziologen und feministische Kritikerinnen auf überzeugende Weise aufgedeckt; Schönheitsideale eines Körperbildes, das für die meisten Menschen unerreichbar bleibt, werden arglistig als notwendige Norm propagiert, wodurch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung zu einem beklemmenden Gefühl der Unzulänglichkeit verurteilt wird, das sie dazu anspornt, die vermarkteten Heilmittel zu kaufen.5 Indem sie uns von unseren wirklichen körperlichen Empfindungen, Freuden und Fähigkeiten ablenken, machen uns diese pausenlos beworbenen Ideale blind für die Vielfalt der Möglichkeiten, unsere verkörperte Erfahrung zu verbessern. Somatisches Selbstbewusstsein wird in unserer Kultur exzessiv in ein Bewusstsein dafür kanalisiert, wie der eigene Körper in Hinblick auf die fest verwurzelten gesellschaftlichen Normen aussieht und wie die eigene äußere Erscheinung in Hinblick auf konventionelle Vorbilder attraktiver gemacht werden kann. (Und es sind diese konformistischen Maßstäbe, die zugleich unsere Wertschätzung der üppigen ästhetischen Vielfalt anderer Körper als unserem eigenen verarmen lassen). So gut wie keine Aufmerksamkeit wird auf die Untersuchung und Schärfung des Bewusstseins der tatsächlichen eigenen körperlichen Empfindungen und Handlungen gerichtet, um diese somatischen Reflexionen nutzen zu können, damit wir uns selbst besser kennen lernen und ein empfänglicheres somatisches Selbstbewusstsein entwickeln, dass uns zu einem besseren Selbstgebrauch führen kann. Solch verbesserter Selbstgebrauch beschränkt sich nicht auf bloß praktische, funktionale Angelegenheiten, sondern beinhaltet, wie ich wiederholen möchte, die Verbesserung unserer Fähigkeit zur Freude, die durch eine empfänglichere Gegenwärtigkeit für unsere einleitung | 33

eigene somatische Erfahrung signifikant gesteigert werden kann. Wir können unsere Lust »doppelt so sehr« genießen, wie Montaigne betont, »denn der Maßstab des Genießens hängt davon ab, ob wir ihr mehr oder weniger Aufmerksamkeit zuwenden.«6 Zu viele unserer alltäglichen somatischen Vergnügen werden überhastet, zerstreut und nahezu so unbewusst wie das Vergnügen zu schlafen erlebt. Wenn dieser Mangel an somästhetischer Sensibilität dazu beiträgt, die wachsende Abhängigkeit von zunehmender Stimulanz durch effekthascherische massenmediale Unterhaltung und noch viel radikalere Mittel zur Erregung von Nervenkitzel zu erklären, dann kann eine Diät, die aus solchen künstlichen Aufregern besteht, umgekehrt erklären, wie unsere Wahrnehmungsgewohnheiten (und sogar unser sensomotorisches Nervensystem) sich verändern: Die Erregungsschwelle für die Wahrnehmbarkeit und Befriedigung wird auf solche Weise erhöht, dass unsere Fähigkeit zu ruhiger, beständiger und nachhaltiger Aufmerksamkeit nachlässt. Die Kultivierung eines differenzierteren somatischen Selbstbewusstseins durch somatische Reflexion kann diesem Problem begegnen, indem sie uns dazu verhilft, uns schneller und verlässlicher zu vergegenwärtigen, wann wir durch eine Übersättigung sinnlicher Erregungen überreizt sind und daher wissen, wann wir diese herunterfahren, leiser stellen oder ausschalten sollten, um Schaden zu vermeiden. Solch eine erhöhte, aufmerksame Gegenwärtigkeit kann uns überdies lehren, wie wir störende Stimulationen ausblenden können: nämlich durch die kultivierte Fähigkeit, die kontrollierte bewusste Aufmerksamkeit umzulenken auf die eigene Erfahrung, wie Achtsamkeitsdisziplinen eindeutig gezeigt haben. Obwohl ich dieses Buch als akademischer Philosoph schreibe, sollte ich von Anfang an bekennen, dass meine Perspektive auf das Körperbewusstsein zutiefst beeinflusst ist von meiner praktischen Erfahrung in diversen somästhetischen Disziplinen. Am aufschlussreichsten ist dabei meine Ausbildung und Berufserfahrung als zertifizierter Lehrer der Feldenkrais-Methode gewesen, einer Form somatischer Erziehung zu einer verbesserten Vergegenwärtigung des Selbst und eines verbesserten Selbstgebrauchs, die inspirierende, erfolgreiche und breite therapeutische Anwendung findet. Darüber hinaus zeichnet sich die Feldenkrais-Methode durch ihre kompromisslose Integrität aus. Weil sich diese Methode einer kommerzia34 | einleitung

lisierten Vereinfachung verweigert, hat sie nicht die Popularität und die Marktanteile erlangt, die sie eigentlich verdient. Viel verdanke ich auch anderen Disziplinen, die ein erhöhtes somatisches Bewusstsein und einen Einklang von Körper und Geist befördern: von Yoga und Tai Chi über Zen-Meditation bis zur Alexander-Technik. Dieses Buch stellt eine kritische Studie der einflussreichsten zeitgenössischen philosophischen Argumente gegen ein erhöhtes Bewusstsein somatischer Reflexion dar, aber es tritt darüber hinaus auch für Somästhetik als allgemeinem Rahmen ein, in dem die Kultivierung eines solchen Bewusstseins (ebenso wie andere Formen somatischen Trainings) am besten verstanden und verfolgt werden sollte. Dieses Projekt umfasst eine phänomenologische Studie des Körperbewusstseins, das die verschiedenen Arten, Ebenen und Werte somatischer Selbst-Vergegenwärtigung untersucht – von der im Wesentlichen unbewussten motorischen Intentionalität und den nicht-fokussierten automatischen Reaktionen, die unreflektierte somatische Gewohnheiten oder Körper-Schemata beinhalten, bis zu ausdrücklich thematisierten Körperbildern, somatischer SelbstVergegenwärtigung und reflexiver somatischer Introspektion. Dies bedeutet auch, auszuloten, auf welche Weise diese verschiedenen Formen somatischen Bewusstseins miteinander in Zusammenhang gebracht und angewandt werden können, um unsere somästhetischen Erkenntnisse, Vollzüge und Freuden verbessern zu können. Ein zentrales Argument bei der Verurteilung der Kultivierung somatischen Selbstbewusstseins besteht darin zu behaupten, dass jeder anhaltende Fokus auf körperliche Empfindungen sowohl unnötig als auch kontraproduktiv für effektives Denken und Handeln sei. Aufmerksames Selbstbewusstsein gegenüber körperlichen Empfindungen (oder auch gegenüber der körperlichen Gestalt oder Bewegung) wird daher als Ablenkung und verderbliches Hindernis für unsere grundlegenden kognitiven, praktischen und ethischen Angelegenheiten zurückgewiesen, als ein Rückzug in unproduktive Nabelschau. Unsere Aufmerksamkeit, so wird argumentiert, sollte stattdessen exklusiv nach außen auf unsere Beschäftigung mit der Außenwelt gerichtet sein. Die Verteidigung reflektierter oder gesteigerter somatischer Selbst-Vergegenwärtigung, die in diesem Buch vorgenommen wird, wird jedoch zeigen, dass ein solches verstärktes Körperbewusstsein einleitung | 35

unsere Wahrnehmung von und unsere Beschäftigung mit der Außenwelt nicht behindern muss, sondern sie vielmehr verbessern kann, indem sie unseren Gebrauch des Selbst, welches das grundlegende Instrument all unserer Wahrnehmungen und Handlungen ist, verbessert. Ich behaupte tatsächlich, dass jedes akut aufmerksame somatische Selbstbewusstsein sich mehr als den Körper bewusst macht. Sich darauf zu konzentrieren, den eigenen Körper zu fühlen, bedeutet, diesen in den Vordergrund zu rücken, und zwar im Kontrast zum Hintergrund der Umwelt, die auch auf irgendeine Art gefühlt werden muss, um den erfahrenen Hintergrund bilden zu können. Man kann sich nicht sitzend oder stehend fühlen, wenn man nicht den Teil der Umwelt fühlt, auf dem man sitzt oder steht. Ebenso wenig kann man sich selbst atmen fühlen, wenn man nicht die uns umgebende Luft fühlt, die wir inhalieren. Solche Übungen somatischen Selbstbewusstseins deuten hin auf die Vision eines grundlegend situierten, relationalen und symbiotischen Selbst statt des traditionellen Konzeptes eines autonomen Selbst, das in einer individuellen, monadischen, unzerstörbaren und unwandelbaren Seele begründet liegt.

III.

Für die Auseinandersetzung mit all diesen verschiedenen und komplizierten Problemen sind sechs Philosophen des zwanzigsten Jahrhunderts besonders wichtig: Maurice Merleau-Ponty, Simone de Beauvoir, Michel Foucault, Ludwig Wittgenstein sowie zwei pragmatistische Philosophen, deren Werk sich bis ins späte neunzehnten Jahrhundert zurück erstreckt: William James und John Dewey. Diese berühmten Denker sind nicht nur aufgrund ihres einflussreichen somatischen Denkens exemplarisch, sondern auch aufgrund der bemerkenswerten Art, in der sie die heute am stärksten ausgeprägten philosophischen Traditionen des Westens repräsentieren: die Phänomenologie, die analytische Philosophie, den Pragmatismus, die Existenzphilosophie, die Hermeneutik, den Poststrukturalismus und den Feminismus.7 Bei der Beschäftigung mit ihren Theorien befasst sich dieses Buch nicht einfach nur mit vergangenen historischen Produkten, sondern mit Perspektiven, die bis heute orien36 | einleitung

tierend und prägend sind und eine Kommentierung durch heutige Körperphilosophen verlangen. Jeder dieser Meisterdenker bildet den Schwerpunkt eines der sechs Kapitel dieses Buchs, ihre Argumente werden aber in der nun folgenden Zusammenfassung miteinander in Beziehung gesetzt. Das erste Kapitel führt in das Gebiet der Somästhetik und eines der Hauptprobleme des Buchs anhand einer Untersuchung von Michel Foucaults unverkennbarer und einflussreicher somatischer Philosophie ein. Foucault, der den Körper als besonders vitalen Sitz von Selbsterkenntnis und Selbsttransformation beschreibt, behauptet, dass Selbststilisierung nicht nur eine Angelegenheit äußerer Stilisierung durch die eigene körperliche Erscheinung sei, sondern eine der Umgestaltung der eigenen Vorstellung vom Selbst (und damit der eigenen Haltung, des eigenen Charakters oder Ethos) durch verändernde Erfahrungen. Für diese Transformation durch Erfahrung ist, Foucault zufolge, die Erfahrung körperlicher Lüste zentral. Da ihre durchschaubaren Stereotypen und konventionellen Begrenzungen jedoch die Möglichkeiten von kreativer Selbsterfüllung und Wachstum einschränken, drängt er ausdrücklich auf die Beschäftigung mit unorthodoxen somatischen Praktiken, um den Körper »unendlich empfänglicher für die Lust« zu machen. Doch das Spektrum an Lüsten, die Foucault tatsächlich verteidigt, bleibt paradoxerweise reduziert und im Wesentlichen beschränkt auf die intensivsten Genüsse harter Drogen und grenzüberschreitender Sexualpraktiken, versinnbildlicht in seiner leidenschaftlichen Befürwortung einvernehmlichen homosexuellen Sadomasochismus. Der Körper kann jedoch viele andere Lüste genießen, die weniger gewalttätig und explosiv sind, ohne deswegen auf so langweilige Weise konventionell zu sein, dass sie die Gegenwärtigkeit und Entwicklung des Selbst abstumpfen lassen. Ruhige Praktiken meditativer Vergegenwärtigung der Atmung, des Sitzens und des Stehens können feine Ströme tiefer Verzückung erzeugen und radikale Transformationen initiieren, die sich oftmals zu Erfahrungen intensiv beglückender und doch ruhiger Wonne entfalten. Warum werden solche sanfteren Praktiken und feineren, stilleren Freuden von Foucault ignoriert, wenn sein Ziel darin besteht, unsere Fähigkeit zur Lustempfindung zu maximieren? Mehr als ein lediglich persönliches Problem der gemarterten Seele Foucaults, einleitung | 37

spiegelt diese Vernachlässigung die allgemeine Gefühllosigkeit unserer Kultur gegenüber den Feinheiten somatischer Sensibilität und reflexiven Körperbewusstseins wider, eine Taubheit, die das Streben nach Sensationsgier weiter begünstigt. Und dieses allgemeine kulturelle Defizit wird sogar bei den progressivsten Denkern des zwanzigsten Jahrhunderts, welche die grundlegende Rolle des Körpers unterstreichen, auffällig zum philosophischen Ausdruck gebracht. Wir können Foucaults Blindheit gegenüber subtilen somatischen Freuden und sanften Körperdisziplinen besser verstehen, wenn wir die Spur seines getrübten Körperbewusstseins zurückverfolgen zu einer sehr einflussreichen philosophischen Tradition, die somatische Reflexion ablehnt, obwohl sie den Körper preist. Kapitel 2 und 3 wenden sich deshalb den Philosophien von Maurice Merleau-Ponty und Simone de Beauvoir zu, die einen bedeutenden Teil derjenigen französischen Philosophie ausmachen, aus welcher Foucaults somatisches Denken hervorgegangen ist. Es geht zunächst um Merleau-Ponty, weil Beauvoirs Darstellung unserer körperlichen Existenz sich explizit auf ihn stützt und weil Foucault bekannte, er sei »fasziniert von ihm« gewesen.8 Durch die Untersuchung der Frage, auf welche Weise Merleau-Ponty und Beauvoir körperliche Intentionalität und ihre entscheidende Rolle für unsere persönliche Entwicklung unterstreichen, klären diese beiden Kapitel zugleich, warum sie sich, aus unterschiedlichen Gründen, gegen reflexives Körperbewusstsein als Mittel zur Steigerung der eigenen Kräfte, der emanzipatorischen Entwicklung und des Selbstverständnisses aussprechen. Ich beschäftige mich mit den Schwachpunkten in ihrer Argumentation und begründe zugleich, warum MerleauPontys Einsichten in das Primat unreflektierten Bewusstseins und Beauvoirs Auseinandersetzung mit der Objektivierung und Ausbeutung weiblicher Körper durch die Anerkennung des Werts reflexiven somatischen Bewusstseins nicht aufgegeben werden müssen. Obwohl Beauvoirs Argumente gegen die somatische Kultivierung des Selbst, die nicht nur somatisches Selbstbewusstsein, sondern auch die Kultivierung äußerer Körperformen und körperlicher Vollzüge umfasst, auf eindrücklichste Weise in ihrem feministischen Klassiker Das andere Geschlecht zum Ausdruck kommen, finden sie sich auch in ihrem darauffolgenden Buch über das Alter, das deshalb unsere Aufmerksamkeit verdient, weil es ausführlich ein wichtiges 38 | einleitung

somatisches Thema behandelt, das die meisten Philosophen (inklusive der anderen fünf Denker, die hier diskutiert werden) systematisch zu fassen versäumt haben. Das dann folgende vierte Kapitel wendet sich einer Schlüsselfigur der analytischen Philosophie des Geistes zu. Ludwig Wittgenstein ist berühmt für seine scharfen Argumente gegen die Einbeziehung körperlicher Empfindungen bei der philosophischen Erklärung von geistigen Schlüsselbegriffen wie Emotion, Wille und unsere Vorstellung vom Selbst. Bei der sorgfältigen Lektüre seiner Werke offenbart sich jedoch seine Anerkennung eines anderen, nicht-erklärenden Nutzens für die reflexive Aufmerksamkeit auf somatische Empfindungen. Das Kapitel zeigt, wie Wittgensteins begrenzte und fragmentarische Anerkennung somatischer Reflexion erweitert und pragmatistisch angewandt werden kann auf Schlüsselfragen der Ethik und Ästhetik. Bei diesen Schlüsselfragen stellt Wittgenstein in kurzen, allerdings kryptischen Bemerkungen eine Verbindung zum Körper her, und die Bedeutung dieser Bemerkungen kann fruchtbar für ein erhöhtes somatisches Bewusstsein weiter entwickelt werden. Ein wichtiges Problem, das in diesem Kapitel untersucht wird, ist das Problem ethnischer und rassistischer Intoleranz, das in einer Art unreflektierten Bauchgefühls wurzelt, und die daraus resultierende Notwendigkeit, somästhetische Gegenmittel zu entwickeln. Die letzten beiden Kapitel setzen sich mit der grundlegenden pragmatistischen Behandlung des Körperbewusstseins auseinander, wie es bei William James und John Dewey exemplifiziert wird. James, der das Hauptziel der Argumente Wittgensteins gegen den philosophischen Missbrauch somatischer Reflexion darstellt, behauptet hartnäckig, dass körperliche Gefühle für die Erklärung fast aller Bereiche geistigen Lebens entscheidend sind. Er assoziiert sogar unsere elementarste innere Vorstellung vom Selbst mit körperlichen Empfindungen im Kopf, die er durch somatische Introspektion entdeckt. Nur vom Willen behauptet er, dieser befinde sich »exklusiv innerhalb der geistigen Welt« und sei frei von wesentlichen somatischen Bestandteilen. James legt außerdem eine außergewöhnliche Meisterschaft in der introspektiven Beobachtung und in der phänomenologischen Beschreibung von körperlichen Empfindungen an den Tag, die angeblich an unserem Denken und an unseren einleitung | 39

Emotionen beteiligt sind. Dennoch, trotz seiner Anwendung und Befürwortung selbstbewusster somatischer Reflexion in seiner theoretischen Arbeit argumentiert James paradoxerweise gegen solche Reflexion in der Praxis des alltäglichen Lebens. Er drängt darauf, dass wirkungsvolles Handeln stattdessen dieselbe Art ungehemmter, unreflektierter Spontaneität verlange, die von Merleau-Ponty verteidigt wird, und verurteilt darüber hinaus reflexives somatisches Selbstbewusstsein dafür, psychologische und moralische Probleme wie Depressionen hervorzurufen. Neben der Widerlegung dieser Argumente erklärt das Kapitel auch die zugrundeliegenden kulturellen und persönlichen Gründe für James’ Widerstand gegen die Rolle somatischer Reflexion im praktischen Leben. Das Buch schließt mit einem Kapitel über John Dewey. Darin wird gezeigt, wie Dewey die grundlegende somatische Orientierung von James weiterentwickelt und dabei einige widersprüchliche Dualismen und einseitige Beschränkungen hinter sich lässt. Nach einer Erläuterung der Deweyschen Verbesserungen gegenüber James’ theoretischen Überlegungen zur Rolle des Körpers für den Willen, für Emotionen, Denken und Handlungen widmet sich der Großteil des Kapitels Deweys energischem Plädoyer für selbstbewusste somatische Reflexion auf dem Gebiet konkreter Praxis. Da diese Befürwortung eng verknüpft ist mit Deweys Arbeit und Freundschaft mit dem somatischen Pädagogen F. M. Alexander, beinhaltet das Kapitel eine kritische Analyse der beeindruckend originellen Methodik körperlicher Vergegenwärtigung und körperlichen Selbstgebrauchs, die als Alexander-Technik bekannt geworden ist. Dabei wird auch gezeigt, dass die Schwierigkeit mit Alexanders Ansatz – wie seine übermäßige Konzentration auf die Kopfregion und seine rationalistische Abwertung von Sex und Leidenschaft – sich in den Beschränkungen der theoretischen Überlegungen Deweys zum Körper widerspiegelt, die (wie die James’) leider die Erotik vernachlässigen, deren Bedeutung für die somatische Philosophie zu Recht von Merleau-Ponty, Beauvoir und, natürlich, von Foucault betont wird. Dennoch liefert Dewey die wahrscheinlich ausgewogenste und umfassendste Vision unter den somatischen Philosophien des zwanzigsten Jahrhunderts, weil er den Wert des reflexiven somatischen Bewusstseins zusammen mit dem Primat spontaner, unreflektierter Wahrnehmung und ihrer Vollzüge hervorhebt, während er zugleich 40 | einleitung

begriffliche Hinweise dafür gibt, wie Reflektiertes und Unreflektiertes am besten für den verbesserten Gebrauch des Selbst kombiniert werden könnten. Deweys Darstellung des Bewusstseins und der Kultivierung des Selbst unterstreicht darüber hinaus auf stichhaltige Weise die grundlegend situierte, durch die Umwelt bedingte und mit dieser in Interaktion stehende Natur des Selbst.

IV.

Dewey starb vor mehr als fünfzig Jahren (1952), lange, bevor die neuen Mikrochip-Technologien die weiter wachsende Informationsrevolution beschleunigten, welche die heutige globale Kultur bestimmt. Ist dieses Buch – mit seinem Fokus auf der somatischen Philosophie des letzten Jahrhunderts, mit seiner Wertschätzung antiker asiatischer somatischer Disziplinen erhöhten Bewusstseins und mit seiner Sorge, dass unsere Fähigkeiten zu aufmerksamer somatischer Gegenwärtigkeit durch die Sensationsgier und die informationstechnische Überforderung im Zeitalter der neuen Medien bedroht sind – deswegen überholt, eine rückwärtsgewandte, altmodische Reflexion mit dem charakteristisch konservativen Einschlag der Philosophie? Obwohl diese Studie in der Vergangenheit verwurzelt ist, ist sie gleichwohl in ihrem Bemühen um ein gesteigertes somatisches Selbstbewusstsein in unserer zunehmend medialisierten Lebenswelt der Zukunft zugewandt. Es besteht kein zwingender Grund zu der Annahme, dass unsere neuen Technologien unsere Körper veraltet sein lassen und unser somatisches Bewusstsein überflüssig machen werden. Wie ich bereits in Performing Live gezeigt habe, scheint unsere körperliche Erfahrung umso wichtiger zu werden, je mehr die neuen Kommunikationsmedien danach streben, uns vom Bedürfnis nach physischer körperlicher Anwesenheit zu befreien. Die fortgeschrittensten Technologien der virtuellen Wirklichkeit werden noch immer durch die Wahrnehmungsinstrumente und den affektiven Resonanzboden des Körpers erfahren: durch unsere Sinnesorgane, unser Gehirn, unsere Drüsen und unser Nervensystem. Selbst die Höhenflüge technologischer Fantasien (wie in William Gibsons Vision der Matrix) zeigen ihre fiktiven Helden körperlich geschlaucht einleitung | 41

von ihren erschütternden Eskapaden im Cyberspace, da ihre höchst strapaziösen Emotionen, obwohl sie virtuell ausgelöst worden sind, eine somatische Grundlage haben müssen, um überhaupt als starke Emotion erfahren werden zu können. Mit je mehr Informationen und Sinnesreizen unsere neuen Technologien uns versorgen, umso größer wird die Notwendigkeit, eine somästhetische Sensibilität dafür zu kultivieren, wann die Gefahr einer aufreibenden Überlastung besteht und wie mit dieser umzugehen ist. Wir können uns nicht einfach auf weitere technologische Instrumente verlassen, die unsere somatische Überwachung für uns übernehmen, weil wir auf unsere eigene körperliche Sensibilität angewiesen sind, um die Leistung jener Geräte zu überwachen, deren Funktion und Passung immer fehlbar bleiben wird. Patienten, die überwachende Geräte in oder an ihrem Körper bei sich führen, werden deswegen dazu angehalten, eine hohe Aufmerksamkeit darauf zu verwenden, ob diese Instrumente ihnen Unbehagen verursachen oder andere Arten von Funktionsstörungen signalisieren. Allgemeiner lässt sich sagen, dass jeder Umgang mit neuen Werkzeugen und Technologien einen neuen Umgang mit dem Körper (seinen Haltungen und Gewohnheiten) bedingt, was neue Möglichkeiten somatischer Anspannung, Formen des Unbehagens und Körperbehinderungen mit sich bringt, die sich aus einem ineffektiven Umgang mit dem Körper ergeben. Eine Kultivierung erhöhten somatischen Selbstbewusstseins könnte uns dazu verhelfen, diese Schwierigkeiten offenzulegen, zu beheben oder zu vermeiden. Wir wissen bereits, wie ausgedehntes Arbeiten am Computer eine Menge an somatischen Problemen erzeugt, die von der Überanstrengung der Augen über Rücken- und Nackenschmerzen bis hin zu verschiedenen Formen von Sehnenscheidenentzündungen, Karpaltunnel-Syndromen und anderen Ermüdungs- und Stressstörungen reichen, die typischerweise aus schlechten Haltungen und falschen somatischen Gewohnheiten resultieren und durch eine verbesserte somatische Vergegenwärtigung und Kontrolle des Selbst früh erkannt werden könnten. Ein besseres ergonomisches Design kann in einem gewissen Ausmaß die Situation verbessern, aber auch solches Design, das selbst wiederum von einem erhöhten somatischen Selbstbewusstsein abhängt, kann die Schädigung durch schlechte Haltungsgewohnheiten nicht überwinden. 42 | einleitung

Wir können nicht einfach unseren Gewohnheiten darin vertrauen, dass sie sich durch unbewusstes Ausprobieren oder schließlich durch evolutionäre Anpassung von selbst korrigieren. Diese Haltung gedankenlosen Vertrauens in uns selbst und in unsere Zukunft lässt sich – angesichts des traditionellerweise unhinterfragten Glaubens an eine göttliche oder natürliche Vorsehung, die darin zum Ausdruck kommt – viel treffender als altmodisch bezeichnen als das kritische somatische Selbstbewusstsein, für das hier plädiert wird. Unreflektiertes Ausprobieren und evolutionäre Anpassungen überlassen nicht nur viel zu viel dem unzuverlässigen und blinden Zufall, sondern arbeiten auch viel zu langsam, um individuelles Wohlbefinden sicherstellen und mit dem Tempo neuer technologischer Entwicklungen Schritt halten zu können, die immer wieder neue somatische Anpassungen erfordern. Selbst wenn eine vertraute Handlung schneller und verlässlicher durch unbewusste Gewohnheiten vollzogen werden kann als durch somatisch selbstbewusste Aufmerksamkeit, so ist solch ein achtsames Bewusstsein wichtig, um neue Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erlernen. Es ist auch notwendig, um auf adäquate Weise problematische Körpergewohnheiten zu erkennen, zu analysieren und zu korrigieren, um sie unseren sich verändernden Umständen, Werkzeugen und Aufgaben angemessen anzupassen und um sie mit den wechselnden Bedürfnissen und Gesundheitszuständen unseres elementaren körperlichen Instruments in einen größeren Einklang zu bringen. Solange unsere Zukunft Transformationen im Umgang und in den Erfahrungen mit dem Körper mit sich bringt, sollte somatisches Selbstbewusstsein eine zentrale Rolle dabei spielen, diese Veränderungen nachzuvollziehen, sie zu begleiten und eine Antwort auf sie zu finden.

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Kapitel 1

Somästhetik und Selbstsorge Der Fall Foucault I.

Zu den vielen Gründen, die Foucault zu einem bemerkenswerten Philosophen machen, gehört ein gleich in doppelter Hinsicht kühnes Vorhaben: Foucault will die antike Vorstellung von Philosophie als einer besonderen Lebensweise wiederaufleben lassen, und er besteht zudem darauf, dass diese sich explizit somatisch und ästhetisch äußert. Diese doppelte Dimension in Foucaults Spätwerk (sorgfältig ausgearbeitet nicht nur in den drei Bänden von Sexualität und Wahrheit und seinen letzten Vorlesungen am Collège de France, sondern auch in einer Vielzahl an Interviews und kurzen Artikeln) kommt pointiert in seinen zentralen Ideen einer »Ästhetik der Existenz«, den stilisierenden »Technologien des Selbst« und der Kultivierung des »Körpers und [seiner] Lüste« zum Ausdruck.1 Dieses Kapitel beschäftigt sich mit Foucault als exemplarischem, aber nicht unproblematischem Pionier auf einem Feld, das ich Somästhetik nenne. Ich verstehe darunter eine Disziplin, die den körperlichen Erfahrungen und ihrer kunstvollen Gestaltung wieder ihren Platz im Herzen der Philosophie als einer Lebenskunst zurückgibt. Die lange dominierende platonische Tradition, die durch den Cartesianismus und den Idealismus der letzten Jahrhunderte noch verstärkt wurde, hat uns für eine entscheidende Tatsache blind gemacht, die für das antike und nichtwestliche Denken zumeist außer Frage stand: Da wir durch und mit unserem Körper leben, denken und handeln, sollten seine Erforschung, die Sorge um ihn und seine Verbesserung (improvement) ein Kernanliegen der Philosophie sein, insbesondere wenn Philosophie (wie es einst war) als unverwechselbare Lebensform aufgefasst wird, als eine kritische, disziplinierte Selbstsorge, die Selbsterkenntnis und Selbstkultivierung umfasst. Obwohl ein gesteigertes Körperbewusstsein heute gesellschaftlich en vogue ist, folgen die meisten Theoretiker dem französischen Philosophen Pierre Hadot und behandeln das philosophische Leben einseitig als Leben des Geistes.2 Hadot, der als erster das gegenwär| 45

tig bestehende Interesse (auch das Foucaults) an Philosophie als einer Lebensform revitalisierte, beschreibt sie mit Begriffen, die er der Programmatik therapeutischer Disziplinen entnimmt (z. B. »Meditation«, »Heilung der Leidenschaften«, »Selbstbeherrschung«). Philosophie besteht für ihn aus »geistigen Übungen«, und er grenzt diese scharf von körperlichen Übungen und Bedürfnissen ab. Hadot verfolgt diese Übungen bis zum sokratischen Dialog zurück und konzentriert sich in erster Linie auf die »stoisch-platonische« Tradition – damit fasst er jedoch bezeichnenderweise ihren geistigen Charakter und darüber hinaus den wesentlichen Zweck der Philosophie im Sinne des Phaidon, des körperfeindlichsten Dialogs Platons. Im Phaidon stellt Platon das philosophische Leben als Übung im Sterben dar, durch die Anstrengung, »die Seele so weit wie möglich vom Körper zu trennen, […] bis sie vollständig unabhängig ist«.3 Hadot wählt diese berühmte Stelle, um zum Ausdruck zu bringen, dass die Seele geistig danach strebe, sich von seinen Begierden und Leidenschaften zu »befreien«, »um zur Unabhängigkeit des Denkens vorzustoßen«.4 Geistige Übungen sieht er als Mittel, mit dessen Hilfe die »Philosophie sich den Willen des Körpers unterwirft, um den höheren Ansprüchen des Denkens gerecht zu werden«; sie seien als »Bemühung« zu verstehen, sich von einem »parteiischen, leidenschaftsbedingten, an den Körper und die Sinne gebundenen Gesichtspunkt frei zu machen und sich zu einem universalen und normativen Gesichtspunkt des Denkens aufzuschwingen«,5 auf dem wir das reine Wesen der Vernunft verkörpern. Im Zuge der Bemerkung, dass man diese geistigen Übungen zur Festigung der Seele – in Analogie zu körperlichen Ertüchtigungen zur Stärkung des Körpers – als eine Form von »Geistesgymnastik« betrachten könne, gibt Hadot sogar zu, dass »das Gymnasium zugleich der Ort war, wo die körperlichen Übungen und der philosophische Unterricht abgehalten wurden«.6 Und dennoch scheint er merkwürdig widerwillig der Idee gegenüberzustehen, dass beide Tätigkeiten vom antiken Menschen bei der Praxis von Philosophie als Lebensform fruchtbar verbunden werden konnten. Auch wenn ich großen Respekt vor Hadots überragender Gelehrsamkeit auf dem Gebiet der antiken Philosophie habe, wage ich zu denken, dass sich dieser Zusammenhang aufdecken lässt, wenn wir einen Blick hinter den imposanten antisomatischen Schatten des plato46 | kapitel 1

nischen Idealismus und seines enorm einflussreichen Ausdrucks im Phaidon werfen. Im Timaios beispielsweise fordert Platon »ein gleich(berechtigtes) und gesundes Gleichgewicht zwischen [Körper und Geist]. So sollte jeder, der sich [wie der Philosoph] mit Mathematik oder irgendeiner anderen anstrengenden intellektuellen Tätigkeit beschäftigt, auch seinem Körper die entsprechende Bewegung zukommen lassen, indem er am Sport teilnimmt.«7 Wenn wir hinter platonische Quellen zurückgehen, werden wir daran erinnert, dass Sokrates »darauf achtete, seinen Körper« durch regelmäßiges Tanztraining »zu bewegen und in Form zu halten«. »Der Körper«, so erklärte er, »ist für alle menschlichen Tätigkeiten wertvoll; und bei jedem Gebrauch von ihm ist es wichtig, dass man ihn so gut wie möglich schult. Denn selbst da, wo man des Körpers am wenigsten zu bedürfen scheint, beim Denken – wer weiß nicht, dass schwere Irrtümer häufig durch körperliche Erkrankungen verursacht werden.«8 Sokrates war nicht der einzige antike Philosoph, der körperliche Gesundheit preiste und körperliche Ertüchtigung und Vervollkommnung verteidigte. Vor ihm riet Kleobulus, ein Weiser, der sich durch »Körperkraft, Schönheit« und Kenntnis »der ägyptischen Philosophie« auszeichnete, »man solle fleißig den Körper üben«!9 Aristippus (ein hedonistischer Schüler von Sokrates und Begründer der kyrenäischen Schule) behauptete, »fleißige Körperübung fördere uns […] auf dem Wege zur Tugend«,10 während Zenon, Begründer des Stoizismus, gleichermaßen auf regelmäßige körperliche Übungen drang und behauptete, »sich um die Gesundheit, die Sinnesorgane [zu] kümmern« sei eine unbedingte Pflicht.11 Obwohl er geistige Freuden höher bewertete als körperliche, erklärte Epikur »Gesundheit des Körpers und Seelenruhe« zum doppelten Ziel des philosophischen Strebens nach einem »glücklichen Leben«.12 Diogenes, der Begründer des Kynismus, verteidigte noch entschiedener körperliches Training als notwendigen Schlüssel zur Entwicklung von Tugenden und einem guten Leben: »Er fügte auch Belege dafür bei, daß man durch Übung leicht zur Tüchtigkeit gelange.«13 Diogenes praktizierte die somatische Disziplin, die er selber propagierte, und er experimentierte dabei mit einer Vielzahl von Körperpraktiken, um sich auszuprobieren und abzuhärten: vom Essen roher Nahrungsmittel über Barfußlaufen im Schnee bis somästhetik und selbstsorge | 47

zum Masturbieren in der Öffentlichkeit und dem Sich-verprügelnLassen durch Trunkenbolde. Die Anerkennung somatischer Übungen als eines entscheidenden Mittels zur Erlangung philosophischer Erleuchtung stellt das Herzstück asiatischer Praktiken wie Hatha Yoga, Zen Meditation und T’ai chi ch’uan dar. Wie der japanische Philosoph Yuasa Yasuo betont, wird das Konzept »persönlicher Kultivierung« oder des shugyo (hier besteht eine offenkundige Analogie zur »Selbstsorge«) im östlichen Denken als »Grundlage des Philosophierens« vorausgesetzt, weil »wahre philosophische Erkenntnis nicht einfach durch die Mittel theoretisch-begrifflichen Denkens erlangt werden könne«, sondern nur »mittels ›körperlicher Wertschätzung oder Verwirklichung‹ (tainin oder taikotu).«14 Von Anbeginn bestand die ostasiatische Philosophie auf der körperlichen Dimension der Erkenntnis und der Kultivierung des Selbst. Wenn Konfuzius in den Analects (Gesprächen) dafür eintritt, sich täglich selbst in seinem Streben nach Selbstverbesserung zu überprüfen, ist das Wort, das als »Selbst« übersetzt wird, tatsächlich das chinesische Wort für den Körper (shen). Menzius, dem zufolge die Sorge für den Körper die grundlegende Aufgabe und Verantwortung darstellt, ohne die wir alle unsere übrigen Aufgaben und Pflichten nicht erfolgreich erledigen können, behauptet, »Körper/Form und Erscheinung werden uns vom Himmel verliehen. Nur der moralisch vollendet Kultivierte (shengren) vermag sich eine vollendete Form zu geben«.15 Die klassischen taoistischen Denker Laotse und Chuangtse drängen auf ähnliche Weise auf die besondere Bedeutung der somatischen Sorge: »Demjenigen, der seinen Körper mehr liebt als die Beherrschung des Reichs, kann die Herrschaft über das Reich gegeben werden.«16 »Sie müssen nur auf Ihren Körper aufpassen und diesen schützen [und] andere Dinge werden von selbst gedeihen«; »der Weise ist [mit] den Mitteln beschäftigt, durch die er den Körper in seiner Ganzheit bewahren und für das Leben sorgen kann«; »indem er körperlich ganz ist, ist er geistig ganz; und geistig ganz zu sein ist der Weg des Weisen«.17 Hier ist weder der Ort, um diese alten nichtwestlichen Theorien somatischer Selbstsorge zu erforschen, noch um das Schattendasein der somatischen Philosophie in der Moderne zu erklären oder ihr zeitversetztes Wiederaufleben bei therapeutischen Theoretikern des zwanzigsten Jahrhunderts wie Wilhelm Reich, F. M Alexander oder 48 | kapitel 1

Moshe Feldenkrais. So faszinierend diese Fragenkomplexe auch sein mögen, ziehe ich es hier vor, mich auf die Entwicklung einer Vorstellung von Philosophie als in besonderer Weise verkörperter und somatisch selbstreflexiver Praxis transformativer Kultivierung des Selbst zu konzentrieren, indem ich Foucaults reichhaltige, aber zugleich auch umstrittene Beiträge zu dieser Idee auslote.18 Zunächst werde ich Somästhetik als einen systematischen Rahmen vorschlagen, in dem seine Arbeiten sinnvoll verortet werden können. In einem zweiten Schritt werde ich dann wichtige Einwände sowohl gegenüber Foucaults spezifischem somästhetischen Programm als auch allgemeiner gegenüber der Idee von Somästhetik als einem theoretischen und praktischen Feld prüfen: Zu diesen Einwänden gehört der Vorwurf der Beschränktheit, des Sensualismus, der hedonistischen Belanglosigkeit und des apolitischen Narzissmus.

II.

Somästhetik kann provisorisch definiert werden als kritische und meliorative Erforschung der eigenen Erfahrungen und des Gebrauchs des eigenen Körpers als eines Ortes sinnlich-ästhetischer Wertschätzung (Aisthesis) und kreativer Selbsterschaffung. Sie widmet sich deswegen auch den Erkenntnissen, den Diskursen, Praktiken und Körperdisziplinen, die solche somatische Sorge strukturieren oder sie verbessern können. Wenn wir traditionelle philosophische Vorurteile gegenüber dem Körper beiseitelassen und uns stattdessen einfach die zentralen Gegenstände der Philosophie in Erinnerung rufen, nämlich Erkenntnis, Selbsterkenntnis, richtiges Handeln, Glück und Gerechtigkeit, dann sollte der philosophische Wert von Somästhetik auf der Hand liegen. 1. Da Erkenntnis zum größten Teil auf sinnlicher Wahrnehmung beruht, deren Verlässlichkeit sich oftmals als fragwürdig erweist, war die Philosophie lange mit der Kritik der Sinne beschäftigt. Sie zeigte deren Grenzen auf und versuchte, deren Täuschungen zu vermeiden, indem die Sinne der diskursiven Rationalität untergeordnet wurden. Die westliche Moderne hat sich dabei auf das philosophische Projekt der Analyse und Kritik sinnlicher propositionaler Urteile beschränkt, durch die die traditionelle Epistemologie sich somästhetik und selbstsorge | 49

definiert. Der durch die Somästhetik vorgeschlagene, komplementäre Weg besteht darin, die aktuelle Leistungsfähigkeit unserer Sinne durch eine verbesserte Kontrolle unseres Körpers zu korrigieren, da die Sinne zum Soma gehören und von diesem geprägt werden. Wenn der Körper unser primäres Instrument ist, mit dem wir die Welt begreifen, dann können wir mehr über die Welt erfahren, wenn wir den Zustand und den Gebrauch dieses Instruments verbessern. Jemand, der aufgrund eines steifen Nackens nicht in der Lage ist, den Kopf zu heben und nach hinten zu schauen (was typischerweise durch die schlechte Angewohnheit hervorgerufen wird, den Oberkörper zu verkrampfen, wodurch die Schultern und der Brustkorb daran gehindert werden, sich zu drehen), wird weniger sehen und auf weniger verlässliche Weise wahrnehmen. Wenn die Handmuskeln sich zu stark verspannen, sind wir weniger gut in der Lage, bei der Wahrnehmung der Beschaffenheit von weichen oder fein strukturierten Oberflächen subtile Nuancen zu unterscheiden. So wie Sokrates erkennt, dass körperliche Erkrankungen (durch fortgesetzte organische Fehlfunktionen oder geistige Erschöpfung) zu Irrtümern führen können, so versuchen Disziplinen wie die Alexander-Technik und die Feldenkrais-Methode (sowie ältere asiatische Praktiken des Hatha-Yoga und der Zen-Meditation) den Scharfsinn, die Gesundheit und die Kontrolle über unsere Sinne zu verbessern, indem sie die Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper und die Beherrschung der somatischen Funktionen zu steigern versuchen, während sie uns zugleich aus dem Klammergriff falscher körperlicher Gewohnheiten befreien, die die Sinnesleistungen beeinträchtigen. 2. Wenn Selbsterkenntnis das zentrale Anliegen von Philosophie darstellt, dann darf das Wissen um die eigene körperliche Dimension nicht ignoriert werden. In Anerkennung der komplexen ontologischen Struktur des Körpers, nämlich zugleich als materielles Objekt in der Welt und als intentionale Subjektivität auf die Welt gerichtet zu sein, beschäftigt sich Somästhetik nicht nur mit der äußeren Form oder Repräsentation des Körpers, sondern auch mit seiner gelebten Erfahrung; Somästhetik arbeitet daran, uns unsere Empfindungen besser zu vergegenwärtigen und dadurch eine größere Einsicht sowohl in unsere vorübergehenden Stimmungen als auch in unsere dauerhaften Haltungen zu ermöglichen. Sie kann daher somatische Fehlfunktionen aufdecken und beheben, die nor50 | kapitel 1

malerweise unbemerkt bleiben, selbst wenn sie unser Wohlbefinden beeinträchtigen. Zwei Beispiele: Wir achten kaum auf unseren Atem, dabei können sein Rhythmus und seine Tiefe uns rasch und verlässlich Aufschluss über unseren emotionalen Zustand geben. Bewusstes Atmen kann uns also vergegenwärtigen, dass wir wütend, angespannt oder ängstlich sind; andernfalls nehmen wir möglicherweise diese Empfindungen nicht bewusst wahr und sind anfällig für ihre Fehlleitungen. Ebenso kann eine chronische Muskelverspannung nicht nur Bewegungen einschränken, sondern auch zu Spannungen und Schmerzen führen, die unbemerkt bleiben, weil sie zur Gewohnheit geworden sind. Solange sie unbemerkt bleiben, können diese Verspannungen nicht gelöst werden, ebenso wenig wie die daraus resultierenden Behinderungen und Zustände des Unwohlseins. Erhöhte somästhetische Aufmerksamkeit auf unseren Muskeltonus kann solche unbewussten Zustände chronischer Verspannung aufdecken, und wenn wir uns solch eine somatische Fehlfunktion einmal klar vor Augen geführt haben, besteht die Chance, diese zu modifizieren und ihre ungesunden Konsequenzen zu vermeiden. 3. Ein drittes zentrales Ziel der Philosophie ist richtiges Handeln, für das wir Erkenntnis und Selbsterkenntnis, aber auch einen effektiven Willen benötigen. Da eine Handlung allein durch und mit dem Körper vollzogen werden kann, hängt unsere Willenskraft – die Fähigkeit, so zu handeln, wie wir wollen – von unserer somatischen Wirksamkeit ab. Es wird uns nicht weiterhelfen, die richtige Handlung zu kennen und zu wollen, wenn wir unseren Körper nicht dazu bewegen können, sie auszuführen. Und unsere überraschende Unfähigkeit, die einfachsten körperlichen Aufgaben auszuführen, wird nur noch von unserer erstaunlichen Blindheit gegenüber dieser Unfähigkeit übertroffen. Diese Fehler resultieren aus unzureichender somästhetischer Gegenwärtigkeit und Kontrolle. Man denke nur an die sich abmühende Golfspielerin, die ihren Kopf unten und ihre Augen auf dem Ball zu halten versucht und die völlig davon überzeugt ist, genau das zu tun, obwohl sie kläglich scheitert. Ihr bewusster Wille ist erfolglos, weil zutiefst eingeprägte somatische Gewohnheiten sie überrumpeln. Sie bemerkt ihre Unfähigkeit noch nicht einmal, weil ihre gewohnheitsmäßige Sinneswahrnehmung derartig unangemessen und verzerrt ist, dass es sich anfühlt, als wenn die beabsichtigte Handlung tatsächlich so somästhetik und selbstsorge | 51

ausgeführt würde, wie sie es will. Diese Golferin hebt ihren Kopf gegen ihren Willen. Dabei zwingt sie niemand dazu, und es gibt auch keinen in ihr verschalteten Instinkt, der sie dazu treibt. Das Kopfheben ist also in diesem Sinn nicht unfreiwillig – und doch ist es nicht das, was sie bewusst tun will. Ihr freier Wille wird also durch repressive Gewohnheiten fehlgeleiteten Einsatzes und fehlgeleiteter Wahrnehmungen ihres Körpers blockiert. Bei zu vielen unserer Handlungen sind wir wie die verfrüht ihren Kopf hebende Golfspielerin, deren Wille, wie stark er auch sein mag, machtlos bleibt, weil ihr die somatische Sensibilität fehlt, die ihm zur Wirkung verhelfen würde. Solche Fehlwahrnehmung und Schwächung des Willens hemmt jede Wirksamkeit. Diese Argumentationslinie, die heutzutage durch Körpertherapeuten außerhalb des Rahmens legitimierter Philosophie verfolgt wird, hat gleichwohl antike philosophische Referenzen. Diogenes der Kyniker war nicht der Einzige, der sich mit somatischer Selbstperfektionierung beschäftigte und rigorose Körperübung forderte, »bei deren regelmäßigem Betrieb sich eine Denkweise bildet, die dem tugendhaften Handeln Vorschub leistet«.19 4. Der Verfolg von Tugendhaftigkeit und Selbstbeherrschung ist traditionellerweise in das ethische Streben nach einem besseren Leben eingebunden. Wenn Philosophie sich mit dem Streben nach Glückseligkeit befasst, dann verdient die Auseinandersetzung der Somästhetik mit dem Körper als Ort und Medium unserer Lust eine deutlich größere philosophische Aufmerksamkeit. Selbst Glücksgefühle und Stimulationen durch so genanntes reines Denken sind (für uns körperliche Menschen) von somatischen Umständen beeinflusst und auf Muskelkontraktionen angewiesen. Sie können deswegen durch verbesserte somatische Gegenwärtigkeit und Disziplin verstärkt oder intensiver ausgekostet werden. Selbst Asketen, die sich kasteien, um einen höheren Glückszustand zu erreichen, müssen dabei ihren Körper wesentlich einbeziehen. Sonderbarerweise hat die neuere Philosophie viel Forschungsenergie in die Ontologie und Erkenntnistheorie des Schmerzes investiert, jedoch kaum in dessen psychosomatische Beherrschung oder Transformation in Lust. 5. Über diese vier wichtigen, aber stark vernachlässigten Punkte hinaus enthüllt Foucaults fruchtbare Vorstellung des Körpers als eines gelehrigen und formbaren Orts für Einschreibungen sozia52 | kapitel 1

ler Macht die wesentliche Rolle, die das Soma in der politischen Philosophie und in Fragen der Gerechtigkeit spielen kann. Es bietet die Möglichkeit zu begreifen, wie komplexe Machtverhältnisse umfassend ausgeübt und reproduziert werden können – ohne jede Notwendigkeit, sie in Gesetze zu fassen oder sie offiziell durchzusetzen; sie werden einfach durch unsere körperlichen Gewohnheiten, einschließlich unserer Empfindungsgewohnheiten, implizit überwacht und durchgesetzt. Ganze Herrschaftsideologien können so in verdeckter Form materialisiert und aufrechterhalten werden, indem man sie in somatischen Normen kodiert, die als körperliche Gewohnheiten normalerweise als selbstverständlich hingenommen werden und daher dem kritischen Bewusstsein entgehen. Annahmen darüber, dass ›anständige‹ Frauen leise sprechen, schlank bleiben, wie ein Vögelchen essen, ihre Beine beim Sitzen eng zusammenhalten, die passive bzw. untergeordnete Rolle in (heterosexuellem) Sex einnehmen und mit gesenktem Kopf und niedergeschlagenen Augen gehen, sind verkörperte Normen, die solche Geschlechterunterdrückung zugleich widerspiegeln und verstärken. Herrschaftsformen dieser Art lassen sich besonders schwer anfechten, weil unsere Körper sie so tiefgreifend absorbiert haben, dass sie selbst gegen die Anfechtung rebellieren – etwa wenn eine junge Sekretärin unfreiwillig errötet, zittert, zusammenzuckt oder sogar weint, wenn sie versucht, gegen jemanden ihre Stimme zum Protest zu erheben, den zu respektieren sie somatisch gedrillt wurde. Jeder erfolgreiche Widerstand gegen Unterdrückung sollte darum eine somästhetische Diagnose der körperlichen Gewohnheiten und Empfindungen umfassen, die die Beherrschung ebenso zum Ausdruck bringen wie die subtilen institutionellen Regeln und Methoden, durch welche sie eingeprägt werden, so dass diese, zusammen mit den repressiven sozialen Bedingungen, die sie erzeugen, überwunden werden können. Doch wie repressive Machtverhältnisse in unserem Körper kodiert und aufrechterhalten werden, so können sie auch durch alternative somatische Praktiken angefochten werden. Dieser Frage haben sich neuere Feministinnen und Queer-Body-Theoretikerinnen produktiv angenommen, gleichzeitig war die Foucaultsche Botschaft seit langem Teil der psychosomatischen Programme von Denkern wie Reich und Feldenkrais. Diese Theoretiker bekräftigten somästhetik und selbstsorge | 53

die tiefen wechselseitigen Einflüsse zwischen somatischen und psychologischen Entwicklungen und erklärten somatische Fehlfunktionen zugleich als Produkt und als verstärkende Ursache persönlicher Probleme, die selbst wiederum einer Umerziehung des Körpers bedürften, um Heilungsprozesse auszulösen. Ähnliche Behauptungen werden von Yogis und Zen-Meistern vorgebracht, aber auch von Bodybuildern und Kampfkunst-Praktizierenden. In all diesen Disziplinen bildet somatisches Training den Kern einer philosophischen Selbstsorge, einer Grundvoraussetzung für geistiges Wohlergehen und psychologische Selbstbeherrschung. Die facettenreichen Dimensionen und der somatische Nexus dieser philosophischen Anliegen brachten mich dazu, Somästhetik als interdisziplinäres Forschungsfeld vorzuschlagen. Denn trotz der gegenwärtig spürbaren Zunahme an Körpertheorien fehlen tendenziell zwei entscheidende Merkmale: Es fehlt ein struktureller Überblick oder eine Architektonik, um die unterschiedlichen, scheinbar nicht zu vereinbarenden Diskurse in ein produktiveres systematisches Feld zu integrieren – ein verständliches Bezugssystem, welches den Diskurs der Biopolitik mit Therapien der Bioenergetik und die ontologischen Doktrinen der Supervenienz mit den SupersatzMethoden der Bodybuilder verknüpfen könnte. Der zweite Punkt, der in den meisten gegenwärtigen philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Körper fehlt, ist eine klare pragmatistische Ausrichtung – etwas, das die oder der Einzelne direkt in eine Disziplin verbesserter somatischer Praktik übersetzen kann. Inspiriert durch Foucaults verkörperte Vision einer Selbstsorge, strebt Somästhetik danach, beide Mängel zu beheben.

III.

1. Somästhetik, so wie ich sie verstehe, umfasst drei fundamentale Zweige, die bei Foucault alle stark ausgeprägt sind. Der erste, die analytische Somästhetik, ist ein wesentlich beschreibendes und theoretisches Unternehmen, das dazu dient, den Charakter unserer körperlichen Wahrnehmungen und Praktiken sowie ihre Funktion für unsere Erkenntnisweisen und unsere Wirklichkeitskonstruktionen zu erklären. Neben den traditionellen Fragestellungen der Philo54 | kapitel 1

sophie des Geistes, der Ontologie und der Erkenntnistheorie, die mit dem Körper-Geist-Problem und der Rolle somatischer Faktoren in Bewusstsein und Handlung verknüpft sind, umfasst analytische Somästhetik auch die Art genealogischer, soziologischer und kultureller Analyse, die Foucault so einflussreich in die zeitgenössische Philosophie eingeführt hat und die die somatischen Theorien von Pierre Bourdieu und feministischen Theoretikerinnen wie Judith Butler und Susan Bordo mitprägte. Diese Forschungen zeigen, auf welche Weise der Körper einerseits durch Macht geformt und andererseits als Instrument genutzt wird, um diese Macht zu erhalten; wie körperliche Normierungen der Gesundheit, des Geschmacks und der Schönheit und selbst die elementarsten Kategorien von sex und gender konstruiert werden, um soziale Kräfte widerzuspiegeln und aufrechtzuerhalten.20 Foucaults Herangehensweise an diese somatischen Fragen ist typischerweise genealogisch und zeichnet das historische Aufkommen verschiedener Körperdoktrinen, -normen und -praktiken nach. Sein deskriptiver Ansatz könnte erweitert werden durch eine vergleichende Analyse, die die Sichtweisen auf den Körper und auf Körperpraktiken in zwei oder mehreren historisch synchronen Kulturen gegenüberstellt, oder durch eine Analyse, die sich auf die somatische Komplexität einer einzelnen Kultur mit ihrer Vielfalt an Subkulturen und Klassen konzentriert. Dennoch schließt der Wert solcher historisch-kulturellen Studien allgemeinere somästhetische Untersuchungen der Verkörperung nicht aus, seien sie ontologisch oder phänomenologisch ausgerichtet oder an der Perspektive der Biologie oder der Kognitionswissenschaften orientiert.21 2. Im Unterschied zur analytischen Somästhetik, deren Logik (sei sie genealogisch oder ontologisch) deskriptiv ist, hat pragmatistische Somästhetik einen unverkennbar normativen, präskriptiven Charakter – dadurch, dass sie spezifische Methoden somatischer Verbesserung vorschlägt und sich ihrer vergleichenden Kritik annimmt. Da die Brauchbarkeit einer jeden vorgeschlagenen Methode von bestimmten körperlichen Tatsachen abhängen wird (ob es nun ontologische, physiologische oder soziale sind), wird diese pragmatistische Dimension immer die analytische voraussetzen, auch wenn erstere letztere transzendiert – nicht nur, weil sie die Ergebnisse der Analyse bewertet, sondern auch, weil sie zahlreiche Methoden vorschlägt, um bestimmte Tatsachen durch Modifikationen des Körpers somästhetik und selbstsorge | 55

und der Gesellschaft zu verbessern. In der langen Entwicklungsgeschichte des Menschen wurde eine Vielzahl pragmatistischer Disziplinen entworfen, um Erfahrung und Gebrauch unseres Körpers zu verbessern: diverse Diäten, Formen der Pflege und des Schmückens (Körperbemalungen, Piercings und Vernarbungen ebenso wie vertrautere Formen der Verschönerung durch Kosmetik, Schmuck und Mode), Tänze, Yoga, Massage, Aerobics, Bodybuilding, Fitness, Kampfkünste und kunstvolle erotische Praktiken sowie moderne psychosomatische Disziplinen wie die Alexander-Technik und die Feldenkrais-Methode. Die verschiedenen Methodiken dieser Praktiken können auf unterschiedliche Weise klassifiziert werden. Wir können zwischen eher holistischen und eher atomistischen Praktiken unterscheiden: Während letztere einzelne Körperteile oder -oberflächen im Blick haben – Frisuren, Nagellackierung, Hautbräunung, chirurgische Nasenverkleinerungen oder Brustvergrößerungen –, orientieren sich Praktiken der ersten Kategorie emphatisch am ganzen Leib und der gesamten Person als einer integrierten Ganzheit. Hatha Yoga, T’ai chi ch’uan und die Feldenkrais-Methode beispielsweise umfassen Systeme ganzheitlicher somatischer Haltungen und Bewegungen, um das harmonische Funktionieren und die Körperenergie als vereinigtes Ganzes weiterzuentwickeln. Diese Praktiken, die unter die Haut und die Muskelfasern gehen, um unsere Knochen wieder zurechtzurücken und die Nervenbahnen (mit deren Hilfe wir uns bewegen, fühlen und denken) besser zu organisieren, behaupten, dass gesteigerte somatische Harmonie sowohl ein förderliches Instrument als auch eine heilsame Nebenwirkung erhöhter geistiger Aufmerksamkeit und psychischer Balance ist. Solche Disziplinen verweigern sich der Spaltung von Körper und Geist und streben stattdessen nach aufgeklärter Verbesserung des Körper-Geistes der gesamten Person. Somatische Praktiken können auch danach klassifiziert werden, ob sie sich vor allem an das praktizierende Individuum oder eher an andere Personen richten. Ein therapeutischer Masseur oder eine Chirurgin arbeitet normalerweise mit und an anderen, bei Tai Chi oder Bodybuilding hingegen arbeitet man stärker an seinem eigenen Körper. Es handelt sich bei dieser Unterscheidung zwischen somatischen Praktiken, die sich auf das eigene Selbst oder auf andere 56 | kapitel 1

richten, jedoch um keine strenge Unterscheidung, da viele Praktiken beides sind. Make-up wird häufig sowohl von einem selbst als auch von anderen aufgetragen; bei erotischen Künsten besteht häufig ein gleichzeitiges Interesse sowohl an den eigenen lustvollen Erfahrungen als auch an denen des Partners während des Umgangs mit dem eigenen wie dem Körper des anderen. Darüber hinaus scheinen Disziplinen wie Diäten oder Bodybuilding oftmals durch den Wunsch motiviert, anderen gefallen zu wollen, während auf andere gerichtete Praktiken wie Massagen für den Masseur ganz eigene Freuden mit sich bringen können. Trotz dieser Komplexität (welche zum Teil aus dem tiefen gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Selbst und Anderem resultiert) ist die Unterscheidung zwischen Körperdisziplinen, die auf das Selbst, und denen, die auf andere gerichtet sind, sinnvoll, um der gängigen Annahme zu widerstehen, das Fokussieren des Körpers beinhalte einen Rückzug aus dem Sozialen. Meine eigene Arbeit als Feldenkraispraktiker hat mich gelehrt, wie wichtig es ist, dem eigenen somatischen Zustand gegenüber sehr aufmerksam zu sein, um für den Klienten die angemessene Aufmerksamkeit aufbringen zu können. Wenn ich einen Feldenkrais-Kurs über funktionale Integration gebe, muss ich auf meine eigene Körperhaltung und auf meine Atmung achten, auf die Spannung meiner Hände und anderer Körperteile wie auch auf die Art des Kontakts meiner Füße mit dem Boden, damit ich in der besten Verfassung dafür bin, die Körperspannung und Leichtigkeit der Bewegungen des Klienten einzuschätzen.22 Ich muss es mir selbst somatisch bequem machen, um nicht durch meine eigenen Körperspannungen abgelenkt zu werden und um meinem Klienten die richtige Botschaft zu vermitteln. Andernfalls übertrage ich meine Empfindungen somatischer Angespanntheit und somatischen Unbehagens auf meinen Klienten, wenn ich ihn berühre. Und weil man es oftmals versäumt zu bemerken, wann und warum man sich in einem Zustand leichten somatischen Unbehagens befindet, besteht ein Teil der FeldenkraisAusbildung darin, zu lehren, wie man solche Zustände unterscheiden und ihre Ursachen differenzieren kann. Eine größere Sensibilität für die eigenen somatischen Reaktionen kann auch in einem viel umfassenderen sozialen und politischen Kontext das eigene Verhalten gegenüber anderen positiv verändern. somästhetik und selbstsorge | 57

Ethnische und rassistische Feindseligkeit ist kein Produkt logischen Denkens, sondern tief sitzender Vorurteile, welche somatischen Ausdruck finden oder sich in Form unbestimmter, jedoch unangenehmer Gefühle manifestieren, die unterhalb der bewussten Wahrnehmungsebene liegen. Solche Vorurteile und Gefühle widerstehen einer Korrektur durch diskursive Argumente für Toleranz, die auf der rationalen Ebene angenommen werden kann, ohne etwas am festsitzenden Bauchgefühl des Vorurteils zu ändern. Oft leugnen wir, dass wir solche Vorurteile haben, weil wir nicht bemerken, dass wir sie fühlen, und der erste Schritt, um diese zu kontrollieren oder auszumerzen, besteht darin, die somatische Sensibilität zu entwickeln, sie in uns selbst zu erkennen.23 Somatische Disziplinen können darüber hinaus im Hinblick darauf klassifiziert werden, ob sie sich hauptsächlich an der äußeren Erscheinung oder der inneren Erfahrung orientieren. Darstellungsbezogene (representational) Somästhetik (wie Kosmetik) beschäftigt sich stärker mit dem Äußeren oder den Oberflächenformen des Körpers, wohingegen erfahrungsbezogene (experiential) Disziplinen (wie z. B. Yoga) danach streben, dass wir uns »besser fühlen« im doppelten Sinn dieses zweideutigen Ausdrucks (der die produktive Doppeldeutigkeit von Ästhetik widerspiegelt): die Qualität unserer Erfahrungen in befriedigender Form zu steigern, zugleich aber auch unsere Aufmerksamkeit für somatische Erfahrungen zu schärfen und zu sensibilisieren. Kosmetische Praktiken (vom Frisieren bis zur plastischen Chirurgie) exemplifizieren die repräsentierende Seite von Somästhetik, während Praktiken wie Feldenkrais’ »Bewusstsein durch Bewegung« oder mindfulness meditation für die empirische Seite paradigmatisch sind. Die Unterscheidung zwischen darstellungsbezogener und erfahrungsbezogener Somästhetik ist eher eine zwischen dominanten Tendenzen als zwischen starren Gegensätzen. Die meisten somatischen Praktiken weisen sowohl darstellende als auch erfahrungsmäßige Dimensionen (und Belohnungen) auf, da ein elementares Ergänzungsverhältnis zwischen Darstellung (representation) und Erfahrung (experience) besteht, innerlich wie äußerlich. Wie wir aussehen beeinflusst wie wir uns fühlen und umgekehrt. Praktiken wie Diäthalten oder Bodybuilding, die ursprünglich für darstellende Zwecke verfolgt wurden, erzeugen oftmals innere Empfindungen, 58 | kapitel 1

deren Erfahrung fortan um ihrer selbst willen erstrebt wird. Der Diät-Fan wird zum Anorektiker, weil er ein Verlangen nach dem Hungergefühl hat; die Bodybuilderin wird abhängig von der Erfahrung einer Gefühlswoge durch das Geräte-»Pumpen«. Überdies wenden somatische Methoden, die auf innere Erfahrungen zielen, oftmals darstellende Methoden als Fingerzeig an, um eine Körperhaltung zu bewirken, die notwendig ist, um die gewünschte Erfahrung hervorzurufen – sei es dadurch, dass man das eigene Spiegelbild konsultiert, indem man beispielsweise den eigenen Blick auf einen Körperteil wie die Nasenspitze oder den Bauchnabel fokussiert, sei es, indem man einfach eine Körperform in der eigenen Vorstellung visualisiert. Umgekehrt nutzen darstellende Praktiken wie Bodybuilding die geschärfte Aufmerksamkeit auf erfahrungsmäßige Fingerzeige (wie den optimalen Punkt der Ermüdung, der Körperausrichtung und der vollständigen Muskelstreckung), um diesen für die Modellierung der äußeren Körperform zu nutzen, wobei beispielsweise der Schmerz, der beim Muskelaufbau entsteht, von dem Schmerz unterschieden wird, der Verletzungen signalisiert. Dessen ungeachtet bleibt die Unterscheidung zwischen dem Darstellungs- und dem Erfahrungsbezogenen nützlich, insbesondere, um bestimmten Positionen entgegenzutreten, die Somästhetik als intrinsisch oberflächlich und spirituell ausgehöhlt abqualifizieren würden. Horkheimers und Adornos berühmte Kritik des Somatischen liefert ein gutes Beispiel dieser Position. »[…] die romantischen Versuche einer Renaissance des Leibes« müssten scheitern, behaupten sie, weil sie in unserer Kultur implizit die »Spaltung […] in den Geist und seinen Gegenstand« verstärkten. Als ein Gegenstand der Sorge werde der Körper als bloß physisches Ding (»›das tote Ding‹, ›corpus‹«) im Gegensatz zum inneren lebendigen Geist darstellend entäußert.24 Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper sei demnach immer entfremdete Aufmerksamkeit gegenüber einer externen Darstellung außerhalb des eigenen geistigen Selbst. Darüber hinaus werde der Körper – als externe Darstellung – unausweichlich von den korrupten gesellschaftlichen Bildmeistern – Werbung und Propaganda – dominiert und eingesetzt. »Die Lobpreisung der Vitalphänomene, von der blonden Bestie bis zum Südseeinsulaner, mündet unausweichlich in den Sarongfilm, die Vitamin- und Hautcremeplakate ein, die nur die Platzhalter des immanenten Ziels der somästhetik und selbstsorge | 59

Reklame sind: des neuen, großen, edlen, schönen Menschentypus: der Führer und ihrer Truppen.«25 Enthusiasten von schönen Körpern und von Körpertraining seien nicht nur oberflächlich; sie werden – das ist noch finsterer – mit faschistischen Schlächtern in Verbindung gebracht, die den menschlichen Leib als bloßen »Stoff und Materie«26 und als formbares mechanisches Werkzeug behandelten, dessen Teile bearbeitet und geschärft werden müssten, damit sie jedweder sie kontrollierenden Macht effektiver dienten. Körper, die nicht mehr in Schuss sind, sollten nach dieser Nazi-Logik zu Seife geschmolzen oder zu irgendeinem anderen nützlichen Ding wie einem Lampenschirm verarbeitet werden. »Die […] den Körper priesen, die Turner und Geländespieler, hatten seit je zum Töten die nächste Affinität. […] Sie sehen den Körper als beweglichen Mechanismus, die Teile in ihren Gelenken, das Fleisch als Polsterung des Skeletts. Sie gehen mit dem Körper um, hantieren mit seinen Gliedern, als wären sie schon abgetrennt. […] Sie messen den anderen, ohne es zu wissen, mit dem Blick des Sargmachers [und] nennen den Menschen [also] lang, kurz, fett und schwer. […] Die Sprache hält mit ihnen Schritt. Sie hat den Spaziergang in Bewegung und die Speise in Kalorien verwandelt.«27

Vor mehr als fünfzig Jahren formuliert, bleibt die Kritik von Horkheimer und Adorno eine eindringliche Zusammenfassung der schwersten zeitgenössischen Anschuldigungen gegenüber einer Ästhetisierung des Körpers. Weil sie verführerischen Bildern körperlicher Schönheit und Vorzüglichkeit Vorschub leisten würde, steht Somästhetik als ein Werkzeug kapitalistischer Werbung und politischer Repression unter Anklage: Sie entfremdet, vergöttert und fragmentiert den Körper und behandelt ihn als äußeres Mittel und als Mechanismus, der anatomisch in separate Bereiche intensiver Bearbeitung zerlegbar wird zum Zweck ostentativ-messbarer Resultate und für den Verkauf zahlloser Waren, die vermarktet werden, um gerade diese Resultate zu erzielen. Daher unsere ständige Sorge um Körpermaße mit spezialisierten ›Fitness‹-Kursen, die den Bauchmuskeln, Oberschenkeln, Hinterteilen, usw. gewidmet sind; deswegen die Milliarden Dollar schwere Kosmetikindustrie mit ihren spezialisierten Produkten für verschiedene Körperteile. 60 | kapitel 1

Eine somatische Ästhetik, so wird weiter argumentiert, muss daher Individualität und Freiheit untergraben, da sie die Konformität von standardisierten Körpermaßen und -modellen zum Ziel hat, die in ihrer Zweckrationalität oder Attraktivität vermeintlich optimal sind. Diese Modelle reflektieren und verstärken darüber hinaus repressive soziale Hierarchien (wie z. B. das nordamerikanische Ideal des hoch gewachsenen, mageren, blonden, blauäugigen Körpers offensichtlich dem Privileg dieser dominanten ethnischen Gruppe dient). So schlagkräftig solche Beschuldigungen sein mögen, sie hängen doch alle davon ab, ob man Somästhetik als eine Theorie begreift, die den Körper darauf reduziert, ein äußerliches Objekt zu sein – ein mechanisches Instrument aus atomisierbaren Partikeln, messbaren Oberflächen und standardisierten Schönheitsnormen. Ignoriert wird dabei die subjektive Rolle des Körpers als eines lebendigen Ortes schöner, empfundener Erfahrungen. In ihrer erfahrungsbezogenen Dimension widersetzt sich Somästhetik eindeutig einer Objektivierung des Körpers als eines entfremdeten Dings in Abgrenzung zum lebendigen Geist menschlicher Erfahrung. Ebenso wenig bedarf Somästhetik notwendigerweise eines standardisierten Normenkataloges von äußeren Maßstäben (z. B. eines optimalen Pulses), um eine gute somästhetische Erfahrung zu bestimmen.28 Die Blindheit der Kulturkritiker gegenüber der somatischen Erfahrung ist verständlich und noch immer weit verbreitet, da die Somästhetik der Darstellung in unserer Kultur weitaus stärker ins Auge springt und dominanter ist, einer Kultur, die zu großen Teilen auf der Trennung von Körper und Geist aufgebaut ist und wirtschaftlich von einem Kapitalismus demonstrativen Konsums beherrscht wird, der von der Vermarktung von Körperbildern angetrieben wird. Aber gerade aus diesem Grund benötigt das Forschungsfeld der Somästhetik – mit seiner wesentlichen erfahrungsbezogenen Dimension – eine sorgfältigere und rekonstruktive Aufmerksamkeit seitens der Philosophie. Die Differenzierung in darstellungsbezogene und erfahrungsbezogene Aspekte ist nützlich, um die Somästhetik gegen jene Vorwürfe zu verteidigen, die ihre innere, erfahrungsmäßige Tiefe nicht zur Kenntnis nehmen. Die Unterscheidung darstellungsbezogen – erfahrungsbezogen ist jedoch weder als strikte Dichotomie zu verstehen, noch ist sie gänzlich erschöpfend. Eine dritte somästhetik und selbstsorge | 61

Kategorie, die der vollzugsbezogenen (performative) Somästhetik, kann für Disziplinen eingeführt werden, die primär der körperlichen Stärke, Gewandtheit oder Gesundheit gewidmet sind (wie etwa in den Kampfsportarten, der Leichtathletik, der Aerobik und dem Krafttraining). Aber in dem Maße, wie eine solche performativ orientierte Praktik entweder auf die äußere Darstellung von Stärke und Gesundheit oder alternativ auf die inneren Empfindungen von Kraft, Geschicklichkeit und Gesundheit zielt, kann man sie entweder eher der darstellungsbezogenen oder der erfahrungsbezogenen Seite zurechnen. 3. Freilich, wie wir auch die verschiedenen Methodiken pragmatistischer Somästhetik klassifizieren, so müssen sie doch von der tatsächlichen praktischen Umsetzung unterschieden werden. Ich nenne diese dritte Dimension praktische Somästhetik. Dabei handelt es sich nicht darum, Texte zu produzieren, noch nicht einmal Texte, die pragmatistische Methoden somatischer Selbstsorge anbieten. Es handelt sich stattdessen darum, tatsächlich eine solche Sorge durch eine auf intelligente Weise disziplinierte Körperarbeit zu betreiben, bei der es um somatische Selbstverbesserung geht (sei es nun im darstellungsbezogenen, im erfahrungs- oder im vollzugsbezogenen Sinne). Diese praktische Dimension, die nicht mit Sprechen, sondern mit dem Tun beschäftigt ist, wird von akademischen Körperphilosophen am meisten vernachlässigt, deren Hingabe an den philosophischen Logos typischerweise damit endet, den Körper zu versprachlichen. Doch weil in der Philosophie das, worüber man glaubt, keine Worte verlieren zu müssen, normalerweise auch im Tun folgenlos bleibt, muss die konkrete Aktivität somatischen Trainings hier als wesentliche praktische Dimension von Somästhetik beim Namen genannt und Somästhetik als umfassende philosophische Disziplin begriffen werden, die sich mit Selbsterkenntnis und Selbstsorge befasst.29 Foucault ist beispielhaft für die Arbeit in allen drei Bereichen von Somästhetik. Der analytische Genealoge, der zeigt, wie »gelehrige Körper« systematisch, doch zugleich subtil und heimlich durch vermeintlich harmlose Körper-Disziplinierungen und biopolitische Regime geformt werden, um bestimmte repressive sozio-politische Agenden und Programme voranzubringen, tritt auch als pragmatistischer Methodologe hervor, der alternative Körperpraktiken 62 | kapitel 1

vorschlägt, um dadurch die repressiven Ideologien zu überwinden, die sich in unseren gelehrigen Körpern ohne unser Wissen verfestigt haben. Zu diesen Alternativen rechnet Foucault in erster Linie Praktiken des konsensuellen S/M-Sex, dessen Erfahrungen, wie er argumentiert, nicht allein die Hierarchien im Kopf infrage stellen, sondern auch das Privilegieren einer genitalen Sexualität, die wiederum Heterosexualität privilegiert. Foucault befürwortet auch mehrfach harte »Drogen, die sehr intensive Lüste hervorrufen können«, und er tritt dafür ein, dass diese »ein Teil unserer Kultur werden müssen«.30 Und Foucault lebte kühn, was er lehrte. Er probierte seine favorisierten Methoden durch praktische Somästhetik aus und experimentierte körperlich mit sich und mit anderen. Die Kritik an diesen Methoden sollte jedoch nicht den besonderen Wert von Drogen und S/M für bestimmte Projekte der Selbstsorge bestreiten, mit denen Foucault persönlich am stärksten beschäftigt war: Projekte radikaler Erneuerung, der Schwulenbewegung und sein eigenes problematisches Trachten nach Lüsten. Die Redewendung »Jeder nach seiner Fasson« (different strokes for different folks) spricht eine umgangssprachliche Weisheit aus, die nicht nur in diesem Kontext Gültigkeit hat. In dem Maße, wie jedes einzelne Selbst einzigartiges Produkt unzähliger Kontingenzen und verschiedener kontextueller Faktoren ist, sollten wir eine gewisse Vielfalt somästhetischer Methoden und Ziele zur Kultivierung des Selbst erwarten und respektieren. Dennoch: Da unsere verkörperten Selbste entscheidende Gemeinsamkeiten biologischer Veranlagung und gesellschaftlicher Prägung teilen, sollte es Gründe für einige Verallgemeinerungen hinsichtlich der Werte und Risiken verschiedener somatischer Methoden geben. Wie sollte Philosophie oder Wissenschaft (oder sogar praktisches Leben) ohne solche Verallgemeinerungen möglich sein?

IV.

Weil wir uns hier auf die Methoden und Ziele von Foucaults pragmatistischer Somästhetik konzentrieren, kann in diesem Kapitel weder seinen faszinierenden genealogischen Forschungen im Bereich analytischer Somästhetik noch den verlockend kontroversen somästhetik und selbstsorge | 63

Details seiner tatsächlichen körperlichen Praktiken angemessene Aufmerksamkeit zuteilwerden. Unsere kritische Studie über Foucaults pragmatistisches Programm wird über die besonderen Probleme seiner spezifisch empfohlenen Methoden hinausgehen und sich auf umfassendere Fragestellungen ausdehnen, die seine Programmatik des Gebrauchs der Lüste und der ästhetischen Selbsterschaffung betreffen. Diese Fragestellungen führen darüber hinaus zu noch grundsätzlicheren Bedenken in Hinblick auf den Wert von Somästhetik als einer Interpretation philosophischer Selbstsorge. Die Argumente dieses Kapitels könnten auf schwerwiegende Weise missverstanden werden, wenn man sich nicht drei wichtige Punkte klar vor Augen führt: Erstens bedeutet die Kritik eines spezifischen Programms oder einer besonderen Methode pragmatistischer Somästhetik nicht eine Widerlegung oder Zurückweisung der Gültigkeit und des Werts dieses Forschungsfeldes per se, welches tatsächlich als ein komplexes und nuanciertes Feld vergleichender Kritik konkurrierender Methoden und Absichten entstanden ist. Den Wert pragmatistischer Somästhetik zu behaupten impliziert umgekehrt nicht die Verteidigung aller unterschiedlichen Methoden, die dieses Feld umfasst, und es bedeutet auch nicht, dass diese tatsächlich wertvoll sind und praktisch umgesetzt werden sollten. Da einige Methoden miteinander klarerweise unvereinbar sind, sollten wir sie nicht durchweg befürworten. Diese Art Komplexität, die sich in der Philosophie selbst wiederfindet, ist keineswegs widersprüchlich. Denn wir können den Wert von Philosophie wohl bekräftigen, ohne deswegen von der Wahrheit und dem Wert all ihrer Theorien auszugehen, ebenso wie die Kritik einer besonderen philosophischen Theorie oder Gruppe von Theorien keine Verwerfung der Philosophie an sich zur Folge hat, sondern viel eher das kritische Potential der Philosophie bestätigt. Zweitens ist das Hauptanliegen unserer Untersuchung eine immanente Kritik an Foucaults pragmatistischer Somästhetik und nicht die einfache Zurückweisung von Foucaults gesamtem somästhetischen Programm, etwa aufgrund einer bloßen Abneigung gegenüber seinen grundlegenden Zielen oder um stattdessen ganz andere somatische und kulturelle Werte zu verteidigen. Anstatt über die Problematik harter Drogen und sadomasochistischer Sexprakti64 | kapitel 1

ken zu moralisieren (deren somatische, ethische und soziale Gefahren ich nicht bestreite), zeigen unsere Schlüsselargumente vielmehr, wie die von Foucault empfohlenen Methoden in einem zwar verborgenen, aber grundsätzlichen Konflikt mit seinen erklärten Zielen stehen (etwa die Multiplikation von somatischen Lüsten und von Formen der Stilisierung des Selbst) und deshalb dazu neigen, die Verwirklichung dieser Ziele zu untergraben. Drittens besteht unsere Absicht nicht darin, Foucaults Theorien durch ad-hominem-Attacken zu diskreditieren, die seine Ziele, Methoden und persönlichen Praktiken als besonders pervers dämonisieren. Stattdessen wird der Argumentationsverlauf zeigen, inwiefern Foucaults somästhetisches Programm, obwohl grenzüberschreitend und unkonventionell, dennoch symptomatisch für bestimmte Trends in der Herangehensweise der zeitgenössischen Kultur an somatische Erfahrungen ist, die zu Technologien der Radikalisierung und zu gewaltsamer Sensationslust neigen. Bevor wir das einseitige Zelebrieren dieser Tendenzen in Foucaults pragmatistischer Somästhetik kritisieren, sollten wir den vorbildlichen Wert von Foucaults übrigen Beiträgen zur Somästhetik (seine fruchtbaren Theorien der Biopolitik, der Geschlechterkonstruktion und der somatisch gestützten sozialen Herrschaft) unterstreichen. Dies ist besonders deshalb so wichtig, weil es eine bedauerliche Tendenz im neueren anglo-amerikanischen Diskurs gibt, die Wirkungsmacht von Foucaults Ideen zu skandalisieren und damit zu neutralisieren, indem diese zu seinem frühen Tod durch AIDS im Jahr 1984 in ein Verhältnis gesetzt werden, als ob dieser Tod eine performative Widerlegung all seiner Theorien, die somatische Bezüge haben, darstellte, so dass keine Notwendigkeit mehr zu einer ernsthaften kritischen Auseinandersetzung mit diesen bestünde. Solche Haltungen sind wiederum Teil einer allgemeineren Strategie, die Vielfalt an französischen Theoretikern des späten zwanzigsten Jahrhunderts zugleich zu dämonisieren und zu trivialisieren, die fälschlicherweise unter der Rubrik der ›Postmoderne‹ in einen Topf geworfen werden (selbst wenn diese Theoretiker jede Verbindung mit der Bezeichnung von sich weisen). Mit solcherart beklagenswert frankophobischer tendenziöser Voreingenommenheit wurde Foucaults Befürwortung von Drogen und S/M lächerlich gemacht und als mondäne und übersättigte somästhetik und selbstsorge | 65

Vorliebe eines nihilistischen Franzosen für narkotisierende sexuelle Perversion abgelehnt. Wir müssen hingegen betonen, dass das erklärte Ziel Foucaults geradewegs im Gegenteil besteht: nämlich darin, unsere Obsession mit Sex als Schlüssel zur jeder Art von Lust aufzubrechen und uns von dem repressiven Sexfetischismus unserer Kultur zu befreien, der uns blind dafür macht, andere somatische Lüste wahrzunehmen, die das Leben schöner und befriedigender machen könnten. Statt fanatisch auf die Befriedigung durch Sex und auf das Mysterium seiner wahren Natur fixiert zu sein (wodurch unglücklicherweise gesellschaftlich abweichende sexuelle Ausdrucksformen als verwerflich und abnorm gebrandmarkt werden), sollten wir viel allgemeiner »die Wirklichkeit des Körpers und die Intensität seiner Lüste« verfechten.31 Wir sollten, betont Foucault immer wieder, »auf eine Desexualisierung, auf eine allgemeine Ökonomie der Lust zielen […], nicht sexuell normiert ist«.32 In seiner Verurteilung dessen, was er »die Monarchie des Sex« nennt, macht sich Foucault dafür stark, die »andere Formen von Lüsten […] zu fabrizieren«, indem »die Dinge, die Leute, die Körper polymorphe Beziehungen haben könnten«, für die das traditionelle »›Sex-Raster‹ ein echtes Gefängnis« darstellt.33 Foucault empfiehlt ausdrücklich homosexuellen S/M, nicht für den sexuellen Kick, sondern für die kreative »Desexualisierung der Lüste« durch »die Erfindung neuer Möglichkeiten der Lust mit merkwürdigen Teilen [des] Körpers – durch die Erotisierung des Körpers«. S/M, so führt er aus, ist »ein kreatives Unterfangen, zu dem als Hauptkennzeichen das gehört, was ich die Desexualisierung der Lüste nenne. Die Idee, dass körperliche Lust immer von sexueller Lust herrühren muss, die die Wurzel all unserer möglichen Lüste darstellt. Ich denke, dass das ziemlich falsch ist. Diese Praktiken betonen, dass wir Lüste durch sehr seltsame Dinge, durch sehr merkwürdige Körperteile produzieren können, in sehr ungewohnten Situationen, und so fort.34

Wie, so mag man sich fragen, können der Körper und seine Lüste gleichzeitig desexualisiert und erotisiert werden? Das Paradox wird abgeschwächt, wenn man sich daran erinnert, dass das französische Wort für Sex ebenso die Genitalien bezeichnet, also könnte die Desexualisierung somatischer Lüste einfach meinen, dass man den Vorrang genitaler Befriedigung durch die Erotisierung ande66 | kapitel 1

rer Körperteile untergräbt. Eros bleibt in vollem Umfang sexuell, ist aber nicht länger auf le sexe fokussiert. Diese Verschiebung des »Genitalzentrismus« ist eindeutig eines der Hauptziele Foucaults, ein Punkt, an dem er überzeugend sowohl de Sade als auch Wilhelm Reich kritisiert. Dennoch, kann körperliche Erotik außerdem etwas bezeichnen, das nicht nur lediglich unabhängig von genitalem Sex, sondern insgesamt frei ist vom Raster sexuellen Begehrens, etwas, das »unter einer allgemeinen Ökonomie der Lüste« verstanden und kultiviert werden sollte? Diese radikalere Form desexualisierter Erotisierung würde noch vollständiger Foucaults Ziel dienen, den Körper »unendlich empfänglicher für Lüste« zu machen, indem dessen Fähigkeiten für eine Vielzahl somatischer Lüste entwickelt würden, die das Sexuelle transzendieren.35 Trotz des möglichen kreativen Ertrags seiner Übertretungen bleibt S/M beherrscht von Sex und folglich allzu beschränkt in seiner Palette an Lüsten. Foucaults eigene Darstellung verrät diese Grenzen. In Sexuelle Entscheidung, sexueller Akt wird schwuler S/M gepriesen, weil »die gesamte Energie und Einbildungskraft, die in der heterosexuellen Beziehung im Umwerben kanalisiert wird, jetzt der Intensivierung des Sexaktes selbst gewidmet wird. Eine ganz neue Kunst sexueller Praktiken entwickelt sich, die versucht, alle inneren Möglichkeiten des sexuellen Verhaltens zu erforschen«. Foucault vergleicht die schwulen Lederszenen San Franciscos und New Yorks mit »Laboratorien sexuellen Experimentierens«, und er behauptet, dass solches Experimentieren streng durch Codes der Einvernehmlichkeit kontrolliert werde, so wie in der mittelalterlichen ritterlichen Minne, »bei der strenge Regeln des Besitzwerbens definiert waren«. Experimentieren ist notwendig, erklärt Foucault, »weil der sexuelle Akt so leicht und so leicht verfügbar geworden ist […]. [Deswegen] läuft dieser Gefahr, schnell langweilig zu werden, so dass jede Anstrengung unternommen werden muss, um den Akt zu erneuern und Variationen zu erfinden, die die Lust daran steigern.« »Diese Mischung aus Regeln und Offenheit«, schließt er, »hat durch die fortwährende Einführung des Neuen, die fortwährende Spannung und die fortwährende Ungewissheit die Auswirkung, sexuelle Beziehungen zu intensivieren, die dem schlichten Vollzug des Akts fehlen. Die Idee ist außerdem, von jedem Körperteil als einem sexuellen Instrument Gebrauch zu machen.«36 somästhetik und selbstsorge | 67

Das ist wohl kaum ein vielversprechendes Rezept, um aus sexuellen Rastern auszubrechen, hin zu einem Polymorphismus der Lüste, den Foucault anzustreben behauptet. Die gesamte somatische Einbildungskraft wird stattdessen darauf verengt, den »sexuellen Akt« zu intensivieren und jedes Teil des Soma darauf zu reduzieren, »sexuelles Instrument« zu sein. Ganz gleich, wie grenzüberschreitend und experimentell dieser sein mag, Foucaults Vision von S/M verstärkt ungewollt die vereinheitlichende Normalisierung der Lüste als sexuell und als strukturiert durch »den Akt« (auf welche abweichende Weise er auch immer vollzogen wird). Insbesondere dessen Werkzeuge und die Bondage-Symbolik (Ketten, Taue, Peitschen, Kerker usw.) vermitteln ironischerweise, wie sehr S/M-Sex der sexuellen Normierung der Lust und ihrer erotisierenden Affirmation schmerzhafter Versklavung verhaftet bleibt. Die Monotonie dieser altmodischen Bilder und das kreative Armutszeugnis neuerer Bilder von Disziplinierungen wie die »Stiefel, Mützen, und (Reichs-)Adler« der Nazis sprechen nicht gerade für eine besonders verwegene Fantasie, ein Problem, das Foucault selbst mit einiger Bestürzung zugibt, da solch ein Mangel an Einbildungskraft die Unzulänglichkeit dieser Bilder in Hinblick auf kreative Selbsterschaffung verrät.37 Seine einseitige Befürwortung von homosexuellem S/M deutet außerdem auf die scharfen Grenzen einer maskulinistischen Sexualität hin, die auf Gewalt fokussiert ist, als gäbe es nicht ebenso kreative und lustvolle Erotik, die ganz unterschiedliche geschlechtliche Subjektivitäten und Wünsche auszudrücken vermag und sanftere Formen sexueller Begegnung praktiziert.38 Was für ein Bild von erotischer, ethischer und sozialer Selbststilisierung wird durch das betriebsame Aufgehen in einem Theater der Sexualität gezeichnet, das ganz und gar dem Zelebrieren von Gewalt, Dominanz und Unterwerfung als den besten Lustquellen ergeben ist? Welches (Vor-) Bild der eigenen Beziehung zu anderen wird durch sadomasochistisches fist-fucking befördert? Die vieldeutige Macht des Eros wird auf eine Erotik der Beherrschung reduziert, die keinen Platz für eine Somatik liebevoller Zärtlichkeit zu lassen scheint, die zweifellos (neben gewaltsameren Bewegungen) eine ebenbürtige Rolle in der erotischen Kultur sowohl des Ostens als auch des Westens spielt.39 Die Diagnose dieser Grenzen von S/M soll deswegen jedoch nicht den so genannten normalen Sexualpraktiken – seien diese hetero68 | kapitel 1

oder homosexuell – den exklusiven Vorrang einräumen. Denn alle diese Praktiken teilen mit Foucaults Version von S/M genau denselben einschränkenden sexuellen Rahmen. Mein Hauptpunkt besteht vielmehr darin, die Wichtigkeit der Kultivierung jener somatischen Lüste zu unterstreichen, die insgesamt dem sexuellen Rahmen entgehen und darum die Palette unserer Genüsse vervielfältigen. Solche nichtgeschlechtlichen Lüste, die auf demokratischere Weise auch Zölibatären Vergnügen bereiten können, sind etwa wohltuendere Weisen des Atmens, des Sitzens, Liegens, Dehnens, Gehens und des Essens ebenso wie das Genießen bestimmter Formen von Sport und von Disziplinen, bei denen es um die Steigerung der körperlichen Gegenwärtigkeit geht. Diese nichtgeschlechtlichen Lüste sind nicht unvereinbar mit den sexuellen Lüsten. Durch ihre Vielfalt wie auch durch die somästhetischen Techniken der Selbstbeherrschung, mit denen sie ausgeübt werden, können die nichtgeschlechtlichen die sexuellen Lüste tatsächlich sogar verstärken. Wenn homosexueller S/M sich zugleich auf das sexuelle Raster und ein sehr limitiertes (wenn auch grenzüberschreitendes und variables) Repertoire und festgeschriebene Praktiken beschränkt: Weshalb hat Foucault sich leidenschaftlich dafür ausgesprochen, dass S/M der somästhetische Schlüssel zur Schaffung einer radikal neuen (und sogar »unvorhersehbaren«) Lebensweise und eines radikal neuen, sich selbst stilisierenden ethischen Subjekts sei? Zunächst legt der ausdrücklich kulturelle Charakter von S/M – durch seine Infragestellung der Naturauffassung von den Geschlechtern und durch sein inszeniertes, umkehrbares Rollenspiel – nahe, dass unsere erotischen Lüste sozial konstruiert sind. Darüber hinaus schärft er uns zwei entscheidende Botschaften Foucaults ein: dass unser Selbst keine unerschütterliche ontologische Identität hat (natürlich definiert durch physisch bestimmte und bestimmbare Geschlechter in Hinblick auf die Geschlechtsorgane), sondern stattdessen eine sozial konstruierte Rolle ist, die wir in Bezug auf andere spielen; und dass wir uns deshalb in einem gewissen Maße umgestalten können, indem wir bewusst unterschiedliche Rollen einnehmen. Doch vielleicht war Foucaults stärkster Grund dafür, S/M zu verteidigen, die gelebte, intensive hedonistische Macht seiner eigenen wirklichen Erfahrung. Was macht es aus, dass die Mittel konventionell oder sogar banal sind, wenn das Ergebnis so intensiv und lustvoll ist? somästhetik und selbstsorge | 69

An diesem Punkt gelangen wir zu einem zweiten Einwand gegen Foucaults pragmatistische Somästhetik. Foucault verficht nur intensivsten Genuss, den er mit harten Drogen und Sex identifiziert, und reduziert damit drastisch unsere mögliche Bandbreite an Lüsten. Er verwischt so sein ausdrückliches Ziel, uns »unendlich viel empfänglicher für Lüste« durch stärkere Entwicklung ihrer vielfältigen somatischen Formen werden zu lassen. In Aufdeckung seiner grundlegenden Anhedonie (»Lust ist ein schwieriges Verhalten […] und ich habe immer den Eindruck, als wenn ich die Lust nicht spüre, die vollständige, totale Lust«) lehnt Foucault das ab, was er »jene mittelmäßigen Lüste nennt, die das Alltagsleben ausmachen« (abfällig aufgezählt als konventionelles US-amerikanisches »Sandwich«, als »Cola«, ein »Eis« oder sogar als das »gute Glas Rotwein«). »Eine Lust muss etwas unglaublich Intensives sein«, bekennt er, oder sie ist »nichts für mich«.40 Wahre Lust wird deshalb auf überwältigende Grenzerfahrungen reduziert, die »dem Tod verwandt« sind und Foucault so sehr faszinierten, dass er lange und ernsthaft einen Suizid erwog (und sogar mehr als einmal einen Versuch unternahm, sich umzubringen).41 »Die Art von Lust, die ich als die wirkliche Lust betrachten würde«, versichert Foucault »wäre so tief, so intensiv, so überwältigend, dass ich sie nicht überleben könnte. Ich würde sterben […] [Und] manche Drogen sind für mich wirklich wichtig, weil sie die Vermittlung zu jenen unglaublich intensiven Genüssen sind, nach denen ich suche und die ich außer Stande bin, von allein zu erfahren.«42 Wegen seiner erklärten »echten Schwierigkeit, Lust zu empfinden«, muss Foucault anscheinend durch sinnliche Intensität überwältigt werden, um genießen zu können. Wir sollten diese Anhedonie und das Bedürfnis nach extremer Intensität nicht als bloß persönliches Problem Foucaults abtun, und in der Tat behauptet er: »Ich bin nicht der Einzige, dem es so geht.«43 Sie spiegelt viel eher einen allgemeinen und beunruhigenden Trend im somatischen Bewusstsein unserer Kultur wider. Erst wird eine durchweg verheerende Spaltung etabliert zwischen den vermeintlich bedeutungslosen körperlichen Vergnügungen des alltäglichen Lebens (die einfallslos mit Essen und Trinken identifiziert werden) und jenen wahrhaft bedeutenden somatischen Lüsten, die dann durch ihre gewaltsame Intensität definiert und mit grenzüberschreitendem 70 | kapitel 1

Drogenkonsum und Sex identifiziert werden.44 Aber alltägliche somatische Lüste können auch das Atmen, das Dehnen der Glieder und das Gehen umfassen; und diese einfachen Tätigkeiten können weiterentwickelt werden, bis sie Erfahrungen von großer Kraft und geistiger Ekstase ermöglichen, wie wir an den vertrauten YogaMethoden von Pranayama und Asana sehen oder in buddhistischen Formen des meditativen Sitzens, Gehens und Tanzens.45 Umgekehrt können Erfahrungen extremen Drogenkonsums und heftigen Sex’ zur sinnlosen Routine werden. Die Psychologie der Sinneswahrnehmung zeigt, dass die Intensivierung der Lüste nicht einfach durch eine gesteigerte Intensität der Wahrnehmung erreicht werden kann. Sinneseinschätzungen stumpfen ab, wenn sie durch extreme Wahrnehmungen überstrapaziert werden. Die am intensivsten genossene Musik ist nicht unbedingt die lauteste. Eine sacht streichende Berührung kann stärkere Lust erzeugen als ein krachender Stoß. Lust folgt einer komplizierten Logik; Asketen wissen, wie man sie durch Entsagung erringt. Yogis erlangen ihre intensivsten Erlebnisse nicht durch die Sinnesexplosionen betäubender Orgasmen, sondern vielmehr durch eine Leere, die ihre ganz eigene ermächtigende Intensität und Fülle offenbart. Wenn Foucault eine »Ethik der Lüste« vorschlägt, bedarf es dann nicht einer sorgfältigen »Logik« und »Logistik« seines zentralen Begriffs, einer differenzierteren und sensibleren Wertschätzung der Vielfalt und der Feinheiten von Lüsten und Freuden, inklusiver ihrer zarteren, sanfteren, milderen Formen? Pierre Hadot hat Foucault für seine hedonistischen Fehlinterpretationen antiker Autoren kritisiert, bei welcher er die sinnliche Lust der voluptas mit dem geistigeren, religiöseren Begriff der Freude (gaudium) verwechselt.46 So hilfreich diese Unterscheidung sein mag, bleibt sie doch zu einfach. Denn es gibt darüber hinaus Entzücken, Befriedigung, Genugtuung, Fröhlichkeit, Zufriedenheit, Annehmlichkeit, Amüsement, Heiterkeit, Begeisterung, Glückseligkeit, Entrückung, Jubel, Hochgefühle, Genuss, Zerstreuung, Unterhaltung, Kitzel, Spaß etc. Sollten wir nicht sorgfältiger die vielen unterschiedlichen Variationen von Erfahrung anerkennen, die normalerweise unter Lust rubriziert werden, um jeder ihrer Formen die gebührende Wertschätzung zukommen zu lassen und von jeder einzelnen den angemessenen Wert bestimmen zu können? Wenn diese Aufgabe aus dem Geist des Hedonismus heraus als zu langsomästhetik und selbstsorge | 71

weilig erscheint, so müssen wir doch wenigstens (mehr als Foucault es tut) anerkennen, dass die Intensivierung der Lüste weder einer einseitigen Diät sensationeller Grenzerfahrungen bedarf, noch dass ihr diese Kost besonders gut bekommt. Wenn es für Foucault so hart ist, Lust zu empfinden, in dem doppelten Sinn, dass es schwer ist, sie zu erlangen und diese in enger Ausrichtung auf die härtesten und gewalttätigsten Erfahrungen intensiver Lust gedacht wird, wie sie durch S/M und harte Drogen exemplifiziert werden, ist es verlockend, diese beiden Formen von Härte in einen kausalen Zusammenhang zu bringen. Anhedonia kann sowohl der Grund für ein sich immer weiter steigerndes Bedürfnis nach stärkeren Reizen sein als auch die Folge davon. Wenn die fehlende Befriedigung bei gewöhnlichen Lüsten das Bedürfnis nach intensiverer Stimulation hervorruft, dann erhöht die Befriedigung dieses Bedürfnisses die Schwelle dessen, was als befriedigend empfunden werden kann, womit der Großteil alltäglicher Erfahrung als freudlose Langeweile erlebt wird. Der Zusammenhang von Anhedonie mit Drogenmissbrauch (und Suizid) ist mittlerweile gut belegt, und die genauen neurologischen Mechanismen dieses kausalen Komplexes werden zurzeit erforscht.47 Die anhaltende Nachfrage nach extrem intensiven Erfahrungen droht nicht nur, das Spektrum der von uns empfundenen Freuden einzuschränken, sondern auch unsere Empfindungsschärfe, die Fähigkeit, unseren Körper mit Klarheit, Genauigkeit und Kraft zu fühlen. Für Foucault entsteht ein lebendiges somatisches Bewusstsein nicht, bevor der Körper nicht irgendwie mit gewaltsamen Eindrücken beschäftigt ist; und ohne solches Bewusstsein werden unsere Körper die unbewussten, gefügigen Instrumente sozialer Unterdrückung. Die Radikalität von Grenzerfahrungen wird daher für Foucault nicht nur notwendig, um somatische Lust zu empfinden, sondern auch, um die einzige Art gesteigerten Körperbewusstseins zu erzeugen, das gefühlt und daher genutzt werden kann, um uns selbst zu kultivieren und zu befreien. Wenn diese scheinbare Notwendigkeit die Abstumpfung von Foucaults somatischem Bewusstsein durch Anhedonie und durch eine missbräuchliche Stimulationsüberdosis widerspiegelt, dann werden weniger sensationssüchtige und an Lustbehinderung leidende Individuen feststellen, dass eine Reduktion der sinnlichen Gewalt und ihrer Intensität para72 | kapitel 1

doxerweise zu einem aufmerksameren und feineren somatischen Bewusstsein führen kann und vielleicht sogar intensiveren Genuss ermöglicht. Dieses Argument für sinnliche Mäßigung wird durch den klassischen Grundsatz der Psychophysik, der im Weber-Fechner-Gesetz enthalten ist, untermauert, das eine Wahrheit formuliert, die uns auch aus alltäglichen Erfahrungen bekannt ist: Ein schwächerer Stimulus kann klarer und leichter bemerkt werden, wenn die bereits davor bestehende Stimulationserfahrung des entsprechenden Organs schwach ist. Umgekehrt wird die Schwelle dafür, einen Reiz zu bemerken, umso höher sein, je stärker die vorher bestehende Stimulation ist. Die Glut einer Zigarette kann beispielsweise in der Dunkelheit der Nacht von weither gesehen werden, während sie im gleißenden Sonnenlicht aus geringer Entfernung kaum sichtbar ist; das Rascheln des Laubes, das wir mitten in der Nacht in der Stille der Wälder hören, geht tagsüber im Großstadtlärm unter. Eine stark zusammengeballte Faust wird nicht so sensibel gegenüber feinen Unterscheidungen von Berührung und berührter Textur sein wie eine weiche Hand, in der sich jede Muskelanspannung gelöst hat. Die ständige Gier in unserer Kultur nach immer größeren Intensitäten somatischer Reize führt daher zu wachsender Unzufriedenheit und zu der Schwierigkeit, Lust empfinden zu können, während unsere Unterwerfung unter solche Intensitäten unser somatisches Wahrnehmungsvermögen und unser Bewusstsein abstumpfen lässt. Wir können uns nicht vom Klang unserer leise schlagenden Herzen verzaubern lassen, wenn wir in einem Flugzeug durch die Luft brettern, während gleichzeitig laute Musik in unseren Kopfhörern dröhnt. Selbst die Wertschätzung der lauten Musik, welche für viele (mich eingeschlossen) einen unbestreitbaren Genuss darstellt, stumpft ab, wenn man Musik einseitig nur ohrenbetäubend laut hört; die Erfahrung der Energie und Bedeutung des gewaltigen Sounderlebnisses wird so verdorben. Ebenso verdirbt der Wert bewusstseinsverändernder Drogen durch deren unverhältnismäßigen Gebrauch.48 Die sensationslüsterne Radikalität unserer Kultur ist zugleich Spiegel und Verstärker einer tiefen somatischen Unzufriedenheit, die uns unbarmherzig antreibt, jedoch nur vage von unserem unterentwickelten, unzureichend sensibilisierten und darum verständlicherweise unbefriedigten Körperbewusstsein gespürt somästhetik und selbstsorge | 73

wird. Wenn auch Foucaults extremer somästhetischer Geschmack für viele haarsträubend und deviant sein mag, so drücken doch seine Anhedonie und Radikalität ganz klar einen allgemeinen Trend der spätkapitalistischen westlichen Kultur aus, dessen unhinterfragter ökonomischer Imperativ endlosen Wachstums auch eine unkritische Nachfrage nach ständig wachsender Stimulation, immer mehr Geschwindigkeit und Information, immer extremeren Reizen und lauterer Musik befördert. Das Ergebnis ist ein pathologisches, doch zugleich allzu verbreitetes Bedürfnis nach Hyperstimulation, um sich wirklich lebendig zu fühlen, ein Problem, das sich nicht nur in diversen Suchtformen ausdrückt, sondern auch in einer Unzahl anderer zunehmend verbreiteter psychosomatischer Erkrankungen, die von gewalttägigen Aktionen der Selbstkasteiung (wie dem »Armritzen«) bis hin zur passiven nächtlichen Folter der Schlaflosigkeit reicht.49 Foucaults Vernachlässigung sanfterer Methoden somästhetischer Reflektion für ein gesteigertes Körperbewusstsein spiegelt auch das allgemeine Scheitern der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts wider, für ein gesteigertes, explizites somatisches Selbstbewusstsein einzutreten und dieses zu kultivieren. Diese Tradition einer Vernachlässigung oder Verleugnung somästhetischer Reflektion selbst durch körperfreundliche Philosophen wird in den folgenden Kapiteln dieses Buchs nachgezeichnet.

V.

Unsere Kritik an Foucaults pragmatistischer Somästhetik hat bis jetzt zum Ziel gehabt, seine Wertschätzung somatischer Lüste zu rehabilitieren, indem wir seinen Hedonismus weiterdachten, um die limitierende Fixiertheit auf Sexualität, Grenzüberschreitung und spektakuläre Intensität zu transzendieren. Aber besteht nicht ein tiefer liegendes Problem darin, dass Foucault sich überhaupt mit den Lüsten beschäftigt, ganz gleich in welcher Form? Sollte man eine auf Lust abzielende pragmatistische Somästhetik nicht als trivialen narzisstischen Hedonismus verurteilen, im Gegensatz zum hehren Ziel beschreibender Wahrheit (ob genealogisch, soziologisch oder ontologisch) einer analytischen Somästhetik? Widerspricht nicht, darüber hinaus, solch eine Beschäftigung mit der somatischen Lust 74 | kapitel 1

der eigentlichen Idee einer strengen Disziplin oder Askesis, die für die klassischen ethischen Konzepte der Selbstsorge so zentral sind?50 Besteht nicht ein fundamentaler Gegensatz zwischen einer Ästhetik der Lüste und der Askese ethischer Selbstkultivierung, bei der es eher um grundsätzliche Rücksichtnahme auf andere als um die eigene Genusssucht geht? Da meine ästhetische Theorie manchmal als hedonistisch kritisiert worden ist, ist mir die Kritik der Lüste sehr wichtig, auch wenn diese zu komplex ist, um sie hier angemessen zu behandeln.51 Ich möchte lediglich die folgenden kurzen Argumente vorbringen. 1. Erstens, selbst wenn die meisten Lüste, individuell betrachtet, oberflächlich und sinnlos wären, spielte Lust eine in einem tiefen Sinn wichtige Rolle für die Lebensführung. Philosophen ziehen es deshalb häufig vor, sie nicht mit Begriffen aus dem Bereich bewusster Wahrnehmung, sondern mit motivationalen Begriffen zu definieren. Nicht alle Formen der Lust oder des Genießens weisen eine spezifisch bewusste Qualität auf, doch sie alle spielen auf den ersten Blick eine motivationale Rolle. Ceteris paribus ergäbe es keinen Sinn zu sagen, dass man es außerordentlich genieße, etwas zu tun, aber für diese Handlung absolut keinen Grund habe. Auf evolutionstheoretischer und psychologischer Ebene treibt Lust das Leben nicht nur an, indem sie uns zu dem führt, was wir biologisch benötigen (lange bevor und viel stärker als unser bewusstes Denken dies kann), sondern auch, indem sie uns das Versprechen anbietet, dass das Leben es wert ist, gelebt zu werden. So wie Aristoteles die Lust dafür lobt, dass sie unsere Aktivität stärke, so definiert Spinoza (der weit davon entfernt ist, ein radikaler Lüstling zu sein) sie später als den »Übergang des Menschen von einer geringeren zu einer größeren Vollkommenheit«; »je mehr wir mit Freude affiziert werden, um so größer ist die Vollkommenheit, zu der wir übergehen.«52 Darüber hinaus ermutigt die positive emotionale Woge der Lust uns, neuen Erfahrungen und anderen Leuten gegenüber aufgeschlossen zu sein. 2. Auch aus diesem Grund sollte somästhetische Lust nicht als etwas verurteilt werden, das notwendigerweise einen Rückzug in egoistische Privatheit zur Folge hat. Sich in seiner eigenen Haut wohl zu fühlen, kann uns auf unangestrengte Weise aufgeschlossener im Umgang mit anderen werden lassen; und selbst die darstellende Dimension von Somästhetik ist wesentlich darum besorgt, somästhetik und selbstsorge | 75

den eigenen Körper für andere attraktiv zu machen. Obwohl es in Narzissmus umkippen kann, anderen zu gefallen, um den eigenen Stolz zu bedienen (ein Problem, das für manche durch das eitle Posieren des Bodybuilders versinnbildlicht wird), ist die Versuchung des Stolzes selbst in den am stärksten antihedonistischen und körperverachtenden Ethiken vorzufinden. 3. Wir müssen auch das Dogma zurückweisen, dass der Körper unabänderlicherweise zu privat, zu subjektiv und in seinen Lüsten zu individualistisch sei, um substanziell Ethik und Politik zu gestalten. Wir teilen unsere Körper und unsere somatischen Lüste genauso sehr mit anderen, wie wir unser Denken teilen, und auf jeden Fall sind diese in der Öffentlichkeit ebenso präsent wie unsere Gedanken. Lust wird als etwas wesenhaft Privates missverstanden, dadurch dass sie als bloße innere körperliche Sinnesempfindung falsch ausgelegt wird, zu der das Individuum exklusiven Zugang hat. Anders als Zahnschmerzen oder ein gestauchter Zeh haben die meisten Formen von Lust oder Genuss nicht die Eigenschaften eines spezifischen und genau lokalisierbaren Körpergefühls. Das Vergnügen des Tennisspielens lässt sich nicht den eigenen laufenden Füßen, dem schlagenden Herzen oder der verschwitzten Tennishand zuordnen. Somatische Freuden wie Tennis können auch aus zwei weiteren Gründen nicht bloße Sinnesempfindungen sein. Je stärker eine Empfindung ist, umso mehr Aufmerksamkeit beansprucht sie für sich und umso mehr lenkt sie von der Konzentration auf andere Dinge ab. Wenn die Freude am Tennisspielen lediglich darin bestünde, starke Sinnesempfindungen zu haben, dann wäre es zunehmend schwieriger, sich auf das Spiel zu konzentrieren, je mehr wir es genössen, doch genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn, zweitens, Lust bloß blinde Empfindung wäre, könnten wir im Prinzip die Lust am Tennisspielen ohne jede Verbindung zum wirklichen oder imaginierten Spiel genießen. Solche Einwände deuten auf einen grundsätzlicheren Punkt hin. Lust kann, selbst wenn sie mit lustvollen Gefühlen verknüpft wird, nicht einfach mit einer blinden Sinnesempfindung identifiziert werden, weil das wirkliche Genießen der Empfindung von dem jeweiligen (Handlungs-)Kontext abhängt, der dessen Bedeutung strukturiert. Das Glas (selbst mittelmäßigen) Rotweins, das Foucault als alltägliche Banalität verurteilt, kann Auslöser intensiver Lust, ja sogar 76 | kapitel 1

spiritueller Freude sein, wenn es im passenden religiösen Rahmen genossen wird. Solche Beispiele (ebenso wie die hedonistische Verwandlung von Schmerz im S/M) bezeugen die semantischen und kognitiven Dimensionen von Lust, die sich seiner Reduktion auf einen bloßen Sensationalismus widersetzen. Wie die Philosophie seit jeher betont hat, beziehen wir Lust aus der Erkenntnis, und diese Lust regt uns dazu an, mehr Erkenntnisse gewinnen zu wollen. 4. Selbst wenn die meisten Formen von Lust trivial zu sein scheinen, sind einige Erfahrungen der Glückseligkeit so stark, dass sie sich uns tief einprägen, unsere Wünsche verändern und so unsere Lebensweise neu ausrichten. Tiefe ästhetische und tiefe mystischreligiöse Erfahrungen haben diese Macht, und in vielen Kulturen sind sie eng verknüpft: Dichterin wie Prophet sind inspiriert und inspirieren durch ekstatisch entrückte Geisteszustände.53 Die überwältigende Spiritualität solcher Erfahrungen wird häufig durch ein tiefes somatisches Verzücken zum Ausdruck gebracht, das die Heilige Teresa als »bis ins Mark durchdringen« beschreibt, das uns verzaubert und verwandelt.54 Die Begriffe »Entrückung« und »Ekstase« vermitteln eine Idee davon, wie man durch Lust auf solch intensive Weise ergriffen und außer sich sein kann, dass es fast schmerzt und kaum auszuhalten scheint. Dies ist kein leichtes und selbstsüchtiges Vergnügen, sondern die beängstigende Erregung der Hingabe beim Streben nach Selbsttransformation. Ergriffen von diesem überwältigenden Verzücken haben schon einige sich angesichts dieser durchdringenden Macht dem Tod nahe gefühlt (und Forschungen über mystische Erfahrungen zeigen tatsächlich, dass Herzschlag, Atmung und Kreislauf nahezu aussetzen).55 Und doch werden diese den Atem verschlagenden Ekstasen auch dafür gerühmt, somatische Ermächtigung und geistige Neuorientierung zu ermöglichen. Das Ziel ist nicht Sinnengenuss per se, sondern die Selbsttransformation, die intensive Lust auslösen kann und von dem Sufi-Mystiker AlGhazali auf die Formel »Übertragung, Ekstase und die Verwandlung der Seele« gebracht wurde.56 Obwohl typischerweise religiös, sind diese Erfahrungen von Höhenflügen transzendenter Seligkeit und spiritueller Verwandlung nicht auf konventionellen theologischen Glauben angewiesen. Die höchsten Formen pragmatistischer Somästhetik verbinden solches Entzücken einer das Selbst transformierenden Hingabe somästhetik und selbstsorge | 77

mit strenger Disziplin somatischer Selbstkontrolle (der Haltung, der Atmung, ritualisierten Bewegungen usw.). Solche Disziplin bereitet nicht nur die ekstatische Erfahrung vor und strukturiert sie, sondern bietet ein kontrollierbares Feld, in dem die inspirierende Energie solcher Höhepunkterfahrungen eingesetzt und in systematischen Praxen bewahrt werden kann, die das Wiederholen dieser Erfahrungen unter für die Gesundheit förderlichen Umständen ermöglichen. Dies stellt sicher, dass die hochfliegende Hingabe auf ein Sicherheitsnetz disziplinierter Selbstbeherrschung bei der Vorbereitung auf einen weiteren Sprung zurückgreifen kann. Das atemlose Entzücken von samadhi ruht auf Jahren disziplinierter Kontrolle des Atmens seitens des Yogis. Solche somästhetischen Disziplinen bringen ihre ganz eigene Lust an der Selbstbeherrschung mit sich, während ihre kognitiven und ethischen Vorzüge – in der Ausbildung der Sinne, des Willens und des Charakters – nochmals die typischerweise mit dem Hedonismus identifizierten Werte transzendieren.

VI.

Diese Argumente zugunsten der Lust sollen auch zeigen, dass man die ästhetischen Ziele pragmatistischer Somästhetik nicht auf eine eng gefasste Suche nach Lust (wie wertvoll die Lust auch sein mag) beschränken kann. Somästhetik impliziert sowohl die kognitive Schärfung unserer Aisthesis oder Sinneswahrnehmung als auch die kunstvolle Umgestaltung unserer somatischen Form und Funktion. Nicht einfach nur, um uns stärker und empfänglicher für unsere eigene sinnliche Befriedigung zu machen, sondern auch, um uns sensibler für die Bedürfnisse anderer werden zu lassen und befähigter darin, mit wirklich gewollten Handlungen auf sie zu reagieren. Im Kontext solcher weiter gefassten Ziele sollte Somästhetik nicht als selbstgefälliger Luxus angesehen werden. Höhere Formen von Somästhetik machen Lust daher zur wesentlichen Nebenwirkung eines asketischen, doch zugleich ästhetischen Strebens nach etwas Besserem als dem gegenwärtigen Selbst. Mit dem Verstehen und der Beherrschung des eigenen Somas wird dieses Streben zu einem Gefäß bereits erfahrener Schönheit verfeinert, so dass wir potenziell in uns selbst immer noch größere Kräfte und Freuden erfahren kön78 | kapitel 1

nen – ein höheres Selbst, vielleicht sogar einen göttlichen Geist oder eine Überseele. Solche somästhetische Disziplin (offensichtlich im Yoga und der Zen-Meditation, jedoch auch in westlichen Praktiken wie der Feldenkrais-Methode und der Alexander-Technik) bedeutet natürlich auch einen hohen Grad an intellektueller Askese. Diese Praktiken bewegen sich jenseits des Körper-Geist-Dualismus, da das Phänomen der Sinneswahrnehmung selbst sich diesem widersetzt. Sie zielen vielmehr auf eine holistische Transformation des Selbst, in der die Dimensionen der ästhetischen, moralischen und geistigen Verbesserung so eng miteinander verwoben sind, dass sie nicht sinnvoll voneinander getrennt werden können. So wird der Hatha-Yoga-Zustand des Ghatha Avastha zugleich als derjenige beschrieben, in dem »die Haltung des Yogis fest wird und er klug wird wie ein Gott«, und das zeigt sich »an der höchsten erfahrenen Lust«, die die deutliche Wahrnehmung eines feinen trommelartigen Klangs göttlicher Energie »im Hals« beinhaltet.57 Auch wenn Yoga sicherlich von Foucaults disziplinarischem S/M-Programm weit entfernt ist: Könnte seine hingebungsvolle Suche nach den intensivsten somatischen Lüsten nicht als spirituell transformative Askese verstanden werden, wie gefährlich und fehlgeleitet sie auch sein möge? Er scheint es so sehen, auf jeden Fall schätzt Foucault die spirituelle Dimension des Somatischen. Schon in Überwachen und Strafen erklärt er, dass die Seele »eine Wirklichkeit« habe, »sie wird ständig produziert – um den Körper, am Körper, im Körper – durch Machtausübung«. In seiner späteren Forschung über die griechisch-römische und antike christliche spirituelle Selbstsorge setzt er diesen Gedanken fort, indem er die Rolle der somatischen Askese betont (zusammen mit Technologien des Selbst-Schreibens).58 Wenn Foucaults eigene pragmatistische Somästhetik der Lust eine transformative spirituelle Dimension hat,59 scheint die Kraft ihrer Spiritualität verringert oder in Frage gestellt zu werden, nicht nur durch seine exzessive Konzentration auf die sensationssüchtigen Lüste harter Drogen und sexueller Gewalt, sondern auch durch das Favorisieren des Baudelaireschen Modells eines Dandytums, in dem sich sein eigenes Ideal transformativer somästhetischer Askese verkörpert.60 Dennoch: Sollten wir nicht anerkennen, dass bewusstseinsverändernde Drogen und eine intensivierte Sexualität in vielen relisomästhetik und selbstsorge | 79

giösen Traditionen eine bedeutende Rolle spielen und dass Ausdrucksformen von Sadomasochismus dem katholischen geistigen Empfindungsvermögen, das unsere eigene Kultur geprägt hat, alles andere als fremd sind? Man denke nur, beispielsweise, an erotisch aufgeladene Kreuzigungsdarstellungen und Bilder des zu Tode Gemarterten (überwacht vom allmächtigen Gottvater), an die vielen heiligen Kasteiungen des Fleisches und die Inquisitionstribunale des Glaubens oder an den häufigen Ausdruck religiöser Liebe als freudig ersehnter und entzückter Überwältigung. »Erstürme mein Herz! Dreifaltiger Gott«, drängt John Donne im Heiligen Sonett Nr. 14, und setzt dieses Gebet heiliger Inbrunst mit gesteigerter erotischer Gewalt fort: »O wirf mich nieder, dass ich mich aufricht! / Brauch deine Kraft, blas, brenn und mach mich neu! / […] Doch innigst lieb ich Dich, möcht, dass Du mich / Auch liebst. […] / Reiß mich zu Dir, wirf mich ins Kerkerloch! / Ich bin nicht frei, außer Du bändest mich. / Ich bin nicht rein, außer Du schändest mich.« Hier sehen wir erneut, wie Foucaults S/M-Programm unsere sorgfältige kritische Aufmerksamkeit verdient, nicht so sehr als perverse Übertretung der Werte unserer Kultur, sondern vielmehr als expliziter und verstärkter Ausdruck zutiefst problematischer Tendenzen, die sich historisch mit jenen Werten und Praktiken überschneiden, die sie erzeugen, selbst in unseren spirituellen und religiösen Erfahrungen. Als modernes Paradigma für eine selbsttransformative ästhetische Disziplin führt Foucault das Dandytum Baudelaires an, und er bekräftigt dabei »das philosophische ethos«, das in seinem Respekt für »das Flüchtige« enthalten ist, sein unermüdlicher »Wille, die Gegenwart zu heroisieren« und »die flüchtigen Freuden des depravierten Tiers« mitzunehmen. Aber ganz besonders zelebriert er ihre anspruchsvolle »Doktrin der Eleganz«, die verklärende »Asketik des Dandys, der aus seinem Körper, aus seinem Verhalten, aus seinen Gefühlen und Leidenschaften, aus seiner Existenz ein Kunstwerk macht«.61 Dass sich der »Selbstkult« der Dandy-Ästhetik in Baudelaires Darstellung »vor allem anderen« auf die »Distinktion«der »Eleganz und Originalität« konzentriert, verknüpft mit einer starken Wertschätzung »der hohe[n] geistige[n] Bedeutung der Toilette« (»Lob der Schminke«) und »der besonderen Schönheit des Bösen« als »reine[r] Kunst«, macht Foucaults Überhöhung dieses Vorbilds die ganze Idee geistiger Selbsttransformation durch somästhetische 80 | kapitel 1

Askese viel suspekter und anfälliger für Pierre Hadots Vorwurf, dass ein solcher Ästhetizismus nur auf eine oberflächliche, künstliche Selbstdarstellung hinausläuft, nicht aber auf die ernsthafte Art tiefer spiritueller Transformation, die wir vom ethischen Ideal der Selbstsorge erwarten.62 Somästhetische Selbststilisierung findet indessen ein viel überzeugenderes Vorbild für ethisch-spirituelle Transformation in der göttlich inspirierten Selbstdisziplin des Sokrates, dessen somästhetische Macht (durch ausdauernde Übung und Tanztraining) auf andere, trotz seines Alters und seiner hässlichen Gesichtszüge, einen verführerischen Zauber auszuüben vermochte, der es ihm zu behaupten erlaubte, dass er schöner sei als der für sein gutes Aussehen berühmte Critobulus in Xenophons Symposium.63 Andere Beispiele für die geistigen Auswirkungen somästhetischer Disziplin findet man in der konfuzianischen Tradition, deren Betonung der Kunst, des Rituals und des attraktiven somatischen Auftretens zwecks Vermittlung größerer spiritueller Harmonie im individuellen Charakter wie im sozialen Leben so hervorstechend ist, dass die Konfuzianer manchmal als Ästheten kritisiert wurden.64 Wenn solche antiken Vorbilder unter Beweis stellen, dass ästhetische Anliegen nicht notwendigerweise im Gegensatz stehen zur ethischen und spirituellen Askese (die ihre ganz eigene, herbe Ästhetik hat), sollten wir uns auch daran erinnern, wie die Kunst in der Moderne oftmals traditionelle Religion als Ort transzendentaler Spiritualität verdrängt hat. Selbst Foucaults Modell ästhetischer Selbsttransformation ist nicht frei von Anflügen religiöser Momente. In eben jenem Interview, in welchem er eine sexuelle Ethik intensiver Lüste verteidigt, beharrt Foucault ebenso sehr darauf, dass das ästhetische Streben nach Selbsttransformation ein Heilsversprechen in sich trägt, jedoch »hundsmäßige« Arbeitsdisziplin und intellektuelle Anstrengung erfordert. »Intellektuelle Arbeit ist für mich verknüpft mit dem, was man Ästhetizismus nennen könnte, was bedeutet, sich selbst zu transformieren […] Ich weiß, dass Erkenntnis uns verändern kann […] und vielleicht werde ich erlöst werden. Oder vielleicht werde ich sterben, aber ich glaube, das läuft für mich sowieso auf dasselbe hinaus (lacht).« Dieses doppeldeutige Lachen über die Gleichsetzung von Erlösung und Tod (das Ausdruck schwarzen Humors sein könnte oder einer Ironie gegenüber der christlichen Erlösung durch den Tod, vielleicht sogar somästhetik und selbstsorge | 81

einer Beschämung angesichts seiner Faszination für den Tod oder angesichts der Verwendung des religiös aufgeladenen Begriffs der Erlösung) kann nicht verbergen, dass Foucault es sehr ernst meint mit der ästhetischen Dimension der Selbsttransformation. Denn er insistiert im Folgenden: »Diese Transformation des eigenen Selbst durch die eigene Erkenntnis kommt eher so etwas wie der ästhetischen Erfahrung nahe. Warum sollte ein Maler arbeiten, wenn er nicht durch sein Malen transformiert wird?«65 Doch warum, um diese Argumentationslinie weiterzuführen, sollte man so schwer daran arbeiten, wenn die ästhetische Transformation lediglich äußerlich und oberflächlich ist: ein Lidstrich, das schale Schimmern getönten Haars? Die traurige Ironie der Moderne besteht darin, dass Kunst die geistige Autorität der Religion beerbt hat, während sie zugleich vom ernsten Geschäft des Lebens abgetrennt wird. Ästhetizismus muss amoralisch und oberflächlich erscheinen, wenn Kunst irrigerweise von der ethischen Praxis verbannt und stattdessen auf das Reich bloßen Scheins (d. h. der Erscheinung und der Illusion) reduziert wird. Der Pragmatismus stellt diese falsche Zweiteilung zwischen Kunst und Ethik in Frage und bemüht sich darum, das Schöne und das Gute zu vereinigen. Während er (mit Montaigne) anerkennt, dass unser größtes Kunstwerk unser Selbst ist (untrennbar mit anderen verbunden und von anderen geprägt), bringt er zugleich ethische Erwägungen im Projekt ästhetischer Selbststilisierung und der Beurteilung dieser Kunst ins Spiel. Wenn der Pragmatismus auch Foucault mit Einschränkungen zum problematischen Alliierten erklären kann, so findet er doch seine besten Vorbilder weder in Baudelaire noch in Nietzsche, sondern in den nordamerikanischen Philosophen Emerson und Thoreau, frühen Propheten der von mir vertretenen Somästhetik. Ich beschließe dieses Kapitel mit zwei Zitaten von ihnen: »Jeder Mensch«, sagt Thoreau, »ist der Erbauer eines Tempels, seines Körpers, für den Gott, dem er dient, nach einem Stil, der ausschließlich sein Eigen ist; auch kann er dem nicht entgehen, indem er statt seiner Marmor ausmeißelt. Wir sind alle Bildhauer und Maler, und unser Material ist unser eigen Fleisch, Blut und Knochengerüst. Alles Edle fängt sofort an, die Züge eines Menschen zu verfeinern, jede Gemeinheit und Sinnlichkeit, sie zu vertieren.« »Kunst« behauptet Emerson, »ist das Bedürfnis zu schaffen; aber 82 | kapitel 1

in ihrer Essenz, riesig und universell, ist sie nicht damit zufrieden, mit lahmen oder gebundenen Händen zu arbeiten und Krüppel und Ungeheuer in die Welt zu setzen, wie es alle Bilder und Statuen sind. Nichts Geringeres als die Erschaffung des Menschen und der Natur ist ihr Ziel.«66 Wie sollen wir uns der amerikanischen Kultur, die Emerson und Thoreau zu gestalten halfen und die die Globalisierung den Kulturen der ganzen Welt aufgedrängt hat, als verkörperte Wesen selbst erschaffen und Selbstsorge betreiben? Mit Rauschgiften und Diäten, Steroiden und Silikon-Implantaten, mit Penisringen und Ledermasken und fist-fucking in Kerkern, mit Aerobic und Triathlon, mit Tanz und Pranayama oder mit neuen Verfahren der neuronalen Forschung und der Gentechnik? Foucault mag uns nicht die besten Antworten auf solche Fragen geben, aber seine Somästhetik konfrontiert uns mit dem entscheidenden Problem (ja, stößt uns damit sogar vor den Kopf): Verstanden als Lebenskunst sollte sich Philosophie eingehender um die Kultivierung der empfindungsfähigen Körper kümmern, in denen wir leben. Solche Kultivierung schließt nicht nur die Verfeinerung des Körpers und seiner unbewussten motorischen Programme ein; sie umfasst auch eine gesteigerte somatische Empfindungsfähigkeit durch ein erhöhtes, reflektierendes Körperbewusstsein. Foucault irrt in der Annahme, dass solches Bewusstsein am besten durch maximale Intensität der Stimulation erhöht wird, deren Gewalt schließlich doch nur unsere Sensibilität abstumpft und unsere Lust abtötet.

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Kapitel 2

Der schweigende, hinkende Körper der Philosophie Somatisches Aufmerksamkeitsdefizit bei Merleau-Ponty I.

In der westlichen Philosophie gilt Maurice Merleau-Ponty als eine Art Schutzpatron des Körpers. Auch La Mettrie, Diderot und Foucault traten leidenschaftlich für die körperliche Dimension menschlicher Erfahrung ein, aber keiner von ihnen kann es mit dem Umfang an gründlicher, systematischer und nachhaltiger Argumentation aufnehmen, die Merleau-Ponty hervorgebracht hat, um den Primat des Körpers in der menschlichen Erfahrung und dessen Bedeutung zu unterstreichen. Mit unermüdlicher und nahezu unwiderstehlicher Eloquenz drängt er nicht nur darauf, den Körper als die entscheidende Quelle aller Wahrnehmung und aller Handlung zu verstehen, sondern auch darauf, dass dieser den Kern unserer Ausdrucksfähigkeit und damit den Grund aller Sprache und Bedeutung bildet. Paradoxer- und bezeichnenderweise charakterisiert MerleauPonty den Körper, dessen expressive Rolle er so hervorhebt, in Begriffen des Schweigens. Der Körper, so schreibt er in der Phänomenologie der Wahrnehmung, konstituiert »das stillschweigende cogito«, »das schweigende cogito«, das »unausgesprochene cogito«.1 Als unser »reines Selbstgefühl« ist er »dasjenige Bewusstsein, das Bedingung der Sprache ist«, aber selbst ein »stillschweigendes Bewusstsein« bleibt, ein nur »unartikuliertes Erfassen der Welt«.2 Als unsere »primäre Subjektivität« stellt er »das Bewusstsein dar, welches unsere Sprache bedingt«, bleibt jedoch selbst ein »stummes Bewusstsein« mit einem »unartikulierten Zugriff auf die Welt«. Der Körper bildet »den Hintergrund des Schweigens«, der notwendig ist, damit eine Sprache entsteht, und er ist als Gebärde bereits »ein stillschweigendes Sprechen« und der Grund allen Ausdrucks: »[…] jeder menschliche Gebrauch des Leibes ist schon ursprünglicher Ausdruck«.3 Es gibt ein weiteres Paradox. Obwohl er weit mehr als andere Philosophen die Ausdrucksfunktion des Körpers hervorhebt, hört Merleau-Ponty kaum auf das, was der Körper über sich | 85

selbst in Form seiner bewussten körperlichen Empfindungen zu sagen scheint, wie zum Beispiel in seinen ausdrücklich kinästhetischen oder propriozeptiven Gefühlen. Der Rolle dieser Gefühle wird in seinem Werk wenig Aufmerksamkeit geschenkt, und er neigt dazu, sie in der Diskussion scharf zu kritisieren.4 Zusammen mit anderen »thematisierten« körperlichen Empfindungen bilden sie Zielscheiben für Merleau-Pontys allgemeine Kritik an der Vergegenwärtigung körperlicher Erfahrung. Er beharrt darauf, dass uns unser Körper auf wunderbare Weise leitet, aber nur, »wenn wir« ihn und seine Gefühle nicht mit reflexivem Bewusstsein »analysieren«, nur »unter der Bedingung, dass ich nicht ausdrücklich über [ihn] nachdenke«.5 Dieses Kapitel untersucht die Gründe für Merleau-Pontys Beharren auf dem Schweigen des Körpers und für seinen Widerstand gegen ausdrücklich bewusste Körpergefühle. Es zeigt, dass diese Gründe aus seinem besonderen Projekt einer Phänomenologie der Verkörperung und einer Neubewertung unserer elementaren spontanen Wahrnehmung herrühren, die seit der Antike das Ziel philosophischer Verunglimpfung waren. Manche dieser Gründe sind in seinen Schriften nicht sehr klar ausgeführt, vielleicht weil sie so eng mit seiner philosophischen Grundkonzeption verbunden sind, dass er sie einfach voraussetzte. Er mag sie nicht wirklich klar wahrgenommen haben, weil er durch sie hindurch sah, so wie wir durch Brillengläser hindurch sehen, ohne sie deutlich zu erfassen (und je klarer wir durch sie hindurch sehen, umso weniger deutlich werden sie erfasst). Ich werde mein Bestes geben, um Merleau-Pontys Widerstand gegen das thematisierte körperliche Bewusstsein zu erklären. Aber eintreten kann ich für ihn nicht. Denn gerade diese Haltung stellt eines jener Merkmale seiner Körpertheorie dar, die ich – nicht nur als pragmatistischer Philosoph, sondern auch als Körperpädagoge – für hochproblematisch halte. Die Haltung Merleau-Pontys lässt sich sowohl auf seine spezifischen Absichten in Hinblick auf somatische Phänomenologie als auch auf seine allgemeine philosophische Konzeption zurückführen. Ebenso paradox, wie er die Ausdruckskraft des Körpers in Begriffen des Schweigens beschreibt, bezeichnet er die Philosophie verblüffender Weise als »hinkend« und fährt doch fort, sie im Sinne seiner lähmenden Metapher zu feiern: »Das Hinken des Philoso86 | kapitel 2

phen ist seine Tugend«.6 Warum verwendet ein hervorragender Körperphilosoph wie Merleau-Ponty eine derartige Metapher körperlichen Unvermögens, um sein philosophisches Vorhaben zu charakterisieren? Bei der Untersuchung dieses Sachverhalts werde ich seiner philosophischen Vorstellung eine praktischer orientierte, rekonstruktiv-pragmatistische Annäherung an die Philosophie des Körpers gegenüberstellen. Diese schenkt dem ausdrücklichen oder reflexiven Körperbewusstsein dadurch weit mehr Aufmerksamkeit, dass sie nicht nur versucht, zu einer theoretischen Rehabilitierung des Körpers als eines zentralen Begriffs für die Philosophie zu führen, sondern ebenso zu einer praktischeren, therapeutischen Rehabilitation des gelebten Körpers als Teil eines aufmerksameren philosophischen Lebens.

II.

Der Schlüssel zu Merleau-Pontys Strategie besteht darin, unsere Anerkennung der körperlichen Schwäche in eine Analyse von dessen grundlegender, unerlässlicher Stärke zu verwandeln. Die durchdringende Erfahrung körperlicher Schwäche mag der am tiefsten sitzende Grund sein für die Zurückweisung des Körpers seitens der Philosophie – dafür, seine bestimmende Rolle für die menschliche Identität abzulehnen. Am überwältigendsten kommt die somatische Ohnmacht im Tod zum Tragen, doch sie manifestiert sich auch täglich in Krankheit, Behinderung, Schmerz, Erschöpfung und dem Schwinden der Kräfte, welches das Alter mit sich bringt. Für die Philosophie bedeutet körperliche Schwäche auch kognitive Schwäche: So wie die fehlbaren körperlichen Sinne die Wahrheit verzerren können, so können seine Begehrlichkeiten den Geist vom Erkenntnisstreben ablenken. Darüber hinaus ist der Körper kein klares Erkenntnisobjekt. Man kann seine äußere Körperoberfläche nicht direkt in ihrem Gesamt sehen, und der Körper ist besonders mysteriös, weil seine inneren Prozesse immer auf irgendeine Art dem Blick des Subjekts verschlossen bleiben. Man kann ihn nicht direkt auf die Weise ›scannen‹, wie wir oftmals annehmen, wir könnten durch unmittelbare Introspektion unser Denken untersuchen und erkennen. Weil die Philosophie den Körper bestenfalls als bloßen Diener oder der schweigende, hinkende körper der philosophie | 87

als bloßes Instrument des Denkens betrachtete, stellte sie ihn oft als quälendes Gefängnis, als Versuchung und als Schmerz dar. Eine Strategie, um den Körper gegen diese vertrauten Angriffe seitens der dominanten platonisch-christlich-cartesianischen Tradition zu verteidigen, besteht darin, ihnen auf die Art entgegenzutreten, wie Nietzsche es tat. Nietzsche kehrte die konventionellen Bewertungen von Körper und Geist um, und er vertrat die Ansicht, dass wir unseren Körper besser erkennen könnten als unseren Geist und dass körperliche Ertüchtigung den Geist stärken könne. Als Schlussfolgerung bestand er darauf, dass der Geist im Wesentlichen das Instrument des Körpers sei, auch wenn dieser zu oft (insbesondere durch Philosophen) dazu missbraucht worden sei, dem Körper ein trügerisches und quälendes Gefängnis zu sein.7 Obwohl einnehmend und originell, wird seine kühne Strategie die meisten von uns nicht überzeugen. Das Problem besteht nicht nur darin, dass seine radikale Umwertung des Körpers gegenüber dem Geist zu sehr gegen den Strich der philosophischen intellektualistischen Tradition gebürstet ist. Somatische Unzulänglichkeiten gehören leider auf so durchdringende Weise zu unserer Erfahrung, dass Nietzsches Umkehrung der Körper/Geist-Hierarchie zu sehr nach Wunschdenken klingt (besonders, wenn wir uns an seine eigenen erbärmlichen körperlichen Gebrechen erinnern). Natürlich sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass unser Denken oftmals unfähig ist, in Worte zu fassen, was uns in körperlichen Vollzügen gelingt, und dass unser Geist oft aus Erschöpfung streikt, während unser Körper unbewusst weiter funktioniert. Doch trotz Anerkennung dieser Unzulänglichkeiten des Geistes scheint die Bandbreite dessen, was wir durch Gedankenkraft tun oder uns vorstellen können, immer noch dem, was unsere Körper tatsächlich umzusetzen in der Lage sind, weit überlegen zu sein. Im Unterschied zu Nietzsches übersteigertem Somatismus argumentiert Merleau-Ponty in seiner Betonung der zentralen und wertvollen Rolle des Körpers mit kluger Zurückhaltung. Er klammert die grundlegende Schwäche des Körpers nicht aus, sondern zeigt, auf welche Weise diese Dimensionen ontologischer und erkenntnistheoretischer Begrenzung einen wesentlichen Bestandteil unserer positiven menschlichen Fähigkeit bildet, eine Perspektive auf die Dinge sowie einen Weltbezug haben zu können. Diese Gren88 | kapitel 2

zen stellen uns daher den grundlegenden fokussierenden Rahmen all unserer Wahrnehmungen und Handlungen, unserer Sprache und unseres Verstehens zur Verfügung. Die Begrenzung, die der Körper durch seine je besondere Verortung hat, ist genau das, was uns einen Blickwinkel oder eine Perspektive ermöglicht, von der aus Gegenstände erfasst werden können, während die Tatsache, dass wir unseren Standpunkt verändern können, es uns erlaubt, Gegenstände aus unterschiedlichen Perspektiven wahrzunehmen, und sie auf diese Weise als objektive Dinge konstituiert. Auf ähnliche Weise ist diese Begrenzung des Körpers – trotz der Unzulänglichkeit, dass er sich selbst nicht direkt und in seiner Gänze beobachten kann (da beispielsweise die Augen sich vorne am Kopf befinden, welchen sie deswegen niemals direkt sehen können) – wesentlicher Bestandteil seiner beständigen privilegierten Position als Angelpunkt und Grundorientierung jeder Beobachtung. Die scheinbare Begrenztheit, die darin besteht, dass körperliche Wahrnehmungen vage, korrigierbar oder zweideutig sind, wird überdies auf nützliche Weise einer Erfahrungswelt gerecht, die selbst zweideutig, vage und im ständigen Fluss begriffen ist. Diese Logik, gerade die Stärken aufzudecken, die sich aus der körperlichen Schwäche ergeben, wird auch in Merleau-Pontys späterem Begriff des »Fleisches«8 auf den Begriff gebracht. Da der Körper mit der materiellen Welt die Vergänglichkeit gemeinsam hat und daher als »Fleisch« (dem traditionellerweise abwertenden Begriff körperlicher Schwäche bei Paulus und Augustinus) charakterisiert werden kann, wird dieser negative Begriff transformiert, um die einzigartige Fähigkeit des Körpers zu preisen, die Welt der sinnlichen Dinge zu erfassen und sich mit ihnen vereinigen zu können, weil das Fleisch selbst zugleich wahrnehmend und wahrnehmbar ist. Bevor ich zeige, wie Merleau-Pontys Strategie der Rehabilitierung des Körpers ihn dazu führt, die Funktion ausdrücklich bewusster körperlicher Empfindungen zu vernachlässigen oder zurückzuweisen, möchte ich einige einführende Bemerkungen über diese körperlichen Empfindungen und ihren Nutzen machen. Es handelt sich dabei um bewusste, ausdrückliche, erfahrungsmäßige Wahrnehmungen unseres Körpers: Sie umfassen unterscheidbare Gefühle, Beobachtungen, Visualisierungen und andere mentale Vorstellungen unseres Körpers und seiner Teile, seiner Oberflächen der schweigende, hinkende körper der philosophie | 89

und seines Innenraums. Ihr ausdrücklicher oder vorgestellter Charakter unterscheidet sie klar von der Art primären Bewusstseins, um die es Merleau-Ponty geht. Obwohl zu diesen expliziten Wahrnehmungen auch die eher körperlichen Empfindungen von Hunger, Lust und Schmerz gehören, ist der Begriff der »Empfindung« breit genug angelegt, um auch Wahrnehmungen von Körperzuständen abzudecken, die eher kognitiver Natur sind und einen weniger starken affektiven Charakter aufweisen. Das intellektuelle Augenmerk auf oder die aufmerksame Vergegenwärtigung von Gefühlen, Bewegungen, Orientierung oder Spannungszuständen eines Teils unseres Körpers würde entsprechend als bewusste Körperempfindung zählen, selbst wenn unserem Körper eine wichtige Gefühlsqualität oder ein direktes Input durch die äußeren Sinnesorgane fehlen würde. Bewusste Körperempfindungen sind darum nicht im Geringsten dem Denken entgegengesetzt, sondern beinhalten gerade bewusste, empirische, körperorientierte Gedanken und Vorstellungen. Unter diesen ausdrücklich bewussten Körperempfindungen unterscheiden wir zwischen jenen, die von unseren äußeren Sinnen (wie Sehen, Hören etc.) dominiert werden, und jenen, die stärker von inneren körperlichen Empfindungen wie Propriozeptionen oder kinästhetischen Gefühlen abhängig sind. Ich kann bewusst die Lage meiner Hand empfinden, indem ich auf sie schaue und auf ihre Ausrichtung achte, ich kann aber auch meine Augen schließen und versuchen, ihre Lage durch kinästhetisches Fühlen zu empfinden, durch ihre Beziehung zu anderen Körperteilen, zur Schwerkraft und zu anderen Objekten in meinem Erfahrungsfeld. Solche ausdrücklich propriozeptiven Wahrnehmungen können als somästhetische Wahrnehmungen par excellence angesehen werden. Nicht nur, weil sie dadurch somästhetisch sind, dass sie sich auf eine aufmerksame Aisthesis berufen oder auf eine differenzierte thematisierende Wahrnehmung, sondern auch, weil sie sich wesentlich auf das somästhetische Sinnessystem beziehen und nicht auf unsere Telezeptoren.9 Beide Arten der bewussten Körperempfindung verhelfen uns dazu, besser zurechtzukommen, indem sie uns über den Zustand unseres Körpers informieren. Ein Baseballspieler kann, indem er auf seine Füße und Hände schaut, entdecken, dass seine Füße zu weit auseinander stehen oder dass er den Schlag zu früh drosselt. Eine Tänzerin kann auf ihre Füße blicken und bemerken, dass sie 90 | kapitel 2

nicht richtig nach außen gedreht sind. Aber neben dieser äußeren Wahrnehmung haben die meisten Menschen ausreichend innere somatische Gegenwärtigkeit entwickelt, um (wenigstens ungefähr) zu wissen, wo ihre Gliedmaßen sich befinden. Und durch systematische Übung somästhetischer Gegenwärtigkeit kann diese propriozeptive Aufmerksamkeit entscheidend verbessert werden, um uns – ohne den Gebrauch unserer äußeren Sinne – mit einem schärferen und umfassenderen Bild von der Gestalt unseres Körpers, seines Volumens, seiner Dichte und seiner Ausrichtung zu versorgen. Diese beiden Arten ausdrücklich bewusster oder achtsamer Körperempfindungen machen nur einen relativ kleinen Teil unserer körperlichen Wahrnehmungen aus, die mindestens vier Bewusstseinsebenen umfassen. Erstens gibt es Wahrnehmungen, die mir nicht wirklich auf bewusste Weise gegenwärtig sind, die Merleau-Ponty aber zu den Fällen grundlegender »leiblicher Intentionalität« zu zählen scheint.10 Wenn Merleau-Ponty sagt, mein Körper werde immer schon von mir wahrgenommen,11 hat er sicherlich anzuerkennen, dass wir uns nicht immer unserer Körper bewusst sind. Dies gilt nicht nur, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf andere Dinge richten, sondern weil wir manchmal einfach tout court unbewusst sind, wie etwa in einem tiefen traumlosen Schlaf. Doch können wir nicht – selbst in einem solchen Schlaf – eine ursprüngliche körperliche Wahrnehmung unbewusster Art erkennen, die an Merleau-Pontys Begriff einer grundlegenden »motorische[n] Intentionalität« oder an die »Motorik als […] ursprüngliche[r] Intentionalität« erinnert?12 Man denke an unsere Atmung, während wir schlafen. Wenn ein Gegenstand, zum Beispiel ein Kissen, uns am Atmen hindert, werden wir in der Regel unseren Kopf zur Seite drehen oder den Gegenstand etwas wegschieben, während wir weiter schlafen; auf diese Weise passen wir unser Verhalten also unbewusst an das an, was unbewusst begriffen wurde.13 Selbst wenn dieser Mangel an Bewusstsein uns davor zurückschrecken lässt, in diesem Zusammenhang den Begriff der »Wahrnehmung« zu verwenden, besteht kein Zweifel daran, dass solches Verhalten zweckmäßiges Verstehen und intelligentes intentionales Handeln an den Tag legt. Eine bewusstere Ebene körperlicher Wahrnehmung kann man als bewusste Wahrnehmung ohne ausdrückliche Vergegenwärtigung der schweigende, hinkende körper der philosophie | 91

bezeichnen. In solchen Fällen bin ich bei Bewusstsein und empfinde etwas, aber ich nehme dies nicht als deutlich unterschiedenes Objekt des Bewusstseins wahr. Auch setze, thematisiere oder prädiziere ich es nicht als ein Objekt des Bewusstseins. Meine Vergegenwärtigung ist bestenfalls randständig oder nachlassend. Wenn meine Aufmerksamkeit dann ausdrücklich in die Richtung des Wahrgenommenen gelenkt wird, kann ich es im Gegenzug mit ausdrücklichem Bewusstsein als ein bestimmtes, thematisiertes oder repräsentiertes Objekt zur Kenntnis nehmen. Doch die Einführung einer solchen fokussierten Aufmerksamkeit und einer solchen ausdrücklichen Vergegenwärtigung bedeutet, hinter die Ebene des Bewusstseins zurückzugehen, die Merleau-Ponty als »originäres Bewusstsein« herausstellt und die er als »unreflektiertes« und »vorprädikatives Bewusstseinsleben« beschreibt.14 Betrachten wir zwei Beispiele dieses basalen Bewusstseins. In der Regel vergegenwärtige ich mir, wenn ich durch eine offene Tür gehe, nicht ausdrücklich die exakten Grenzen ihres Rahmens und ihr Verhältnis zu meinen körperlichen Ausmaßen und meiner Haltung, obwohl der Sachverhalt, dass ich die räumlichen Verhältnisse wahrnehme, sich an der Tatsache zeigt, dass ich den Durchlass problemlos meistere, selbst wenn es sich um eine völlig neue Tür handelt und der Durchgang recht eng ist. Ebenso kann ich in einem vagen randständigen Sinn wahrnehmen, dass ich atme (in dem Sinn, dass ich keine Erstickungsgefühle oder Atembeschwerden habe), ohne mir ausdrücklich meine Atmung und ihren Rhythmus, ihren Stil oder ihre Qualität zu vergegenwärtigen. In einem erregten Zustand mache ich möglicherweise die Erfahrung von Kurzatmigkeit, ohne mir deutlich zu vergegenwärtigen, dass es sich um Kurzatmigkeit handelt, die ich erfahre. Eine solche Kurzatmigkeit wird hierbei nicht als ein ausdrückliches gegenwärtiges Objekt vom Bewusstsein vorgestellt oder als das, was Merleau-Ponty manchmal ein thematisiertes Objekt oder eine Repräsentation (Vorstellung) nennt. Die Wahrnehmung kann aber auch auf eine dritte Ebene gehoben werden, auf der wir uns bewusst und ausdrücklich vergegenwärtigen, was wir wahrnehmen – ob es sich dabei nun um die Wahrnehmung externer Gegenstände handelt oder um unsere eigenen Körper und ihre somatischen Sinnesempfindungen. So wie wir die sich öffnende Tür als ein deutliches Objekt der Wahrnehmung beob92 | kapitel 2

achten können, so können wir bewusst wahrnehmen (sowohl visuell als auch propriozeptiv), ob wir breitbeinig stehen oder nicht und ob unsere Arme eng am Körper liegen oder nicht. Ebenso können wir ausdrücklich erkennen, dass wir außer Atem sind oder dass unsere Fäuste geballt sind. Wir können uns sogar achtsam die verschiedenen Gefühle solchen Atmens oder Fäuste-Ballens vergegenwärtigen. Auf dieser Ebene, die Merleau-Ponty als Vorstellungsebene oder Ebene mentaler Repräsentation betrachtet, können wir schon von ausdrücklich bewussten körperlichen Wahrnehmungen oder von somästhetischer Beobachtung sprechen.15 Ich würde sogar eine vierte Schicht eines noch größeren Wahrnehmungsbewusstseins hinzufügen, eine Ebene, die in vielen somatischen Disziplinen einer Körper-Geist-Harmonisierung wichtig ist. Hier sind wir uns nicht nur dessen bewusst, was wir als ausdrücklich vergegenwärtigten Gegenstand des Bewusstseins wahrnehmen, sondern wir sind uns auch dieses Bewusstseins achtsam bewusst, während wir die Vergegenwärtigung des Gegenstands unserer Vergegenwärtigung mittels seiner Vorstellung in unserem Denken beobachten. Wenn die dritte Ebene als bewusste somatische Wahrnehmung mit ausdrücklicher Vergegenwärtigung (oder, präziser gesagt, als somästhetische Wahrnehmung) bezeichnet werden kann, dann könnte die vierte und reflektiertere Ebene als selbstbewusste (oder selbst-reflexive) Wahrnehmung mit ausdrücklicher Vergegenwärtigung bezeichnet werden (oder, einfacher gesagt, als somästhetisches Selbstbewusstsein oder als somästhetische Selbst-Reflexion). Auf dieser Ebene vergegenwärtigen wir uns nicht einfach nur, dass wir außer Atem sind, oder auch genauer, wie wir atmen (beispielsweise schnell und flach aus der Kehle, oder in abgewürgtem Schnauben durch die Nase, statt tief aus dem Zwerchfell). Wir werden uns auch vergegenwärtigen, wie das Bewusstsein von unserer Atmung unser weiteres Atmen, unsere aufmerksame Vergegenwärtigung und damit verknüpfte Gefühle beeinflusst. Wir können uns dann auf unsere Selbst-Vergegenwärtigung davon konzentrieren, wie wir unsere Fäuste ballen, nicht nur in Bezug auf die spezifische Aufmerksamkeit gegenüber ausdrücklichen Gefühlen der Anspannung und Ausrichtung von Daumen und Fingern in der Faust. Darüber hinaus können wir uns auch auf die Gefühle dieser achtsamen Vergegenwärtigung selbst konzentrieren und auf die Art und Weise, der schweigende, hinkende körper der philosophie | 93

in der solches somatisches Selbstbewusstsein unsere Erfahrung des Fäuste-Ballens und andere Erfahrungen beeinflusst. Merleau-Pontys Philosophie stellt eine Herausforderung für den Wert dieser beiden höheren (oder vorstellungsmäßigen) Ebenen bewusster körperlicher Wahrnehmung dar. Und dies nicht nur dadurch, dass er den Vorrang und die Hinlänglichkeit des nichtreflexiven »originären Bewusstseins« hervorhebt, sondern ebenso durch bestimmte Einwände gegen die Körperbeobachtung und den Gebrauch von kinästhetischen Empfindungen und Körpervorstellungen. Eine angemessene Verteidigung somästhetischer Achtsamkeit muss den Einzelheiten dieser Herausforderung gerecht werden.

III.

Ein Hauptanliegen von Merleau-Pontys Phänomenologie besteht darin, unseren Kontakt mit den »Sachen selbst« und »unserer Welterfahrung«, so wie sie uns gegeben ist, wiederherzustellen.16 Dies bedeutet, unsere Verbindung zu Wahrnehmungen und Erfahrungen zu erneuern, die unserer Erkenntnis und unserer Reflexion vorausgehen. »Zurückgehen auf die ›Sachen selbst‹ heißt zurückgehen auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle Erkenntnis spricht«.17 Phänomenologie ist deshalb »eine Philosophie, die lehrt, daß Welt vor aller Reflexion in unveräußerlicher Gegenwart ›je schon da‹ ist, eine Philosophie, die auf nichts anderes abzielt, als diesem naiven Weltbezug nachzugehen, um ihm endlich eine philosophische Satzung zu geben«.18 Philosophie ist zwangsläufig ein reflexiver Akt, aber phänomenologische »Reflexion [ist nur radikal] als Bewußtsein der Abhängigkeit ihrer selbst von dem unreflektierten Leben, in dem sie erstlich, ständig und letztlich sich situiert«.19 »Sie ist der Versuch einer direkten Beschreibung aller Erfahrung, so wie sie ist«, in unserem grundlegenden präreflexiven Zustand, und verfolgt das Anliegen, »reflektierend dem unreflektierten Bewußtseinsleben nahezukommen«.20 Solch eine Philosophie ist nicht »Reflex einer vorgängigen Wahrheit«, sondern eher bestrebt, »die Weltwahrnehmung als das zu beschreiben, worin die Idee der Wahrheit sich uns je schon begründet hat«, sie zielt darauf, immer wieder »von neuem [zu] ler94 | kapitel 2

nen, die Welt zu sehen«, mit dieser direkten, präreflexiven Wahrnehmung, und entsprechend zu handeln.21 Beide, primäre Wahrnehmung und präreflexives Bewusstsein, sind in einer operativen Intentionalität verkörpert, die durch Unmittelbarkeit und Spontaneität charakterisiert ist.22 Daher sei es »die Eigenart einer phänomenologischen Philosophie […], daß sie sich definitiv in der Ordnung der lehrenden Spontaneität einrichtet«; und diese grundlegende, verkörperte »Ordnung der lehrenden Spontaneität« konstituiert eine Weltweisheit und Kompetenz, die alle Menschen teilen.23 Deshalb folgert Merleau-Ponty, dass das besondere Wissen des Philosophen darin besteht, dass er »das sprachlich ausdrückt, was jedermann weiß […]. Diese Wunder wohnen dem Philosophen nicht weniger inne als allen anderen. Was sagt er über das Verhältnis von Seele und Leib, wenn nicht das, was allen bekannt ist, die ihre Seele und ihren Leib, ihre Schmerzen und Freuden zugleich leben lassen.«24 Drei entscheidende Themen werden in diesen Passagen angesprochen. Erstens bejaht Merleau-Ponty die Existenz und Wiederherstellung einer primordialen Wahrnehmung oder Erfahrung, die unterhalb der Ebene von reflexivem oder thematisiertem Bewusstsein und unterhalb jeder Sprache und aller Begriffe liegt, die aber trotzdem tadellos brauchbar unseren grundlegenden Bedürfnissen dient und ferner die Grundlage für ein höheres Bewusstsein bildet. Diese nichtdiskursive Ebene der Intentionalität wird gefeiert als das »schweigende Bewusstsein« des »reinen Selbstgefühls« und als »primordialer Ausdruck«. Zweitens drängt er auf die Anerkennung und Wiederentdeckung der Spontaneität, die für solche primordiale Wahrnehmung und Ausdrucksweise charakteristisch ist. Drittens geht es um die Annahme, dass Philosophie sich auf Bedingungen der menschlichen Existenz zu konzentrieren habe, die ontologisch als grundlegend, allgemein und dauerhaft gegeben sind. Deshalb sollte die Untersuchung der Wahrnehmung und der Körper-GeistBeziehung im Sinn dessen geführt werden, was »unveränderlich, ein für alle Mal gegeben ist« und »von allen Männern gewusst wird« (und vermutlich von allen Frauen) oder wenigstens von allen Männern und Frauen als normal erachtet wird.25 Schon der erste Punkt würde für sich genommen Merleau-Ponty davon abhalten, den ausdrücklich bewussten körperlichen Empfinder schweigende, hinkende körper der philosophie | 95

dungen mit wohlwollender Aufmerksamkeit zu begegnen. Nicht nur liegen jene Empfindungen jenseits dessen, was er als präreflexives Bewusstsein hervorheben möchte, sondern sie werden vom wissenschaftlichen und philosophischen Denken bezeichnenderweise dazu benutzt, die Erklärungsrolle zu besetzen und die Existenz der ursprünglichen Wahrnehmung oder des ursprünglichen Bewusstseins zu bestreiten, das Merleau-Ponty so leidenschaftlich am Herzen liegt. Er betont, dass dieses primordiale Bewusstsein vergessen wurde, weil reflexives Denken behauptete, dass ein solches Bewusstsein nicht dafür geeignet sei, die alltäglichen Aufgaben der Wahrnehmung, des Handelns und Sprechens auszuführen; stattdessen erklärte das reflexive Denken, dass unser alltägliches Verhalten auf »Vorstellungen« beruhe, sei es auf neuronalen Vorstellungen der mechanistischen Physiologie oder den psychischen Vorstellungen der intellektualistischen Philosophie und Psychologie. Deshalb zielen Merleau-Pontys Erörterungen darauf ab, zu zeigen, dass die auf Vorstellungen gestützten Erklärungen, wie sie von der Wissenschaft und der Philosophie gegeben werden, weder notwendige noch genaue Rechenschaft davon geben, wie wir wahrnehmen, handeln und uns im normalen Alltagsverhalten ausdrücken (auch nicht in ungewöhnlicheren Fällen wie »abstrakter Bewegung« und »Phantomglied«-Erfahrungen). Seine hervorragende Kritik an den verschiedenen auf Vorstellungen fußenden Erklärungen sind zu umfassend und detailliert, um hier durchbuchstabiert werden zu können, aber sie teilen eine Kernstrategie. Von diesen Erklärungen wird gezeigt, wie sie grundlegende Erfahrungen oder Verhaltensweisen, die sie zu erklären suchen, missverstehen, indem sie diese von Beginn an im Licht der eigenen Ergebnisse ihrer reflexiven Analyse beschreiben. Ferner wird gezeigt, dass solche Erklärungen unangemessen sind, da sie sich in entscheidender Hinsicht (auf unausdrückliche, aber entscheidende Weise) auf einige Aspekte von Erfahrung verlassen, die sie nicht wirklich erklären, die aber durch primordiale Wahrnehmung erklärt werden können. Um zum Beispiel mein erfolgreiches Überschreiten der Schwelle einer offenen Tür zu erklären, würde eine an der Vorstellung orientierte Erklärung meine Erfahrung anhand der Form meiner visuellen Vorstellungen des offenen Raums, des umgebenden Türrahmens und meiner bewussten kinästhetischen Empfindung von Körperumfang und Bewegungsrichtung beschreiben 96 | kapitel 2

und erklären. Normalerweise aber habe ich keine in dieser Form bewussten Vorstellungen, wenn ich durch eine Tür gehe. MerleauPonty will (ganz ähnlich wie William James und John Dewey vor ihm) zeigen, dass diese Vorstellungen reflexive und theoretische Erklärungsbegriffe sind, die fälschlicherweise in eine ursprüngliche Erfahrung hineingelesen oder auf eine ursprüngliche Erfahrung aufgepfropft werden. Und selbst wenn ich diese verschiedenen visuellen und kinästhetischen Erklärungsvorstellungen gehabt hätte, könnten sie meine Erfahrung nicht erklären, da sie unfähig sind zu zeigen, wie sie eigentlich aus anderen, irrelevanten Vorstellungen ausgewählt wurden und wie sie, in erfolgreicher Wahrnehmung und Handlung, miteinander verbunden wurden. Stattdessen, so macht Merleau-Ponty geltend, ist es unsere grundlegende nichtreflexive Intentionalität, die schweigsam und spontan unsere Wahrnehmungswelt organisiert, ohne bestimmter wahrnehmender Vorstellungen und ausdrücklich bewusster Überlegung zu bedürfen. Obwohl diese grundlegende Ebene von Intentionalität allgegenwärtig ist, verdeckt gerade ihre Allgegenwart und ihr unauffälliges Schweigen ihre vorherrschende Präsenz. In gleicher Weise verdunkelt ihr elementarer, allgemeiner und spontaner Charakter ihre außergewöhnliche Wirksamkeit. Um die erstaunlichen Kräfte dieser nichtreflexiven Ebene der Wahrnehmung, des Handelns und Sprechens hervorzuheben, beschreibt Merleau-Ponty sie in Begriffen des Wunderbaren, Übernatürlichen und selbst des Magischen. Der »Leib als spontane[r] Ausdruck« sei wie das beispiellose »Wunder des Stils« beim künstlerischen Genie.26 »Ich bewege meinen Leib, ohne auch nur zu wissen, welche Muskeln, welche Nervenbahnen mitwirken müssen, noch wo die Instrumente dieser Handlung zu suchen sind – wie der Künstler seinen Stil bis in die letzten Fasern der Materie ausstrahlen läßt, die er bearbeitet. Ich will dort hingehen, und schon bin ich da, ohne daß ich in das nichtmenschliche Geheimnis der körperlichen Maschinerie eingedrungen bin, ohne daß ich diese der Problemstellung angepaßt hätte […] Ich sehe das Ziel, werde von ihm angezogen, und schon macht die Körpermaschine das, was zu tun ist, damit ich mich dort befinde. Alles spielt sich vor meinen Augen in der menschlichen Welt der Wahrnehmung und der Geste ab, aber mein ›geographischer‹ der schweigende, hinkende körper der philosophie | 97

oder ›physischer‹ Körper gehorcht den Anforderungen dieses kleinen Dramas, das ständig in sich tausend neue natürliche Wunder hervorruft. Schon mein Blick zum Ziel hin hat seine Wunder […]«27

Wenn Vorstellungen von Körperteilen und -prozessen in negativer Weise als mechanistisch und inhuman beschrieben werden, wird der nichtreflexive Gebrauch des Körpers nicht nur mit dem Menschlichen und Künstlerischen verbunden, sondern auch – mittels seiner übernatürlichen Wunder – mit dem Göttlichen. In einem Abschnitt der Phänomenologie der Wahrnehmung, in dem MerleauPonty den Gebrauch kinästhetischer Empfindung kritisiert, besteht er gleichfalls auf der wunderbaren Natur der körperlichen Intentionalität und beschreibt ihre unmittelbare, intuitive Wirksamkeit als »magisch«. Ich muss gar nicht darüber nachdenken, was ich tue oder wo ich mich im Raum befinde, ich bewege einfach und »direkt« meinen Körper und gelange spontan zum erstrebten Ziel, sogar ohne mir meine Absicht bewusst vorzustellen. »Das Verhältnis zwischen meinem Entschluß und meinem Leib in der Bewegung ist ein magisches«.28 Warum sollte ein weltlicher Philosoph unsere gewöhnliche Körperintentionalität in Begriffen des Übernatürlichen oder Magischen preisen? Sicher, unsere irdischen körperlichen Fähigkeiten können unter bestimmten Gesichtspunkten echte Verwunderung hervorrufen. Aber die Feier des Wunderbaren oder Magischen dient in Merleau-Pontys Agenda auch anderen Zwecken. Das primäre Mysterium spontaner Körperfähigkeiten zu feiern gibt ihm zudem ein starkes Gegenmittel an die Hand, dem Druck, der darin besteht, die körperliche Wahrnehmung und das Handeln in vorstellungsorientierter Weise zu erklären, zu widerstehen: Also genau der Art von Erklärung, die immer die grundlegende körperliche Intentionalität, die er richtigerweise als ursprünglich betrachtet, verdunkelte. Außerdem dient das Zelebrieren des wundersamen körperlichen Mysteriums auf geschickte Weise seinem Projekt, den Wert des Körpers herauszustellen, obwohl er ihn zum schweigenden, strukturierenden, verborgenen Hintergrund erklärt. »Der Körperraum [gleicht] der zur Sichtbarkeit des Schauspiels erforderlichen Dunkelheit des Saals, […] dem Untergrunde von Schlaf, der vagen Kraftreserve […], wovon alle Gesten und ihre Zwecke sich abheben«.29 98 | kapitel 2

Etwas allgemeiner ausgedrückt, »ist der eigene Leib das beständig mitanwesende dritte Moment in der Struktur Figur-Hintergrund, und eine jede Figur profiliert sich in dem doppelten Horizont von Außenraum und Körperraum«.30 Außerdem gilt der Körper deshalb als mysteriös, weil er einen Ort »unpersönlicher« Existenz, unterhalb und verborgen vor der normalen Selbstheit, darstellt. Er ist der Ort, an dem ich mich »der Welt verschließen kann«, an dem ich mich von meinem Interesse, in der Welt zu beobachten oder zu handeln, zurückziehe. An diesem Ort kann ich »vergehen in Freude oder Schmerz, mich in jenes anonyme Leben verschließen, das mein personales Leben trägt«.31 Merleau-Ponty mag überdies einen persönlicheren Grund für die Verteidigung des verborgenen Mysteriums des Körpers gehabt haben: einen tiefen Respekt vor dessen Bedürfnis nach einer Privatsphäre, um seine Funktion auszugleichen, uns eine Welt zu geben, indem er uns dieser aussetzt, indem er nicht nur ein empfindendes Wesen ist, sondern Teil des empfindenden Fleisches der Welt. Einige seiner Bemerkungen drücken ein starkes Gefühl körperlicher Schamhaftigkeit aus. »Der Mensch zeigt für gewöhnlich nicht seinen Körper, und wenn er es tut, so bald scheu, bald in der Absicht, zu faszinieren.«32 Und wenn Merleau-Ponty diese »Grenzsituationen« veranschaulichen will, in denen man sich seine eigene elementare körperliche Intentionalität vergegenwärtigt, wenn man das »stillschweigende cogito [erfasst], Selbstgegenwart bei sich selbst […], in denen es bedroht ist«, handelt es sich um bedrohliche Situationen wie »Todesangst oder [die] Angst vor dem Blick der Anderen auf mich«.33 Merleau-Pontys Begriff körperlicher Intentionalität setzt sich über die philosophische Tradition hinweg, indem er dem Körper eine Art von Subjektivität zuspricht, anstatt ihn als bloßes Objekt oder als bloßen Mechanismus zu behandeln. Aber noch weit radikaler ist er in der Erweiterung der Grenzen nichtreflexiver körperlicher Subjektivität, weit über unsere grundlegenden körperlichen Bewegungen und Sinneswahrnehmungen hinaus, zu höheren Vorgängen des Sprechens und des Denkens, die den von der Philosophie hochgehaltenen Bereich des Logos konstituieren. Auch hier ersetzt die Wirksamkeit spontaner Körperintentionalität die bewussten Vorstellungen als Erklärung unseres Verhaltens: der schweigende, hinkende körper der philosophie | 99

»[…] das Denken des sprechenden Subjekts [ist] kein Vorstellen […]. Ein Redner denkt nicht, ehe er spricht, ja nicht einmal, während er spricht; sein Sprechen ist vielmehr selbst sein Denken. […] Für das ›Wortbild‹ gilt dasselbe wie oben für die ›Vorstellung der Bewegung‹: ich bedarf keiner besonderen Vorstellung des Außenraumes und meines eigenen Leibes, um diesen in jenem bewegen zu können. Es genügt, daß Leib und Raum für mich existieren und ein mich umspannendes Feld des Handelns konstituieren. In gleicher Weise bedarf ich auch keiner besonderen Vorstellung von einem Wort, um es wissen und aussprechen zu können. Es genügt, daß ich sein Artikulations- und Klangwesen innehabe als eine mögliche Modulation, einen möglichen Gebrauch meines Leibes. Ich greife zu einem Wort, wie meine Hand an eine plötzlich schmerzende Stelle meines Körpers fährt; das Wort hat seine bestimmte Stelle in meiner sprachlichen Welt, ist ein Teil meiner verfügbaren Ausrüstung […]«.34

Kurz, die »körperliche Ausrichtung auf die mich umgebenden Dinge ist implizit und verlangt nach keiner Thematisierung, keiner ›Repräsentation‹ meines Körpers oder der Umwelt. Die Bedeutung belebt das gesprochene Wort, so wie die Welt meinen Körper belebt: durch eine verborgene Gegenwart, die meine Absichten weckt, ohne sich vor ihnen ganz zu entfalten. […] Wenn die Thematisierung des Bezeichneten nicht dem Sprechen vorangeht, dann nur deswegen, weil sie ihr Resultat ist.«35 Das wunderbare Mysterium dieser schweigenden, doch spontan fließenden körperlichen Ausdruckskraft wird ebenso hervorgehoben: »[…] wie die Funktion des Leibes bleibt mir auch die der Worte und der Malweisen verborgen: Die Wörter, die Striche, die Farben, die mich ausdrücken, […] werden mir entlockt durch das, was ich sagen will, wie meine Gesten durch das, was ich tun will. Insofern liegt in jedem Ausdruck eine Spontaneität, die keine Anweisungen duldet, nicht einmal die, die ich mir selbst geben wollte«.36

Die mysteriöse Wirksamkeit unserer spontanen Intentionalität ist sicherlich beeindruckend. Aber sie allein kann nicht alle unsere gewöhnlichen Bewegungs- und Wahrnehmungskräfte, die Kraft zu Sprache und Denken erklären. Ich kann ins Wasser springen und spontan meine Arme und Beine bewegen, aber ich werde mein Ziel 100 | kapitel 2

nicht erreichen, bevor ich nicht zu schwimmen gelernt habe. Ich kann ein Lied auf Japanisch hören und spontan versuchen mitzusingen, aber ich werde daran scheitern, bis ich genügend Worte dieser Sprache gelernt habe. Viele Dinge, die wir jetzt spontan vollbringen (oder verstehen), lagen einst jenseits unseres Repertoires nichtreflexiven Könnens. Sie mussten gelernt werden, wie Merleau-Ponty selbst einsieht. Aber wie? Eine Weise, wie man diesen Lernprozess zumindest teilweise erklären könnte, läge im Einsatz verschiedener Arten von Vorstellungen (Bilder, Symbole, Propositionen etc.), auf die unser Bewusstsein sich in seiner Entwicklung konzentrieren und die es anwenden kann. Aber Merleau-Ponty scheint auf Vorstellungen zu kritisch zu reagieren, um diese Option akzeptieren zu können. Stattdessen erklärt er dieses Lernen als automatischen Erwerb von Körpergewohnheiten durch nichtreflexive motorische Gewöhnung oder somatische Sedimentierung. »Der Erwerb einer Gewohnheit [unsere Sprech- und Denkgewohnheiten eingeschlossen – R. S.] ist die Erfassung einer Bedeutung, aber die motorische Erfassung einer Bewegungsbedeutung«.37 »Der Leib ist es, so sagten wir, der im Erwerb einer Gewohnheit ›versteht‹«.38 Es besteht keine Notwendigkeit zu explizit bewusstem Denken, um sich »an einen Hut, an ein Automobil oder an einen Stock [zu] gewöhnen« oder um eine Tastatur zu beherrschen.39 Sich an diese Dinge »gewöhnen heißt [schlicht], sich in ihnen ein[zu]richten«,40 durch den unreflektierten Prozess motorischer Sedimentierung und durch unseren spontanen körperlichen Sinn des Selbst. Der gelebte Körper besteht für Merleau-Ponty demnach aus zwei Schichten: Unterhalb des spontanen Körpers des Augenblicks befindet sich »der habituelle Leib« der Sedimentierung.41 Die Bejahung der Vorherrschaft, Bedeutung und Intelligenz der nichtreflexiven Gewohnheit in unserem Handeln, Sprechen und Denken teile ich mit Merleau-Ponty, ebenso wie die Anerkennung der somatischen Grundlage der Gewohnheit. Beide Leitmotive spielen in der pragmatistischen Tradition von James und Dewey, die meine Arbeit zur Körperphilosophie inspirieren, eine zentrale Rolle. Aber es gibt beunruhigende Grenzen der Wirksamkeit nichtreflexiver Gewohnheiten, selbst auf der Ebene grundlegender körperlicher Handlungen. Ohne es zu bemerken, können wir der schweigende, hinkende körper der philosophie | 101

ebenso gut schlechte wie auch gute Gewohnheiten annehmen. (Dies scheint besonders plausibel, wenn wir der Foucaultschen Prämisse zustimmen, dass die Institutionen und Technologien, die unser Leben mittels der Herrschaft der Biomacht regieren, uns Körper- und Überzeugungsgewohnheiten einprägen, die darauf abzielen, uns in Unterwürfigkeit zu halten.) Wenn wir uns einmal schlechte Gewohnheiten angeeignet haben, wie können wir sie dann korrigieren? Weder können wir – in der Hoffnung, sie zu korrigieren – einfach sedimentierten Gewohnheiten vertrauen – da ja die sedimentierten Gewohnheiten genau das sind, was falsch ist. Noch können wir auf die nichtreflexive Körperspontaneität des Augenblicks zählen, da sie schon mit der Spur ungewollter Sedimentierungen behaftet ist und uns folglich höchstwahrscheinlich weiterhin irreführen wird.42 Darum nehmen verschiedene Disziplinen von Körpertraining bezeichnenderweise Vorstellungen und eine selbstbewusste körperliche Einstellung zu Hilfe, um unsere falsche Selbstwahrnehmung und den falschen Gebrauch unserer verkörperten Selbste zu korrigieren. Von alten asiatischen Praktiken der Meditation bis zu modernen Systemen wie der Alexander-Technik und der FeldenkraisMethode ist ausdrückliche Vergegenwärtigung und bewusste Kontrolle entscheidend, ebenso wie der Einsatz von Vorstellungen oder Visualisierungen. Diese Disziplinen versuchen nicht, die entscheidende Ebene des nichtreflexiven Verhaltens durch die (unmögliche) Bemühung auszuschalten, all unsere Wahrnehmung und unser Handeln ausdrücklich bewusst zu machen. Sie versuchen einfach, unreflektiertes Verhalten, das unsere Erfahrung und Leistung behindert, zu verbessern. Um diese Verbesserung zu erreichen, muss das nichtreflexive Handeln oder die nichtreflexive Gewohnheit zu bewusster kritischer Reflexion gebracht werden (allerdings nur für kurze Zeit), damit es präziser begriffen und bearbeitet werden kann.43 Neben diesen therapeutischen Zielen bereichern Disziplinen somatischer Reflexion auch unsere Erfahrung mit zusätzlichem Wissen, neuen Entdeckungen und größerer Freude, die eine gesteigerte Vergegenwärtigung mit sich bringt.44 Merleau-Ponty plädiert für den nichtreflexiv gelebten Körper im Gegensatz zu den abstrakten Vorstellungen wissenschaftlicher Erklärung, aber er verursacht damit eine Spaltung in »gelebte Erfahrung« versus »Vorstellungen«, welche das Inbetrachtziehen ei102 | kapitel 2

ner fruchtbaren dritten Option, nämlich der »gelebten körperlichen Reflexion«, das heißt eines konkreten, aber vorstellungsbezogenen und reflexiven Körperbewusstseins außer acht lässt. Diese polarisierende Dichotomie findet ihre Entsprechung in einem anderen irreführenden binären Kontrast, der seine Beschreibung von Verhalten durchzieht. Auf der einen Seite beschreibt er die Leistungsfähigkeit »normaler« Menschen, ihr körperliches Empfindungsvermögen und ihr Funktionieren im Ganzen als ruhig, spontan und unproblematisch. Auf der anderen Seite findet sich die dem entgegengesetzte Kategorie abnorm Behinderter: Menschen wie (der von MerleauPonty angeführte Patient namens) Schneider,45 die eine pathologische Funktionsstörung zeigen und die gewöhnlich unter ernsthaften neurologischen Verletzungen (wie zum Beispiel Hirnverletzungen) oder unter einem schweren psychologischen Trauma leiden.46 Diese einfache Gegenüberstellung verdunkelt die Tatsache, dass unter uns die meisten sogenannten normalen, voll funktionsfähigen Menschen unter verschiedensten Behinderungen und Funktionsstörungen leiden, die schwach ausgeprägt sein mögen, aber dennoch Vollzüge beeinträchtigen. Solche Beeinträchtigungen beziehen sich nicht nur auf Wahrnehmungen oder Handlungen, die wir nicht vollbringen können (obwohl wir anatomisch dazu in der Lage wären), sondern auch auf das, was wir erfolgreich durchführen, aber weit erfolgreicher oder mit größerer Leichtigkeit oder Eleganz ausführen könnten. Merleau-Ponty setzt voraus, dass, wenn wir nicht – wie Schneider und andere neurologisch erkrankte Individuen – pathologisch beeinträchtigt sind, unser nichtreflexiver Körpersinn (oder unser motorisches Schema) völlig intakt und wunderbar funktionsfähig ist. Gerade so, wie für Merleau-Ponty meine spontanen körperlichen Bewegungen in ihrer Präzision und Wirksamkeit »magisch« zu sein scheinen, so scheint das unmittelbare Wissen meines Körpers und die Orientierung seiner Teile ganz und gar vollständig zu sein. »Ich habe ihn inne in einem unteilbaren Besitz, und die Lage eines jeden meiner Glieder weiß ich durch ein sie alle umfassendes Körperschema.«47 Obwohl ich Merleau-Pontys Wertschätzung unseres »normalen« spontanen körperlichen Sinns teile, glaube ich, dass wir anerkennen sollten, dass dieser Sinn oft auf schmerzhafte Weise inakkurat und dysfunktional ist.48 Ich mag denken, dass ich den Kopf beim Schwinder schweigende, hinkende körper der philosophie | 103

gen des Golfschlägers nach unten halte, doch ein Beobachter wird schnell bemerken, dass dies nicht der Fall ist. Ich mag glauben, aufrecht zu sitzen, dabei ist mein Rücken gekrümmt. Aufgefordert, sich auf Höhe der Rippen zu beugen, werden viele von uns sich an der Taille krümmen und glauben, dass sie die Instruktionen befolgen. Bei dem Versuch, aufrecht zu stehen, glauben die Leute gewöhnlich, dass sie ihre Wirbelsäule strecken, obwohl sie sich tatsächlich zusammenzieht. In der somatischen Erziehung werden Übungen in vorstellungsbezogener Aufmerksamkeit eingesetzt, um derartige Probleme der Fehlwahrnehmung und des falschen Gebrauchs unseres Körpers zu behandeln, die im spontanen und gewohnheitsmäßigen Verhalten auftreten, das Merleau-Ponty als ursprünglich identifiziert und als wunderbar fehlerfrei im normalen Auftreten preist. Obwohl er unsere nichtreflexiven körperlichen Fähigkeiten übertreibt, kann Merleau-Ponty nicht generell dafür verurteilt werden, die Kräfte des Körpers zu überschätzen. Denn er betont die besondere Schwäche des Körpers in anderen Hinsichten, einschließlich seiner einschneidenden kognitiven Begrenzungen der Selbstbeobachtung. In der Tat, sein Beharren auf der wunderbaren Effektivität des spontanen Körpers (und der daraus folgenden Irrelevanz des vorstellungsbezogenen Denkens für die Steigerung unserer körperlichen Leistungen) lässt den Körper schwächer als nötig erscheinen, indem damit gesagt wird, dass es keinen Grund und kein Mittel gibt, seine Leistungsfähigkeit durch den Gebrauch von Vorstellungen zu verbessern. Umgekehrt könnte seine stringente Verteidigung körperlicher Beschränkungen – die er strukturell für grundlegend für die menschliche Leistungsfähigkeit hält – uns von Bemühungen abhalten, unsere eingefleischten Gewohnheiten zu überwinden, und zwar weil wir befürchten könnten, dass solche Bemühungen uns letztlich dadurch schwächen, dass die grundlegenden strukturellen Handicaps, auf denen unsere Kräfte in Wirklichkeit beruhen, gestört würden. Dies deutet auf einen weiteren Grund hin, warum sich MerleauPonty der Mitwirkung des reflexiven körperlichen Bewusstseins und seiner körperlichen Vorstellungen widersetzt. Übungen in somästhetischer Bewusstwerdung zielen gewöhnlich nicht einfach darauf, unsere körperlichen Gegebenheiten und Gewohnheiten zu erkennen, sondern sie zu ändern. Schon die Vergegenwärtigung allein kann 104 | kapitel 2

(bis zu einem gewissen Grad) unsere Körpererfahrung und die Beziehung zu unserem Körper verändern. Merleau-Ponty erkennt dies an, wenn er betont, dass reflexives Denken nicht wirklich unsere primordiale nichtreflexive Erfahrung erfassen kann, weil die mit diesem Denken verbundenen Vorstellungen unvermeidlich unseren grundlegenden Erfahrungshorizont dadurch verschieben, dass sie Kategorien und begriffliche Unterscheidungen an einer Stelle einführen, wo es diese ursprünglich nicht gab. Besonders verurteilt er die durch vorstellungsbezogene Deutungen einer Erfahrung gesetzten Differenzierungen (ob mechanistisch oder rationalistisch), weil dadurch die »Alternative von Leib und Bewusstsein« hervorgebracht würde,49 während wir gleichzeitig für die Einheit der primordialen Wahrnehmung blind würden. Doch die Tatsache, dass vorstellungsbezogene Erklärungen unsere primordiale Wahrnehmung nicht adäquat verdeutlichen, bedeutet nicht, dass sie nicht für andere Zwecke, zum Beispiel zur Verbesserung unserer Gewohnheiten, nützlich sein könnten. Eine Änderung der Gewohnheiten kann in der Folge unsere spontanen Wahrnehmungen verändern, deren Einheit und Spontaneität wieder hergestellt ist, sobald die neuen verbesserten Gewohnheiten verankert sind. Kurzum, wir können die Einheit und nichtreflexive Qualität der ursprünglichen Wahrnehmungserfahrung bejahen und zugleich selbst-reflexives Körperbewusstsein unterstützen, mit dem wir vorstellungsorientiertes Denken sowohl für die Rekonstruktion einer besseren Primärerfahrung als auch für die innere Befriedigung eines reflexiven somatischen Bewusstseins einsetzen.50 Im Zusammenhang mit der Veränderung des Verhältnisses zum eigenen Körper heben Disziplinen somatischer Achtsamkeit (ebenso wie andere Formen somatischen Trainings) auch die individuellen Unterschiede stärker hervor. Jeder Mensch hat einen anderen Stil des Körpergebrauchs (und -missbrauchs). Außerdem ist das, was man durch nachhaltiges Training somatischer Vergegenwärtigung lernt, nicht einfach nur das, »was jeder Mensch« durch unmittelbares Verstehen der primordialen Wahrnehmung und gedankenlose Gewohnheit »gut kennt«. Viele von uns wissen nicht (und werden vielleicht niemals lernen), was es heißt, die Lage eines jeden Wirbels und einer jeden Rippe propriozeptiv zu fühlen, ohne sie mit den Händen zu berühren. Auch erkennt nicht jede/r, wenn er oder sie der schweigende, hinkende körper der philosophie | 105

die Hand nach etwas ausstreckt, von welchem Teil seines oder ihres Körpers (Finger, Arm, Schulter, Becken oder Kopf) diese Bewegung wirklich ausgelöst wird. Wenn das Ziel der Philosophie einfach darin besteht, das Universelle und Unveränderliche unserer verkörperten menschlichen Verfasstheit dadurch zu verdeutlichen und zu erneuern, dass man die Erkenntnis von primordialer Erfahrung und ihrer ontologischen Voraussetzungen wieder in den Fokus rückt, dann wird das ganze Projekt der Verbesserung der körperlichen Wahrnehmung und des körperlichen Funktionierens mittels selbstbewusster Reflexion als philosophische Bagatelle abgetan werden. Und schlimmer noch, es wird als bedrohliche Veränderung und Ablenkung von der ursprünglichen Wahrnehmungsebene angesehen werden, die als letzter Grund, Schwerpunkt und Zweck der Philosophie angepriesen wird. Dass Merleau-Ponty sich einer unveränderlichen und universellen phänomenologischen Ontologie verschreibt, die auf primordialer Wahrnehmung gründet, ist ein weiterer Grund dafür, dass er den Wert ausdrücklichen körperlichen Bewusstseins ausblendet. Demgegenüber ist der Pragmatismus empfänglicher für reflexives somatisches Bewusstsein und dessen Nutzen innerhalb der philosophischen Disziplin. Denn der Pragmatismus befasst sich stärker mit individuellen Unterschieden und Zufälligkeiten, mit zukunftsbezogenen Veränderungen und Rekonstruktionen und mit einer Vielfalt an Praktiken, der von Individuen und Gruppen zur Verbesserung ihrer primären Erfahrung genutzt werden können. William James stellte die somatische Introspektion ins Zentrum seiner Untersuchungen zur Philosophie des Geistes, während John Dewey einen Schritt weiterging, indem er für ein reflexives KörperBewusstsein zur Verbesserung der Selbsterkenntnis und des SelbstGebrauchs eintrat.

IV.

Angesichts seiner philosophischen Ausrichtung hat Merleau-Ponty genug Gründe dafür, das reflexive Körperbewusstsein zu vernachlässigen oder diesem sogar entgegenzuwirken. Aber sind dies tatsächlich zwingende Gründe oder sollten wir nicht eher zu der 106 | kapitel 2

Schlussfolgerung kommen, dass Merleau-Pontys Projekt einer Phänomenologie, die den Körper in den Mittelpunkt stellt, auf sinnvolle Weise ergänzt werden könnte durch eine bessere Erkenntnis der Funktion und der Bedeutung reflexiven Körperbewusstseins? Ich möchte diese Frage anhand der folgenden sieben Punkte ausloten, die sich aus seiner Argumentation extrahieren lassen. (1) Wenn die Aufmerksamkeit gegenüber dem reflexiven somatischen Bewusstsein und seinen körperlichen Vorstellungen die Erkenntnis unserer elementareren nichtreflexiven verkörperten Wahrnehmung und ihrer primären Bedeutung verdunkelt, dann sollte man dem reflexiven somatischen Bewusstsein widerstehen. Doch diese Argumentation enthält in ihrer Ausgangsprämisse eine problematische Zweideutigkeit. Unser reflexives somatisches Bewusstsein lenkt uns zwar für einen gewissen Zeitraum von der nichtreflexiven Wahrnehmung ab (denn solange sich die Aufmerksamkeit auf irgendetwas Bestimmtes richtet, verdunkelt sie zwangsläufig vorübergehend etwas anderes). Ein solches Bewusstsein lässt uns jedoch deshalb nicht immer oder dauerhaft gegenüber dem Unreflektierten blind werden, schon allein deswegen nicht, weil dieses Bewusstsein nicht permanent aufrechterhalten wird (und auch nicht aufrechterhalten werden soll). Der Einsatz somatischer Reflexion in den Körperdisziplinen soll ja die nichtreflexiven Wahrnehmungen und Gewohnheiten nicht dauerhaft ersetzen, sondern sie verbessern, indem sie zeitweilig in den Fokus gerückt werden, damit sie neu erlernt werden können. Wenn solche Körperdisziplinen den Vorrang des nichtreflexiven Verhaltens bekräftigen, während sie zugleich die Notwendigkeit bewusster Vorstellungen befürworten, um diese zu korrigieren, dann kann dies auch die somatische Philosophie. Wenn wir Merleau-Pontys Behauptung akzeptieren, dass Erfahrung immer bedingt ist durch einen komplementären FigurHintergrund-Kontrast, dann können wir überdies dafür argumentieren, dass jede wirkliche Wertschätzung nichtreflexiver Wahrnehmung von ihrem deutlichen Kontrast zum reflexiven Bewusstsein abhängt, gerade so wie Letzteres ganz klar auf den Hintergrund des Ersteren angewiesen ist. (2) Merleau-Ponty behauptet zu Recht, dass reflexives Bewusstsein und somatische Vorstellungen nicht nur unnötig, sondern auch wirkungslos sind für die Erklärung unseres Alltagsverhaltens und der schweigende, hinkende körper der philosophie | 107

unserer alltäglichen Wahrnehmung, die gewöhnlich unreflektiert bleiben. Ausgehend von dieser Prämisse könnte man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass vorstellungsbezogene somatische Vergegenwärtigung von irreführender Irrelevanz sei. Doch das kann man daraus nicht schließen: zum einen deswegen nicht, weil es an der menschlichen Erfahrung mehr zu erklären gibt als unsere unproblematischen nichtreflexiven Wahrnehmungen und Handlungen. Das vorstellungsbezogene somatische Bewusstsein ist dann hilfreich, wenn die spontanen Fähigkeiten scheitern und wenn nichtreflexive Gewohnheiten gezielt korrigiert werden sollen. Darüber hinaus ist die Erklärungskraft nicht das einzige ausschlaggebende Kriterium. Reflexives somatisches Bewusstsein und seine Vorstellungen können nicht nur für die Erklärung alltäglicher Erfahrungen von Nutzen sein, sondern auch für deren Veränderung und Ergänzung. (3) Daraus folgt unmittelbar ein weiteres Argument. Wenn die Veränderungen, welche die somatische Reflexion in die Erfahrung einbringt, im Wesentlichen unerwünscht sind, dann sollte aus pragmatistischen Gründen davon abgeraten werden. Merleau-Ponty zeigt, auf welche Weise die Vorstellungsbilder der Reflexion den Kern sowohl mechanistischer als auch intellektualistischer Auffassungen von Verhalten bilden und damit den Körper-Geist-Dualismus stützen. Reflexives Körperbewusstsein scheint daher dazu verdammt, eine fälschlicherweise fragmentierte Sicht der Erfahrung zu erzeugen, eine Sichtweise, die schließlich unsere Erfahrung selbst infiziert und uns gegenüber der nichtreflexiven Einheit primärer Wahrnehmung blind macht.51 Doch wenn das vorstellungsbezogene somatische Denken in manchen Erklärungskontexten missbraucht wird, folgt daraus nicht, dass es allgemein zu verurteilen ist. Wenn man den Wert vorstellungsbezogenen somatischen Bewusstseins hervorhebt, ist dies ja auch nicht gleichbedeutend damit, Existenz, Wert oder gar Vorrang des Nichtreflexiven infrage zu stellen. Um es nochmals zu betonen: Vorstellungsbezogenes und reflexives Bewusstsein können neben somatischer Spontaneität eine nützliche Ergänzung und ein Korrektiv darstellen. (4) Merleau-Ponty würdigt das Mysterium des Körpers und seiner Grenzen als eine wesentliche Voraussetzung für dessen produktives Funktionieren. Immer wieder preist er die wunderbare Art und Weise, in der wir handeln, ohne dass die bewusste Reflexion daran 108 | kapitel 2

beteiligt ist. Könnte er in diesem Falle pragmatistisch argumentieren, dass man sich eines reflexiven somatischen Bewusstseins enthalten sollte, da es dieses Mysterium und diese »effektive« Schwäche gefährdet? Dieses Argument beruht auf einer Verwechslung. Die Behauptung, dass wir etwas wirksam ohne ein ausdrückliches oder vorstellungsbezogenes Bewusstsein tun können, bedeutet ja nicht, dass wir es nicht auch mit einem solchen tun können und dass ein solches Bewusstsein unsere Vollzüge nicht verbessern könnte. Es bleibt in jedem Fall noch immer genügend Mysterium und Unzugängliches übrig. Somästhetische Reflexion könnte niemals beanspruchen, unserem Körper völlige Transparenz oder uneingeschränkte Kraft zu verleihen, da unsere Sterblichkeit, Verletzlichkeit und unsere perspektivische Situiertheit dies von vornherein ausschließen. Aber die Tatsache, dass gewisse grundlegende körperliche Grenzen niemals überwunden werden können, ist kein zwingendes Argument dagegen zu versuchen, in einem gewissen Ausmaß unsere somatischen Kräfte durch Reflexion und ausdrücklich bewusste Kontrolle zu steigern. (5) An diesem Punkt kommt ein weiteres Argument ins Spiel. Die körperliche Reflexion behindert unsere somatischen Vollzüge, indem sie spontanes Handeln, das auf nichtreflexiver Gewohnheit beruht, unterbricht. Nichtreflexives Handeln erfolgt schneller und reibungsloser als absichtlich ausgeführte Handlungen. Außerdem ermöglicht solch nichtreflexives Handeln, indem es sich nicht in ausdrückliche Bewusstseinsakte verwickelt, eine größere Konzentration des Bewusstseins auf die Ziele, auf die das Handeln gerichtet ist. Ein gut trainierter Baseballspieler kann den Ball besser schlagen, wenn er dabei nicht über die Spannung in seinen Knien oder Handgelenken nachdenkt oder sich dabei den Schwung seiner Beckenbewegung vorstellt. Die Tatsache, dass er dabei nicht über solche Dinge nachzudenken braucht, führt dazu, dass er sich besser darauf konzentrieren kann, den zu schlagenden Ball zu sehen und auf ihn zu reagieren. Somatische Selbstreflexion würde ihn in dieser Situation davon abhalten, rechtzeitig zu reagieren. Nachdenken kann oftmals den spontanen Handlungsfluss unterbrechen und eine Handlung in ihrer Effektivität vereiteln. Wenn wir versuchen, uns beim Sprechen jedes einzelne Wort vorzustellen, gerät unsere Rede ins Stocken; möglicherweise vergessen wir dann sogar, was wir geder schweigende, hinkende körper der philosophie | 109

rade sagen wollten. Wenn man beim Sex zu viel darüber nachdenkt, was sich im eigenen Körper abspielt und sich vor Augen führt, was zu geschehen hat, damit alles klappt, dann besteht viel eher die Gefahr, dass etwas schief geht. Solche Beispiele zeigen, dass ausdrückliches somatisches Bewusstsein manchmal eher das Problem als die Lösung ist. Daraus folgt jedoch nicht, dass solches Bewusstsein insgesamt zurückzuweisen wäre, sondern eher, dass sorgfältiger darüber nachzudenken wäre, wie es sich disziplinieren und in die verschiedenen Zusammenhänge und Zielsetzungen einbinden lässt, bei denen es von großer Hilfe sein kann.52 Dass man manchmal zu viel des Guten tun kann, trifft auch auf die eigene somatische Vergegenwärtigung zu. (6) Indem er den Körper als »la cachette de la vie« beschreibt (»Der Ort, an dem sich das Leben« in seiner anonymen Existenz »versteckt«),53 legt Merleau-Ponty noch ein weiteres Argument gegen somatische Achtsamkeit nahe. Die explizite Konzentration auf Körpergefühle führt zu einem Rückzug aus der äußeren Welt des Handelns, und diese Verschiebung des Fokus beeinträchtigt die Qualität unserer Wahrnehmung und unseres Handelns in der Welt: »[G]ehe ich in meiner Leiblichkeit auf, so bieten meine Augen mir lediglich die sinnliche Hülle der Dinge und der anderen Menschen, die Dinge selbst sind von Unwirklichkeit gezeichnet, das Verhalten der Anderen zerlegt sich in Absurditäten […]« Im »Empfinden meines Leibes und in der Einsamkeit meiner Empfindungen auf[zu]gehe[n]« stellt daher eine beunruhigende Gefahr dar, vor der wir kaum durch die Tatsache geschützt sind, dass unsere Sinnesorgane und Gewohnheiten durch ihre Aktivität immer mit der äußeren Lebenswelt verzahnt sind. Wenn man in der körperlichen Reflexion aufgeht, riskiert man nicht nur, die Welt, sondern auch das eigene Selbst zu verlieren, denn das Selbst ist nichts anderes als das Bezogensein auf die Welt.54 Tatsächlich kann eine intensive Konzentration auf somatische Empfindungen vorübergehend eine Desorientierung unserer normalen Perspektiven verursachen, wodurch unsere gewöhnliche Verbindung mit der Welt und unser normales Selbstgefühl gestört werden. Aber daraus folgt nicht, dass das Aufgehen in Körpergefühlen im Wesentlichen eine primitive unpersönliche Ebene des Bewusstseins unterhalb der Begriffe von Selbst und Welt darstellt 110 | kapitel 2

und dass es deshalb begrenzt wäre auf das, was Merleau-Ponty »die anonyme Wachsamkeit der Sinne« nennt.55 Man kann auf selbstbewusste Weise in seinen körperlichen Gefühlen aufgehen; somatisches Selbstbewusstsein umfasst eine reflexive Vergegenwärtigung davon, dass es das eigene Selbst ist, das die Empfindungen erfährt, auf die sich die eigene Aufmerksamkeit richtet. Natürlich führt die Hinwendung des Körperbewusstseins zu sich selbst in einem gewissen Ausmaß zu einem Abziehen der Aufmerksamkeit von der Außenwelt, wenn diese Welt ihre Präsenz auch ständig geltend macht. Ein reines Gefühl des eigenen, abgesonderten Körpers ist eine Abstraktion. Man kann sich körperlich gar nicht fühlen, ohne zugleich auch etwas von der äußeren Welt zu fühlen. Wenn ich mich hinlege, meine Augen schließe und sorgfältig versuche, meinen Körper zu fühlen, dann werde ich zugleich fühlen, wie er mit dem Boden in Berührung kommt, und den Raum zwischen meinen Gliedmaßen fühlen. (Und wenn ich das mit einem aufmerksamen somatischen Selbstbewusstsein tue, so werde ich ebenfalls fühlen, dass ich es bin, der auf dem Boden liegt und der sich auf seine körperlichen Gefühle konzentriert.) In jedem Fall lässt sich sagen, dass wenn die somästhetische Ablenkung der Aufmerksamkeit auf unser körperliches Bewusstsein einen vorübergehenden Rückzug aus der Welt des Handelns bedeutet, dass dieser Rückzug für unsere Selbsterkenntnis und unseren Selbstgebrauch von großem Gewinn sein kann, sodass wir als geschicktere Beobachter/innen und Handelnde in die Welt zurückkehren. Es handelt sich dabei um die somatische Logik des reculer pour mieux sauter. Ein Beispiel: Wenn man sich über die eigene Schulter schauen möchte, um zu sehen, was hinter dem eigenen Rücken ist, dann werden die meisten Menschen beim Kopfdrehen spontan ihre Schulter senken. Das scheint logisch zu sein, ist aber vom Knochenbau her betrachtet verkehrt (und sollte auch so empfunden werden). Das Senken der Schulter übt einen Druck auf den Rippen- und Brustbereich aus und schränkt auf diese Weise wesentlich den Bewegungsspielraum der Wirbelsäule ein, durch den wir ja eigentlich befähigt werden, hinter uns zu blicken. Indem wir vorübergehend unsere Aufmerksamkeit von der Welt hinter uns abziehen und uns stattdessen aufmerksam auf die Ausrichtung unserer Körperteile beim Drehen von Hals und Wirbelsäule konzentrieren, können wir der schweigende, hinkende körper der philosophie | 111

lernen, uns besser zu drehen und mehr zu sehen, und so eine neue Gewohnheit annehmen, die von uns im Lauf der Zeit unreflektiert ausgeführt wird. (7) Doch Merleau-Pontys radikalster Einwand gegen eine reflexive somatische Beobachtung lautet, dass man seinen eigenen Körper schlichtweg gar nicht beobachten kann, weil er die beständige und unveränderliche Perspektive darstellt, mit der wir die anderen Dinge beobachten. Im Unterschied zu gewöhnlichen Objekten »entzieht sich [der Körper] vielmehr jeder Durchforschung und stellt sich mir stets unter demselben ›Blickwinkel‹ dar […]. Daß er stets bei mir und ständig für mich da ist, besagt in eins, daß ich niemals ihn eigentlich vor mir habe, daß er sich nicht vor meinem Blick entfalten kann, vielmehr immer am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist«.56 Ich kann die Perspektive in Bezug auf meinen Körper nicht so ändern, wie ich es in Bezug auf äußere Objekte tun kann. »[I]ch beobachte äußere Gegenstände mit meinem Leib, hantiere mit ihnen, betrachte sie, gehe um sie herum, doch meinen Leib selbst beobachte ich nie: um dazu imstande zu sein, brauchte ich einen zweiten Leib, der wieder seinerseits nicht beobachtbar wäre«.57 »Ich stehe immer auf derselben Seite wie mein Leib, die Perspektive, aus der er sich mir darbietet, ist unveränderlich.«58 Es ist sicherlich wahr, dass wir unseren eigenen lebendigen Körper nicht auf genau die gleiche Weise wie äußere Dinge betrachten können, weil er ja gerade das Instrument zur Betrachtung von allem anderen ist und weil wir unseren Körper nicht in Gänze vor uns hinstellen können (denn unsere Augen sind ja selbst ein Teil dieses Körpers). Daraus folgt jedoch nicht, dass wir unseren lebendigen Körper nicht doch in wesentlicher Hinsicht beobachten können. Es ist erstens falsch, somatische Beobachtung auf das zu reduzieren, was »einem vor Augen steht«. Auch wenn wir unsere Augen ohne Spiegelvorrichtung nicht sehen können, so können wir doch, wenn wir uns konzentrieren, direkt beobachten, wie sie sich hinsichtlich der Muskelspannung, des Volumens und der Bewegung von innen anfühlen, selbst wenn wir sie gerade zum Sehen gebrauchen. Auch können wir unsere geschlossenen Augen fühlen, indem wir sie von außen mit unseren Händen berühren. Daran wird außerdem deutlich, dass die Perspektive auf unseren Körper nicht gänzlich festgelegt und unveränderlich ist. Wir können ihn hinsichtlich der 112 | kapitel 2

verschiedenen Sinnmodalitäten untersuchen; und selbst wenn wir eine einzige Modalität gebrauchen, können wir den Körper aus verschiedenen Blickwinkeln und unter verschiedenen Gesichtspunkten erforschen. Wenn ich mit geschlossenen Augen auf dem Boden liege und mich nur auf mein propriozeptives Empfinden stütze, kann ich meinen Körper von Kopf bis Fuß oder in umgekehrter Richtung »scannen«: in Bezug auf die Ausrichtung meiner Glieder oder meines Gefühls für den Körperumfang oder auch in Hinsicht auf den Druck meiner verschiedenen Körperteile auf den Boden oder deren Abstand zum Boden. Natürlich ist es wahrscheinlicher, dass wir eine unveränderliche Perspektive auf unseren Körper haben, wenn wir somatische Reflexion vermeiden – nämlich die einer primitiven, unfokussierten Erfahrung und unreflektierter Gewohnheit, eben die Art primordialer unthematisierter Wahrnehmung, die MerleauPonty verficht. Merleau-Pontys Begriff körperlicher Subjektivität mag einen allerletzten Einwand gegen die Möglichkeit der Beobachtung des eigenen lebendigen Körpers darstellen. In seiner Kritik der »doppelten Empfindungen«59 insistiert er, dass unser Körper, wenn er das beobachtende Subjekt der Erfahrung ist, nicht zugleich das Objekt der Beobachtung sein kann. Darum können wir unsere wahrnehmenden Körper nicht wirklich beobachten, ebenso wenig wie wir unsere linke Hand zum Fühlen unserer rechten Hand (als eines Objekts) benützen können, während die rechte Hand einen Gegenstand fühlt. Selbst in seinem späteren Text Die Verflechtung – Der Chiasmus60, in dem Merleau-Ponty auf der wesentlichen »Reversibilität« eines ebenso empfindenden und empfindbaren Körpers beharrt, die entscheidend für unsere Fähigkeit ist, die Welt zu begreifen, weist er warnend darauf hin, dass diese Reversibilität von Beobachtendem und Beobachtetem zwar eine »immerzu bevorstehende« ist, jedoch »niemals tatsächlich« durch eine völlige Gleichzeitigkeit oder eine genaue »Koinzidenz« »verwirklicht« wird. Man kann nicht gleichzeitig die eigene Hand als berührende und berührte fühlen, die eigene Stimme sprechen hören.61 Man kann, kurzum, den eigenen Körper nicht zugleich als Subjekt und Objekt erfahren. Wenn also der gelebte Körper immer das beobachtende Subjekt ist, kann er niemals als Objekt beobachtet werden. Davon abgesehen kann sich, wie George Herbert Mead behauptet, das beobachtende »Ich« nicht der schweigende, hinkende körper der philosophie | 113

selbst in unmittelbarer Erfahrung erfassen, denn schon während es sich zu erfassen sucht, ist es dem erfassenden Ich des Folgemoments bereits zu einem objektivierten »Mich« geworden. Argumenten dieser Art kann man auf verschiedene Weise entgegentreten. Angesichts der wesentlichen Unbestimmtheit des Begriffs der subjektiven Gleichzeitigkeit können wir erstens behaupten, dass man – praktisch betrachtet – sehr wohl gleichzeitig die Erfahrung des Berührens und des Berührtwerdens machen kann, beispielsweise die eigene Stimme von innen vernehmen, während man sie gleichzeitig von außen hört, selbst wenn das Hauptaugenmerk unserer Aufmerksamkeit manchmal innerhalb eines kurzen Zeitabschnitts sehr schnell zwischen beiden Perspektiven schwanken kann. Und das innerhalb der sehr kurzen Zeitspanne, die wir phänomenologisch als Gegenwart identifizieren und die – wie James schon vor langer Zeit erkannte – immer eine »trügerische Gegenwart« ist, welche die Erinnerung an die unmittelbare Vergangenheit mit umfasst.62 Zum Teil lässt sich die scheinbare Unterbrechung der Erfahrung simultaner Wahrnehmung unserer Körper als empfindend und empfundene schlichtweg auf die Tatsache zurückführen, dass die Polarität der Perspektiven sich – durch die binäre Verfasstheit des Gedankenexperiments – unserer Erfahrung aufdrängt, ein Fall, bei dem Merleau-Ponty zufolge die philosophische Reflexion »das zu Findende urteilend vorwegnimmt«.63 Selbst wenn es darüber hinaus eine Tatsache ist, dass die meisten Versuchssubjekte nicht fühlen können, wie ihr Körper fühlt, so mag dies einfach auf ihre unentwickelte Fähigkeit zur somatischen Reflexion und Aufmerksamkeit zurückzuführen sein. In der Tat, selbst wenn man seinen eigenen Körper nicht zugleich als empfindenden und als empfundenen erfahren kann, bedeutet dies nicht, dass man ihn gar nicht beobachten kann; ebenso wie die vermeintliche Tatsache, dass man nicht gleichzeitig den eigenen Verstand als reines aktives Denken (das heißt: als transzendentales Subjekt) und als etwas Gedachtes (das heißt: als ein empirisches Subjekt) erfahren kann, nicht bedeutet, dass wir nicht unser mentales Leben beobachten können. Den lebendigen Körper als Subjekt zu behandeln bedeutet nicht, ihn nur als ausschließlich transzendentales Subjekt zu behandeln, das nicht ebenso als ein empirisches beobachtet werden könnte. Dies zu tun, würde die essenzielle Um114 | kapitel 2

kehrbarkeit des wahrnehmenden Empfindungsvermögens und der wahrgenommenen Empfindung widerlegen, die es Merleau-Ponty erlaubt, den Körper als jenes »Fleisch« darzustellen, das unsere Verbindung zur Welt begründet. Die »grammatische« Unterscheidung zwischen dem Körper als Subjekt der Erfahrung und als Objekt der Erfahrung ist nützlich, weil sie uns daran erinnert, dass wir niemals eine vollständige Transparenz unserer körperlichen Intentionalität erlangen können. Es wird immer einige Dimensionen unserer körperlichen Empfindungen geben, die aktiv den Fokus unserer Bemühung um reflexive somatische Vergegenwärtigung strukturieren und daher nicht selbst Objekt dieser Vergegenwärtigung oder dieses Bewusstseinsfokus sein können. Es wird immer die Möglichkeit bestehen, einen introspektiven Irrtum auf Grund von Erinnerungsfehlern oder Fehldeutungen zu begehen. Wir sollten auch gar nicht nach einem gleichzeitigen reflexiven Bewusstsein all unserer Körperempfindungen streben. Doch ebenso wenig sollte die pragmatistische Unterscheidung zwischen dem wahrnehmenden »Ich« und dem wahrgenommenen »Mich« zu einem unüberwindbaren erkenntnistheoretischen Hindernis werden, um den lebendigen Körper in dem Bereich zu beobachten, der von der trügerischen Gegenwart und der kurzzeitigen Erinnerung der unmittelbaren Vergangenheit zur Verfügung gestellt wird.64 Letztlich können wir auch Merleau-Pontys Einwand gegen die körperliche Selbstbeobachtung bestreiten, indem wir uns einfach daran erinnern, dass solche Beobachtungen einen Teil unserer gewöhnlichen Erfahrung ausmachen (selbst wenn es sich dabei nur um das Bemerken unseres Unwohlseins, unserer Schmerzen oder Freuden handelt). Nur die Einführung der abstrakten philosophischen Reflexion konnte uns überhaupt dazu verleiten, diese Möglichkeit zu leugnen. Wenn wir unsere vortheoretische Commonsense-Erfahrung ernstnehmen (wozu uns Merleau-Ponty drängt), sollten wir die Schlussfolgerung zurückweisen, dass wir unsere eigenen gelebten Körper niemals beobachten können, und wir könnten daher darauf bestehen, dass sein philosophisches Projekt durch eine größere Anerkennung des reflexiven somatischen Bewusstseins ergänzt wird.

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V.

Angesichts der Unzulänglichkeit der rekonstruierten Argumente lässt sich Merleau-Pontys Widerstand gegen somatische Achtsamkeit und Reflexion nur in Hinblick auf seine tieferliegenden philosophischen Ziele und Grundannahmen rechtfertigen. Auffällig ist hier sein Wunsch danach, dass uns die Philosophie zurückbringe zu einem reinen, primordialen Zustand einheitlicher Erfahrungen, die »noch nicht ›verarbeitet‹ sind« oder »unter dem Regime der Reflexion« zerfasert wurden, »sondern uns ein ganzes Gemisch auf einmal anbieten – ›Subjekt‹ und ›Objekt‹, Existenz und Wesen«, Körper und Geist.65 Eine derartige Sehnsucht nach einer Rückkehr in eine vorreflexive Einheit legt eine Unzufriedenheit mit der Fragmentierung nahe, die reflexives Bewusstsein und vorstellendes Denken in unsere Erfahrung als verkörperte Subjekte eingeführt haben. Philosophie kann versuchen, diesem Problem auf zwei verschiedene Weisen zu begegnen. Zum einen besteht die Möglichkeit, Theorie zu therapieren: Philosophische Reflexion kann dazu genutzt werden, die Einheitlichkeit und Zweckdienlichkeit nichtreflexiven Körperverhaltens zu bestätigen. Sie kann darauf drängen, dass wir uns auf diese nichtreflexive Einheit konzentrieren, wohingegen die somatische Reflexion und vorstellendes somatisches Bewusstsein als im Wesentlichen unnütz und irreführend abgelehnt werden. In diesem Fall wird gerade das Mysterium nichtreflexiver körperlicher Handlungen als eine befähigende kognitive Schwäche beschworen, die sich gegenüber Handlungsvollzügen, die von vorstellender Reflexion geleitet werden, als überlegen herausstellt. Doch ein zweiter Weg, der Unzufriedenheit mit unseren Erfahrungen als verkörperten Subjekten etwas entgegen zu bringen, geht über die bloße Theorie hinaus, indem aktiv unsere Kräfte reflexiven somatischen Bewusstseins entwickelt werden, so dass wir eine höhere Einheit der Erfahrung auf der reflexiven Ebene erreichen können und auf diese Weise bessere Mittel an die Hand bekommen, um die Unzulänglichkeiten unserer nichtreflexiven somatischen Erfahrungen und Gewohnheiten korrigieren zu können. Merleau-Ponty plädiert für den ersten Weg; pragmatistische Somästhetik für den zweiten, wobei sie durchaus den Vorrang nichtreflexiver somatischer Erfahrung und Gewohnheit anerkennt. 116 | kapitel 2

Der erste Weg – der rein intellektuelle Weg – spiegelt MerleauPontys grundlegende philosophische Vision wider, die ihre theoretische Stärke aus ihrer Handlungsschwäche bezieht. »Das Hinken des Philosophen ist seine Tugend«, schreibt er und unterscheidet dabei den Philosophen vom Tatmenschen – ein »Unterschied zwischen demjenigen, der versteht, und demjenigen, der wählt«. »Dem Philosophen der Tat liegt die eigentliche Tat vielleicht am wenigsten: Rigoros und tiefsinnig über die Tat zu sprechen, kommt der Erklärung gleich, man wolle nicht handeln«.66 Sollte also der Körperphilosoph am weitesten von seinem eigenen lebendigen Körper entfernt sein, weil er vollständig von einem Denken absorbiert ist, das damit ringt, die Rolle des Körpers zu analysieren und sich zu dessen Fürsprecher zu machen? Dies ist eine bedauerliche Schlussfolgerung. Doch sie bestätigt sich auf hartnäckige Weise in der verbreiteten Klage darüber, dass die Mehrheit der zeitgenössischen Körperphilosophinnen und -philosophen das eigentlich aktive Soma offenbar ignorieren oder in ein Labyrinth von metaphysischen, psychologischen, sozialen, geschlechtertheoretischen oder die Hirnforschung betreffenden Theorien auflösen. Trotz ihrer wertvollen Einsichten scheitern diese Theorien, wenn es darum geht, praktische Methoden für Individuen zu entwickeln, um ihr somatisches Bewusstsein und ihre somatischen Funktionen zu verbessern. Merleau-Pontys phänomenologischer Ansatz veranschaulicht dieses Problem, denn er verschreibt sich der intensiven theoretischen Reflexion über den Wert nichtreflexiver körperlicher Subjektivität, lehnt jedoch den Gebrauch somatischer Reflexion zur Verbesserung dieser Subjektivität in ihrem Wahrnehmen und Handeln ab. Im Gegensatz zum Tatmenschen (und anderen Varianten des »ernsthaften Menschen«) lässt sich der Philosoph Merleau-Ponty zufolge niemals ganz in praktischer Weise auf das ein, was er bejaht. Selbst in Bezug auf das, woran er glaubt, stellen wir fest, dass »seiner Zustimmung […] eine bestimmte Art von Entschiedenheit und Handfestigkeit [fehlt] … Er ist kein vollständig wirkliches Lebewesen.«67 Seiner meisterhaften Verteidigung der philosophischen Bedeutung des Körpers fehlt ein robuster Sinn für den wirklichen Körper als Ort praktischer Übungen bewusster Reflexion, die auf die Rekonstruktion somatischer Wahrnehmungen und Vollzüge abzielen, der schweigende, hinkende körper der philosophie | 117

um lohnendere Erfahrungen und Handlungen zu ermöglichen. Der Pragmatismus bietet dazu eine ergänzende philosophische Perspektive, die einem Engagement des ganzen Körpers in Bezug auf praktische Bemühungen um eine somatische Vergegenwärtigung freundlicher gegenübersteht. Sie zielt eher darauf ab, zukünftig bessere Erfahrung zu erzeugen, statt die verlorene wahrnehmende Einheit einer primordialen Vergangenheit wiederzuerlangen, statt »zurück[zu]gehen auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt«.68 Wenn es möglich zu sein scheint, die pragmatistische rekonstruktive Dimension somatischer Theorie mit Merleau-Pontys elementaren philosophischen Einsichten über den lebendigen Körper und den Vorrang nichtreflexiver Wahrnehmung zu verknüpfen, dann liegt es teilweise auch daran, dass Merleau-Pontys Philosophie selbst pragmatistische Züge aufweist. Wenn er darauf besteht, dass Bewusstsein in erster Linie »nicht ein ›Ich denke zu …‹, sondern ein ›Ich kann‹« ist,69 erkennt er auch an, dass Philosophie mehr ist als eine unpersönliche Theorie, nämlich eine persönliche Lebensform. Wenn er darauf drängt, Philosophie als einen Weg anzusehen, um die verlorene primordiale Einheit mit der nichtreflexiven Erfahrung wiederherzustellen, wenn er sie als »Utopie einer Aneignung auf Distanz« definiert (vielleicht das Wiedererlangen der nichtreflexiven Vergangenheit aus der Distanz der gegenwärtigen Reflexion), gab es Gründe in seinem Leben, die zu dieser philosophischen Sehnsucht beitrugen? Gab es bei ihm auch eine persönliche Sehnsucht nach einer utopischen vergangenen Einheit – ursprünglich, spontan und nichtreflexiv und nur (wenn überhaupt) aus der Distanz wieder herstellbar? Wir wissen sehr wenig über das Privatleben Merleau-Pontys, aber es gibt auf jeden Fall Hinweise darauf, dass er eine solche Sehnsucht nach dem »verlorenen Paradies« teilte. »Eines Tages im Jahr 1947 erzählte Merleau mir, dass er sich nie von einer unvergleichlichen Kindheit erholt hätte«, schreibt sein enger Freund Sartre. »[A]lles war zu rasch zu schön gewesen. Die Natur, die ihn zu Beginn umfing, war die Muttergottheit, seine Mutter, deren Augen ihm zu sehen gaben, was er sah; […] durch sie, in ihr erlebte er jene ›immanente Intersubjektivität‹ – er hat sie oft beschrieben –, die uns durch den anderen unsere eigene Spontaneität entdecken läßt.« Seine Mutter, so erklärt Sartre, war für seine utopische »Hoffnung« 118 | kapitel 2

darauf, dieses Gefühl kindlicher Spontaneität und »unmittelbaren Einklangs« mit den Dingen »wieder zu erobern«, von großer Bedeutung. »Durch blieb [es] bewahrt, unerreichbar zwar, aber lebendig.« Als sie 1952 starb, erinnert sich Sartre, war Merleau-Ponty am Boden zerstört und wurde im Grunde zum »Eremit[en]«.70 Ihm blieb der Trost der Philosophie und das Projekt, die von ihm gehegten Werte der Spontaneität, Unmittelbarkeit und Immanenz (wenigstens theoretisch) zurück zu gewinnen, die seiner verlorenen Welt nichtreflexiver Unschuld und Harmonie angehörten.71

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Kapitel 3

Somatische Subjektivität, somatische Unterwerfung Simone de Beauvoir über die Geschlechter und das Altern I.

Wenn Merleau-Ponty mit seiner Annahme eines feststehenden Grundes primordialer Wahrnehmung nicht überzeugt und behauptet, dass dieser, obwohl verkörpert, »unveränderlich, ein für allemal gegeben« und »jedem bekannt« sei bzw. von allen geteilt werde;1 und wenn er Unrecht damit hat, diesen Grund zu einem universalen normativen Ideal der Spontaneität zu überhöhen, dessen Aufdeckung das Hauptziel somatischer Philosophie sein sollte, dann sollten wir uns Theoretiker/inne/n zuwenden, die aufgeschlossener für die Vielfalt verkörperter Wahrnehmung und die historische Bedingtheit somatischer Normen sind. Diese Theoretiker/inn/en insistieren darauf, dass unsere Erfahrungen als verkörperte Subjekte unterschiedlichen historischen, sozialen und kulturellen Einflussfaktoren unterliegen, und behaupten darüber hinaus, dass die dominanten Diskursformationen einer Kultur dazu neigen, divergente Subjektivitäten zu verdecken oder zu diskreditieren, um das Bewusstsein sozial privilegierter Subjekte als natürlicherweise normatives und für die gesamte Menschheit maßgebendes hinzustellen. Sollte jede somatische Subjektivität an diejenige angepasst werden, die die Philosophen beschreiben und die sie typischerweise – ausgehend von ihrer phänomenologischen Erfahrung als privilegierte erwachsene Männer in den besten Jahren – für universell halten? Eine philosophische Darstellung des Körperbewusstseins muss sich der Frage der Differenz stellen. Simone de Beauvoir gehört zu den originellsten und einflussreichsten Theoretiker/inne/n der Differenz. Als langjährige philosophische Freundin und Kollegin von Merleau-Ponty stellt sie mit ihrer Forschung zu den Problemen körperlicher Differenz (von Frauen und älteren Menschen) den ahistorischen Universalismus seines Verkörperungsansatzes in Frage. Beauvoir beschäftigt sich damit, auf welche Weisen historisch dominante Machthierarchien unsere | 121

somatischen Erfahrungen prägen und die Normen körperlichen Daseins definieren. Um die subtilen Mechanismen offenzulegen, durch die unterschiedlich verkörperte Subjektivitäten durch ihre Körper hindurch unterjocht werden, zeigt Beauvoir, wie bestimmte körperliche Differenzen von Frauen und alten Menschen als negativ markiert in Bezug auf die soziale Macht wahrgenommen werden, die die männliche Überlegenheit in der Gesellschaft widerspiegelt. Diese soziale Entmachtung wird im Gegenzug bestätigt durch die scheinbare körperliche Schwäche von Frauen und Älteren, die ihren untergeordneten Status als natürlich und notwendig zu rechtfertigen scheint. Gefördert und eingeprägt durch die vorherrschenden Institutionen und Ideologien unserer Kultur, wird solche somatische und soziale Unterordnung darüber hinaus in den körperlichen Gewohnheiten beherrschter Subjekte verankert, die daher unbewusst ihr eigenes Gefühl der Schwäche und Beherrschtheit reproduzieren. Könnte die Kultivierung größerer somästhetischer Stärke und größeren somästhetischen Bewusstseins zu einer Befreiung unterdrückter Subjekte beitragen? Wie schätzt Beauvoir das emanzipatorische Potential somästhetischer Praktiken ein? Um diese Probleme zu erkunden, untersucht dieses Kapitel Beauvoirs gehaltvolle somatische Philosophie mit Schwerpunkt auf zweien ihrer Hauptwerke, Das andere Geschlecht (1949) und Das Alter (1970), in denen sie die somatischen Differenzen und die Unterdrückungsverhältnisse bezogen auf die allgegenwärtigen menschlichen Kategorien der Frau und des Alters erforscht.2 Wenn der Körper »das Instrument für unseren Zugriff auf die Welt« ist und wenn »Freiheit nie gegeben sein wird, […] [sondern] immer errungen werden muss«, dann sollte Beauvoir auf jeden Fall somatische Kultivierung als einen wesentlichen Faktor betrachten, der unser körperliches Instrumentarium verbessert, um uns dazu zu verhelfen, größere Freiheit zu gewinnen.3 Ihre Herangehensweise ist indessen zweideutiger, komplizierter und in sich widersprüchlicher. Die Komplexität kann dadurch vereinfacht werden, dass wir unsere Diskussion anhand der verschiedenen Zweige von Somästhetik durchführen, die im ersten Kapitel skizziert wurden. Beauvoirs praktische Somästhetik – ihre tatsächliche persönliche Beschäftigung mit körperlichen Praktiken und Disziplinen – wird hier nicht besprochen. Obwohl Aspekte der somatischen Biographie uns hel122 | kapitel 3

fen können, die diskursiven Positionen einer Philosophin oder eines Philosophen zur Verkörperung zu verstehen, würde die Betonung des Biographischen einer gefährlichen Tendenz in der BeauvoirForschung Nahrung geben, nämlich die Arbeit »auf die Frau zu reduzieren« und dann ihre philosophischen Argumente »als bloße Verlagerung des Persönlichen« zu bagatellisieren oder zu diskreditieren.4 Biographische Studien und ihre eigenen umfassenden Memoiren zeigen, dass sie ein dynamisches körperliches Leben genoss und in Kleidung, Kosmetik und Körperpflege ihren Geschmack zum Ausdruck brachte. Sie mochte Skilaufen, Radfahren und Tennis, war insbesondere eine passionierte Wanderin, liebte das Essen, verfügte über ein handfestes Repertoire an sexuellen Erfahrungen und hatte, bemerkenswerterweise, eine erklärte Leidenschaft für Gewalt, die sich auch in einigen Kindheitsexperimenten radikaler Askese manifestierte.5 Beauvoirs Beitrag zur analytischen Somästhetik – ihre Forschung zu Formen menschlicher Verkörperung, insbesondere zu Frauen (verschiedenen Alters, verschiedener Kulturen und sozialer Positionen) und Älteren (verschiedener Gesellschaften, Berufe, und Klassen) – ist zu gehaltvoll und umfassend, um hier angemessen analysiert werden zu können. Er reicht von der Metaphysik und Biologie der Verkörperung über die Form, in der diese durch die psychologische Entwicklung und durch historische, soziale und ökonomische Bedingungen geprägt wird, bis hin dazu, wie somatisches Leben durch Mythos und Literatur sowohl dargestellt wird als auch immer wieder eine neue Gestalt erhält. Auch wenn manche Aspekte durch wissenschaftliche und soziale Entwicklungen überholt sind, bleiben ihre Positionen in analytischer Somästhetik weiterhin maßgeblich, besonders hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Hauptfokus dieses Kapitels, nämlich pragmatistische Somästhetik und ihr Befreiungspotential. Beauvoir scheut davor zurück, somatische Kultivierung als zentrales Mittel zur Befreiung der von Differenz- und Unterdrückungsverhältnissen geprägten Subjekte zu propagieren. Obwohl sie körperliche Stärke und Gesundheit als potenziell ermächtigend anerkennt, spielt sie den Wert erhöhter Aufmerksamkeit auf den Körper herunter und behandelt ihn eher als ablenkendes Hindernis im Prozess wirklicher Emanzipation. Ihr problematisches Verhältsomatische subjektivität, somatische unterwerfung | 123

nis zu somatischer Kultivierung wird im Folgenden im Sinne der bereits vorgenommenen Kategorisierung verschiedener Formen pragmatistischer Somästhetik untersucht: der darstellungsbezogenen (primär mit Darstellungsformen von Körperoberflächen beschäftigt), erfahrungsbezogenen (hauptsächlich auf die Qualität und das Wahrnehmungsbewusstsein der eigenen somatischen Erfahrung gerichtet) und der vollzugsbezogenen (im Wesentlichen dem Erreichen von körperlicher Stärke, Leistungsfähigkeit und Sachkenntnis gewidmet). Beauvoirs Frauen- und Altersforschung weist beträchtliche Übereinstimmungen in Bezug auf jene Faktoren nach, die für die Unterordnung somatisch markierter und sozial beherrschter Subjekte verantwortlich sind. Wahrnehmbare körperliche Unterschiede (sei es geringere Muskelkraft oder die Unterbrechungen durch Menstruation, Schwangerschaft und Geburt) werden durch die diskriminierende Perspektive einer tief eingeprägten soziokulturellen Matrix sofort als signifikante Schwäche angesehen. Dieses Netz aus Institutionen, Gewohnheiten, Überzeugungen, Praktiken und Werten spiegelt den sozial untergeordneten Status von Frauen und Älteren wider und sorgt gleichzeitig für die Aufrechterhaltung und Rechtfertigung der Unterdrückung unter Verweis auf somatische Differenz, d.h. hier körperliche Schwäche. Man könnte sich eine radikal andere Gesellschaft vorstellen, frei von männlicher Dominanz, die umgekehrt die unberechenbare Macht hohen Testosterons als physiologische Schwäche betrachtet, aufgrund derer Männer für Machtpositionen für weniger geeignet gehalten werden, weil diese eher eine abgeklärte Gelassenheit erfordern. Auch in der argumentativen Struktur ähneln sich Das andere Geschlecht und Das Alter: Beide Werke entfalten das jeweilige Thema ausgehend von Biologie, Geschichte und Mythen, bevor auf die gegenwärtige Lebenslage der Subjekte und die verschiedenen Formen eingegangen wird, in denen Frauen und Ältere heutzutage ihre subalterne Situation erleben. Es gibt jedoch auch klare Unterschiede in ihrer Untersuchung von Frauen und von Älteren. Deswegen werden wir diese Themen nacheinander behandeln und beginnen mit Dem anderen Geschlecht, einem feministischen Klassiker und ihrem zweifellos einflussreichsten Buch.

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II.

Die Zweideutigkeit, ein Schlüsselbegriff in Beauvoirs Philosophie, sticht auch in ihrer somatischen Theorie hervor. Durch Das andere Geschlecht ziehen sich zwei verschiedene Körperkonzepte, deren beunruhigende Spannung sich in dem konfliktreichen Unbehagen widerzuspiegeln scheint, das Beauvoir zufolge in weiblichen Verkörperungserfahrungen besonders präsent ist. Einerseits bestimmt sie den Körper in der sehr positiven Begrifflichkeit von MerleauPontys existenzialistischer Phänomenologie – als nicht bloß materielles Ding, sondern als positive, ermächtigende, instrumentelle Situation unseres Weltbegreifens und In-der-Welt-Seins. »[…] wenn der Körper kein Ding ist, so ist er eine Situation«, »das Instrument für unseren Zugriff auf die Welt«.6 Sie stellt Freuds Annahme in Frage, dass unsere Körper vor allem sexuell bestimmt seien, und behauptet stattdessen, »dass der Körper zunächst die Ausstrahlung einer Subjektivität [ist], das Werkzeug zum Verständnis der Welt«.7 Andererseits findet sich neben dieser aktiven, intentionalen Körpersubjektivität eine negativere, Sartresche Charakterisierung des Körpers, die in ihrem Buch ebenso durchscheint und vielleicht am Ende ausschlaggebender ist, nämlich des Körpers als bloßen Fleisches, als einer untätigen materiellen Immanenz, eines passiven, abhängigen Objekts, das durch den tätigen subjektiven Blick des anderen definiert und beherrscht wird.8 Obwohl Frauen aufgrund ihrer unterdrückten sozialen Situation besonders dazu neigen, ihren Körper als »Beute«, als »passives« Fleisch zu empfinden,9 als »fleischliches Objekt«10 oder »fleischliche Beute«,11 betont Beauvoir: »Männer wie Frauen kennen Schamgefühle angesichts des eigenen Fleisches. In seiner bloßen reglosen Anwesenheit, seiner ungerechtfertigten Immanenz existiert das Fleisch unter dem Blick anderer als die absurde Kontingenz der Faktizität, und doch ist es man selbst: man möchte es hindern, für andere zu existieren, möchte es negieren.«12 Beauvoir vertritt also eine zweideutige Position: Einerseits ist der Mensch sein Körper, andererseits – dies deutet sie zugleich rhetorisch an – ist menschliche Subjektivität etwas anderes als der Körper und diesem sogar entgegengesetzt. Dadurch konstruiert sie eine tiefe Spaltung zwischen Fleischlichkeit und Bewusstsein, zwischen Objekt- und Subjektsein, zwischen passiver materieller Immanenz somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 125

und der aktiven Transzendenz des bewussten Willens.13 Der Fall weiblicher Personalität stellt sich für Beauvoir als noch problematischer dar, weil die Frau im Patriarchat nicht bloß zwischen Körper und Bewusstsein zerrissen, sondern auch innerhalb ihres Körpers selbst gespalten ist. »Wie der Mann ist die Frau ihr Körper: aber ihr Körper ist etwas anderes als sie.«14 Vom Einsetzen der Pubertät an und durch die Jahre des Gebärens, der Mutterschaft und des Stillens hindurch setzen sich Beauvoir zufolge die biologischen Forderungen der menschlichen Spezies machtvoll gegen den Willen der einzelnen Frau durch, und ihr Körper ist der Ort dieser unerbittlichen Machtübernahme. Der monatliche »Fluch« der Menstruation, deren hormonelle Reaktionen den »gesamten weiblichen Organismus« betreffen, einschließlich ihres Nervensystems und ihres Bewusstseins, erscheint als eine fremde Kraft, die sowohl den Körper als auch den Geist vereinnahmt, Frauen »reizbarer« und anfälliger für »schwere psychische Störungen« macht.15 Insbesondere in solchen Zeiten »empfindet sie ihren Körper am quälendsten als ein opakes, entfremdetes Ding: er ist einem eigensinnigen, fremden Leben ausgeliefert, das sich allmonatlich ein Nest in ihr aufbaut und wieder abbaut«.16 Empfängnis stelle keinen Ausweg daraus dar, sondern eine noch extremere Entfremdung, in welcher der weibliche Körper nicht mehr vollständig ihr eigener ist, sondern von einem anderen Lebewesen bewohnt wird, einem Parasiten, der sich von ihren körperlichen Ressourcen ernährt und dessen Anwesenheit diverse körperliche Beschwerden, Mühsal und Erkrankungsrisiken zur Folge hat, die harmlos, jedoch auch schwerwiegend sein können.17 »Die Niederkunft selbst ist schmerzhaft und gefährlich«, und »auch das Stillen ist eine anstrengende Belastung« (das ursprüngliche französische Wort ist viel negativer und impliziert Sklaverei), der dem Körper noch weiter Nährstoffe entzieht, welche die Mutter zur Wiederherstellung der eigenen somatischen Gesundheit benötigt, während zugleich die Nahrungsmittel eingeschränkt sind, die sie genießen kann, um wieder zu Kräften zu kommen.18 Erst im späten Alter des Klimakteriums kann die Frau schließlich ihrer »Unterwerfung […] unter die Art« entkommen.19 Beauvoir widersteht jedoch klugerweise den Versuchungen eines kruden biologistischen Determinismus.20 Die biologischen Tatsachen »reichen nicht aus, um eine Hierarchie der Geschlechter zu 126 | kapitel 3

bestimmen; sie erklären nicht, weshalb die Frau das Andere ist, und sie verurteilen sie nicht dazu, diese untergeordnete Rolle für immer beizubehalten«.21 »Nicht die Natur definiert die Frau: sie definiert sich selbst, indem sie die Natur in ihr Gefühlsleben einbezieht.«22 »In der Menschheitsgeschichte wird der Zugriff auf die Welt nie durch den nackten Körper bestimmt«;23 deswegen müssen »die biologischen Gegebenheiten im Licht eines ontologischen, ökonomischen, sozialen und psychologischen Zusammenhangs untersucht werden«.24 Der menschliche Körper, so behauptet Beauvoir, ist der plastische Ausdruck eines Geschöpfs, das nicht vollständig festgelegt oder rein natürlich ist, sondern maßgeblich durch historische Situationen und gesellschaftliche Bedingungen geformt wird. Wenn die körperlichen Differenzen und Leiden von Frauen nicht durch soziale und ökonomische Strukturen verstärkt werden würden, die diese Unterschiede und Leiden ausnutzen und die Frauen gleichzeitig als minderwertig stigmatisieren und damit von den zentralen Orten gesellschaftlichen Handelns ausschließen, dann würden die unterscheidenden biologischen Merkmale von sich aus Frauen nicht unterdrücken und einschränken. Unter Bezugnahme auf existentialistische Überlegungen von Nietzsche und Merleau-Ponty definiert sie den Menschen nicht als ein »gegebenes Wesen […], sondern als eines, das sich zu dem macht, was es ist«; »der Mensch [ist] keine natürliche Spezies: er ist eine historische Idee«.25 Ebenso ist »die Frau keine feststehende Realität, sondern ein Werden«.26 Als Wesen, dessen Leben und körperliche Erfahrungen nicht bloß durch Biologie, sondern durch die sich verändernden historischen Situationen geformt wird, in denen sie existiert, ist die Frau auch eine »Existenz«, die handeln kann, um ihre anfängliche Situation zu transzendieren und zu transformieren. So ist die wichtigste Frage bezogen auf die Frau und ihren Körper nicht, was sie historisch oder biologisch ist, sondern was sie werden kann; »das heißt, man müßte ihre Möglichkeiten bestimmen«,27 und zwar auf eine Weise, die ihre Möglichkeiten und ihre Macht zukünftig vergrößert. Beauvoirs zukunftsorientierte, aktivistische und melioristische Herangehensweise an unsere offene und plastische menschliche Natur (die selbst durch eine plastische Welt geformt wird, die teilweise das Ergebnis menschlicher Interventionen ist) zeigt eine existenzialistische Ausrichtung, die mit der Tradition des Pragmatismus, von somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 127

der die Somästhetik motiviert ist, viel gemeinsam hat. 28 Kann eine pragmatistische Somästhetik dazu beitragen, die problematischen Beschränkungen zu überwinden, die Beauvoir zufolge die Selbstverwirklichung von Frauen behindern, und zugleich einige der spezifischen Fähigkeiten steigern, die sie Frauen zuschreibt? Um den Wert solcher Somästhetik zu verdeutlichen, müssen wir untersuchen, wie Beauvoir die spezifischen Probleme weiblicher Verkörperung von Repressionen im Zusammenhang mit den somästhetischen Mitteln, um diesen zu begegnen, analysiert. Einige dieser Mittel nimmt sie zur Kenntnis, kritisiert sie jedoch entschieden. Da in Das Andere Geschlecht vollzugsbezogene Formen von Somästhetik hartnäckig unter die darstellungsbezogenen Formen gemischt werden, unterteile ich meine Diskussion ihrer Argumente in zwei Abschnitte, die jeweils die darstellungsbezogenen und die erfahrungsbezogenen Fragestellungen behandeln.

III.

Repräsentationen (representations) sind in ihrem elementarsten philosophischen Sinn Gegenstände der Wahrnehmung, wie sie vom Subjekt erfasst werden. Da Beauvoir von einem radikalen Subjekt-Objekt-Dualismus ausgeht, bedeutet die bloße Idee, eine Person unter dem Gesichtspunkt ihrer Gegenständlichkeit (in terms of representational properties) zu betrachten, dass die Subjektivität dieser Person negiert wird, indem sie auf den Status eines wahrgenommenen oder vorgestellten (representational) Objekts reduziert wird. Mit anderen Worten: Die aktive, wahrnehmende, dominierende Subjektivität des wahrnehmenden Selbst macht das andere, dargestellte menschliche Subjekt zu einem bloßen Objekt, zu einem Produkt des objektivierenden Blicks der vorstellenden Subjektivität. Für Männer bleibt dieses Problem nicht ohne Gegenmittel, weil sie sich durch ihre dynamischen Aktivitäten und ihre Macht in der Welt stark damit identifizieren können, aktive, dominante Subjekte zu sein. Obwohl dieses Mittel für die aus beherrschten Klassen und Ethnien stammenden Männer deutlich weniger verfügbar ist, können sie noch ihre subjektive Überlegenheit über die Frauen ihrer eigenen sozialen Gruppe (und anderer) behaupten. 128 | kapitel 3

Während der Mann traditionell als Träger des transzendenten Subjektstatus angesehen wird (zu dem Intellekt, ein freier Wille und Handlungsfähigkeit gehören), wird die Frau, Beauvoir zufolge, im Gegensatz dazu normalerweise mit der Objektseite gleichgesetzt. Sie wird im Wesentlichen als Körper und Fleisch gesehen – als materielles Vehikel für das Begehren und die Lust des Mannes und für die Fortpflanzung. Die Frau ist, kurz gesagt, das Subjekt, das durch das Patriarchat geradezu zum Inbegriff des Objekts des herrschenden subjektiven Blicks geworden ist und damit zum »unwesentlichen« »Anderen«.29 Obwohl auch der männliche Körper zum Objekt werden kann, beinhaltet seine Gegenständlichkeit in unserer Vorstellung laut Beauvoir Transzendenz und eine aktive und mächtige Subjektivität. Die virilen Eigenschaften und die ausgeprägtere Muskulatur legen eine solche dynamische Macht nahe, so wie »die Gleichsetzung von Phallus und Transzendenz«30 aufgrund der aktiven, dominierenden, leitenden, penetrierenden, mutwilligen Rolle, von der man glaubt, dass der Penis sie habe – nicht nur im Sex, sondern auch beim Urinieren.31 Diese Vorstellungen (representational properties) von männlicher somatischer Kraft tragen dazu bei, die soziale Macht von Männern als herrschenden Subjekten zu verstärken. Als stark wahrgenommen – nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst –, geben ihre Körper den Männern das Vertrauen, in der Welt eine starke Subjektivität zu behaupten und von anderen auch eingeräumt zu bekommen. Unglücklicherweise ist die Situation der Frau eine ziemlich andere. Nicht nur hat die patriarchale Gesellschaft ihr eingeschärft, »sich mit ihrem ganzen Körper zu identifizieren«, diese hat ihr auch beigebracht, ihren Körper als bloße »fleischliche Passivität« anzusehen, »als fleischliches Objekt«.32 »Sich als Frau zu fühlen« bedeutet für Beauvoir, »sich als begehrenswertes Objekt zu fühlen«33 und darüber hinaus als ein schwaches und passives – als »fleischliche Beute« eines stärkeren begehrenden Subjekts.34 Wenn »die männliche Schönheit« durch mannhaftes Engagement in der Welt »ein Merkmal von Transzendenz« ist, so suggeriert dies umgekehrt bei der Frau »die Passivität der Immanenz«; sie ist Gegenstand von »Blicken« und kann folglich »erbeutet werden«.35 Traditionelle Attribute weiblicher Schönheit – Zierlichkeit, Anmut, Weichheit und Rüschenkleider, die für dynamisches Handeln ausgesprochen unsomatische subjektivität, somatische unterwerfung | 129

praktisch sind – verstärken ein solches Frauenbild als zerbrechliche, schwache und fleischlich-passive Beute. Moden dieser Art bringen Frauen dazu, nicht nur ihr Äußeres, sondern auch ihr körperliches Verhalten einem solchen Bild von schwacher femininer Schönheit anzupassen – die passive Rolle im Sex einzunehmen, wie eine Dame zu sitzen oder zu gehen, wie ein Mädchen zu werfen. Kurz gesagt, die etablierte ästhetische Ideologie des weiblichen Körpers dient dazu, weibliche Schwäche, Passivität und Sanftmut zu verstärken, während solche Unterwürfigkeit wiederum verwendet wird, um die dauerhafte und natürliche Richtigkeit der traditionellen weiblichen Ästhetik und den »Mythos« des »Ewigweiblichen« zu rechtfertigen.36 Könnten eine somästhetische Kritik dieser Ideologie und die Entwicklung neuer somästhetischer Vorstellungen nicht hilfreich dafür sein, aus diesem Teufelskreis auszubrechen? Beauvoir scheint zu Beginn diese Möglichkeit zu bejahen. In ihrem 1949 geschriebenen Buch feiert sie die somästhetische Herausforderung der »neuen« Mode für das traditionelle weibliche Ideal des blassen, weichen und opulenten Fleisches, das in unpraktischer Bekleidung daher kommt. »Eine neue Ästhetik ist schon entstanden. Wenn die Mode der flachen Brüste und der schmalen Hüften – der ephebenhaften Frau – auch nur kurz währte, so ist man doch nicht zu dem üppigen Ideal der letzten Jahrhunderte zurückgekehrt. Vom Frauenkörper wird verlangt, daß er Fleisch aufweist, aber unauffällig; er soll schlank sein und kein Fett angesetzt haben. Muskulös, geschmeidig, widerstandsfähig, soll er auf die Transzendenz hinweisen. Man möchte ihn nicht blaß wie eine Treibhauspflanze, sondern, nachdem er sich der universellen Sonne ausgesetzt hat, gebräunt wie den Oberkörper eines Arbeiters. Obwohl die Kleidung praktisch geworden ist, wirkt die Frau dadurch doch nicht geschlechtslos: die kurzen Röcke bringen im Gegenteil ihre Beine und Schenkel viel besser zur Geltung als früher. Es ist nicht einzusehen, weshalb die Arbeit sie um ihre erotische Attraktivität bringen sollte.«37 Deutlich hier ist die Botschaft, dass eine Veränderung somästhetischer Repräsentation nicht nur die Körper von Frauen verändern, sondern auch ihr gesamtes Selbstbild verbessern und sie so zu größerer Transzendenz ermächtigen kann. Beauvoir legt dieselbe Argumentationsweise in Bezug auf Sportarten und andere handlungsorientierte Formen somatischer Dis130 | kapitel 3

ziplin nahe, die klar repräsentierende Aspekte und Ziele haben. Die äußere Repräsentation körperlicher Kraft, »höher zu klettern als [ein Spielgefährte], ihn in die Armbeuge zwingen heißt die eigene Herrschaft über die ganze Welt behaupten. Diese erobernden Verhaltensweisen sind dem jungen Mädchen nicht erlaubt, und vor allem ist ihm Gewalt nicht erlaubt.«38 Darüber hinaus äußert sich für die Frau »diese physische Ohnmacht […] in allgemeiner Schüchternheit: die Frau glaubt nicht an eine Kraft, die sie nicht am eigenen Leib erprobt hat. Sie wagt nicht, etwas zu unternehmen, sich zu empören, erfinderisch zu sein.«39 Wenn »ihre körperliche Schwäche sie zur Passivität neigen läßt«,40 dann ist die männerdominierte Gesellschaft nur zu glücklich, ihr ihre Disposition zu bestätigen. Beauvoir schließt daraus zwingend: »Wer das Vertrauen in seinen Körper verliert, verliert das Vertrauen in sich selbst. Man braucht nur zu sehen, welche Bedeutung die jungen Männer ihren Muskeln beimessen, um zu begreifen, daß jedes Subjekt seinen Körper als objektiven Ausdruck seiner selbst erfaßt.«41 Das praktische Fazit dieser Argumentation sollte ein somästhetisches Programm sein, das darauf abzielt, bei Frauen einen allgemeinen Sinn für Stärke zu entwickeln, indem ihre somatischen Kräfte entfaltet und ihre Körper mit den figürlich-ästhetischen Qualitäten ausgestattet werden, die solche Kraft nahelegen. Beauvoir scheint anfänglich solch einen Weg für Frauen zu befürworten, um »sich in ihrem Körper zu behaupten und […] der Welt« mit transzendenter Macht gegenüberzutreten: »Eine Frau, die schwimmt, die Klettertouren macht, die ein Flugzeug lenkt oder gegen die Elemente kämpft […] wird vor der Welt nicht jene Schüchternheit empfinden«, die durch ihre körperliche Schwäche gefördert wird.42 Beauvoirs Behauptung, dass »Technik […] den Unterschied zwischen der Muskelkraft von Mann und Frau aufhebt«,43 legt ebenfalls nahe, dass Frauen somatische Disziplinen kultivieren sollten, um spezifische Techniken zu entwickeln und den männlichen Vorsprung an roher Gewalt zu neutralisieren; insbesondere Techniken wie Judo und andere Kampfsportarten können im Bereich der Gewalt von Nutzen sein, den Beauvoir für entscheidend hält.44 Frauen können ihre physische und muskulöse Schwäche durch die Praktizierung somatischer Disziplinen, die Kraft und Technik entwickeln, weitgehend überwinden. In einer Textpassage, in der sie somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 131

auf bemerkenswerte Weise die Grenzen zwischen vollzugsbezogenen und darstellungsbezogenen Formen von Somästhetik verlaufen lässt (in der also die Idee aktiver, starker Funktionalität und attraktiver, sichtbarer Form verschmelzen), erklärt Beauvoir: »Mehr denn je macht es den Frauen heutzutage Spaß, durch Sport, Gymnastik, Bäder, Massagen und verschiedene Diäten auf ihren Körper einzuwirken. Sie selbst bestimmen ihr Gewicht, ihre Linie, den Ton ihrer Haut. Die moderne Ästhetik erlaubt ihnen, aktive Eigenschaften mit ihrer Schönheit zu verbinden: die Frau hat ein Recht auf ausgebildete Muskeln, sie unternimmt etwas dagegen, dick zu werden. In Leibesübungen behauptet sie sich als Subjekt. Sie befreit sich gewissermaßen von der Kontingenz ihres Körpers.«45 Wenn hier eine Mischung von vollzugsorientierter und darstellungsorientierter Somästhetik als vielversprechender Weg für weibliche Befreiung vorgeschlagen wird, so hält Beauvoir dem doch rasch (und zwar im selben Satz) entgegen, dass diese Idee eine riskante Illusion darstelle. Jedes somatisch orientierte Mittel weiblicher Befreiung »verkehrt sich leicht in neue Abhängigkeit«,46 weil es den weiblichen Körper einsetzt, der so tief sitzend und hartnäckig als bloßes Objekt, Fleisch und als passive Immanenz markiert ist im Gegensatz zur wahren Transzendenz des Bewusstseins und des Handelns in der Welt, die wirkliche Freiheit erfordert. »Der [weibliche] Hollywoodstar triumphiert über die Natur, findet sich aber in den Händen des Filmproduzenten als passives Objekt wieder.«47 »Wir wissen, in welche Sklavenschaft die Hollywoodstars geraten. Ihr Körper gehört nicht mehr ihnen. Der Produzent bestimmt ihre Haarfarbe, ihr Gewicht, ihre Linie, ihren Typ. Um die Form einer Wange zu verändern, reißt man ihnen Zähne aus. Diät, Gymnastik, Anproben, Schminke sind eine tägliche Fron.«48 Frauen können durch die Steigerung Ihrer Schönheit und damit ihrer Begehrlichkeit eine gewisse Macht erlangen, doch beharrt Beauvoir darauf, dass sie – weil diese Macht von dem Gesicht und der Figur der Frau abhängt – auf einem »fleischlichen« Fundament aufbaut, das »dem allmählichen Verfall anheim gegeben« ist und das von dem bewundernden Blick des Anderen abhängt; folglich wird dadurch tendenziell die »Abhängigkeit« der Frau reproduziert49. Nicht nur ist »der weibliche Körper […] ein Objekt, das auf die Dauer verfällt«,50 sondern die »Routine läßt auch die Schönheitspflege, die 132 | kapitel 3

Instandhaltung der Garderobe, zur mühseligen Pflicht erstarren«.51 »Die amerikanische Frau macht sich in ihrem Willen, Idol zu sein, zur Sklavin ihrer Bewunderer. Sie kleidet sich, lebt, atmet nur durch und für den Mann.«52 Daher scheitern aus Beauvoirs Sicht vollzugsbezogene und darstellungsbezogene Formen von Somästhetik trotz gelegentlicher und provisorischer »Siege« der Selbstbestätigung durch die Körperpflege, »an denen sich die Frau mit gutem Recht erfreuen kann«,53 und sind keine wirkliche und zuverlässige Hilfe für die Frauenbefreiung. Beauvoirs Argument kann man in Frage stellen. Ihre Vermischung von vollzugsbezogener und darstellungsbezogener somästhetischer Herangehensweise legte fälschlicherweise nahe, dass die Arbeit der Frau an der Stärkung ihres Körpers letztlich oder wesentlich darauf abziele, dass dieser für andere gut aussieht, anstatt dass er stärker wird und zu gesteigerter Handlungsfähigkeit führt. Auch könnte man entgegnen, dass männliche Schauspieler ähnlichen Problemen gegenüberstehen, sich zu Objekten machen und sich dem Willen des Regisseurs und des Produzenten unterordnen zu müssen, während sie sich gleichzeitig Sorgen um ihre Figur und ihre Haare machen, um für den weiblichen und den männlichen Blick ein attraktives Objekt zu bleiben. Außerdem ist es falsch anzunehmen, dass nur der Körper und das Fleisch dem Verfall unterworfen sind. Auch unser Geist wird unter Umständen mit der Zeit schwächer, durch das Altern des Körpers, auch wenn sich die stolze idealistische Tradition der Philosophie starrköpfig bemüht hat, dies zu bestreiten. Jedoch sind diese Einwände nebensächlich im Vergleich zu dem, was ich für den wesentlichen Punkt an Beauvoirs Argumentation halte. Beauvoir ist gegen eine vollständige Befürwortung vollzugsbezogener und darstellungsbezogener Somästhetik, weil sie zu Recht darauf besteht, dass eine vollständige Befreiung der Frau nicht durch das Engagement einzelner Individuen bei der Kultivierung ihrer somatischen Möglichkeiten erreicht werden kann. Sie kann nur durch eine »kollektive« politische Anstrengung errungen werden, »und sie verlangt vor allem, daß die Entwicklung der ökonomischen Bedingungen des Frauseins zur Vollendung kommt«, sowie das aktive Engagement von Frauen in der Politik, um ihre Freiheit »in die Welt zu entwerfen«.54 Kurz gesagt, die Befreiung der Frau kann sich nicht darauf verlassen, den individuellen Körper zu verändern, sondern somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 133

nur darauf, die Gesamtsituation zu ändern, die festlegt, was dem weiblichen Körper und dem weiblichen Selbst möglich ist. Beauvoir ist im Recht, wenn sie die primäre Rolle sozialer, politischer und wirtschaftlicher Bedingungen hervorhebt, die die Gegebenheiten konstituieren, durch die das verkörperte Selbst geformt wird. Doch wenn die konkrete Gesamtsituation das ist, was die Bedeutung des weiblichen Selbst bestimmt, so ist doch auch wahr, dass körperliche Praktiken einen Bestandteil dieser umfassenderen Situation bilden (da »der Körper der Frau […] eines der wesentlichen Elemente für die Situation [ist], die sie in der Welt einnimmt«55), und daher können solche Praktiken dabei helfen, diese Situation zu verändern. Dies ist nicht nur in Bezug auf jene einzigartigen Individuen wahr, deren hervorstechende Formen körperlicher Exzellenz (in Schönheit, Sport, Tanz und so weiter) direkt in ökonomisches und soziales Kapital umgewandelt werden können. Alle Frauen können stärker ermächtigt werden, der Welt und ihren sozialen und wirtschaftlichen Problemen entgegenzutreten, indem sie durch somästhetische Disziplinen lernen, stärker zu sein, sich stärker zu fühlen und stärker auszusehen. Eine von vielen geteilte psychologische Einsicht (auf der so unterschiedliche Denker wie William James und Wilhelm Reich beharrten) ist, dass besondere Körperhaltungen damit zusammenhängende geistige Haltungen sowohl widerspiegeln als auch in der Wechselwirkung erzeugen können. Indem sie neue Gewohnheiten körperlichen Verhaltens durch disziplinierte Übung erzeugen, die nicht nur Kraft und Geschicklichkeit, sondern auch Gefühle von Macht und Effizienz hervorbringen, können Frauen ein besseres Selbstbild ihres Körpers entwickeln, das ihnen ein größeres Vertrauen gibt, um durchsetzungsfähig zu handeln und die Zaghaftigkeit zu überwinden, die laut Beauvoir die Frauen versklavt. Eine solche dargestellte Körpermacht und die entsprechende selbstbewusste Haltung, die sie inspiriert, wird auch von Männern wahrgenommen werden, die dann geneigter sein könnten, diese Frauen als stark und kompetent anzuerkennen. Da außerdem größere körperliche Kompetenz Frauen ermöglicht, ihre Vorhaben mit gesteigerter Effizienz umzusetzen, wird dies auch ihre Selbstsicherheit erhöhen, ehrgeizigere Pläne für ein Engagement in der Welt zu entwickeln. Kurz gesagt, die Praxis der Vollzugs- und Darstellungssomästhetik, die 134 | kapitel 3

darauf abzielt, Macht, Geschicklichkeit und attraktive dynamische Selbstdarstellung an den Tag zu legen, sollte Beauvoirs Ziel entgegenkommen, das Selbstvertrauen von Frauen zu fördern, um mit umfassenderer Aktivität in die Welt einzugreifen. Pragmatistischer Logik zufolge sollten wir, wenn wir dieses Ziel unterstützen, auch die Mittel respektieren, die zu seiner Erreichung notwendig sind. Darum sollte die somästhetische Kultivierung des Körpers, selbst wenn sie weit davon entfernt ist, das höchste Ziel der Frauenbewegung zu sein, wenigstens für ihren Beitrag als nützliches Mittel (wenn auch sicher nicht als einzig nützliches) anerkannt werden. Feministische Theoretikerinnen, die in der Tradition von Beauvoir und Merleau-Ponty stehen, scheinen diese Argumentation zu teilen und entwickeln sie in unterschiedliche Richtungen weiter. In ihrem hervorragenden Aufsatz Throwing Like a Girl führt Iris Marion Young aus, wie »Frauen häufig an eine körperliche Auseinandersetzung mit Dingen mit Zaghaftigkeit, Unsicherheit und Unschlüssigkeit herangehen«, weil ihnen »ein restloses Vertrauen in [ihre] Körper fehlt«. Gefühle der Schwäche und die »Angst davor, verletzt zu werden«, erzeugen bei vielen Frauen ein Gefühl »von Unfähigkeit, Frustration und Befangenheit«, das tatsächlich ihrer somatischen Umsetzung als eine Form sich selbst erfüllender Prophezeiung ihrer eigenen Machtlosigkeit in die Quere kommt. Diese Dimension körperlicher Schwäche – die Young größtenteils der »fehlenden Gewohnheit« zuschreibt, »bei der Bewältigung von Aufgaben den Körper einzusetzen, »grobe Bewegungen« eingeschlossen – ist ihrer Ansicht nach auch Quelle eines »allgemeinen Mangels an Selbstvertrauen, das wir Frauen oftmals in Bezug auf unsere kognitiven Fähigkeiten oder Führungsqualitäten haben«.56 Aus einer anderen, aber ergänzenden Richtung zeigen Judith Butlers Argumente für eine somatische Performativität von Geschlechterparodien (bspw. als drag oder cross-dresser), wie dramatisch unterschiedliche ästhetische Darstellungen oder Repräsentationen von weiblichen Körpern verwendet werden können, um die konventionellen Vorstellungen von Geschlechtsidentität zu überschreiten und zu unterwandern. Sie tragen damit dazu bei, Frauen von repressiven Beschränkungen zu emanzipieren, die die Ideologie einer festgelegten und untergeordneten Geschlechteressenz ihnen auferlegt hat.57 somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 135

Um Beauvoirs Kritik, ihre Argumentation gegen diese ganzen vielversprechenden Formen von vollzugsbezogener und darstellungsbezogener Somästhetik erneut geltend zu machen, könnte man einwenden, dass jedes programmatische Aufgehen im Körperlichen gefährlich und problematisch ist, weil es Frauen von der wahrsten und mächtigsten Form der Transzendenz ablenkt – nämlich der politischen Handlung in der Öffentlichkeit. Aber in dieser Argumentation macht irrigerweise das Beste das Gute ungültig. Somatische Entfaltung stellt für eine robuste politische Praxis keine Bedrohung dar. Im Gegenteil: Wie Beauvoir ebenfalls anerkennt, kann sie das Selbstvertrauen und die Kraft erzeugen, die zu solch einer Praxis erst ermutigen. Darüber hinaus würde das Argument der Ablenkung auch gegen jede andere programmatische Aktivität sprechen, die keine politische Praxis wäre, wie etwa das philosophische Lesen und Schreiben. Deshalb kann es nicht bloße Ablenkung sein, die die somatische Kultivierung des Körpers zu einer Gefahr macht. Neben der Tatsache, dass die Kultivierung des weiblichen Körpers die Frau vorübergehend vom »Berufserfolg« ablenkt, weil »sie ihrer Toilette, ihrer Schönheit einen großen Teil ihrer Zeit widmen« muss, bedeutet diese auch, »dass ihre vitalen Interessen geteilt sind« zwischen der Transzendenz in der Welt und der Sorge für ihr objektiviertes, immanentes Fleisch.58 Das entscheidende Problem besteht für Beauvoir darin, dass die Aufmerksamkeit auf den Körper eine Ablenkung hin zur Immanenz bedeutet, eine Regression in den Objektstatus, die im Gegensatz steht zur freien Subjektivität der Transzendenz. Das liegt daran, dass – trotz ihrer anfänglichen Befürwortung von Merleau-Pontys Vision des Körpers als Subjektivität – der dominierende somatische Duktus von Das andere Geschlecht (der bedauerlicherweise patriarchale Werte widerspiegelt und diesen größtenteils verhaftet zu bleiben scheint) dazu neigt, den Körper als passives Fleisch zu denken, insbesondere dann, wenn es um weibliche Körper geht. Dies wird besonders deutlich an Beauvoirs Positionen zur erfahrungsbezogenen Somästhetik.

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IV.

Es gibt gute Gründe für Feministinnen, erfahrungsbezogene Somästhetik zu befürworten, weil sie der Obsession unserer Kultur für die vom objektivierenden Blick beherrschten Darstellungen widersteht, indem sie eine bereichernde Alternative zu visuellen Körpervergnügen anbietet. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, wie der eigene Körper visuell auf andere wirkt, und zu versuchen, ihn diesen fremdbestimmten Schönheitsstereotypen anzupassen, die eher für die Machtausübung anderer auf uns gedacht zu sein scheinen, konzentriert sich erfahrungsorientierte Somästhetik darauf, die eigene innere somatische Erfahrung zu untersuchen und zu verbessern. Beauvoirs Haltung ist hier jedoch wieder zweideutig und zwiespältig. Während sie einerseits dafür argumentiert, dass Frauen besonders nahe und interessiert an ihren somatischen Erfahrungen sind, behauptet sie andererseits, dass sie ihren Körpern besonders fremd gegenüberstehen und über ihre inneren somatischen Gefühle und Prozesse bestürzend im Dunkeln tappen. Während Beauvoir klar behauptet, dass die Unwissenheit über ihre eigenen körperlichen Erfahrungen eine Hauptquelle für die Schwäche von Frauen darstellt, empfiehlt sie – ähnlich widersprüchlich – kein Programm zur Erreichung größeren somatischen Selbstbewusstseins. Sie behauptet im Gegenteil, dass Frauen besser daran tun würden, ihre Körper von genauerer erfahrungsbezogener Untersuchung fernzuhalten, um ihre Aufmerksamkeit ganz auf transzendente Projekte in der Welt zu konzentrieren. Scharfsinnig argumentiert Beauvoir, dass das Gefühl körperlicher Schwäche bei Frauen nicht einfach auf den Mangel an körperlicher Stärke zurückgehe, der durch soziale Diskriminierung weiter verschlimmert würde. Vielmehr bestünde das Problem auch in einer Art »kognitiven Schwäche« der Frau in Bezug auf ihren Körper, in dem Gefühl, dass ihr Körper etwas »Mysteriöses«, ihr nicht ausreichend Bekanntes sei. Im Unterschied zum Jungen, der sich leicht mit seinem körperlichen Selbst in Bezug auf seinen Penis als »alter ego« identifizieren könne, habe das Mädchen keinen externen Identifikationspunkt mit ihrem Körper und würde so besonders seinem verborgenen »Inneren« zugekehrt.59 »Das Mädchen ist äußerst besorgt um alles, was in ihm geschieht. Es ist von Anfang somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 137

an viel undurchsichtiger für sich selbst, viel tiefer vom verwirrenden Geheimnis des Lebens durchdrungen als der Knabe.«60 Und da die inneren Geheimnisse ihres Körpers solche schmerzhaften und unkontrollierbaren Überraschungen wie Menstruation, Empfängnis und Geburt beherbergen, stellt der innere Erfahrungskörper für die Frau eine große Angstquelle dar. Wenn die Frau in die Pubertät kommt, nimmt sie ihr mysteriöses Inneres als die Quelle »unreiner alchimistischer Vorgänge« wahr,61 die ihrem Gefühl von Selbst oder Autonomie widerspricht. Sie »spürt, daß ihr Körper sich ihr entzieht, […] er wird ihr fremd«.62 Sie empfindet nicht nur Rätselhaftigkeit, sondern Ekel gegenüber ihrem Inneren. Jeden Monat derselbe »Ekel vor dem faden und fauligen Geruch, der von [ihr] selbst ausgeht – ein Geruch nach Morast, nach verwelkten Veilchen – vor dem Blut, das trüber und verdächtiger aussieht als das reine rote Blut, das aus den Schürfwunden der Kindheit trat«.63 Wenn das junge Mädchen eine Frau wird, wird das körperliche sexuelle »Mysterium eine Qual«, insbesondere, weil ihr Begehren sie antreibt, sich in der Rolle des passiven Fleisches auszudrücken; »die Jugendliche erleidet die Erregung wie eine schändliche Krankheit, die nicht aktiv, sondern ein Zustand ist«.64 Wie bei einer Krankheit, so wird in der weiblichen Sexualität »der Körper als eine Last empfunden, […] fremd und feindselig«, etwas Fremdes, Widerliches, unmenschlich Tierhaftes.65 Anders als das männliche Sexualorgan, »das einfach und sauber [ist] wie ein Finger« und von Jungen »oft […] ihren Kameraden stolz und herausfordernd vorgeführt« wird, ist »das weibliche Geschlecht der Frau selbst ein Geheimnis, verborgen, unbehaglich, schleimig, feucht. Mit den monatlichen Blutungen, manchmal auch mit schmierigem Ausfluß führt es ein geheimes, bedrohliches Eigenleben. Daß die Frau sich in ihm nicht wiedererkennt, ist für sie oft ein wesentlicher Grund, ihre sexuellen Gelüste nicht als die eigenen anzuerkennen.«66 Statt Ausdruck transzendenter menschlicher Subjektivität zu sein, fühlt sich »die weibliche Erregung [eher] an wie weiches Muschelfleisch«, ein auf demütigende Weise passives »Leck« oder ein »klebriger« »Sumpf«.67 Weil darüber hinaus »der weibliche Körper […] außerordentlich ›hysterisch‹« ist,68 argumentiert Beauvoir, neigt die tief sitzende kognitive Schwäche von Frauen (mit der Folge von Angst und Ekel) angesichts ihrer inneren Körpererfahrung dazu, ihre phy138 | kapitel 3

sische Schwäche zu verschlimmern und echtes physisches Leiden zu erzeugen, das über das hinausgeht, was normalerweise durch rein organische Ursachen entstehen würde.69 Das praktische Ergebnis dieser Überlegungen sollte sein, Frauen dazu zu drängen, ihren eigenen Körper besser kennen zu lernen. Sie sollten solche Kenntnisse nicht völlig der männerdominierten Medizin überlassen, die typischerweise den Körper als eine objektivierte Fleischmaschine und nicht wie eine lebendige Subjektivität behandelt und die es traditionell vorgezogen hat, Frauen über ihre Körper im Dunkeln zu lassen, um ihre vermeintlichen Mysterien auszunutzen und damit wiederum das Gefühl der Schwäche seitens der Frauen und das Gefühl autoritärer Macht seitens der Ärzte zu festigen. Wenn man den eigenen körperlichen Erfahrungen wohlwollende Aufmerksamkeit schenkt, können mysteriöse körperliche Prozesse vertrauter und verständlicher werden. Auf diese Weise können sie weniger abstoßend, bedrohlich und entmachtend werden. Imaginierte, angstbesetzte Mysterien sind gewöhnlich viel furchterregender als eine vertraute Wirklichkeit, die man für sich selbst erforscht hat. Aufgrund des starken psychosomatischen Zusammenhangs, den Beauvoir behauptet, könnte außerdem ein umfassenderes Wissen der Frau über ihren Körper in gesteigerte körperliche Macht und körperliches Selbstvertrauen übersetzt werden, weil die dunklen Wolken verunsichernder mysteriöser Ängste damit zerstreut würden. Darüber hinaus gibt es, wie Beauvoir einräumt, in der Körpererfahrung von Frauen einen großen Anteil an Freude und Genuss. Die erhöhte Aufmerksamkeit auf diese somatische Lust mit Hilfe fokussierter Vergegenwärtigung durch erfahrungsbezogene Somästhetik könnte das Selbstvertrauen und damit die Lebensfreude von Frauen steigern. Die Frau, so behauptet Beauvoir, ist gegenüber dem Mann bezüglich solcher inneren somatischen Aufmerksamkeit im Vorteil. Die »Beschäftigung mit sich selbst« ist »das Vergnügen, das die [Frau] allen anderen vorzieht […] Sie lauscht den Regungen ihres Herzens, sie beobachtet das Beben ihres Fleisches, gerechtfertigt durch die Anwesenheit der Gnade in ihrem Innersten wie die Schwangere durch die ihrer Leibesfrucht.«70 Wenn die »berühmte ›weibliche Empfindsamkeit‹ [auch] etwas Mythisches und etwas Gespieltes [hat], […] ist es [doch] eine Tatsache, dass die Frau sich somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 139

selbst und der Welt aufmerksamer gegenübersteht als der Mann«.71 Sie sei fähiger und geneigter, ihre Gefühle zu untersuchen, »ihre Empfindungen zu analysieren und zu erkunden, welchen Sinn sie haben«.72 »Ihr Fleisch schreit nicht lauter als das des Mannes, doch sie hört sein leisestes Murmeln und leiht ihm ihre Stimme«.73 Diese Neigung zu höherer somatischer Aufmerksamkeit erklärt, warum viele Frauen »einen wunderbaren Frieden« in der Spätphase der Schwangerschaft empfinden: »[S]ie fühlen sich gerechtfertigt. Schon immer hätten sie sich gern beobachtet, in ihren Körper hineingehorcht, aber mit Rücksicht auf ihre sozialen Pflichten haben sie es nie gewagt, sich zu selbstgefällig mit ihm zu beschäftigen. Jetzt haben sie ein Recht darauf. Alles, was sie sich zugute tun, tun sie auch dem Kind zugute.«74 Beauvoirs Analyse der Erotik enthält weitere Gründe dafür, warum eine erhöhte Aufmerksamkeit auf ihre körperlichen Gefühle für Frauen eine ermächtigende Erfahrung sein könnte. Im Gegensatz zur männlichen sexuellen Lust, die ihr zufolge in den Geschlechtsorganen lokalisiert ist und im Orgasmus zum Abschluss kommt, strahlt »das weibliche Lustgefühl […] auf den ganzen Körper aus […] Da die Lust kein festes Ziel hat, strebt sie gegen ›unendlich‹.«75 Aufgrund der unterschiedlichen Sexualität und der objektivierten Rolle, die sie auf der sexuellen Bühne zu übernehmen erzogen wird, ist die Frau darüber hinaus für die komplexe Zweideutigkeit des menschlichen Subjekt- und Objektseins, die am markantesten auf dem Gebiet der Sexualität zum Tragen kommt, empfänglicher als der Mann. »Die erotische Erfahrung gehört zu denen, die dem Menschen die Ambiguität seines Menschseins am eindringlichsten enthüllen. Er empfindet sich dabei als Körper und als Geist, als der andere und als Subjekt.«76 Die Frau sollte sich dies stärker vergegenwärtigen als der Mann, weil sie ständig daran erinnert wird, dass sie nicht nur aus einem begehrenden Bewusstsein besteht, sondern auch begehrtes, objektiviertes Fleisch ist. Und sie will Subjekt bleiben, während sie »zum Objekt« gemacht wird.77 »Sie muß ihre Würde als transzendentes und freies Subjekt zurückerobern, indem sie ihre Fleischlichkeit annimmt: ein unbequemes und risikoreiches Unterfangen.«78 Doch sogar im Scheitern kann die Aufmerksamkeit auf diese zweideutige somatische Erfahrung Frauen eine klarere Einsicht in 140 | kapitel 3

die grundsätzliche Ambiguität der condition humaine gewähren. Beauvoir kann daher behaupten: »Die Selbsterfahrung der Frau ist authentischer als die des Mannes«, ebenso die Erfahrung ihrer komplexen, schmerzhaften, aber befähigenden Zweideutigkeit, während der Mann »sich bereitwillig von den trügerischen Vorrechten ködern [läßt], die seine aggressive Rolle und die befriedigte Einsamkeit des Orgasmus mitsichbringen«, weswegen er »zögert, sich voll als fleischlichen Körper anzuerkennen«.79 So bleibt er einem wesentlichen Bereich der menschlichen Grundverfasstheit gegenüber blind. Weil authentisch zu leben ein zentrales Ziel der existentialistischen Ethik ist, könnte man annehmen, dass Beauvoir zu erhöhter Aufmerksamkeit auf die somatische Erfahrung drängt, weil diese eine authentischere Anerkennung der menschlichen Ambiguität ermöglicht. Außerdem stellt Blindheit gegenüber unserer ontologischen Verfasstheit ein Hindernis dar auf dem Weg zur Verwirklichung wahrer Freiheit. Für Beauvoir gäbe es also einen weiteren Grund dafür, anzuerkennen, dass erhöhte erfahrungsbezogene somatische Gegenwärtigkeit für die Frauenbefreiung von Nutzen ist. Beauvoir ist jedoch sehr weit davon entfernt, ein solches Programm somästhetischer Kultivierung zu empfehlen. Stattdessen beklagt sie die verstärkte Fokussierung auf körperliche Erfahrungen sowohl als Mitursache als auch als Produkt der Unterdrückung von Frauen und ihrer Einschränkung auf Immanenz. Sie ist sogar eher der Meinung, dass es um Frauen besser bestellt wäre, wenn sie ihren körperlichen Gefühlen weniger Aufmerksamkeit schenken würden, insbesondere, wenn es um die oftmals unangenehmen Gefühle geht, die mit frauenspezifischen Beschwerden verbunden sind. »Ich bin davon überzeugt«, schreibt Beauvoir, »dass die meisten Beschwerden und Krankheiten, die den Frauen zu schaffen machen, psychische Ursachen haben. Das haben mir übrigens auch Gynäkologen bestätigt.«80 Statt Selbstsorge und Selbstuntersuchung der eigenen somatischen Empfindungen, um diese durch Wissen besser in den Griff zu bekommen, empfiehlt Beauvoir, es sei das Beste, »von ihnen wenig Notiz« zu nehmen. Deswegen wird »Arbeit […] viel zur körperlichen Ausgeglichenheit der Frau beitragen, da sie ihr verbietet, sich ständig damit zu beschäftigen.«81 Generell hält Beauvoir dafür, dass die Frau eine intensive »subjektive« Analyse vermeiden und stattdessen das »Selbstvergessen« kultivieren sollte, weil somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 141

Selbstanalyse zu viel Zeit und Energie davon abzieht, die Art von qualifizierter Arbeit in der Welt zu leisten, die ihre Unabhängigkeit sichert. »Als Neuling in der Welt der Männer und nur notdürftig von diesen unterstützt, ist die Frau noch zu sehr damit beschäftigt, sich zu suchen.«82 Anerkannte, öffentlich sichtbare Arbeit ist natürlich von entscheidender Bedeutung für die volle Verwirklichung der Freiheit von Frauen wie für die von Männern. Aber selbst die übergeordnete Wichtigkeit einer angesehenen Tätigkeit und ökonomischer Unabhängigkeit schmälert nicht den Wert erhöhter somatischer Gegenwärtigkeit. Deren Lektionen können es uns ermöglichen, weitaus erfolgreicher in der öffentlichen Sphäre und in der Wirtschaft zu agieren, indem wir den Körper von falschen Haltungsgewohnheiten befreien, die seine Leistungsfähigkeit und Geschicklichkeit einschränken und zugleich mit Schmerzen belasten. Auch hier gilt wieder: Allein das Argument der vorläufigen Ablenkung vom praktischen Handeln kann den Wert disziplinierter somatischer Aufmerksamkeit nicht widerlegen. Es ist durchaus möglich, sich für einen bestimmten Zeitraum in erfahrungsbezogene Somästhetik zu versenken und sich dann wieder mit erweiterten Handlungsspielräumen der Welt zuzuwenden – durch das, was man über sich gelernt hat, und besser vorbereitet auf dieses Handeln. Was für Beauvoir erhöhte somatische Aufmerksamkeit besonders problematisch zu machen scheint, ist die Gleichsetzung des Körpers mit Immanenz und Passivität. Eine genaue Überprüfung der eigenen körperlichen Erfahrungen hätte ihr zufolge die Tendenz, solche Immanenz und Passivität zu verstärken, indem man sich selbst mit der Unterlegenheit des eigenen Körpers identifizierte. Das eigene Denken auf der Suche nach kritischer Selbsterkenntnis zu untersuchen wird jedoch nicht als passive Immanenz verurteilt, weil es Beauvoir zufolge der aktiven Transzendenz zugehört, die für ihre phänomenologischexistentialistische Perspektive grundlegend ist. Nun kann nach Beauvoir diese Asymmetrie nicht lediglich das Produkt des traditionellen Körper-Geist-Dualismus sein, da sie die Zweideutigkeit des Körpers als Subjektivität und zugleich als Objekt bekräftigt. Ihre feministischen Bedenken angesichts einer verstärkten Aufmerksamkeit für körperliche Gefühle lassen sich daher besser mit der Rolle des Körpers bei der Symbolisierung und 142 | kapitel 3

Verstärkung des untergeordneten Status der Frau (im Patriarchat) erklären: der Körper als passives Element oder Fleisch und als bloßes Werkzeug für die natürliche Fortpflanzung und Objekt männlichen Begehrens. Wenn die Frau bewanderter ist in der Sorge um ihren Körper und in der Fähigkeit, diesen zu genießen, dann »weil ihr Frausein sie dazu verleitet, ihrer Animalität äußerste Bedeutung beizumessen, […] weil ihr Los die Immanenz ist«.83 Wenn »sie die Wirklichkeit, in die sie eintaucht, leidenschaftlicher und bewegender erfährt«, so liegt das »an der Tatsache, dass sie passiv ist«.84 Beauvoir scheint zu argumentieren, dass Frauen mit einem gesteigerten Bewusstsein für körperliche Erfahrungen auch ihre Passivität und ihren Rückzug aus der Welt in die Immanenz verstärken würden. Zugleich würden sie gerade jene Dimension ihres Daseins betonen (nämlich die körperliche Erfahrung), an der sich am stärksten ihre Unterdrückung manifestiert. Dadurch, dass Frauen mit ihrem Körper und der passiven Innerlichkeit ihrer Gefühle identifiziert würden, sei es für sie schwieriger, sich in der öffentlichen Welt des Handelns und der intellektuellen Projekte zu behaupten. Solche Kritik an fokussierter Aufmerksamkeit gegenüber innerer somatischer Erfahrung wird selbst von Feministinnen geteilt, die zur Stärkung von Frauen die Aneignung vollzugsorientierter somästhetischer Disziplinen für richtig halten. Judith Butler etwa insistiert auf grenzüberschreitende Körperperformances, wendet sich aber zugleich gegen die »Illusion eines inneren Organisationskerns« somatischer Erfahrungen, der als legitimer Fokus für die kritische Erforschung und für eine Transformation dienen könnte. Innere körperliche Erfahrungen werden von ihr als Effekt diskursiver Regimes und Performances, die nur mit der äußeren Körperoberfläche arbeiteten, wegerklärt.85 Wenn etwas eine Wirkung von etwas anderem ist, ist es damit jedoch nicht automatisch auch eine Illusion. Aus einer anderen Perspektive warnt Iris Marion Young vor einer reflexiven somatischen »Befangenheit« als Hindernis für Frauen, ihren Körper aktiver und freier zu nutzen. »Wir fühlen uns, als ob wir unsere Aufmerksamkeit auf unseren Körper lenken müssten, um sicherzustellen, dass er tut, von dem wir wollen, dass er es tut, statt unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was wir durch unsere Körper tun wollen.« Reflektierende Aufmerksamkeit trage demnach zur somatischen »Zaghaftigkeit, somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 143

Unsicherheit und Unschlüssigkeit« von Frauen bei, zu ihrem »Gefühl der Unfähigkeit«. Darüber hinaus lasse die empirische Selbstüberprüfung – dadurch, dass der Körper zum Objekt des Bewusstseins werde – Frauen auf der Hut sein, »den Platz nicht zu verlassen, der ihr [vermeintlich] zusteht«. Dies sei eine Erklärung dafür, »warum Frauen oftmals dazu neigen, sich nicht offen zu bewegen und ihre Gliedmaßen eng an ihrem Körper halten«.86 Die Argumentation scheint also zu sein, dass auf den eigenen Körper gerichtete Aufmerksamkeit einen selbst stets zu einem bloßen Untersuchungsobjekt macht; Frauen, die sich mit ihren somatischen Erfahrungen beschäftigen, würden von ihrem Engagement in der Welt abgelenkt und daher zu Immanenz und Passivität verdammt, die Beauvoir verurteilt, weil sie die Freiheit der Frau untergrabe. Doch warum sollte die Untersuchung der eigenen somatischen Erfahrungen uns notwendigerweise auf Immanenz und Passivität reduzieren? Wenn es sich um eine intrinsisch logische Beziehung zwischen dem objektivierenden somatischen Bewusstsein und den Eigenschaften der Immanenz und der Passivität handeln würde, dann wären Männer davon ebenso betroffen wie Frauen. Doch davon ist bei Beauvoir keine Rede; stattdessen betont sie, dass Selbsterkenntnis und »Körperbeherrschung, [wie sie etwa] ein Fakir erlangt, […] ihn nicht zum Sklaven seines Körpers« macht.87 Auf jeden Fall beruht das Argument, dass die Überprüfung der eigenen somatischen Erfahrungen uns notwendigerweise in ein bloß immanentes und passives Objekt verwandelt, auf dem falschen Dualismus von Körper und Geist, Subjekt und Objekt, Selbst und Welt, Aktivität und Passivität, den Beauvoirs subtilere Darstellung der Zweideutigkeit des Körperlichen selbst in Frage stellt. Erfahrungsbezogene Somästhetik umfasst auch den eigenen aktiven Körper-Geist in der Wahrnehmung und in aktiver Bewegung (selbst wenn das lediglich die Bewegung des eigenen Atems in einer sitzenden Meditation ist oder das Zusammenziehen der Gesichtsmuskulatur bei konzentrierter Aufmerksamkeit). Somatische Vergegenwärtigung aktiviert die gesamte Person, als Subjekt und als Objekt. Beauvoirs Argumentation geht auch deswegen fehl, weil die Aufmerksamkeit auf die eigene somatische Wahrnehmung immer mehr ist als bloße Immanenz des Selbst. Solche Wahrnehmungen gehen immer über das Selbst hinaus, weil der Umgebungskontext, 144 | kapitel 3

in dem das Soma situiert ist, mit einbezogen wird. Körper sind, wie auch Beauvoir begreift, Brennpunkte umfassenderer Situationen, die diese Körper formen und bedingen. So wie unsere Welt ohne einen Körper keinen Sinn ergibt, ergeben unsere Körper ohne eine Welt keinen Sinn. Genau genommen können wir niemals rein und ausschließlich unseren Körper in sich selbst empfinden – wir empfinden immer die Welt mit. Wie oben bereits angeführt, werde ich, wenn ich unbeweglich bleibe und versuche, meinen Körper zu scannen und in sich selbst zu empfinden, noch immer den Stuhl oder den Fußboden fühlen, auf dem das Gewicht meines Körpers ruht. Ich werde die Luft fühlen, die seine Lungen füllen, die Wirkungen der Schwerkraft und anderer externer Kräfte auf mein Nervensystem. Aus solchen Gründen sollten wir Merleau-Pontys Behauptung zustimmen, dass das Bewusstsein (welches Körperbewusstsein einschließt) immer »aktives Transzendieren« ist. »Mein Bewußtsein zu sehen oder zu empfinden ist nicht die passive Registrierung in sich verschlossener psychischer Vorkommnisse, die mich hinsichtlich der Wirklichkeit der gesehenen oder empfundenen Dinge ungewiß ließen […] es ist die ursprüngliche Bewegung des Transzendierens, die mein Selbst ist, die gleichursprüngliche Berührung mit meinem Sein und mit dem Sein der Welt.«88 Beauvoir selbst bekräftigt dies, wenn sie den Körper bestimmt als »die Ausstrahlung einer Subjektivität, das Werkzeug zum Verständnis der Welt«.89 Obwohl Beauvoirs Zurückweisung des stärkenden und emanzipatorischen Potentials von Somästhetik nicht überzeugt, ist ihr Hinweis auf die Gefahren und Fallstricke, die Frauen durch eine verstärkte Kultivierung des Körpers und des somatischen Selbstbewusstseins riskieren, wertvoll. Die Idee somästhetischer Selbstsorge seitens der Frau kann leicht fehlinterpretiert und abgewertet werden als Verfügbarmachung eines hübschen Gesichts und einer guten Figur für den begehrenden Mann, als fruchtbarer Schoß und nährende Brust zur Fortpflanzung der Spezies. Solche immer gegenwärtigen Gefahren waren 1949, als Beauvoir das Buch schrieb, sicher bedrohlicher – vor der sexuellen Revolution der sechziger Jahre und der Frauenbewegung der folgenden Jahrzehnte und vor dem heute verbreiteten Interesse an vielfältigsten Formen von Körperdisziplinen und Sexualität.90 Beauvoirs Warnungen vor somästhetischer Kultivierung scheinen deswegen für die Frauen ihrer Zeit pragmasomatische subjektivität, somatische unterwerfung | 145

tisch gerechtfertigter als für unsere Zeit.91 Selbst bezogen auf die Gegenwart ist sie mit ihrer Ansicht im Recht, dass organisiertes politisches Handeln produktiver für einen nachhaltigen Fortschritt für Frauen und andere benachteiligte Gruppen ist als individuelle Bemühungen um das persönliche Heil. Gleichwohl fließen individuell empfundene Stärke und SelbstVergegenwärtigung in kollektive Gefühle von Macht und Solidarität mit ein. Daher können individuelle Anstrengungen der Bewusstmachung und der Stärkung durch Somästhetik fruchtbar zu weiterreichenden politischen Kämpfen beitragen (insbesondere, wenn sie mit einer Sensibilität für jene umfassenderen sozialen Zusammenhänge einhergeht, die das eigene körperliche Leben strukturieren), deren Resultate die zukünftige somatische Erfahrung von Frauen prägen wird. Tatsächlich sollte verbesserte somatische Kultivierung für diese Kämpfe als wesentlich anerkannt werden, sobald wir die unersetzbare Instrumentalität des Körpers für all unsere Handlungen und die unersetzbare Rolle des Individuums im größeren Kontext von sozialer Praxis schätzen lernen.92 Darüber hinaus wird, wenn man die große Bedeutung eines umfassenden politischen Fortschritts im öffentlichen Raum anerkennt, keineswegs der Wert somästhetischer Disziplinen für die persönliche Erfüllung und ästhetische Bereicherung als verkörpertes Selbst in Frage gestellt, ob wir diese Ziele nun mit einem männlichen oder einem weiblichen Körper verfolgen.

V.

Welchen Wert hat Somästhetik für die Stärkung, Bereicherung und Emanzipation einer unterdrückten somatischen Subjektivität, die von Milliarden von Männern und Frauen geteilt wird – dem Körperbewusstsein des alten Menschen? Trotz Beauvoirs Skepsis gegenüber somatischer Kultivierung als pragmatistischem Heilmittel legen ihre ausführlichen Analysen der Probleme von Älteren dessen Nutzen entschieden nahe. Wenngleich Das Alter (die englische Ausgabe ist schwächer betitelt mit The Coming of Age) nicht so einflussreich war und keine so rigorose Streitschrift ist wie Das andere Geschlecht, ist das Buch doch bemerkenswert reich an Informationen und Ein146 | kapitel 3

sichten und zeigt leidenschaftlich ein Problem unterdrückten Andersseins auf, das die Philosophie größtenteils ignoriert hat und bis heute vernachlässigt. Beauvoir vertritt hier mit Nachdruck (und hinsichtlich Ihrer Position zur Unterdrückung der Frau ähnlich wie im Anderen Geschlecht), dass Differenz und Schwäche im Körperlichen eine wichtige Rolle für den untergeordneten Status und das erniedrigte Bewusstsein von Älteren spielen, aber dies nicht eine Angelegenheit des natürlichen Laufs der Dinge und die Physiologie nicht einfach Schicksal ist. Obwohl unsere Gesellschaft »das Alter [als] eine Art Geheimnis« betrachtet, »über das zu sprechen sich nicht schickt«,93 zeigt Beauvoir, dass in bestimmten anderen Kulturen und geschichtlichen Epochen Älteren hohe Wertschätzung entgegengebracht wurde. Dieser höhere Status wird jedoch – wie der von bewunderten Frauen – »nie errungen, sondern immer gewährt«, und zwar von denen, die Beauvoir als die wirklichen Machtträger der Gesellschaft ansieht – die erwachsenen Männer, die Gründe dafür haben könnten, den Wert des Alters anzuerkennen. Zum Beispiel, um Traditionen und einen kulturellen Konservatismus zu sichern oder um ihre eigene Macht im Alter zu erhalten.94 Aber auch solche gewährte Autorität (die selbst irgendwie verdient oder verteidigt werden muss) beinhaltet, dass die Unterwerfung nicht bloß Sache einer natürlichen Notwendigkeit ist, sondern das Produkt eines größeren sozialen, institutionellen und ideologischen Zusammenhangs. Wenn sich eine Kultur sehr langsam entwickelt und der Tradition und den Vorfahren großen Respekt zollt, dann werden die Älteren, die diese Tradition verkörpern und den Ahnen am nächsten sind, folglich mit größerer Autorität ausgestattet. In Gesellschaften jedoch, in denen Transformationen und säkulare Werte eine höhere Bedeutung haben, werden eher die Jugend und die Lebensmitte idealisiert (da sie die Verheißung von und den Handlungsspielraum für Veränderungen repräsentieren), während Ältere als nutzlose Belastung behandelt werden, die vom Fortschritt abgehängt sind. Es überrascht daher nicht, dass »das Prestige des Alters sehr nachgelassen hat, weil der Begriff der Erfahrung nicht mehr so viel gilt«.95 Die moderne technisierte Gesellschaft mit ihrem steigenden Innovationstempo bringt es mit sich, dass zurückliegende Erfahrungen und alte Kenntnisse nicht sinnvoll angesammelt und eingesetzt somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 147

werden können, sondern stattdessen scheinbar eine überholte Last darstellen, die uns daran hindert, mit dem neuen Tempo Schritt zu halten. Trotz des wachsenden Marktes für die Zielgruppe der Älteren verstärkt die gierige Suche des Kapitalismus nach neuen Generationen junger Konsumenten (die erpicht darauf sind, neue Waren zu erproben, und die noch viele Konsumjahre vor sich haben) die Abwertung des Alters in unserer Kultur. Wie Beauvoir feststellt, definiert der Sinn, den die Menschen einer Gesellschaft »ihrer Existenz geben, ihr globales Wertesystem: Das ist es, was [auch] Sinn und Wert des Alters bestimmt.« Umgekehrt offenbaren sich die wahren »Grundsätze und Ziele« einer Gesellschaft darin, wie sie Ältere behandelt.96 Wenn also leider die vorherrschenden Bedingungen für Ältere im Wesentlichen Produkt sozialer Machtverhältnisse und nicht Folge körperlicher Beschränkungen sind (die lediglich Anlass oder Mittel sind, um diese Macht zur Geltung zu bringen und zu naturalisieren), dann ist Beauvoir zufolge die einzige Möglichkeit, um Ältere in ihren Möglichkeiten und in ihrem Status zu stärken, eine globale Transformation der Gesellschaft und ihrer Werte. Beauvoir sieht unsere »skandalöse« Behandlung des Alters als unvermeidliches Resultat der skandalösen Behandlung, die die Gesellschaft bereits Menschen in ihrer Jugend und Reife zukommen lässt. »Dadurch bereitet sie schon früh die verstümmelten und elenden Lebensbedingungen vor, die das Los dieser Menschen in ihren letzten Jahren ist. Es ist Schuld der Gesellschaft, wenn der Altersabbau bei ihnen vorzeitig einsetzt und wenn er sich so rasch vollzieht, in einer physisch schmerzhaften und seelisch grauenvollen Weise, weil sie ihm mit leeren Händen gegenüberstehen.« Ausgebeutet von einer habgierigen, profithungrigen Gesellschaft, solange sie die Kraft zum Arbeiten haben, werden die Arbeiterklassen »zwangsläufig zum ›Ausschuss‹, zum ›Abfall‹ der Gesellschaft«, »wenn die Kräfte sie verlassen«. Die Verbreitung dieser sozialen Unterdrückung, so behauptet Beauvoir, vereitelt alle vereinzelten Reformversuche, Verbesserungen für Ältere zu erreichen. Solche »Heilmittel« sind ein »Hohn«, da den Menschen ihr Leben und ihre Gesundheit »nicht zurückgegeben werden können«. »Wenn man begriffen hat, was die Lebensbedingungen der alten Menschen bedeuten, wird man sich nicht damit begnügen, eine großzügigere ›Alterspolitik‹, eine 148 | kapitel 3

Erhöhung der Renten, gesunde Wohnungen und Freizeitgestaltung zu fordern. Das ganze System steht in Frage, und unser Anspruch kann nicht anders als radikal sein – das Leben selbst zu verändern.«97 Soziale Faktoren sind unbestreitbar vorherrschend bei der Unterjochung des Alters, und Beauvoirs Aufruf zu einer globalen Umgestaltung der Gesellschaft, um größere Gerechtigkeit für jung und alt zu erreichen, ist zweifellos inspirierend. Weniger zwingend ist ihre verächtliche Missachtung kleinerer Reformansätze, insbesondere deswegen, weil solche partiellen oder beschränkten Lösungen notwendige Bausteine und ermutigende Modelle zur Verfügung stellen, um globalere soziale Veränderungen zu erreichen. Ich beschränke mich hier auf Beauvoirs Ausklammerung somästhetischer Methoden, die dazu beitragen könnten, die Entstehung körperlichen Unzulänglichkeiten, die mit zunehmendem Alter auftreten und die zu großen Teilen das Gefühl von Negativität und Verfall bedingen, von dem das Alter in unserer Kultur bestimmt wird, hinauszuzögern, damit zurechtzukommen oder den Prozess sogar umzukehren.98 Ihre eigene Untersuchung der Probleme des Alters, so werde ich argumentieren, impliziert klar die Bedeutung somatischer Kultivierung. Doch zunächst: Was genau bedeutet Alter für Beauvoir? Sie unterzieht diesen Begriff an keiner Stelle einer streng logischen Analyse. Auch wenn sie behauptet, dass das Alter »nicht nur eine biologische, sondern auch eine kulturelle Tatsache« ist, definiert sie zum Zweck der Eindeutigkeit (und angesichts des üblichen Ruhestandsalters zu ihrer Zeit) die Begriffe »alt, betagt und hochbetagt« dennoch in objektiv chronologischer Reihenfolge als »Menschen von 65 und darüber«.99 Einerseits scheint Beauvoir für die Zweideutigkeit der Altersvorstellung sensibilisiert zu sein, wenn sie anerkennt, dass das »chronologische und das biologische Alter […] keineswegs immer [überein]stimmen«,100 so dass eine fünfundsechzigjährige Person körperlich in besserer Form sein und in diesem Sinn physiologisch jünger sein kann als ein Fünfundfünfzigjähriger. Andererseits betont sie: »Der Begriff ›ein Sechzigjähriger‹ hat für alle dieselbe Bedeutung. Er bezeichnet biologische Erscheinungen, die eine ärztliche Untersuchung bestätigen würde.«101 Auch wie man aussieht, gibt ein Alter vor und kann sich vom biologischen Alter somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 149

unterscheiden. Und Beauvoir scheint diesem abbildhaften Sinn des manifesten Alters beträchtliche Bedeutung zu verleihen: »Die physische Erscheinung sagt mehr aus über die Zahl unserer Jahre als physiologische Untersuchungen.«102 Neben dieser zeitlichen, physiologischen und abbildhaften Bedeutung von ›Alter‹ sollte eine angemessene Analyse des Begriffs darüber hinaus ein erfahrungsbezogenes Altersgefühl einschließen (das Gefühl, alt oder mittleren Alters oder in den besten Jahren zu sein) sowie eine performative Bedeutung bezogen auf die Handlungsspielräume, die eine Person in den besten Jahren von einer Person mit den Einschränkungen, die mit dem Alter assoziiert werden, unterscheidet. Beauvoirs Diskussion des Alters erstreckt sich über diese verschiedenen Bedeutungsebenen, ohne sie immer klar zu unterscheiden. Obwohl Alter im zeitlichen Sinne eine objektive Grenze darstellt, die nicht aufgehoben werden kann (abgesehen von den noch kaum vorstellbaren Ausnahmen der Zeitreisen und der Kryonik), sind andere Dimensionen des Alterns der somatischen Kultivierung viel zugänglicher, als Beauvoir denkt.

VI.

Einer ihrer bemerkenswerteren Behauptungen über das Alter ist, dass es nur von außen erkennbar und definierbar sei. Es kann nicht direkt im Modus des »Für-sich« der reinen Subjektivität erfahren, sondern nur indirekt erfasst werden als eine objektivierte Bedingung des Selbst aus der Perspektive des definierenden Blicks anderer, die es als alt betrachten. Für Beauvoir ist das Alter »ein dialektischer Bezug zwischen meinem Sein in den Augen anderer, so wie es sich objektiv darstellt, und dem Bewusstsein meiner selbst, das ich durch das Alter gewinne. Es ist der andere in mir, der alt geworden ist, das heißt jener, der ich für die anderen bin: Und dieser andere – bin ich.«103 Alter wird so immer als etwas Fremdes erfahren, das mir durch den Blick anderer aufgedrängt wird, vergleichbar der Art, in der Frauen ihre Identität als unwesentliche Andere durch den sozial privilegierten und definierenden männlichen Blick aufgezwungen wird. »Der gealterte Mensch fühlt sich alt auf Grund der anderen, ohne entscheidende Veränderungen erfahren zu ha150 | kapitel 3

ben.« Aufgrund des Fehlens einer richtigen »inneren Erfahrung« des Alterns hat »sein inneres Wesen« Schwierigkeiten, das von außen auferlegte Etikett zu akzeptieren und sich zu eigen zu machen: »[E]r weiß nicht mehr, wer er ist.« Daraus resultiert die beunruhigende Verwirrung und beschämende Entfremdung des Alters.104 Diese verstörende Disharmonie und Entfremdung zwischen Außen und Innen, diese Unfähigkeit, von innen die somatischen Gefühle des Alterns zu erfahren, erfordert eindeutig die meliorativen Methoden der erfahrungsbezogenen Somästhetik, die unsere Fähigkeit steigert, die qualitative Erfahrung und die propriozeptiven Signale des fortgeschrittenen Alters kennenzulernen, zu integrieren und in einem gewissen Maße auch modifizieren können. Bevor ich diesen Aspekt ausführe, möchte ich darauf hinweisen, dass Beauvoirs Behauptung, dass Alter im Wesentlichen durch den Blick eines externen Beobachters definiert wird, gleichermaßen auch den Wert der darstellungsbezogenen Somästhetik impliziert. Da ein solcher Beobachter unser Alter nicht anhand der Geburtsurkunde bestimmt, sondern indem er unsere Erscheinung beurteilt, werden wir, wenn wir nicht wie im Verfall begriffene alte Männer und Frauen aussehen, auch nicht als solche behandelt werden. Folglich können wir, indem wir daran arbeiten, dass unser körperliches Äußeres sich von altersschwacher Hinfälligkeit unterscheidet, besser und länger das diskriminierende Etikett und die soziale Unterwerfung, die diese tendenziell mit sich bringt, vermeiden. Millionen von Männern und Frauen (unterschiedlichster Ethnien, Kulturen und Klassen) folgen eindeutig dieser Logik und widmen sich mit einem enormen zeitlichen und finanziellen Aufwand kosmetischen Behandlungen und anderen Methoden, die darauf abzielen, sie jünger zu machen, als sie altersmäßig sind (wenn nicht sogar jünger, als sie physiologisch und in ihren Handlungsmöglichkeiten sind). Sollen wir sie einfach dafür verurteilen, dass sie sich an das gesellschaftliche Interesse für Oberflächlichkeit verraten? Diese naheliegende Antwort ignoriert auf unfaire Weise die Tatsache, dass die oberflächliche Erscheinung (einschließlich derjenigen des fortgeschrittenen Alters) mit tiefen Bedeutungen befrachtet ist, die auf signifikante Weise die soziale Wirklichkeit gestalten. Diese können nicht einfach ignoriert werden, sondern müssen ausgehandelt oder eingesetzt werden, um die soziale Macht eines Individuums zu stütsomatische subjektivität, somatische unterwerfung | 151

zen. Ein Manager, dessen Erfolg es erfordert, dass er Kraft, Dynamik, Energie und eine vielversprechende Zukunft ausstrahlt, kann dieses Image (und folglich seine Position) nicht aufrechterhalten, wenn er zu alt und schwach aussieht. Er erhält seine soziale Autorität aufrecht, indem er an einem jüngeren, dynamischen Äußeren arbeitet, das – ohne sein Alter zu leugnen – die Annahme widerlegt, dass fortgeschrittenes Alter physische Entkräftung zur Folge haben muss. Solche persönlichen Anstrengungen können mehr als nur individuelle Wirkung zeigen. Wenn mehr ältere Menschen lebendigen Elan und Fitness ausstrahlten, dann würde die automatische Verknüpfung des Alters mit unattraktiver Hinfälligkeit und damit viel von dem sozialen Stigma, das dem Alter anhaftet und zu der Entmachtung Älterer beiträgt, unterminiert werden. Das heißt nicht, dass Siebzigjährige versuchen sollten, wie Siebzehnjährige oder noch nicht einmal wie Siebenunddreißigjährige auszusehen. Die lächerliche Sinnlosigkeit solcher Versuche schließt indessen keineswegs den Wert darstellender Somästhetik für die Stärkung älterer Menschen aus. Daran wird im Gegenteil deutlich, dass somästhetische Aufmerksamkeit erforderlich ist, um neue Bilder eines lebendigen und leistungsfähigen attraktiven Äußeren zu entwickeln, das für Senioren angemessen ist, während man zugleich die besten Methoden erforschen sollte, wie sie sich in die Praxis umsetzen lassen. Da die Schönheitsideale sich auf die Erscheinungsformen beschränken, die der Körper vom Teenageralter bis in die Vierziger einnimmt, gibt es offenbar keine Option für eine attraktives Erscheinungsbild von Älteren, dessen Macht und Würde der sozialen Autorität von Senioren dienen könnte. Da Millionen von Baby-Boomern sich einem fortgeschrittenen Alter mit dem Widerwillen nähern, ihr Selbstbild aus energiegeladener Dynamik aufzugeben, das die herrschende Jugendkultur hervorgebracht hat, die einmal ihre Psychen formte, gibt es ein zunehmend dringenderes Interesse daran, Vorbilder für ein attraktives und gesundes Altern zu finden. Während Beauvoir anerkennt, dass der Machtsinn bei Frauen durch »eine neue Ästhetik« der somatischen Erscheinung angekurbelt wurde, die das etablierte Stereotyp des weichen, passiven, weiblichen Fleisches in ein neues Bild vom Körper transformiert hat, der »[m]uskulös, geschmeidig, widerstandsfähig« sein und »auf die Transzendenz hinweisen«105 soll, versäumt sie es, ein 152 | kapitel 3

vergleichbares Argument für den transformativen Wert einer neuen, Macht verleihenden Somästhetik des Alterns zu entwickeln. Methoden zur Verbesserung des körperlichen Erscheinungsbildes überlappen sich häufig mit Disziplinen, die darauf abzielen, die eigene Stärke, Gesundheit und Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Obwohl sich beispielsweise Bodybuilding in erster Linie auf das Aussehen konzentrieren mag, erstrecken sich seine Techniken und Vorzüge auch auf das Krafttraining im Bereich vollzugsbezogener Somästhetik, dessen Ziel nicht nur das bloße Image funktioneller Stärke und energiegeladener Gesundheit ist, sondern die gelebte Wirklichkeit und Anwendung in tatsächlicher Praxis. Die meisten Menschen, die Diät halten, sind in erster Linie um ein attraktiveres, schlankes Äußeres besorgt, aber ihr Gewichtsverlust, die körperliche Bewegung und die gesünderen Essgewohnheiten laufen automatisch auf eine bessere Gesundheit, mehr Energie und folglich eine verbesserte Leistungsfähigkeit hinaus. Da unsere Kultur Funktionalität hochschätzt, ist perfomative Kraft zur Aufrechterhaltung persönlicher Effektivität wesentlich für volle soziale Anerkennung. Diese wird Älteren, aufgrund ihrer körperlichen Schwäche, so häufig versagt. Sensibilisiert für diese grundlegende Einsicht, identifiziert und widerlegt Beauvoir scharfsinnig eine weitverbreitete philosophische Argumentation, die das Problem der Altersschwäche achselzuckend abtut, indem somatische Entkräftung schlicht zum Glück im Unglück erklärt wird. Seitdem Plato versicherte, dass das Alter uns von den unbändigen Leidenschaften befreie, die durch die jugendliche Körperkraft angefeuert würden, haben Philosophen immer wieder behauptet, dass körperliche Schwäche oder Krankheit die Seelenstärke fördere, und uns dazu ermuntert, uns auf diesen höheren Teil von uns zu konzentrieren. Beauvoir widerstreitet vehement dieser Behauptung als Wunschdenken und »Albernheit«, die auf Grund der Weigerung, sich den tatsächlichen Erfahrungen und Umständen des Alterns zu stellen, »taktlos« sei.106 Obwohl mit dem Alter die Tätigkeit der Sexualorgane nachlässt und dies eine Verminderung der genitalen Funktionen mit sich bringt, stellt Beauvoir umfangreiche Beweise dafür zur Verfügung, dass Ältere vom sexuellen Begehren und anderen Leidenschaften keineswegs befreit sind.107 Weil sexuelles Begehren und sexuelle Aksomatische subjektivität, somatische unterwerfung | 153

tivität nicht auf genitales Verhalten beschränkt sind, können sie bis ins hohe Alter fortgesetzt werden. Die Libido ist außerdem nicht bloß ein körperlicher Antrieb, sondern »psychosomatisch« und vom soziokulturellen Kontext geprägt.108 Dennoch gedeiht sie besonders bei körperlicher Gesundheit (wie die geistige Energie es schließlich auch tut). Weil Sexualität einen wichtigen Teil unseres Selbstgefühls darstellt, ist der Verlust der Libido durch die somatische Schwächung des Alterns »eine Verstümmelung«, die andere Verstümmelungen nach sich [zieht], da Sexualität, Vitalität und Aktivität untrennbar miteinander verbunden sind«.109 Und doch zieht Beauvoir daraus nicht den Schluss, dass Ältere systematisch an ihrer Fitness arbeiten sollten, um ihre Energiequellen zu vergrößern, um eine stärkere Libido zu entfalten und die performative Kraft zu erhalten, diese im erotischen Kontakt beglückend auszuüben, was umgekehrt wiederum in einer Person das Gefühl dynamischen, energiegeladenen Wohlbehagens steigert.110 Auch außerhalb des Bereichs sexueller Erfahrung ist es offensichtlich, dass körperliche Gebrechlichkeit den Geist nicht befreit, sondern stattdessen das Bewusstsein mit unaufhörlichen Sorgen um Beschwerden und Schmerzen belastet und die eigentlich für etwas anderes benötigte Energie für andauerndes oder angestrengtes Grübeln verbraucht. Wie Rousseau einmal sagte: »Je schwächer der Körper ist, desto gebieterischer tritt er [gegenüber der Seele] auf.«111 »Die Tragödie des alten Mannes«, so schreibt Beauvoir, »liegt […] darin, dass er nicht mehr kann, was er will. Er entwirft, er plant, und in dem Moment, da er an die Ausführung geht, lässt ihn sein Organismus im Stich.«112 Während sie betont, dass die somatischen Schwächen des Alters einen am Handeln hindern und darum das Selbstbewusstsein und den sozialen Status verringern, bemerkt Beauvoir, dass es alternden Athleten dennoch häufig gelingt, »bis zu einem fortgeschrittenen Alter« ihre »verlorenen Fähigkeiten zu kompensieren«, und zwar aufgrund ihrer sich zuvor angeeigneten »Technik« und einer »genauen Kenntnis ihres Körpers«. Sie können auf diese Weise »lange Zeit ›in Form‹« bleiben und sich den sozialen Respekt bewahren, den diese Fähigkeit verlangt.113 Aber sie scheint an keinem Punkt zu bemerken, dass systematisches Training (sowohl in vollzugs- als auch in erfahrungsorientierten Techniken) die somatische Handlungsfähigkeit der allgemeinen äl154 | kapitel 3

teren Bevölkerung verbessern könnte, auch wenn dieses Heilmittel deutlich aus den Ursachen folgt, die sie für den Verfall im Alter angibt. Wenn der Verlust des sozialen Status und des Selbstbewusstseins aus der verringerten Funktionalität durch unzulängliche Kraft, Gesundheit und Energie resultiert, dann kann dieser Verlust verzögert und durch Methoden abgefangen werden, die somatische Geschicklichkeit und Energie entwickeln. Schmerz und Leid durch altersbedingte Krankheiten, von denen viele durch eine verbesserte somatische Fitness verhindert werden können, sollte ebenfalls das Studium gesundheitsfördernder Disziplinen der somatischen Selbstsorge inspirieren. Auf gleiche Weise können Kenntnisse in erfahrungsorientierter Somästhetik gegen die Selbstentfremdung eingesetzt werden, die durch die Unfähigkeit entsteht, genau hinzufühlen und sich effektiv den eigenen alternden Körper anzueignen. Wenn Ältere den Elan für Aktivitäten aufgrund unzureichender Stärke und Energie verlieren, dann kann ihrer Notlage durch somatische Methoden entgegengewirkt werden, die die Kraft und Energie aufrechterhalten und sogar wieder aufbauen können. Die schale Schwermut des Alters kommt, wie Beauvoir behauptet, nicht durch das Gewicht unserer Erinnerungen zustande, sondern »weil unser Vorstellungsvermögen nicht mehr durch neue Projekte angeregt wird«, die Aktivität und Interesse erzeugen und zugleich erfordern. Der »Mangel an Neugier, [die] Gleichgültigkeit des alten Menschen werden durch seinen biologischen Zustand noch verstärkt«, gibt sie zu. »Es ermüdet ihn, der Welt seine Aufmerksamkeit zu widmen. Oft hat er nicht einmal mehr die Kraft, an den Werten festzuhalten, die seinem Leben einen Sinn gegeben haben.«114 Und doch versäumt Beauvoir es, ein systematisches Training des Körpers zu verteidigen, um die biologische Energie und Kraft aufrechtzuerhalten, die erforderlich ist, um Projekte zu verfolgen, die das eigene Leben mit Interesse, Bedeutung und Wert ausstatten. Obwohl sie einräumt, dass »psychologisch betrachtet, das Durchhaltevermögen alter Sportler eine kräftigende Wirkung« hat und auch ihr somatisches Funktionieren verbessern mag, warnt sie vor den physiologischen Gefahren des Sports und betont dessen Unwirksamkeit für die Bewahrung der Gesundheit der Älteren. »Nach Vollendung des 60. Lebensjahres bringt Sportausübung für zwei Drittel unter somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 155

ihnen Risiken mit sich […] Sport verlangsamt den Alterungsprozess der Organe nicht.«115 Die heutige Altersforschung stellt eine begrüßenswerte Korrektur von Beauvoirs Sichtweise in dieser Sache dar, und zunehmend entdecken Senioren, dass kraftvoller Sport nicht nur einer Elite früherer Athleten vorbehalten ist, sondern ein entscheidendes Mittel für alle älteren Menschen darstellt, um ihre Handlungsfähigkeit und Gesundheit zu erhalten. Sport verzögert nicht nur die altersbedingte Schwächung des Körpers, sondern kann manchmal sogar solche Schwächung rückgängig machen. Das Altern des Knochengerüsts, das oft in gebeugten und gekrümmten Haltungen Älterer zum Ausdruck kommt, ist in erster Linie das Ergebnis »des Kalziumverlusts der Knochen« und tritt »stärker bei älteren Frauen als bei Männern auf«. Obwohl die wirkliche Ursache dieses Verlustes »nicht bekannt ist und es keine bestimmten Methoden gibt, um ihn zu verhindern, […] belegen zahlreiche Studien, dass regelmäßige Bewegung die Quote des Kalziumverlusts signifikant reduzieren kann«.116 Studien zeigen deutlich, dass ein systematisches Bewegungsprogramm »die beste Verteidigung gegen die Muskelatrophie« darstellt und sogar »die Muskelkraft steigern kann – selbst bei Menschen in ihren Siebzigern«, wobei sich anscheinend »die allgemeine Stoffwechselaktivität der beanspruchten Muskelzellen« verbessert sowie »die Fähigkeit von Nerven, Muskelfasern zu stimulieren«.117 Zu den größten Herz-Kreislauf-Problemen im Alter gehören die Verringerung der Herzfrequenz, die Abnahme des Herzschlagvolumens und des maximalen Sauerstoff-Verbrauchs (die alle in Zusammenhang gebracht werden mit einer Funktionsschwächung der linken Herzkammer), zusammen mit hohem Blutdruck (aufgrund der verringerten Elastizität und des verringerten Durchmessers der Arterien). Zahlreiche Studien belegen, dass diese Degenerationserscheinungen durch Sportkuren und (für den Blutdruck) auch durch Diät abgeschwächt werden können. Einige Ergebnisse zeigen, dass »sogar Siebzigjährige ihren maximalen Sauerstoff verbrauch durch die Befolgung eines Ausdauertrainingsprogramms vergrößern können und dass die für eine Steigerung erforderliche Intensität niedriger ist als bei jüngeren Personen.«118 Vollzugsorientierte Somästhetik beschränkt sich nicht auf Sport und Krafttraining. Subtile somästhetische Methoden, die keine 156 | kapitel 3

schweißtreibenden Anstrengungen verlangen, können häufig altersbedingte funktionelle Störungen beheben, die für ältere Menschen mit Schmerz, Unfähigkeit und einem Gefühl der Hilflosigkeit verbunden sind und sie auf diese Weise an der Verfolgung von Projekten hindern, die ihrem Leben größeren Wert und größere Bedeutung verleihen und ihre Handlungsspielräume erweitern würden. Ein Beispiel aus meiner Arbeit als Feldenkrais-Praktiker: Ein älterer Mann von über achtzig Jahren suchte bei mir Hilfe. Schmerzen in seinen Knien erschwerten ihm das Aufstehen. Besonders frustrierte und quälte ihn, wie dieses Problem sein ansonsten dynamisches und energisches Auftreten unterband, so dass er bei jedem Impuls, sich zu erheben und etwas zu tun – selbst wenn er sich einfach nur ein Glas Wasser oder ein Buch holen wollte –, aufgrund der damit verbundenen Schmerzen dreimal überlegen musste, ob es den Schmerz wert war. Die Pillen und Spritzen, die die Ärzte ihm verschrieben, halfen nicht, und ihm wurde geraten, den Schmerz als Preis seiner Langlebigkeit zu ertragen. Als ich die Art untersuchte, wie er aufstand, bemerkte ich, dass er dieselbe grundlegende Mechanik einsetzte, die die meisten von uns verwenden, wenn wir jung und kräftig sind: Wir erheben uns gerade und vertikal, wobei wir unsere Füße fest in den Boden stemmen und unsere Knie durchdrücken. Dies schließt beträchtliche Anstrengung und einen enormen Druck auf die Kniegelenke ein, wodurch leicht Schmerz ausgelöst werden kann, wenn die Gelenke verletzt sind oder einfach schwach und alt werden. Man kann jedoch auch lernen, sich aus der sitzenden Position zu erheben, indem man seinen Kopf, seine Schultern, Arme und den Rumpf nach vorne bewegt und diese oberen Körperteile vorübergehend nach vorne und nach unten sinken lässt. Diese Verschiebung des Gewichts des oberen Körpers (da der Körper anatomisch kopflastig ist) wird den unteren Körper und die Beine leicht in den Stand ziehen, ohne dass wir die Knie durchdrücken müssen. Nach einigen Sitzungen beherrschte mein Klient diese neue Form des Aufstehens, so dass er sie in sein Alltagsleben integrieren konnte. Das Knieproblem verschwand. Seine größere Kraft beim Aufstehen war nicht einer erhöhten Muskelkraft oder Anstrengung geschuldet. Sie kam durch die Schwerkraft zustande, indem mit dem nun vom Knochengerüst weniger gestützten Oberkörper gearbeitet wurde. Gesteigerte Handlungsfähigkeit wird hier nicht dadurch erreicht, somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 157

dass die autonome Kraft des Körpers ausgebaut wird, sondern durch das Erlernen einer intelligenten Methode, die Naturkräfte einzusetzen, die im Individuum zusammenlaufen, es durchziehen und dessen Körper und Selbst immer mehr als es selbst sind. Um diese Methode des Aufstehens zu beherrschen, musste der Achtzigjährige eine höhere propriozeptive Gegenwärtigkeit für die Positionen seines Kopfs, seiner Glieder und seines Rumpfs entwickeln und ein größeres Bewusstsein für das Gleichgewicht seines Oberkörpers, der frei in der Luft hing und mit seinem Kopf dem Fußboden viel näherkam, einer Position, die zu Beginn etwas Furcht hervorruft und sich wie Fallen anfühlen kann. Diese Notwendigkeit erhöhter erfahrungsbezogener Vergegenwärtigung, um die motorische Geschicklichkeit zu verbessern, veranschaulicht die interaktive Überschneidung vollzugs- und erfahrungsorientierter Somästhetik. So wie der Gewichtheber durch Erfahrung lernen muss, den Schmerz, der den Muskel aufbaut, vom Schmerz zu unterscheiden, der eine Verletzung signalisiert, so muss die ältere Sportlerin einen besseren Erfahrungssinn für ihr körperliches Selbst entwickeln, um Verletzungen zu vermeiden, die durch Überbeanspruchung oder falsche Bewegungen im Sport zustande kommen. Die Verbesserung der eigenen inneren somatischen Vergegenwärtigung des Selbst durch somästhetisches Training verbindet daher auf entscheidende Weise die berühmte philosophische Forderung, sich »selbst zu erkennen«, mit einer zweiten delphischen Maxime, »von nichts zu viel«, die darauf zielt, das richtige Maß zu erkennen. Eines der Hauptprobleme des Alters, behauptet Beauvoir, ist unsere fundamentale Erfahrungsunfähigkeit, es angemessen in eigenen Begriffen von innen zu empfinden, so dass es »uns aus der Fassung« bringt wie ein Umstand, der uns »von außen« durch das objektivierende Urteil anderer aufgezwungen wird: »Unsere persönliche Erfahrung […] zeigt uns die Zahl unserer Jahre nicht an«.119 Daher rührt die peinliche Verwirrung und die entmutigende Entfremdung des Alters, in der man sich fühlt, als müsste es ein »andere[r] in uns sein, der alt ist«, nicht das eigene innere Dasein oder das eigene wahre Selbst.120 Aber wenn wir geschickt bestimmte Techniken der erfahrungsbezogenen Somästhetik anwenden, die die somatische Sensibilität erhöhen (wie z.B. die Feldenkrais-Methode oder die Körper-scannende Meditation), gewinnen wir mehr Sicherheit im 158 | kapitel 3

Zuordnen und Diagnostizieren unserer körperlichen Gefühle und sind so besser in der Lage, die somatischen Alterungsprozesse von innen her wahrzunehmen und zu kontrollieren. Wir könnten dann unser Alter bequemer bewohnen, ohne es als eine unwillkommene, unentzifferbare fremde Identität zu empfinden, die uns von anderen aufgezwungen wird. Selbst unerwünschte Beschränkungen sind leichter zu handhaben, wenn sie als ein Teil von uns selbst und nicht als von außen auferlegt wahrgenommen werden. Ein schärferes somästhetisches Bewusstsein verbessert auch unsere Fähigkeit, zwischen bloßem Verfall durch das zunehmende Alter und solchen Veränderungen zu unterscheiden, die durch wirkliche Krankheit oder eine Funktionsstörung verursacht sind, die altersbedingt sein kann (oder auch nicht). Wir können daher besser krankheitsbedingte Beschwerden diagnostizieren und beheben, statt anzunehmen, dass sie einfach ein Teil des unvermeidlichen Alterungsprozesses sind. Trotz der Erkenntnis, dass die Gesundheit älterer Menschen durch eigene Vernachlässigung bedroht ist, und zwar aufgrund der Tendenz, manche »heilbare Krankheit mit einem unabänderlichen Altersprozess zu verwechseln«,121 versäumt es Beauvoir, irgendeine Bemühung um somästhetische Aufmerksamkeit zu empfehlen, um die Empfindung von Krankheit oder Verletzung von derjenigen der bloßen Altersschwäche zu unterscheiden. Warum lehnt sie diese Option zur Steigerung von Erkenntnis und Handlungsfähigkeit für Ältere ab? Hier fürchtet Beauvoir, ebenso wie für Frauen, dass somatisches Selbstbewusstsein zur Immanenz ermutigt, während sie eher dazu auffordert, das zu tun, was sie als den Schlüssel für den Sinn und Wert des Lebens erachtet – Transzendenz durch Projekte. Wenn die auf körperliche Gefühle gerichtete Aufmerksamkeit mit sich bringt, der passiven Immanenz des Fleisches verhaftet zu bleiben, im Gegensatz zum dynamisch transzendenten »Ego«, dann können sinnvolle Projekte im Alter nicht mit der Steigerung unserer somatischen Selbsterkenntnis einhergehen, die dazu dienen könnte, mit unserem Alter effektiver zurechtzukommen. »Pläne, Entwürfe«, betont sie, »beziehen sich nur auf unser Tun. Das Alter ertragen ist keine Tätigkeit. Wachsen, reifen, altern, sterben – die Vergänglichkeit der Zeit ist kein Verhängnis.«122 Aber somästhetische Aufmerksamkeit zu kultivieren, um die eigenen Alterungsvorgänge zu erkennen und zu beobachten, ist keine somatische subjektivität, somatische unterwerfung | 159

passive Unvermeidlichkeit, sondern vielmehr ein aktives Projekt kognitiven Suchens und Erprobens. Das gilt auch für das disziplinierte Verfolgen eines klugen, geschickten und gesunden Alterns, auch wenn es, wie andere Projekte, dem Scheitern ausgesetzt sein kann. »Wollen wir vermeiden, dass das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird«, so Beauvoir, »so gibt es nur eine einzige Lösung […]: das hingebungsvolle Tätigsein für Einzelne, für Gruppen oder für eine Sache, Sozialarbeit, politische, geistige oder schöpferische Arbeit«. Daher benötigen wir »Leidenschaften«, die stark genug sind, um solche Projekte verfolgen zu können, und »die es uns ersparen, dass wir uns nur mit uns selbst beschäftigen«.123 Solch ein innerliches Drehen um sich selbst sei die Sünde der Immanenz, eines erstickenden, isolierten Rückzugs aus der Welt. Doch auch hier gilt: Da somatische Selbstreflexion immer den umgebenden Kontext einschließt, der wesentlich größer ist als das Selbst, liegt das Problem autistischer Isolation nicht in der somästhetischen Selbstkultivierung per se, sondern in der fehlenden Anerkennung der Tatsache, wie sehr das Selbst von dem es umgebenden Kontext abhängig ist und die Umgebung verkörpert, die es gestaltet. Davon abgesehen erfordert die wahre Fähigkeit zu »starken Leidenschaften« für bedeutende Projekte einen entsprechenden »biologischen Zustand«, nämlich Energie oder Stärke.124 Das heißt, mit höherem Alter ist man zunehmend angewiesen auf somatische Selbstkultivierung und Selbstsorge, um die entsprechende Kraft auch zu erhalten. Selbst wenn die Sicherung persönlicher somatischer Gesundheit bloß ein Mittel zu viel hehreren Zielen jenseits der Person darstellt, bleibt sie durch ihre Zweckdienlichkeit ein lohnendes Projekt. Das Ernstnehmen dieser Instrumentalität, weil man die Ziele hochschätzt, denen sie dient, ist ein Schlüsselprinzip des Pragmatismus. Doch bevor wir uns dem verkörperten Pragmatismus von William James und John Dewey zuwenden, widmen wir das folgende Kapitel der somatischen Theorie Ludwig Wittgensteins, dessen enorm einflussreiche Arbeit auf dem Feld der analytischen Philosophie des Geistes auch eine faszinierende Untersuchung der Rolle körperlicher Gefühle enthält.

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Kapitel 4

Wittgensteins Somästhetik Erklärung und Verbesserung einer Philosophie des Geistes, der Kunst und der Politik I.

In seinen Vermischten Bemerkungen spricht Wittgenstein im Rahmen einer politischen Diskussion über Nationalismus, Antisemitismus, Macht und Armut über ein »ästhetische[s] Gefühl für seinen Körper«.1 Aufgrund meines Interesses an Somästhetik als einer Disziplin, die sich mit der Ästhetik körperlicher Gefühle befasst, bin ich auf diesen Satz natürlich aufmerksam geworden. Aber Wittgensteins Bemerkung macht mich vor allem deswegen neugierig, weil seine Philosophie dafür bekannt ist, dass sie es ablehnt, körperlichen Empfindungen für die Erklärung von philosophischen Schlüsselbegriffen einen zentralen Stellenwert einzuräumen, für die diese Empfindungen oftmals herangezogen werden: Begriffe der Handlung, der Emotion, des Willens und des ästhetischen Urteils. Wittgenstein ist der Ansicht, dass die Philosophie diese Begriffe als primitive Erklärungen für die Komplexität des geistigen Lebens erfindet. »Wenn wir philosophieren, möchten wir Gefühle hypostasieren, wo keine sind. Sie dienen dazu, uns unsere Gedanken zu erklären. ›Hier verlangt die Erklärung unseres Denkens ein Gefühl!‹ Es ist, als ob unsre Überzeugung auf diese Forderung hin ihr nachkäme.«2 Im Unterschied zu traditionellen Theorien, die Gefühle und Empfindungen (seien es körperliche oder vermeintlich rein geistige) für die Erklärung von Ursache und Bedeutung unserer psychologischen und ästhetischen Begriffe heranziehen, argumentiert Wittgenstein dafür, solche komplexen Begriffe eher über ihren Gebrauch zu verstehen. Sie wurzeln in den sedimentierten sozialen Praxen oder übereinstimmenden Lebensformen einer Gemeinschaft von Sprechern und finden dort ihren Ausdruck. »Die Praxis gibt den Worten ihren Sinn«,3 und diese Praxis beinhaltet eine »Übereinstimmung […] der Lebensform«.4 Weil Wittgenstein gegen Theorien der Empfindung und gegen den Psychologismus im Feld geistiger Begriffe und ästhetischer Ur| 161

teile schlagkräftige Argumente ins Feld führt, besteht die Tendenz oder die Versuchung, daraus zu folgern, er halte körperliche Empfindungen für kognitiv unbedeutend und weiterer philosophischer Aufmerksamkeit nicht wert. In diesem Kapitel plädiere ich dafür, dieser Versuchung zu widerstehen. Trotz seiner vernichtenden Kritik an der Theorie der Empfindung erkennt Wittgenstein die Wichtigkeit somästhetischer Gefühle in so unterschiedlichen Feldern wie der Philosophie des Geistes, der Ästhetik, der Ethik und der Politik an. Dass solche Gefühle keine angemessene Analyse unserer Begriffe ermöglichen, bedeutet nicht, dass ihnen kein anderer kognitiver Wert zukommt und sie deshalb irrelevant für die Philosophie sind. Wir könnten versucht sein, diese Schlussfolgerung zu ziehen, wenn wir Philosophie auf verengte Weise mit Begriffsanalyse gleichsetzten. Wie Wittgenstein bin ich jedoch anderer Ansicht. Philosophie hat eine viel weitere Bedeutung: Sie betrifft, was Wittgenstein »das Problem des Lebens« genannt hat, sowie die selbstkritische Aufgabe, das Selbst zu verbessern: »Die Arbeit an der Philosophie ist – wie vielfach die Arbeit in der Architektur – eigentlich mehr die Arbeit an Einem selbst.«5 Wenn Philosophie die Aufgabe der Selbstverbesserung und der Selbsterkenntnis (die, wie es scheint, eine Voraussetzung für Selbstverbesserung ist) umfasst, dann sollten wir somästhetischen Wahrnehmungen, also ausdrücklich bewussten Körperempfindungen, eine wichtige Rolle einräumen. Dieses Kapitel untersucht die verschiedenen Wege, auf denen Wittgenstein somästhetischen Gefühlen eine positive Rolle zuerkennt, und es zeigt über Wittgenstein hinaus, wie solche Gefühle umfassender und wirkungsvoller eingesetzt werden können. Um diese positiven Gebrauchsweisen richtig zu verstehen, müssen wir sie von Wittgensteins scharfer Kritik am Sinn und Zweck somatischer Empfindungen für die Erklärung zentraler Begriffe der Ästhetik, der Politik und der Philosophie des Geistes abgrenzen. Zunächst jedoch ist es nötig, zu erklären, wie in diesen verschiedenen philosophischen Disziplinen Grundbegriffe und -probleme aufs engste zusammenhängen. Die moderne Logik der Professionalisierung und Spezialisierung unterstützt die Tendenz, Ästhetik, Politik und Philosophie des Geistes voneinander zu trennen und auf diese Weise deren grundlegende Verbindung mit der philosophischen Suche nach einem besseren Leben und Denken 162 | kapitel 4

zu verschleiern – ein Zusammenhang, der in der Antike bejaht und wirkungsvoll kultiviert wurde. Um zu verstehen, wie stark Ästhetik und Philosophie des Geistes einst mit der politischen Theorie verbunden waren, müssen wir uns nur den paradigmatischen Text in Erinnerung rufen, der die politische Philosophie weitgehend etabliert hat und sie auch heute noch mitbestimmt – Platons Dialog Politeia, einer der meistgelesenen Texte der Philosophie, dem zudem in der Spätantike der Untertitel »Über Gerechtigkeit« hinzugefügt wurde. In diesem grundlegenden Werk vertritt Sokrates die Auffassung, dass Gerechtigkeit vor allem eine Tugend sei, also eher eine besondere psychologische Errungenschaft und Disposition als bloßes Ergebnis eines äußerlichen Sozialvertrags (wie seine Gesprächspartner im Dialog gegen ihn argumentieren). Ein Großteil des Staates ist deshalb der Philosophie des Geistes gewidmet und analysiert die elementaren Fähigkeiten, Bedürfnisse und Begehren der Seele, um herauszufinden, ob die psychologischen Grundlagen der politischen Theorie des Sokrates oder diejenigen seiner Gegner korrekt sind. Sokrates zeigt, dass Gerechtigkeit als eine geistige Tugend vor allem in der Herrschaft der richtigen Ordnung in der menschlichen Seele besteht, und projiziert seine Sicht anschließend auf die öffentliche Ordnung des Staates: Ein Staat ist dann gerecht, wenn unter den verschiedenen Arten seiner Bürger die richtige Ordnung herrscht, wobei jede Gruppe das tut, was sie am besten kann, und somit zum Wohl der ganzen Gemeinschaft beiträgt. Den Philosophen fällt dabei die höchste Aufgabe zu, nämlich die Regierung zu lenken, indem sie die Herrscherklasse der Wächter erziehen. Um jedoch zu erreichen, dass die Wächter richtig erzogen werden, und, verallgemeinert, sicherzustellen, dass in der Seele die richtige Ordnung herrscht, die im Individuum die Tugend der Gerechtigkeit begründet, drängt Sokrates darauf, dass wir uns ästhetischen Fragen zuwenden. Nicht nur unser Verstand, auch unsere Gefühle und unserer Begehren müssen erzogen werden, um die richtige Ordnung anzuerkennen und zu schätzen, damit wir diese Ordnung begehren und lieben. Die Harmonien des Schönen sind deshalb ein entscheidendes Instrument in einer solchen Erziehung. Umgekehrt findet sich das Motiv für Platons Verurteilung der Kunst auf ähnliche Weise in seiner Moralpsychologie und politischen Theorie. Kunst ist wittgensteins somästhetik | 163

ihm zufolge nicht nur deshalb politisch gefährlich, weil sie uns mit falschen Vorspiegelungen der Wirklichkeit beliefert, sondern auch weil sie die niederen Teile der Seele anspricht und diejenigen unbeherrschten Emotionen hervorruft, welche die richtige Ordnung in der Seele des Individuums und in der Polis ganz allgemein stören. Dieser integrale Zusammenhang zwischen Ästhetik, Politik und Philosophie des Geistes wird von Friedrich Schiller wieder aufgegriffen. Ihm zufolge stellt die Kunst den notwendigen Schlüssel zur Verbesserung der seelischen und der politischen Ordnung dar. In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen, geschrieben nachdem die Französische Revolution in die Herrschaft des Terrors umgeschlagen war, wirft Schiller folgendes Dilemma auf: Eine gerechte Gesellschaft bedarf der »Veredelung des Charakters«, um mehr tugendhafte Menschen hervorzubringen – doch wie kann der Charakter veredelt werden, ohne dass wir uns zur tugendhaften Erziehung bereits auf eine gerechte politische Gesellschaft stützen? Schillers berühmte Antwort auf dieses Dilemma ist die »ästhetische Erziehung«; das »Werkzeug ist die schöne Kunst«, deren Vorbilder von Schönheit und Perfektion unseren Charakter inspirieren und erhöhen. Der erzieherische Wert der Kunst für die Entfaltung von Tugend und Gerechtigkeit wird wiederum mit der menschlichen Psychologie erklärt. Wenn der Geist des Menschen zwischen einem weltlichen und sinnlichen Stofftrieb und einem intellektuellen und transzendentalen Formtrieb hin- und her gerissen ist, dann stellt der Ausdruck eines vermittelnden Spieltriebs in der Kunst eine entscheidende versöhnende Kraft dar, da in diesem Trieb »beyde verbunden wirken«. »Der Geschmack allein bringt Harmonie in die Gesellschaft, weil er Harmonie in dem Individuum stiftet […] nur die schöne Mittheilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht.«6 Den gleichen Zusammenhang von Moralpsychologie, Ästhetik und Politik kann man auch bei späteren Denkern wie Dewey und Adorno feststellen. Darüber hinaus bildet er den Kern der chinesischen philosophischen Tradition.7 Aber ich denke, dass die Verbindung zwischen diesen Disziplinen hinreichend klar geworden ist, um mich dem Thema körperlicher Empfindungen in Wittgensteins Ästhetik und Philosophie des Geistes sowie deren Rolle in seinem ethischen und politischen Denken zuwenden zu können. 164 | kapitel 4

Da Wittgenstein die Sichtweise ablehnt, dass körperliche Gefühle die Bedeutung unserer zentralen geistigen und ästhetischen Begriffe erklären können, möchte ich mit seiner Kritik dieser Ansicht beginnen, bevor ich mich den positiven Funktionen zuwende, die er körperlichen Gefühlen zugesteht.

II.

Bei seiner Kritik des Bezugs auf körperliche Empfindungen bei der Erklärung grundlegender Begriffe des Geistigen wie Gefühl und Wille ist Wittgensteins primäres Angriffsziel der pragmatistische Philosoph William James. James beeinflusste Wittgenstein stärker als die anderen klassischen Pragmatisten, und wir wissen, dass Wittgenstein James’ Ansichten über religiöse Fragen sehr schätzte.8 Hier jedoch verwendet Wittgenstein die der Jamesschen Psychologie zugrundeliegende Theorie der körperlichen Empfindung als negative Folie, um seine eigenen Theorien zu entwickeln. James ist bekannt für seine körperliche Erklärung von Emotionen: Nicht nur seien die »allgemeinen Ursachen der Emotionen ohne Zweifel physiologisch«, die Emotionen selbst würden mit den Empfindungen, die wir bei diesen physiologischen Erregungen haben, identifiziert. Wenn wir etwas Aufregendes wahrnehmen, ist es so, »dass die körperlichen Veränderungen direkt auf die Wahrnehmung der erregenden Tatsache folgen und dass das Bewusstsein vom Eintritt eben dieser auftretenden Veränderungen die Gemütsbewegung [emotion] IST […] Wir sind traurig, weil wir weinen, zornig, weil wir zuschlagen, erschrocken, weil wir zittern, statt zu sagen: Wir weinen, schlagen zu oder zittern, weil wir traurig, zornig oder erschrocken sind. Ohne die körperlichen Zustände, die auf die Wahrnehmung folgen, würde die letztere rein intellektuellen Charakter besitzen, sie würde blass, farblos und aller emotionalen Wärme bar sein.«9 Wenn James Emotionen einseitig mit körperlichen Sinneseindrücken gleichsetzt,10 dann besteht Wittgensteins Antwort in einer emphatischen Zurückweisung dieser Gleichsetzung, indem er darauf beharrt, dass Emotionen keine (körperlichen) »Sinnesempfindungen« sind, da sie weder lokalisiert noch diffus sind und immer ein Objekt haben (das sich von einer körperlichen Ursache unterwittgensteins somästhetik | 165

scheidet). Emotionen sind »in der Seele«, »drücken sich in Gedanken aus« und werden im Denken erfahren und von diesem geweckt, nicht von »Körperschmerzen«. Im Gegensatz zu James möchte Wittgenstein »fast« sagen: »Man fühlt die Trauer so wenig im Körper, wie das Sehen im Auge.«11 Meine Angst vor der Dunkelheit mag sich manchmal in dem Bewusstsein manifestieren, dass mein Atem flacher wird und ich die Zähne zusammenbeiße, aber manchmal mag sie sich auch nicht auf diese Art manifestieren. Selbst wenn solche körperlichen Empfindungen immer präsent sind, bedeutet das nicht, dass sie die Ursache oder das Objekt meiner Angst sind. Ich habe keine Angst vor meinem flachen Atem oder dem Zusammenziehen meiner Muskeln, sondern vor der Dunkelheit. »Wenn die Angst furchtbar ist, und wenn ich in ihr mir meiner Atmung bewusst bin und einer Spannung in meinen Gesichtsmuskeln, – sagt das, dass diese Gefühle mir furchtbar sind? Könnten sie nicht sogar eine Linderung bedeuten?«12 Wittgenstein hat sicherlich recht damit, dass unsere Emotionen nicht auf körperliche Gefühle oder bloße Sinneseindrücke reduziert werden können; Emotionen bringen vielmehr einen ganzen Verhaltenskontext und einen Hintergrund von Sprachspielen mit sich, eine ganze Lebensform, in der die Emotionen eine Rolle spielen. Auch körperliche Gefühle können Wittgenstein zufolge nicht den Willen erklären. Wieder ist James Ziel der Kritik. Im Kapitel über den Willen in den Principles of Psychology behauptet James, dass unsere willkürlichen Bewegungen auf primären körperlichen Funktionen beruhen und von »kinästhetischen Empfindungen« unseres propriozeptiven Systems geleitet werden, die sich zu einer »kinästhetischen Vorstellung« oder einem »Erinnerungsbild« sedimentiert haben: »ob nun zu dem Zeitpunkt, an dem wir bewusst eine bestimmte Handlung wollen, irgendetwas anderes im Geist ist oder nicht – eine aus den Erinnerungsbildern dieser Empfindungen bestehende geistige Vorstellung, die definiert, welches die besondere Handlung ist, muss da sein.« James besteht darauf, dass »nichts anderes vorkommen muss, dass in höchst einfachen freiwilligen Handlungen nichts anderes im Geist vorkommt als die so definierte kinästhetische Idee dessen, was die Handlung sein soll«.13 Obwohl James’ kinästhetische Theorie als »inflationär« kritisiert werden könnte, da sie die Notwendigkeit eines besonderen bewuss166 | kapitel 4

ten Gefühls annimmt, das jeden Willensakt erklären und begleiten soll, beabsichtigte er in Wirklichkeit seine Theorie als eine deflationäre Herausforderung, die er noch aufgeblaseneren Erklärungen des Willens von Wissenschaftlern und Philosophen wie Wundt, Helmholtz und Mach entgegensetzt. Zusätzlich zu den kinästhetischen Gefühlen nahmen diese die Existenz eines besonderen aktiven »Gefühls der Innervation« an, das »den besonderen Energiestrom begleitet, der während der Handlung vom Gehirn in die entsprechenden Muskeln fließt«, während James annahm, dass die passiveren »kinästhetischen Bilder«, die er beschrieb, ausreichten, um Handlungen auszulösen.14 Obwohl ich James’ Bemühungen um theoretische Schlankheit schätze, ziehe ich es vor, noch einen Schritt weiter zu gehen, und unterstütze Wittgensteins Behauptung, dass kinästhetische Ideen oder andere bewusste körperliche Empfindungen weder eine notwendige noch eine hinreichende Ursache für willkürliches Handeln darstellen oder den Willen adäquat erklären können. Erinnern wir uns an Wittgensteins berühmte Formulierung des Problems in den Philosophischen Untersuchungen (die sich deutlich auf James bezieht): »[W]as ist das, was übrigbleibt, wenn ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe, daß mein Arm sich hebt? ((Sind nun die kinaesthetischen Empfindungen mein Wollen?)) […] Wenn ich meinen Arm hebe, versuche ich meistens nicht, ihn zu heben«.15 Willkürliches Handeln umfasst normalerweise weder eine bewusste Anstrengung des »Versuchens« noch eine ihr verwandte bewusste kinästhetische Empfindung des »Wollens«, sei sie nun eine gegenwärtige oder eine erinnerte. Die meisten willkürlichen Handlungen werden spontan oder automatisch durch unsere Intentionen hervorgerufen, ohne dass dabei körperliche Empfindungen oder Prozesse, die bei der Initiierung der Handlung stattfinden könnten, beachtet werden. »Das Schreiben ist gewiss eine willkürliche Bewegung, und doch eine automatische. Und von einem Fühlen jeder Schreibbewegung ist natürlich nicht die Rede. Man fühlt etwas, aber könnte das Gefühl unmöglich zergliedern. Die Hand schreibt; sie schreibt nicht, weil man will, sondern man will, was sie schreibt. – Man sieht ihr nicht erstaunt oder mit Interesse beim Schreiben zu; denkt nicht ›Was wird sie nun schreiben?‹«16 Wittgenstein fügt dem sogar hinzu, dass eine solche Aufmerksamkeit gegenüber den eigewittgensteins somästhetik | 167

nen Bewegungen und Empfindungen die reibungslose Ausführung der gewollten Handlung behindern kann, dass »Selbstbeobachtung mein Handeln, meine Bewegungen, unsicher macht«.17 Wie schon die Emotionen, sind daher auch willentliche Handlungen nicht mit bestimmten kinästhetischen Empfindungen, die sie teilweise begleiten können, identifizierbar oder durch diese erklärbar. Willkürliches Handeln kann, wie die Emotionen, nur unter Beachtung des gesamten Lebenskontextes, der Ziele und Praktiken, des »ganze[n] Gewimmel[s] der menschlichen Handlungen, de[s] Hintergrund[s], worauf wir jede Handlung sehen«, erklärt werden. »Willkürlich sind gewisse Bewegungen mit ihrer normalen Umgebung von Absicht, Lernen, Versuchen, Handeln«.18 Auch auf einem dritten wichtigen Gebiet stellt Wittgenstein den Bezug auf körperliche Empfindungen zum Verständnis der Grundbegriffe unseres geistigen Lebens infrage: Dies betrifft den Begriff des Selbst und des Wissens um den Zustand und die Position des eigenen Körpers. Wieder einmal ist James das ausdrückliche Angriffsziel. Er wird wegen seiner Identifikation des Selbst mit grundlegenden somatischen Empfindungen, die durch Introspektion zugänglich sind, kritisiert, d. h. wegen der Ansicht, »das ›Selbst‹ bestehe hauptsächlich aus ›peculiar motions in the head and between the head and throat‹«.19 Leider handelt es sich hierbei um eine nicht eben wohlwollende Verzerrung von James’ Begriff des Selbst, der tatsächlich eine ganze Reihe von Dimensionen umfasst – Körperteile, Kleidung, Eigentum und verschiedene soziale Beziehungen, die unser materielles und soziales Selbst konstituieren, bis hin zu den verschiedenen geistigen Fähigkeiten des sogenannten »geistigen Selbst«.20 Was James mit Bezug auf körperliche Empfindungen im Kopf (deren er sich durch seine persönliche Introspektion versicherte) beschreibt, ist nur ein, wenn auch zugegebenermaßen der grundlegende Teil des Selbst, das er als »das zentrale aktive Selbst«, »das Kern-Selbst« oder das »Selbst der Selbste« bezeichnet. Der vollständige Begriff des Geistes ist, wie Wittgenstein und James bemerken, nicht auf irgendwelche grundlegenden Sinneseindrücke im Kopf oder anderswo reduzierbar. Man braucht den gesamten Hintergrund des sozialen Lebens und sozialer Praktiken, um ihn zu definieren. Meistens sind uns, wie James selbst feststellt, diese »Kopfgefühle« überhaupt nicht bewusst, da sie typischerweise »von 168 | kapitel 4

der größeren Masse [derjenigen Dinge] verschluckt werden«, die mehr bewusste Aufmerksamkeit erfordern als diese primitiven Hintergrundbewegungen des Selbst21 – dennoch sind wir deshalb meistens nicht unserer selbst und dessen, was wir sind und tun, unbewusst. Was dies betrifft, drückt sich Wittgenstein jedoch bei weitem klarer aus als James und vermeidet klugerweise die Annahme eines Kern-Selbst, das mit bestimmten Sinnesempfindungen im Kopf identifiziert wird oder werden kann, denn solche »HomunkulusTheorien« können schnell zu essentialistischen Verirrungen verleiten. Das Selbst besteht aus viel mehr als dem Kopf, und selbst das geistige Leben breitet sich weit über die Sinnesempfindungen im Kopf hinaus aus.22 Darüber hinaus betont Wittgenstein emphatisch (ähnlich wie Merleau-Ponty), dass unser Wissen um die Position unseres Körpers keine besondere Aufmerksamkeit für die spezifischen somästhetischen Empfindungen unserer Körperteile erfordert, von denen wir dann Lage und Orientierung unseres Körpers und seiner Glieder ableiten würden. Ganz im Gegenteil haben wir ein unmittelbares Bewusstsein unserer körperlichen Position: »Die Lage der Glieder und ihrer Bewegungen weiß man [… ohne ein] lokales Merkmal an der Empfindung«.23 Beim Ausführen alltäglicher Tätigkeiten, wie sich zu waschen, zu essen, Treppen zu steigen, Fahrrad oder Auto zu fahren, müssen wir normalerweise nicht die spezifischen Empfindungen unserer Körperteile konsultieren, um dann die zur Ausführung der Handlung erforderlichen Bewegungen zu berechnen (etwa, welche Körperteile in welcher Richtung bis wohin wie schnell mit welcher Gelenkfügung und Muskelkontraktion bewegt werden müssen).24 Wittgenstein widerlegt die These, dass »[m]eine kinästhetischen Empfindungen […] mich über die Bewegungen und Lagen meiner Glieder [belehren]«,25 indem er selbst eine somästhetische Introspektion vornimmt: »Ich lasse meinen Zeigefinger eine leichte pendelnde Bewegung mit kleinem Ausschlag machen. Ich spüre sie kaum, oder gar nicht. Vielleicht ein wenig in der Fingerspitze als ein leichtes Spannen. (Gar nicht im Gelenk.) Und diese Empfindung belehrt mich über die Bewegung? – denn ich kann die Bewegung genau beschreiben. ›Du mußt sie eben doch fühlen, sonst wüßtest Du nicht (ohne zu wittgensteins somästhetik | 169

schauen), wie sich dein Finger bewegt.‹ Aber, es ›wissen‹, heißt nur: es beschreiben können. – Ich mag die Richtung, aus der ein Schall kommt, nur angeben können, weil er das eine Ohr stärker affiziert als das andere; aber das spüre ich nicht in den Ohren; es bewirkt aber: ich ›weiß‹, aus welcher Richtung der Schall kommt; ich blicke z. B. in diese Richtung. So geht es auch mit den Ideen, daß ein Merkmal der Schmerzempfindung uns über ihren Ort am Körper belehren muß, und ein Merkmal des Erinnerungsbildes über die Zeit, in die es fällt.«26

Kurz gesagt, unser Wissen von der Lage und den Bewegungen unseres Körpers ist typischerweise unmittelbar und nicht reflektiert. Es wird nicht immer von bewussten kinästhetischen Empfindungen begleitet; ebenso wenig wird es gewöhnlich von solchen Gefühlen, wenn sie denn präsent sind, abgeleitet. Auch setzen erfolgreiche Willenshandlungen keineswegs die Vermittlung von Aufmerksamkeit und somästhetischen Empfindungen voraus. Solche Gefühle können in vielen Erfahrungen unseres Willens, unserer Emotionen und unseres Selbst fehlen. Deswegen liegt es nahe, anzunehmen, dass ihnen keine Bedeutung für diese Fragen der Philosophie des Geistes zukommt und dass ein behavioristischer Skeptizismus mit Bezug auf ihre Funktion in unserem geistigen Leben angemessener ist. Das aber wäre selbst aus Wittgensteins Perspektive ein Fehler. Solche Gefühle bleiben, trotz ihrer Unzulänglichkeit bei der Erklärung geistiger Begriffe, ein realer Bestandteil der Phänomenologie des geistigen Lebens, welche die Philosophie beschreiben sollte. Kinästhetische Empfindungen sind nicht rein hypothetische Substanzen wie das Phlogiston, sondern Elemente unserer Erfahrung, die angemessen oder unangemessen beschrieben werden können. »Wir fühlen unsere Bewegungen. Ja, wir fühlen sie wirklich; die Empfindung ist nicht ähnlich einer Geschmacksempfindung, oder einer Hitzeempfindung, sondern einer Tastempfindung: der Empfindung, wenn Haut und Muskeln gedrückt, gezogen, verschoben werden.« Auch die Position unserer Glieder können wir, obwohl dies nicht immer der Fall sein muss, durch ein bestimmtes »Körpergefühl« empfinden, wie etwa »das ›Körpergefühl‹ des Arms [… in der und der] Lage«.27 Tatsächlich können wir unter bestimmten Umständen sogar durch die Vermittlung unserer Empfindungen etwas über Be170 | kapitel 4

wegungen und Lage in Erfahrung bringen, wie etwa wenn uns die Empfindung einer Spannung im Nacken darüber informiert, dass wir unsere Schulter hochgezogen haben. Obwohl Wittgenstein zu Recht betont, dass wir gewöhnlich solche somästhetischen Hinweise für das Wissen über unsere körperliche Position weder benötigen noch gebrauchen, erkennt er an, dass sie gelegentlich solches Wissen bereitstellen können, und er selbst gibt ein bezeichnend »schmerzhaftes« Beispiel: »Eine Empfindung kann uns über die Bewegung, oder Lage eines Gliedes belehren. (Wer z. B. nicht, wie der Normale, wüsste, ob sein Arm gestreckt sei, den könnte ein stechender Schmerz im Ellbogen davon überzeugen.) – Und so kann auch der Charakter eines Schmerzes uns über den Sitz der Verletzung belehren«.28 Ich möchte noch weitergehen, indem ich betone, dass Aufmerksamkeit für somästhetische Empfindungen uns manchmal in gleicher Weise nützliche Informationen über unsere Emotionen und unseren Willen liefern kann. Dass eine Person verärgert, beunruhigt, besorgt, verängstigt usw. sein kann, bevor sie sich dessen bewusst ist, ist allgemein bekannt. Oft jedoch wird sie sich dessen bewusst, wenn jemand anderes ihre Bewegungen, Gesten, ihre Atmung und den Klang ihrer Stimme bemerkt und fragt, ob sie denn etwas beunruhige. Der Behaviorismus findet in diesem Phänomen Unterstützung für die Annahme, dass unsere Emotionen nicht durch unsere bewussten Gefühle definiert sind und dass Introspektion nicht die wahre Richterin über unseren emotionalen Zustand sein kann. »Externe« Beobachter können uns über einen emotionalen Zustand informieren, dessen wir uns noch nicht voll bewusst waren. Wir sollten uns jedoch klar machen, dass auch die introspektive Aufmerksamkeit unseren somästhetischen Empfindungen gegenüber (Atemnot, Zusammenpressen der Kiefer) uns solche Beobachtungen liefern kann. In bestimmten Situationen, in denen ich anfangs meiner Angst oder Furcht oder des Objekts derselben nicht bewusst bin, kann ich bemerken, dass ich Angst oder Furcht habe, indem ich auf meinen flachen und schnellen Atem sowie die angespannten Nacken-, Schulter- und Beckenmuskeln achte. Natürlich nimmt bei unterschiedlichen Menschen die Muskelkontraktion und die Veränderung des Atems unterschiedliche Formen an, wenn sie emotionalem wittgensteins somästhetik | 171

Stress ausgesetzt sind. Aber das spricht nicht gegen die Tatsache, dass ein Individuum sein eigenes Muster kennen und aus ihm ableiten kann, dass es sich in einem angespannten emotionalen Zustand befindet (und oftmals, um was für einen Zustand es sich handelt), sogar bevor es sich dessen bewusst ist, dass der Zustand sich auf ein bestimmtes Objekt bezieht – das, worüber es sich jeweils ärgert oder vor dem es sich fürchtet und Angst hat. Wittgenstein selbst räumt ein: »Mein Benehmen ist eben manchmal Gegenstand meiner Beobachtung, aber doch selten«.29 Somästhetische Empfindungen statten uns mit Hilfsmitteln für solche Selbstbeobachtung aus, durch die wir das klassische Ziel der Philosophie, die Selbsterkenntnis, besser erreichen können. Natürlich bedarf es in den meisten Fällen einer anhaltenden Anstrengung des Trainings und der Praxis, bis man die eigenen somästhetischen Zeichen richtig lesen kann, aber somatische Disziplinen wie die Feldenkrais-Methode oder Yoga können ein solches Training darstellen. Die Funktion somatischer Empfindungen und Disziplin reicht noch weiter, wenn wir uns klarmachen, dass Aufmerksamkeit ihnen gegenüber uns nicht nur Wissen über unsere emotionalen Zustände verschafft, sondern wir dank dieses Wissens auch besser mit ihnen umgehen können. Sind die Emotionen einmal im Bewusstsein thematisiert, können wir eine kritische Distanz zu ihnen einnehmen und sie dadurch besser verstehen und mit größerer Beherrschung handhaben (was nicht mit schärferer Repression zu verwechseln ist). Auch können wir unsere Emotionen direkt beeinflussen, indem wir durch das bewusste Ausüben somästhetischer Kontrolle unsere körperlichen Empfindungen verändern, da unsere Emotionen (zumindest empirisch) eng mit bestimmten körperlichen Zuständen und Empfindungen verbunden sind. Wir können unseren Atem regulieren, so dass er tiefer und langsamer wird, ebenso wie wir lernen können, unsere Muskeln zu entspannen, deren Anspannung dank einer konditionierten Verbindung mit Zuständen der Nervosität diese verstärkt. Diese Strategien sind von älteren Meditationspraktiken her bekannt, werden aber auch in moderneren Methoden des Stressmanagements eingesetzt. Auch ein wirkungsvolles Verstehen des Willens und des willkürlichen Handelns kann durch disziplinierte Aufmerksamkeit unseren somästhetischen Empfindungen gegenüber befördert werden. 172 | kapitel 4

Erfolgreiches willkürliches Handeln hängt von körperlicher Wirksamkeit ab, die wiederum auf genauer somästhetischer Wahrnehmung beruht. Rufen wir uns das Beispiel der sich abmühenden Golfspielerin aus dem ersten Kapitel ins Gedächtnis. Sie mag das brennende Bedürfnis haben, willentlich ihren Kopf unten und die Augen auf dem Ball zu halten, wenn sie einen Abschlag macht, um den Ball richtig zu treffen, und dennoch stets ihren Kopf heben und den Ball verfehlen. Sie wird nicht einmal bemerken, dass sie den Kopf hebt, und kann das Problem deshalb auch nicht korrigieren, weil sie dem, was sie von ihrer Kopf- und Augenbewegung fühlen könnte, wäre sie somästhetisch geschickter und disziplinierter, nicht genügend Aufmerksamkeit schenkt. Diese Golfspielerin hebt ihren Kopf gegen ihren Willen, obwohl sie von niemandem gezwungen wird, ihn zu heben und es auch keinen angeborenen Instinkt oder physiologischen Zwang gibt, der sie dazu bringt, ihn zu heben. Es ist nur der Zwang unbewusster schlechter Gewohnheiten, die in ihrer Unerkanntheit durch fehlendes somatisches Selbstbewusstsein weiter verstärkt werden, das F. M. Alexander als »verdorbene kinästhetische Systeme« mit fehlerhafter »Sinneseinschätzung« beschreibt.30 Diese Unfähigkeit, das zu tun, was sie tun will und wozu sie körperlich in der Lage wäre, könnte überwunden werden, wenn sie – durch höhere Aufmerksamkeit für somästhetische Empfindungen der Propriozeption und Kinästhesie – ein besseres Verständnis ihrer Körperhaltung und ihrer Körperbewegungen entwickelt hätte. Die gleiche Ohnmacht des Willens wird im Fall des Schlaflosen deutlich, der sich entspannen möchte, dessen Anstrengungen den angespannten Zustand aber nur verschlimmern, da er nicht weiß, wie er seine Muskeln und seinen Atem entspannen soll, weil er nicht fühlen kann, wie angespannt sie sind. Aber lenkt eine solche Aufmerksamkeit gegenüber den körperlichen Empfindungen die Golfspielerin nicht vom richtigen Treffen des Balles und den Schlaflosen von der wirklichen Entspannung ab? Die Erfahrung zeigt (in Verbindung mit dem richtigen Training), dass das Gegenteil der Fall ist.31 Außerdem muss somästhetische Aufmerksamkeit nicht dauerhaft von anderen Zielen ablenken (und sollte es auch gar nicht). Sobald man nämlich den Empfindungen fehlerhafter Körperbewegungen gegenüber aufmerksam ist, können diese analysiert, korrigiert und durch die richtigen ersetzt werden, wittgensteins somästhetik | 173

die mit anderen somästhetischen Empfindungen verknüpft sind, sie können habitualisiert werden und sich in unreflektierte, aber intelligente Gewohnheiten verwandeln.32 Wenn Philosophie nicht nur die Erkenntnis des eigenen Geistes beinhaltet, sondern auch verbessernde Selbstbeherrschung (wovon Wittgenstein leidenschaftlich überzeugt war), dann sollte Aufmerksamkeit den somästhetischen Empfindungen gegenüber für die philosophische Aufgabe der »Arbeit am Selbst« wichtig sein. Diese Frage der Selbstbeherrschung ist für das Gebiet der Ethik zentral. Doch zunächst möchte ich mich der Ästhetik zuwenden, da Wittgenstein diese beiden Wertsphären eng miteinander verknüpfte und selbst so weit ging, das Streben nach dem guten Leben in vorrangig ästhetischen Begriffen zu verstehen.33

III.

Wie seine Philosophie des Geistes, so bietet auch Wittgensteins Ästhetik eine Kritik des auf Sinnesempfindungen gegründeten Psychologismus. Ästhetische Erklärungen sind nicht kausal und haben, wie die ästhetischen Urteile, die sie erklären, »nichts mit psychologischen Experimenten zu tun«.34 Ebenso wie Emotionen und andere geistige Zustände können ästhetische Urteile und Erfahrungen nicht durch die körperlichen Empfindungen des Künstlers oder des Publikums, »ihre organischen Gefühle […] – Anspannung der Brustmuskeln«,35 erklärt werden. Wir können ästhetische Erfahrungen und Urteile viel besser erklären, indem wir die jeweiligen Kunstwerke, die erfahren oder beurteilt werden, beschreiben sowie das Verhalten der Künstler und des Publikums, uns eingeschlossen. Auch Gesten stellen eine sehr wirkungsvolle Möglichkeit des Ausdrucks für unsere Erfahrung des Kunstwerks dar. Auf jeden Fall besteht unsere Wertschätzung der Kunst nicht in der Wertschätzung irgendeiner isolierbaren somatischen ›Empfindung‹, die wir durch die Kunst erfahren (ebenso wenig wie in der Wertschätzung von vom Kunstwerk unabhängigen Assoziationen). Andernfalls könnten wir uns vorstellen, das Interesse am Kunstwerk zu umgehen und uns mit Hilfe anderer Mittel (etwa einer Droge) die Empfindungen und Assoziationen direkt zu verschaffen. Wir kön174 | kapitel 4

nen jedoch unsere ästhetische Erfahrung im Fall der Kunst nicht vom Objekt der Erfahrung trennen; und dieses Objekt ist Kunst, nicht unsere somatische Empfindung. Zuletzt ist die Berufung auf »kinästhetische Empfindungen«, um ästhetische Urteile zu erklären, auch logisch unbefriedigend, denn diese Empfindungen können ohne Bezug auf das Kunstwerk selbst oder eine Reihe von Gesten, die sie ausdrücken, weder adäquat beschrieben noch individuiert werden. Für Wittgenstein scheint es im Fall ästhetischer Erfahrung keine bessere »Technik der Beschreibung kinästhetischer Empfindungen« zu geben als die unserer Gesten. Darüber hinaus behauptet er, dass, selbst wenn wir uns ein neues Beschreibungssystem »kinästhetischer Empfindungen« ausdenken würden, um zu bestimmen, welche als die »gleichen kinästhetischen Eindrücke« zählen würden, es schlicht unklar wäre, ob das Resultat mit unseren momentanen ästhetischen Urteilen und ihrem gestischen Ausdruck übereinstimmen würde.36 Dass somatische Gefühle weder das Objekt der noch die Erklärung für ästhetische Urteile und Erfahrungen sind, bedeutet jedoch nicht, dass solchen Empfindungen keine ästhetische Relevanz zukommt. Wie wir gesehen haben, schenkt Wittgenstein körperlichen Empfindungen durchaus Beachtung, und er erkennt ihren ästhetischen Wert auf verschiedene Weisen an. Erstens stellen sie den vermittelnden Bezugspunkt (wenn nicht das Objekt selbst) ästhetischer Befriedigungen dar, die wir aus der Erfahrung unserer Körper ziehen. Wittgenstein hebt »[d]ie liebliche Temperaturdifferenz der Teile eines menschlichen Körpers« hervor.37 Zweitens können uns kinästhetische Empfindungen zu einer größeren Fülle, Intensität und Präzision unserer Kunsterfahrung verhelfen, weil (zumindest für einige von uns) ästhetische Einbildungskraft und Aufmerksamkeit durch bestimmte körperliche Bewegungen erleichtert oder gesteigert werden, bei denen man das Gefühl hat, sie entsprächen dem Kunstwerk. Wittgenstein gibt sein eigenes Beispiel: »Wenn ich mir Musik vorstelle, was ich ja täglich und oft tue, so reibe ich dabei – ich glaube immer – meine oberen und unteren Vorderzähne rhythmisch an einander. Es ist mir schon früher aufgefallen, geschieht aber für gewöhnlich ganz unbewusst. Und zwar ist es, als würden die Töne meiner Vorstellung durch diese Bewewittgensteins somästhetik | 175

gung erzeugt. Ich glaube, dass diese Art, im Innern Musik zu hören, vielleicht sehr allgemein ist. Ich kann mir natürlich auch ohne die Bewegung meiner Zähne Musik vorstellen, die Töne sind aber dann viel schemenhafter, viel undeutlicher, weniger prägnant.«38

»Wenn die Kunst dazu dient, ›Gefühle zu erzeugen‹«, fragt Wittgenstein später, »ist, am Ende, ihre sinnliche Wahrnehmung auch unter diesen Gefühlen?«39 Diese kryptische, offensichtlich rhetorische Frage erinnert uns daran, dass ästhetische Wahrnehmung immer über Sinne des Körpers erfolgt, und man könnte sie als Hinweis auf einen körperlicheren und sinnlich aufmerksameren Gebrauch von Kunst verstehen. Anders ausgedrückt, wir können unser Verständnis von Kunst schärfen, indem wir den somästhetischen Empfindungen, die an der Wahrnehmung von Kunst beteiligt sind, größere Aufmerksamkeit schenken, statt künstlerische Empfindungen verengend mit gewöhnlichen Emotionen (wie Trauer, Freude, Melancholie, Reue) gleichzusetzen, was das Verständnis von Kunst oft zu einer Angelegenheit schwärmerischer, vager Romantik macht. Wittgensteins Bemerkung ist alles andere als klar, und meine Interpretation mag mehr oder anderes in sie hineinlesen, als er intendiert. Das Argument ist jedoch auch unabhängig von Wittgensteins Auffassung stichhaltig. Wenn eine erhöhte somästhetische Gegenwärtigkeit und Disziplin unsere Wahrnehmung generell verbessert, indem sie uns größere Kontrolle über die Sinnesorgane verschafft, mit denen wir wahrnehmen, kann sie uns ceteris paribus auch in ästhetischen Kontexten zu besserer Wahrnehmung verhelfen. Für Wittgenstein mag dem Körper eine ästhetische Funktion zukommen, die tiefer geht als jedes bewusste somästhetische Gefühl oder jeder somästhetische künstlerische Ausdruck. Wie für Merleau-Ponty stellt auch für Wittgenstein der Körper eine zentrale Instanz und ein Symbol dessen dar, was den entscheidenden, schweigenden, mysteriösen Hintergrund all dessen ausmacht, was in Sprache und Kunst ausgedrückt werden kann, die unreflektierte Quelle dessen, was bewusst im Denken oder in der Vorstellung begreifbar ist. »Das rein Körperliche kann unheimlich sein.« »Das Unaussprechbare (das, was mir geheimnisvoll erscheint und ich nicht auszusprechen vermag) gibt vielleicht den Hintergrund, auf 176 | kapitel 4

dem das, was ich aussprechen konnte, Bedeutung bekommt.«40 Die unaussprechliche Tiefe ihrer Bedeutung und ihre erhabene, mysteriöse Kraft bezieht die Musik aus der stummen Rolle des Körpers als kreativer Grund und intensivierender Hintergrund. Auf diese Weise kann eine Oberfläche vergänglicher Klänge in die Tiefe der menschlichen Erfahrung eindringen: »Die Musik scheint manchem eine primitive Kunst zu sein, mit ihren wenigen Tönen und Rhythmen. Aber einfach ist nur ihre Oberfläche [ihr Vordergrund], während der Körper, der die Deutung dieses manifesten Inhalts ermöglicht, die ganze unendliche Komplexität besitzt, die wir in dem Äußeren der anderen Künste angedeutet finden, und die die Musik verschweigt. Sie ist in gewissem Sinne die raffinierteste aller Künste«.41 Auch hier denke ich, dass Wittgensteins Anerkennung der entscheidenden Rolle des Körpers einen Schritt weiter in pragmatistischer Richtung geführt werden muss. Mehr als Gitarren, Geigen, Klaviere oder gar Trommeln sind unsere Körper das primäre Instrument zur Erzeugung von Musik. Und mehr als Platten, Radios, Kassetten oder CDs sind unsere Körper das elementare und unersetzliche Medium ihrer Wahrnehmung. Wenn unsere Körper das ultimative und notwendige Instrument für die Musik sind, wenn es möglich ist, den Körper – mit seinen Sinnen, Gefühlen und Bewegungen – in seiner ästhetischen Wahrnehmung, Empfänglichkeit und Leistung feiner zu stimmen, ist es dann nicht eine sinnvolle Idee, dieses »Instrument der Instrumente« zu erlernen und auf ihm zu üben, indem man den somästhetischen Empfindungen sorgfältigere Aufmerksamkeit schenkt? Der Wert solchen somästhetischen Trainings erstreckt sich (wie ich bereits in Philosophie als Lebenspraxis und in Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil zu zeigen versuche) weit über das Gebiet der schönen Künste hinaus und bereichert unsere Erkenntnis sowie unsere umfassende Lebenskunst. Durch eine verbesserte Wahrnehmung unserer körperlichen Empfindungen erlangen wir nicht nur größere Selbsterkenntnis, sie ermöglicht uns überdies größere somatische Gewandtheit, Mühelosigkeit und mehr Bewegungsspielraum, wodurch sich wiederum das Wahrnehmungsspektrum unserer Sinnesorgane in ihrer Aufgabe erweitert, uns mit Wissen über die Welt zu versorgen. Neben der Steigerung unserer eigenen Möglichkeiten, Lust zu erfahren, kann eine Verbesserung unsewittgensteins somästhetik | 177

rer somatischen Funktion und Aufmerksamkeit uns eine höhere Handlungsmacht im Vollzug tugendhafter Handlungen zugunsten anderer verleihen, da alles Handeln auf irgendeine Weise auf der Wirksamkeit unseres körperlichen Instruments beruht. Ich habe in diesem Kapitel weiter oben bemerkt, auf welche Weise die Ideen der richtigen geistigen Ordnung und der angemessenen ästhetischen Geschmackserziehung traditionell eine wichtige Rolle für Ethik und politische Philosophie gespielt haben. Wenn körperlichen Gefühlen ein wesentlicher Stellenwert in Wittgensteins Philosophie des Geistes und in seiner Ästhetik zukommt, spielen sie dann eine ähnliche Rolle in seinem ethischen und politischen Denken?

IV.

Wittgensteins Diskussion des Verhältnisses somatischer Gefühle zu Ethik und Politik ist stark begrenzt, lohnt aber, zur Kenntnis genommen zu werden. Erstens stellt das Gefühl für unseren Körper Wittgenstein zufolge die Grundlage und oft auch das Symbol unserer Vorstellungen davon dar, was es heißt, ein Mensch zu sein. »Der menschliche Körper ist das beste Bild der menschlichen Seele.«42 Unsere grundlegende existentielle Situation als verkörperte Wesen bedingt überdies, wie wir durch die Zwänge und Schwächen unseres sterblichen Fleisches eingeschränkt sind: »Wir sind in unserer Haut gefangen.«43 Aber das Gefühl für unseren Körper ist – wie die Griechen und selbst Idealisten wie Hegel erkannt haben – auch zentral für unseren Sinn für menschliche Würde, Integrität und Wert. Unsere Körper geben uns die Substanz und die Form, ohne die unser geistiges Leben nicht zu einem so vielfältigen, stabilen, nuancierten und erhabenen Ausdruck kommen würde. »Es ist beschämend, sich als leerer Schlauch zeigen zu müssen, der nur vom Geist aufgeblasen wird.«44 Unser ethischer Begriff der Menschenrechte, der Heiligkeit des Lebens, unsere höchsten Ideale moralischen Werts und philosophischer und ästhetischer Errungenschaften hängen alle, wie Wittgenstein argumentiert, von einer Lebensform ab, die voraussetzt, wie wir unsere Körper erfahren und andere sie behandeln. Nehmen wir die überraschend brutale Passage aus den Cambridger Notizbüchern, deren Gewaltbeschwörung an Foucault erinnert (al178 | kapitel 4

lerdings ohne Foucaults scheinbares Behagen und seine utopische Hoffnung auf positive politische Veränderungen durch körperliche Transformation): »Verstümmle einen Menschen ganz & gar schneide ihm Arme & Beine Nase & Ohren ab & dann sieh was von seinem Selbstrespekt & von seiner Würde übrig bleibt & wieweit seine Begriffe von solchen Dingen dann noch die selben sind. Wir ahnen gar nicht, wie diese Begriffe von dem Gewöhnlichen, normalen, Zustand unseres Körpers abhängen. Was wird aus ihnen, wenn wir mit einem Ring durch unsere Zungen & gefesselt an einer Leine geführt werden? Wie viel bleibt dann noch von einem Menschen in ihm übrig? In welchen Zustand versinkt so ein Mensch? Wir wissen nicht, dass wir auf einem hohen schmalen Felsen stehen, & um uns Abgründe, in denen alles ganz anders ausschaut.«45

Wenn die gewohnten Formen und die normalen Gefühle unseres Körpers unserer Lebensform zugrunde liegen, die wiederum den Grund unserer ethischen Begriffe und Einstellungen anderen gegenüber darstellt, dann können wir vielleicht einige unserer irrationalen politischen Feindschaften besser verstehen. Der fanatische Hass und die Angst, die manche Menschen angesichts fremder Ethnien, Kulturen, Klassen und Nationen empfinden, könnte als Ausdruck einer tiefsitzenden Sorge um die Integrität und Reinheit des vertrauten Körpers in der jeweiligen Kultur angesehen werden. Solche Ängste können unbewusst in Feindschaft gegenüber Fremden übersetzt werden, die diese Vertrautheit in Frage stellen und eine Bedrohung durch ethnische und kulturelle ›Vermischung‹ darstellen, welche die äußere Erscheinung und das Verhalten des Körpers verändern könnten. Wittgenstein scheint eine ähnliche Erklärung für die hartnäckige Beharrlichkeit des fanatischen Antisemitismus in den scheinbar rationalsten Ländern Europas anzubieten. Dieser scheinbar irrationale Hass auf die Juden könnte tatsächlich einer eigenen zwingenden Logik folgen, die über körperliche Modelle oder Analogien operiert. In dieser leider allzu bekannten Analogie werden die Juden mit einer krankhaften Beule mitten in Europa gleichgesetzt, obwohl Wittgenstein klug genug ist, diesen Tumor nicht als tödlichen Krebs zu bezeichnen: wittgensteins somästhetik | 179

»›Betrachte diese Beule als ein regelrechtes Glied deines Körpers!‹ Kann man das, auf Befehl? Ist es in meiner Macht, willkürlich ein Ideal von meinem Körper zu haben oder nicht? Die Geschichte der Juden wird darum in der Geschichte der europäischen Völker nicht mit der Ausführlichkeit behandelt, wie es ihr Eingriff in die europäischen Ereignisse eigentlich verdiente, weil sie als eine Art Krankheit, und Anomalie, in dieser Geschichte empfunden werden und niemand gern eine Krankheit mit dem normalen Leben gleichsam auf eine Stufe stellt und niemand gern von einer Krankheit als etwas Gleichberechtigtem mit den gesunden Vorgängen (auch schmerzhafte) im Körper spricht. Man kann sagen: diese Beule kann nur dann als ein Glied des Körpers betrachtet werden, wenn sie das ganze Gefühl für den Körper ändert (wenn sich das ganze Nationalgefühl für den Körper ändert). Sonst kann man sie höchstens dulden. Vom einzelnen Menschen kann man so eine Duldung erwarten, oder auch, dass er sich über diese Dinge hinwegsetzt; nicht aber von der Nation, die ja nur dadurch Nation ist, dass sie sich darüber nicht hinwegsetzt. Das heißt, es ist ein Widerspruch zu erwarten, dass einer das alte ästhetische Gefühl für seinen Körper behalten und die Beule willkommen heißen wird.«46

Sollten wir nach einem halben Jahrhundert der Versuche, die Schrecken des Holocaust mit Argumenten für multikulturelle Toleranz zu überwinden, die offensichtlichen politischen Folgen dieses scheinbaren Widerspruchs einfach billigen und annehmen, dass es für europäische Nationen unvernünftig ist, die Juden und andere Minoritäten zu tolerieren, die als Tumore empfunden werden? Wenn wir Wittgensteins Intelligenz und seine ethische Integrität respektieren (wie könnten wir das nicht!), sollten wir dann diesen privaten Eintrag ins Notizbuch, der behauptet, dass es die Funktion und Pflicht einer Nation ist, für die ethnische Reinheit des politischen Körpers zu sorgen, für seine letztgültige Ansicht zur Judenfrage halten? Wir können diese Schlussfolgerung zurückweisen, ohne die erklärende Verbindung zwischen politischer Feindschaft gegenüber dem Anderen und der Sorge um unsere vertrauten körperlichen Gefühle und Praktiken zu leugnen. Im Gegenzug können Wittgensteins Bemerkungen über die Politik ästhetischer Körpergefühle einer viel fruchtbareren und politisch aufgeklärteren Lesart unterzogen werden. 180 | kapitel 4

Es ist ein Gemeinplatz der Anthropologie, dass die Aufrechterhaltung der intakten Grenzen und der Reinheit des Körpers ein zentrales Symbol der Einheit, der Kraft und des Überlebens der sozialen Gruppe ist. So sind etwa die frühen Bücher des Alten Testaments voll von peinlich genauen Verfügungen über Diät, Sexualverhalten und Sauberkeit des Körpers, um die soziale Identität der jungen hebräischen Nation zu sichern. Körperliche »Angelegenheiten« wie Blutungen, Eiter, Speichel, Sperma, Erbrochenes und Menstruation verunreinigen all jene, die damit in Kontakt kommen, und die Beschmutzten müssen von den anderen getrennt und gereinigt werden. »Ihr sollt die Israeliten vor ihrer Unreinheit warnen.« (Levitikus 15, 31) Inzest, Sodomie, Homosexualität, Ehebruch und das Essen der als unrein deklarierten Speisen stellen ähnliche Beschmutzungen dar. »Ihr sollt euch nicht durch all das verunreinigen; denn durch all das haben sich die Völker verunreinigt, die ich vor euch vertrieben habe.« (Levitikus 18,24) Fremde Völker werden als unreine und kontaminierende Gefahr dargestellt, welche die Reinheit und die Gesundheit des hebräischen Volkes gefährden. Wittgensteins Analogie mit einem Tumor legt es nahe, dass dieselbe metaphorische Logik der verunreinigenden Krankheit sich im symbolischen Unbewussten Europas gegen die Juden wandte. Die Juden werden stereotyp als dunkel, behaart, übelriechend, schmutzig, ungesund und doch auf mysteriöse Art in ihrer dreckigen Dunkelheit wie ein Tumor gedeihend dargestellt, während das wahre Volk als rein und unvermischt idealisiert wird. Und der hässliche Tumor des Antisemitismus gedeiht auf ähnliche Weise eher durch die dunkle Macht solcher Symbolismen als durch das kritische Licht rationaler Analyse. Eben weil der Antisemitismus (wie auch andere Formen ethnischen Hasses) sich dieses verlockend dunklen Symbolismus bedient – ein Bild, das ganze Nationen gefangen hält –, scheinen rationale Argumente für multikulturelle Toleranz immer zu scheitern, da der Hass nicht auf rationale Weise, sondern durch die fesselnde ästhetische Macht der Bilder entsteht. Wie Schiller jedoch schon vor langer Zeit behauptete, kann ästhetische Erziehung zu ethisch-politischen Veränderungen führen, wo rationale Argumente noch keinen Halt finden. Wenn Wittgenstein also Recht hat, dass es widersprüchlich ist, von einer Person zu erwarten, den Tumor willkommen zu heißen und doch das frühere ästhetische Gefühl für den Körper beiwittgensteins somästhetik | 181

zubehalten, bedeutet das nicht, dass der Tumor vernichtet werden muss. Das ästhetische Gefühl dieser Person für den eigenen und den politischen Körper zu verändern wäre eine Alternative dazu. In ethischen und politischen Fragen wie diesen kann die Disziplin der Somästhetik produktive pragmatistische Schritte anbieten. Wenn rassistische und ethnische Feindschaft sich als resistent gegen das logische Mittel sprachlicher Überzeugung erweisen, da sie sich auf körperlicher Ebene als Unbehagen vor dem Fremden eingegraben haben, dann können wir weder diese tiefsitzenden körperlichen Gefühle noch die Feindschaft, die sie hervorbringen und verstärken, überwinden, solange wir ihnen keine Aufmerksamkeit schenken. Disziplinen somästhetischer Vergegenwärtigung, die ein fokussiertes und systematisches Abtasten unserer körperlichen Empfindungen umfassen, können uns zuerst dabei helfen, diese verstörenden somatischen Gefühle zu identifizieren, um sie dann besser kontrollieren, neutralisieren oder überwinden zu können. Wenn wir sie, wie Wittgenstein sagt, einfach »dulden« müssen, dann können wir sie zumindest in unserem Bewusstsein identifizieren und isolieren, was uns in die Lage versetzt, eine kritische Distanz zu ihnen einzunehmen und zu verhüten, dass sie unsere politischen Urteile infizieren. Somästhetische Bemühungen können jedoch mehr leisten als Abhilfe durch Diagnose und Isolierung zu schaffen, indem sie die unerwünschten »intoleranten« körperlichen Empfindungen tatsächlich verändern. Somatische Gefühle können durch Training verändert werden, weil sie bereits selbst das Produkt von Training sind. Die eigenen normalen Gefühle und Geschmäcker sind größtenteils das Resultat von Lernprozessen und nicht angeborene Instinkte; als Gewohnheiten, die aus unserer Erfahrung und soziokulturellen Bildung stammen, sind sie durch Anstrengungen zur Neugestaltung formbar.47 Disziplinen somästhetischen Trainings können deshalb unsere Einstellungen und Empfindungsgewohnheiten umformen und uns im Umgang mit verschiedenen Arten körperlichen Empfindens und Verhaltens flexibler und toleranter machen. In der Gastronomie, der Athletik und somatischen Therapien ist dies ein Gemeinplatz – die moderne philosophische Ethik und die politische Theorie haben ihm hingegen nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet. 182 | kapitel 4

Ein Teil des Problems mag darin bestehen, dass Philosophinnen und Philosophen, die davon ausgehen, dass größere Toleranz durch Disziplinen somatischer Transformation erreicht werden kann – wie Wilhelm Reich und Michel Foucault (und viele von Foucaults Anhängern in der Queer Theory) –, ihr gesellschaftlich-politisches Eintreten für somatische Disziplinen auf die radikale Veränderung sexueller Praktiken fokussieren. Wie nützlich und notwendig ihre Reformvorschläge auch sein mögen, ihre Konzentration auf die sensiblen Fragen des Sex und der sexuellen Überschreitungen hat eine Ballung an Streit und Polemik erzeugt, die die meisten MainstreamPhilosophen (und die allgemeine Öffentlichkeit) von der allgemeineren Idee und dem Wert transformativer somästhetischer Disziplin ablenkt. Das ganze Versprechen, soziale Toleranz und politisches Verstehen durch somästhetische Mittel zu verbessern, sollte nicht so eng mit der sensationalistisch aufgeladenen und recht begrenzten Frage sexuellen Verhaltens verknüpft werden. Trotz aller sexuellen Freuden (und der brillanten Einsichten Freuds) hat unser körperliches Leben weit mehr an Interessantem und Wertvollem zu bieten als nur unsere Erfahrungen sexueller Aktivität und sexuellen Begehrens. Wittgenstein muss dies gewusst haben, denn die Sexualität scheint kaum das Zentrum seines Lebens und Werks darzustellen, auch wenn seine eher versteckt gelebte, größtenteils unterdrückte und von Schuldgefühlen geplagte Homosexualität ein beständiges Problem gewesen sein muss.48 In diesem Zusammenhang sollten wir auch festhalten, dass der Feinseligkeit, Angst, den inneren Tumulten und der sozialen Stigmatisierung, die mit der Homophobie assoziiert werden, ebenfalls durch somästhetische Achtsamkeit begegnet werden kann, da homophobe Vorurteile dieselbe instinktive »Logik« an den Tag legen wie rassistische und ethnische Feindseligkeit. Auch hier werden Gegensätze und Intoleranz durch ein unbehagliches, oftmals jedoch nicht bewusst erkanntes Bauchgefühl geschürt, durch das Gefühl, dass homosexuelle Praktiken und Bedürfnisse fremdartig seien und für die vertrauten, etablierten Formen körperlichen Begehrens und Verhaltens eine Gefahr darstellen würden. Viele Menschen, die im Prinzip anerkennen, dass Erwachsenen die Freiheit zugesprochen werden sollte, ihren alternativen sexuellen Praktiken einvernehmlich und diskret nachgehen zu dürfen, sind dennoch nicht in der wittgensteins somästhetik | 183

Lage, Homosexualität zu tolerieren, weil selbst die Vorstellung davon bei ihnen somatische Reaktionen des Unbehagens und des Ekels hervorruft (inklusive des Widerwillens, der aus dem unterdrückten schuldbeladenen Begehren selbst resultiert). Auch hier kann somästhetische Achtsamkeit die Mittel an die Hand geben, um solche Bauchgefühle erkennen und kontrollieren zu können, und kann daher den ersten Schritt darstellen, die Aversionen gegen Homosexualität in weniger negative Gefühle zu transformieren. Zugleich kann somästhetische Reflexion jene Homosexuellen ermächtigen, die in Bezug auf ihre erotischen Wünsche und Begegnungen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, verwirrt oder verstört sind. Indem es Individuen eine größere Klarheit über ihre Gefühle verschafft, kann ein solches achtsames Körperbewusstsein jeden Menschen, der deviante Wünsche hegt, diese Gefühle besser wahrzunehmen, zu leben und mit ihnen umzugehen (was nicht bedeutet, sie zu unterdrücken). Wenn sich das verführerische Bild der Reinheit des ethnischpolitischen Körpers als tiefsitzendes Vorurteil verborgen hält, das Angst und Hass gegenüber fremden Gruppen hervorruft (seien diese ethnischer oder sexueller Differenz), wäre es eine Strategie zur Überwindung dieses Problems, die unreine und vermischte Natur aller menschlichen Körper – auch unserer eigenen – klar und sichtbar zu machen. Somästhetische Disziplinen können zu einer erhöhten Sensibilität für die unreine Mischung unserer körperlichen Konstitution führen und uns daran erinnern, dass die Grenzen unserer Körper niemals absolut, sondern vielmehr durchlässig sind. Der Körper ist ein unordentlicher Behälter für alle möglichen festen, flüssigen und gasartigen Stoffe; dauernd dringen Dinge von außerhalb in ihn ein, durch die Atemluft und das Essen, ebenso wie wir kontinuierlich Stoffe aus unserem Körper ausscheiden. Diese somästhetische Strategie der Konzentration auf die unreine Mischung unserer Körper kann man schon in Buddhas Predigt finden, die eine erhöhte Achtsamkeit für den Körper fordert: »Und ferner noch, ihr Mönche, betrachtet da der Mönch eben diesen Körper von der Fußsohle aufwärts und vom Schopfe abwärts, den hautüberzogenen, mit vielerlei unreinen Dingen angefüllten, so nämlich: ›Dieser Körper hat Kopfhaare, Körperhaare, Nägel, Zähne, Haut, Fleisch, Sehnen, Knochen, Mark, Niere, Herz, Leber, Fell, Milz, Lunge, Ge184 | kapitel 4

därm, Gekröse, Mageninhalt, Kot, Gehirn, Galle, Schleim, Eiter, Blut, Schweiß, Fett, Tränen, Speichel, Rotz, Gelenköl, Urin.‹ […] So lebt er und beobachtet seinen Körper.«49 Nach diesen Hinweisen auf meine allgemeinen Argumente für das ethische und politische Potential somästhetischer Disziplinen möchte ich an dieser Stelle bezüglich ihrer diversen Disziplinen und Methoden nicht weiter ins Detail gehen;50 denn Wittgenstein nimmt keine wirkliche Analyse traditioneller oder moderner Disziplinen der Achtsamkeit vor. Ich möchte das Kapitel dennoch damit beschließen, mich einem Thema Wittgensteins zuzuwenden, das die Relevanz der Somästhetik nicht nur für die bisher betrachteten zusammenhängenden Zweige der Philosophie, sondern für die Philosophie als Ganzes zu unterstreichen helfen kann.

V.

Wittgenstein besteht regelmäßig auf der entscheidenden Wichtigkeit der Langsamkeit für das richtige Philosophieren. Philosophen irren sich oft, indem sie zu falschen Schlussfolgerungen springen, weil sie die grobe Oberflächenstruktur der Sprache mit Hilfe primitiver Schemata falsch interpretieren und dann daraus etwas ableiten, das zugleich notwendig und unmöglich zu sein erscheint. Statt »wie Wilde, primitive Menschen« die Sprache zu »mißdeuten und nun die seltsamsten Schlüsse aus ihrer Deutung [zu] ziehen«, ist der Schlüssel zu guter philosophischer Arbeit, sich die Zeit zu nehmen, die Knoten, die durch solche hastigen Schlüsse verursacht werden, behutsam durch das geduldige »Zusammentragen von Erinnerungen«, durch »Zusammenstellung des längst Bekannten« aufzulösen, indem die »Wörter von ihrer metaphysischen wieder auf ihre alltägliche Verwendung« zurückgeführt und »irgendein schlichte[r] Unsinn und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat«, entdeckt werden.51 Diese Arbeit gewissenhafter Sprachanalyse erfordert langsame, geduldige Anstrengung und eine Art von geübter und disziplinierter Langsamkeit. Wittgenstein weist deshalb warnend darauf hin, dass »der in der Philosophie Ungeübte an allen Stellen vorbei[geht], wo Schwierigkeiten unter dem Gras verborgen liegen, während der Gewittgensteins somästhetik | 185

übte dort stehen bleibt und fühlt, hier sei eine Schwierigkeit, obwohl er sie noch nicht sieht«.52 Daher kommt Wittgensteins Wertschätzung der Langsamkeit: »Der Gruß der Philosophen untereinander sollte sein: ›Lass Dir Zeit!‹« Wittgensteins Lese- und Schreibstil zielt darauf ab, diese Langsamkeit zu erreichen. »Ich möchte durch meine häufigen Interpunktionszeichen das Tempo des Lesens verzögern. Denn ich möchte langsam gelesen werden. (Wie ich selbst lese.)« »Meine Sätze sind alle langsam zu lesen.«53 Wir wissen jedoch, dass Wittgensteins Temperament alles andere als geduldig war. Äußerst schnell im Geist und in seinen Bewegungen, hatte er größte Schwierigkeiten, still zu sitzen oder zu stehen.54 Feurig und schlagfertig beteuerte er, »[m]ein Ideal ist eine gewisse Kühle«, ein Zustand der Gelassenheit, in dem sich der »Konflikt löst« und man »Friede in den Gedanken« findet.55 Doch wie können wir zu größerer Meisterschaft hinsichtlich Langsamkeit und Ruhe gelangen, ohne uns mit geisttötenden Beruhigungsmitteln unter Drogen zu setzen? Selbstisolierung an einem ruhigen und fremden Ort, der weit von vertrauten und unerwünschten Ablenkungen entfernt ist, stellt eine traditionelle Methode dar, die Wittgenstein tatsächlich in der Phase seines Einsiedlertums am Sognafjord in Norwegen angewandt hat. Eine weitere traditionelle Antwort besteht in der fokussierten Aufmerksamkeit auf unsere Atmung und seiner darauf folgenden Regulierung. Da das Atmen tiefgreifenden Einfluss auf unser gesamtes Nervensystem hat, können wir, indem wir unsere Atmung verlangsamen und beruhigen, auch größere Langsamkeit und Ruhe in unseren Geist bringen. Auf ähnliche Weise können wir unsere geistige Konzentration sowie Geduld und Ausdauer für andauernde philosophische Meditationen verbessern, indem wir bestimmte Muskelverspannungen, die nicht nur unnötig sind, sondern uns vom Denken durch die von ihnen hervorgerufenen Schmerzen oder durch Müdigkeit ablenken, erst bemerken und dann lösen. Dann können wir es uns leisten, uns Zeit zu nehmen. Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Empfindungen kann unser Denken, unsere Emotionen und unseren Willen nicht erklären, aber dennoch dabei helfen, sie zu verbessern. Somästhetische Gefühle können ästhetische Urteile weder erklären noch rechtfertigen, sie können uns aber dazu verhelfen, unsere ästhetischen und 186 | kapitel 4

selbst unsere ethischen Fähigkeiten zu steigern. Empfindung ist nicht das auf mysteriöse Weise alles erklärende »Etwas«, das den grundlegenden Mechanismus alles geistigen Lebens bestimmt, aber sie ist, wie Wittgenstein erkannt hat, »auch nicht ein Nichts«.56 Wie wichtig somästhetische Gefühle und somatisches Selbstbewusstsein für Wittgenstein auch sein mögen, ich hoffe doch, gezeigt zu haben, dass sie noch mehr Geltung beanspruchen können, zumindest für einen Pragmatismus, dem es um die Verbesserung der Qualität unseres Lebens und Denkens geht, und dazu zählt auch das umsichtige Leben, das wir als aktive moralische und politische Individuen führen.57

wittgensteins somästhetik | 187

Kapitel 5

Tiefer ins Zentrum des Sturms Die somatische Philosophie von William James I.

»Der Körper«, schreibt William James »ist das Sturmzentrum, der Koordinatenursprung, der unveränderliche Spannungspunkt [in unserem] Erfahrungsfluss. Alles kreist darum und wird von seinem Gesichtspunkt aus empfunden.« »Zu jedem Zeitpunkt ist der Körper das Zentrum unserer Erfahrungswelt«, so führt er aus, »Zentrum der Vorstellung, Zentrum der Handlung, Zentrum des Interesses.«1 Aus Selbsterhaltungsgründen, wenn nicht auch aus anderen Gründen »muss jeder Geist […] ein intensives Interesse an dem Körper entwickeln, dem er unterjocht ist […] Mein eigener Körper und das, was seinen Bedürfnissen dient, sind also der instinktmäßig determinierte Urgegenstand meines egoistischen Interesses. Das Interesse an anderen Dingen leitet sich daraus ab.«2 Trotz solcher starken Behauptungen und der zahlreichen diese stützenden Argumente wird William James selten als Körperphilosoph gefeiert, obwohl er zweifellos dem Körperbewusstsein sorgfältigere Aufmerksamkeit schenkt als berühmtere somatische Philosophen wie Nietzsche, Merleau-Ponty, Beauvoir oder Foucault. Vielleicht ist seine Bedeutung als Körperphilosoph deswegen verschüttet, weil ein Großteil seiner somatischen Forschung sich in dem frühen Buch zur Psychologie (von 1890) bündelt und weil er einen großen Teil seiner Arbeitskraft später vor allem Fragen der Metaphysik, des religiösen Glaubens und des Spiritualismus widmete. Dennoch zieht sich die Beschäftigung mit dem Körperlichen durch James’ gesamten Denkweg. Das Zitat zu Beginn dieses Kapitels stammt aus einem Aufsatz von 1905, den James 1909, ein Jahr vor seinem Tod, im Anhang von Das pluralistische Universum veröffentlichte. Noch in Das moralische Äquivalent des Krieges (1910) kann man Lobpreisungen des Körpers finden, wo er »die […] Ideale von Kühnheit und Disziplin« hervorhebt, die »Tugend […] körperlicher Gesundheit und Stärke« und »die Tradition […] körperlicher Leistungsfähigkeit«, die das kriegerische Leben unwiderstehlich at| 189

traktiv machten und die in etwas moralisch Unbedenklicheres als den Krieg überführt werden sollten.3 Es gibt drei Gründe, mit denen sich James’ starkes Interesse am Körper und seine Aufmerksamkeit für dessen besondere Rolle im geistigen und moralischen Leben erklären lässt. Einer davon ist die ursprünglich verfolgte Laufbahn als Maler; zwischen 1858 und 1861 studierte er offiziell Malerei. »Kunst ist meine Berufung«, erklärte er 1860 im Alter von achtzehn Jahren gegenüber einem Freund.4 Diese Berufung wurde bald durch die Wissenschaft und später durch die Philosophie ersetzt, aber auf Grund seiner jugendlichen Leidenschaft für das Zeichnen und für die Kunst, die durch häufige und längere Aufenthalte in den kulturellen Zentren Europas noch angespornt wurde, entwickelte James ein feines Sensorium für körperliche Formen und die Subtilitäten des Ausdrucks, wie auch die Fähigkeit, Bewusstseins- und Gefühlszustände zu visualisieren und sich vorzustellen. James’ besondere Sensibilität für den durchdringenden Einfluss des Körpers auf unsere geistige und moralische Verfassung war sicher auch Ergebnis der eigenen enormen Last quälender, wiederkehrender körperlicher Beschwerden, die ihm viele Jahre lang jegliche Karriere zu verunmöglichen schienen. In einer Lebensphase, die eigentlich die gesunden Jahre eines jungen Mannes umfassen sollte, litt er ständig unter chronischer Gastritis, Kopfschmerzen, Verstopfung, Schlaflosigkeit, apathischer Erschöpfung, nervöser Depression und heftigen Rückenschmerzen. Auch wurde er von Augenproblemen geplagt, die seine ununterbrochene Lesezeit manchmal auf eine dreiviertel Stunde und nicht mehr als zwei Stunden pro Tag beschränkten.5 James war gezwungen, seine Karrierepläne in der Laborwissenschaft aufzugeben, da er körperlich der Beanspruchung der Laborarbeit nicht gewachsen war, und so beschloss er, Arzt zu werden, obwohl er diesen Beruf (»voller Humbug«, »Hort zehntklassiger Denker«) nicht besonders schätzte.6 Von den fünf Jahren, die er benötigte, um seinen Abschluss an der Medizinischen Fakultät von Harvard zu absolvieren, verbrachte er nur zwei an der Universität. In der restlichen Zeit widmete er sich der Suche – in erster Linie durch Ruhe und Heilwasserkuren in diversen Kurorten Europas – nach körperlicher und psychischer Gesundheit, die es ihm erlauben würde, ein erfolgreiches Berufsleben zu verwirklichen. Vier Jahre 190 | kapitel 5

nach dem Abschluss war James, mit einunddreißig Jahren, noch immer arbeitslos und finanziell abhängig und »pflegte seine schlechte Gesundheit im Haus seines Vaters«, bis sein Freund Henry Bowditch, ein Physiologe in Harvard, James eine Stelle als sein vorläufiger Vertreter anbot. Der neue Präsident Harvards, Charles Eliot, der James’ Chemiedozent gewesen war (und ein Nachbar und Freund der Familie), stimmte der Idee zu und verschaffte ihm schließlich eine geregelte Arbeit an der Fakultät für Physiologie.7 Als erklärtes Opfer der ›Neurasthenie‹ (eine Krankheit, die heutzutage als Mythos gilt) begriff James bald, dass viele seiner Leiden psychosomatisch waren und Ergebnis dessen, was er wiederholt sein »jämmerliches Nervensystem« nannte.8 Seine Nervenkrankheit bewirkte körperliche Störungen, die wiederum den nervösen Stress steigerten, der dann weitere somatische Beschwerden und mentale Angstzustände in einer tückischen Spirale bis hin zur Arbeitsunfähigkeit erzeugte. Es ist klar, dass James der mächtige wechselseitige Einfluss von Körper und Geist tief beeindruckte: denn diesen Einfluss spürte er häufig und drastisch am eigenen Leib, und er beobachtete ihn als Medizinstudent und junger Arzt gewissenhaft. Seine Hauptsorge bestand darin, selbst gesund zu werden, so dass er endlich eine andere Laufbahn als die des gelehrten Invaliden beschreiten konnte. Biographen haben den Ausbruch dieser psychosomatischen Beschwerden zum Teil James’ Schwierigkeiten zugeschrieben, sich für einen Beruf zu entscheiden, insbesondere seinem Widerwillen, seine künstlerischen Ambitionen für die Wissenschaft und die Medizin aufzugeben.9 Aber was auch immer die Ursache gewesen sein mag, die Tatsache, dass er unter vielen dieser Beschwerden lange nach dem Start in seine enorm erfolgreiche Karriere als Berufsphilosoph litt, hat dazu geführt, dass die geistige und moralische Bedeutung des Körperlichen in seinem philosophischen Denken präsent blieb. Die Sache mit seinem Berufsweg weist auch auf einen dritten Grund hin, der für James ausschlaggebend dafür gewesen sein könnte, die zentrale philosophische Rolle des Körpers herauszustreichen. Sein Studium und seine ersten Berufserfahrungen sammelte er in Anatomie und Physiologie, und es war genau dieses somatische Wissen, das es ihm ermöglichte, zur akademischen Philosophie überzuwechseln, obwohl er dafür offiziell gar nicht ausgebildet tiefer ins zentrum des sturms | 191

war. Nietzsche kritisierte die Philosophen für ihre » fehl[ende] […] Kenntnis der Physiologie«10, James aber begann seine glänzende Karriere als Philosophieprofessor in Harvard im Jahr 1873 mit Vorlesungen zur Physiologie an der medizinischen Fakultät. Er nutzte dann dieses physiologische Fachwissen als Eintrittskarte, mit der er sich langsam, aber sicher in eine Professur am philosophischen Institut hineinmanövrierte, trotz seines Mangels an formaler philosophischer Qualifikation und der störrischen Gegnerschaft einiger wichtiger Mitglieder des Fachbereichs.11 Zunehmend wurde die zentrale Rolle der Physiologie für das neue Fachgebiet Psychologie anerkannt (das immer noch als eine Unterabteilung der Philosophie betrachtet wurde), doch das philosophische Institut in Harvard hatte kein Mitglied, das dafür qualifiziert war, diesen neuen wissenschaftlichen Zugang zum Denken zu unterrichten. So konnte James den Präsidenten der Universität Harvard sowie den Hochschulrat davon überzeugen, dass sein Psychologieunterricht unerlässlich war, damit das philosophische Institut konkurrenzfähig und auf der Höhe der Zeit blieb. 1874 konnte James einen Kurs über »Die Beziehungen zwischen Physiologie und Psychologie« in der Physiologie-Abteilung anbieten, 1877 durfte er an der philosophischen Fakultät ein Seminar über Herbert Spencers Psychologie durchführen, und 1879 war James in der Lage, sein erstes rein philosophisches Seminar (über Charles Renouvier) abzuhalten und den Physiologie-Unterricht ganz aufzugeben. 1880 schließlich wurde seine (Assistenz-)Professur offiziell auf die philosophische Fakultät übertragen. Da James’ berufliche Ambitionen als Philosoph in einem hohen Maß auf dem Gedanken beruhten, dass die Physiologie für die philosophische Erforschung des Geistes von entscheidender Bedeutung sei, lag es nahe, dass seine Philosophie dem Körper eine äußerst prominente Rolle einräumen würde. Diese persönlichen Faktoren trugen dazu bei, dass James den Schwerpunkt seiner Arbeit auf das Somatische setzte; das sollte seine Theorie jedoch nicht diskreditieren. Wenn das Streben nach Erkenntnis immer von Interesse geleitet ist, dann kann persönliche Motivation eine bessere Theorie hervorbringen, weil sie die Aufmerksamkeit schärft, eine wachere Gegenwärtigkeit und feinere Sensibilität mit sich bringt. Die Sorge um den Einklang von Körper und Geist bei ihm selbst spornte James dazu an, mehr zu erreichen 192 | kapitel 5

als ein rein theoretisches und spekulatives Verständnis davon, wie physisches und geistiges Leben zusammenhängen. Seine somatische Philosophie gewann daher an Tiefe durch die ausgedehnte Erkundung der großen Vielfalt pragmatistischer Ansätze, die darauf gerichtet waren, das harmonische Funktionieren des Geist-KörperNexus des Selbst zu verbessern. James las und schrieb nicht nur über diese pragmatistischen Therapien und forderte die philosophische Gemeinschaft auf, sich ernsthafter damit zu beschäftigen.12 Er probierte vieles davon am eigenen Leib aus. In James’ Briefen erfährt man von seinen Experimenten in einem beeindruckend breiten Spektrum sich oftmals widersprechender Methoden: Vereisung und Blasenbildung (zwecks Gegen-Reizung), Mieder, Varianten des Gewichthebens, Elektroschocks, absolute Bettruhe, diverse Wasserkuren, energisches Wandern, schnelles Bergsteigen, systematisches Kauen, magnetische Heilung, Hypnose und »geist-heilende« Therapien, Entspannung, Wirbelsäulen-Vibration, Dampf-Inhalationen, homöopathische Mittel, Übungen in geistiger Fokussierung, um Muskelkontraktionen zu verringern, verschiedene Programme medizinisch verschriebener Gymnastik, Cannabis, Lachgas, Meskalin, Strychnin und eine Reihe an Hormoninjektionen. Diese Palette an somatischen Experimenten war sicher für seine Zeit ebenso breit und kühn, wie die Michel Foucaults es für unsere Zeit war, und sie wich oftmals ebenso weit vom Mainstream ab. James mied jedoch in seiner Experimentierfreude (darin seinem puritanisch-viktorianischen Hintergrund treu) das explosive Gebiet der Sexualität, auf dem seine Ansichten so konservativ und sexistisch waren wie die von Foucault radikal grenzüberschreitend.13 Dennoch war der Pragmatist New Englands – nicht weniger als der französische Poststrukturalist – ein bewundernswert abenteuerlustiger Forscher in allen drei Zweigen der Somästhetik: der analytischen Erforschung der Rolle des Körpers in der Wahrnehmung, in der Erfahrung und im Handeln und daher in unserem geistigen, moralischen und sozialen Leben; der pragmatistischen Erforschung von Konzepten, um das Funktionieren unseres Körper-Geistes zu verbessern und so die Möglichkeiten unserer Selbst-Stilisierung auszuweiten; und des praktischen Zweigs, der solche pragmatistischen Methoden durch Erprobung am eigenen Körper untersucht. tiefer ins zentrum des sturms | 193

Dieses Kapitel behandelt zunächst den Beitrag, den James – durch seine Theorien über die zentrale Rolle des Körpers im geistigen und moralischen Leben – zur analytischen Somästhetik geleistet hat. In einem nächsten Schritt müssen seine pragmatistischen Ansichten über somatische Methodologien des Meliorismus in die Untersuchung mit einbezogen werden, weil er der Auffassung war, dass Philosophie eine Lebenskunst und ein Instrument ist, unsere Erfahrungsmöglichkeiten zu verbessern. Schließlich werden wir sehen, auf welche Weise die problematischen Grenzen von James’ somatischen Methoden sich manchmal in seinen eigenen praktischen Anstrengungen widerspiegeln, sich selbst durch das In-EinklangBringen von Körper und Geist zu heilen.

II.

Den besten Einstieg in James’ somatische Philosophie findet man in seinem ersten Buch und Mammut-Meisterwerk The Principles of Psychology (1890). Das Eröffnungskapitel beginnt mit der leitenden Hypothese von James’ Philosophie des verkörperten Geistes: dem »allgemeinen Gesetz, dass keine geistige Veränderung jemals stattfindet, die nicht von körperlichen Veränderungen begleitet wird oder diese zur Folge hat«.14 Da das Gehirn der entscheidende Körperteil für das geistige Leben ist, erklären die darauf folgenden zwei Kapitel die Funktionen des Gehirns und die allgemeinen physiologischen Bedingungen der Gehirnaktivität. James widmet dann das nachfolgende Kapitel dem Thema der Gewohnheit. Mit der Gewohnheit als Auftakt werden wir die Hauptpunkte analysieren, an denen entlang James seine Argumente für die zentrale Rolle der körperlichen Erfahrung in unserem geistigen und sozialen Leben entwickelt. Wir greifen dabei neben der Psychologie auch auf weitere Schriften James’ zurück. Gewohnheit Gewohnheiten sind ein geeignetes Thema, um die Verbindung von Körper und Geist zu erforschen, da wir sowohl von körperlichen als auch von geistigen Gewohnheiten sprechen. Überdies können Gewohnheiten als Ausdruck mentaler Zustände verstanden werden, die 194 | kapitel 5

sich in Dispositionen verkörpern, oder umgekehrt als körperliche Tendenzen, die sich im mentalen Leben und seinen Absichten widerspiegeln. James’ berühmte Gewohnheitstheorie zeigt, auf welch frappierende Weise seine Einsicht in die grundlegenden körperlichen Dimensionen des Lebens in immer weiteren Bedeutungsebenen Kreise gezogen hat, so wie die sich immer weiter ausbreitenden Wellen eines einzelnen gut geworfenen Steins bald den gesamten Teich bedecken. Ausgehend von der einfachen, aber entscheidenden physiologischen Tatsache, dass unsere formbare Körperkonstitution Gewohnheitsbildung erlaubt, wächst der Gewohnheitskörper an zu einem Schlüsselfaktor, der nicht nur das individuelle geistige und moralische Leben prägt, sondern auch die menschliche Gesellschaft als ganze strukturiert. Auf der grundlegendsten physischen Ebene »sind Gewohnheiten bei Lebewesen der Plastizität des organischen Materials geschuldet, aus welchen ihre Körper zusammengesetzt sind«, die für James das innere Nervensystem ebenso umfassen wir die »äußere Form«.15 »Unser Nervensystem wächst in die Formen hinein, in denen es bereits trainiert worden ist«,16 unsere verkörperten Selbste werden also zu mentalen Gewohnheiten und Handlungen ausgeformt, die für uns automatisch das durchführen, was uns einst beträchtliche Gedankenkraft, Zeit und Anstrengung abverlangte. Menschen sind, weil unser Denken und Handeln vorwiegend auf Gewohnheiten ausgerichtet ist, »laufende Gewohnheitsbündel«.17 Indem Gewohnheiten uns erlauben, unsere »bewusste Aufmerksamkeit« um das zu verringern, was sie in der »lautlosen Obhut des Automatismus« erfolgreich durchführen können, befähigen sie uns dazu, »unsere höheren Geisteskräfte« auf den anspruchsvolleren Teil unserer Erfahrung zu konzentrieren, der einer fokussierteren Aufmerksamkeit bedarf.18 Aus dieser Prämisse zieht James eine starke moralische Schlussfolgerung: Wir sollten jede Anstrengung unternehmen, um die bestmöglichen Gewohnheiten zu entwickeln, solange Körper und Nervensystem noch flexibel und formbar genug sind. Der Schlüssel »ist, unser Nervensystem zu unserem Verbündeten statt zu unserem Feind zu machen […] Dafür müssen wir so früh wie möglich so viele nutzbringende Verhaltensweisen wie möglich automatisieren und zur Gewohnheit werden lassen und uns wie vor einer Plage davor hüten, in welche hineinzuwachsen, die uns aller Wahrscheinlichkeit nach tiefer ins zentrum des sturms | 195

zum Nachteil gereichen werden.«19 Solch ein Training inkorporierter Verhaltensweisen, so James, bedarf eines vernünftigen Maßes an »Askese«, um unser Nervensystem so weiterzuentwickeln, dass es die richtige Richtung einschlägt.20 Doch die Rolle des disziplinierten Gewohnheitskörpers erstreckt sich weit über die persönlichen ethischen Anstrengungen der Selbstverbesserung hinaus; sie hält die gesamte soziale Struktur zusammen, durch die Gewohnheiten selbst erst gestaltet werden und in der individuelle Bemühungen ihren Platz und ihre Grenze finden. James nimmt Foucaults Theorie der disziplinierten, fügsamen Körper und Pierre Bourdieus Theorie des Habitus vorweg, wenn er behauptet: »Die Gewohnheit ist nach alledem ein gewaltiges Schwungrad im Getriebe der Gesellschaft, ihr wertvollstes konservatives Agens. Sie allein hält uns alle in den Banden des Gesetzes und schützt die Kinder des Glücks vor den missgünstigen Sprösslingen der Armut«. Gewohnheit, fährt James fort, »hält den Fischer und den Matrosen über den Winter auf See; sie hält den Bergarbeiter in seiner Finsternis […] wir sind alle dazu verdammt, den Lebenskampf nach den Grundsätzen, nach denen wir erzogen worden sind, oder im Einklang mit frühen Lebensentscheidungen auszufechten und das Beste aus einem Streben zu machen, das diesen widerspricht, denn es gibt kein anderes Leben, in das wir passen würden, und es ist zu spät noch einmal neu zu beginnen. Sie hält verschiedene gesellschaftliche Schichten davon ab, sich zu mischen.« Selbst wenn ein Mann Reichtum erwerbe, um seinen Körper zu kleiden, als wäre er »von Geburt adelig«, »kann er einfach nicht die richtigen Dinge kaufen. Ein unsichtbares Gesetz, so stark wie die Schwerkraft, hält ihn in seiner Umlaufbahn, er wird in diesem Jahr festgehalten, wie er es im letzten war«.21 Ein Mensch mit einem schüchternen, unterwürfigen und gehemmten Körperausdruck wird es als nahezu unmöglich empfinden, in seinem Handeln auf einmal eine kühne, widerständige und bestimmende Körperhaltung einzunehmen. Dies wäre aber notwendig, um die sozialen Strukturen in Frage zu stellen, die über somatische Gewohnheitsbildungen Minderwertigkeitsgefühle bis in Mark und Bein einprägen, was wiederum geistige und nicht bloß körperliche Folgen hat.

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Einheit und Veränderung im Denken Ich wende mich nun von diesem breiten sozialen Panorama dem privateren Szenario subjektiven Denkens zu, in dem Philosophen dem Körper selten eine Hauptrolle einräumen. James ist hier eine bemerkenswerte Ausnahme. Ausgehend von der Behauptung, dass das Bewusstsein jedes Individuums in »absoluter Isolation« von anderen existiere,22 erörtert er, dass das subjektive Bewusstsein nicht nur von somatischen Gefühlen durchdrungen sei, sondern in letzter Instanz von ihnen abhänge, und zwar aufgrund seines ausgeprägten Sinns für Kontinuität und Einheit. James’ berühmter Begriff des Bewusstseinsstroms bestätigt: »Denken befindet sich in ständiger Veränderung«.23 Unsere Sinneseindrücke sind immer dabei, sich leicht zu verändern, selbst wenn wir – etwa bei der fortgesetzten Betrachtung des blauen Himmels – immer genau dieselbe sinnliche Wahrnehmung zu haben meinen. Wir haben diesen Eindruck, weil wir »dieselbe körperliche Sinnesempfindung« mit einer Sinnesempfindung »desselben GEGENSTANDS« verwechseln,24 in diesem Fall des blauen Himmels; und weil unser Denken weit mehr daran interessiert (und darauf zu achten gewöhnt) ist, Gegenstände zu registrieren statt Empfindungen. Aber da unsere physiologische »Sensibilität sich ständig verändert«, kann derselbe Gegenstand uns nicht kontinuierlich dieselbe Sinnesempfindung verschaffen. »Die Lichtempfindlichkeit des Auges […] stumpft mit überraschender Geschwindigkeit ab«, und unser Gehirnzustand, der natürlich Auswirkungen auf die Sinnesempfindung hat, wird in einem gewissen Ausmaß ebenfalls ständig modifiziert, da selbst das bloße Fließen der Erfahrung und die Gehirnaktivität neue neuronale Spuren hinterlassen. »Damit eine identische Sinnesempfindung sich wiederholen kann, müsste sie das zweite Mal in einem unveränderten Gehirn stattfinden.« Doch dies ist, wie James bemerkt, »eine physiologische Unmöglichkeit«. »Erfahrung modelliert uns in jedem Moment um«; und da unser Nervensystem permanent modifiziert wird, gilt dies auch für den Fluss unserer Sinnesempfindungen, Gefühle und Gedanken.25 James’ Annahme einer durchdringenden somatischen Dimension im sich stets wandelnden Bewusstseinsstrom wird von zeitgenössischen Neurowissenschaftlern gestützt. Der Neurologe Antonio Damasio erklärt »die sich ständig wandelnde Modulation der tiefer ins zentrum des sturms | 197

Affekte«, die normales menschliches Bewusstsein charakterisiert, letztlich als eine Funktion der »ständig wechselnden Landschaft, die Ihr Körper unter dem Eindruck eines Gefühls annimmt«. Gefühle resultieren aus der »fortwährenden, unaufhaltsamen Repräsentation des Körperzustands« im Gehirn, seiner »ständige[n] Zeugenschaft« durch Bilder von dem, »was Ihr Körper macht, während Ihnen Gedanken über bestimmte Inhalte durch den Kopf gehen«, und »stets ist die Körperlandschaft neu«, doch zugleich relativ stabil. Denn neben den ständig in Wandlung begriffenen »aktuellen«, »dynamischen ›Online-Karten‹ des Körpers« gibt es auch »noch etwas stabilere Karten der allgemeinen Körperstruktur« oder seiner Anlagen, die für ein etwas beständigeres »Körperbild« verantwortlich sind.26 Neben der Tatsache, dass der sich stets wandelnde Gedankenstrom körperliche Ursachen hat, bietet der Körper zugleich umgekehrt die Grundlage für die Einheit des Denkens. Unsere Gedanken bilden als die unsrigen eine Einheit, weil wir, »während wir denken, unser körperliches Selbst als Sitz des Denkens fühlen. Wenn das Denken unser Denken sein soll, muss es durch alle seine Teile hindurch von dieser eigenartigen Wärme und Intimität durchströmt werden«, die für James in erster Linie durch »das Gefühl desselben alten, immer anwesenden Körpers« konstituiert werden, auch wenn der Körper, strenggenommen, nie in genau demselben unmodifizierten Zustand ist. Irgendein Gefühl von Verkörperung durchdringt daher all unsere Erkenntnis, selbst wenn wir darauf nicht achten. »Unsere eigene körperliche Position, Haltung oder Verfassung ist eines der Dinge, von denen eine gewisse Bewusstheit, wie unaufmerksam auch immer, die Erkenntnis, welcher Art auch immer, ausnahmslos begleitet«; und die beständige somatische Sensibilität ist für die Einheit unseres Denkens wesentlich, selbst in nichtsomatischen Angelegenheiten, weil sie uns dazu verhilft, »eine Liaison zwischen all den Dingen zu bilden, derer wir fortlaufend gewahr werden«.27 Selbst wenn die eigene Erfahrungs- und Gedankenwelt »ein Quasi-Chaos« sein mag, mit »beträchtlich mehr Diskontinuität […] als wir allgemein annehmen«, kann diese verblüffende Komplexität durch »den objektiven Kern der Erfahrung jedes Menschen« zusammengehalten werden, »durch seinen eigenen Körper, [der], das ist wahr, ein beständiger Wahrnehmungsinhalt ist«.28 198 | kapitel 5

Damasios neurowissenschaftliche Forschung stützt solche Behauptungen. Wir sind uns oft nicht explizit der »fortwährenden, unaufhaltsamen Repräsentation des Körperzustands« bewusst, weil »der Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit gewöhnlich woanders ist, wo er für adaptives Verhalten dringender gebraucht wird.« Das aber »bedeutet nicht, daß keine Körperrepräsentation stattfindet, wovon Sie sich leicht überzeugen können, wenn der plötzliche Beginn von Schmerzen oder auch nur geringem körperlichem Unbehagen die Aufmerksamkeit wieder stärker auf den Körper lenkt. Das somatische Hintergrundempfinden setzt nie aus, obwohl wir es manchmal kaum bemerken, weil es keinen bestimmten Teil des Körpers, sondern den übergreifenden Zustand praktisch aller seiner Bereiche repräsentiert. Doch nur«, so schlussfolgert Damasio, »dank dieser fortwährenden, unaufhaltsamen Repräsentation des Körperzustands sind wir in der Lage, auf die Frage ›Wie geht es Ihnen?‹ augenblicklich anzugeben, ob es uns gutgeht oder nicht so sehr.«29 Eine der Hauptthesen Damasios ist, dass unser anhaltender Sinn für körperliche Empfindungen für die Kontinuität des Denkens notwendig ist, insbesondere in Bezug auf soziale und praktische Angelegenheiten. Auch hier sind seine Argumente zutiefst von James inspiriert, der immer wieder auf den somatischen Charakter des Gefühls hingewiesen hat, während er zugleich die Bedeutung der Affekte im Leben des Denkens betonte. Sinnesempfindung, Aufmerksamkeit und Zeit- und Raumsinn Bevor wir diese umstrittenen Ansichten in ihrer Jamesschen Version kritisch überdenken, sollten wir noch einige andere Argumente untersuchen, in denen James die kognitive Bedeutung des Körpers unterstreicht. Erkenntnis umfasst die Auswahl und Organisation von Inhalten. Die Sinnesorgane des Körpers tragen zu diesem Prozess bei, zunächst, indem sie unsere Wahrnehmungsfähigkeiten und -bereiche strukturieren. Als Filter, die nur für einige Aspekte der physischen Welt und nur in einem gewissen »Geschwindigkeits-« Zeitfenster empfänglich sind, wählen unsere Sinnesorgane die Sinnesempfindungen aus, die in unser Denken gelangen können.30 Wirkliches Denken bedarf natürlich einer weitergehenden Auswahl durch bewusste Aufmerksamkeit auf bestimmte der zahlreichen Sinnesempfindungen, die uns von der unmittelbaren Erfahrung tiefer ins zentrum des sturms | 199

präsentiert werden. Doch ist Aufmerksamkeit selbst partiell »eine körperliche Disposition«.31 »Wenn wir sehen oder hören, passen wir unsere Augen und Ohren unfreiwillig an, und ebenso drehen wir unseren Kopf und unseren Körper«.32 Selbst das, was rein intellektuelle Aufmerksamkeit zu sein scheint (wie der Versuch, sich an etwas zu erinnern und sich auf eine Erinnerung, eine Idee oder einen Gedankengang zu konzentrieren), schließt James zufolge charakteristische Muskelkontraktionen im Kopf, den Augäpfeln, Augenlidern, Brauen und der Stimmritze ein. Zusätzlich bringt diese intellektuelle Aufmerksamkeit, wenn sie auf irgendeine Weise mit Anstrengung verknüpft ist, auch eine »Kontraktion der Kiefer-Muskulatur und derjenigen der Atmung« mit sich, welche dann häufig vom Hals und der Brust in unseren unteren Rückenbereich ausstrahlt.33 Diese Muskularität des Denkens hat eine praktische Konsequenz, die James hier zu bemerken versäumt, die wir indessen schon in vorangegangenen Kapiteln vorgeschlagen haben. Die oftmals schmerzhafte Beanspruchung der Aufmerksamkeit gegenüber dem, was wir für rein geistige Arbeit halten, resultiert aus der Muskelanspannung, welche vermeintlich »reines« Denken mit sich bringt. Wir neigen dazu, solche Spannungen nur zu empfinden, wenn sie eine bestimmte Schmerz- oder Unbehaglichkeitsschwelle erreichen, und fühlen sie in der Beanspruchung unserer Augen, unseres Rückens und – wenn wir sensibel genug sind – in der Ermüdung unserer Gesichtsmuskulatur. Aber ein gesteigertes somatisches Selbstbewusstsein könnte uns eine bessere Kontrolle dieser Muskelkontraktionen ermöglichen, durch die wir lernen könnten, diejenigen, die unnötig oder unnötig stark sind, zu vermeiden oder wenigstens zu verringern. Indem wir solche schmerzhaften Verspannungen stoppen oder reduzieren, bevor sie so lange ausgehalten wurden, dass sie Schmerzen verursachen, können wir uns befähigen, länger, schärfer und mit größerer Leichtigkeit zu denken, ohne durch Unwohlsein und Erschöpfung abgelenkt zu sein. James behauptet weiter, dass körperliche Gefühle deshalb für die Kognition entscheidend sind, weil sie unser Zeitgefühl stiften, insbesondere, wenn dieses das Verstreichen der so genannten leeren Zeit berührt. Das phänomenologische Gefühl der verstreichenden Zeit kann niemals die Sinnesempfindung der reinen Dauer ohne jeden Inhalt sein, da eine solche reine Leere nicht als Bewegung 200 | kapitel 5

oder Veränderung wahrgenommen werden könnte. Folglich muss das Verstreichen der »leeren Zeit« von irgendeinem verstreichenden Inhalt begleitet werden, und James (der sich dabei sowohl auf Introspektion als auch auf experimentelle Ergebnisse beruft), behauptet, dass der Körper – durch die Rhythmen von »Herzschlag« und »Atem« und die »Empfindung der Muskelkontraktion« – diesen sich verändernden Inhalt zur Verfügung stellt, der das Verstreichen der Zeit zum Ausdruck bringt.34 Als »objektiver Kern der Erfahrung eines jeden Menschen« stellt das Soma auch unseren Sinn für Ort und Position bereit, indem die erfahrene Welt um ihr Zentrum herum als »Koordinatenursprung« organisiert wird. James erklärt: »Wo der Körper ist, ist ›hier‹; wenn der Körper handelt, ist ›jetzt‹; was der Körper berührt, ist ›dies‹; alle anderen Dinge sind ›dort‹ und ›dann‹ und ›das‹. Diese Wörter betonter Position beinhalten eine Systematisierung von Dingen mit Bezug auf einen Fokus der Handlung und des Interesses, der im Körper liegt; und die Systematisierung ist jetzt so instinktiv (war es jemals anders?), dass überhaupt keine entwickelte oder aktive Erfahrung für uns – außer dieser so strukturierten Form – existiert«.35 Unsere Körper verhelfen uns außerdem dazu, einen Sinn für den gemeinsam geteilten Raum zu schaffen. Wenn ich den Körper eines anderen sehe, konzentriere ich mich auf einen Ort und Gegenstand, der auch im Fokus seiner Erfahrung liegt, auch wenn er seine Körpererfahrung aus einer anderen Perspektive macht. Auf die gleiche Weise stellen Körper einen allgemeinen, gemeinsamen Ort für die Begegnung im Denken zur Verfügung, dessen Absichten, Überzeugungen, Wünsche und Gefühle im körperlichen Auftreten und Verhalten ausgedrückt werden.36 Die Arbeit des Körpers vereinheitlicht darüber hinaus den Raum und dient als Brücke zwischen den Räumen des inneren Selbst und der äußeren Natur, zwischen physischen und mentalen Ereignissen. Der Körper tut dies, indem er sich zweideutig in beide Bereiche unserer Erfahrung spreizt. Ich kann meinen blutenden Finger als einen Außengegenstand betrachten, der mit einem Verband verbunden werden muss, aber ich kann diesen auch als einen pochenden, schmerzhaften Teil von mir erfahren. Und dieses Pochen, das ich fühle, während das Blut pulsiert und herausströmt, ist es ein physisches Gefühl oder eine geistige Schmerzerfahrung? Der Körper tiefer ins zentrum des sturms | 201

scheint beide Räume zu überspannen, so wie es die von mir gefühlte Woge ehelicher Liebe tut, die meine Brust anschwellen und mein Gesicht mit leuchtenden Augen und einem breiten Lächeln strahlen lässt. Solche Gefühle (die James »affektive Tatsachen« nennt) sind »Affektionen […] des Geistes« und »zugleich Affektionen des Körpers«,37 eine Ambiguität, die exemplarisch die Ambiguität des Körpers selbst widerspiegelt, der sowohl das ist, was ich bin, als auch das, was ich im Unterschied zum »Ich«, das es betrachtet, habe. Wie James erklärt, »behandle ich manchmal meinen Körper ausschließlich als Teil der äußeren Natur. Manchmal wieder denke ich an ihn als ›meinen‹ und ordne ihn dem ›me‹ zu, und dann gehen bestimmte lokale Veränderungen und Festlegungen in ihm als spirituelle Ereignisse durch. Sein Atmen ist mein ›Denken‹, seine Sinnesanpassungen sind meine ›Aufmerksamkeit‹, seine kinästhetischen Veränderungen sind meine ›Anstrengungen‹, sein Rumoren der Eingeweide sind meine ›Gefühle‹«.38 Diese Gleichsetzung von geistigen und körperlichen Prozessen stellt den radikalsten und umstrittensten Aspekt an James’ somatischer Philosophie dar, und wir müssen die wirklich gültigen Argumente von der verwirrenden Übertreibungsrhetorik trennen, die er manchmal aus pragmatischen Gründen benutzt, um seinen Argumenten Gehör zu verschaffen. Gefühle James war davon überzeugt, dass körperliche Empfindungen nicht nur für die Strukturierung unserer Erfahrung kognitiv nützlich sind, sondern auch davon, dass sie den grundlegendsten Sinn unseres Selbst konstituieren. Seine Darstellung des Selbst ist komplex und reicht vom »phänomenologischen Selbst« über das »empirische Ich« (welches das materielle, das soziale und das geistige Selbst einschließt) bis zum ätherischeren »reinen Prinzip personaler Identität«, das er mit dem »Ich« gleichsetzt, welches das »me erkennt« und das traditionellerweise mit der noumenalen »Seele« oder dem »reinen Ich« identifiziert wird.39 »Der Körper«, schreibt James, »ist der innerste Teil des materiellen Selbst in jedem von uns«, gefolgt von unserer Kleidung und unserer unmittelbaren Familie, welche wir auch geneigt sind, als »einen Teil von uns selbst« zu betrachten und als solche für sie zu sorgen.40 Der Körper ist auch für das soziale Selbst wichtig, da dieses das eigene »Bild« in den »Augen« 202 | kapitel 5

oder »Gedanken« anderer mit umfasst, und in diesem Bild spielt der eigene Körper normalerweise eine zentrale Rolle.41 Neben diesen Gemeinplätzen in Bezug auf den Körper stellt James die umstrittene These auf, dass körperliche Gefühle einen wichtigen Aspekt unseres geistigen Selbst ausmachen, von denen Emotionen einen bedeutenden Teil bilden. Die zu seiner Zeit etablierte psychologische Sichtweise betrachtete Emotionen als rein mentale Ereignisse, die zuerst direkt durch die Wahrnehmung und unabhängig von körperlichen Reaktionen erfahren werden. Letztere wurden als bloße Folgeeffekte oder als Ausdruck der Emotion gedacht. James hingegen (und auch Carl Georg Lange, ein dänischer Psychologe, der unabhängig von ihm eine sehr ähnliche Theorie ebenfalls im Jahr 1884 entwickelte), behauptete, dass körperliche Sinnesempfindungen eine grundlegendere Rolle bei der Entstehung und sogar bei der Herausbildung von Emotionen spielen, wenigstens in Bezug auf die stärkeren Emotionen (wie Kummer, Wut, Angst, Heiterkeit usw.).42 Wenn wir etwas bemerken, das uns wütend oder ängstlich macht oder uns begeistert, leiten wir, James zufolge, nicht erst eine rein mentale Emotion von dieser Wahrnehmung ab, die dann eine körperliche Reaktion hervorbringt. Stattdessen »folgen körperliche Veränderungen direkt der Wahrnehmung des Gegenstands der Aufregung, und […] unser Gefühl derselben Veränderungen, während sie auftreten, IST die Emotion«.43 Die konstitutiv intervenierende Rolle körperlicher Reaktionen (wie beschleunigter Herzschlag, Gänsehaut, flache Atmung, Erröten, Zittern oder Fluchtimpulse) ist das, was die echte Emotion der Angst vom bloßen intellektuellen Erkennen, dass das, was wir wahrnehmen, gefährlich oder furchterregend ist, unterscheidet. »Ohne die körperlichen Zustände, die auf die Wahrnehmung folgen, wäre letztere lediglich kognitiv, blass, farblos, ohne jede emotionale Wärme«.44 Emotionen »werden in Wirklichkeit durch jene körperlichen Veränderungen konstituiert und erzeugt, die wir normalerweise als ihren Ausdruck oder ihre Folge bezeichnen«.45 »Eine rein unkörperliche menschliche Emotion«, so schließt James, »gibt es nicht«, selbst wenn diese keine logische Unmöglichkeit darstellt und selbst wenn solch eine Emotion durch »reine Geister« jenseits des menschlichen Bereichs metaphysisch vergegenwärtigt werden könnte.46 tiefer ins zentrum des sturms | 203

Der Großteil der notorischen Kontroverse über die so genannte James-Lange-Theorie ist auf die begriffliche Nachlässigkeit und stilistische Überspitztheit von James’ frühen Formulierungen zurückzuführen. Er gestand später »die schludrige Knappheit der verwendeten Sprache« ein, die die Präzision weitgehend rhetorischen Schnörkeln und einer blumigen Ausdrucksweise opferte.47 Um zu verdeutlichen, dass körperliche Veränderungen formgebend sind und nicht bloß im Prinzip überflüssige Nebenwirkungen, erinnert James daran, dass wir angesichts eines traurigen Ereignisses oder eines Furcht erregenden Gegenstandes nicht zuerst eine körperlose Trauer oder Furcht erfahren, um dann anschließend die mit Kummer oder Furcht verknüpften körperlichen Reaktionen des Weinens, Zitterns oder Flüchtens zu empfinden – vielmehr erfahren wir echten Kummer oder echte Furcht nur, wenn wir fühlen, dass unsere körperlichen Reaktionen angesichts dieses Ereignisses oder Gegenstands einzusetzen beginnen. Bedauerlicherweise drückt James dies in den Principles of Psychology aus, indem er schreibt, »dass wir etwas bedauern, weil wir weinen, wütend sind, weil wir zuschlagen, ängstlich sind, weil wir zittern; und nicht, dass wir – je nachdem – weinen, zuschlagen oder zittern, weil wir traurig, wütend oder ängstlich sind«.48 Diese eingängige, oft zitierte Formel reduziert irrigerweise die Fülle an körperlichen Reaktionen, die an emotionalen Prozessen beteiligt sind (von denen viele, wie James einsieht, »unsichtbare Regungen der Eingeweide sind«)49, auf bestimmte explizite, klar definierte und »grobmotorische« Körperbewegungen wie Weinen, Zuschlagen, Flüchten oder Zittern. James’ berühmter Slogan suggeriert fälschlicherweise auch, dass jede allgemeine Emotion (wie Furcht, Wut, Kummer, Heiterkeit usw.) ein festgelegtes und leicht zu beobachtendes Verhalten, das sie definiert, an den Tag legt und dass Emotionen daher im Wesentlichen behavioristisch verstanden werden sollten. Tatsächlich teilte James keine dieser Annahmen. Er bekräftigte, dass die körperlichen Veränderungen, die bei einer gegebenen Emotion involviert sind, bei verschiedenen Personen und in unterschiedlichen Situationen stark variieren und dass es andererseits eine unbegrenzte Vielfalt an Gefühlen gibt, trotz unserer Tendenz, sie einer begrenzten Gruppe allgemeiner Bezeichnungen zuzuordnen. Auch beharrte James darauf, dass Emotionen innere Erfahrungen seien, die sich 204 | kapitel 5

nicht auf ihre »physiologische Grundlage« reduzieren ließen und deshalb auch aus der Innenperspektive durch größere, jeweils akute Introspektionsbemühungen erforscht werden sollten. Er behauptete sogar, dass Kritiker seine Theorie zu großen Teilen deswegen zurückwiesen, weil sie nicht in der Lage seien, in der Introspektion die Empfindungen körperlicher Veränderungen wahrzunehmen, die er als Gefühle identifizierte.50 James’ Theorie ist auch in anderer Hinsicht problematisch: Er unterscheidet nicht immer klar genug zwischen bloßen körperlichen Veränderungen und der Empfindung jener Änderungen, im Hinblick auf die Frage, wodurch die Emotion verursacht oder konstituiert wird (man beachte seine drei Absätze zuvor zitierten Bemerkungen). Noch gravierender ist, dass James bei dem Versuch, zu definieren, was eine Emotion eigentlich ist, nicht genügend ihre organische Konstitution von ihrem intentionalen Gehalt oder Gegenstand unterscheidet. Schließlich kann man auch den Gedanken vertreten, dass eine Emotion durch ihren Gegenstand definiert wird, weil es darum bei der Emotion geht. Dieses Versäumnis bildet, wir erinnern uns, den Kern von Wittgensteins Angriff auf James’ Theorie. Meine körperlichen Sinnesempfindungen des Zitterns, der Atemnot, der Muskelkontraktion können wesentlich zu meiner Emotion der Furcht angesichts eines sich nähernden Löwen beitragen (eher als mein bloßes Urteil, dass der Löwe gefährlich ist), aber der Gegenstand meiner Furcht ist in Wirklichkeit der Löwe, nicht die körperlichen Veränderungen oder meine Empfindung dieser Veränderungen. Auch wenn James’ spätere, nüchternere Neuformulierung solchen Gegenständen, die Emotionen erzeugen oder sie konstituieren, eine vitale Rolle »als Bestandteil […] der gesamten ›Situation‹« zuspricht,51 neigt er doch überwiegend dazu, ein Gefühl eindimensional als »die organische Empfindung, die der Aufregung den Unruhe-Rang signalisiert«, zu bestimmen, den wir in der »Ergriffenheit« durch starke Emotionen empfinden und der das emotionale Außersichsein der echten Furcht vom bloßen kognitiven Erkennen der Gefahr unterscheidet.52 Dieses organische Gefühl erregter Unruhe, so argumentiert James ganz richtig, hängt von den körperlichen Veränderungen ab, die wir in der Reaktion auf den Gegenstand (oder die Gesamtsituation) bemerken, die uns erschrickt. Jedoch rechtfertigt die Tatsache, dass diese körperliche Empfindung für die tiefer ins zentrum des sturms | 205

Emotion kennzeichnend ist, nicht die von James gezogene Schlussfolgerung, dass sie einfach »die Emotion IST«, als ob er implizierte, das kognitive Element sei unwesentlich. Solch eine Folgerung begeht das, was Dewey »den Fehlschluss der selektiven Betonung« nennt, wobei ein Element, das richtigerweise als kennzeichnend und bedeutsam für ein gegebenes Phänomen herausgestellt wird, dann fälschlicherweise zu der Schlussfolgerung führt, dieses sei alles, was an diesem Phänomen wesentlich oder maßgeblich ist.53 Ungeachtet seiner problematischen Übertreibungen hat James Recht damit, unseren Emotionen eine entscheidende körperliche Dimension zuzusprechen. Damasios jüngste neurophysiologischen Forschungen bestätigen dies, obwohl er mit seinem Vorschlag eines einfachen körperlichen Essentialismus in Bezug auf Gefühle noch unvorsichtiger ist als James. Für Damasio besteht »das Wesen des Gefühls [emotion] in zahlreichen Veränderungen von Körperzuständen, die in unzähligen Organen durch Nervenendigungen hervorgerufen werden. Das dafür verantwortliche Gehirnsystem reagiert auf den Gedankeninhalt, der sich auf ein bestimmtes Objekt oder Ereignis bezieht.« Viele solcher Veränderungen sind durch Außenbeobachtung wahrnehmbar, doch einige können nur binnenperspektivisch durch das Selbst wahrgenommen werden, das sie unter Umständen eben auch nicht wahrnimmt. Damasio reserviert »den Ausdruck Empfindung« [feeling] für »die Wahrnehmung« oder »die Erfahrung dieser Veränderungen«.54 Diese Formulierung besagt problematischerweise, dass wir uns in einem emotionalen Zustand befinden können, ohne diesen überhaupt zu empfinden. In der präzisierten Version von James’ Theorie bedeutet eine Emotion zu haben hingegen, die körperlichen Veränderungen zu fühlen, wobei es möglich ist, diese zu empfinden, ohne sich damit zu identifizieren, diese bestimmte Emotion zu haben. Zum Beispiel könnten wir Wut empfinden (durch Empfindung der entsprechenden körperlichen Veränderungen), ohne zu begreifen, dass wir wütend sind oder worüber wir wütend sind. Die Schlüsseleinsicht, die wir von James und Damasio mitnehmen sollten, ist, dass die körperlichen Veränderungen, die aus der Wahrnehmung oder dem Denken dessen resultieren, was uns emotional bewegt, nicht beiläufiger oder nachfolgender Ausdruck dieser Gefühle sind, sondern vielmehr Teil ihres formgebenden Kerns als eines mentalen Zustands. 206 | kapitel 5

Aus James’ Theorie lassen sich wichtige pragmatistische Konsequenzen ziehen. Wenn es eine wesentliche Verbindung zwischen unseren Emotionen und körperlichen Veränderungen gibt, dann kann eine verbesserte Gegenwärtigkeit gegenüber den Empfindungen, die diese Veränderungen hervorrufen, uns ein Werkzeug an die Hand geben, um unsere Emotionen besser zu verstehen. Wir können ängstlich oder bekümmert sein, ohne es wirklich zu wissen; natürlich empfinden wir etwas, aber wir erkennen das Gefühl nicht explizit und identifizieren es daher nicht als Angst oder Kummer. Aber wenn wir für die Signale unseres Körpers sensibel sind, können wir unsere emotionale Störung erkennen und damit umgehen, sogar bevor wir den genauen Sachverhalt oder die Situation außerhalb unseres Körpers verstehen, deretwegen wir ängstlich oder aufgebracht sind. James arbeitet diese pragmatistische Anwendung der somatischen Introspektion nicht sorgfältig aus. Stattdessen empfiehlt er, mit Emotionen auf andere Weise umzugehen, mittels Handlungen, die darauf zielen, die körperlichen Empfindungen zu transformieren, die an den Emotionen beteiligt sind. James ist kein unkritischer Verfechter von Emotionen. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass starke Gefühle oft gefährlich sind und eine zerstörerische Wirkung entfalten können (und die Verwüstungen seiner eigenen depressiven Schübe sind ihm zweifellos gegenwärtig).55 Gleichwohl bejaht James die produktive Dimension der Leidenschaft weit mehr als die meisten anderen Philosophen. Statt ein Zeichen für Fehler und Irrationalität zu sein, stellen starke Gefühle prima facie eine empirische Evidenz für Wirklichkeit und Wahrheit zur Verfügung. In diesem grundlegenden Erfahrungssinn »bedeutet Wirklichkeit einfach eine Beziehung zu unserem emotionalen und aktiven Leben«.56 Was für uns am wirklichsten ist, ist das, wofür wir uns am leidenschaftlichsten und aktivsten interessieren,57 selbst wenn solche Urteile des Wirklichen durch nachfolgende Erfahrungen aufgehoben werden können. Überdies argumentiert James dafür, dass Leidenschaft kein Feind der Vernunft ist, sondern vielmehr deren starke Verbündete bei der Verfolgung eines Gedankengangs. »Wenn das Fokussieren der Hirnaktivität die fundamentale Tatsache vernünftigen Denkens ist, begreifen wir, warum intensives Interesse oder konzentrierte Leidenschaft uns so viel aufrichtiger und tiefer denken lassen. Die beharrliche Fokussietiefer ins zentrum des sturms | 207

rung der Bewegung in bestimmten Hirnarealen korrespondiert mit der anhaltenden Beherrschung eines wichtigen Themenmerkmals im Bewusstsein. Wenn wir nicht ›fokussieren‹, sind wir wirr; aber wenn wir durch und durch leidenschaftlich sind, schweifen wir nie vom Punkt ab. Nichts als zusammenstimmende und relevante Bilder steigen auf«.58 Auch hier bietet Damasio wieder eine wissenschaftlich aktualisierte Version von James’ Argumentation. Da es kein vereinzeltes »cartesianisches Theater« gibt, in dem der gesamte Input des Gehirns zur gleichzeitigen Verarbeitung zusammenläuft, funktioniert menschliches Denken über »das Zusammenwirken großräumiger Systeme […], welche die einzelnen Teile der neuronalen Aktivität in separaten Hirnregionen synchronisieren. Mit anderen Worten, es ist eine Frage der zeitlichen Abstimmung«, die die »Zeitbindung« von Bildern einschließt, die an verschiedenen Orten auftreten, aber »annähernd im gleichen zeitlichen Rahmen«. Doch erfordert dies, die »fokussierte Aktivität verschiedener Regionen so lange aufrechtzuerhalten, daß sinnvolle Kombinationen hergestellt werden und Denk- bzw. Entscheidungsprozesse stattfinden können. Mit anderen Worten, die Zeitbindung setzt leistungsfähige Mechanismen der Aufmerksamkeit und des Arbeitsgedächtnisses voraus […]«59 Damasio behauptet, dass Gefühle (durch ihre somatische Dimension) nicht nur »als Verstärker für die fortgesetzte Aktivität des Arbeitsgedächtnisses und der Aufmerksamkeit« arbeiten, sondern uns auch »beim Denken [helfen], indem sie einige […] Wahlmöglichkeiten ins rechte Licht rücken« und andere Möglichkeiten ausschließen.60 Ohne die »somatischen Marker« der Emotion, die unsere Energien verstärken und unser Denken in seinen Entscheidungsprozessen unterstützen, könnten wir nicht so schnell, effektiv und entschieden urteilen, wie wir es tun. Wir würden uns in allen prinzipiell möglichen Handlungsoptionen und ihren möglichen Folgen verlaufen und »die Spur verlieren«.61 Reine rationalistische Kaltblütigkeit, wie die Kaltblütigkeit der hirngeschädigten Patienten, die Damasio behandelt, würde dazu führen, dass die »geistige Landschaft« des Arbeitsspeichers nicht nur »völlig abflacht«, sondern auch »so unbeständig [ist], daß nicht genügend Zeit« für einen komplexen Denkprozess und eine schwierige Entscheidungsfindung bliebe.62 208 | kapitel 5

James’ physiologisch-psychologisches Argument für die produktive Rolle der Leidenschaft in unserem Denken schien (neun Jahre nach dessen Formulierung in den Principles of Psychology) auf eine viel bemerkenswertere und zweifelhaftere erkenntnistheoretische Behauptung hinauszulaufen: »Wo auch immer es Meinungskonflikte und widerstreitende Visionen gibt, fühlen wir uns angehalten zu glauben, dass die Seite, die recht hat, die Seite ist, die mehr fühlt, und nicht die Seite, die weniger fühlt.«63 Diese Sichtweise, die ihre Wurzeln eher in James’ Ethik eines Respekts für das Individuum hat als in seinen psychologischen Überlegungen über die fokussierende Kraft von Gefühlen, ist zweifellos strittig, da wir wissen, wie starke Gefühle oftmals unser Urteil verzerren. Leidenschaft kann uns tatsächlich zuverlässig auf Kurs halten, aber es könnte ein Kurs sein, der uns vom vernünftigsten Weg oder von der ausgewogensten Perspektive bei der Behandlung eines Problems abbringt. James’ Aussage lässt sich am besten als eine pragmatistische Übertreibung der überzeugenderen Behauptung verstehen, dass wir größere Bereitschaft zeigen sollten, jene Meinungen zu beachten, von denen andere gefühlsmäßig fest überzeugt sind, und, zumindest prima facie, dem Zweifel Raum zu geben. Personale Identität und das spirituelle Selbst Selbst wenn Emotionen als im Wesentlichen mentale Ereignisse betrachtet wurden, wurden sie doch zugleich immer mit körperlichen Leidenschaften in Verbindung gebracht und daher niemals (nicht einmal von James) als spirituellster Ausdruck des Geistes angesehen. Der spirituelle Kern wurde stattdessen mit dem eigenen Willen und dem aktiven Bewusstsein gleichgesetzt, die unsere Aufmerksamkeit oder unseren Gedankenstrom dirigieren. James’ somatische Philosophie erreicht ihren radikalen Höhepunkt mit seiner Behauptung, dass körperliche Empfindungen und nicht »irgendein rein geistiges Element« unseren Sinn für das »aktive Element im gesamten Bewusstsein« wecken würden, der sich als unsere Subjektivität und »Spontaneität« manifestiert, und »dieser ist die Quelle von Mühe und Aufmerksamkeit« sowie »den Geboten des Willens«.64 Ausgehend von eigener Introspektion erklärt James, dass, wenn er die Aktivität der »Kernidentität des Selbst« beobachte, in seinen geistigen Schlüsselaktivitäten des »Zuwendens, Zustimmens, Verneinens, der tiefer ins zentrum des sturms | 209

Anstrengung« und so weiter »alles, was [er] jemals eindeutig empfinden kann, ein körperlicher Prozess ist, der größtenteils innerhalb des Kopfs stattfindet« oder »zwischen dem Kopf und dem Hals«.65 Diese Empfindungen, so erläutert James, umfassen Anpassungen der Sinnesorgane des Schädels, die mit dem Denken in Verbindung gebracht werden (wie der Druck und die Ausrichtung der Augäpfel) ebenso wie die Muskelkontraktionen der Brauen, des Kiefers und der Stimmritze. James führt weiter aus, dass, wenn seine Erfahrung für das menschliche Denken generell repräsentativ ist (und er geht davon aus, dass er psychologisch nicht abnorm ist), dann »unser gesamtes Gefühl geistiger Aktivität oder dessen, was man normalerweise dafür hält, in Wirklichkeit ein Gefühl körperlicher Aktivität ist, dessen genaue Beschaffenheit von den meisten Menschen übersehen wird«.66 Diese Argumentation beweist nicht, dass der geistige Kern des aktiven Willens und des Bewusstseins des Selbst körperlich ist; dies hat James auch nicht im Sinn. Da seine Principles primär ein psychologisches Werk sind, versteigt James sich nicht zu einem Urteil über die metaphysische Wirklichkeit dieses geistigen Selbst, sondern spricht lediglich aus, wie dieses innerste »Kernselbst«67 sich in der Erfahrung tatsächlich anfühlt, weil er glaubt, dass wir wirklich dessen Aktivität fühlen, und zwar somatisch fühlen. James räumt ein, dass die »meisten Menschen« ihrer Erfahrung nach das Gefühl mentaler Aktivität nicht mit lokalisierbaren körperlichen Empfindungen gleichsetzen würden, aber er behauptet, dass der Grund dafür einfach unsere unzulängliche Aufmerksamkeit und Schärfe in der somatischen Introspektion ist. Es ist »der Mangel an Aufmerksamkeit und Reflexion«, weswegen diese »kephalischen Bewegungen« oder »körperlichen Aktivitäten« des Denkens »normalerweise nicht wahrgenommen und als das klassifiziert werden, was sie sind« (d. h. körperliche Empfindungen), darum nehmen wir an, dass sie auf eine rein geistige Weise gefühlt würden.68 Neben dem Gefühl des eigenen geistigen Kernselbst liefert der Körper den ursprünglichen Kern des Selbstinteresses, und das Spektrum dieses Interesses bestimmt letztlich effektiv die ethische Spannweite des Selbst. Aus evolutionären Gründen der »Selbsterhaltung«, so argumentiert James, »MÜSSEN« »zuallererst [der] eigene Körper [des Selbst][…], die engsten Freunde und schließlich die spirituellen Dispositionen die GEGENSTÄNDE des höchsten Interesses 210 | kapitel 5

für jeden menschlichen Geist sein«, von denen »sich das Interesse an anderen Gegenständen assoziativ ableitet«.69 Unser Interesse an unseren Freunden und unserer eigenen geistigen Kraft ergibt sich schließlich aus unserer Sorge um die Bedürfnisse des Körpers, die für die elementare Selbsterhaltung notwendig sind. »Mein eigener Körper und das, was seinen Bedürfnissen dient, sind also das instinktmäßig determinierte ursprüngliche Objekt meines egoistischen Interesses«, aus dem sich andere Interessen (inklusive altruistischer) entwickeln, mit denen sich das Selbst dann beträchtlich erweitert.70 Körperlichen Gefühlen wird auch zugesprochen, der Nukleus unseres Sinns für kontinuierliche Selbstidentität und Kern der Einheit des Bewusstseins selbst zu sein, mit dem das denkende »Ich« identifiziert wird. Was gibt uns, fragt James, das Gefühl, dass ich dasselbe Selbst bin, das ich gestern war, und dass mein gegenwärtiges Denken zum selben Bewusstseinsstrom gehört wie meine früheren Gedanken? Er beantwortet diese psychologische Frage (die sich von der erkenntnistheoretischen Frage nach den Wahrheitsbedingungen dieser gefühlten Einheit unterscheidet) mit dem Verweis auf Gefühle der »Wärme und Intimität«, die das gegenwärtige Selbst (oder das augenblickliche Denken) gegenüber seinen vergangenen Pendants empfindet; und diese Gefühle identifiziert James als körperliche: »Wir fühlen die ganze Zeit die komplette räumliche Masse unseres Körpers, sie gibt uns ein unaufhörliches Bewusstsein persönlicher Existenz«.71 »Die vergangenen und gegenwärtigen Selbste« werden durch »ein einheitliches Gefühl der ›Wärme‹, der körperlichen Existenz (oder ein gleichermaßen einheitliches Gefühl purer geistiger Energie?)« vereinigt, »das sie alle durchdringt […] und ihnen eine generische Einheit« verleiht, obwohl »diese generische Einheit mit allgemeinen Unterschieden koexistiert, die ebenso wirklich sind wie die Einheit«.72 Sogar die Einheit des Bewusstseins meines gegenwärtigen Denkens (das sich dann vorherige Gedanken und Selbste als meinige aneignen kann), muss, so behauptet James, im Körper verortet werden. Weil die Einheit meines gegenwärtigen Denkens nicht als reine Aufmerksamkeit auf sich selbst erklärt werden kann (da das reine denkende »Ich« sich nicht seiner selbst als eines Gegenstandes bewusst sein kann), muss diese Einheit sich stattdessen ableiten von »dem am vertrautesten empfundenen Teil seines gegenwärtigen Objekts, dem Körper, sowie den zentralen Antiefer ins zentrum des sturms | 211

passungsleistungen, die den Denkakt im Kopf begleiten. Diese sind der echte Kern unserer persönlichen Identität«.73 Diese etwas gequälte Darlegung davon, wie die Einheit des Bewusstseins auf verkörperten Gefühlen basiert, wird von dem Punkt an außerordentlich vereinfacht, an dem James die traditionellere dualistische Sprache seiner Psychologie zugunsten des Erfahrungsmonismus eines radikalen Empirismus aufgibt. Hiernach bestreitet er einfach, dass das Bewusstsein als eine besondere geistige Einheit existiert, wenngleich es dieses als Funktion des Denkens oder der Erkenntnis durchaus gibt. Mit anderen Worten: Bewusstsein gibt es in dem Sinn, in dem wir selbstverständlich Gedanken haben, aber nicht in dem, dass Gedanken durch eine dauerhafte Substanz zusammengehalten werden, die man Bewusstsein nennt und die von dessen Inhalt oder Gegenständen unabhängig ist. Mein Bewusstsein oder »Gedankenstrom«, behauptet James – und dabei beruft er sich wieder auf seine Introspektion, »ist nur ein unbesonnener Name für etwas, das – wie sich nach eingehender Untersuchung herausstellt – hauptsächlich aus dem Strom meines Atmens besteht. Das ›Ich denke‹, von dem Kant sagte, es müsse alle meine Gedanken begleiten können, ist das ›Ich atme‹, welches sie wirklich begleitet.« Wiewohl er die Anwesenheit anderer »Muskelanpassungen« bemerkt, kommt James zu folgender Schlussfolgerung: Der »Atem, der seit jeher der Ursprung des ›Geistigen‹ war, austretender Atem, der sich zwischen der Stimmritze und den Nasenlöchern bewegt, ist, davon bin ich überzeugt, die Essenz dessen, woraus Philosophen die Einheit konstruiert haben, die ihnen als Bewusstsein bekannt ist«.74 Diese Argumentation ist nicht überzeugend. Sie beruft sich lediglich auf James’ Introspektion, und darüber hinaus scheint die Frage, wie Bewusstsein sich anfühlt, mit der Frage verwechselt zu werden, wie und ob Bewusstsein existiert. Dass wir durch unsere Atembewegungen etwas empfinden, bedeutet nicht, dass dieses Etwas wesentlich mehr als eben diese Bewegung ist. Natürlich wird die Unterscheidung untergraben, wenn wir der metaphysischen Annahme anhängen, dass die Dinge nicht mehr sein können als die Weise, wie sie gerade in der eigenen Erfahrung empfunden werden. Aber warum sollte man diese Annahme akzeptieren, insbesondere in Anbetracht der Jamesschen Kritik an unserer dürftigen Fähigkeit, das, was wir wirklich empfinden, zu erkennen? Warum, so kann 212 | kapitel 5

man auch fragen, beschränkt James den Atem des Denkens auf das Ausatmen? Wenn wir denken, können wir gewiss ebenso gut unser Einatmen empfinden. Obwohl James sicherlich damit übers Ziel hinausschießt, den Atem als Wesen des Bewusstseins zu definieren (da wir klarerweise weiteratmen, wenn wir bewusstlos sind), so hat seine Übertreibung doch einen pragmatistischen Schockeffekt, mit dem eine wichtige Tatsache hervorgehoben wird: der mächtige Einfluss der Atmung auf die Tätigkeit und auf die Anstrengung des Denkens. Körper-Geist-Disziplinen vom antiken Yoga und Zen bis zur modernen Feldenkrais-Methode haben diesen Sachverhalt in der Praxis effektiv demonstriert, indem sie konzentriertes Atmen einsetzen, um eine gleichmäßige Ruhe herzustellen, die entscheidend ist für ein geschärftes Bewusstsein, so dass man klarer und tiefer – und zugleich mit größerer Leichtigkeit – wahrnehmen und denken kann, selbst in Krisen- und Stresssituationen.75 Der Wille Die Philosophie feiert den Willen häufig als reinsten und stärksten Ausdruck des menschlichen Geistes. Descartes beispielsweise definiert ihn als »grundlegende Wirksamkeit« der Seele und als unseren »einzigen wahren Grund […], uns selbst zu schätzen«, weil die Willensfreiheit »niemals gezwungen werden kann«.76 Nach seiner Gleichsetzung des Denkens mit Prozessen der Atmung und subtilen körperlichen Bewegungen in der Kopf- und Halsregion könnte man erwarten, dass James eine körperliche Lesart des Willens vorschlägt. Doch hier kommt James’ Somatizismus des mentalen Lebens zu einem abrupten Ende. Der Wille, so beharrt er, ist ein rein mentales Phänomen, das in keinster Weise Körperaktivitäten bei der Durchführung des Gewollten einschließt. »Kurzum, die Willenskraft ist schlicht und einfach eine psychische oder moralische Tatsache«.77 Warum diese Ausnahme für den Willen? Vielleicht deswegen, weil der freie Wille für James weit mehr als ein abstraktes philosophisches Problem war – er legte den Grundstein für sein lebenslanges Streben nach Perfektionismus. Seine frühen Ambitionen wurden lange durch depressive Schübe zunichte gemacht, die nicht einfach durch »schwache Nerven« und diverse körperliche Beschwerden hervorgerufen worden waren, sondern durch das Schreckgespenst des materialistischen Determinismus, der drohte, seine gesamte Zutiefer ins zentrum des sturms | 213

kunft zu zerstören und ihn lebenslang zur Mutlosigkeit zu verurteilen. Wenn es keinen freien Willen gab, gegen sein körperliches und geistiges Elend anzukämpfen, würde ihn dessen Würgegriff unvermeidlich lähmen. Der Weg aus dieser »Krise [seines ] Lebens« gelang ihm, wie er in einem Tagebucheintrag vom April 1870 festhält, durch den Einfluss von Charles Renouviers »Definition der Willensfreiheit: ›das Aufrechterhalten eines Gedankens, weil ich mich dazu entscheide, wenn ich auch andere Gedanken haben könnte‹«. »Mein erster Akt der Willensfreiheit«, entscheidet James folgenschwer, »wird sein, an den freien Willen zu glauben«, und dieser Glaube beflügelte sein Leben.78 Seine monumentalen Principles of Psychology, ein Produkt dieses Glaubens, bekräftigen die Macht des freien Willens, uns zu den »Herren über unser Leben« zu machen, auch wenn James eingestand, dass sein Glaube an die Willensfreiheit in letzter Instanz auf ethischen Grundlagen und nicht auf psychologischen Beweisen beruhte.79 Wenn der Wille rein geistig ist, woraus besteht er dann? James behauptet, dass »Aufmerksamkeit gemeinsam mit Anstrengung alles ist, was jeden Fall des Wollens ausmacht«.80 Es geht einzig darum, die geistige Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Idee statt auf eine andere zu richten; und die Entscheidung für diese Ausrichtung allein, abgesehen von körperlichen Einschränkungen, sollte genügen, um die gewollte Handlung zu initiieren, weil das »Bewusstsein seiner eigentlichen Natur nach impulsiv« ist bzw. dazu neigt, seinen Ideen gemäß zu handeln.81 Der Willensakt ist »absolut vollendet, wenn die Idee einen stabilen Zustand erreicht hat«;82 daher ist die daraus resultierende »Supervention [Überlagerung] durch [körperliche] Bewegung ein überflüssiges Phänomen«, das nicht ein Teil des eigentlichen Willens ist.83 Die Anstrengung, die in schwierigen Fällen bei der Willensausübung empfunden wird, ist schlichtweg die, sich selbst zu zwingen, »SICH eines schwierigen Gegenstandes ANZUNEHMEN und diesen geistig festzuhalten«, während man den starken Drang verspürt, an andere Dinge zu denken.84 »Die Mühe der Aufmerksamkeit ist daher das wesentliche Phänomen des Willens«, und »die Willensanstrengung liegt exklusiv innerhalb der mentalen Welt. Das ganze Drama ist ein mentales Drama. Die ganze Schwierigkeit ist eine mentale Schwierigkeit, eine Schwierigkeit mit einem Gegenstand unseres Denkens«.85 214 | kapitel 5

Dieser psychische Willenspurismus ist besonders wenig überzeugend, weil er von vorangegangenen Argumenten untergraben wird, die ganz klar die Bedeutung des Körperlichen beim Willensvorgang begründen. Wenn die Anstrengung der Aufmerksamkeit das wesentliche Willensphänomen ist, dann sollte sich James daran erinnern, dass er zuvor die wesentliche Rolle körperlicher Mittel bei solchen Anstrengungen argumentativ begründet hat. Nicht nur die Aufmerksamkeit auf Sinnes-Input, sondern selbst die Aufmerksamkeit auf rein intellektuelle Ideen wird durch körperliche Aktivitäten der Konzentration konstituiert (wie etwa die im Kopf- und Halsbereich gefühlten »Anpassungen«), die James durch Introspektion und andere Belege beschreibt und verteidigt. Wenn also die »Beanspruchung der Aufmerksamkeit den fundamentalen Willensakt darstellt«,86 dann muss diese eine klare körperliche Komponente oder einen entsprechenden körperlichen Ausdruck haben.87 Auch wenn James Willenshandlungen beschreibt, was Teil seiner Analyse des Willens ist, wird der Körper mit einbezogen. Bei solchen Handlungen, betont James, muss es eine »kinästhetische Idee davon [geben], worin der Akt bestehen wird«, eine Idee, »die aus Erinnerungsbildern dieser Sinnesempfindungen« der Bewegung, mit der die gewollte Handlung assoziiert wird, »zusammengesetzt ist«.88 Aber diese kinästhetischen Bilder ergeben für uns keinen Sinn ohne die Berufung auf körperliche Bewegungen und Gefühle, die für die Erfahrung solcher Bilder wesentlich und daher »genauso wesentlich« für deren Erinnerung sind. Unsere mentale Vorstellung oder Erinnerung der Handlung, einen Ball aufzuheben, würde daher motorische Bilder der relevanten und für die Bewegung erforderlichen Muskelkontraktionen beinhalten.89 Ähnliche Bedenken stellen James’ Behauptung infrage, dass alle körperlichen Angelegenheiten, die mit dem Vollzug einer Handlung zusammenhängen, für eine erfolgreiche Willensausübung irrelevant seien, dass, wie James sagt, »das Wollen das Vorherrschen der Idee beendet; und ob die Tat dann folgt oder nicht, ist eine ziemlich immaterielle Angelegenheit, insoweit es den Willen selbst betrifft«. James stützt seine Argumentation durch drei Beispiele: »Ich will schreiben, und ich tue es. Ich will niesen, und es geht nicht. Ich will, dass der entfernt stehende Tisch über den Fußboden zu mir herübergleitet; auch das passiert nicht. Meine Willensvorstellung kann tiefer ins zentrum des sturms | 215

ebenso wenig mein Nies-Zentrum anstiften wie den Tisch in Gang bringen. Aber in beiden Fällen ist das Wollen ebenso wahr und gut, wie wenn ich schreiben will«.90 Dieses Argument ist höchst fragwürdig, weil es für die meisten Menschen keinen Sinn ergibt, zu wollen, dass sich der Tisch bewegt, wie James in einer Notiz einzuräumen gezwungen ist.91 Der Grund dafür ist, so nimmt er an, dass ihre Überzeugung von der Unmöglichkeit, das gewünschte Ergebnis zu erzielen, sie psychologisch unfähig macht, es zu wollen. Aber das kann nicht die richtige Erklärung sein, denn ich weiß auch, dass ich mich nicht zum Niesen oder Fliegen bringen kann; dennoch kann es für mich echten Sinn ergeben, diese Dinge zu wollen. Worin besteht der Unterschied? Ich kann niesen oder fliegen wollen, weil ich ein körperliches Gespür (wie vage oder unsinnig es auch sein mag) dafür habe, wie das wäre. Ich habe eine kinästhetische Vorstellung davon, wie es ist zu niesen, und ich kann diese Vorstellung visualisieren oder in mir aufrufen, wenn ich niesen will. Ich habe auch eine vage kinästhetische Vorstellung davon (selbst wenn diese Vorstellung konfus und größtenteils empathisch ist), wie es sein könnte zu fliegen (vielleicht aus der Erfahrung des Springens, Tauchens, Fliegens in Flugzeugen, der Beobachtung von Vögeln oder fiktiven fliegenden Superhelden, die mir körperliche Vorstellungen vom Abheben verschaffen), so dass ich mir irgendwie einen Reim darauf machen kann, losfliegen zu wollen. Bei dem Versuch, mir das Abheben eines entfernten Tisches oder sein Zu-mir-hinüber-Gleiten vorzustellen, gehe ich – wie die meisten Menschen – kinästhetisch leer aus (obwohl James vielleicht Menschen mit übersinnlichen Kräften kannte, die ein paar motorische Vorstellungen zur Verfügung hatten, auf die sie sich stützen konnten). Die unterdrückte Idee der körperlichen Anstrengung des Willens bricht auf aufschlussreiche Weise in seiner Diskussion dieses problematischen Falls durch. »Nur indem ich vom Gedanken der Unmöglichkeit abstrahiere, bin ich in der Lage, mir ernsthaft den über den Fußboden gleitenden Tisch vorzustellen, die körperliche ›Anstrengung‹ zu unternehmen und zu wollen, dass dieser zu mir kommt«.92 Wenn bei schwierigen Willensakten die Einbildungskraft ernsthaft bemüht wird, dann sind sie auch mit einer Art körperlicher Aktivität verbunden. Moderne somästhetische Disziplinen 216 | kapitel 5

wie die Alexander-Technik und die Feldenkrais-Methode ziehen den pragmatistischen Schluss, dass unsere Willenskräfte dadurch gestärkt werden können, dass wir den Gefühlen, die bei den von uns intendierten Handlungen entstehen, größere Aufmerksamkeit schenken, ebenso wie den genau dazu passenden körperlichen Mitteln, welche die Handlung, die wir vollziehen wollen, erfordert.

III.

James studierte, praktizierte und diskutierte viele verschiedene Methoden zur Verbesserung somatischer Erfahrung, aber sein vielleicht bedeutendster Beitrag zur pragmatistischen Somästhetik findet sich in seinen verstreuten, doch aufschlussreichen Bemerkungen über das, was wir somästhetische Introspektion nennen können, die Überprüfung der eigenen körperlichen Gefühle. James, der ein großer Meister der Beobachtung war und seine Beobachtungen plastisch zu beschreiben wusste, mag diese Fähigkeit zunächst durch die tragischerweise immer wiederkehrende Erfahrung diverser (und oftmals subtiler) psychosomatischer Beschwerden erworben haben. Doch seine somästhetischen Wahrnehmungskräfte wurden durch die unermüdlichen Introspektionsexperimente, die er im Rahmen seiner psychologisch-wissenschaftlichen Forschung durchführte, noch verfeinert. Introspektion und Physiologie waren die zwei Säulen von James’ wissenschaftlicher Methode in der Psychologie, wie Gerald Myers anmerkt.93 In den frühen Jahren dieser modernen Wissenschaft, zu deren Entstehung James beitrug, waren Forscher oft genötigt, ihre Beobachtungen und Experimente an sich selbst durchzuführen, indem sie sich bestimmten Erfahrungen unterzogen, um deren mentale Auswirkungen, oftmals durch Introspektion, zu überprüfen.94 »Introspektive Beobachtung«, versichert James (leider etwas übertreibend), »ist das, worauf wir uns in erster Linie, vor allem und immer« bei der Erforschung des Geistes »verlassen müssen«,95 wobei er zugibt, dass diese Methode weder unfehlbar noch allumfassend ist. Sie ist ebenso »beschwerlich und fehlbar« wie »alle Beobachtungen jeder Art es sind«.96 Wie John Stuart Mill ist auch James der Auffassung, dass Introspektion im Wesentlichen Retrospektion bedeutet, tiefer ins zentrum des sturms | 217

da wir in unserem sich ständig in Bewegung befindlichen Gedankenstrom von einem bestimmten mentalen Geschehen nur berichten und dieses objektivieren können, wenn es gerade erst (in dem/n gegenwärtigen Akt der Introspektion) (vor)übergegangen, aber in unserem Gedächtnis noch frisch ist. Da solch ein reflexiver Bericht überdies einer deskriptiven oder klassifizierenden Sprache bedarf, kann die introspektive Beobachtung nicht nur aufgrund einer falschen Erinnerung, sondern auch durch eine falsche Beschreibung dessen, was sie wahrnimmt, auf Abwege geraten. James ist klar, dass wir manchmal durch mentale Zustände motiviert werden, derer wir uns nicht klar bewusst sind, und er hält deshalb immer wieder daran fest, dass Introspektion normalerweise zu oberflächlich ist, um all das zu entdecken, was der Geist wirklich empfindet oder tut. Man erinnere sich daran, wie James die Rolle somatischer Empfindungen im Gefühl und im Denken verteidigt, indem er zeigt, dass diese Empfindungen einfach übersehen werden, weil unsere Introspektion zu unachtsam oder unscharf ist. Darüber hinaus wird jeder introspektive Fokus notwendigerweise einige geistige Zustände in den unbemerkten Hintergrund verlegen. Obwohl er sich dieser Einschränkungen bewusst ist, ist Introspektion für James ein zu kostbares Werkzeug, um es abzulehnen, wenigstens für die damals junge Wissenschaft der Psychologie, der zu wenige andere Ressourcen zur Verfügung standen. Er drängt darauf, dass die introspektiven Schilderungen von verschiedensten Individuen vervielfacht, gebündelt, getestet und verglichen werden sollen, um einen allgemein gültigen gemeinsamen Kern der verstreuten Bruchstücke idiosynkratischer Erfahrungen bestimmen zu können. James meint außerdem, dass die introspektiven Bemühungen eines Individuums durch eine aufmerksamere, diszipliniertere und präzisere Praxis der Vergegenwärtigung unterstützt werden könnten. Am wichtigsten aber ist, dass seine psychologischen Analysen der Aufmerksamkeit, der Sinnesempfindungen, von Differenzierung und Vergleich uns entscheidende Hinweise für konkrete pragmatistische Strategien zur Verbesserung unserer Gegenwärtigkeit geben. 1. Auf dem Weg zu einer verbesserten Introspektion weist James uns als erstes auf die »unheilvollen«97 Schwierigkeiten hin, die wir tatsächlich mit ihr haben: Denn bevor wir uns nicht klargemacht haben, auf welche Weise und warum unsere Introspektion unzu218 | kapitel 5

länglich ist, haben wir keine klare Orientierung, in welche Richtung wir sie verbessern könnten. James merkt an, wie die vagen und namenlosen Empfindungen, »Gefühlstendenzen« und »psychischen Übergänge«, die in unserem Bewusstseinsstrom vorkommen, »sehr schwer introspektiv zu erfassen« sind,98 weil unsere Aufmerksamkeit immer dazu neigt, sich auf die »substantivischen« »Rastplätze« in diesem Strom zu konzentrieren, die durch Wörter oder durch klare und andauernde »Sinnes-Vorstellungen« gebildet werden.99 Solche namenlosen Empfindungen beinhalten auch körperliche, die zwar unbestimmt empfunden, aber normalerweise nicht (oder nicht leicht) durch Introspektion bemerkt werden. Im Gegensatz zum scharfen Schmerz eines kranken Zahns oder eines Nadelstichs (substantielle, benennbare Gefühle) gibt es subtile und flüchtig gefühlte Tendenzen, die sich unserer Namensgebung und expliziten Aufmerksamkeit entziehen: die unmerkliche Neigung unseres Kopfs, eine leise Erwartung, eine unbestimmte Lockerung unseres Beckens, ein sanftes Nachgeben der Gesichtsmuskulatur, wenn wir uns einer einladenden Person oder Situation öffnen. Aber James weist auch auf spezifischere Probleme somästhetischer Introspektion hin. Auf die Empfindungen »des Schlagens von Herz und Arterien, unserer Atmung [und selbst] bestimmter permanenter körperliche Schmerzen« kann man sich schwer konzentrieren, da sie oft mit dem dauerhaften Hintergrundgefühl verschmelzen, vor dem wir unseren Bewusstseinsfokus ausrichten, und dieser Fokus neigt ohnehin dazu, sich nicht auf die Differenzierung körperlicher Empfindungen zu konzentrieren, sondern auf die Unterscheidung von Gegenständen der Außenwelt.100 Besonders schwer zu unterscheiden sind gewohnheitsmäßig mit bestimmten körperlichen Aktivitäten einhergehende Sinnesempfindungen, deren verschiedene Gefühlsaspekte introspektiv äußerst schwierig aus der Gesamtkonstellation von Gefühlen, denen sie zugehören, herauszulösen sind, da sie fast immer gemeinsam erlebt werden: »Die Zusammenziehung des Zwerchfells und die Ausdehnung der Lungen, die Verkürzung bestimmter Muskeln und die Drehung bestimmter Gelenke sind Beispiele dafür«.101 Im letzten Beispiel, merkt James darüber hinaus an, übersehen wir normalerweise die Empfindungen sowohl der Muskelkontraktion als auch der Drehung der Gelenke, weil unser Interesse stattdessen ganz von der Bewegung tiefer ins zentrum des sturms | 219

der Gliedmaßen in Anspruch genommen ist, die gleichzeitig mit den anderen Gefühlen empfunden wird. Es ist die praktische Natur des Bewusstseins, die erklärt, weshalb wir uns primär auf das gesamte Glied konzentrieren statt auf die inneren Bewegungsempfindungen in den Muskeln und den Gelenken, die recht eigentlich die Bewegung des Gliedes in Gang setzen; unser Interesse richtet sich natürlich auf die Gliedmaßen, weil diese direkter mit unseren Bewegungszielen zusammenhängen, wie beispielsweise dem Greifen nach einem Apfel, dem Kicken eines Balls oder dem Überspringen eines Hindernisses.102 2. Neben den Problemen somatischer Introspektion wendet sich James einigen praktischen Vorschlägen zu, um die Introspektion effektiver zu machen, Strategien, die im Wesentlichen aus seiner Forschung über zwei Schlüsselprinzipien der Aufmerksamkeit resultieren: Veränderung und Interesse. Da das menschliche Bewusstsein sich entwickelt hat, um uns in einer sich ständig verändernden Welt zum Überleben zu verhelfen, ist dessen Aufmerksamkeit auf Veränderung angewiesen und an diese gewöhnt. »Niemand kann sich jemals ununterbrochen auf einen Gegenstand konzentrieren, der sich nicht verändert«,103 erklärt James und spitzt den Gedanken zur Paradoxie zu: Um unsere Aufmerksamkeit unverändert auf denselben gedanklichen Gegenstand richten zu können, müssen wir irgendwie sicherstellen, dass dieser irgendeiner Veränderung unterliegt, und sei es nur, dass die Perspektive sich ändert, aus der dieser Gegenstand untersucht wird. Außerdem ist kontinuierliches Interesse für eine stetige Aufmerksamkeit erforderlich, da unser Bewusstsein sich entwickelt hat, um unseren Interessen zu dienen. Wir können uns nicht über längere Zeit auf Dinge konzentrieren, die uns nicht interessieren, und selbst das Interesse am Nachdenken über etwas, an dem uns etwas liegt (beispielsweise unsere rechte Hand), kann sich bald erschöpfen, wenn wir dieses Interesse nicht irgendwie wiederbeleben und unser Bewusstsein insofern modifizieren. Obwohl James sie nicht systematisch formuliert, können sieben verschiedene Strategien somästhetischer Introspektion aus seiner Auseinandersetzung mit Aufmerksamkeit, Unterscheidungsvermögen und Wahrnehmung abgeleitet werden. A. »Die conditio sine qua non anhaltender Aufmerksamkeit auf ein gegebenes Thema des Denkens ist, dass wir es immer wieder 220 | kapitel 5

hin- und herwälzen und dabei unterschiedliche Aspekte und deren Verbindungen der Reihe nach durchdenken«, behauptet James; und ein sehr nützliches Mittel dafür ist, eine Vielzahl an »neuen Fragen über den Gegenstand« zu stellen, auf den wir unsere fortgesetzte Aufmerksamkeit fixieren wollen.104 Solche Fragen provozieren erneutes Interesse am Gegenstand, indem sie uns auffordern, den Gegenstand neu zu betrachten, um auf die Fragen antworten zu können. Darüber hinaus verändert die Mühe des Nachdenkens selbst effektiv die Form oder den Aspekt, unter der oder dem der Gegenstand wahrgenommen wird. Es ist beispielsweise schwer, unsere Aufmerksamkeit für das Gefühl des Atmens aufrechtzuerhalten. Doch wenn wir uns eine Reihe von Fragen dazu stellen: Ist unser Atem tief oder flach, schnell oder langsam? Fühlen wir ihn eher in der Brust oder im Zwerchfell? Wie fühlt dieser sich im Mund oder in der Nase an? Fühlt sich die Ein- oder die Ausatmung länger an? – dann sind wir in der Lage, die Aufmerksamkeit viel länger aufrechtzuerhalten und viel genauer unsere Gefühle introspektiv zu untersuchen. B. Die Prinzipien der Veränderung und des Interesses sind auch für den Begriff des Körperscans grundlegend. Dieses wichtige Werkzeug somästhetischer Introspektion, das von zahlreichen Körper-Geist-Disziplinen eingesetzt wird (von asiatisch inspirierten Varianten der Meditation bis zu westlichen Techniken wie der Feldenkrais-Methode), umfasst das systematische Erspüren oder Vermessen des eigenen Körpers, nicht indem man diesen von außen betrachtet oder abtastet, sondern vielmehr dadurch, dass man sich introspektiv und propriozeptiv selbst fühlt, während man im Wesentlichen bewegungslos (von der Atmung abgesehen) ruht, normalerweise mit wenigstens halb geschlossenen Augen. Obwohl James den spezifischen Begriff des »Körperscans« nicht verwendet, erfasst er deutlich dessen zentrale Bedeutung, grundlegende Logik und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Wenn wir versuchen, unsere »körperlichen Sinnesempfindungen [zu untersuchen], während wir liegen oder bewegungslos sitzen, fällt es uns schwer, präzise die Länge unseres Rückens oder die Ausrichtung unserer Füße bezogen auf unsere Schultern zu fühlen«. Selbst wenn es uns durch »große Anstrengung« gelingt, unser ganzes Selbst auf einmal zu fühlen, ist solch eine Wahrnehmung bemerkenswert »vage und zweideutig« und nur »wenige Teile kommen ausdrücklich ins tiefer ins zentrum des sturms | 221

Bewusstsein«.105 Der Schlüssel zu einer präziseren körperlichen Introspektion ist deshalb, den Körper systematisch zu scannen, indem wir ihn gedanklich unterteilen und dann unsere Aufmerksamkeit zuerst auf einen Teil und dann auf einen anderen richten, so dass jedem Teil die angemessene Aufmerksamkeit zuteilwerden und das Verhältnis der Teile zum Ganzen klarer bestimmt werden kann.106 Die Verschiebung des Fokus versorgt uns nicht nur mit dem Gefühl der Veränderung, dessen die kontinuierliche Aufmerksamkeit bedarf, sondern auch – durch jeden neu untersuchten Teil, der eine neue Herausforderung präsentiert – mit frisch gewecktem Interesse. Außerdem trägt dieser Übergang introspektiver Untersuchung von einem Körperteil zu einem anderen dazu bei, uns aufeinander folgend Gefühlskontraste zu vermitteln, und solche Kontraste helfen uns dabei, das Unterscheidungsvermögen in unserer Gefühlswelt zu schärfen. C. Wenn wir die gefühlte Last einer unserer Schultern einschätzen sollen, während wir auf dem Fußboden liegen, werden wir wahrscheinlich keinen klaren Eindruck von diesem Gefühl gewinnen. Aber wenn wir uns zuerst auf eine Schulter konzentrieren und dann auf die andere, erhalten wir einen klareren Eindruck, indem wir bemerken, welche sich schwerer anfühlt und daher fester auf dem Boden ruht. Kontrast erleichtert die Unterscheidung von Gefühlen,107 und aufeinander folgende Kontraste sind leichter zu unterscheiden als gleichzeitige Kontraste.108 So ist es sehr viel effektiver, sich zuerst auf die eine und dann auf die andere Schulter zu konzentrieren, als wenn man versucht, in simultaner Wahrnehmung die Aufmerksamkeit auf das Gefühl beider Schultern zu richten. Wenn es um allgemeinere Unterscheidungen der Körpererfahrung geht, etwa, wenn man versucht herauszufinden, welche Körperteile sich am schwersten oder dichtesten oder am angespanntesten anfühlen, wird noch deutlicher, dass wir uns nicht auf einen gleichzeitigen vergleichenden Zugriff der Empfindungen aller unserer Körperteile verlassen können, sondern stattdessen unsere Körperteile nacheinander überprüfen und vergleichen müssen. Nur darum geht es bei einem Körperscan. D. Neben der Anwendung fokussierender Fragen und den Übergängen, Unterteilungen und Kontrasten des Körperscans schlägt James in seiner Untersuchung der Aufmerksamkeit weitere Strate222 | kapitel 5

gien vor, um das für die wirksame somästhetische Introspektion notwendige Interesse aufrechtzuerhalten. Eine davon ist das assoziative Interesse. So wie das zarte Klopfen des erwarteten Geliebten trotz lauterer Geräusche gehört wird, weil die Hörerin daran interessiert ist, es zu hören,109 so können wir die Aufmerksamkeit für eine körperliche Empfindung stimulieren, indem wir dessen Erkennung zum Schlüssel für etwas machen, das uns etwas bedeutet. Ein Beispiel wäre ein bestimmtes Gefühl der Muskelentspannung oder des Atemrhythmus, dessen Wahrnehmung ein Gefühl der Ruhe stützen kann, das zum ersehnten Einschlafen führt. E. Die Aufmerksamkeit für Körpergefühle kann auch durch die Strategie erhöht werden, konkurrierende Interessen abzuwehren, da jede Form von Aufmerksamkeit eine Fokussierung des Bewusstseins erzeugt, die es mit sich bringt, dass andere Dinge ignoriert werden, um sich auf den in Frage stehenden Gegenstand zu konzentrieren.110 Deswegen werden introspektive Körperscans und andere Formen der Meditation mit geschlossenen (oder halbgeschlossenen) Augen durchgeführt, so dass unser Denken nicht durch Wahrnehmungen der Außenwelt angeregt wird, die unser Interesse ablenken würden. Innere Wahrnehmung wird daher indirekt dadurch verbessert, dass die Außenwahrnehmung ausgeblendet wird. Somästhetische Introspektion kann auch durch andere methodische Umwege geschärft werden. Zum Beispiel mögen wir, wenn wir auf dem Fußboden liegen, außerstande sein zu fühlen, welche Körperteile nicht den Fußboden berühren – aber wir können das erreichen, indem wir uns zuerst darum kümmern, an welchen Körperteilen wir den Bodenkontakt spüren können. Auch wenn James diese indirekte Introspektionstaktik nicht nennt, kann sie seiner Kontraststrategie zugeordnet werden. F. Noch eine andere Technik, um unsere Aufmerksamkeit für die Abgrenzung von Gefühlen zu schärfen, besteht darin, sich auf deren Wahrnehmung vorzubereiten oder diese zu antizipieren, da »VorWahrnehmung […] die Hälfte der Wahrnehmung des gesuchten Dings ausmacht«.111 In Bezug auf die somatische Introspektion kann solche Vorbereitung (die selbst wiederum das Interesse erhöht) verschiedene Formen annehmen. Man kann sich auf die Spur einer Empfindung begeben, indem man sich überlegt, wo man im eigenen Körper danach suchen sollte, oder sich ausmalt, wie sie hervorgetiefer ins zentrum des sturms | 223

rufen wird und sich dort anfühlt. Solche Vorstellungen und solches Sich-Ausmalen schließen natürlich sprachliches Denken ein, was bedeutet, dass Sprache eine Hilfe bei somästhetischen Einsichten sein kann, auch wenn sie ebenso eine hinderliche Ablenkung sein kann, wenn man annimmt, dass mit dem Sprachspektrum zugleich das Erfahrungsspektrum ausschöpft sei. Auch wenn James die Grenzen des Sprachlichen und die Wichtigkeit namenloser Empfindungen betont, so ist ihm auch klar, dass Sprache unsere Wahrnehmung dessen verbessern kann, was wir fühlen. G. Sprachliche Kennzeichnungen oder Beschreibungen können es beispielsweise erleichtern, ein sehr vages Gefühl dadurch von einem anderen zu unterscheiden, dass dieses Gefühl an Wörter gebunden wird, die viel leichter differenziert werden können. James behauptet etwa, dass die unterschiedlichen Bezeichnungen [für den Geschmack] von Wein uns helfen, dessen Nuancen viel deutlicher und präziser zu unterscheiden, als wir es ohne den Gebrauch dieser verschiedenen Bezeichnungen könnten.112 Die gehaltvollen und wertgeladenen Assoziationen von Wörtern können außerdem unsere Gefühle, selbst unsere körperlichen, verändern. Aus solchen Gründen ist der Gebrauch der Sprache als Leitfaden und zur Schärfung somästhetischer Introspektion – durch vorbereitende Instruktionen, fokussierende Fragen und einfallsreiche Beschreibungen dessen, was wir erfahren haben oder erfahren werden und wie es sich anfühlen wird oder angefühlt hat – auch für jene Disziplinen somatischer Achtsamkeit wesentlich, für die das Spektrum und die Bedeutung unserer Gefühle weit über die Grenzen der Sprache hinausgehen.

IV.

Ein hervorstechendes Merkmal von James’ Philosophie des Geistes ist seine Tendenz, die Ergebnisse seiner psychologischen Forschung in moralische Maximen und praktische Methoden für eine verbesserte Lebensführung zu übersetzen. Seine Theorien der Gewohnheit, des Willens, der Emotion und des Selbst sind dafür schlagende Beispiele.113 Aber trotz all seiner Studien, seiner praktischen Erfahrung und seiner Verteidigung somästhetischer Intro224 | kapitel 5

spektion vermittelt James keine Einsichten in praktische Anwendungsformen geschärfter Achtsamkeit, die uns in unserem Handeln nützen könnten. Während James andere körperliche Methoden der Selbstverbesserung hochhält, bleibt somästhetische Introspektion auf ihre Beobachtungsfunktion in psychologischer Theoriebildung beschränkt. Angesichts der unerschütterlich pragmatistischen Ausrichtung seines Denkens erscheint dieses Versäumnis, Theorie in Praxis umzusetzen, überraschend und bedauerlich. James hatte jedoch Gründe dafür, den Wert somästhetischer Introspektion für das praktische Geschäft des Lebens zu bezweifeln. Denn sie steht scheinbar mit seiner Auffassung im Konflikt, dass man so viel wie möglich »der mühelosen Aufsicht des Automatismus« oder der Gewohnheiten überlassen sollte.114 Auch widerspricht sie dem, was er »das Sparsamkeitsprinzip des Bewusstseins« nennt.115 Auf körperliche Gefühle gerichtete Aufmerksamkeit »wäre eine überflüssige Komplikation«,116 die uns von den wahren Zielen unserer praktischen Vorhaben ablenken würde, anstatt zu deren Verwirklichung beizutragen. Natürlich mag, in einem frühen Lernstadium, der Sänger »an seinen Hals oder seine Atmung und der Seiltänzer an seine Füße auf dem Seil« denken. Aber diese Formen »überschüssigen Bewusstseins« werden schließlich möglichst vermieden, um wahre Könnerschaft zu erreichen, indem man sich auf die Ziele konzentriert – den richtigen Ton oder die Stange, die man auf der eigenen Stirn balanciert.117 Wie James es später einmal formuliert, »das Ziel allein ist genug«; »wir scheitern an der Sorgfalt und Sicherheit, dass wir unser Ziel erreichen, wann immer wir von vielen idealen Vorstellungen der [körperlichen] Mittel in Anspruch genommen sind«, sowie den inneren (oder »ortsgebundenen«) Gefühlen, die damit verbunden sind: »Wir gehen auf einem Balken umso besser, je weniger wir an die Position unserer Füße darauf denken. Wir werfen oder fangen, schießen oder hacken besser, je weniger taktil und muskulär (je weniger ortsgebunden) und je ausschließlicher optisch (entfernter) unser Bewusstsein ist. Halte deine Augen auf das Ziel gerichtet, und seine Hand wird es holen; denkst du an deine Hand, wirst du sehr wahrscheinlich dein Ziel verpassen«.118 James hat Recht damit, dass es in den meisten praktischen Situationen, wenn unsere bereits erworbenen Gewohnheiten dem tiefer ins zentrum des sturms | 225

Handlungsvollzug und der Sicherung der Ziele, die wir erstreben, völlig anmessen sind, nicht hilfreich zu sein scheint, unsere Aufmerksamkeit auf die körperlichen Mittel und Gefühle zu richten, die an solchen Handlungen beteiligt sind. Dennoch betont er in seinem zuletzt zur Verdeutlichung angeführten Beispiel körperliche Mittel, mit denen die Blickrichtung auf das Ziel gehalten wird, was es manchmal erforderlich macht, auch auf andere körperliche Mittel zurückzugreifen, um die Blickrichtung beizubehalten. Darüber hinaus erweisen sich unsere Gewohnheiten häufig als unzureichend, entweder weil neue Situationen nach unvertrauten Verhaltensweisen verlangen oder weil unsere Gewohnheiten einfach falsch sind, so dass die gewünschte Handlung entweder nicht erfolgreich ist oder auf eine Weise durchgeführt wird, die übermäßige Anstrengung, Schmerz oder andere negative Folgen mit sich bringt. In solchen Fällen kann eine sorgfältige Aufmerksamkeit auf unsere körperlichen Mittel (und die das Handeln begleitenden Gefühle) ausgesprochen hilfreich sein, nicht nur um konkret und im Einzelnen handlungsfähiger zu werden, sondern auch um für die Zukunft zu besseren Gewohnheiten bei der Durchführung dieser Handlung (und auch anderer Handlungen) zu gelangen. Durch die Fokussierung unserer Gegenwärtigkeit können wir lernen zu bemerken, wann wir unsere Muskeln mehr als nötig an Körperstellen anspannen, die mit der wirkungsvollen Ausführung der gewünschten Bewegung konfligieren; und solches Wissen kann uns helfen, unsere Bewegungen erfolgreicher und mit größerer Leichtigkeit und Eleganz zu vollziehen. Diese verbesserte Form der Bewegung und seiner begleitenden propriozeptiven Gefühle können dann durch eine neue und bessere Handlungsgewohnheit untermauert werden.119 Beispielsweise im Fall des Schlagmanns [im Baseball, Anm. d. Ü.]: Obwohl ein Schlagmann am besten schlagen sollte, wenn seine Aufmerksamkeit auf den Ball und nicht auf seinen eigenen Körper gerichtet ist, kann ein nachlässiger Schlagmann (manchmal mit Hilfe eines aufmerksamen Trainers) entdecken, dass die Art, wie er seine Füße positioniert und seine Zehen ballt oder wie er zu fest den Schläger umklammert, ihn aus dem Gleichgewicht bringt oder die Bewegung im Brustkorb und in der Wirbelsäule hemmt und so seinen Schwung stört und seinen Blick auf den Ball behindert. An diesem Punkt muss die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper 226 | kapitel 5

und auf die somatischen Gefühle des Schlagmanns gerichtet werden, so dass er falsche Haltungs- und Schlaggewohnheiten erkennen und sie beeinflussen kann und dann bewusst seine Haltung, seinen Griff und seine Bewegungen ändert, bis sich eine neue, wirksamere Gewohnheit, den Schläger zu schwingen, etabliert hat. Sobald dies erreicht ist, kann die Aufmerksamkeit auf die körperlichen Mittel und Sinnesempfindungen des Schwingens wieder aufgegeben werden und in den unbeachteten Hintergrund zurücktreten, so dass sich der Spieler ganz auf den Ball konzentrieren kann, den er zu schlagen beabsichtigt. Dennoch, da seine Fähigkeit zu somästhetischer Gegenwärtigkeit durch die introspektive Übung verstärkt worden ist, kann er zukünftig mit größerer Leichtigkeit und Kraft zu ihr zurückkehren, wenn sich seine Gewohnheiten als unzulänglich erweisen, einschließlich eines Rückfalls in die frühere Gewohnheit, die er gerade korrigiert hat. Der meliorististische Respekt für Mittel seitens des Pragmatismus hätte James empfänglicher machen sollen gegenüber der Vermittlungsfunktion des körperlichen Bewusstseins bei der Verbesserung unserer Gewohnheiten und für das Erreichen unserer Handlungsziele. Aber er folgte der dominierenden philosophischen Tradition, die Gefahren somästhetischer Introspektion für das praktische Leben zu betonen. Kant beispielsweise protestierte vehement: Die Untersuchung solcher inneren Gefühle sei »entweder schon eine Krankheit des Gemüts (Grillenfängerei) oder führt zu derselben und zum Irrenhause«. Die Introspektion von Sinnesempfindungen, so argumentierte er, »benimmt dem Gemüt die Tätigkeit in Ansehung anderer Dinge und ist dem Kopf schädlich«. Außerdem sei die »innere Empfindlichkeit, da man durch seine eigenen Reflexionen gerührt wird, […] schädlich. Analysten erkranken leicht. […] Diese innere Anschauung und Selbstgefühl schwächt den Körper und zieht ihn von animalischen Functionen ab.«120 Kurz gesagt, da die Konzentration auf die eigenen inneren körperliche Gefühle sowohl für den Geist als auch für den Körper schädlich sei, sollten wir solche Introspektion vermeiden. Da James Kants »hypochondrische Tendenz« teilte und »jene introspektiven Studien« fürchtete, »die eine Art philosophische Hypochondrie [in seinem eigenen Denken] hervorgebracht hatten«, pflichtet er ihm bei, dass »es kein besseres oder allgemein nützlitiefer ins zentrum des sturms | 227

cheres Prinzip in der moralischen Ausbildung der Jugend oder in der eigenen persönlichen Selbstbeherrschung gibt als dasjenige, das uns gebietet, dem, was wir tun und ausdrücken, primäre Aufmerksamkeit zu schenken und uns nicht zu viele Gedanken darüber zu machen, was wir fühlen.«121 Da Gefühle und Handlungen intrinsisch verbunden sind (weil Gefühle Handlungen involvieren und von diesen zutiefst beeinflusst sind), tun wir James zufolge besser daran, uns einfach auf die Handlung zu konzentrieren, um unsere Gefühle in den Griff zu bekommen, insbesondere deswegen, weil Gefühle so viel ungreifbarer und schwieriger zu handhaben sind. Um unerwünschte Gefühle (wie Depression, Verdrossenheit oder Angst) zu überwinden, sollten wir »gewissenhaft und zunächst kaltblütig die äußeren Bewegungen jener gegenteiligen Dispositionen durchgehen, welche wir zu kultivieren vorziehen«. Denn »indem wir die Handlung regulieren, die der direkteren Kontrolle des Willens untersteht, können wir indirekt das Gefühl regulieren, das dieser nicht untersteht«. Um also Fröhlichkeit zu erlangen oder wiederzugewinnen, sollten wir einfach »handeln und sprechen, als ob wir bereits fröhlich wären«. »Glätte die Brauen, lassen deine Augen strahlen, ziehe die Rücken- und nicht die Bauchregion des Rumpfes zusammen und sprich in einer Dur-Tonart«.122 James drängte wiederholt zu dieser Methode, nicht nur in Fachartikeln und populären Aufsätzen, sondern auch im privaten Rat an seine Familie. So hielt er seine heimwehkranke Tochter Peggy dazu an, Ihre Gefühle »zu unterdrücken« – »wirf deine Arme dreimal täglich in die Luft und halte dich gerade«. »Meine ›sterbenden Worte‹«, so schrieb er seinem jüngeren Bruder Robertson 1877, »sind ›äußere Handlungen‹ und keine Gefühle«.123 Obwohl James Recht damit hat, den Wert von somatischen Handlungen für die Beeinflussung unserer Gefühle zu verteidigen, erkennt er umgekehrt nicht die entsprechende Wichtigkeit somatischer Gefühle für die Anleitung unserer Handlungen. Wir können nicht richtig wissen, wie man die Brauen entspannt, wenn wir nicht fühlen können, dass unsere Brauen gerunzelt sind, oder nicht wissen, wie es sich anfühlt, entspannte Brauen zu haben. Auf ähnliche Weise gelingt es vielen von uns, die sich eine fehlerhafte Körperhaltung angewöhnt haben, nicht, sich auf eine Art gerade zu halten, die exzessive Starrheit und einen Hohlrücken vermeidet (der unsere 228 | kapitel 5

Atmung und unsere Leistungsfähigkeit einschränkt und zu Schmerzen führt), ohne durch einen Lernprozess hindurchzugehen, der zu sensibler Aufmerksamkeit auf unsere propriozeptiven Gefühle führt. Dies ist ein Ansatz, den James’ Schüler John Dewey später ausarbeitete und den er bei dem Körpertherapeuten und Pädagogen F. M. Alexander kennenlernte. James’ kaltherziges Beharren darauf, dass man den Rücken streng einschnüren und eine steife, aufrechte Haltung einnehmen müsse, ist daher sicher ein zuverlässiges Rezept gegen die Art von Rückenschmerzen, an denen er tatsächlich sein ganzes Leben lang litt, aber es ist auch eher Ausdruck seiner puritanischen Ethik als Ergebnis sorgfältiger klinischer Studien. Wenn »Handlung und Gefühl zusammengehen«,124 wie James scharfsinnig bemerkte, benötigen beide für optimales Funktionieren unsere sorgfältige Aufmerksamkeit. James fürchtete, dass somästhetische Introspektion uns in unserem Handeln behindern und Energie, Spontaneität und positive Haltung zerstören würde, die er als grundlegend für den Erfolg im praktischen Leben erachtete. So wie geistige »Hemmung« unsere »Lebenskraft« untergräbt, so senkt »hyperästhetische« körperliche Sensibilität unsere »Schmerzschwelle«, erhöht auf diese Weise unsere Hemmung zu handeln und verringert unsere Energie.125 Wir sollten stattdessen unser Handeln und selbst unsere Gedanken »vom hemmenden Einfluss des Nachdenkens über sie« befreien, so argumentiert James in The Gospel of Relaxation (Das Evangelium der Entspannung). »Lockere […] deine intellektuelle und praktische Maschinerie und lasse sie frei laufen, und sie wird dir einen doppelt so guten Dienst erweisen«.126 Dieser Rat, der eigenen »Spontaneität zu vertrauen«,127 baut offensichtlich auf James’ Betonung der Nützlichkeit von Gewohnheiten auf. Aber was, wenn unsere Gewohnheiten fehlerhaft sind, wie es häufig der Fall ist? Spontanes Handeln wird schlechte Angewohnheiten und den Schaden, den sie verursachen, einfach verstärken. Wir können diese Gewohnheiten nicht korrigieren, ohne ihren freien Fluss zu unterbrechen, noch können wir zu verbesserten körperlichen Gewohnheiten kommen, ohne den verschiedenen somatischen Gefühlen Aufmerksamkeit zu schenken, die dieser neue Gebrauch des Körpers mit sich bringt. Weil somatische Hemmung und Reflexion für die Herausbildung fruchtbarerer und intelligenter Gewohnheiten entscheidend sind, tiefer ins zentrum des sturms | 229

sind sie viel eher Werkzeuge als Hindernisse für das praktische Leben, obwohl sie wie jedes andere Werkzeug missbraucht (oder überbeansprucht) werden können. Ironischerweise macht James in demselben Aufsatz über Entspannung die schlechten körperlichen Gewohnheiten »des Ruckens und Schnappens« als Quelle der »amerikanischen Überspanntheit« mit ihrer überstürzten »Rastlosigkeit« und »verzweifelten Beflissenheit und Unruhe« verantwortlich. Um diesen »schlechten Gewohnheiten« der »Verspanntheit« unserer Muskeln etwas entgegenzusetzen, die wiederum zu einem »verspannten […] geistigen Leben« führen, drängt James auf »das Evangelium der Entspannung«,128 das sich auf die Arbeit der zeitgenössischen somatischen und spirituellen Schriftstellerin Annie Payson Call beruft.129 Doch wie können wir sicherstellen, dass unsere Muskeln und unsere Atmung »ganz entspannt« sind,130 ohne in unsere vorherige Verspannung zu verfallen und ohne uns um die verschiedenen somatischen Sinnesempfindungen bei der Muskelentspannung und der exzessiven Anspannung zu kümmern, so dass wir erstere verfolgen und letztere vermeiden können? Abgesehen von dem Widerspruch, zugleich auf Spontaneität zu dringen und schlechte Gewohnheiten zu vermeiden, besteht eine unaufgelöste Spannung zwischen dem im Essay beschriebenen Evangelium der Entspannung oder der »Leichtigkeit« einerseits und seinem vorangegangenen Werben für »muskuläre Entschlossenheit«, »athletischen Sport und Leben im Freien« als dem Schlüssel zur Überwindung hemmender Schüchternheit und der Anerziehung verbesserter »geistiger Hygiene«.131 Solches Wertlegen auf handfeste Muskelertüchtigung und Training trifft eher die Tonart von James’ wiederholtem Eintreten für die »Bereitschaft zur Anstrengung« und zum Leben mit »Kühnheit« und »Härte« als für »Leichtlebigkeit«, Entspannung und »moralische Ferien«.132 James scheint die Unstimmigkeit seiner Argumentation zu spüren, wenn er darauf besteht, dass für die erforderliche Entspannung viel eher eine grundsätzliche Haltung des Sich-gehen-Lassens vonnöten ist als die vorsätzliche Bemühung, sich »angestrengt zu entspannen«.133 Eine Möglichkeit, James’ sehr untypisches Dringen auf moralische und physische Befreiung (und deren sonderbare Verknüpfung mit Sportlichkeit) zu erklären, ist, sich daran zu erinnern, dass der Essay 230 | kapitel 5

ursprünglich als Vorlesung an einer Schule für Turnerinnen gehalten wurde und dann wiederholt als Vortrag an Frauenhochschulen Verwendung fand.134 Als unverfrorener (wenn auch unbewusster) Sexist hatte James keine Probleme damit, die Doppelmoral eines anstrengenden Lebens für Männer und entspannter Leichtigkeit für Frauen zu verfechten, die dazu beitragen sollte, letztere glücklich auf das häusliche Leben zu beschränken, wo sie ihre gestressten und im Wettbewerb stehenden Männer versorgen sollten. Solche Erklärungen tragen indessen nichts dazu bei, das entscheidende Problem zu lösen, nämlich Anstrengung und Entspannung in Einklang zu bringen, da Männer und Frauen beide Elemente in ihr Leben integrieren müssen – nicht in Form von aufeinander folgenden Anfällen in Form von rasender Aktivität und von Totalzusammenbrüchen, sondern idealerweise durch einen Vollzug des Anstrengenden mit entspannterer Leichtigkeit. Entspannung stellte per se einen schwer nachzuvollziehenden Wert für Puritaner wie James dar, doch konnte diese als Mittel empfohlen werden, zu besserer Gesundheit zu kommen und besser zu funktionieren, ebenso wie gelegentliche »moralische Ferien« nur als »provisorische Atempausen« gerechtfertigt werden konnten, »um uns für den morgigen Kampf zu erfrischen«.135 Umgekehrt konnte man, wie James aus eigener Erfahrung wusste, Entspannung unter dem Deckmantel der Krankheit nachgehen, die es sogar einem Puritaner erlaubte, sich von den normalen Verpflichtungen auszuruhen und zugleich sein wachsames Arbeitsmoral-Gewissen durch einen »Arbeitsplan« erholsamer Therapie im Kurbad zu beruhigen. Ein anderes Problem ist, dass James uns in seinem Aufsatz dazu anhält, uns zu entspannen, es aber versäumt zu erklären, wie wir das anstellen sollen. Entspannung gelingt nur mit dem richtigen Muskeltonus, einem Gleichgewicht zwischen Spannung und Gelöstheit im Muskelsystem. Doch einer Person, die aus ihrer Erfahrung nicht weiß, wie sich dieser Zustand anfühlt und wie dieser praktisch erlangt werden kann, wird wenig mit der Aufforderung geholfen sein, sich einfach zu entspannen, und sie wird nicht wissen, wie sie dies umsetzen kann.136 Der Trugschluss von James’ einfacher Aufforderung zur Entspannung all unserer Muskeln besteht nicht nur darin, dass wir einen beträchtlichen Grad an Muskelspannung brauchen, um uns funktional zusammenzuhalten, sondern auch, dass die eintiefer ins zentrum des sturms | 231

zige direkte willentliche Form, einen Muskel zu entspannen, die ist, den dazu antagonistischen Muskel anzuspannen. Obwohl James zur Entspannung durch langsameres Atmen und die Verminderung unnötiger Muskelkontraktionen rät, sagt er nichts darüber, wie dies zu erreichen ist, und er erinnert noch nicht einmal an die Methoden, die tatsächlich in Calls Buch beschrieben werden. Die einzige praktische Empfehlung, die er schließlich anbietet, ist: aufzugeben, es zu versuchen, und an Gott zu glauben. Der Weg, sich zu entspannen, »besteht, so paradox es scheinen mag, darin, dass einem wirklich gleichgültig ist, ob man es ist oder nicht. Dann, vielleicht, durch die Gnade des Gottes, wirst du plötzlich feststellen, dass du es bist, und, wenn du dadurch gelernt hast, wie sich der Trick anfühlt, wirst du (wieder durch die Gnade Gottes) möglicherweise in der Lage sein, dies fortzusetzen«.137 Diese Methode ist vielleicht weniger paradox als extrem vage und übermäßig abhängig von übernatürlicher Vorsehung. Auch ist sie, in Anbetracht der Zielgruppe des Vortrags, auf verdächtige Weise sexistisch. Nicht nur radikale Feministinnen werden empört sein von James’ Aufforderung an Pädagoginnen, ihren Ehrgeiz zu zügeln, ihre Gefühle besser nicht mit kritischer Aufmerksamkeit zu verfolgen und stattdessen einfach auf spontane Gewohnheiten (die größtenteils das Produkt patriarchaler Beherrschung sind) und den Glauben an den Gottespatriarchen zu vertrauen. Und schließlich, da die von James vorgeschlagene Methode entspannten Vertrauens in das Göttliche sich auch auf die Beachtung dessen verlässt, »wie sich der Trick anfühlt«, widerspricht dies seiner Forderung, die Prüfung unserer Gefühle auszuklammern und uns stattdessen zu ihrer Regulierung nur auf das Handeln zu konzentrieren. Zu James’ Verteidigung zu behaupten, dass somatische Philosophie spezifischen somatischen Methoden keine größere Aufmerksamkeit zu schenken braucht, würde seiner eigenen pragmatistischen Beschäftigung mit dem Konkreten widersprechen. James’ private Korrespondenz zeigt ein eifriges Interesse daran, viele der somatischen Kuren, die er ausprobierte, detailliert zu beschreiben, und seine Ansprache als Präsident vor der American Philosophical Association (»The Energies of Men«) ist über weite Strecken ein Plädoyer für die systematische Erforschung bestimmter Mittel, um unsere Energien zu steigern, indem wir uns »unsere möglichen men232 | kapitel 5

talen und physischen Ressourcen« weiter erschließen, von denen wir normalerweise nur »einen kleinen Teil« nutzen.138 Eine solche Erweiterung unserer individuellen Kräfte würde James zufolge auch weiterreichende Vorteile für die Gesellschaft als Ganzes mit sich bringen. Wenn Fälle wie z.B. der zweite Energieschub [etwa beim Marathonlauf, Anm. d. Übers.] und andere außergewöhnliche Manifestationen heldenhafter Ausdauer unter Beweis stellen, dass man solche tieferen Energiequellen gelegentlich mobilisieren kann, dann suchte James pragmatisch nach zuverlässigeren Methoden, sich auf diese unergründeten Kräfte zu stützen, um die alltäglichen Grenzen von Schmerz, Erschöpfung und Elan zu überwinden, die unsere Aktivitäten einschränken. Obwohl »emotionale Aufgeregtheit« und ein Sinn »für Notwendigkeit« uns oftmals »über die Schwelle« der Handlungsunfähigkeit hinweghelfen, erfordert es nach James »eine Extraanstrengung des Willens«,139 um uns auf das nächste Energieniveau zu katapultieren. Die systematische Erforschung unserer tieferen Kräfte sollte sich darum auch auf die verschiedenen Möglichkeiten beziehen, den Willen zu stärken, um diese Kräfte zugänglich zu machen. »Dies wäre«, so betont er, »eine ganz und gar konkrete Studie, die durch die Verwendung hauptsächlich historischen und biographischen Materials betrieben werden würde«.140 Yoga ist für James diejenige »methodisch-asketische Disziplin« zur Willensstärkung, die er für historisch »am ehrwürdigsten« und für am besten »experimentell untermauert« hält.141 Sein Aufsatz führt als zentrales Beispiel deshalb das vierzehnmonatige HathaYoga-Experiment eines Freundes an. Hatha-Yoga ist eine YogaForm, die somatische Praktiken der Haltung, der Atmung und der Ernährung betont. Mit ausführlichen Zitaten aus den brieflichen Berichten des Freundes, in denen dieser die angewandte Yogamethode und ihre Wirkungen analysiert, belegt James die extrem machtvolle Transformation, die sein Freund beschreibt. Überraschenderweise weist er aber umgehend den »Wert des spezifischen Prozesses des Hatha Yoga – die Haltungen, Atmungsformen, das Fasten und ähnliches« zurück. Sie seien nichts weiter, behauptet James, als »methodische Eigensuggestion«, die »die Schaltung« der »mentalen Maschinerie« seines Freundes verändert und so seinen Willen »verfügbarer [gemacht hätten] […], ohne dass, soweit ich es ausmachen kann, ihm irgendwelche neuen Ideen, Überzeugungen oder Emotionen tiefer ins zentrum des sturms | 233

eingeimpft wurden. Er ist einfach ausgeglichener, wo er zuvor unausgeglichen war«.142 Dieses etwas lieblose und jeder empirischen Grundlage entbehrende Urteil ist mit James pragmatistischem Verständnis religiöser Erfahrung und seiner Ansicht, dass körperliches Handeln Einfluss auf das geistige Leben hat, höchst unvereinbar. Es ist unmöglich, dass jemand, der sich einer systematischen HathaYoga-Ausbildung unterzieht, keine neuen Ideen und Überzeugungen erwirbt oder neue Emotionen erfährt. Mindestens würde man alle jene Ideen, Überzeugungen und Emotionen gewinnen, die mit dem Vollzug dieser Praktiken (Atmen, Haltung, somästhetisches Bewusstsein und Fasten) verknüpft sind, und – indem man diese fühlt – Fortschritte in ihrem Vollzug machen. Doch versucht James, den besonderen Wert yogischer Körpermethoden zur Willensstärkung zu schmälern, indem er sie auf eine bloße Form mentaler Selbstsuggestion, auf »mentalen Einfluss auf physiologische Prozesse«, reduziert?143 Vielleicht dachte er, dass sein Bekenntnis zur exklusiv geistigen Natur des Willens kompromittiert werden würde, wenn er anerkannte, dass der Wille durch körperliche Mittel wirklich gestärkt werden konnte. Auf jeden Fall geht es beim Hatha Yoga (oder bei der Zen-Meditation) nicht nur um körperliche Haltungen und Handlungen, sondern auch darum, diese mit der angemessenen Achtsamkeit strenger Konzentration durchzuführen, wie etwa durch die Fokussierung der gesamten Aufmerksamkeit auf den eigenen Atem. Solch intensive Konzentration auf das Spüren der eigenen Atmung und anderer körperlicher Prozesse schließt jedoch die Art von somästhetischer Introspektion ein, die James (und Kant) als unproduktiv für das praktische Leben und als psychologisch gefährlich erachteten. Aber die Tatsachen zeigen etwas anderes. Yoga, Zazen und andere systematische Disziplinen, die mit somästhetischer Introspektion arbeiten, führen nicht zu mentaler Schwäche, krankhafter Introvertiertheit und Hypochondrie, wie Kant und James sie fürchteten. Stattdessen tendieren sie dazu, wie im Fall von James’ Freund, den eigenen Lebenskräften neuen Schwung zu verleihen und die Widerstandskraft zu stärken. Neben der empirischen Evidenz jahrhundertealter Traditionen dieser Praktiken und von Zeugnissen, welche die positiven Effekte dieser meditativen Disziplinen belegen, gibt es jetzt weitere Bestätigung seitens neuer wissenschaftlicher Forschung 234 | kapitel 5

in experimenteller Psychologie und Neurophysiologie. Klinische Studien haben demonstriert, dass Meditationstraining (sitzende Meditation, Körper-Scan und Hatha Yoga eingeschlossen) effektiv Symptome wie Angst, Depression und Panik reduzieren und auf diese Weise positivere Affekte bei den Meditierenden hervorrufen kann.144 Andere Experimente haben die neurologische Grundlage dieser positiven Kräfte nachgewiesen. Im Zusammenhang mit der Feststellung, dass positive Gefühle und ein »belastbarer affektiver Stil« mit »einer hohen Aktivität der linken präfrontalen [Gehirnhälfte] […] und einem höheren Niveau des Antikörpertiters bezogen auf den Grippeimpfstoff« einhergehen, konnten Wissenschaftler zeigen, dass Personen, die ein achtwöchiges Schulungsprogramm für Meditation absolvierten, nicht nur eine bedeutend höhere Aktivität der linken vorderen Hirnregion aufwiesen als die Kontrollgruppe Nichtmeditierender, sondern auch einen beträchtlichen Anstieg des Antikörpertiters.145 Die Ergebnisse weisen ganz deutlich darauf hin, dass Meditation nicht nur unsere Stimmung, sondern auch unser Immunsystem verbessert. Meine eigene Erfahrung mit einer Zen-Ausbildung in Japan hat mir gezeigt, wie methodische somästhetische Reflexion auch die Willenskraft weiter anwachsen lassen kann, indem das intensiv konzentrierte Bewusstsein auf die eigene Atmung oder auf andere somatische Gefühle gerichtet wird (wie etwa den Kontakt der eigenen Füße mit dem Boden in der Geh-Meditation). Diese Stärkung der Willenskraft kann auch in James’ eigener Terminologie erklärt werden, ebenso wie es nach seinem Grundsatz des Philosophierens von der Erfahrung aus zulässig ist, Zeugnisse persönlicher Beobachtung zum Beweis anzuführen. Zur Willenskraft gehört, wie James beharrt, die Aufmerksamkeit fest auf eine Idee fixiert zu halten und der natürlichen Tendenz zu widerstehen, durch spezifische Ablenkungen wie neue Sinnesempfindungen zu unseren gewohnheitsmäßigen Interessen und Gedankenassoziationen abzuschweifen. Wir neigen natürlicherweise und gewohnheitsmäßig dazu, unsere Aufmerksamkeit dem Fluss der Außenwelt und neuen Wahrnehmungen zuzuwenden und nicht der fortdauernden und immer wieder bevorstehenden Erfahrung des Atmens. Selbst wenn wir uns für einen Moment auf unsere Atmung konzentrieren, neigt unser Denken fast augenblicklich dazu, zu anderen Dingen überzugetiefer ins zentrum des sturms | 235

hen. Es ist darum extrem schwierig, die Aufmerksamkeit dazu zu zwingen, ganz auf die Erfahrung des Atmens fokussiert zu bleiben oder auch auf jeden anderen somatischen Prozess. Disziplinen anhaltender somästhetischer Fokussierung können unseren Willen stärken, indem unsere Aufmerksamkeit darauf trainiert wird, die Konzentration beizubehalten und der Neigung abzuschweifen zu widerstehen. Die Atmung und der Körper sind wunderbar geeignete Ziele solcher Übungen in fokussierter Aufmerksamkeit, weil sie dem Fokus immer verfügbar sind, während der Geist sie üblicherweise ignoriert, um zu interessanteren oder herausfordernderen Gegenständen davonzutreiben. Als ich meine Meditationsausbildung begann, fiel es mir schwer, meinen Fokus für mehr als einen einzelnen Atemzug beizubehalten, aber nach fortgesetzter, unermüdlicher Anstrengung war ich in der Lage, diese Art von Konzentration für einen sehr viel längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten und dies doch zugleich mit Gefühlen entspannter Leichtigkeit und Lust zu tun. Und meine wachsenden Kräfte an Aufmerksamkeit konnten dann über das Atmen oder die Gehmeditation hinaus auf andere Bereiche übertragen werden, sodass alltägliche Gegenstände und vertraute Personen mit größerer Intensität, Tiefe und Genauigkeit wahrgenommen werden konnten. Meine Bewegungen und Handlungen wurden, so wie meine Wahrnehmung, schärfer, sicherer und befriedigender. Die Stärkung des Willens durch somästhetische Achtsamkeit kann auch mithilfe von James’ Schlüsselbegriff der Gewohnheit erklärt werden. Während mit der Gewohnheit des Bewusstseins gebrochen wird, zu anderen Dingen davon zu stürmen – aufgrund vertrauter Assoziationsmuster und eingefleischter Interessen ist es dafür anfällig –, erzeugt disziplinierte somästhetische Introspektion zugleich die Gewohnheit vergegenwärtigender Kontrolle und entwickelt die Fähigkeit dazu: die Kraft, anhaltende Aufmerksamkeit auf das zu lenken, gegen dessen ausführliche Fokussierung das Bewusstsein Widerstände entwickelt und sich andernfalls nicht damit befassen würde. Sobald diese Aufmerksamkeitskraft entwickelt ist, kann sie genutzt werden, um die Aufmerksamkeit davon abzuhalten, zu den verstörend morbiden Gedanken abzudriften, die anhaltende somatische Reflexion angeblich hervorruft. Auf jeden Fall haben solche düsteren Grübeleien wenig mit der sorgfältigen Kontrolle 236 | kapitel 5

von und dem klaren Bewusstsein für gegenwärtige körperliche Gefühle zu tun, wie es von der Somästhetik (für bestimmte Kontexte und Gelegenheiten) empfohlen wird; es sind stattdessen vage und dunkle, wenn auch kraftvolle Vorstellungen von Krankheit und Tod, deren verstörende Kraft vor allem auf ihrer Dunkelheit beruht.146

V.

Vielleicht weigerte sich James, somästhetische Introspektion für das praktische Leben zu verteidigen, weil er psychologisch so abgeneigt war, diese in seinem eigenen Leben und Handeln einzusetzen. Auch wenn sie mühevoll ist, so verlangt somästhetische Reflektion doch auch nach Stille und Ruhe, und zwar weil es (wie das Weber-Fechner-Gesetz zeigt) schwer ist, feine Nuancen unseres Atmens oder unseres Muskeltonus zu bemerken, wenn wir in energischen, schnellen Bewegungen begriffen sind. Außerhalb seines Krankenbetts und seines Sessels introspektiver Theorie war ruhige Langsamkeit nicht etwas, was James bereitwillig aufbringen konnte. Notorisch unbeständig, rastlos und impulsiv wurde er von seiner Schwester mit einem »Tropfen Quecksilber« verglichen. Seine Aufmerksamkeit »vertiefte sich eifrig, aber ungeduldig« in das, was ihn beschäftigte. Deswegen verabscheute er »ausgedehnte Beschäftigung mit ein und derselben Aufgabe« und musste die wunderbare Schnelligkeit, Wendigkeit und Kühnheit seines Geistes nutzen, um das, »was ihm an Abgeklärtheit fehlte«, wettzumachen. James war sich dessen bewusst und charakterisierte sich gern als »Motor«, der dynamische Energie und kraftvolle Bewegung als Teil seines Tüchtigkeitsideals begriff. 147 Wenn James spürte, dass sein Motor auf Touren war, versuchte er dessen produktive Kraft durch leidenschaftliches Arbeiten auf höchstem Leistungsniveau zu steigern, typischerweise gefolgt von einer Art physischen oder psychischen Zusammenbruchs. Selbst wenn er krank war, glaubte er fest daran (jedenfalls bis auf die letzten zwei Jahren seines Lebens), dass das beste Heilmittel gegen seine chronischen Beschwerden und gegen geistige Armut körperliche Anstrengung sei und nicht nachdenkliche Ruhe. Ungeachtet der vielen Monate, die James in Liegekuren in Kurorten in ganz tiefer ins zentrum des sturms | 237

Europa verbrachte, wird deutlich, wie sehr er Langsamkeit und erholsame Ruhe gegenüber seinem eigenen Programm an praktischer Somästhetik vernachlässigte, nämlich gegenüber den Körperpraktiken, die er am leidenschaftlichsten verfolgte und in seiner Suche nach Gesundheit und der Kultivierung seiner Kräfte am meisten wertschätzte. Obwohl er gewillt war, fast alles zu versuchen, um seine Energie zu steigern und sich selbst zu heilen, bevorzugte James eindeutig Methoden, die strapaziöse Muskelanstrengung und energische Bewegung betonten, selbst wenn chronischer Rückenschmerz und später eine Herzerkrankung eigentlich dagegen gesprochen haben sollten. Diese Vorliebe spiegelt seine heroischen ethischen Ideale wider, sein dynamisches Temperament und die dahinter stehende Ideologie mühevollen puritanischen Strebens und machistischen Athletentums (bemerkenswert von James’ Zeitgenosse Teddy Roosevelt exemplifiziert), die zu seiner Zeit bestimmend war.148 Gewichtheben war ein früher Lieblingssport von James, aber seine große Liebe galt dem »schnellen Bergklettern«, nicht nur als körperliches Training, sondern auch seine »wichtigste Quelle für ursprüngliche Verstandeskraft und die Gesundheit der Seele«, sein verlässliches »altes Mittel, um sich Überdruss und Ärger von der Seele zu laufen«. Selbst nachdem er erfahren hatte, dass sein Herz durch seine ungestümen Exzesse beim Bergsteigen Schaden genommen hatte, zwang James sich weiterhin zu »Hügelwanderungen«, beklagte sich darüber, dass er langsamer gehen musste, als er wollte, aber war stolz und glücklich, dass er noch immer einen »steilen und rutschigen« Aufstieg bewältigen konnte.149 Er verabscheute den passiven Charakter der Erholung und betrachtete diese fast schon als unmoralischen Ausdruck von Faulheit und Schwäche, überdies fürchtete er deren Schädlichkeit für »Verdauung und Nervenstärke«.150 Die Wertschätzung der Freizeit war ihm fremd (und vermutlich fürchtete er die lustlose Kränklichkeit, die er während der Liegekuren in seiner Jugend erfahren hatte), daher suchte James nur dann Erholung, wenn er zu schwach war, um sich durch strapaziösere Mittel zu kurieren. Im Umgang mit jedweder erfahrenen Schwäche schien er die heldenhafte »Tyrannisierungs-Behandlung« zu bevorzugen, nämlich entschlossen die schmerzhaften Gefühle zu ignorieren und absichtlich im Training 238 | kapitel 5

über den Schmerz hinwegzugehen, um diesen zu besiegen. Im Umgang mit einem wunden Fuß berichtet James stolz seiner Frau, dass er »triumphierend die Tyrannisierungs-Methode angewandt […] und sich [den Schmerz] hinweggelaufen hatte«.151 Zu krank und zerbrechlich, um (im Unterschied zu zweien seiner jüngeren Brüder) im Bürgerkrieg zu dienen, kompensierte James dies durch ein heroisches Ideal, das martialisch und dynamisch war, »ein starker Mann, der mit dem Unglück kämpft«. »Bleib immer sehnig« und »Lebe heftig!« waren seine moralischen Motti. »Der Impuls, das Leben kämpferisch zu führen«, davon war James überzeugt, »ist in der menschlichen Rasse unzerstörbar«.152 Das mag wahr sein, doch ebenso ist es der Impuls, sich auszuruhen, da Ruhe auch in einem starken und kämpferischen Leben unentbehrlich ist. Auch können wir effektiver für etwas kämpfen, wenn unsere Anstrengungen, wie kräftig und behände sie sein mögen, von entspannter Ruhe statt von hektischer Nervosität begleitet werden. Asiatische Kampfsportarten und Bogenschießen, das Schwingen eines Baseball- oder Golfschlägers oder das Stoßen eines Billard-Queues veranschaulichen beredt diesen Punkt. So paradox es klingen mag: Die Anstrengung, einen wachen, lebendigen oder aktiven Ruhezustand aufrechtzuerhalten (im Gegensatz zu einem passiven Zusammenbruch) kann ein anstrengendes Projekt sein. Ich denke dabei nicht nur an die zuvor erwähnten spezifischen meditativen Zustände im Yoga oder Zen; wir können auch dem Vorhaben nachgehen, ruhevollere Gegenwärtigkeit in den Vollzug der Aufgaben des täglichen Lebens zu bringen und dadurch unseren Handlungen (und unserem Leben) ein größeres Gefühl von Leichtigkeit und Eleganz zu verleihen. Weil unsere Gewohnheiten größtenteils deformierte Produkte exzessiver Betriebsamkeit, Spannung und eines zu hohen Leistungsdrucks sind, verlangt dieser entspanntere Gebrauch des Selbst die willensstarke, anstrengende Bemühung um Selbstkontrolle und Umerziehung, die uns vielleicht ein »moralisches Äquivalent des Kriegs« liefert – nämlich eines Kampfes gegen die eigenen schlechten Gewohnheiten, der möglicherweise sogar die Jamesschen Kriterien heroischen Strebens im »Theater menschlicher Bemühungen« erfüllt.153 Er bekannte allerdings, dass diese Aufgabe schwer zu bewältigen sei, als er schließlich durch einen unkonventionellen Bostoner Arzt davon überzeugt wurde, dass er sich durch exzessive Muskelanstrengung in tiefer ins zentrum des sturms | 239

seinen alltäglichen Handlungen und Gedanken systematisch Gewalt angetan hatte. Weniger als zwei Jahre vor seinem Tod begann James, einen Dr. James R. Taylor aufzusuchen, den er anfänglich als »homöopathischen Semi-Quacksalber« beschrieb.154 Obwohl er sich weiterhin über die Kosten der häufigen Sitzungen beklagte und gegenüber den Vorzügen der Dampf-Inhalationen, den Vibrationen und den »homöopathischen Kügelchen«, die der Arzt verabreichte, skeptisch blieb,155 war James eindeutig überzeugt von Taylors aufschlussreicher Diagnose und seinen Instruktionen zu einer Umerziehung angesichts der schädlichen Wirkungen von James’ chronischer Tendenz zu übermäßigen Anspannungen und Muskelkontraktionen (oder »Verhärtungen«) in seinem täglichen Leben. Der wirkliche Gewinn aus Taylors Behandlung, schrieb James seinem Bruder Henry, »besteht darin, mich in meiner allgemeinen Art, mich im Strom des Lebens zu halten, umzuerziehen […] was auf lange Sicht zählt […] ist die ›Tonlage‹, in der ein Mensch lebt, welche bösartig und falsch sein kann […] Gesagt sei hier nur so viel: dass ich in meinem Leben zu gehetzt war, in einem Zustand innerer Spannung ausharrte, der Umgebung zuvorkam und mich darauf versteifte, ihren Anforderungen gerecht zu werden oder zu widerstehen, ehe sie erwartet wurden (ich spreche hier vor allem von der sozialen Umgebung!), gegenüber der je aktuellen Tätigkeit unaufmerksam war, weil ich schon von der nächsten in Anspruch genommen wurde, nicht richtig zuhörte etc., weil ich zu erpicht darauf war, selbst zu sprechen, nicht nachzulassen, wenn ich hätte nachlassen sollen, sperrig, eckig, schnell, überstürzt war, meinen Kopf meinem Körper vorauseilen ließ usw. usw. und meine Leistungsfähigkeit behinderte sowie meinen Kopf aufscheuchte und mein Gewebe in Folge faserig werden ließ. Die immerwährend kumulative Wirkung seiner Kritik überzeugt mich durch eine leichtere Tonart, bessere Laune, weniger Beteiligung körperlicher ›Verhärtungen‹ in meinen gedanklichen Prozessen und – kurzum – allgemein eine bessere Grundhaltung«.156 Was James, wenn auch spät und widerwillig, entdeckte, war die unbemerkte, aber zerstörerische Wirkung seiner habituellen impulsiven Angestrengtheit. Er erkannte schließlich den entscheidenden Wert dessen, einen Umgang mit sich selbst nicht dadurch zu erlernen, dass dem Willen etwas durch angestrengte Aktivität ausgetrie240 | kapitel 5

ben wird, sondern indem man durch vorsichtige, ruhige Aufmerksamkeit zu entspannten, gemächlichen Handlungen gelangt. Sechs Monate vor seinem Tod schien er auch den Wert der Erholung zu entdecken, als eine »bösartige Erkältung« ihn zu vier Wochen »sitzenden Lebens« in seinem Haus in Cambridge zwang und in ihm das Gefühl hinterließ, sich so gut wie schon »seit ›Ewigkeiten‹« nicht mehr zu fühlen und sich auf seine Arbeit konzentrieren zu können. Doch die tief sitzende Gewohnheit, sein »Herz überzubeanspruchen«, ließ James bald schon wieder nach Europa – und in eine erneute Erkrankung – hetzen. Und doch predigt sein allerletzter Brief an seinen Bruder Henry (den er im Juni von dem deutschen Kurort Nauheim aus schrieb) schließlich den Grundsatz gemäßigter, langsamer Bewegung und erholsamer Freizeit. Er drängte Henry, es mit dem »Wandern nicht zu übertreiben«, da »man mit Mäßigung am Ende am weitesten kommt«, auch beschwor er ihn, sich nicht hektisch zu beeilen, ihn zu besuchen, sondern lieber »zu verweilen […] und den Kontinent so peu à peu wie möglich zu erkunden und jede Station gemütlich anzugehen […] Mein letztes Wort ist nun: ›Eile nicht hierher!‹«157 James lernte seine Lektion zu spät und zu unvollständig, um den Schaden abzuwenden, den sein Herz bereits erlitten hatte. Er erlangte seine Gesundheit nicht mehr zurück und starb im August 1910. Nach der Autopsie hielt seine Frau Alice in ihrem Tagebuch eine »akute Herzvergrößerung« fest und schlussfolgerte: »Er war ausgeglüht.«158 Es ist müßig, darüber zu spekulieren, in welchem Ausmaß James’ Leben und Wirken hätten verbessert werden können, wenn er die Grenzen seiner somatischen Theorie und Praxis klarer erfasst hätte und sich durch somästhetische Reflexion besser kontrolliert hätte. Unsere Aufmerksamkeit wird sinnvoller genutzt, wenn wir sie darauf lenken, die exemplarischen Instruktionen, die seine Texte und sein Leben bieten, zu erproben, indem wir uns von dem pragmatistischen Projekt, ihre Beschränkungen zu überwinden, leiten lassen. Sein pragmatistischer Nachfolger, John Dewey, bringt dieses Projekt in bedeutender Weise voran.

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Kapitel 6

Die Rettung somatischer Reflexion John Deweys Körper-Geist-Philosophie I.

Obwohl sein nüchternes, eher dem Logischen zugeneigtes Temperament John Dewey vor glühenden Übertreibungen schützte, preiste er den menschlichen Körper leidenschaftlich als »die wunderbarste aller Strukturen des riesigen Weltalls«.1 Sein Werk Erfahrung und Natur feiert den »Körper-Geist« als grundlegende Einheit, in der das geistige Leben aus den elementareren physiologischen und psychophysischen Funktionen des Körpers hervorginge, im Gegensatz zu einer Auffassung, nach der das Soma durch transzendente Kräfte die Vernunft überlagere, die einer geistigen Welt jenseits der Natur entsprängen.2 Dewey beklagt die »Verachtung des Leibes«, die »Furcht vor den Sinnen und […] die Gegensätzlichkeit von Fleisch und Geist«, die traurigerweise in der Philosophie (selbst im sinnlichen Bereich der Ästhetik) vorherrsche. In seinem Buch Kunst als Erfahrung beharrt er darauf, dass »biologische« Faktoren die »Wurzeln des Ästhetischen« bildeten und auf diese Weise die Kunsterfahrung als die am meisten spirituelle Erfahrung sowie kreative Denkprozesse prägten.3 Doch Dewey hat dem biologischen Körper in seinem Denken nicht immer schon diesen Stellenwert eingeräumt. Er begann seine Karriere als neohegelianischer Idealist, der die Existenz einer transzendenten Seele in Abgrenzung zum Körper behauptete und der immateriellen Seele bzw. dem immateriellen Geist als wesentlicher Gestaltungskraft des Lebens gegenüber dem Körperlichen einen klaren Vorrang einräumte. Anstatt den Geist als etwas zu verstehen, das der körperlichen Existenz erwächst, betrachtete er den menschlichen Körper als Produkt und Werkzeug der transzendenten Seele, die sich im Körper verankert, um diesen nutzen zu können. In dem Aufsatz Soul and Body von 1886 behauptet Dewey, der Körper sei »nur deshalb das Organ der Seele, weil die Seele den Körper zu ihrem Organ gemacht hat. […] Der Körper als Organ der Seele ist das Ergebnis der informierenden, erschaffenden Tätigkeit der Seele | 243

selbst. Kurz gesagt, die Seele ist dem Körper nicht kraft der bloßen Körperlichkeit des Körpers immanent, sondern weil sie aufgrund ihrer Transzendenz ihre Natur im Körper ausgedrückt und manifestiert hat.«4 Dewey verteidigt das gestaltgebende Primat der transzendenten Seele sogar mit theologischer Rhetorik unter Aufbietung antiker christlicher Doktrinen. »Sieh, was die Seele getan hat. Sie hat das Fleisch zu ihrem Tabernakel und ihrer eigenen Offenbarung gemacht. Der Körper ist die verkörperte Fortsetzung der Seele […] Kein Wunder, dass die Körperpsychologie keine neuen Wahrheiten hinsichtlich der Beziehungen zwischen Seele und Körper zutage gefördert hat. Sie kann lediglich – und dies aus gutem Grund – unsere Einsicht in die von Aristoteles und Paulus prophezeite Wahrheit bestätigen und vertiefen: Das Wahre war schon längst gefunden.«5 Diese rückwärtsgewandte Haltung – die Wahrheit ist längst entdeckt und die Darwinsche Evolutionstheorie und die zeitgenössische physiologische Forschung stellen die den Körper abwertende Lehre des Heiligen Paulus nicht in Frage und modifizieren sie auch nicht – widerspricht nicht nur Deweys späterer Hochschätzung des Körperlichen, sondern auch dem fortschrittlichen, wissenschaftlichen Geist, für den er zu Recht berühmt ist. Wodurch änderte sich Deweys Vorstellung vom Körperlichen und dessen Bedeutung für das Verständnis des Geistes? Entscheidend trug William James dazu bei. Deweys »offizielle« biographische Skizze (von seinen Töchtern mit Deweys Einwilligung verfasst) bestätigt ganz klar, dass »William James’ Principles of Psychology so ziemlich der größte einzelne Einfluss« war, »der die Richtung des philosophischen Denkens Deweys« weg von seinem frühen Idealismus veränderte.6 Obwohl Dewey darauf bestand, dass seine philosophischen Inspirationen weit mehr auf seine Lebenserfahrungen als auf philosophische Texte zurückzuführen waren, machte er eine besondere Ausnahme bei James’ Psychologie, die er als einen »spezifizierbaren philosophischen Faktor« würdigte, »der in mein Denken einging und ihm so eine neue Richtung und Qualität gab«. Insbesondere behauptete Dewey, dass James’ »biologische Auffassung von der Psyche«, deren »neue[r] Kraft und neue[m] Wert [der] immense Fortschritt der Biologie seit der Zeit des Aristoteles« zu verdanken war, »mehr und mehr alle meine Ideen [durchdrang] 244 | kapitel 6

und als ein Ferment [wirkte], das die alten Überzeugungen transformierte«.7 Einmal davon überzeugt, dass unser geistiges und seelisches Leben tief in Physiologie und körperlichem Verhalten verwurzelt ist, die für die menschliche Erfahrung formgebend sind, wandte Dewey James’ biologischen Naturalismus mit größerer Konsistenz an als sein Mentor selbst und schuf damit eine einheitlichere Vision von Körper und Geist. Er stellte James’ Begriff eines Selbst (oder Egos) außerhalb des Reichs natürlicher kausaler Prägungen in Frage. Ebenso lehnte er die Idee ab, der Wille sei eine rein geistige Angelegenheit, die unabhängig von den körperlichen Modalitäten seiner Wirkung und seines Ausdrucks denkbar wäre. Dewey unterstrich wie James den physiologischen Aspekt von Gefühlen, doch er lieferte eine ausgewogenere Theorie, in der die kognitive Dimension von Gefühlen stärker betont wird, und brachte Wahrnehmung (cognition) wie auch physiologische Reaktionen in den größeren Zusammenhang des Verhaltens. Während für James das Bewusstsein etwas Privates war,8 begriff Dewey, dass ein biologischer Erklärungsansatz des geistigen Lebens seine wesentlich soziale Natur mit umfasst, einfach deswegen, weil das Überleben eines Organismus von der Wechselwirkung mit (und der Verkörperung von) seiner Umwelt abhängt. Und ein entscheidender Teil der Umwelt des menschlichen Organismus ist die Gesellschaft anderer Menschen, ohne die ein neugeborener menschlicher Organismus nie überleben und volle menschliche Identität erwerben könnte, einschließlich der Beherrschung einer gemeinsam geteilten Sprache, in der man die privatesten Gedanken formuliert. Schließlich vermied Dewey die James’sche Inkonsistenz, somästhetische Introspektion zwar in der Theorie anzuwenden, im praktischen Leben jedoch – durch sein vehementes Verfechten von ungehemmter Spontaneität, von Gewohnheiten und einem reinen Willen – zurückzuweisen. Dewey war stattdessen weise genug, somatische Reflexion sowohl für die Theorie als auch für die Praxis zuzulassen. Deweys Weiterentwicklung von James’ Ansätzen zu einer einheitlicheren Theorie geht teilweise auf sein von ihm selbst eingestandenes »Temperament« zurück, »logische Konsistenz […] zum vorherrschenden Gesichtspunkt« zu machen.9 Aber sie spiegeln auch die Wirkung eines anderen Mentors wider, dessen Einfluss eine ebenso die rettung somatischer reflexion | 245

große Inspirationsquelle gewesen sein mag wie der von James. Ich spreche von dem Körperpädagogen und -therapeuten F. M. Alexander, dessen Ideen und Praktiken Dewey oft zitiert und unermüdlich verteidigt (trotz der skeptischen Einwände von Freunden und Kollegen). Sehr deutlich hat Dewey zum Ausdruck gebracht, was er Alexander zu verdanken hatte: nicht nur die Verbesserung seiner Gesundheit und seiner Selbstsorge, die mitverantwortlich für sein hohes Alter seien10 – er lieferte ihm auch den »Stoff«, mit dem er die »schematische Form« seiner theoretischen Ideen füllen konnte. »Meine Theorien des Körper-Geistes, der Koordination der aktiven Elemente des Selbst und der Verortung von Ideen in der Hemmung und Kontrolle offenen Handelns erforderten die Auseinandersetzung mit der Arbeit von F. M. Alexander und in späteren Jahren mit der seines Bruders, A. R., um sie in die Wirklichkeit zu übersetzen«.11 Doch schoss Dewey hier in seiner Begeisterung wieder übers Ziel hinaus. In einer der drei Einleitungen, die er für Alexanders Bücher schrieb, behauptet er kühn: »Alexander [hat] ein neues wissenschaftliches Prinzip in Bezug auf die Kontrolle des menschlichen Verhaltens nachgewiesen, und zwar eines, das ebenso wichtig ist wie jedes Prinzip, das in der äusseren Natur gefunden worden ist. Mehr noch, seine Entdeckung ist eine notwendige Ergänzung zu den Entdeckungen in der nicht-menschlichen Natur, wenn uns Letztere und all die neuen Erfindungen nicht versklaven und zu hilflosen Werkzeugen machen sollen.«12 Auch wenn es sich hierbei um eine hanebüchene Übertreibung handelt (die Alexander-Technik wird mit der Newtonschen Physik auf eine Stufe gestellt), wird daran deutlich, dass man ohne ein Verständnis für Alexanders Ansichten und Methoden Deweys Philosophie des Körper-Geistes nicht gerecht wird. Deshalb untersucht dieses Kapitel Deweys somatische Philosophie im Hinblick auf diese beiden Säulen, das Denken von James und das von Alexander, auf denen es fußt. Ich werde zunächst zeigen, auf welche Weise Alexanders Lehre Dewey dazu verhalf, James’ Theorie weiterzuentwickeln und den praktischen Wert des somatischen Körperbewusstseins zu begreifen; anschließend möchte ich verdeutlichen, dass der Einfluss Alexanders auf Dewey nicht nur von Vorteil war und dass Deweys somatische Theorie davon profitiert hätte, wenn er sich von einigen einseitigen, starr rationalistischen Ansichten Alexanders distanziert und stattdessen das 246 | kapitel 6

Affektive stärker betont hätte, ein Standpunkt, der auch von James eingenommen wurde und den Dewey grundsätzlich teilte.

II. Die Korrektur von Widersprüchen bei James

In seinen Principles of Psychology betont James die grundlegende Korrelation von geistigen und körperlichen Zuständen und argumentiert für eine substanzielle körperliche Präsenz bei der Erfahrung mentaler Phänomene, die für gewöhnlich als rein geistig betrachtet werden. Dennoch »erlaubt er sich die Annehmlichkeit des Dualismus«, in dem Körper und Geist als verschiedene Arten von Dingen verstanden werden können, wie eng sie auch miteinander interagieren mögen.13 James verfährt hier nicht nur deshalb so, weil dualistisches Denken zum Zeitpunkt der Entstehung Common sense war und sein Buch (das als Lehrbuch in Auftrag gegeben worden war) klar und eingängig sein sollte, sondern auch, weil es ihm widerstrebte, einen weiterreichenden Naturalismus zu befürworten, der seinen existenziell wichtigen Glauben an die Willensfreiheit bedrohen und seine sehnliche Hoffnung auf menschliches Bewusstsein jenseits der Grenzen sterblichen körperlichen Lebens zunichtemachen würde. Selbst als er den Dualismus schließlich für seinen »radikalen Empirismus« aufgibt, in dem Geist und Materie lediglich verschiedene Weisen sind, ein grundsätzlich einheitliches Feld reiner Erfahrung zu strukturieren, bleibt James der Willensfreiheit treu. Die Freiheit des Willens ermöglicht es nach James, handelnd in die physische Welt einzugreifen, sie wird jedoch umgekehrt nicht durch die Kausalität der Welt determiniert. Nachdem Dewey sich James’ Perspektive angeschlossen hatte, entwickelte er einen konsistenteren, nichtdualistischen Naturalismus. Anstatt von Körper und Geist als zwei verschiedenen, voneinander trennbaren Dingen zu sprechen, deren wechselseitigen Einflüssen nachzugehen ist, bestand Dewey nun darauf, sie als grundsätzliche Einheit zu behandeln, und lehnte die etablierte Trennung als allgegenwärtigen Irrglauben (flaw) ab, von dem sowohl Theorie als auch Praxis heimgesucht würden. Dewey ist zwar dafür bekannt, dass er jede Art von Dualismus kritisierte (wie etwa Mittel/Zweck, Kunst/Leben, Subjekt/Objekt, Theorie/Praxis), doch die rettung somatischer reflexion | 247

habe sich »die Tradition der Trennung und Isolierung […] nach meiner Einschätzung auf nichts so katastrophal ausgewirkt wie auf dieses spezielle Thema Körper-Geist«.14 Dewey erkannte, dass diese Trennung durch sprachliche Überlieferung sowohl widergespiegelt als auch verstärkt wird, und er beklagte, »wir haben kein Wort, um Geist-Körper als einheitliche Wirkungsganzheit zu benennen«, die das menschliche Leben charakterisiert. Überzeugt von der »Notwendigkeit, Geist-Körper als ein integrales Ganzes zu sehen«, setzte Dewey sich bewusst über den konventionellen Sprachgebrauch hinweg, indem er durch die begriffliche Setzung solcher Ausdrücke wie »Körper-Geist« und »Geist-Körper« deren Einheit behauptete.15 Unser Handeln ist immer sowohl körperlich als auch geistig. Obwohl Handlungen wie Essen oder Trinken normalerweise als rein körperliche eingestuft werden, sind sie gleichwohl durchdrungen von sozialen, kognitiven und ästhetischen Bedeutungen. In bestimmten rituellen Zusammenhängen erhalten sie sogar einen tiefen spirituellen Sinn. Die Art und Weise, auf welche Stimmungen und Gedanken Essen, Trinken und Verdauung und letztere wiederum unsere mentalen Zustände affizieren, belegt eine so enge Verbindung, »dass es künstlich« wäre, von einem »Einfluss, der zwischen zwei getrennten Dingen hin und her ausgeübt wird«, zu sprechen.16 Statt einer Interaktion zwischen Körper und Geist haben wir es eher mit der transaktionalen Ganzheit eines Körper-Geistes zu tun. Diese fundamentale ontologische Einheit des Körper-Geistes hat jedoch nicht zur Folge, dass immer ein befriedigender Grad an harmonischer Einheitlichkeit unseres Verhaltens als Körper-Geist an den Tag gelegt oder garantiert wird.17 Gedanken der Wut oder Gier können die reibungslose Verdauung ebenso stören, wie die Verdauung falscher Speisen (oder falscher Mengen) unsere geistige Harmonie stören kann. Erotische Aktivitäten, deren Potenzial an sozialen, ästhetischen und sogar spirituellen Bedeutungen einer Kategorisierung als lediglich physischer Aktivität widerspricht, können ebenfalls unter fehlender Harmonie zwischen körperlichen Bedingungen und den Fantasien leiden, die im Kopf stattfinden (welche selbst wiederum im körperlichen Verhalten wurzeln und dieses widerspiegeln). Aus Sicht des zukunftsorientierten, melioristischen Pragmatismus sieht Dewey die Einheit des Körper-Geistes weniger als ontologische Gegebenheit an, auf der wir uns selbstgefällig ausruhen 248 | kapitel 6

können. Vielmehr ist sie ein anzustrebendes, ständiges Ziel dynamischen, harmonischen Funktionierens, wie auch bei der Einheitlichkeit der Gewohnheiten deren »Geschlossenheit […] mehr eine Errungenschaft als eine Gegebenheit« darstellt.18 Dewey behauptet, dass der Grad an Einheitlichkeit des Körper-Geistes grundlegend von sozialen Bedingungen abhänge, denn der Organismus werde durch seine Umgebung geprägt und die menschliche Umgebung sei auf grundlegende Weise sozial. So könne der Einheitlichkeitsgrad als Kriterium bei der Bewertung einer Kultur verwendet werden: »Je […] zivilisierter sie ist, desto weniger gibt es ein Verhalten, das rein physisch, und ein anderes, das rein geistig ist«.19 Deswegen beklagt er die scharfe gesellschaftliche Aufteilung zwischen gedankenloser körperlicher Arbeit (ebenso mechanisch wie die Maschinen, die sie einsetzt) und rein intellektueller Tätigkeit, die davon abgeschnitten ist, »physische Mittel in den Dienst materieller Veränderungen zu stellen«. Beide Extreme spiegelten eine »Fehlanpassung« wider, »eine Abweichung von jeder Ganzheit, die Gesundheit ist«. Wichtiger als eine neue Terminologie, um die Körper-Geist-Einheit anzuzeigen, dringender als metaphysische Theorien, die den Dualismus bekämpfen, ist, wie Dewey versichert, dass »die Integration von Geist-Körper in Aktion« vor allem und wesentlich eine praktische Frage ist, »die praktischste aller Fragen unserer Zivilisation, die wir stellen können«, eine Frage, die soziale Rekonstruktion ebenso erfordert wie individuelle Anstrengungen, um eine bessere Einheitlichkeit in der Praxis zu erreichen. Ohne eine solche Reform »werden wir weiterhin in einer Gesellschaft leben, in der ein seelenund herzloser Materialismus durch einen seelenvollen, aber nichtigen und unnatürlichen Idealismus und Spiritismus kompensiert wird«.20 Der Primat des Praktischen hielt Dewey nicht davon ab, theoretische Interventionen vorzunehmen, um die Metaphysik der KörperGeist-Spaltung anzufechten. Eine Strategie bestand darin, den traditionellen Dualismus von Physischem und Mentalem zu untergraben, indem er zur Erklärung der menschlichen Wirklichkeit stattdessen drei sich durchdringende »Ebenen anwachsender Komplexität und Intimität der Interaktion zwischen natürlichen Ereignissen« einführt, die er »physisch, psycho-physisch und geistig« nennt.21 Das »Psycho-Physische« stellt dabei weder eine spezielle Substanz die rettung somatischer reflexion | 249

dar, die dem Physischen entgegensetzt wäre, noch ist es die Hinzufügung von etwas rein Psychischem oder Übernatürlichem, das mit dem Physischen verschmolzen wird, »wie ein Kentaur halb Mensch und halb Pferd ist«.22 Vielmehr bezeichnet es die Entstehung einer komplexeren Ebene der Organisation von physischen Materien und Energien, durch die der Organismus zielgerichtete Bemühungen hervorbringt, um die Befriedigung seiner Überlebensbedürfnisse zu erreichen. Wenn das sinnliche Urteilsvermögen (das notwendig ist, um im Organismus erfolgreich die Abfolge von Bedürfnis, Bemühung und Befriedigung zu erreichen) komplexer wird, erreicht es die Ebene der Gefühle oder der basalen Empfindungsfähigkeit, die höher entwickelte Tiere, den Menschen eingeschlossen, erfahren. Dewey zufolge stellt der Geist eine noch höhere Ebene der Organisation dar, die nur dann aus der psycho-physischen Erfahrung hervorgeht, wenn Sprache ins Spiel kommt; denn Sprache ermöglicht es dem Organismus, Gefühle und Bewegungen zu benennen, damit zu objektivieren und ihnen einen bestimmten Sinn zu verleihen, der wiedererkannt und in der Kommunikation eingesetzt werden kann. Das Geistige bleibt damit Teil des Reichs natürlicher Ereignisse, aber da für Dewey das Geistige an sprachliche Voraussetzungen geknüpft ist, platziert er dieses auch direkt im Bereich der Kultur. Dieser doppelte Status ist frei von Inkonsistenz. So wie der Geist dem Körper nicht entgegengesetzt, sondern eher ein dem menschlichen Körper erwachsender Ausdruck ist, so ist die Kultur kein Widerspruch der Natur, sondern eher ihre Erfüllung und Umgestaltung.23 Trotz James’ revolutionärer Hervorhebung der körperlichen Dimension von Gefühlen hält seine Psychologie an einer speziellen Gruppe »subtiler« Gefühle fest (denen der »reinen« ästhetischen, moralischen und intellektuellen Lust und Unlust), die »fast gefühllos« sind, gänzlich »zerebral« und »kognitiv« und daher nicht abhängig von den Gefühlen »des körperlichen Resonanzbodens«.24 Deweys Rekonstruktion der James’schen Gefühlstheorie korrigiert diesen abwegigen Vorschlag eines rein geistigen, körperlosen Gefühls, der eine wirkliche Spaltung von Körper und Geist bedeuten würde; James’ reines philosophisches Vergnügen bewirke eine nur zerebrale Befriedigung und sei bloß kognitiv angemessen. Dewey weist auf die »belebende Wirkung motorischer Entladung und organischer Verstärkung« hin, die den geschmeidigen Fluss eines »Ge250 | kapitel 6

fühls der Fülle und der Mühelosigkeit im Denken« unterstützten und erhöhten, etwas, das James als rein mentale Befriedigung bestimmt. Wenn wir intellektuell in höchster und reinster Form tätig sind, wird das Denken, so Dewey, »wirklich umfassend. Es nimmt uns vollständig in Besitz« – den Körper und den Geist.25 Für Dewey liegt nicht nur in James’ Unterscheidung zwischen rein intellektuellem und robust körperlichem Gefühl ein störender Restdualismus, sondern auch in der Weise, in der James dem kognitiven Inhalt eines Gefühls dessen physiologische Ursache oder Ausdrucksform gegenüberstellt. Anstatt Gefühle als eine Kombination von abgrenzbaren kognitiven Wahrnehmungen und körperlichen Reaktionen zu verstehen, argumentiert Dewey eher für eine grundlegende Einheit zielgerichteten Verhaltens, die sowohl den kognitiven als auch den körperlichen Dimensionen des Gefühls unterliegt. Diese Dimensionen werden nur identifiziert und als solche unterschieden, wenn Verhalten (immer in Wechselwirkung mit einer Umgebung) problematisch wird und nicht mehr reibungslos verläuft. Wenn wir uns mühelos mit dem Auto durch den Verkehr bewegen, haben wir keine voneinander unterscheidbaren Wahrnehmungen des entgegenkommenden Fahrzeugs einerseits und der Angst vor dem möglichen Schaden andererseits, den es verursachen könnte, wenn es uns in einen Unfall verwickelt. Nur bei einer Störung der mühelosen Interaktion – etwa, wenn ein Auto plötzlich auf unsere Spur wechselt – entwickeln wir ein abgrenzbares Gefühl der Angst, verknüpft mit einer abgegrenzten Wahrnehmung des Gegenstands, während dieser auf uns zurast und wir entscheiden müssen, wie wir den Zusammenprall vermeiden. Dewey zufolge haben wir nicht erst eine Idee vom Auto und dann ein Gefühl der Angst. Vielmehr werden »die Idee und die emotionale Erregung« von den dafür relevanten »Verhaltensweisen, die primär sind« (in diesem Fall dem Autofahren) »zu ein und derselben Zeit konstituiert«; »tatsächlich repräsentieren sie [Idee und physiologische Erregung] die Spannung zwischen Reiz und Reaktion innerhalb der Koordination, aus der sich das Verhalten zusammensetzt«.26 Kurz gesagt, geistige und körperliche Reaktionen sind nicht zwei verschiedene Dinge auf der Suche nach einer philosophischen Synthese, sondern vielmehr analytische Abstraktionen, die schon in der ursprünglichen Einheit zielgerichteten Verhaltens enthalten sind. die rettung somatischer reflexion | 251

Solche Einheit spontanen Handelns sollte, wie Dewey betont, nie aufgespalten werden in den rein mentalen Akt der Zweckbestimmung (ausgeführt von der angeblich körperlosen Instanz der Willensfreiheit) und die dann folgende, davon getrennte körperliche Ausführung dieses Zwecks. James hatte, wir erinnern uns, eine solche dualistische Darstellung in seinen Principles of Psychologie gewählt und behauptet, dass in expliziten Willenshandlungen »die Willensanstrengung exklusiv innerhalb der geistigen Welt liegt. Das ganze Drama ist ein geistiges Drama«.27 Zwar räumt er bereitwillig ein, dass Wissenschaft die methodologische Voraussetzung hat, im Prinzip alles (einschließlich unserer Entscheidungen) im Sinne kausaler Bedingungen erklären oder voraussagen zu können, »dass die Welt ein ungebrochenes Faktum sein muss und dass alle Dinge […] idealerweise, wenn nicht sogar tatsächlich, vorhersagbar sein müssen«. Dennoch behauptet James, es gäbe ein gegenläufiges und letztlich vorrangiges »moralisches Postulat über das Universum«, das für unsere gesamte ethische und handlungstheoretische Auffassung wesentlich ist und das Willensfreiheit erfordert: Es ist »das Postulat, dass, was sein soll, sein kann, und dass schlechte Taten nicht vom Schicksal gegeben sein können, dass hingegen gute Taten an ihrer Stelle möglich sein müssen«.28 Wir fühlten nicht nur das Wirken der Willensfreiheit in unseren Entscheidungen, betont James. Ohne diese würden »der ganze Kitzel und die Spannung« von Handlungsentscheidungen verloren gehen; »Leben und Geschichte« wären lediglich »das stumpfe Abspulen einer Kette, die vor Urzeiten geschmiedet« wurde, und moralische Verantwortung würde durch den Determinismus kausaler Abläufe negiert.29 Dewey erwidert scharfsinnig, dass diese schwarzmalerisch skizzierte Alternative zur Willensfreiheit nicht wissenschaftlicher Determinismus sei (welcher von kausalen Bedingungen bestimmt wird, die von Wahrscheinlichkeiten abhängen, ungewiss und veränderlich sind), sondern stattdessen »theologische Vorherbestimmtheit«, bei der Kausalität auf altmodische Weise »als aktive Instanz oder als bestimmende Kraft« (entsprechend der Idee eines unabhängigen Egos wie etwa Gott) konstruiert wird. Die »Ungewissheit« kausaler Verknüpfungen und Folgen im Wahrscheinlichkeitsfluss unserer Welt sollte genügen, um unsere Handlungen spannend zu machen.30 252 | kapitel 6

Eine Vorstellung von Willensfreiheit, die vollständig außerhalb des Bereichs kausaler Verknüpfungen liegt, ist nicht nur mit der Wissenschaft unvereinbar, sondern auch unzulänglich und unnötig, um den ethischen Sinn freier und bedeutungsvoller Entscheidungen zu erklären. Wenn die freie Wahl eines heißen oder kalten Getränks bedeuten würde, eine Wahl völlig unabhängig von materiellen Faktoren zu treffen, dann würde dies erfordern, von den eigenen Vorlieben, Gewohnheiten, gegenwärtigen Wünschen, körperlichen Zuständen und den uns umgebenden physischen und sozialen Bedingungen abzusehen. Solche Art von Wahlfreiheit wäre einfach die »Freiheit der Teilnahmslosigkeit« oder willkürliche Zufälligkeit, nicht der bedeutungsgebende Einsatz des Willens, durch den ethische Handlungen definiert sind.31 Abgesehen davon: Wie könnte solch eine Wahl der freie Wille eines Individuums sein, wenn doch von allen Bedingungen abgesehen wird, die die individuelle Handlungsfähigkeit definieren? Aber wenn Entscheidungen für ein ethisches Leben gerade deswegen von Bedeutung und Gewicht sind, weil sie sich an der Verfasstheit und den Wünschen einer Person orientieren, dann können Entscheidungen nicht bedingungslos frei sein. Entscheidungen und Freiheiten sind nicht irreal, bloß weil sie bedingt sind. Wir erfahren unsere Entscheidungen als frei, so Dewey, »weil die bewusste Gegenwärtigkeit alternativer Ziele zusammen mit dem Nachdenken, das dadurch hervorgerufen wird, [eine Art von] Freiheit ist«.32 Und solche Art Freiheit ermöglicht uns, auch wenn sie nicht frei von kausalen Bedingungen ist, einen ausgeprägt zukunftsorientierten Sinn moralischer Verantwortung. Wenn man Menschen als verantwortliche behandelt und sie für ihre Handlungen lobt oder verurteilt, können sie so beeinflusst werden, dass sie besseren Gebrauch von ihrem Verstand und ihrer Urteilskraft machen, um bessere Entscheidungen zu treffen. »Ursachen für ein Handeln sind immer da, aber Ursachen sind keine Entschuldigungen. […] Als Ursachen künftigen Tuns müssen Entschuldigungen wie Anklagen gleicherweise in Betracht gezogen werden […]. Sittlichkeit hat mit einem Handeln zu tun, das noch in unserer Macht steht, mit Taten, die noch zu tun sind.« Das moralische Problem ist eine Frage »der Veränderung der Wirkungskräfte, die jetzt künftige Ergebnisse beeinflussen«, und unsere Praktiken oder »Formeln, nach denen wir selbst urteilen, Lob und Tadel austeilen, Strafen die rettung somatischer reflexion | 253

und Ehrungen zusprechen, sind ein Teil dieser Bedingungen«.33 Wie Dewey an anderer Stelle sagt: »Wenn man Menschen verantwortlich macht, kann das einen deutlichen Unterschied in ihrem zukünftigen Verhalten machen; einen Stein oder Baum verantwortlich zu machen, ist sinnloses Theater«, weil es keinen vergleichbaren Einfluss auf Entscheidungen und Handlungen gibt.34

III. Über F. M. Alexander, Gewohnheiten und die Notwendigkeit somatischen Nachdenkens

Wir haben nun die logischen, ontologischen und ethischen Argumente untersucht, mit denen Dewey die Inkohärenz eines Jamesschen freien Willens außerhalb des Reichs natürlicher kausaler Bedingungen zeigt und mit denen er stattdessen eine Art »weichen Determinismus« vorschlägt, der die Freiheit zu wirklichen Entscheidungen bekräftigt, während er zugleich deren bedingten Charakter anerkennt. In einer zweiten kritischen Argumentationslinie wurde insbesondere die Jamessche Sichtweise in Frage gestellt, dass der Wille eine ausschließlich geistige Angelegenheit sei, intrinsisch unabhängig von körperlichen Mitteln, die einfach angewandt würden, nachdem der Willensakt in seiner reinen Geistigkeit erfolgreich vollzogen worden sei. Hier verlässt Dewey sich stark auf F. M. Alexanders Einsichten in die Macht körperlicher Gewohnheiten und in die Unerlässlichkeit somatischer Mittel für Willenshandlungen. Willenshandlungen sind kein Produkt isolierter Momente rein geistiger Entscheidungen; sie bauen vielmehr auf den Gewohnheiten des Empfindens, Denkens, Handelns und Wünschens auf, die uns zu dem Selbst machen, das wir sind. Gehen etwa ist eine komplizierte mechanische Angelegenheit, bei der man viele Knochen und Muskeln koordiniert und gleichzeitig das Gleichgewicht hält. Doch unter normalen Umständen reagiert unsere alltägliche Gehgewohnheit einfach auf unseren Wunsch, irgendwo hinzugelangen, ohne dass irgendein besonderer Willensakt bei jedem Schritt vonnöten wäre, also beim komplexen Bewegungsablauf des Hebens, Vorstreckens und Senkens jeder Hüfte, jedes Beines und jeden Fußes zusammen mit den notwendigen Begleitbewegungen des Beckens. 254 | kapitel 6

Bei der überwiegenden Mehrheit freiwilliger Verhaltensweisen führen unsere unreflektierten Gewohnheiten spontan unseren Willen aus. Gewohnheiten sind nämlich, wie Dewey bemerkt, »ein Verlangen nach einer gewissen Art von Tätigkeit […], sie sind […] der Wille«, und die »Stoßkraft« ihrer »Neigung« ist »ein Teil unseres Selbst […], der viel innerlicher zu unserem Wesen gehört als unbestimmte allgemeine, bewusste Wahlentscheidungen«. Gewohnheiten machen also »das Selbst aus […] Sie formen unsere wirkenden Begierden, sie beliefern uns mit unseren wirksamen Fähigkeiten. Sie beherrschen unsere Gedanken und entscheiden, welcher Gedanke auftauchen und stark sein und welcher aus dem Licht ins Dunkle sich verziehen soll.«35 Gewohnheiten können nicht rein geistig und autonom sein, da sie immer Aspekte der Umgebung verkörpern. Die gewohnheitsmäßige Weise zu gehen hängt nicht nur von der individuellen körperlichen Struktur ab (die selbst teilweise geprägt wird durch Ess- und Bewegungsgewohnheiten, welche die Muskeln und schließlich sogar die Knochen formen), sondern auch von den Oberflächen, auf denen man geht, den Schuhen, in denen man läuft, den Vorbildern, bei denen man mitempfindet, wie man geht und an denen man sich orientiert, sowie den situativen Zielen, die jemandes übliche Gehweise bestimmen (durch überfüllte Straßen zur Arbeit eilen oder gemächlich barfuß auf Sand schlendern).36 Auch Denkgewohnheiten müssen sich Eigenschaften der Umgebung einverleiben, die notwendig oder lohnend sind, gedacht und durch Handlungen angegangen zu werden. Da Gewohnheiten sich überdies allmählich und im Laufe der Zeit herausbilden, nehmen sie historische Rahmenbedingungen mit in sich auf und können so fortdauern, selbst wenn die ursprünglichen Bedingungen längst nicht mehr gegeben sind, wie wir traurigerweise von Opfern wissen, die in der Vergangenheit Missbrauch und Unterdrückung erfahren haben. Wenn der Wille durch Gewohnheiten konstituiert wird und wenn Gewohnheiten sich immer Umwelteigenschaften einverleiben, dann folgt daraus, dass der Wille keine völlig autonome und rein geistige Angelegenheit sein kann. Wollen kann kein körperloser Akt sein, weil es voraussetzt, dass man gewissermaßen die verfügbaren Mittel bzw. die Affordanz eines umweltbedingten Handlungskontextes in Anwendung bringt, zu denen auch unsere körperlichen Ressourdie rettung somatischer reflexion | 255

cen gehören. Gehen zu wollen (eher als es zu wünschen) bedeutet, irgendwie unsere Gewohnheiten und Mittel der körperlichen Bewegung einzusetzen, selbst wenn wir (beispielsweise durch eine Verletzung) des gewohnheitsmäßigen Gebrauches unserer Beine beraubt sind und unsere Muskelanstrengung nur an anderem Ort zum Ausdruck kommt.37 Für Dewey liefert Alexander die klarste Erklärung dafür, auf welche Weise Körpergewohnheiten für wirksame Willenshandlungen nicht nur unentbehrlich sind, sondern auch enorm zerstörerisch sein können, wenn sie unseren Willen auf trügerische Weise durchkreuzen. Wer war Alexander, und welche Hintergründe und Grundsätze lagen seiner somatischen Theorie und Praxis zugrunde? 1869 in Australien geboren, begann er seine Karriere als Schauspieler, doch rätselhafterweise verlor er immer wieder seine Stimme, und zwar immer dann, wenn er eine Aufführung hatte – trotz gesunder Stimmbänder. Da Fachärzte ihm nicht helfen konnten und auch keine Erklärung dafür hatten, studierte Alexander sein Sprechverhalten systematisch vor dem Spiegel und fand schließlich heraus, dass seine Stimmprobleme beim Schauspielern auf eine bestimmte, gewohnheitsmäßige Haltung des Kopf- und Halsbereiches beim Deklamieren zurückzuführen waren, die seine Atmung behinderte und dadurch seine Stimme belastete. Er beschrieb diese Haltung (die er bei der Schauspielerei, nicht aber beim alltäglichen Sprechen einnahm), als »Zurückziehen des Kopfs«. Mit weitaus größerer Überraschung entdeckte Alexander daraufhin, dass die bewusste Entscheidung, seinen Kopf nicht zurückzuziehen, gegen seine tief verwurzelte Gewohnheit völlig machtlos war. Daran wurde deutlich, dass sein gewohnheitsmäßiger, im Körperlichen verankerter Wille ein grundlegenderer und mächtigerer Teil von ihm war als seine bewusste geistige Entscheidung (der sogenannte Willensakt), selbst wenn dieser bewusste Wunsch von starken Muskelanstrengungen begleitet wurde, den Kopf weiterhin vorne zu halten. Mit Bestürzung bemerkte Alexander (wieder durch den Einsatz von Spiegeln), dass er, selbst wenn er das Gefühl hatte, dass er seinen Kopf vorne hielt, automatisch zu seiner Gewohnheit zurückkehrte, den Kopf zurückzuziehen. Kurz, er stellte fest, dass die Gegenwärtigkeit seiner Sinne gegenüber seiner eigenen Haltung und seiner Bewegungen äußerst ungenau war. Er untersuchte dann andere Fälle und fand heraus, dass 256 | kapitel 6

die meisten Menschen auf ähnliche Weise unter einem »verdorbenen kinästhetischen System« leiden, dessen fehlerhafte »Auffassung der eigenen sensorischen Wahrnehmungen« und dessen Mangel an somatischer Gegenwärtigkeit sich selbst gegenüber sie ernsthaft in ihren Handlungen behindert, indem es sie zu unbewussten Opfern gedankenloser Gewohnheiten körperlichen Fehlgebrauchs macht.38 Alexander bemerkte überdies, dass der Drang danach, ein gewünschtes, doch zugleich problematisches Ziel zu erreichen, automatisch gewohnheitsmäßige Handlungen zur Erreichung dieses Zieles auslöst, sogar ohne sich darüber bewusst zu werden, und dass man dabei in die ursprünglichen falschen Gewohnheiten zurückfällt, die bereits zuvor alle Anstrengungen vereitelt hatten. »Wenn man das Ziel vor Augen hat […] wird die Gewohnheit immer danach streben, das Ziel durch gewohnte Mittel zu erreichen.«39 Unsere Konzentration auf das gewünschte Ziel (das, wenn die Gewohnheit zu diesem Ziel passt, tatsächlich alles ist, worauf wir uns konzentrieren müssen) hält uns außerdem davon ab, uns um das zu kümmern, was wir beim Einnehmen einer körperlichen Haltung tatsächlich tun, und sie hindert uns dadurch daran, zu bemerken, wie diese Konzentration in Wirklichkeit das durchkreuzt, was wir eigentlich tun wollten. Unser drängender Wunsch, das »Ziel zu erreichen«, trägt so zu unserer verzerrten »Sinneseinschätzung« bei (unserer mangelhaften somästhetischen Gegenwärtigkeit), indem er unsere Aufmerksamkeit von den erforderlichen »Mitteln-wodurch« ablenkt, durch welche die Handlung richtig durchgeführt werden könnte.40 Alexander zog daraus den Schluss, dass eine systematische Methode sorgfältiger somatischer Vergegenwärtigung, Analyse und Kontrolle erforderlich sei, um Selbsterkenntnis und Selbstgebrauch zu verbessern: eine Methode, mit welcher man die unerwünschten Gewohnheiten unterscheiden, lokalisieren und ausschalten könne, um die notwendigen körperlichen Haltungen oder Bewegungen (die unentbehrlichen »Mittel-wodurch«) zu entdecken, durch welche die erwünschten Handlungen oder Stellungen auf optimale Weise bewirkt werden könnten, und schließlich, um ihren Vollzug durch »bewusste Kontrolle« überwachen und beherrschen zu können, bis am Ende eine bessere (d. h. wirksamere und kontrollierbarere) Gewohnheit etabliert werden kann, um das gewünschte Handlungsziel zu erreichen.41 Die aufwendige Methode, die er dafür entwickelte – die rettung somatischer reflexion | 257

und die gesteigerte somatische Gegenwärtigkeit sich selbst gegenüber und bewusste Kontrolle durch Hemmung, Umleitung und Konzentration auf die »Mittel-wodurch« zum zentralen, vorläufigen Ziel hat –, wurde die berühmte Alexander-Technik. Im Jahre 1904 ging Alexander nach England, um seine Technik in der Öffentlichkeit zu verbreiten (wobei er so berühmte Schüler wie George Bernard Shaw und Aldous Huxley rekrutierte); als er 1914 nach New York kam, führte er sie auch in den USA ein. Alexander verstand seine Theorie nicht einfach nur als Körpertherapie, sondern pries sie vehement auch als eine allgemeine Erziehungsphilosophie zur Steigerung der persönlichen Kapazitäten an. Nicht nur das individuelle Leben, sondern die Gesellschaft als Ganze könne auf diese Weise verbessert werden. Die Masse an kinästhetischen Fehlfunktionen und die damit verknüpften psychosomatischen Beschwerden (Rückenschmerzen, Kopfweh, Verlust der Lebenskraft, Nervosität, geistige Starrheit), die die zeitgenössische Kultur plagen, erklärt Alexander aus einer systematischen Fehlanpassung unserer somatischen Tendenzen, die sich in langsamen Evolutionsprozessen entwickelt haben, und den davon sehr verschiedenen modernen Lebens- und Arbeitsbedingungen, in denen wir zu funktionieren gezwungen sind. Da er eine Regression zu primitiven Lebensverhältnissen ablehnte, suchte er stattdessen nach einer Methode, mit der die Menschen ihr Verhalten auf vernünftige und bewusste Weise an die heutigen neuen und sich immer schneller verändernden Bedingungen anpassen konnten, statt sich auf unbewusste und willkürliche Kräfte bei der Gestaltung solcher Anpassungen zu verlassen. Dem normalen Prozess der Gewohnheitsbildung könne nicht länger vertraut werden, weil dieser zu langsam, unsystematisch und ungewiss in seinem Ausgang sei. Angesichts des Tempos gegenwärtiger Veränderungen könnten unsere Gewohnheiten, selbst wenn wir das Glück hätten, unbewusst die richtigen zu entwickeln, ohne weiteres bereits veraltet sein, wenn wir sie erfolgreich angenommen haben. Wir bräuchten daher eine systematische Methode für die intelligente Rekonstruktion von Gewohnheiten durch die Anleitung einer »konstruktiven bewussten Kontrolle«. Alexanders Schlüsselthemen Gewohnheit, Evolution, Meliorismus und Körper-Geist-Einheit und sein Respekt für die Mittel und die Erziehung, um Selbst und Gesellschaft auf vernünftige Weise 258 | kapitel 6

zu rekonstruieren, wiesen bereits eine deutlich erkennbare Geistesverwandtschaft mit Dewey auf, der schon bald ein brennender Anhänger der Ansichten Alexanders wurde, nachdem er von dessen Praktiken als somatischer Pädagoge und Therapeut überwältigend überzeugt worden war. Dewey wurde 1916 (im Alter von 57 Jahren) zum ersten Mal durch einen Philosophie-Kollegen der ColumbiaUniversität, Wendell Bush, Alexander vorgestellt und begann schon bald, Unterricht in seiner Technik zu nehmen. Dewey hatte lange unter überanstrengten Augen, Rückenschmerzen und einem schmerzhaft steifen Hals gelitten, aber nun behauptete er, »dass Alexander ihn völlig geheilt habe, dass er fähig wäre, zu lesen und zu sehen, und dass er seinen Hals frei bewegen könne«.42 Anders als James, der nur zwei Jahre, nachdem er seinen eigenen Haltungsguru (Dr. James Taylor) getroffen hatte, starb, profitierte Dewey von Alexanders Arbeit für Jahrzehnte. Er nahm sowohl bei Alexander als auch bei Alexanders jüngerem Bruder Unterricht und versicherte immer wieder (sogar noch bis 1946), dass sein »Vertrauen in Alexanders Arbeit unvermindert« sei und dass seine nachhaltige Gesundheit »ihrer Behandlung«43 zutiefst verpflichtet wäre. Was konnte für einen pragmatistischen Körper-Philosophen überzeugender sein als unbestreitbare, fortdauernde praktische Verbesserungen somatischer Funktionen und die daraus resultierende Woge positiver psychischer Energie und Stimmung? In Human Nature and Conduct (Die menschliche Natur. Ihr Wesen und ihr Verhalten, 1922) macht Dewey Alexanders somatische Einsichten zum Kern seines entscheidenden Kapitels über »Gewohnheiten und Wille«, in dem er Alexanders Kritik an der gängigen Annahme ausführt, dass unser Wille »ohne eine verständige Beherrschung von Mitteln« arbeiten könne und dass »Mittel […] da sein […] und doch untätig und wirkungslos verharren« könnten. Es sei »Aberglaube« anzunehmen, »dass, wenn man einem sage […], er solle sich aufrecht halten, und meint, nichts sei nun weiter nötig als das Wollen und Sichanstrengen seinerseits, damit sei alles getan. [Alexander wies darauf hin, dass] dieser Glaube […] auf gleicher Stufe mit urtümlicher Magie [stehe], sofern er die Mittel beim Streben nach einem Ziel gänzlich außer Betracht lasse.« Solch eine Überzeugung blockiere den Fortschritt, »weil [sie] uns hindere, an das Aufsuchen der Mittel zu einem gewünschten Zweck zu gehen und die rettung somatischer reflexion | 259

an eine erfinderische Tätigkeit zur Beschaffung dieser Mittel. Kurz: An die Bedeutung einer verständig geleiteten Gewohnheit werde dabei nicht gedacht.« Indem irrigerweise vorausgesetzt werde, dass »die Mittel oder die wirksamen Bedingungen der Verwirklichung eines Zieles […] unabhängig von einer festen Gewohnheit [existierten und] sogar im Gegensatz zu einer Gewohnheit in Gang gesetzt werden« könnten, wird mit blindem Vertrauen in unsere Haltungskenntnisse angenommen, dass die richtigen Mittel ja bereits vorhanden seien. »Habe das Bemühen um aufrechte Haltung keinen Erfolg, so liege der Fehler ganz an dem fehlenden Vorsatz und Wunsch.«44 Stattdessen argumentiert Dewey, der sich auf die bei Alexander erlernten Lektionen beruft: »Ein Mann, der sich nicht ordentlich hält, nimmt die Gewohnheit einer unordentlichen Haltung an, eine positive Gewohnheit, die ihre Wirkungen ausübt.« Folglich anzunehmen, »sein Fehler sei rein negativ, er unterlasse es nur, das rechte zu tun, der Fehler könne durch einen Willensbefehl gutgemacht werden, ist verkehrt. […] Es haben sich Bedingungen gebildet, die ein schlechtes Ergebnis erzeugen, und das schlechte Ergebnis wird erscheinen, solange die Bedingungen existieren. Sie können durch eine unmittelbare Willensanstrengung so wenig mehr aus der Welt geschafft werden als die Bedingungen, die Dürre hervorrufen, durch Pfeifen um Wind gebannt werden können.«45 Gewohnheiten müssen nicht nur in die »Ausführung« unserer Wünsche eingreifen, sondern bereits bei der »Herausbildung von Ideen«, bei der vage Wünsche in konkrete Willenshandlungen verwandelt werden. Der explizite, ganz konkrete Wille, aufrecht zu stehen, im Unterschied zu dem bloß abstrakten »Wunsch«, diese Haltung zu erreichen, beinhaltet immer eine verkörperte Idee davon, wie sich Aufrichten und aufrecht Stehen anfühlt – eine propriozeptive Vorstellung oder kinästhetische Empfindung (wie implizit, unbemerkt, vage, unvollständig oder fehlgeleitet sie auch sein mag). Eine solche »Idee bekommt Gestalt und Festigkeit nur, wenn sie eine Gewohnheit hinter sich hat«. Denn selbst wenn man »durch einen glücklichen Zufall auf eine richtige konkrete Idee oder Absicht« gestoßen ist, werden die verfestigten schlechten Gewohnheiten der Person dazu neigen, diese außer Kraft zu setzen und ihre Ausführung zu vereiteln. Deswegen, so schlussfolgert Dewey mit Alexander, »erst wenn jemand die zur aufrechten Haltung nötigen Bewegungen 260 | kapitel 6

schon recht vollziehen kann, weiß er [in einem konkreten propriozeptiven Sinn], was es mit der rechten Haltung auf sich hat, und erst dann verfügt er über die zur rechten Ausführung erforderliche Idee. Der Akt kommt vor dem Gedanken und eine Gewohnheit vor der Fähigkeit, den Gedanken nach Belieben hervorzurufen. Die gewöhnliche Psychologie kehrt den wirklichen Vorgang geradezu um.« Das Scheitern an der Anerkennung der grundlegenden Verbindung von Willen und Gewohnheit »führt […] nur zu einer Scheidung des Geistes vom Körper«, die den »wissenschaftlichen« Status (von Dewey in Anführungsstriche gesetzt) sowohl der »Psychoanalyse« als auch von Theorien der »Nervenphysiologie« untergräbt. Während erstere irrigerweise »der Meinung ist, [dass] geistige Gewohnheiten […] in Ordnung gebracht werden [können] durch eine rein psychische Verfahrungsart, die die Entstellungen der Sinneswahrnehmung und der Auffassung gar nicht in Rechnung zieht«, glauben letztere fälschlicherweise, »es sei bloß notwendig, eine besondere erkrankte Zelle oder eine örtliche Schädigung festzustellen, unabhängig vom ganzen Inbegriff organischer Gewohnheiten, und damit könne man schon die gewünschte Besserung erzielen«.46 Diese Wissenschaftskritik nicht nur an der Psychoanalyse (für die Dewey wenig übrig hatte – größtenteils aufgrund ihres Beharrens auf dem Unbewussten, dem Sexuellen und dem Vergangenen), sondern auch an der Neurophysiologie (die er eindeutig respektierte) sollte im Kontext seiner immer wieder leidenschaftlichen, doch angeschlagenen Verteidigung des wissenschaftlichen Status von Alexanders Arbeit verstanden werden, deren beharrliches Scheitern daran, vom wissenschaftlichen Mainstream akzeptiert zu werden, sicher eine große Enttäuschung, wenn nicht auch eine Beschämung für Dewey darstellte.47 Bei William James wird die Verteidigung körperloser Willensfreiheit durch die Warnung ergänzt, dass somatische Introspektion eine Ablenkung und Gefahr für das praktische Leben darstelle. So drängt James beim Verfolg einer Handlung: »Trauen Sie Ihrer Spontaneität« und lassen Sie die Gewohnheit für sich arbeiten! Nicht nur gehen wir »um Längen besser, je weniger wir an die Position unserer Füße denken«, sondern reflektierendes somatisches Bewusstsein hat auch »hemmenden Einfluss« auf unseren Willen und die rettung somatischer reflexion | 261

vereitelt dadurch Handlungen, untergräbt die »Lebenskraft« und senkt unsere »Schmerzschwelle«, sodass unsere Effizienz und Energie verringert werden.48 Sobald wir jedoch anerkennen, dass der Wille in die Gewohnheiten tief verstrickt ist, sollten wir zu schätzen lernen, wie die Hemmung uns helfen kann, schlechte Gewohnheiten zu überwinden, die sich in spontanem Verhalten ausdrücken (und verstärken), das unserem Willen zuwiderläuft. Neben dem Zurückhalten gewohnheitsmäßiger Reaktionen bietet Hemmung einen Raum für das reflektierende Bewusstsein vor dem Beginn der Handlung, sodass Gewohnheiten kontrolliert und korrigiert werden können. Auf ähnliche Weise können wir sehen, wie somästhetische Reflexion ein wertvolles Werkzeug darstellt, um Willenshandlungen zu verbessern, und sich dadurch die Lebensqualität erhöht, sobald wir anerkennen, dass der Wille auf grundlegende Weise mit dem Körper verbunden ist. Überzeugt von Alexanders Arbeit weicht Dewey radikal von James ab und preist die praktischen Verdienste des reflektierenden somatischen Bewusstseins und seiner wertvollen hemmenden Funktionen, auch wenn er, wie James, argwöhnisch gegenüber den Gefahren der Introspektion war.49 Dewey schließt sich Alexanders ambitionierter Behauptung an, dass die Kultivierung der Fähigkeit zu somatischer Selbstreflexion notwendig für die »Förderung unseres schöpferischen Wachstums und Glücks« sei, weil es für den verbesserten Selbst-Gebrauch wesentlich ist und weil Selbst-Gebrauch wesentlich ist für den Gebrauch aller anderen uns zur Verfügung stehenden Werkzeuge. »Niemand wird bestreiten, dass wir in allem, was wir versuchen und tun, als Handelnde eingreifen. […] Die größten Probleme jedoch bereiten uns die Dinge, die uns am nächsten sind, solche, die konstant und vertraut sind. Dieses ›Nächste‹ sind eindeutig wir selbst [und] unsere eigenen Gewohnheiten und unsere Art zu handeln«, durch unsere ursprüngliche Handlungsinstanz des Körper-Geistes. Sein Innenleben zu verstehen und umzulenken verlangt ein aufmerksames selbstreflexives »Sinnesbewusstsein« und entsprechende Kontrolle. Die moderne Wissenschaft hat alle möglichen Arten mächtiger Werkzeuge entwickelt, um unsere Umwelt zu beeinflussen. Aber »der eine Faktor […], das primäre Werkzeug für den Gebrauch aller anderen Werkzeuge, nämlich wir selbst, d. h. unsere eigene psycho-physische Veranlagung, wurde als zentrales Instrumentarium und als grund262 | kapitel 6

legende Voraussetzung für den Einsatz aller Fähigkeiten und Energien gar nicht erst untersucht«.50 Denn ohne »die Kontrolle unseres Gebrauches von uns selbst«, so schließt Dewey in seiner Einführung zu Alexanders Der Gebrauch des Selbst, »ist die Kontrolle, die wir über die physischen Energien gewonnen haben […] eine gefährliche Angelegenheit« und verbesserte somatische Selbstreflexion ist für die intelligente Kontrolle des Selbst-Gebrauches unerlässlich.51 Wenn ein reflektierendes somästhetisches Bewusstsein wesentlich ist, um Gewohnheiten zu verstehen und zu korrigieren und den Selbst-Gebrauch zu verbessern, dann erweist sich Hemmung als ein ebenso entscheidendes Werkzeug für eine solche Reform, da wir die problematischen Gewohnheiten hemmen müssen, um die Gelegenheit zu schaffen, sie zu analysieren und in bessere Gewohnheiten umzugestalten. Andernfalls würden die verfestigten Gewohnheiten weiterhin durch unser spontanes und unreflektiertes Verhalten gestärkt. Alexander hebt deshalb den »Inhibitionsprozess« hervor, den er »als primären und grundlegenden Faktor der von mir befürworteten Technik« einstuft: »In dieser Arbeit muss der Inhibitionsprozess an erster Stelle stehen und muss auch […] der erste und wichtigste Faktor bleiben«; »präventive Befehle« sind die »primären« Anweisungen, da sie durch die Einschränkung und Annullierung von alten Gewohnheiten für die notwendige Klärung sorgen, um dann neue und bessere Gewohnheiten oder Handlungsweisen dem Klienten beizubringen.52 Alexander betrachtet tatsächlich unsere »intellektuellen Hemmkräfte« als das, was »den Menschen von der Tierwelt unterscheidet« und was der menschlichen Fähigkeit des »Denkens« und der Freiheit zugrunde liegt.53 Was wir kritiklos für die Freiheit spontaner Handlung halten, ist tatsächlich durch Ketten aus Gewohnheiten versklavt, die uns davon abhalten, anders zu handeln und mit unseren Körpern dieselbe Handlungsweise besser oder anders durchzuführen. Wahre Willensfreiheit bedeutet also die Befreiung der Spontaneität aus der Abhängigkeit von unreflektierten Gewohnheiten, sodass man mit seinem Körper bewusst tun kann, was man wirklich tun will. Solche Freiheit ist kein angeborenes Geschenk, sondern eine erworbene Fähigkeit, die die Beherrschung der hemmenden Kontrolle ebenso beinhaltet wie positive Handlungsfähigkeit. In Deweys Worten ist »wahre Spontaneität künftig kein Geburtsrecht, sondern die rettung somatischer reflexion | 263

das letzte Ziel, die vollendete Eroberung einer Kunst – der Kunst der bewussten Kontrolle«, eine Kunst, welche »die vorbehaltlose Notwendigkeit der Hemmung von Alltagshandlungen« ebenso umfasst wie die »enorme mentale Schwierigkeit, die sich darin bemerkbar macht, etwas nicht zu ›tun‹, sobald die gewohnheitsmäßige Handlung nahegelegt wird«.54 Diese Hemmungsschwierigkeiten, die er zum ersten Mal während seines Alexander-Unterrichts erfuhr, beschreibt Dewey als »die demütigendste Erfahrung [seines] Lebens, intellektuell gesprochen«.55 Die entscheidende Rolle der Hemmung für die Freiheit wird gegenwärtig durch experimentelle Forschungen in den Neurowissenschaften gestützt (eingeführt von Benjamin Libet), die belegen, dass motorische Handlungen von neurologischen Ereignissen abhängen, die stattfinden, bevor wir uns die Entscheidung, eine Bewegung durchzuführen, bewusst vergegenwärtigen, obwohl wir glauben, dass unsere bewusste Entscheidung die Bewegung ausgelöst hat.56 Ein Experiment zeigt, dass durchschnittlich 350 Millisekunden (ms), bevor die Probanden sich ihrer Entscheidung bewusst waren oder einen Drang hatten, eine Schnippbewegung mit der Hand auszuführen, ihr Gehirn bereits mit der Vorbereitung der motorischen Prozesse beschäftigt war (Gehirntätigkeiten, die als »Bereitschaftspotenzial« bekannt sind). Es dauerte dann durchschnittlich etwa 200 ms von der bewussten Entscheidung, die Bewegung durchzuführen, bis zur wirklich ausgeführten Bewegung, von der es – direkt vor der Schnippbewegung – bis zu ca. 50 ms braucht, bis die Nerventätigkeit vom Bewegungskortex bis zum Handgelenk übertragen wird. Wenn Willensakte der Bewegung tatsächlich »durch bestimmte unbewusste Gehirnprozesse initiiert werden, die […] vor dem Erscheinen der bewussten Absicht« beginnen, wie können wir dann von der bewussten Kontrolle der Bewegung und der bewussten Ausübung der Willensfreiheit sprechen? Libet bestätigt jedoch solche bewussten Willenskräfte, gerade aufgrund unserer Hemmfähigkeit zwischen der bewussten Vergegenwärtigung der Handlung und ihrer wirklichen Implementierung: »Die letzte Entscheidung zum Handeln könnte noch bewusst während der 150 ms kontrolliert werden, die in etwa verbleiben, nachdem die bewusste Absicht erscheint«, und vor ihrer »motorischen Durchführung«. Vor diesem Hintergrund läuft die Freiheit des Willens im Wesentlichen auf die 264 | kapitel 6

Freiheit des »Nicht-Wollens« hinaus. Auch wenn die allgemeine Vorstellung von voluntaristischen Handlungen und von Willensfreiheit nicht auf dieses hemmende Modell beschränkt werden sollte (mit seinem Fokus auf alltagsferne, »abstrakte« experimentelle Bewegungen und einen rasierklingendünnen Augenblick von 150 ms zur Entscheidungsfindung), geben Libets Ergebnisse Alexanders Gewichtung der Hemmung, mittels derer bewusste konstruktive Kontrolle über motorische Bewegungen erlangt werden soll, wissenschaftlichen Rückhalt. Hemmung ist nicht nur für das Zurückhalten problematischer Gewohnheiten wesentlich, sie ist auch für die effektive Wirksamkeit somatischer Reflexion notwendig, die uns erlaubt, unser Verhalten präzise zu beobachten, sodass wir die problematische Gewohnheit unterbinden und durch eine überlegene Handlungsweise ersetzen können. Wir können unsere Handlungen nicht zuverlässig ändern, wenn wir gar nicht wirklich wissen, was wir gerade tun, doch sind den meisten von uns unsere gewohnheitsmäßigen körperlichen Verhaltensweisen überhaupt nicht gegenwärtig: Welchen seiner Füße verwendet man, wenn man zu gehen anfängt; auf welchem der Beine ruht im Stehen der größte Teil des Gewichts; auf welche Hinterbacke verlagert man im Sitzen mehr Gewicht; wo beginnt bei einem die Handlung, den Arm auszustrecken, um nach einer Tasse zu greifen – in der Hand, dem Ellbogen, dem Schultergelenk, dem Becken, dem Kopf? Wir sind überhaupt nicht geneigt, diesen Dingen Aufmerksamkeit zu schenken, weil wir als aktive Lebewesen, die danach streben, zu überleben und innerhalb einer Umgebung zu gedeihen, unsere anhaltende Aufmerksamkeit in erster Linie gewohnheitsmäßig auf andere Dinge in dieser Umgebung richten, die eher unsere Projekte als unsere Körperteile, -bewegungen und -wahrnehmungen betrifft. Aus guten evolutionären Gründen werden wir daran gewöhnt, direkt auf Außenereignisse zu reagieren und nicht darauf, unsere inneren Empfindungen zu analysieren; eher zu handeln als sorgfältig zu beobachten, eher impulsiv nach unseren Zielen zu streben als uns zurückzuhalten und die körperlichen Mittel zu untersuchen, die uns zur Verfügung stehen. Deswegen sind Hemmkräfte erforderlich, um die Gewohnheit, uns um andere Dinge zu kümmern, aufzubrechen, sodass wir uns auf das reflexive somatische Bewusstsein konzentrieren können. die rettung somatischer reflexion | 265

Solches Bewusstsein kann untergründige somatische Wahrnehmungen und unbemerkte Bewegungen unterscheiden, wenn es vom Einfluss anstrengender Handlungen befreit ist, da solche Handlungen (wie jeder starke Stimulus) selbst wiederum starke Wahrnehmungsimpulse liefern, wodurch die Wahrnehmungsschwelle, die zum Aufspüren anderer somatischer Faktoren nötig ist, erhöht wird. Dieser Punkt, der im psychophysischen Gesetz von WeberFechner festgehalten ist, ist in der Alltagserfahrung offensichtlich. In der Stille der Nacht hören wir Geräusche, die im lärmenden Hochbetrieb des Feierabendverkehrs nicht auszumachen sind. Es ist viel schwieriger, den schwachen Druck des Huts, den man trägt, wahrzunehmen, wenn man kraftvoll Schnee schippt, als wenn man sich entspannt ausruht. Dasselbe Prinzip liegt der Zazen-Meditation zugrunde. Durchgeführt, indem man einfach ruhig dasitzt (deswegen von seinen Meistern oft als »bloß sitzend« charakterisiert – shikan taza), erlaubt einem die Haltung ruhiger Abwesenheit von angestrengter, instrumenteller Handlung, sich klar, mit Festigkeit und ausschließlich auf den eigenen Atem zu konzentrieren und dadurch von der geistigen Gewohnheit assoziativen Denkens abzulassen.57 Natürlich verlangt Zazen paradoxerweise seine eigene Konzentrationsanstrengung und achtsame hemmende Kontrolle, um die meditative Aktivität des Nichthandelns zu erreichen, die Meister Dōgen als »Denke an nichts, unverwandt sitzend« beschreibt, so wie es zu Alexanders Techniken gehört, angestrengt daran zu denken, nicht zu handeln.58 Hemmung erweist sich als besonders schwierig, wenn es sich um den Gedanken an eine Handlung dreht, da der Gedanke selbst natürlich dazu neigt, diese Handlung hervorzurufen. Wie genau setzt die Alexander-Technik bei ihrer Rekonstruktion von Gewohnheiten und der Beherrschung der bewussten Kontrolle die Hemmung ein? Ihr besonderer pädagogischer Einsatz der Hemmung wird nicht nur im engeren Sinn auf eine bestimmte fehlgeleitete Handlung gerichtet, die korrigiert werden soll, sondern vielmehr als allgemeiner Grundsatz vermittelt, der auch auf andere Handlungen angewandt werden kann, und führt daher umfassend zum richtigen Gebrauch des Selbst, den die Lehrerin dem Schüler vermitteln will. Zum Beispiel im Fall eines Golfspielers, der gewohnheitsmäßig seinen Blick vom Ball abwendet, indem er seinen Kopf hebt. Seine Alexander-Dozentin wird ihm nicht einfach sagen, 266 | kapitel 6

er solle sein Kopfheben hemmen und ihn anweisen, den Schläger zu schwingen, während er dieses Kopfheben unterdrückt. Sie wird ihn stattdessen auf positive Weise anleiten, wie er während des Schwingens seinen Hals und Kopf halten sollte, und ihm dies sagen, wenn sie ihm fortgesetzt diese Anordnungen gibt, sich auf diese Weise zu halten, wenn er den Schläger schwingt. Er soll »nicht versuchen […], die Direktiven und Steuerungsbefehle zu befolgen«; »im Gegenteil: Bei jedem ihm erteilten Befehl [muss] er das Verlangen unterbinden, diesen auszuführen.« Anstatt auf die befohlene Weise zu reagieren, muss der Schüler »die ihm erteilten Steuerungsbefehle projizieren, während der Lehrer gleichzeitig mit den Händen die Wiederanpassung [der Kopfhaltung] und die nötige Koordination herbeiführt. Auf diese Weise führt der Lehrer eine oder mehrere der erforderlichen Bewegungen für den Schüler durch und vermittelt diesem damit die neue und zuverlässige Sinneserfahrung und die allerbeste Möglichkeit, die verschiedenen Steuerungsbefehle miteinander zu verbinden, bevor er versucht, sie praktisch umzusetzen.«59 Diese Methode trainiert den Schüler außerdem tiefer und umfassender darin, die Tendenz zur direkten »Ziel-Erreichung«, die schlechte Gewohnheiten fördert und für Selbstbeobachtung und Selbstgebrauch so schädlich ist, zu hemmen, indem sie stattdessen die Gewohnheit schult, »auf die ›Mittel-wodurch‹ zurück[zugreifen], mit denen dieses ›Ziel‹ erreicht werden kann«.60 Indem die Lehrerin den Schüler dazu auffordert, zu üben, den Anweisungen jedoch nicht zu folgen, verringert sie zugleich den Leistungsdruck auf den Schüler, der in den meisten Fällen die Gewohnheit haben wird, sich psychologisch unter Druck gesetzt zu fühlen, wenn er von seiner Lehrerin – die im Unterrichtskontext eine Autoritätsfigur ist – zu irgendeiner Bewegung aufgefordert wird. Befreit von dem Druck zu handeln kann sich der Schüler so besser in Ruhe auf die Haltungsmittel konzentrieren und darauf, wie sie sich anfühlen, wenn die Lehrerin sie dem Schüler durch ihre physischen Manipulationen zur Verfügung stellt. Durch solch aufmerksame Schulung wird er schließlich lernen, wie er sich selbst diese anleitenden Mittel oder Anweisungen aneignen kann. Sobald diese Anweisungen ihrer Meinung nach hinreichend verkörpert sind, wird die Lehrerin den Schüler instruieren, dass er auf die Anweisungen mit der tatsächlichen Durchführung der geforderten Handlung reagieren kann. Der die rettung somatischer reflexion | 267

Schüler wird dann fortfahren, sich selbst die Anweisungen zu geben, doch zugleich für den entscheidenden Augenblick der Entscheidung kurz innehalten, um auf deren Grundlage entweder die Handlung – wie angewiesen – umzusetzen, sie zu unterlassen oder stattdessen eine völlig andere Handlung durchzuführen, wobei er die ganze Zeit die Anweisungen projiziert. Auf diese Weise kann »das Mittelwodurch« klar erfasst, nachvollzogen und als (vorübergehendes) Ziel oder Zweck eingeschätzt werden, anstatt sich ganz dem anfänglichen Handlungsziel unterzuordnen, denn eine solche Art von Beschäftigung fördert schlechte »Zielerreichungs-«Gewohnheiten, die wiederum den falschen Gebrauch des Selbst begünstigen. Auf Grundlage seiner eigenen Erfahrung der Selbsttransformation und seiner darauf folgenden Arbeit mit anderen behauptet Alexander, dass der Fokus für diese Art von Haltungstraining auf dem Kopf- und Halsbereich liegen sollte. Denn dort verortet er die »primäre Kontrolle für den Gebrauch unser selbst […], die das Arbeiten aller Mechanismen regiert und so die Kontrolle über den komplexen menschlichen Organismus vergleichsweise einfach macht«. Diese »primäre Kontrolle«, fährt Alexander fort, »ist von einem bestimmten Gebrauch des Kopfs und des Nackens in bezug auf den Gebrauch des übrigen Körpers abhängig. Sobald es dem Schüler gelingt, die Fehlsteuerung, die zu seinem fehlerhaften, gewohnten Gebrauch führt, zu unterbinden, muß [die Lehrerin] mit dem Aufbau des neuen Gebrauchs beginnen, indem [sie] dem Schüler die erste Direktive für den Aufbau dieser primären Kontrolle gibt«. Wie bereits erläutert, wird der Schüler dann diese Anleitung projizieren, ihr aber nicht folgen; stattdessen wird er die Hände der Lehrerin die entsprechende gewünschte Haltung oder Bewegung ausführen lassen; »[d]iese ihm zunächst unvertraute Erfahrung wird ihm mit der Wiederholung vertraut werden«. Sobald sich diese primäre Kontrolle gefestigt hat, ist der entscheidende Schlüssel zur Koordination erreicht worden, und die Lehrerin kann dann dem Schüler weitere Anweisungen geben (z. B. wie man seine Handgelenke beim Schwingen des Golfschlägers verwendet). Aber der Schüler »muss die erste Direktive weiter wirken lassen, während er die zweite projiziert und während [die Lehrerin] die entsprechende Aktivität in ihm herbeiführt«.61 Solange die primäre Kontrolle aufrechterhalten wird, wird, so Alexander, die Person in der Lage sein, sich bewusster und ge268 | kapitel 6

wandter zu verhalten, was ihr ermöglicht, schneller und müheloser beliebige Formen des somatischen »Mittel-wodurch« zu erlernen, die er oder seine Lehrerin entdeckt. Aufgrund des nachdrücklichen Fokus auf der primären Kontrolle setzt die Alexander-Technik keine Ganzkörperabtastung (body scan) ein, da die Verschiebung des Fokus auf andere Körperteile »von der primären Kontrolle, namentlich der Beobachtung des Kopf- und Nackenbereiches ablenken würde«.62 Alexander setzt diese »primäre Kontrolle« mit der anatomischen »Hauptkontrolle« im Gehirn gleich (Rudolph Magnus’ wichtige Entdeckung von 1924),63 die den Richtungsreflex und alle anderen Haltungs- und Koordinationsreflexe steuert, ein Mechanismus, den Magnus den Zentralapparat nennt.64 Auch wenn Alexander in seinen früheren Schriften bereits die Bedeutung der Kopf- und Nackenhaltung betont, verwendet er den Begriff der »primären Kontrolle« erst, seit Magnus’ Theorie Bekanntheit erlangte. Möglicherweise führte er diesen Begriff gerade ein, um seiner eigenen Theorie – durch eine Identifikation mit Magnus’ Forschungen, für die er allerdings niemals ein substanzielles Verständnis zeigte – eine größere wissenschaftliche Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Dewey, der immer um den wissenschaftlichen Ruf von Alexanders Werk besorgt war, war darauf erpicht, diese Identifizierung zu unterstützen, während er zugleich dafür argumentierte, dass Alexanders Entdeckung früher entstanden sei und durch seine persönlich erfahrene Erkenntnis mehr Gewicht und Bedeutung habe. »Magnus bewies durch etwas, was man als externe Evidenz bezeichnen könnte, die Existenz einer zentralen Kontrolle im Organismus. Aber die Technik von Herrn Alexander ermöglicht eine direkte und intime Bestätigung durch die persönliche Erfahrung des Vorhandenseins einer Primärkontrolle, lange bevor Magnus seine Untersuchungen betrieb. Und derjenige, der die Erfahrung dieser Technik einmal gemacht hat, kennt sie durch die Reihe eigener Erfahrungen. Der wahrhaft wissenschaftliche Charakter von Herrn Alexanders Lehre und seinen Entdeckungen kann ohne Bedenken allein auf dieser Tatsache fußen«.65 Magnus definiert den Zentralapparat als »einen komplizierten Zentralnervenapparat, der die gesamte Körperhaltung auf koordinierte Weise steuert« und »im Stammhirn« lokalisiert ist, »vom oberen Rückenmark bis zum Mittelhirn […] Das ist der Apparat, die rettung somatischer reflexion | 269

auf dem die Großhirnrinde spielt, so wie komplizierte Melodien auf einem Klavier gespielt werden«.66 Dieser schafft, mit anderen Worten, die Grundlage der unreflektierten Haltungsstabilität und Reflexkoordination, die zielgerichtete Handlung ermöglichen, welche »nur ausgeführt werden können, wenn das Großhirn intakt ist«.67 Es bestehen offensichtliche Ähnlichkeiten zwischen Alexanders Begriff der primären Kontrolle und Magnus’ Zentralapparat, da beide sich auf den Kopf- und Nackenbereich konzentrieren und als primäre koordinatorische Kontrollinstanzen fungieren, auf denen jedes weitere koordinatorische Verhalten aufbauen muss. Es bestehen jedoch auch klare Unterschiede zwischen den beiden Begriffen. Magnus identifiziert einen anatomischen Mechanismus im Stammhirn, wohingegen Alexander beim Einnehmen einer spezifischen Haltungsbeziehung zwischen Kopf und Hals und dem Rest des Körpers von einem Verhaltensgebrauch spricht. Bei Magnus’ Kontrolle geht es um automatische, gedankenlose Reflexe, bei Alexander stattdessen um eine Funktion reflektierender bewusster Kontrolle, die rationalem Denken, deutlich bewusster Hemmung und methodischer Vergegenwärtigung des eigenen Willens in bewusster Handlung Nachdruck verleiht, und alle diese Punkte gehen über den Zentralapparat hinaus, weil sie einer intakten Großhirnrinde bedürfen.68

IV. Das Unbehagen gegenüber Alexanders Haltungstheorie

Obwohl er sich nie ernsthaft mit den Forschungen von Magnus und anderen Wissenschaftlern auseinandersetzte, pries Dewey Alexanders Arbeiten als den Arbeiten jener kognitiv überlegen, weil sie den gesamten lebenden Organismus in Situationen des wirklichen Lebens behandele, d. h. unter »alltäglichen Lebensbedingungen wie: steigen, sitzen, wandern, stehen, verwenden von Armen, Händen, Stimme, Werkzeugen, Instrumenten aller Art«, während Physiologen isolierte Körperteile oder Handlungen unter »künstlichen« Laborbedingungen untersuchten. Auf die gleiche Weise wird das lediglich theoretische Wissen von Anatomen über Muskelkoordination Alexanders konkretem und anwendbaren Know-how im Erlangen und Lehren der Koordination gegenübergestellt, die, wie Dewey behauptet, Erkenntnis »im vollen und vitalen Sinn dieses Wortes« 270 | kapitel 6

sei.69 Dennoch, diese Verteidigung rechtfertigt nicht Alexanders Versäumnis, sich ernsthaft mit zeitgenössischer Wissenschaft auseinanderzusetzen, die sich mit Haltung, Bewegung und der Psyche beschäftigt. Es gibt keinen Grund, warum ein praktischer, erfahrungsorientierter somatischer Ansatz sich nicht auch ausdrücken, erklären und bereichern sollte, indem er das Beste an zeitgenössischen wissenschaftlichen Erkenntnissen für sich nutzt, wie es zum Beispiel bei Moshe Feldenkrais der Fall ist, der seine Arbeiten auch mit Erklärungen unterfüttert, die auf Anatomie, Physiologie und Psychophysik basieren.70 Ein pragmatistischer Pluralismus sollte diese Art interdisziplinären Ausdrucks eher bestärken. Klar zu verurteilen ist jedoch Alexanders störrische Weigerung, die Erforschung und Prüfung seiner Theorien durch wissenschaftliche Standardtechniken des Experimentierens und der Analyse zu erlauben oder selbst zu verfolgen. Diese Haltung – die Alexanders Einsatz für Vernunft und flexible Aufgeschlossenheit eklatant widersprach – hat schließlich sogar Dewey zur Verzweiflung gebracht, obwohl er seine Frustration nur privat äußerte.71 Wenn Hemmung und primäre Kontrolle die zwei Hauptsäulen der Alexander-Technik sind, ruht sein Werk auch auf einem Glauben an den höchsten Wert und die potenziell alles durchdringende Macht rationalen Denkens, ein Ideal vollständiger bewusster Kontrolle. Dies war Ausdruck von Alexanders entwicklungsgeschichtlicher Vision des menschlichen Fortschritts durch bewusste »verstandesmässige Inhibition«72 und befeuerte seine melioristische Leidenschaft für sein Projekt: »Es gibt keine Funktion des Körpers, die nicht unter die Kontrolle des bewussten Willens gebracht werden kann […] und ich behaupte weiter, dass sich durch die Anwendung dieses Grundsatzes der bewussten Kontrolle in der Zukunft eine vollständige Beherrschung des Körpers entwickelt kann, die auf die Beseitigung aller physischen Defekte hinauslaufen wird«.73 Solche »vollständige bewusste Kontrolle jeder Funktion des Körpers« beinhaltet, wie er betont, keine »Trance«,74 sondern verlangt vielmehr den Gebrauch des eigenen reflektierenden und hemmenden Bewusstseins, um eine erhöhte somatische Vergegenwärtigung des Selbst zu erlangen, welche die Möglichkeit voraussetzt, jede körperliche Funktion beobachten zu können. Diese Möglichkeit ist entscheidend, weil wir, Alexanders Grundsätzen zufolge, nur das die rettung somatischer reflexion | 271

bewusst kontrollieren können, dessen wir uns bewusst sind, andernfalls wir es weder beobachten noch hemmen können. Da Alexander klar war, dass das Leben ungeheuer schwerfällig wäre, wenn wir über jede Bewegung nachdenken müssten, räumt er den Wert positiver Gewohnheiten ein, die unreflektiert unterhalb unserer Aufmerksamkeitsschwelle operieren. Doch betont er, dass die Essenz solcher positiven Gewohnheiten darin bestünde, dass sie jederzeit dem Bewusstsein zugänglich bleiben, um kontrollierbar und revidierbar zu sein. Sein ganzes Projekt der Rekonstruktion von Gewohnheiten zielt auf die Transformation ineffektiver, »unerkannter« und daher unkontrollierbarer Gewohnheiten in welche, die effektiv und anpassungsfähig sind, weil sie wesentlich durch »bewusste Kontrolle« gesteuert werden, auch wenn sie nicht ständig im Fokus reflexiven Selbstbewusstseins stehen. Obwohl »der Mechanismus ruhig und unauffällig« unterhalb der Bewusstseinsebene »arbeitet«, können richtige Gewohnheiten durch bewusste Kontrolle »wenn nötig zu jedem Zeitpunkt« überprüft und verändert werden.75 So beharrt Alexander darauf, dass seine Methode »auf der vollständigen Akzeptanz der Hypothese beruht, dass jede einzelne Bewegung bewusst angeleitet und kontrolliert werden kann«.76 Doch wie ist eine solche vollständige Transparenz jemals möglich? Wir haben nicht nur auf die praktische Schwierigkeit anhaltender Aufmerksamkeit und präziser Wahrnehmung für einen detaillierten und exakten body scan hingewiesen. Die Struktur von Vorder- und Hintergrund, die für jede Art konzentrierten Bewusstseins grundlegend ist, beinhaltet auch, dass es immer etwas im somatischen Hintergrund des Bewusstseins geben wird, das das Bewusstsein strukturiert, jedoch nicht als Gegenstand in seinem Gesichtsfeld erscheint. Selbst wenn jedes besondere somatische Element im Prinzip für solch eine Vergegenwärtigung und ihre Kontrolle verfügbar wäre (was selbst schon zweifelhaft ist), würden immer ein Körperteil oder eine Funktion unserer Aufmerksamkeit entgehen, während wir uns auf einen anderen konzentrieren oder uns um etwas anderes kümmern. Dewey wusste um solche Beschränkungen bewusster Reflexion, wenn er die unbeschreibliche, mit dem Verstand nicht greifbare Unmittelbarkeit des qualitativen Gefühls als den essentiellen Kitt hervorhob, der eine Erfahrung zusammenhält, jedoch nicht wie 272 | kapitel 6

eines seiner Elemente behandelt werden kann, da die unmittelbar erfahrene Qualität genau das ist, was die wirkliche Vergegenwärtigung jener Elemente bestimmt, die Bewusstsein und Identifizierung von ihnen als Elementen überhaupt erst ermöglicht. Solche unmittelbaren Gefühle, betont Dewey, kann man haben, jedoch nicht erkennen, und doch liegen sie jeder Anstrengung des Denkens und der Erkenntnis zugrunde.77 Der unreflektierte Mechanismus der Gewohnheit »ist unerlässlich. Müsste jeder Akt mit Bewusstsein für den Augenblick ausgesucht und mit Vorsatz bewerkstelligt werden, so wäre die Ausführung voller Mühsal, und was herauskäme, plump und lahm. «78 Vernunft und Bewusstsein können außerdem nicht als autonome Einheiten betrachtet werden, die Gewohnheiten kontrollieren, da sie selbst aus Gewohnheiten hervorgehen und unabhängig von ihnen keine echte Existenz haben: »Gewohnheiten, die im Prozess der Ausübung biologischer Fertigkeiten gebildet werden, [sind] die einzigen Wirkungskräfte des Beobachtens, Erinnerns, Voraussehens und Urteilens […]. Ein Geist oder ein Bewusstsein oder eine Seele im Allgemeinen, die diese Tätigkeiten verrichten würde, ist ein Mythos […] Konkrete Gewohnheiten verrichten alles Auffassen, Erkennen, Imaginieren, Erinnern, Urteilen, Denken, Überlegen, das überhaupt verrichtet wird.«79 Und sie verrichten auch die Arbeit, andere Gewohnheiten zu hemmen. Deswegen ist es Dewey zufolge falsch, zwischen Gewohnheiten der Vernunft und der bewussten Kontrolle einen Gegensatz aufzumachen. Der wirkliche Gegensatz besteht zwischen »Routine«, »schablonenmäßiger« Gewohnheit und »intelligenter oder künstlerischer Gewohnheit«, die »zusammengeschmolzen ist mit Denken und Fühlen«, zwischen der blinden, verhärteten Gewohnheit und »geschmeidige[r], mit Gefühl durchpulste[r] Gewohnheit«.80 Die Kunst der somatischen Reflexion und der bewussten Kontrolle ist daher selbst eine hochentwickelte, intelligente Gewohnheit, die aus einem Untergrund unzähliger anderer Gewohnheiten hervorgeht (und diese zugleich koordiniert), die das sich beständig entwickelnde Geflecht »verwickelte[r], unsichere[r], entgegengesetzte[r] Einstellungen, Antriebe, Gewohnheiten« konstituiert, die wir als Selbst bezeichnen. »Es gibt kein ein für alle Mal fertiges Selbst hinter den Tätigkeiten« einer Person und kein einheitliches Selbstbewusstsein, das sie alle überwachen kann.81 die rettung somatischer reflexion | 273

Es ist enttäuschend, dass Dewey die Ideale der vollständigen Transparenz und der bewussten Kontrolle in seiner Auseinandersetzung mit Alexanders Werk nicht infrage stellte. Auch seine Glorifizierung von Alexanders Theorie der »primären Kontrolle« und deren Gleichsetzung mit Magnus’ »Zentralapparat« ist misslich. »Diese Entdeckung […] einer zentralen Kontrolle, die alle anderen Reaktionen bedingt«, frohlockte Dewey, »ordnet den bedingenden Faktor der bewussten Anleitung unter und ermöglicht es der Person, durch ihre eigenen koordinierten Aktivitäten ihre eigenen Potentiale in Besitz zu nehmen«.82 Doch Magnus’ Zentralapparat ist überhaupt keine Angelegenheit »bewusster Anleitung« oder »vollendeter Eroberung […] der Kunst bewusster Kontrolle«;83 er ist ein instinktiver, unbewusster Mechanismus, der selbst bei Lebewesen auftritt, die unter einem massiven Gehirnschaden leiden, solange der entscheidende Bereich in ihrem Stammhirn funktionell intakt bleibt. Beunruhigender als seine Differenz zur Theorie von Magnus ist jedoch Alexanders Idee der primären Kontrolle inhärenter Beschränkungen, eine durch Übertreibung verzerrte Einsicht. Obwohl die Kopf- und Nackenhaltung für unser sensomotorisches Funktionieren extrem wichtig ist, ist es alles andere als klar, dass die besondere »primäre Anweisung«, die von Alexander als wesentliche primäre Kontrolle verteidigt wird – das heißt den Kopf nach vorne und aufrecht zu halten –, immer den unentbehrlichen, grundlegenden und dominierenden Faktor darstellt, durch den all unsere Bewegungen ausgelöst werden. In vielen entspannten Ruhepositionen besteht offensichtlich kein Bedarf, den Kopf nach vorne bzw. aufrecht zu halten, um eine Regelmäßigkeit unserer Atembewegungen zu erzielen, und noch offensichtlicher kein Bedarf, diese Position bewusst zu kontrollieren. Selbst bei willkürlichen Bewegungen wie dem Herumdrehen im Bett kann die Haltungsorientierung des Beckens (oder anderer Körperteile) genauso wichtig oder wichtiger sein als das Vorn- und Aufrechthalten des Kopfs; tatsächlich kann es für einige Bewegungen (wie das Schlucken) vorteilhafter sein, den Kopf zurückzuziehen. Ich bestreite hier nicht die grundlegende Bedeutung der Kopfund Nackenregion für die richtige Haltung und das richtige sensomotorische Funktionieren. Diese Region beherbergt nicht nur das Gehirn, die Seh-, Hör- und Geschmacksorgane und das Gleichge274 | kapitel 6

wichtssystem des Innenohrs (das für die Stabilität der Haltung und des Blicks sorgt), sondern auch die ersten zwei Halswirbel (Atlas und Axis), deren Gelenke und die mit ihnen verbundenen Bänder es uns ermöglichen, den Kopf zu heben, zu senken und rotieren zu lassen, wodurch den Sinnesorganen unserer Augen, Ohren, Nase und unseres Mundes größere Spielräume ermöglicht werden. Alexanders Beharren darauf, den Kopf nach vorne und aufrecht zu halten, gibt auf hervorragende Weise Aufschluss über Haltungen und Bewegungen, die damit zu tun haben, dass wir uns selbst aufrecht und im Gleichgewicht halten, bei denen Sinnesmechanismen im Kopf und im Nacken von entscheidender Bedeutung sind. Doch andere Teile des Nervensystems unseres Körpers –  insbesondere Berührungsrezeptoren der Haut – spielen in Fragen des Gleichgewichts und der Körperorientierung ebenfalls eine große Rolle, wie neuere neurophysiologische Experimente gezeigt haben. »Haptische Informationen über Berührungen der Hand können eine tiefe Stabilisierungswirkung auf die Körperhaltung haben«, die sogar Mängel im Gleichgewichts- und im Sehnervensystem ausgleichen oder korrigieren können, die andernfalls dazu führen würden, dass man hinfällt.84 Es wurde auch gezeigt, dass Hautreize der Fußsohlenregion und propriozeptive Reize des Knöchels die Körperhaltung steuern, sodass die Stimulation dieser Bereiche dazu führen kann, dass der ganze Körper umkippt.85 Kurz gesagt, die menschliche Beherrschung der Kontrolle des aufrechten Stehens beruht vielmehr auf der »Integration multisensorischer Informationen« von einer Vielzahl von Körperbereichen und nicht auf dem absoluten Verlass auf die zentrale Position des Kopfs und des Nackens.86 Es steht nicht nur eine Überfülle an Haltungsinformationen zur Verfügung, die es einer Person ermöglicht, auch dann zu funktionieren, wenn ein Sinneskanal blockiert oder beeinträchtigt ist. Die komplexe Verknüpfung sich teilweise überlappender Sinnesreize in Bezug auf die Haltung erlaubt auch stärker vergleichende Rückschlüsse der Körperorientierung und damit ein genaueres, feiner abgestimmtes System der Haltungskontrolle. Somatische Philosophie und rekonstruktive Therapie sollten diesen Pluralismus respektieren. Ein praktischer Nebeneffekt ist, dass somatisches Bewusstsein sich nicht immer ausschließlich oder in erster Linie auf Alexanders die rettung somatischer reflexion | 275

primäre Kontrolle konzentrieren sollte. Wir sollten es stattdessen auf jeden beliebigen Körperteil oder jede beliebige Haltung richten, die unsere Aufmerksamkeit benötigt, um eine funktionale Anpassung zu erzielen. Deswegen denke ich, dass Ganzkörperuntersuchungen (body scans) besonders nützlich sind. Die Arbeit an der primären Kontrolle der Kopfhaltung wird nicht automatisch einen starren Brustkorb oder ein verspanntes Becken lockern oder die Flexibilität steifer Knöchel und chronisch kontrahierter Zehen vergrößern. Umgekehrt kann die Arbeit an diesen anderen Bereichen häufig einen guten Anfang dafür bilden, Verbesserungen an der Kopf- und Nackenhaltung vorzunehmen. Aus meiner eigenen Erfahrung als Feldenkrais-Praktiker weiß ich: Wenn der Kopf- und Nackenbereich von jemandem aufgrund seiner Vorgeschichte, aus Verletzungsgründen oder wegen Bluthochdrucks bereits mit Schmerz, Stress und Steifheit assoziiert wird, dann wird der direkte Fokus intensiver Aufmerksamkeit oder Manipulation auf diesen Bereich wahrscheinlich nur Spannung, Angst oder Schmerz der Person steigern. Dies würde unsere therapeutischen und pädagogischen Ziele untergraben, die problematische Spannung zu lösen und eine bewusstere Vergegenwärtigung davon zu ermöglichen, wie sich eine solche Entspannung anfühlt und wodurch sie veranlasst werden kann. In solchen Fällen ist es klüger, damit zu beginnen, die somatische Aufmerksamkeit auf weniger empfindliche Bereiche des Körpers zu lenken, in denen die Person (in einem ihr angenehmeren Bereich) mit den Korrekturen und Empfindungen der Entspannung und Flexibilität experimentieren kann. Sobald diese Methoden und Gefühle vertrauter geworden sind, können sie leichter auf den problematischen Kopf- und Nackenbereich erweitert werden. Der lebendige, sich bewegende Körper stellt eher ein facettenreiches, komplex integriertes, dynamisches Feld als ein einfaches, statisches, lineares System dar. Obwohl manche Körperteile für die motorische Kontrolle grundlegender oder unentbehrlicher sind als andere, sollte die somästhetische Aufmerksamkeit nicht auf eine einzige Körperregion oder eine Verhältnisbestimmung, die als »primäre Kontrolle« definiert wird, beschränkt werden. Sie bedarf vielmehr des pragmatistischen Pluralismus, den vor allem James nachdrücklich betonte und den Dewey im Allgemeinen verteidigt. 276 | kapitel 6

Die Alexander-Technik legt besonderes Augenmerk auf die aufrechte Haltung, und auch Dewey ist der Meinung, dass ihr ein entscheidender Stellenwert zukommt.87 Unbestreitbar hat der aufrechte Gang die menschliche Erfahrung wesentlich geprägt und sogar unsere Anatomie verändert. Unsere Fähigkeit zu stehen hat den Händen nicht nur die Freiheit eröffnet, Gegenstände haptisch zu erforschen, zu tragen und zu gestalten, zu gestikulieren und Werkzeuge zu entwickeln. Sie erweitert auch außerordentlich unser Blickfeld, dessen gesteigerte Entfernungswahrnehmung Voraussicht ermöglicht und so Planung und Reflexion fördert. Durch die Befreiung von der totalen Inanspruchnahme durch das, was mit uns in unmittelbarem, direkten Kontakt steht, haben wir die Möglichkeit zur Abstraktion, Symbolisierung und zum Schlüsseziehen. Dadurch, dass sie uns weniger abhängig vom Geruchssinn machte und davon, Dinge mit dem Mund tragen zu müssen, sorgte die aufrechte Haltung für die Entwicklung von Gesichtsstrukturen und Muskeln, die zur artikulierten Rede befähigen, was wiederum unsere Denkund Handlungsmöglichkeiten ungeheuer erhöhte. Wenn das Aufrechtstehen zur Entstehung menschlicher Sprache und Rationalität beigetragen hat, die für unseren evolutionären Vorteil gegenüber niederen Tieren kennzeichnend sind, so scheint es auch mit unserer ethischen Transzendenz verknüpft zu sein, die durch Denken und Sprache ermöglicht wird. Die Idee körperlicher, kognitiver und moralischer Verbesserungen durch eine überlegene Form von Haltung und Selbstgebrauch stellt den Kern der Vision Alexanders dar. Aufrichten und aufrechte Haltung sind auch Hauptmerkmale seiner praktischen Technik.88 Seine »primäre Kontrolle« darüber, den Kopf »nach vorne und nach oben [zu] bringen«89 sind daher Embleme seines leidenschaftlichen Einsatzes für den beständigen Entwicklungsfortschritt der Menschheit: aufwärts von der niedrigen, impulsiven, gedankenlosen Tierexistenz unserer Ursprünge und vorwärts zur ständig wachsenden Transzendenz hin zur Vollkommenheit durch vernünftige Hemmung und bewusste Kontrolle. Sein radikales rationalistisches Ideal lehnt es ab, sich in irgendeiner Weise durch Empfindungen oder spontane Gefühle im Verhalten leiten zu lassen. Handlungen, die emotionale Aufregung hervorrufen, werden deshalb als kognitive und moralische Gefahren verurteilt, selbst wenn solche Aktivitäten die rettung somatischer reflexion | 277

die Künste einschließen. Die Künste des »Tanzens und Zeichnens« brandmarkt er als »zwei Formen der Verdammnis, wenn sie als Erziehungsgrundlagen eingesetzt werden«, auch warnt er vor der emotionalen Erregung durch Musik, deren »Ekstase des gesamten kinästhetischen Systems« dazu neige, die Kontrolle der Vernunftvermögen zu untergraben.90 Obwohl Alexander einräumt, diese von der Kunst angeregten »künstlichen Stimuli seien statthaft« für den gemäßigten Gebrauch durch »den vernünftigen, erzogenen Erwachsenen«, hält er sie für viel zu gefährlich, um Kinder zu erziehen, da sie am stärksten die primitivsten, unzivilisierten Teile von uns ansprächen: »Musik und Tanz sind also, wie jeder weiß, Erregungen, die eine stärkere emotionale Anziehungskraft auf den Primitiven haben als auf höher entwickelte Rassen. Kein betrunkener Mann unserer Zivilisation erreicht jemals den Zustand der Betäubtheit und des vollständigen Verlustes der Selbstkontrolle, wie sie von Wilden unter dem Einfluss dieser zwei Stimuli erreicht wird«.91 Diese Bemerkungen klingen nach hehrem Rationalismus, aber sie maskieren einen repressiven, irrationalen Rassismus. Alexander ist auch bereit, diese Maske zu lüften und seinen Rassismus ausdrücklich zur Geltung zu bringen: »Die kontrollierenden und steuernde Kräfte bei wilden vierbeinigen Tieren und in den wilden schwarzen Rassen sind praktisch dieselben; […] der geistige Fortschritt dieser Rassen hat mit ihrer körperlichen Evolution nicht Schritt gehalten.« Solche grotesken Behauptungen werden als Beweise dafür vorgebracht, dass der Entwicklungsfortschritt in geistigen, sozialen und kulturellen Angelegenheiten nicht erreicht werden könne, wenn wir uns einfach auf »unbewusste Leitung und Kontrolle« verließen.92 Dewey scheitert hier erneut auf enttäuschende Weise darin, sich von Alexanders exzessiven Behauptungen zu distanzieren.93 In seiner Einführung in das Buch, das die oben zitierten Behauptungen enthält, stimmt Dewey im Wesentlichen Alexanders Erziehungskritik zu, dass freier emotionaler Selbstausdruck eine ebenso zerstörerische Gefahr darstelle wie die strenge »Einschärfung starrer Regeln«.94 Was Erziehung stattdessen benötige, schlussfolgert Dewey, sei weder repressive »Kontrolle durch eine äußere Autorität« noch »Kontrolle durch emotionale Windböen«, sondern stattdessen »Kontrolle durch Intelligenz«,95 eine subtilere, geschmeidigere Ver278 | kapitel 6

sion von Alexanders Idee der Kontrolle, welche die »Vernunft diktiert«.96 Diejenigen, die »an der Bildungsreform interessiert« seien, betont Dewey, sollten sich daran »erinnern, dass die Freiheit der körperlichen Handlung und der freie Ausdruck des Gefühls Mittel darstellen und keine Ziele und dass sie als Mittel nur insofern gerechtfertigt sind, als sie als Bedingungen verwendet werden, um die Macht der Intelligenz zu entwickeln«.97 Ob Dewey mit diesen Behauptungen Alexanders Einwände gegen Tanz und Musik als freie emotionale Ausdrücke unterstützt oder nicht – sie suggerieren sicherlich einen verstörend scharfen (für Dewey untypischen) Gegensatz zwischen Mitteln und Zwecken, der körperliche Handlungen und Gefühle als bloße Mittel unterordnet, die lediglich durch ihre Dienstbarkeit für rationalere Zwecke, größere Intelligenz zu entwickeln, gerechtfertigt sind. Kein Wunder, dass Deweys Pragmatismus oft dafür attackiert wurde (insbesondere von Randolph Bourne und Lewis Mumford), zu instrumentellrationalistisch zu sein und dem imaginativen emotionalen Ausdruck der Kunst ablehnend gegenüberzustehen. Diese Kritik spornte Dewey schließlich zu seinem Meisterwerk Kunst als Erfahrung an, in dem er darauf besteht, dass die bloße Tatsache, dass etwas als Mittel diene, nicht zur Folge habe, dass es nicht als Zweck genossen werden könne. Dieselbe Mahlzeit, die als Nahrungsmittel fungiere, dasselbe Gedicht, das zum Ziel habe, Liebe oder Patriotismus zu evozieren, könne auch als Selbstzweck ästhetischen Wohlgefallens wertgeschätzt werden. Emotionaler Ausdruck und ungehinderte Handlung könnten ebenfalls um ihretwillen genossen und wertgeschätzt werden und nicht bloß als Mittel, um Intelligenz zu entwickeln, obwohl jede solcher Bewertungen immer den Test zukünftiger Folgen bestehen müsse, um zu bestimmen, ob sein Wert anhaltend und nicht nur flüchtig sei. Glücklicherweise versichert Dewey an anderer Stelle, dass das Gedeihen menschlichen Handelns und Denkens der multiplen Ressource spontaner Gefühle und unreflektierter Gewohnheiten bedürfe, nicht nur reflektierender bewusster Kontrolle. Unsere unbewussten Instinkte, Gefühle und Gewohnheiten können nicht insgesamt nutzlos für unseren Umgang mit unseren Bedürfnissen und unserer Umwelt sein, weil sie größtenteils Produkte jener Anforderungen und Bedingungen sind: ob sie nun auf genetisch die rettung somatischer reflexion | 279

bedingte Tendenzen zurückzuführen sind, die durch evolutionäre Prozesse verfeinert wurden, oder durch unreflektiert erworbene Gewohnheiten, die auf Erfahrungen mit unserer Umgebung beruhen. Da Gewohnheiten unsere Umwelt verkörpern, können sie mit ihr nicht radikal unverbunden sein. Aber, wie Alexander scharfsinnig argumentiert, in unserer heutigen zunehmend komplexen und sich schnell verändernden Welt wandelt sich die Umwelt (oder verändert sich einfach durch Reisen) in einer Geschwindigkeit, die für wirksame unreflektierte Anpassungen der Gewohnheit viel zu groß ist. Da außerdem verschiedene Umgebungen verschiedene und häufig konfligierende Gewohnheiten erzeugen, wird die bewusste Kontrolle durch somatische Reflexion manchmal notwendig sein, um mit solchen Konflikten umgehen zu können. Und nicht zuletzt ist die natürliche Passung von menschlichen Gewohnheiten, Gefühlen und Umgebung nur eine grobe und allgemeine. Bei den meisten Individuen gibt es Gewohnheiten und damit verknüpfte Gefühle (insbesondere solche, die durch anstrengende und problematische Umgebungen, Aufgaben und Erfahrungen gebildet wurden), die Disharmonien, Verzerrungen und Fehlanpassungen mit sich bringen und uns beständig im Handeln behindern, unseren Selbstgebrauch und sogar unser Wahrnehmungsvermögen so beeinträchtigen können, dass unsere »sinnliche Wahrnehmung verworren, verdorben und verfälscht«98 oder (in Alexanders Worten) »verdorben« wird.99 Hierin besteht das praktische Kerndilemma des Körperbewusstseins: Wir müssen uns auf unreflektierte Gefühle und Gewohnheiten verlassen – weil wir nicht über alles nachdenken können und weil solche unreflektierten Gefühle und Gewohnheiten immer unseren Reflexionsanstrengungen zugrunde liegen. Aber zugleich können wir uns nicht vollständig auf sie und die Urteile, die sie erzeugen, verlassen, weil einige von ihnen ziemlich falsch und ungenau sind. Außerdem stellt sich die Frage, wie wir Fehler und Unangemessenheit wahrnehmen können, wenn sie durch ihren unreflektierten, unmittelbaren und gewohnheitsmäßigen Status verborgen werden; und wie können wir sie korrigieren, wenn unsere bewussten, reflektierenden korrektiven Anstrengungen spontan auf denselben ungenauen, gewohnheitsmäßigen Mechanismen der Wahrnehmung und Handlung beruhen, die wir zu korrigieren versuchen?

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V. Provisorische Schlussfolgerungen

Weder gibt es eine vordergründige Antwort, die diese Probleme in Wohlgefallen auflöst, noch eine redliche und elegante Weise, ihnen auszuweichen. Also müssen wir uns auf pragmatische und kleinschrittige Strategien verlegen. Die sinnvollste praktische Haltung zu unseren Gewohnheiten und Sinnesempfindungen ist (um ein altes hebräisches Sprichwort zu bemühen): »Respektiere und verdächtige sie!« Wir verlassen uns auf sie, bis sie sich in der Erfahrung als problematisch erweisen – ob durch Scheitern bei der Durchführung, Fehler im Urteil, Gefühle der Verwirrung, körperliches Unbehagen, Schmerz oder durch die dialogische Erfahrung, von anderen zu hören, dass man etwas Ungeschicktes, Eigenartiges oder Schädliches tut oder getan hat. An diesem Punkt sollten wir unser unreflektiertes Verhalten näher untersuchen. Aber genau zu unterscheiden, welche Gewohnheiten uns fehlleiten, welche Dimension einer Gewohnheit im Einzelnen einer Korrektur bedarf und welche Art der Korrektur verlangt wird, bedarf einer konsequenten praktischen Arbeit am eigenen kritischen somästhetischen Selbstbewusstsein. Bei solcher Arbeit sind etablierte Disziplinen systematischer somatischer Vergegenwärtigung am nützlichsten. Jede Methode hat ihre Beschränkungen, und angesichts der Vielfalt von menschlichen Bedürfnissen, Problemen, Zielen, Zusammenhängen und Temperamenten wäre es falsch, eine Methode als den anderen in jeder Hinsicht überlegen oder immer nützlich zu verteidigen. Unser Werkzeugkasten somatischer Disziplinen muss pluralistisch sein. Ausgebildete Lehrer dieser Methoden spielen eine unentbehrliche Rolle, weil sie – neben ihren professionellen Fachkenntnissen – eine kritische Distanz (sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn) zu den Gewohnheiten des Schülers einnehmen können, die es ihnen erlaubt, diese deutlicher zu erkennen und alternative Wege vorzuschlagen, um dieselbe körperliche Handlung durchzuführen. Obwohl Alexander ein einzigartiges Genie darin an den Tag legte, sich selbst zu unterrichten, benötigte auch er Spiegel. Um verbesserten Selbstgebrauch zu erlernen, braucht man normalerweise die Hilfe anderer. Daraus lässt sich ein bedeutsamer Lehrsatz ableiten – die grundlegende Abhängigkeit des Selbst von den anderen, die einen umgedie rettung somatischer reflexion | 281

ben. Alexanders perfektionistische Rede vom »Höchsten Erbe des Menschen« und seiner »vernünftigen Intelligenz« suggeriert einen extrem stolzen und engstirnigen Individualismus, der von einem hochmütigen und anmaßenden humanistischen Glauben angetrieben wird. Die Verteidigung der bewussten Kontrolle des Selbst beinhaltet, dass »das begründende bewusste Denken« sich als allmächtiger, vollkommen autonomer und selbstgenügsamer Herr über Körper, Geist und Verhalten etablieren kann, um die totale Beherrschung jeder Körperfunktion zu erreichen, sodass es sich »erheben kann über die Kräfte aller Krankheiten und körperlichen Behinderungen« und nicht nur »die körperliche Vollkommenheit« sicherstellen kann, sondern auch »die vollständige Kontrolle über unsere eigenen Potenziale «.100 Begleiterscheinung dieses Abfeierns der autonomen Macht des Individuums ist die Schuld der individuellen Person, wenn sie daran scheitert, sich dieses Potential der »perfekten körperlichen und geistigen Gesundheit« zunutze zu machen. Diese Person »sollte die Verantwortung in sich und bei sich allein begreifen. Sie muss begreifen, dass die Verantwortung ihre und ihre allein ist. Ihr muss begreiflich gemacht werden, dass solche Defekte aus ihrer eigenen Schuld erwachsen und Ergebnis der eigenen Ignoranz oder mutwilliger Vernachlässigung sind«.101 Trotz des evolutionären Fortschritts unserer rationalen Transzendenz (einschließlich der technologischen Weiterentwicklungen, von denen manche denken, sie würden uns zu posthumanen Cyborgs machen) sind wir noch wesentlich und abhängig Teil einer viel umfassenderen natürlichen und sozialen Welt, die fortfährt, uns Individuen (einschließlich unseres rationalen Bewusstseins) in einer Weise zu formen, die sich der Kontrolle unseres Willens und Bewusstseins entzieht. So wie Sauerstoff im Gehirn für das Funktionieren des Bewusstseins notwendig ist, so sind die Praktiken, Normen und Sprachen der Gesellschaft notwendiger Baustoff für unsere Denk- und Bewertungsprozesse. Dies abzustreiten ist kein moralischer Perfektionismus, sondern blinde Arroganz. Obwohl Dewey Alexanders Entdeckung als »Primärkontrolle, welche alle anderen Reaktionen bedingt […] und das Individuum durch seine eigenen koordinierten Tätigkeiten befähigt, seine eigenen Potentiale in Besitz zu nehmen«, rühmt,102 ist sein Humanismus im Allgemeinen weit von Alexanders individualistischer Hybris 282 | kapitel 6

entfernt. Tatsächlich hebt Dewey die grundsätzliche Abhängigkeit des Individuums von Umweltfaktoren im weiteren Sinne hervor, indem er das Selbst mit Bezug auf Gewohnheiten definiert und darauf besteht, dass diese sich auf die Umweltbedingungen einstellen und diese integrieren müssten, insbesondere jene Umweltelemente, die ihr Funktionieren bedingen (was J. J. Gibson als »Affordanz« bezeichnet). Wenn Handlung, Wille und Denken des Selbst von Gewohnheiten bestimmt werden und wenn Gewohnheiten notwendigerweise Elemente der Umwelt verkörpern, dann beruht das Selbst grundlegend auf solchen Elementen. Fazit somatischer Philosophie ist, dass der eigene Körper (wie der eigene Geist) seine Umgebung verkörpert und beispielsweise über die konventionellen Körpergrenzen der Haut hinausgeht, um seine Grundbedürfnisse wie Atmung und Nahrung zu befriedigen. Unsere Körper (wie unsere Gedanken) sind daher paradoxerweise immer gleichzeitig mehr und weniger als wir selbst. Wie Dewey prägnant sagt, leben wir »genau so sehr in Prozessen über und ›durch‹ die Haut wie in Prozessen ›innerhalb‹ unserer Haut«.103 Die halbdurchlässige Grenze unserer Haut stellt ein natürliches somatisches Symbol dar für den bloß halbautonomen Status unseres Selbst. Konstituiert durch seine Umweltbeziehungen, bezeichnet Dewey das Selbst schließlich als »transaktional«. Er bevorzugte diesen Begriff gegenüber dem »Interaktionalen«, von dem er dachte, es würde eine größere Trennung und Unabhängigkeit implizieren.104 Obwohl solche Begriffe wie das »transaktionale Selbst« und der »transaktionale Körper« unglückliche Assoziationen an ökonomisches Handeln wecken (und damit leider stereotype Auffassungen des Pragmatismus als einer Philosophie des fleißigen Kommerzialismus verstärken), transportieren sie doch die Bedeutung des dynamischen, symbiotischen Individuums, das in einem Zusammenhang mit anderen steht, sich grundlegend auf diese bezieht und sich gleichermaßen auf diese Bezüge verlässt und durch solche Beziehungen konstituiert ist. Diese Vision des symbiotischen Körpers inspiriert vielleicht dazu, den (menschlichen und nichtmenschlichen) Anderen der eigenen Umgebung, die dazu beitragen, diese zu definieren und aufrechtzuerhalten, mit größerer Anerkennung zu begegnen. Sie hat auch für das somatische Selbstbewusstsein Folgen. Die reflexive die rettung somatischer reflexion | 283

Vergegenwärtigung unseres Körpers endet nicht an der Hautgrenze. Wir können den Körper nicht allein, abgesondert von seinem Umweltzusammenhang, empfinden. Im Zuge der Entwicklung einer wachsenden somatischen Sensibilität und größerer somatischer Kontrolle müssen wir auch für die Bedingungen, die Beziehungen und atmosphärischen Energien der Umwelt des Körpers sensibler werden. In unseren körperlichen Handlungen sind wir keine selbstgenügsamen Instanzen, sondern Haushälter und Manager größere Mächte, die wir organisieren, um unsere Aufgaben zu erledigen. Wie Emerson weise bemerkte, »tun wir wenige Dinge durch Muskelkraft, wir positionieren uns stattdessen in Haltungen, um die Schwerkraft, d. h. das Gewicht des Planeten auf den Spaten oder die Axt einwirken zu lassen, die wir schwingen. Kurz gesagt […] wir bemühen uns, nicht uns selbst zu gebrauchen, sondern eine ziemlich unendliche Kraft dazu zu bringen, ihre Wirkung zu entfalten.«105 Emersons Punkt drückt eine entscheidende Einsicht asiatischer Philosophietraditionen aus, die zutiefst seine geistige Empfindsamkeit inspirierten, obwohl er ausgesprochen US-amerikanisch und pragmatistisch darin war, sein Augenmerk auf den unverzichtbaren Wert von Mitteln und natürlichen Vermittlungen zu legen. Das relationale Selbst erwirbt und entfaltet seine Macht nur durch seine es befähigenden Beziehungen; in Begriffen des klassischen chinesischen Denkens hängt die Tugend des exemplarischen Individuums oder sein ren (oftmals mit »Humanität, Menscheit« übersetzt) von seiner Anerkennung, Integration und Praxis des größeren Dao ab. Dieser relationale symbiotische Begriff des Selbst inspiriert zu einem umfassenderen Begriff des somatischen Meliorismus, in dem es uns auferlegt ist, uns um die Umweltbelange unseres verkörperten Selbst zu sorgen und mit ihnen zu harmonisieren und nicht nur um unsere eigenen Körperteile. Solch ein kosmisches Modell der somatischen Selbstkultivierung drückt sich auch im konfuzianischen Ideal aus, den eigenen Körper »mit Himmel und Erde und allen Dingen« zu formen. Die großen Neokonfuzianer Cheng Hao und Wang Yangming betonen: »Der Mensch der Menschheit [ren] betrachtet Himmel und Erde und alle Dinge als einen Körper. Wenn einem einzelnen Ding sein Platz vorenthalten wird, bedeutet dies, dass meine Humanität im vollsten Ausmaß noch nicht entfaltet ist.«106 Von Anbeginn zielt die konfuzianische Ausrichtung der Selbst-Vervoll284 | kapitel 6

kommnung auf Tugendhaftigkeit und schließlich auf Weisheit in der »Einheit von Mensch und Himmel oder Natur« als ihrem höchsten Ideal, wobei sie das Ziel verfolgt, durch das unentbehrliche Medium des Körpers – ein natürliches, himmlisches Geschenk, dessen volle Verwirklichung die tugendhafte Einsicht des Weisen benötigt, eine »Dreieinigkeit mit Himmel und Erde zu bilden«. Wie Menzius sagt, »die Funktionen des Körpers sind eine Gabe des Himmels, doch nur ein Weiser weiß sie angemessen zu handhaben«.107 Indem sie es uns ermöglicht, mehr Aspekte unseres Universums mit größerer Schärfe, Gegenwärtigkeit und Wertschätzung zu spüren, verspricht solch eine Vision somästhetischer Kultivierung den reichsten und tiefsten Genuss erfahrungsbezogener Erfüllung, weil sie auf die Fülle kosmischer Mittel zurückgreifen kann einschließlich eines erhebenden Sinns für die Einheit des Kosmos. Traumhafte Erfahrungsintensitäten können so im täglichen Leben erreicht werden, ohne gewaltsame Maßnahmen der Sinnessteigerung zu verlangen, die uns und andere gefährden. Und wenn wir trotzdem gefährlichere psychosomatische Experimente von extremer Intensität erleben wollen, sollte unsere somästhetisch kultivierte Gegenwärtigkeit uns aufmerksamer für die drohenden Gefahren machen oder uns dazu verhelfen, den Schaden möglichst gering zu halten.

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Anmerkungen

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Obwohl ich den Begriff »Somästhetik« eingeführt habe, um ein neues interdisziplinäres Feld innerhalb der philosophischen Praxis vorzuschlagen, ist dieser Begriff in der Neurophysiologie bereits gängig und bezeichnet die sinnliche Wahrnehmung des Körpers selbst statt seiner spezifischen Sinnesorgane. Die somästhetischen Sinne werden oft unterteilt in exterozeptive (die sich auf Reize außerhalb des Körpers beziehen und auf der Haut gefühlt werden), propriozeptive (die innerhalb des Körpers ausgelöst werden und die Verortung von Körperteilen zueinander oder des Körpers im Raum betreffen) und viszerale oder interozeptive (die sich von den inneren Organen ableiten und normalerweise mit Schmerzen in Verbindung gebracht werden). Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch (Husserliana, Bd. 4), Den Haag 1952, 56. Die Hervorhebung stammt von Husserl; Hervorhebungen in Zitaten finden sich im Folgenden, außer wenn anders angegeben, in den zitierten Quellen. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von Rudolf Boehm, Berlin 1966, 96. William James beschreibt den Körper auf gleiche Weise als Zentrum, sogar als »Sturmzentrum« und als »Ursprung der Koordination« in unserer Erfahrung. »Alles kreist um ihn und wird von seinem Standpunkt aus gefühlt.« »Zu jedem Zeitpunkt ist der Körper das Zentrum unserer Erfahrungswelt, Zentrum der Vorstellung, Zentrum der Handlung, Zentrum des Interesses.« William James, The Experience of Activity, in: ders., Essays in Radical Empiricism (1912), Cambridge 1979, 86. Eine ausführlichere kritische Diskussion von Platons Argumentation und ihrem Reflex in der zeitgenössischen Debatte um das Verhältnis des Körpers zu den neuen Medien findet sich in: Shusterman, Performing Live. Aesthetic Alternatives for the Ends of Art, Ithaka 2000, Kap. 7 (teilw. übersetzt in: ders., Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, a. a. O.; ders., Soma und Medien, in: KunstForum international 132 (1996), 210 – 215: 210 ff. Vgl. dazu Susan Bordo, Unbearable Weight: Feminism, Western Culture, and the Body, Berkeley 1993. The Complete Works of Montaigne, übers. von Donald Frame, Stanford 1965, 853. Es stimmt, dass meine Auswahl an Denkern und philosophischen Bewegungen nicht das ganze Spektrum an einflussreicher somatischer Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts abdeckt. Eine bedeutende philosophische Bewegung, die hier nicht behandelt wird, aber an vielen Punkten reichhaltige somatische | 287

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Einsichten bietet, ist die Philosophische Anthropologie, repräsentiert durch Max Scheler, Arnold Gehlen und Helmuth Plessner (in manchen Phasen seines Denkens ist auch Ernst Cassirer mit dieser Bewegung in Verbindung zu bringen). Für eine zeitgenössische Version der philosophischen Anthropologie, die auf einer systematischen Rekonstruktion des Denkens von Helmuth Plessner beruht (der in Europa eine besonders lebhafte Renaissance genießt) vgl. die wichtige zweibändige Studie von Hans-Peter Krüger, Zwischen Lachen und Weinen, Bd. 1: Das Spektrum menschlicher Phänomene, Berlin 1999, Bd. 2: Der dritte Weg. Philosophische Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001. Vgl. seine Bemerkung in: Claude Mauriac, Et comme l’espérance est violente, Paris 1986, 492.

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Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. II: Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt/M. 1986, 135; ders., Technologien des Selbst, in: Luther H. Martin/ Huck Gutman/Patrick H. Hutton [Hg.], Technologien des Selbst, Frankfurt a.M. 1993, 24 – 62; ders., Sexualität und Wahrheit, Bd. I: Der Wille zum Wissen, Frankfurt/M. 1983, 187. Siehe Pierre Hadots Begriff »Geistige Übungen«, in: ders., Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt/M. ³2011. Hadots einseitige Hervorhebung des Geistigen findet ihr Echo ganz deutlich in den Beschreibungen des philosophischen Lebens, wie sie von Stanley Cavell, Martha Nussbaum und Alexander Nehamas ausgeführt werden. In Philosophie als Lebenspraxis. Wege in den Pragmatismus (übers. v. Heidi Salaverría u. a., Berlin 2001), wo ich den Begriff Somästhetik einführe, um eine körperfreundlichere Darstellung des philosophischen Lebens vorzuschlagen, kritisiere ich Cavell und Nehamas dafür, dass sie den Körper ignorieren und das philosophische Leben ausschließlich begrifflich, insbesondere in Hinblick auf die textuellen Praktiken des Lesens und Schreibens definieren. Martha Nussbaums Studie The Therapy of Desire (Princeton, NJ 1994) legt die gleiche intellektuelle Einseitigkeit an den Tag, wenn sie das philosophische Leben auf »die Technik vernünftigen Argumentierens« beschränkt (5 f., 353 f.). Darüber hinaus setzt sie wie Hadot den Schwerpunkt bei den Stoikern und legt den Akzent einseitig auf ein medizinischtherapeutisches Modell des philosophischen Lebens, im Gegensatz zu dem ästhetischen Modell, das Foucault, Nehamas und ich vertreten. Platon, Phaidon, 65a/66a. Hadot, Philosophie als Lebensform , a. a. O., 127 f. A. a. O., 30. A. a. O., 39. Platon, Timaios, 88c. Xenophon, Gespräche mit Sokrates, 12, 5 f. 288 | anmerkungen

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Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, in der Übers. von Otto Apelt unter Mitarb. von Hans Günter Zekl neu hrsg. von Klaus Reich, Bd. I, Hamburg 2008, 45, 47. A. a. O., 110. A. a. O., Bd. II, 51, 57. Epikur, Brief an Menoikeus, 128. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, a. a. O., Bd. I . Yuasa Yasuo, The Body: Toward an Eastern Mind-Body Theory, übers. S. Nagatomo und T.P. Kasulis, Albany 1987, 25. In Yuasas späterem Buch The Body, SelfCultivation, and Ki-Energy, übers. v. S. Nagatomo und M.S. Hull, Albany 1993, wird der Terminus shugyo mit »Selbst-Kultivierung« übersetzt. Von den beiden chinesischen Zeichen abgeleitet, die jeweils für »Meisterschaft« und »Übung« stehen, meint shugyo wörtlich »eine Übung beherrschen«, aber die Idee, dass dazu Selbstkultivierung erforderlich sei, ist darin implizit und wesentlich enthalten. Zitiert nach: Chun-Chieh Huang, Konfuzianismus: Kontinuität und Entwicklung. Studien zur chinesischen Geistesgeschichte, Bielefeld 2009, 78 f. Zu Konfuzius s. The Analects of Confucius: A Philosophical Translation, übers. v. Roger Ames und Henry Rosemont, Jr., New York 1999, 72. Tao Te Ching, übers. v. D.G. Lau, London 1963, 17 (XIII). The Complete Works of Chuang Tzu, übers. v. Burton Watson, New York 1968, 120, 135, 313. Diese Arbeit umfasst nicht nur Foucaults drei Bände der Geschichte der Sexualität, sondern auch seine vielen kurzen Aufsätze, Vorträge, Seminarzusammenfassungen, Diskussionen und Interviews, die sich mit Körperpraktiken, Sexualität, Ethik und den Technologien des Selbst befassen. Viele der Interviews finden sich in: Sylvère Lotringer (Hg.), Foucault Live: Collected Interviews 1961 – 1984, übers. v. Lysa Hochroth und John Johnston, New York 1996, sowie in den drei Bänden von Paul Rabinow (Hg.), The Essential Works of Michel Foucault, 1954 – 1984, übers. v. Robert Hurley u. a., New York 1997, die folgender vollständigeren Sammlung entnommen sind: Dits et Ecrits, hg. von Daniel Defert und François Ewald, ursprünglich 1994 von Gallimard in vier Bänden veröffentlicht. Ich beziehe mich im Weiteren auf die neuere Quarto-Edition, Paris 2001. [In deutschen Übersetzungen erschienene Werke und Interviews Foucaults werden im Folgenden nach den deutschen Ausgaben zitiert. Anm. d. Übers.] Diogenes Laertius, Leben und Meinungen, a. a. O., Bd. I, 313. Aus der Fülle der ausgezeichneten Forschungsarbeiten auf diesem Feld sollte ich mindestens zwei Pionierarbeiten erwähnen, die einen ähnlichen Titel haben, im Inhalt jedoch sehr verschieden sind: Die Arbeit des Soziologen Bryan Turner, Body and Society: Explorations in Social Theory, Oxford 1984 und die des Historikers Peter Brown, Body and Society: Men, Women, and Sexual Renunciation in the Early Christianity, New York 1988. Es gibt eine ermutigende Konvergenz solcher Orientierungen, insbesondere in Kapitel 1 | 289

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der neueren Forschung im Zusammenhang mit verkörperter Erkenntnis, wie sie in den Arbeiten von Francisco Varela, Evan Thomson, Eleanor Rosch, George Lakoff, Mark Johnson, Antonio Damasio, Brian O’Shaughnessy, Shaun Gallagher, John Campbell, Alva Noë und anderen exemplifiziert wird. Die Feldenkrais-Methode setzt ein eher pädagogisches und nicht pathologisches Modell ein. Wir Praktiker betrachten die Leute, die wir behandeln, eher als »Schüler« denn als »Patienten«, und wir sprechen in Bezug auf unsere Arbeit von »Unterrichten« und nicht von »Therapiesitzung«. Die Funktionale Integration ist dabei nur eine der zwei zentralen Arbeitsweisen der Methode, die andere heißt Bewusstheit durch Bewegung. Letztere wird am besten in Feldenkrais’ einleitendem Text beschrieben, in: ders., Bewußtheit durch Bewegung. Der aufrechte Gang, Frankfurt/M. 1978. Eine sehr ausführliche, allerdings komplizierte Darstellung der Funktionalen Integration gibt Yochanan Rywerant in: The Feldenkrais Method. Teaching by Handling, New York, 1983. Für eine vergleichende philosophische Analyse der Feldenkrais-Methode, der Alexander-Technik und der Bioenergetik siehe Kapitel 7 (Die somatische Wende in der heutigen Kultur) in: Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, a. a. O., 141 – 168. Ich entfalte diesen Gedanken ausführlicher im vierten Kapitel, in dem Wittgensteins somatische Philosophie behandelt wird. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main 1969, 247 f. A. a. O., 248. Ebd. A. a. O. 249 f. Was nicht heißen soll, dass erfahrungsbezogene Somästhetik keine Normen oder Ideale festsetzen kann: Das berühmte Hochgefühl von Läufern oder der ›Pump‹ von Bodybuildern und der Orgasmus Liebender könnten als Erfolgsmaßstäbe betrachtet werden. Und diese können, wenn sie als einziger Maßstab für einen erfahrungsmäßigen Nutzen der jeweiligen Praktiken missdeutet werden, repressive Macht ausüben, die eine somästhetische Kritik wiederum infrage stellen muss. Zur Weiterentwicklung der Somästhetik siehe Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, a. a. O., Kap. 6 und 7; ders., Thinking Through the Body, Educating for the Humanities: A Plea for Somaesthetics, in: Journal of Aesthetic Education 40 (2006) 1: 1 – 21. Kritische Diskussionen und interpretierende Anwendungen von Somästhetik finden sich in den Aufsätzen von Martin Jay, Gustavo Guerra, Kathleen Higgins, Casey Haskins sowie in meiner Antwort im Journal of Aesthetic Education 36 (2002) 4: 55 – 115. Siehe auch die Aufsätze von Thomas Leddy, Anthony Soulez, und Paul C. Taylor (und meine Antwort) im Journal of Speculative Philosophy 16 (2002) 1: 1 – 38; Gernot Böhme, Somästhetik – sanft oder mit Gewalt?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50 (2002) 5: 797 – 800; J. J. Abrams, Pragmatism, Artificial Intelligence, and Posthuman Bioethics: Shusterman, Rorty, Foucault, in: Human Studies 27 (2004): 241 – 258; 290 | anmerkungen

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sowie E. Mullis, Performative Somaesthetics, in: Journal of Aesthetic Education 40 (2006) 4: 104 – 117. Foucault Live, a. a. O., 384; vgl. 378. Michel Foucault, Einleitung, in: Über Hermaphrodismus, aus dem Französischen von Annette Wunschel, hg. von Wolfgang Schäffner und Joseph Vogl, Frankfurt/M. 1998. Ders., Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. Ein Gespräch mit Lucette Finas, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, 104 – 117: 115. Ders., Nein zum König Sex. Ein Gespräch mit Bernard-Henry Lévy, in: Dispositive der Macht, a. a. O., 176 – 198: 185 – 187. Ders., Sex, Power, and Politics of Identity, in: Foucault Live, a. a. O., 384. Siehe ders., Friendship as a Way of Life, in: a. a. O., 310. Ders., Sexual Choice, Sexual Act, in: a. a. O., 330 f. Foucault beklagt sich: »Das Problem, das sich stellt, ist, warum wir uns heute einbilden, zu bestimmten erotischen Phantasmen durch den Nazismus Zugang zu haben. Warum diese Stiefel, Kappen und Adler, die sich als so verführerisch erweisen, besonders in den Vereinigten Staaten? […] Ist dies das einzige Vokabular, das wir besitzen, um diese großen explosiven Lüste des Körpers neu zu schreiben, indem das jämmerliche Märchen dieser letzten politischen Apokalypse ausgeschlachtet wird? Sind wir außerstande, die Intensität der Gegenwart anders denn als Ende der Welt in einem Konzentrationslager zu denken? Sie sehen, wie armselig unser Bilderrepertoire wirklich ist!« (ders., Sade: Sergeant of Sex, in: a. a. O., 188 f.). Neuere Insider-Forschungen über S/M betonen darüber hinaus, dass innovativer Überraschung und Wagemut durch ausgeklügelte Codes und Vereinbarungen enge Grenzen gesetzt werden, die das sogenannte theatralische »Drehbuch« der Begegnungen regeln und eher darauf abzielen, Sicherheit und Erwartungsbefriedigung zu garantieren als einen wirklichen Schock des Neuen zu bieten. Siehe zum Beispiel: G. W. Levi Kamel, The Leather Career: On Becoming a Sadomasochist, und Leathersex: Meaningful Aspects of Gay Sadomasochism, in: Thomas S. Weinberg (Hg.), S & M: Studies in Dominance and Submission, Amherst, NY 1996, 51 – 60, 231 – 247. Das in Foucaults somatischer Philosophie implizite und universalisierte männliche Subjekt wird von manchen Feministinnen für dessen Geschlechtsblindheit kritisiert, während seine Identifizierung des Sexuellen mit Gewalt sicherlich die maskulinistische Erotik von De Sade und Georges Batailles widerspiegelt. Für Bataille ist es »die Stimmung der elementaren Gewaltsamkeit, die alle Äußerungen der Erotik […] beherrscht. Das Gebiet der Erotik ist im wesentlichen das Gebiet der Gewaltsamkeit, der Vergewaltigung […] Was bedeutet die Erotik der Körper anderes als eine Vergewaltigung der Partner in ihrem Sein? – eine Vergewaltigung, die an den Tod grenzt? – die an den Mord grenzt? […] Die ganze erotische Veranstaltung ist auf eine Zerstörung der Struktur jenes abgeschlossenen Wesens ausgerichtet, das der Partner des Spiels im Normalzustand ist«, mit Kapitel 1 | 291

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sexueller Gewalt, die dazu dient, solche Subjektivitäten zu durchzubrechen, um sie zu transformieren. Die Annahme scheint zu sein, dass die Geschlossenheit des Selbst und seiner zwischenmenschlichen Barrieren nicht durch andere, sanftere Formen überwunden werden kann. Georges Bataille, Die Erotik, neu übers. von Gerd Bergfleth, München 1994, 19 f. Foucault bezieht sich positiv auf die antiken asiatischen Ars Erotika, die sich auf die Lüste konzentrieren, im Unterschied zur westlichen Scientia Sexualis, die von Wahrheit und dem medizinischen Modell beherrscht ist. Siehe Michel Foucault, Der Wille zum Wissen, a. a. O., 69 – 93, sowie ders., Genealogie der Ethik. Ein Überblick über laufende Arbeiten, zunächst veröffentlicht in: Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow (Hrsg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/M. 1987, 265 – 292; überarbeitet in einer umfassenderen französischen Version in Foucault, Dits et Ecrits, Bd. 2: 1976 – 1988, Paris 2001, 1428 – 1450. Leider legen seine knappen Bemerkungen über diese erotischen Künste (die von homosexuellem S/M extrem weit entfernt sind) nahe, dass sein Verständnis von diesen eher beschränkt war, da er sogar die zentralen Aussagen der wissenschaftlichen Quelle falsch auszulegen scheint, auf die er seine Bemerkungen stützt, nämlich Robert van Gulik, Sexual Life in Ancient China: A Priliminary Survey of Chinese Sex and Society from ca. 1500 B. C. till 1644 A.D., Leiden 1974. Ich untersuche die Ästhetik asiatischer Ars Erotika (und erkläre Foucaults Fehlinterpretation) in: Shusterman, Asian Ars Erotica and the Question of Sexual Aesthetics, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 65 (2007) 1, 55 – 68. Foucault, An Ethics of Pleasure, in: Foucault Live, 378. In seinem Plädoyer für eine Kultivierung der Suizidlust beschreibt Foucault diese als »eine unergründliche Lust, deren geduldige und unbarmherzige Vorbereitung euer ganzes Leben erleuchten wird« (Foucault Live, a. a. O., 296). Zu Foucaults Selbstmordversuchen als Student siehe Didier Eribon, Michel Foucault, Cambridge, Mass. 1991, 26 f. Foucaults enger Freund Paul Veyne bezeugt dessen persönliche Faszination für den Selbstmord in seinen späteren Jahren, er betrachtete sogar seinen mit AIDS zusammenhängenden Tod als eine Form des Selbstmords, obwohl diese drastische spekulative Schlussfolgerung sicher schwer zu rechtfertigen ist. Siehe Paul Veyne, The Final Foucault and His Ethics, in: Critical Inquiry 20 (1993): 1 – 9. Wenngleich Foucaults Befürwortung des Selbstmords als lustvollen Akt ziemlich ketzerisch bleibt, so schwingt in seiner Betonung der engen Verbindung zwischen ekstatischer Selbsttranszendenz und der Passion körperlichen Todes jedenfalls das vertraute Bild eines freudigen religiösen Martyriums mit. Foucault Live, a. a. O., 378. Ebd. Foucaults blinder Verwerfung gemäßigterer Lüste entspricht seine fehlende Anerkennung der Tatsache, dass – in zeitgenössischer Kultur wie im antiken Griechenland – keine radikale, grenzüberschreitende Neuheit und Einzigartigkeit 292 | anmerkungen

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notwendig sind, um das eigene Leben zu einem Kunstwerk zu machen. Zu einer Kritik an diesen blinden Flecken, die offenbar durch eine implizite Gleichsetzung von Kunst mit der Intensität, Unzugänglichkeit und Originalität avantgardistischer Meisterwerke zustande kommt (und in einem scharfen Kontrast zu Foucaults Anerkennung moderaterer kunstvoller Lebensformen in der Antike steht) siehe Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis, a. a. O., Kap. 1. Zu einer Diskussion dieser japanischen Disziplinen, die uns weniger vertraut sind als Yoga und Zen-Meditation, siehe: Yuasa, The Body, Self-Cultivation, and Ki-Energy, a. a. O., 11 – 14, 20 – 36. Pierre Hadot, Réflexions sur l’idée du »souci de soi«, in: Michel Foucault philosophe, Paris 1989, 261 – 268. Siehe etwa L. Janiri u. a., Anhedonia and Substance-Related Symptoms in Detoxified Substance-Dependent Subjects: A Correlation Study, in: Neuropsychobiology 52 (2005) 1: 37 – 44; sowie zu Fragen des Suizids: K. G. Paplos u. a., Suizide Intention, Depression and Anhedonia among suicide Attempters, in: Annals of General Hospital Psychiatry 2 (2003), suppl. 1: S10. Ich sollte anmerken, dass meine Ansichten über Somästhetik tatsächlich dazu benutzt worden sind, den Gebrauch bewusstseinsverändernder Drogen zu empfehlen – allerdings maßvoll und in sorgfältig kontrollierten Kontexten, um Einsichten in der Erziehung zu fördern. Siehe Ken Tupper, Entheogens and Education: Exploring the Potential of Psychoactives as Educational Tools, in: Journal of Drug Education and Awareness 1 (2003) 2: 145 – 161. Ein junger Armritzer drückt das Problem folgendermaßen aus: »Wie weiß ich, dass ich existiere? Wenigstens weiß ich, dass ich existiere, wenn ich ritze.« Siehe dazu: J.L. Whitlock u. a., The Virtual Cutting Edge: The Internet and Adolescent Self-Injury, in: Developmental Psychology 42 (2006), 407 – 417. Pierre Hadot formuliert diese Kritik an Foucaults »Ästhetik der Existenz«, ebenso wie den damit verknüpften Vorwurf, dass die Idee einer ästhetischen Selbststilisierung selbst schon die Hinzufügung von etwas Künstlichem bedeutet, das dem klassischen Begriff der Selbstkultivierung durch Askese fremd war (der die Beschränkung auf das Wesentliche meinte, ohne Hinzufügung verschönernder Ornamente). Siehe Pierre Hadot, Réflexions sur l’idée du »souci de soi«, a. a. O., sowie ders., Philosophie als Lebensform, a. a. O., 38, 50. In Philosophie als Lebenspraxis, a. a. O., Kap.1, verteidige ich eine ästhetische Version der Selbstkultivierung und antworte auf Hadots Kritik an diesem Begriff. Aber ich argumentiere auch in grundsätzlicherer Hinsicht dafür (wie bereits in Kunst Leben, a. a. O., 237 – 246), dass keine notwendige Spannung zwischen dem Asketischen und dem Ästhetischen besteht und dass ästhetische Selbsterschaffung die Form einer asketischen Beschränkung auf das Nötigste annehmen kann, wie wir in der Ästhetik des Minimalismus sehen oder in dem Modell gestalterischer Reduktion, das Hadot nach Plotin zitiert, um sein Argument zu verdeutlichen (Hadot, Philosophie als Lebensform, a. a. O., 39). Zur Kritik an meinem angeblichen Hedonismus siehe Rainer Rochlitz, Les estKapitel 1 | 293

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hétiques hédonistes, in: Critique 540 (May 1992): 353 – 373; Alexander Nehamas, Richard Shusterman über Freude und ästhetische Erfahrung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 1, 105 – 109; Wolfgang Welsch, Rettung durch Halbierung? Zu Richard Shustermans Rehabilitierung ästhetischer Erfahrung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 1: 11 – 26. Ich antworte auf ihre Kritik in: Shusterman, Interpretation, Pleasure, and Value in Aesthetic Experience, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 56 (1998): 51 – 53; sowie: ders., Provokation und Erinnerung: Zu Freude, Sinn und Wert in ästhetischer Erfahrung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 1: 127 – 137. Ich behaupte nirgendwo, dass Freude bzw. Lust der einzige oder höchste Wert in Kunst und ästhetischer Erfahrung seien. Mehr zur Vielfalt und zum Wert der Lust, jedoch auch zu anderen Werten ästhetischer Erfahrung findet sich in: Shusterman, Entertainment: A Question for Aesthetics, in: British Journal of Aesthetics, 43 (2003): 289 – 307, sowie in: ders., Aesthetic Experience: From Analysis to Eros, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 64 (2006), 217 – 229. Siehe Baruch de Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (Sämtliche Werke, Band 2), hg. v. Wolfgang Bartuschat, Hamburg ³2010, S. 339, 459 [Spinoza spricht von »laetitia« – Anm. d. Übers.]. Vgl. die starken Parallelen, die traditionellerweise zwischen der Erfahrung der Waka-Dichtung, dem Nô-Theater und dem buddhistischen Satori gezogen werden, wie von Yuasa Yasuo zusammengefasst in: ders., The Body, Self-Cultivation, and Ki-Energy, a. a. O., 21 – 28. Die Heilige Teresa, Die innere Burg, zitiert nach: William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übers., hrsg. und mit einem Nachwort vers. von Eilert Herms, Olten/Freiburg i. Brsg. 1979, 571. Siehe a. a. O., 383 ff.; Yuasa, The Body, Self-Cultivation, and Ki-Energy, a. a. O., 59 f. Zitiert nach: James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, a. a. O., 375. Svatmarama Swami, The Hatha Joga Pradapika, übers. von Panchan Sinh, Allahabad 1915, 57. Ganz ähnlich wird in Parichaya Avastha behauptet, dass »eine Ekstase spontan erzeugt wird, die von Übeln, Schmerzen, Alter, Krankheit, Hunger und Schlaf frei ist«. Unter solchen Bedingungen von Samadhi sagt man dem Yogi sogar nach, den Tod überwinden zu können. Doch unterstreichen somästhetische Praktiken wie Yoga paradoxer- und nützlicherweise – gerade angesichts des Kampfs, die schmerzhaften somatischen Begrenzungen des Lebens zu überwinden – die unausweichliche Sterblichkeit des Körpers und lehren uns die Weisheit der Demut. Nur eine infantile Somästhetik könnte vergessen, dass zur Verkörperung unabwendbar Endlichkeit und Schwäche gehören. Die Vernachlässigung des Körpers seitens der Philosophie kann zum Teil aus einer stolzen, von Wunschvorstellungen getriebenen Leugnung unserer sterblichen Grenzen heraus erklärt werden. Aber aus der körperlichen Endlichkeit folgt keine Sinnlosigkeit der Arbeit an unserem somatischen Selbst, ebenso wenig wie das Scheitern daran, allwissend zu werden, den Versuch diskreditiert, Er294 | anmerkungen

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kenntnisgewinn zu erstreben. Somatisches Selbstbewusstsein kann, viel eher als die Leugnung unserer Sterblichkeit und Begrenztheit, ein klareres Bewusstsein für unsere Endlichkeit ermöglichen und, wie wir weiter unten sehen werden, eine bessere Vorbereitung auf das Altern und den Tod. Michael Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1994, 41. Jeremy Carrette, Foucault and Religion: Spiritual Corporality and Political Spirituality, London 2000 zeigt sehr eingehend die unzureichend anerkannte »spirituelle Körperlichkeit« in Foucaults Schriften und erklärt diese (unter Bezugnahme auf De Sade, Nietzsche, Klossowski, Bataille und andere) dadurch, dass unser Körper im menschlichen Leben eine zentrale Rolle eingenommen hat, nachdem unsere Kultur den Tod Gottes anerkannt hat. Bataille besteht, natürlich, darauf, dass »jede Erotik heilig ist« (ders., Die Erotik, a. a. O., 18). Michael Foucault, Was ist Aufklärung?, in: Ralf Konersmann (Hg.), Grundlagentexte Kulturphilosophie, Hamburg 2009, 247 – 262. A. a. O., 253 – 256. Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 4, Dreieich 1981, 265 – 326: 299, 301, 312, 324. Baudelaire gibt zu, dass der Dandy eine »seltsamer Spiritualist« sei, dessen »unersättliche Leidenschaft […] zu sehen und zu empfinden […] ein gewisses Widerstreben gegen […] die Dinge [beinhaltet], die das unberührbare Reich des Metaphysikers bilden« und die es einem schwer macht, »ihn […] mit dem Namen des Philosophen zu schmücken« (a. a. O., 300, 280). Hadot kritisiert Foucaults Modell der Selbstkultivierung als »eine neue Form von Dandytum, im Stil des zwanzigsten Jahrhunderts«, die »zu ästhetisch« sei, um ein gutes »ethisches Modell« abzugeben; vgl. ders., Réflexions sur l’idée du »souci de soi«, a. a. O. Xenophon, Symposium, 2.8 – 2.19; 5.1 – 5.10. Mozi beispielsweise hat eine solche Kritik formuliert: The Ethical and Political Works of Motse, übers. von W.P. Mei, London 1929. Zu einer detaillierteren Diskussion der Somästhetik des Konfuzianismus und dessen Beziehung zur ethischen und spirituellen Askese siehe Shusterman, Pragmatism and East-Asian Thought, in: ders. (Hg.), The Range of Pragmatism and the Limits of Philosophy, Oxford 2004, 13 – 42. Foucault Live, a. a. O., 379. Henry David Thoreau, Walden oder Leben in den Wäldern, Zürich 1979, 221 sowie Ralph Waldo Emerson, Kunst, in: ders., Von der Schönheit des Guten. Betrachtungen und Beobachtungen, ausgew., übertr. und mit einem Vorwort von Egon Friedell, Zürich 1992, 158 – 177.

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Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. von Rudolf Boehm, Berlin 1966; ders., Lob der Philosophie, in: ders., Das Auge und der Geist. Philosophische Essays, hg. von Christian Bermes, Hamburg 2003,177 – 224; ders., Zeichen, hg. von Christian Bermes, Hamburg 2007; ders. Das Sichtbare und das Unsichtbare. Gefolgt von Arbeitsnotizen, hg. von Claude Lefort, München ²1994. Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 458 – 460. Ders., Zeichen, 63 f., 92. William James, John Dewey und Ludwig Wittgenstein schenken allesamt solchen ausdrücklichen, thematisierten somatischen Gefühlen mehr Aufmerksamkeit. Im fünften Kapitel zeige ich, inwiefern introspektive Aufmerksamkeit gegenüber körperlichen Gefühlen eine zentrale Rolle in James’ Ausführungen zum Selbst, zu den Emotionen und zum Willen spielt. Im Unterschied dazu legt das vierte Kapitel dar, warum Wittgenstein den Nutzen dieser Gefühle für die Erklärung solcher Begriffe ablehnt, auch wenn er andere philosophische Einsatzmöglichkeiten körperlicher Gefühle zulässt. Deweys Eintreten für eine sorgfältige Aufmerksamkeit gegenüber somatischen Gefühlen (inspiriert durch seine Auseinandersetzung mit erhöhter somatischer Achtsamkeit und einem entsprechenden Gebrauch des Selbst, wie sie in der Alexander-Technik entwickelt werden) wird im sechsten Kapitel diskutiert. Merleau-Ponty, Zeichen, a. a. O., 107, 124. Ders., Lob der Philosophie, a. a. O., 220. Eine ausführlichere Diskussion von Nietzsches Strategie siehe bei: Shusterman, Soma und Medien, in: Kunstforum international 132 (1996), 210 – 215. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 175 – 198. Als Telezeptoren bezeichnet man Sinnesorgane, die Informationen aufnehmen können, die nicht direkt mit dem Körper in Verbindung stehen, sondern gesehen, gehört oder gerochen werden, im Unterschied etwa zum Bewegungssinn (Anm. d. Übers.). Merleau-Ponty, Zeichen, a. a. O., 124. Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 116. A. a. O., 166 f. Wenn Merleau-Ponty Bewusstsein einfach als »Beziehung auf […] Gegenstände, als Zur-Welt-Sein [und den] Leib […] als Verhikel des Zur-Welt-Seins« in einem Verhältnis nicht eines »Ich denke zu«, sondern eines »Ich kann« beschreibt (a. a. O., 168, 166), so scheint er zu implizieren, dass zweckmäßiges Handeln im Schlaf als Handlung des Bewusstseins verstanden werden könnte. Man könnte sich daher fragen, in welchem Ausmaß wir überhaupt von unbewusstem menschlichen Leben sprechen können, ganz zu schweigen von unbewussten menschlichen Handlungen oder Intentionen. Doch Merleau-Ponty spricht manchmal vom Bewusstsein, als wenn es einer weiteren »konstitutiven Funk296 | anmerkungen

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tion« bedürfe: »Ein Bewußtsein zu haben bedeutet, zu konstituieren, und ich kann folglich kein Bewußtsein von jemand Anderem haben, da dies hieße, ihn als Konstituierenden zu konstituieren« (ders., Zeichen, a. a. O., 131). Ders., Philosophie der Wahrnehmung, a. a. O., 12. Diese Ebene ausdrücklichen propriozeptiven körperlichen Bewusstseins wird von diversen somatischen Theoretikern anerkannt. Siehe etwa Brian O’Shaughnessy, Proprioception and the Body Image, in: J.L. Bermúdez et.al., The Body and the Self, Cambridge, MA 1995, 175 – 203; sowie Jonathan Cole und Barbara Montero, Affective Proprioception, in: Janus-Head 9 (2007), 299 – 317, in dem meine somästhetische Unterscheidung zwischen der Lust an äußeren Repräsentationen und inneren Erfahrungen wie den propriozeptiven Gefühlen zur Anwendung kommt. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 5 f. A. a. O., 5. A. a. O., 3. A. a. O., 11. A. a. O., 3, 13. A. a. O., 17, 13, 18. Ders., Zeichen, a. a. O., 124 – 129. A. a. O., 136. Ders., Lob der Philosophie, a. a. O., 221 f. Merleau-Pontys Begriff einer primordialen und universellen geschlechtslosen körperlichen Erfahrung ist dafür kritisiert worden, dass sie eine Darstellung verkörperter Existenz hervorbringt, die tatsächlich eher androzentrisch als neutral ist. Siehe etwa Judith Butler, Sexual Ideology and Phenomenological Description: A feminist Critique of Merleau-Ponty’s Phenomenology of Perception, in: The Thinking Muse: Feminism and Modern French Philosophy, hg. von Jeffner Allen und Iris Marion Young, Bloomington 1989, 85 – 100. Merleau-Ponty, Zeichen, a. a. O., 89 f. A. a. O., 91. Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 119. A. a. O., 126. Ebd. A. a. O., 197. A. a. O., 199. A. a. O., 460. A. a. O., 214. Ders., Zeichen, 124 – 126. A. a. O., 103 f. Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 172. A. a. O., 174. A. a. O., 173. A. a. O. Kapitel 2 | 297

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A. a. O., 107, 157 f. Noch können wir uns, wie ich hinzufügen sollte, auf das bloße Ausprobieren und die Bildung neuer Gewohnheiten verlassen, denn dieser Prozess wäre zu langsam und beliebig und würde dazu neigen, die schlechten Gewohnheiten zu wiederholen, bevor diese Gewohnheit zwecks Korrektur im ausdrücklichen Bewusstsein kritisch thematisiert wurde. F.M. Alexander betont diese Punkte, indem er für den Einsatz von Vorstellungen reflexiven Bewusstseins argumentiert, um fehlerhafte somatische Gewohnheiten korrigieren zu können. Siehe F.M. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, New York 1918; ders., Die konstruktive bewusste Kontrolle des individuellen Menschen, Basel, Freiburg 2006; Der Gebrauch des Selbst, München 1988. Verfechter somatischer Vergegenwärtigung variieren in Hinblick auf den Grad, die Dauer und den Umfang der Bereiche, auf welche kritische somatische Reflexion angewendet werden sollte. Für manche besteht das Ideal darin, so schnell wie möglich mit einer korrigierten Gewohnheit, die effektive Vollzüge gewährleistet, zur unreflektierten Spontaneität zurückzukehren, wohingegen andere dafür zu argumentieren scheinen, dass kritisches vergegenwärtigtes somatisches Selbstbewusstsein sogar im Vollzug selbst aufrechterhalten werden sollte. Siehe dafür etwa Zeamis Theorie des Nô-Vollzugs in seiner Abhandlung »A Mirror Held to the Flower (Kakyô)«, in: On the Art of the Nô Drama, übers. von J. Thomas Riemer und Yamazaki Masakazu, Princeton 1984. Siehe beispielsweise die von F.M. Alexander genannten Bücher (siehe oben) sowie Moshe Feldenkrais, Der Weg zum reifen Selbst. Phänomene menschlichen Verhaltens, Paderborn 1994; ders., Bewusstheit durch Bewegung. Der aufrechte Gang, a. a. O.; ders., Das starke Selbst, Frankfurt/M. 1989. Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 128 – 132, 186 – 189. Diese dualistische Tendenz (und die damit verknüpfte Vernachlässigung des Werts somatischen Selbstbewusstseins) findet sich heute noch in einigen der besten somatischen Philosophien, die durch Merleau-Ponty inspiriert sind, wieder. Shaun Gallagher beispielsweise baut seine Argumentation auf die (vage und umstrittene) Unterscheidung zwischen einem »Körper-Schema« (das automatisch und »prä-noetisch« unterhalb der Bewusstseinsebene funktioniert) und einem »Körper-Bild« (das bewusste Wahrnehmung und persönliche Vergegenwärtigung umfasst) auf. Dabei unterscheidet er normales Verhalten von Personen, die sich für erfolgreiche Vollzüge einfach auf ihr unbewusstes Körperschema verlassen, ohne jede Notwendigkeit einer Verbesserung durch »bewusste reflexive Aufmerksamkeit«, und pathologische Fälle (wie etwa deafferente [empfindungslose] Patienten), die eine solche Aufmerksamkeit benötigen, weil ihr motorisches Schema beeinträchtigt oder zerstört wurde. Siehe Gallaghers instruktives Buch How the Body Shapes the Mind (Oxford 2005), das ich in Theory, Culture, and Society 24 (2007) 1, 152 – 156 rezensiere. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 123. So wie Alexander unsere »unzuverlässige Sinneseinschätzung« oder »verfälschte 298 | anmerkungen

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Kinästhesie« (F.M. Alexander, Die konstruktive bewusste Kontrolle des individuellen Menschen. Aus dem Englischen übers. von Ruth Krügel, Basel u. a. 2006, 135) hinsichtlich des Gebrauchs und der Orientierung unserer Körper dokumentiert, so argumentiert Moshe Feldenkrais, dass – wenn der Begriff ›normal‹ die Norm für den gesunden Menschen bezeichnet – wir dann den somatischen Sinn der meisten Menschen zutreffender als ›durchschnittlich‹ statt als ›normal‹ bezeichnen sollten. Zur vergleichenden Darstellung der Struktur und philosophischen Bedeutung der Alexander- und der Feldenkraistechnik siehe: Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, a. a. O., Kap. 7. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 167. Dewey erkennt dies, indem er die reflexive »bewusste Kontrolle« der AlexanderTechnik verteidigt, während er gleichzeitig die elementare Bedeutung unreflektierter, unmittelbarer Erfahrung hervorhebt. Zur fruchtbaren Dialektik zwischen reflexivem Körperbewusstsein und körperlicher Spontaneität siehe Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis, a. a. O., Kap. 6, sowie Kap. 5 und 6 dieses Buchs. Merleau-Ponty beklagt, dass reflexives Denken »das Objekt vom Subjekt, das Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedanken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der Idee, nicht in Wirklichkeit gibt« (ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, 234). Doch dies trifft nicht zu auf Disziplinen somästhetischer Reflexion, die ihre Aufmerksamkeit auf den konkret erfahrenen Körper richten. Zu einem (auf experimentellen Studien basierenden) Überblick über die unterschiedlichen Weisen und Kontexte, in denen die ausdrückliche Vergegenwärtigung des Selbst von Vor- oder Nachteil sein kann, siehe T.D. Wilson und E.W. Dunn, Self-Knowledge: Its Limits, Value, And Potential for Improvement, in: Annual Review of Psychology 55 (2004), 493 – 518. Eine Schlussfolgerung scheint zu sein, dass ausdrückliche Vergegenwärtigung in Lernphasen hilfreich ist, jedoch später einen Störfaktor darstellen kann. Eine neuere Studie bestätigt, dass »geistesgegenwärtige Subjekte einen kleinen, aber signifikanten Vorteil in ihrer Anpassungsfähigkeit an motorische Befehle aufwiesen«, siehe dazu: E.J. Hwang, M.A. Smith und R. Shadmehr, Dissociable Effects of the Implicit and Explicit Memory Systems on Learning Control of Reaching, in: Experimental Brain Research, 173 (2006) 3, 425 – 437; das Zitat stammt von Seite 425. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 197 (»Schlupfwinkel des Seins«, nach Binswanger). Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 197 ff. A. a. O., 196. A. a. O., 115. A. a. O., 116. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a. a. O., 194. Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 118. Vgl. ders., Die Verflechtung – Der Chiasmus, in: ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, a. a. O., 172 ff. Kapitel 2 | 299

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A. a. O., 193 f. Zur trügerischen Gegenwart vgl. William James, The Principles of Psychology, Cambridge/Mass. 1983, 573 – 575. Zur Vagheit des Begriffs der mentalen Gleichzeitigkeit und zu den Problemen der Bestimmung der »absoluten Zeitstrukturierung« des Bewusstseins siehe Daniel Dennett, Consciousness Explained, Boston 1991,136,162 – 166. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a. a. O., 172. Mead selbst erlaubt dies klugerweise. Aus seiner berühmten Ich-Mich-Unterscheidung schlussfolgert Mead nicht, dass das Ich unbeobachtbar und in der Erfahrung nicht gegenwärtig sei. Auch wenn es »nicht direkt« als unmittelbarer Fakt »in der Erfahrung gegeben« ist, »ist es in der Erinnerung konstant in der Erfahrung gegenwärtig«. Dass »das ›Ich‹ tatsächlich erfahrungsmäßig als Teil eines [daraus folgenden] ›Mich‹ erscheint, bedeutet daher nicht, dass wir uns als subjektive Handlungsträger beobachten können, sondern nur, dass wir dies tun müssen, indem wir uns über einen längeren Zeitraum durch die Erinnerung beobachten«. Vgl. George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1968, 217 f. Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, a. a. O., 172. Merleau-Ponty, Lob der Philosophie, a. a. O., 218 – 220. A. a. O., 219. Ders., Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 5. A. a. O., 166. Jean-Paul Sartre, Freundschaft und Ereignis. Begegnung mit Merleau-Ponty, Frankfurt/M. 1962, 10, 17, 57 f. Eine frühere Fassung dieses Kapitels ist erschienen in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003) 5, 703 – 722, übers. von Jürgen Brenner.

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Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., S. 11. Simone de Beauvoir, Das Andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, aus dem Französ. v. Uli Aumüller und Grete Osterwald, Reinbek bei Hamburg 112011; dies., Das Alter. Essay, deutsch von Anjute Aigner-Dünnwald und Ruth Henry, Reinbek bei Hamburg 42008. A. a. O., 57, und Simone de Beauvoir, The Ethics of Ambiguity, übers. von Bernard Frechtman, New York 1964, 119. Die entscheidende Rolle, die der Körper für die Freiheit spielt, wird besonders deutlich, wenn wir Freiheit nicht im engen Sinn als negative Freiheit von auferlegten sozialen Zwängen, sondern positiv als Handlungsfähigkeit verstehen. Ein Säugling hat im negativen Sinn die Freiheit, zu gehen, aber ihm steht keine positive Freiheit zur Verfügung, dies zu tun, solange er nicht die dafür relevante körperliche Fähigkeit beherrscht. Körperliche Macht oder Bewegung ist vielleicht die elementare Wurzel unseres Freiheitsbe300 | anmerkungen

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griffs, wie ich in Thinking through the Body, Educating for the Humanities. A Plea for Somaesthetics ausführe, in: Journal of Aesthetic Education 40 (2006) 1: 1 – 21. Sieh Toril Moi, Feminist Theory and Simone de Beauvoir, Oxford 1990, 27, 33. Eine ähnliche Gefahr besteht, wenn man Beauvoirs literarische Werke zu Rate zieht, um ihre somatischen Sichtweisen zu untersuchen. Ihre philosophischen Argumente zu den betreffenden Fragestellungen könnten dann im Wesentlichen als eine Fortsetzung ihrer fiktionalen Grübeleien abgetan und als ernsthafte Philosophie nicht ernst genommen werden, und sie selbst könnte dann als bloße Schriftstellerin statt als »echte« Philosophin bagatellisiert werden. Die Strategie, Beauvoirs Philosophie zu marginalisieren, wird leider durch ihre eigene Vorliebe befördert, sich als Schriftstellerin zu bezeichnen und nicht den Titel der Philosophin in Anspruch zu nehmen (anscheinend in Ehrerbietung gegenüber Sartres philosophischem Rang). Ich stimme Margaret Simons, Debra Bergoffen und vielen anderen darin zu, Beauvoir als wichtige Philosophin sehen. Siehe Margaret A. Simons, Beauvoir and The Second Sex. Feminism, race, and the origins of existentialism, Lanham, Md. 1999, und Debrah Bergoffen, The Philosophy of Simone de Beauvoir: Gendered Phenomenologies, Erotic Generosities, Albany1997. »Es besteht in mir ein immer schon vorhandenes monströses Verlangen nach Lärm, nach Kampf, nach Wildheit und vor allem nach Versinken«, schreibt Beauvoir, die ihre Leidenschaft für »Gewalt« bis in ihre früheste Kindheit mit drei Jahren zurückverfolgt (Simone de Beauvoir, Memoiren einer Tochter aus gutem Hause, aus d. Französ. übertr. von Eva Rechel-Mertens, Reinbek bei Hamburg 1998,17 ff., 445). Eine Biographin berichtet, dass Beauvoir in ihrer Jugend ihre religiöse Hingabe gewaltsam zum Ausdruck brachte, »indem sie sich im Badezimmer einschloss, wo sie ihr Fleisch kasteite, indem sie ihre Schenkel mit einem Bimsstein aufschürfte oder sich selbst mit einer Goldkette blutig peitschte«. Siehe Claude Francis und Fernande Gontier, Simone de Beauvoir: A Life … A Love Story, übers. von Lisa Nesselson, New York 1985, 42. Diese Körperfeindlichkeit scheint den ausgeprägten Widerwillen von Beauvoirs Mutter allem Körperlichen gegenüber widerzuspiegeln (Beauvoir, Memoiren, a. a. O., 56). Beauvoir bekennt, dass sie dazu erzogen wurde, »nie meinen Körper zu betrachten«, weil »der Körper in seiner Gesamtheit« vulgär und anstößig sei. Auch klärte ihre Mutter sie nie über die wirklichen Körperfunktionen auf, sondern behauptete stattdessen, dass »die Kinder […] aus der Darmöffnung kämen« (Memoiren, a. a. O., 84, 117, 124). Zu näheren autobiographischen Hinweisen siehe Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, Reinbek bei Hamburg 302008; dies., Der Lauf der Dinge, Reinbek bei Hamburg 1973; dies., Alles in allem, Reinbek bei Hamburg 1976; sowie Beauvoirs Darstellung der tödlichen Erkrankung ihrer Mutter in: dies., Ein sanfter Tod, Reinbek bei Hamburg 1968. Zu weiteren biographischen Informationen siehe: Francois Jeanson, Simone de Beauvoir ou l’enterprise de vivre, Paris 1966; Deirdre Bair, Simone de Beauvoir: A Biography, New York 1990 und Carol Ascher, Simone de Beauvoir: A life of Freedom, Boston 1981. Kapitel 3 | 301

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Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O. 59, 57. A. a. O., 334. Obwohl Sartre anerkennt, dass ein aktiv handelnder Körper die Subjektivität der Transzendenz zum Ausdruck bringen kann, die vom Körper als bloßem passiven Fleisch unterschieden werden könne, neigt er dazu, den Körper im Gegensatz zum transzendenten Bewusstsein generell als immanente Faktizität abzuwerten. Er sieht ihn als etwas Obskures und Schwaches an und als die materielle, sichtbare Dimension einer Person, die dem Blick anderer ausgesetzt ist. Damit läuft diese Gefahr, als Ding objektiviert und durch die Subjektivität des anderen beherrscht zu werden. Wie Moi und andere feststellen, wird bei Beauvoirs abwertender Rhetorik und ihren problematischen Sichtweisen in Hinblick auf den Körper (insbesondere den weiblichen Körper) der Einfluss Sartres erkennbar. Siehe Toril Moi, Simone de Beauvoir: The Making of an Intellectual Woman, Oxford 1994, 152 f., 170) Darüber hinaus betonte Beauvoir in Interviews über Das andere Geschlecht den bestimmenden Einfluss von Sartres Philosophie auf ihre eigene und bestand darauf, dass ihre Positionen zum Körper im Wesentlichen die von Sartre sind. Siehe dazu die Interviews in Margaret A. Simons, Beauvoir and The Second Sex, a. a. O., Kap. 1, 4, 5. Jedoch weigern sich Simons und andere feministische Philosophinnen wie etwa Bergoffen und Karen Vintges, Beauvoir beim Wort zu nehmen, und insistieren zu Recht darauf, dass Beauvoirs Philosophie Sartres Ideen »neu definiert und über sie hinausgeht« (Simons, a. a. O., 2). Bergoffen und Vintges argumentieren, dass Beauvoirs somatische Philosophie signifikant von Sartres abweicht, auch wenn sie Sartres Begriffe und Formulierungen übernimmt. Nicht nur geht Beauvoirs Philosophie über Sartres allgemeine Ontologie des Körpers hinaus, indem sie eine gehaltvolle physiologische, historische, soziale und politische Analyse weiblicher Körper zur Verfügung stellt, sie betont auch weit mehr als Sartre (vergleichbar eher mit Merleau-Ponty) die Zweideutigkeit des Körpers als Intentionalität und als Fleisch und die positiven Aspekte dieser Zweideutigkeit. Anders gesagt, sie legt eine größere Akzeptanz gegenüber dem Fleisch, seiner Verwundbarkeit und den emotionalen Möglichkeiten an den Tag, die solche Verwundbarkeit eröffnet. Siehe besonders Bergoffen, The Philosophy of Simone de Beauvoir, a. a. O., 11 – 42, 141 – 181, und Karen Vintges, Philosophy as Passion: The Thinking of Simone de Beauvoir, Bloomington 1995, 25, 39 – 45. Gelegentlich bemerkt Beauvoir selbst die Differenzen zu Sartres Blick auf den Körper: »Ich machte Sartre den Vorwurf, er betrachte seinen Körper als ein Bündel gestreifter Muskeln, er habe ihn von seinem sympathischen Nervensystem amputiert, Wenn man den Tränen, den Nervenkrisen, der Seekrankheit nachgebe, sagte er, sei das ein Zeichen innerer Schwäche. Ich behauptete, der Magen, die Tränendrüsen und selbst der Kopf gehorchten manchmal unkontrollierbaren Kräften.« Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, a. a. O., 113. Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O., 459. A. a. O., 806. 302 | anmerkungen

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A. a. O., 499. A. a. O., 463. Debra Bergoffen beschreibt diese Art von Spannung in Das Andere Geschlecht als Spannung zwischen Beauvoirs »dominanter Stimme« (die Subjektivität mit Transzendenz gleichsetzt) und ihrer »gedämpften Stimme«, die »die Gleichung: Subjektivität ist gleich Transzendenz infrage stellt« und stattdessen Subjektivität als »Zweideutigkeit des Körpers« betrachtet, die sowohl transzendent als auch immanent ist. Diese Spannung hat weitere Auswirkungen. »Die dominante Stimme in Das andere Geschlecht drängt Frauen dazu, ökonomische Unabhängigkeit anzustreben. Die gedämpfte Stimme drängt uns alle dazu, uns in die Erotik der Großzügigkeit zurückzuziehen.« Die dominante Stimme privilegiert Gewalt und das transzendente »Projekt einer Ethik der Befreiung«, die gedämpfte Stimme drückt ihre »erotische Ethik der Großzügigkeit« aus, die die Sorge für unsere körperliche »Bindung« an andere hervorhebt. Siehe Bergoffen, The Philosophy of Simone de Beauvoir, a. a. O., 12, 36, 155, 160, 173. Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O., 53. A. a. O., 51 – 53. A.a.O, 53. Schwangerschaftsbeschwerden sind Beauvoirs Beschreibungen zufolge Ausdruck der »Auflehnung des Organismus gegen die Spezies, die von ihm Besitz ergreift« (a. a. O., 54), und sie porträtiert den Fötus als Fremdkörper für die schwangere Frau, als »eine aus ihrem Fleisch geborene und ihrem Fleisch doch fremde Geschwulst« (a. a. O., 632). Auch merkt sie an, dass einem Mädchen »die Vorstellung, daß in seinem Körper ein kleiner Parasit gedeihen soll, [als ziemlich] abscheulich« erscheinen kann (a. a. O., 370). A. a. O., 54. A. a. O., 60. Ob sie sich entsprechend einem biologistischen Positivismus widersetzte, ist hingegen strittig. In einem aufschlussreichen Artikel, der Beauvoirs Umgang mit Biologie im Licht neuerer feministischer Wissenschaft und Wissenschaftsphilosophie untersucht, wendet Charlene Haddock Seigfried ein, »dass Beauvoir nur die verzerrte Anführung biologischer Tatsachen in verschiedensten Deutung [um die Unterdrückung der Frau zu rechtfertigen] im Blick hatte und nicht in Betracht zog, ob die Forschungsprogramme, aus denen diese biologischen Tatsachen hervorgingen, selbst von denselben kulturellen [patriarchalen] Vorurteilen verzerrt wurden«. Beauvoirs Darstellung biologischer Fakten übernimmt daher, Seigfried zufolge, zu unkritisch deren patriarchale Tendenz und »leidet [demzufolge] unter denselben Verzerrungen«, zum Beispiel der sogenannten Tatsache, dass Mutterschaft eine versklavende, entfremdende Ursache von Schwäche sei. Aus der Perspektive der Evolutionsbiologie, die Erfolg an der Übertragung von Genen auf eine neue Generation durch die Produktion überlebensfähiger Nachkommenschaft misst, sollten Frauen – da sie eine »weit größere Verantwortung für den Fortpflanzungserfolg tragen als Männer« – biologisch betrachtet als Kapitel 3 | 303

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»bevorzugt« betrachtet werden. Siehe Charlene Haddock Seigfried, Second Sex: Second Thoughts, in: Hypatia Reborn: Essays in Feminist Philosophy, hrsg. von Azizah Al-Hibri und Margaret Simons, Bloomington1984, 305 – 322: 308, 312. Beauvoir, Das andere Geschlecht, 57. A. a. O., 62 f. A. a. O., 78. A. a. O., 62. A. a. O., 59; vgl. dazu die Bemerkung von Maurice Merleau-Ponty aus seinem Kapitel »Der Leib als geschlechtlich Seiendes« aus seiner Phänomenologie der Wahrnehmung (a. a. O., 203: »Der Mensch ist eine geschichtliche Idee, keine natürliche Spezies.« Beauvoir weist jede Art biologischen Determinismus in Bezug auf die menschliche Existenz zurück, so bemerkt sie an anderer Stelle, dass »nichts, was einem Menschen je widerfahren kann, natürlich [ist], weil seine Gegenwart die Welt in Frage stellt.« Siehe Simone de Beauvoir, Ein sanfter Tod, a. a. O., 119 f. Ebd. Ebd. Beauvoirs Existenzphilosophie teilt mit dem Pragmatismus auch noch einige andere Haltungen. Wie die pragmatistische Ästhetik kritisiert sie »die ästhetische Haltung abgehobener Kontemplation« als »eine Rückzugposition« aus der Welt und bemerkt, dass der Künstler »nicht im Namen reiner Kontemplation« kreativ tätig ist, sondern in Hinblick auf »ein bestimmtes Projekt«, das mit seiner aktiven Position in der Welt zusammenhängt. »Der Mensch kontempliert nie, er tut Dinge.« Siehe Beauvoir, The Ethics of Ambiguity, a. a. O., 74 – 77. Beauvoir, Das andere Geschlecht, 26. A. a. O., 844. A. a. O., 341, 468. A. a. O., 884, 806. A. a. O., 795. A. a. O., 495. A. a. O., 784. A. a. O., 319. A. a. O., 328. A. a. O., 404. Beauvoir ist häufig bemerkenswert freimütig in Hinblick auf den Wert von Gewalt. »An der Gewalt zeigt sich zuverlässig, inwieweit jeder einzelne zu sich selbst, zu seinen Leidenschaften, zu seinem eigenen Willen steht«, betont sie, während sie beklagt, dass »eine Sportlerin […] nie den Erobererstolz eines Jungen [empfindet], der sein Gegenüber auf die Schultern gelegt hat« (ebd.). In einem Textabschnitt, der verständlicherweise viele Feministinnen schockiert, schreibt sie: »Nicht indem er Leben schenkt, sondern indem er es einsetzt, erhebt sich der Mensch über das Tier. Deshalb wird innerhalb der Menschheit der höchste Rang nicht dem Geschlecht zuerkannt, das gebiert, sondern dem, das tötet« (a. a. O., 89 f.). In ihrer Interpretation des Marquis de Sade als eines 304 | anmerkungen

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»großen Moralisten« stimmt Beauvoir seiner Position zu, dass Gewalt, als eine wesentliche Wahrheit der Natur, ein entscheidendes Mittel für das Individuum darstellt, um die Wahrheit zu erfahren, um sie sich anzueignen und um diese seinem Opfer mitzuteilen, wodurch eine Bindung zwischen getrennten Individuen hergestellt wird. Mit dieser Erkenntnis geht auch größeres Entzücken einher: »Man muß dem Gegenstand seines Verlangens Gewalt antun; um so größer ist die Lust, wenn er sich hergibt.« Simone de Beauvoir, Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus, übers. von Alfred Zeller, Reinbek bei Hamburg 1983, 50, 40, 70 ff. Beauvoir, Das andere Geschlecht, 405. A. a. O., 878 f. A. a. O., 406. A. a. O., 407. A. a. O., 78. In einem zwei Biographen gegebenen Interview im Mai 1985 drängt Beauvoir: »Junge Mädchen müssen Karate in der Schule lernen, wir müssen eine Tour de France für Frauen fördern.« Zitiert in Francis and Gontier, Simone de Beauvoir: A Life, a Love Story, a. a. O., 358. Beauvoir, Das andere Geschlecht, 675. Ebd. Ebd. A. a. O., 718 f. A. a. O., 798. A. a. O., 675. A. a. O., 676. A. a. O., 799. A. a. O., 675. A. a. O., 780. A. a. O. 62. Iris Marion Young, Throwing Like a Girl, in: The Thinking Muse: Feminism and Modern French Philosophy, hg. von Jeffner Allen und Iris Marion Young, Bloomington 1989, 57, 58, 67. Obwohl sie Beauvoirs feministische Theorie der allgemeinen Situiertheit des Körpers für richtig hält, kritisiert Young sie dafür, »größtenteils die Situiertheit der wirklichen aktuellen Körperbewegungen und -orientierungen in Hinblick auf ihre Umgebung und auf die Welt zu ignorieren« (53). Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt/M. 1991, 190 – 219. Beauvoir, Das andere Geschlecht, 450. A. a. O., 73, 345 f. A. a. O., 345. A. a. O., 378 f. A. a. O., 379. Kapitel 3 | 305

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A. a. O., 385 f. A. a. O., 394. Beauvoir betont, dass das sexuelle Begehren der Frau (jedenfalls im Patriarchat) passiv bleiben muss und daher weitere innere Konflikte in der Frau verursacht. »Sich zum Objekt machen, sich passiv geben ist etwas ganz anderes als ein passives Objekt sein«. Wenn die Frau eine zu aktive und dynamische Rolle im Sex einnimmt, wird sie »aus ihrer Verzauberung« gerissen, die ihr Lust verschafft: »Bei der Frau […] verhindert jeder Willensakt, daß ihr Körper Feuer fängt. Darum lehnt sie spontan […] jede Form des Koitus ab, die ihr Arbeit und Spannung abverlangt. Zu plötzliche, zu häufige Stellungswechsel, die Aufforderung zu bewußt gesteuerten Aktivitäten – Gesten oder Worten – reißen sie aus ihrer Verzauberung« (a. a. O., 460). Später jedoch, veranschaulicht durch die neue weibliche Somästhetik von Brigitte Bardot, scheint Beauvoir die Möglichkeit »eines neuen Typs von Erotik« für die Frau zu sehen, ebenso entschieden aktiv wie die des Manns. »Ihr Fleisch hat nicht die Art von Üppigkeit, der bei anderen Passivität symbolisiert […] Ihre Erotik ist nicht magisch, sondern aggressiv. Im Liebesspiel ist sie ebenso eine Jägerin, wie sie eine Beute ist. Der Mann ist ihr ein Objekt, so wie sie es für ihn ist.« Simone de Beauvoir, Brigitte Bardot and the Lolita Syndrome, übers. von Bernard Fretchman, New York 1972, 8, 20. Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O., 412. A. a. O., 469. A. a. O., 470. A. a. O., 479. Beauvoir führt hier die Behauptung an, dass »Gynäkologen [darin übereinstimmen], dass neun Zehntel ihrer Patientinnen eingebildete Kranke sind, was entweder heißt, daß ihre Leiden überhaupt keine physiologische Grundlage haben oder daß die organische Störung selbst durch eine psychische Haltung bedingt ist. Größtenteils ist es die Angst, Frau zu sein, die den weiblichen Körper zerfrißt« (a. a. O., 406 f.). Ohne die Wichtigkeit psychosomatischer Beschwerden in Frage zu stellen, fragt man sich doch, ob Beauvoir kritiklos die »Fakten« akzeptieren sollte, die vom traditionellerweise männerdominierten und frauendominierenden medizinischen Berufsstand angeführt werden. A. a. O., 776. A. a. O., 778. A. a. O., 778 f. A. a. O., 754. A. a. O., 636. A. a. O., 483 f. A. a. O., 491. A. a. O., 480. A. a. O., 491. Ebd. Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O., 861. 306 | anmerkungen

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Ebd. Beauvoir behauptet in ihrer Argumentation, dass die psychosomatischen Beschwerden der Frau ihre unglückliche Situation widerspiegelten, dass »die Situation nicht vom Körper [abhängt], sondern der Körper von ihr« (ebd.). Sie hat Recht damit, dass die soziale Gesamtsituation den größeren Einfluss ausübt, aber die Einflussnahme findet wechselseitig statt, zum Teil auch deswegen, weil der eigene Körper immer ein Teil der eigenen Situation ist. Und Beauvoir behauptet selbst: »[D]er Körper der Frau ist eines der wesentlichen Elemente für die Situation, die sie in der Welt einnimmt« (a. a. O., 62). Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O., 867. A. a. O., 754. A. a. O., 783. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, a. a. O., 198 – 208; das Zitat findet sich auf Seite 200. Young, Throwing Like a Girl, a. a. O., 57, 66 f. Beauvoir, Das andere Geschlecht, a. a. O., 835. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, a. a. O., 429 f. Beauvoir, Das andere Geschlecht, 334. In Frankreich wurde noch 1943 eine Frau dafür guillotiniert, dass sie Abtreibungen vornahm. »Verheiratete Frauen mussten bis 1965 warten, bis sie das Recht bekamen, ein eigenes Bankkonto zu eröffnen oder einen Beruf ohne die Erlaubnis ihrer Männer auszuüben. Vor 1965 hatte außerdem der Mann allein das Recht zu entscheiden, wo das Paar leben sollte […] Schwangerschaftsverhütung wurde in Frankreich erst 1967 legalisiert und Abtreibung blieb bis 1974 verboten.« Siehe Moi 1994, a. a. O., 187. Beauvoir bietet auch (wenn auch in dem, was Bergoffen ihre gedämpfte und nicht ihre dominierende Stimme nennt) einen sehr positiven Ausblick darauf, wie Frauen (und Männer) in ihren Körpern schwelgen könnten, sobald sie von der repressiven Ideologie des Patriarchats befreit werden, die unsere Liebeserfahrungen mit Machtkonflikten infiziert statt mit einer Erotik der Großzügigkeit. »Die Erotik, die Liebe hätte dann den Charakter einer freien Überschreitung«, in der jede/r der Liebenden, Mann wie Frau, »im Fieber der fleischlichen Lust […] Einwilligung, freiwillige Gabe, Aktivität« ist und »die seltsame Doppeldeutigkeit der Fleisch gewordenen Existenz« auslebt; »die Menschheit von morgen wird sie in ihrem Fleisch und in ihrer Freiheit leben« (a. a. O., 894 f., 898). Wie ein alter chinesischer Klassiker sagte: »Die Alten, die der Welt einen klaren Charakter zeigen wollten, brachten zuerst ihre Staaten in Ordnung. Diejenigen, die Ordnung in ihre staatlichen Verhältnisse bringen wollten, regelten zuerst ihre Familienverhältnisse. Diejenigen, die ihre Familienverhältnisse regeln wollten, kultivierten zuerst ihr persönliches Leben.« Aus: The Great Learning (TaHsueh), in: A Sourcebook in Chinese Philosophy, übers. von Wing-tsit Chan, Princeton 1963, 86 f. Beauvoir, Das Alter, 5. A. a. O., 109. Kapitel 3 | 307

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A. a. O., 270. A. a. O., 110. A. a. O., 710 – 712. Im Gegensatz dazu betont Beauvoir, dass intellektuelle Kräfte durch systematische Übung erhalten werden können, wodurch sich der Verfall im Alter verzögern oder diesem die Stirn geboten werden kann. »Je höher das intellektuelle Niveau eines Menschen ist, desto geringer und langsamer lassen seine Fähigkeiten nach«. »In der Tat lassen sich viele geistige Arbeiten ohne zeitliche Begrenzung durchführen« und »einige sehr alte Menschen […] erweisen sich als effektiver als die Jungen« in solcher Arbeit. Beispielsweise erweitert sich »das Denken [des Philosophen] im Lauf der Jahre« (A. a. O., 43, 516). A. a. O., 18. A. a. O., 38. A. a. O., 364. A. a. O., 38. A. a. O., 364. A. a. O., 374 f. A. a. O., 328. A. a. O., 408. A. a. O., 409 – 456. A. a. O., 409, 417. A. a. O., 454. Beauvoir versäumt es, die Rolle der somatischen Kraft und Energie anzuerkennen, wenn sie behauptet, dass Handwerker sexuell viel länger aktiv blieben als »Hirnarbeiter«. Diese Behauptung (die anfechtbar scheint und die sie nicht durch empirische Daten stützt) begründet sie damit, dass Handwerker in ihrem Begehren schlichter und »erotischen Mythen weniger unterworfen« seien, die nach einem schönen sexuellen Objekt verlangten (417). Eine überzeugendere und direktere Erklärung würde darin bestehen, dass Handwerker, indem sie ein körperlich aktiveres Leben führen, eine höhere Fähigkeit und Neigung zu körperlichem Ausdruck und zu körperlicher Leistung haben, einschließlich dem/ der des Sex. Jean-Jacques Rousseau, Émile oder Über die Erziehung, übers. von Hermann Denhardt, Leipzig 1910, 51. Beauvoir, Das Alter, a. a. O., 407. A. a. O., 39 A. a. O., 589, 591. A. a. O., 405 f. Alexander Spence, Biology of Human Ageing, New York 21994, 57. »Eine Studie zeigt, dass 45 Minuten gemäßigten Gewichthebens dreimal pro Woche außerordentlich den Verlust von Kalzium bei älteren Frauen verringert und, wenn diese Übung über ein Jahr fortgesetzt wird, den Mineralverlust, der bereits stattgefunden hat, wieder umkehren kann« (a. a. O., 63). 308 | anmerkungen

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A. a. O., 71 f. A. a. O., 122. Siehe auch A. A. Ehsani et al., Exercise Training Improves Left Ventricular Systolic Function in Older Men, in: Circulation 83 (1991) 1: 96 – 103, sowie P. A. Beere et al., Aerobic Exercise Training Can Reverse Age-Related Peripheral Circulatory Changes in Healthy Older Men«, in: Circulation, 100 (1999) 10, 1085 – 1094. Beauvoir, Das Alter, a. a. O., 363 f. A. a. O., 369. A. a. O., 364. A. a. O., 708. A. a. O., 708. A. a. O., 591.

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Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt am Main 1984, 478. Andere Wittgenstein-Zitate in diesem Kapitel beziehen sich auf folgende Werke: Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main 1984; Zettel, Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt am Main 1984; Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben, Frankfurt am Main 2000; Denkbewegung: Tagebücher, 1930 – 1932, 1936 – 1937, Frankfurt am Main 1999. Ders., Philosophische Untersuchungen, a. a. O., § 598. Ders., Vermischte Bemerkungen, 571. Ders., Philosophische Untersuchungen, a. a. O., § 241 f. Vermischte Bemerkungen, 455, 472. Vgl. meine Analyse der Philosophie als Lebensweise und wie Wittgenstein sie verstand und praktizierte, in: Shusterman, Philosophie als Lebenspraxis, a. a. O., Kap. 1. Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 2000, 33, 56, 121. Besonders deutlich wird dies beispielsweise in der Idee einer attraktiven, harmonischen Ordnung bei Konfuzius und bei Xunzi. Vgl. The Analects of Confucius: A Philosophical Translation, übers. R.T. Ames und Henry Roosemont Jr., New York 1998; sowie Xunxi, Discourse on Ritual Principles, und: Disourse on Music, in: Xunxi: A Translation and Study of the Complete Work, übers. von John Knoblock, Stanford 1994, Bd. 3, wo zu lesen ist, dass »Musik die perfekteste Methode ist, um Ordnung in den Menschen zu bringen« (84). Das Verhältnis von Somästhetik zu dem ostasiatischen Zusammenhang von Ästhetik, Moralpsychologie und Politik untersuche ich in: Shusterman, Pragmatism and East-Asian Thought, a. a. O. Siehe Ludwig Wittgenstein: Cambridge Letters, hg. v. Brian McGuinness und Georg Hendrik von Wright, Oxford 1996, 14, 140. Kapitel 4 | 309

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William James, Principles of Psychology, a. a. O., 1065 f. Eine umfassende und wohlwollende Interpretation der verschiedenen Jamesschen Formulierungen dieser Theorie würde die einfache Gleichsetzung von Emotionen und körperlichen Gefühlen oder Sinnesempfindungen zurückweisen. Vgl. die ausführlichere Darstellung dieser Problematik im 5. Kapitel. Wittgenstein, Zettel, a. a. O., § 495. A. a. O., §§ 484 – 499. James, Principles of Psychology, a. a. O., 1100, 1104. A. a. O., 1104, 1107. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., §§ 621 – 622. Ders. Zettel, § 586. A. a. O., § 592. A. a. O., 567, 577. Ders., Philosophische Untersuchungen, a. a. O., § 413. Wittgenstein fügt hinzu: »Und was die Introspektion James’ zeigte, war nicht die Bedeutung des Wortes Selbst, (sofern dies etwas ähnliches bedeutet, wie ›Person‹, ›Mensch‹, ›er selbst‹, ›ich selbst‹), noch eine Analyse eines solchen Wesens, sondern der Aufmerksamkeitszustand eines Philosophen, der sich das Wort ›Selbst‹ vorspricht und seine Bedeutung analysieren will. (Und daraus ließe sich vieles lernen.)« (ebd.). Zu weiteren Einzelheiten bei James’ Begriff des Selbst siehe unten, Kap. 5. James, Principles of Psychology, a. a. O., 288 f. In seinem frühen Meisterwerk Tractatus logico-philosophicus bringt Wittgenstein den Körper in Anschlag, um gegen die Idee des »philosophischen Selbst« oder des »Subjekts« als etwas, das sich in der Welt befindet und von der Psychologie erforscht werden kann, zu argumentieren. »Wenn ich ein Buch schriebe ›Die Welt, wie ich sie vorfand‹, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht, etc., dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren, oder vielmehr zu zeigen, daß es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buch nicht die Rede sein.« – »Es gibt also wirklich einen Sinn, in welchem in der Philosophie nichtpsychologisch vom Ich die Rede sein kann.« Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt/M. 1984, 67 f. (5.631, 5.641). Ders., Zettel, a. a. O., § 483. Der Fairness halber sollten wir hinzufügen, dass auch James betont, wir würden normalerweise alltägliche körperliche Handlungen in unbewusster Gewohnheit ausführen, ohne dabei unseren körperlichen Empfindungen oder der Lage unserer Körperteile ausdrücklich Aufmerksamkeit schenken. Vgl. etwa ders., Principles of Psychology, a. a. O., 109 – 131 sowie meine allgemeinere Diskussion seiner Positionen zur Gewohnheit und zur somatischen Reflexion im 5. Kapitel. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., S. 506. Ebd. Ders., Zettel, § 479, 481. 310 | anmerkungen

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Ders., Philosophische Untersuchungen, a. a. O., S. 506. Ders., Zettel, a. a. O., § 591. F.M. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 22, 89. Alexander stellt das Fallbeispiel des kopfhebenden Golfspielers vor in: ders., Der Gebrauch des Selbst, a. a. O., 51 ff. Die klinische Arbeit von Alexander und Feldenkrais belegt umfassend, dass geschulte somästhetische Gegenwärtigkeit nicht mit motorischen Vollzügen interferieren muss. Schlaftherapeuten empfehlen ausdrücklich, die Aufmerksamkeit auf die Atmung und feine körperliche Bewegungen zu richten, nicht nur, um den Körper zu entspannen, sondern auch, um das geplagte Bewusstsein von den ruhelosen Gedanken abzulenken, die einen auf so quälende Weise wach halten können. Wenn ich behaupte, dass fokussierte somästhetische Aufmerksamkeit am dringendsten benötigt wird, um fehlerhafte Gewohnheiten zu beheben und, sobald die neue Gewohnheit erfolgreich verankert ist, wieder verringert werden kann, möchte ich damit nicht leugnen, dass es nicht auch hilfreich sein kann, diese Aufmerksamkeit während einer gut eingespielten intelligenten Gewohnheitshandlung anzuwenden, beispielsweise die fokussierte propriozeptive Aufmerksamkeit einer Berufstänzerin während eines Tanzes, mit dem sie vertraut ist. Im Hinblick auf die Frage Wert versus Störfaktor somästhetischer Aufmerksamkeit hängt viel von den Fähigkeiten, der Qualität und dem Fokus der somästhetischen Aufmerksamkeit ab. Ich vermute, dass viele Fehler, die angeblich durch ausdrückliche Aufmerksamkeit auf die körperlichen Bewegungen und Empfindungen verursacht werden, in Wirklichkeit auf mangelnde somästhetische Fähigkeiten fokussierter Aufmerksamkeit und die daraus resultierende unbemerkte Zerstreuung der Aufmerksamkeit (mit daraus resultierender Angst) auf das erfolgreiche Resultat der eigenen Handlung hin zurückzuführen sind. Diese These begründe ich ausführlich im ersten Kapitel von Philosophie als Lebenspraxis. Man denke auch an Wittgensteins berühmtes Diktum: »Ethik und Ästhetik sind Eins.« Tractatus logico-philosophicus, a. a. O., 6.421. Ders., Vermischte Bemerkungen, a. a. O., 32. A. a. O., 52. A. a. O., 56 – 60. A. a. O., 465. A. a. O., 488. Es mag sein, dass Wittgensteins Angewohnheiten als Klarinettenspieler etwas mit diesen somästhetischen Empfindungen zu tun hatten, denn das Spielen dieses Instruments erfordert das Zusammenhalten der Zähne. A. a. O., 500. A. a. O., 521, 472. A. a. O., 462. Der eingeklammerte Begriff »Vordergrund« ist eine im Manuskript verzeichnete Variante zu »Oberfläche«. Siehe die revidierte zweite Auflage der englischen Ausgabe Culture and Value, Oxford 1998, 11. Kapitel 4 | 311

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Ders., Philosophische Untersuchungen, a. a. O., S. 496. Darüber hinaus sind verkörperte Leidenschaften Bestandteil der Seele, deren Pflege und Rettung für Wittgenstein so wichtig ist: »Es ist meine Seele mit ihren Leidenschaften, aus Fleisch und Blut, die gerettet werden muss, nicht mein abstrakter Geist.« (ders., Vermischte Bemerkungen, a. a. O.) Ders., Tagebücher, a. a. O., 63. Ders., Vermischte Bemerkungen, a. a. O., 465. A. a. O., 139 f. A. a. O., 478. Eine weitverbreitete Erfahrung ist, dass in Verhandlungen zwischen stark verfeindeten Gruppierungen das wechselseitige Verständnis erheblich erleichtert wird, wenn die Verhandelnden gemeinsam ausreichend lange eine angenehme Zeit verbringen, um sich somästhetisch aneinander zu gewöhnen; gemeinsames Essen und Unterhaltung können deshalb ein fruchtbarer Teil des Verhandlungsprozesses sein. Man konnte dies etwa bei den erfolgreicheren Verhandlungen zwischen Israel und seinen arabischen Gegnern beobachten. Zu Wittgensteins konfliktbeladener Sexualität vgl. etwa die Biographie von Ray Monk, Ludwig Wittgenstein: The Duty of Genius, London 1991. Satipatthana Suttha (Lehrrede über die Grundlagen der Achtsamkeit), zitiert nach: Die Reden des Buddha, Mittlere Sammlung, hg. v. K. E. Neumann, Stammbach 1995, M. l0 (I, 10). Einige dieser Disziplinen behandle ich in Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, a. a. O., Kap. 7. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a. a. O., §§ 194, 127, 109, 116, 119. Ders., Vermischte Bemerkungen, a. a. O., 490. A. a. O., 563, 546, 531. Biographen Wittgensteins bestätigen dies oft, siehe etwa: Fania Pascal, Meine Erinnerungen an Wittgenstein, in: Ludwig Wittgenstein: Porträts und Gespräche, hg. v. Rush Rhees, Frankfurt am Main 1987, 35 ff. und Norman Malcolm, Erinnerungen an Wittgenstein, Frankfurt am Main 1987, 49. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. a. a. O., 453, 463, 511. Ders., Philosophische Untersuchungen, a. a. O., § 304. Eine frühere Fassung dieses Kapitels, übersetzt von Robin Celikates, ist erschienen in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung, hg. von Joachim Küpper und Christoph Menke, Frankfurt/M. 2003, 67 – 94.

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William James, The Experience of Activity, a. a. O., 86. Ders., The Principles of Psychology, Cambridge 1983, 308. Ders., Das moralische Äquivalent des Krieges, in: Die Friedens-Warte 44 (1944), 174 – 182: 178, 181 f. The Correspondence of William James, Bd. 4, Charlottesville 1995, 33. Diese Gesundheitsprobleme kommen in epischer Ausführlichkeit in seinen Briefen zum Ausdruck; siehe aber auch: Howard Feinstein, Becoming William James, Ithaca, NY 1984. Vgl. die Briefe an seine Freunde, wie sie bei Ralph Barton Perry präsentiert werden: ders. (Hg.), The Thought and Character of William James, 2 Bde., Boston 1935, Bd. 1, 216; sowie in: Henry James III (Hg.), The Letters of William James, 2 Bde., Boston 1926, Bd. 1, 79. Feinstein, Becoming William James, a. a. O., 318, 321. James, Correspondence, a. a. O., Bd. 2, 108. Dies ist eine der zentralen Thesen von Feinsteins instruktiver Biographie. Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte (§ 408), Stuttgart 1959, 278. James’ Manöver werden bei Feinstein beschrieben: Becoming William James, a. a. O., 332 – 340. In einem 1906 gehaltenen Vortrag als Präsident vor der American Philosophical Association (»Die Energien des Menschen«) drängte James die Philosophie, ein längerfristiges Forschungsprogramm anzustoßen, das systematisch die vielfältigen Techniken (wie zum Beispiel Yoga) erforschen sollte, durch die wir Menschen in der Lage sind, uns gewöhnlich verschüttete »tiefere Energieschichten« zu erschließen, um dadurch unsere körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zu verbessern. S. The Energies of Men, in: William James, Writings, 1902 – 1910, hg. von Bruce Kuklick, New York 1987, 1230. James argumentiert bemerkenswerterweise für die Existenz dessen, was er »den anti-sexuellen Instinkt« nennt – »unsere tatsächliche Abscheu angesichts der Idee intimen Kontakts mit den meisten Personen, die wir treffen, insbesondere denjenigen unseres eigenen Geschlechts« (Principles of Psychology, a. a. O., 1053 f.). A. a. O., 18. A. a. O., 110. A. a. O., 117. A. a. O., 130. A. a. O., 119 – 126. A. a. O., 126. A. a. O., 130. A. a. O., 125 f. A. a. O., 221. Kapitel 5 | 313

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A. a. O., 224. A. a. O., 225. A. a. O., 226 ff. Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. Berlin 2004, 199, 201, 209 f., 217. A. a. O., 234 f. James, Essays in Radical Empiricism, a. a. O., 33. Damasio, Descartes’ Irrtum, 210. James, Principles of Psychology, a. a. O., 273 – 274. Darüber hinaus ist der Körper nicht lediglich ein passives Verzeichnis, sondern ein aktiver Integrator solcher Sinneswahrnehmungen, so dass die Wahrnehmung eines Balls in unserer Hand eine Integration »optischer Eindrücke der Berührung, Muskelanpassungen des Auges, Bewegungen unserer Finger und der Muskelempfindungen, die diese auslösen«, bedeutet (a. a. O., 708). A. a. O., 413. A. a. O., 411. A. a. O., 287 f. A. a. O., 584. James stimmt Hugo Münsterbergs spezifischerer Annahme zu, dass wir bis zu einer Dauer von einer Drittelsekunde den Zeitsinn in dem verblassenden Erinnerungsbild eines Eindrucks fühlen können, dass aber jenseits dieser Schwelle unsere Zeitwahrnehmung eine Funktion der Veränderung von Muskelgefühlen ist (a. a. O., 584). James, Essays in Radical Empiricism, a. a. O., 32, 86. A. a. O., 38, 41. A. a. O., 69, 71. A. a. O., 76. James, Principles of Psychology, a. a. O., 280, 283, 314, 379. A. a. O., 280 A. a. O., 281 f. James stuft unsere Passion für Kleidung als so hoch ein, dass er behauptet, ihre Schönheit sei für uns wichtiger als die unseres eigenen Körpers. »Wir eignen uns unsere Kleidung so an und identifizieren uns mit dieser derart, dass es unter uns wenige gibt, die, wenn sie aufgefordert würden, dazwischen zu wählen, einen schönen Körper, der immer schäbige und schmuddelige Kleidung tragen müsste, oder eine hässliche und verunstaltete Körperform zu haben, die immer makellos gekleidet wäre, nicht einen Augenblick zögern würden, eine klare Entscheidung zu treffen« (a. a. O., 280). James merkt an, dass »ein Mensch so viele soziale Identitäten hat, wie es Individuen gibt, die ihn anerkennen und ein Bild von ihm in sich tragen« (a. a. O., 281); so kann die Fähigkeit einer Person, verschiedene Körperbilder an den Tag zu legen – beispielsweise als stillende Mutter und anspruchsvolle Judo-Lehrerin – zu ihrer Fähigkeit beitragen, ein vielfältigeres soziales Selbst zu entwickeln. Indem er solche Emotionen als »rauere Emotionen« bezeichnet, öffnet James Raum für »feinere Emotionen« (womit bestimmte »moralische, intellektuelle 314 | anmerkungen

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und ästhetische Empfindungen« gemeint sind), in denen »Lust und Unlust« oder sogar »Entzücken« einfach aus der Wahrnehmung bestimmter Sinnesqualitäten ohne den intervenierenden Einfluss gefühlter körperlicher Empfindungen hervorgehen. Die »ästhetische Emotion« und deren »primärer und unmittelbarer Genuss bestimmter reiner Sinnesempfindungen und ihrer harmonischen Kombinationen« sind rein »zerebral«. Dennoch merkt James an, dass solch eine Emotion so fein ist, dass »sie kaum emotional genannt werden kann«. Darüber hinaus werden dieser primären Lust rein intellektuell genossener Schönheit typischerweise »sekundäre Genüsse« hinzugefügt, in welchen der »körperliche Resonanzboden am Werk ist«, und nur, wenn diese hinzukommen, erhalten wir eine robuste emotionale Erfahrung der Kunst (a. a. O., 1082 – 1085). Vielleicht war die Behauptung einer körperlosen ästhetischen Emotion ein strategisches Zugeständnis an die Konventionen eines verfeinerten ästhetischen Geschmacks (meisterhaft in den Romanen seines Bruder Henry zur Schau gestellt), doch ist schwer einzusehen, warum, angesichts von James’ Positionen zur somatischen Dimension der Wahrnehmung und des Denkens, das Körpergefühl nicht auch zu den reinsten unserer ästhetischen Genüsse gezählt wird. A. a. O., 1065. A. a. O., 1066. A. a. O., 1068. Ebd. Vgl. William James, The Physical Basis of Emotion (1894), wieder abgedr. in: ders., Collected Essays and Reviews, New York 1920, 351. James behandelt das Thema schon früher, u. a. in: ders., What Is an Emotion?, in: Mind 9 (1884): 188 – 205 sowie in dem Kapitel über Emotionen in den Principles of Psychology. A. a. O., 1066. James, The Physical Basis of Emotion, a. a. O., 351. James behauptet, dass »die Anzahl möglicher unterschiedlicher Emotionen, die existieren mögen, […] unbegrenzt« sei und dass »die Emotionen verschiedener Individuen unbegrenzt variieren, sowohl hinsichtlich ihrer Konstitution als auch hinsichtlich der Gegenstände, die sie hervorrufen« (ders., Principles of Psychology, a. a. O., 1069). Er dringt darauf, »auch zwischen verschiedenen Emotionsgraden zu unterscheiden, die wir durch einen Begriff bezeichnen«, obwohl er erkennt, dass diese Grade »hinreichende funktionelle Ähnlichkeiten« teilen sollten, um ihre gemeinsame Bezeichnung zu rechtfertigen, diese jedoch nicht als Kennzeichnung einer festgelegten Essenz in einem metaphysischen oder »wesensmäßigen« Sinn verstanden werden sollte (ders., The Physical Basis of Emotion, a. a. O., 351, 354). James widerspricht der Behauptung, seine Theorie sei materialistisch, und betont, dass »unsere Emotionen immer innerlich das sein müssen, was sie sind, was auch immer sie für einen physiologischen Grund ihrer Erscheinung haben mögen« (ders., Principles of Psychology, a. a. O., 1068), und er verteidigt seine Theorie, indem er behauptet, dass seine Kritiker in »Introspektion« zu ungeübt seien, um die körperlichen Empfindungen in eiKapitel 5 | 315

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ner emotionalen Erregung aufzuspüren oder zu »lokalisieren«, weswegen sie schlussfolgerten, dass die Erregung eine nichtorganische Quelle haben müsse (ders., The Physical Basis of Emotion, a. a. O., 361 f.). James besteht deshalb darauf, dass wir »unsere Introspektion schärfen sollten«, um unsere Fähigkeit zu verbessern, diese Empfindungen zu lokalisieren (ders., Principles of Psychology, a. a. O., 1070), und dass noch viel mehr Leute sorgfältige Berichte solcher introspektiven »Beobachtungen« zur Verfügung stellen sollten (ders., The Physical Basis of Emotion, a. a. O., 357). A. a. O., 350. Der Kern von James’ Emotionstheorie besteht – im Vokabular der psychologischen Theorien seiner Zeit ausgedrückt – darin, dass Emotionen das Produkt hinführender (afferenter) Nervenstränge sind, die auf dem sinnlichen Input der Außenwelt und unserer Körper beruhen, anstatt das reine Produkt herausführender (efferenter) Nervenströme zu sein, die zum Körper hin ausgehen, und auf einem rein kognitiven Urteil des Geistes basieren. So definiert James auch »die Tragweite und den Umfang« seiner Theorie in einer höchst bescheidenen und »unprätentiösen« Weise mit dem Vorschlag, dass unser emotionales Bewusstsein immer durch diese eingehenden Ströme vermittelt wird, von denen einige »organische Sinnesempfindungen« sind (a. a. O., 359 f.). A. a. O., 361. John Dewey, Erfahrung und Natur. Übersetzt von Martin Suhr, Frankfurt/M. 1995, 40 ff.: 42. Dewey macht diesen Fehlschluss in seiner sehr positiven Kritik an James’ Theorie der Emotionen jedoch nicht geltend. Siehe Gerald Myers, William James: His Life and Thought, New Haven, CT 1986, 535 f. Damasio, Descartes’ Irrtum, 192 f. Gerald Myers (a. a. O., 227 – 230) beschreibt James’ Haltung Emotionen gegenüber als »ambivalent«, weil dieser anerkannt habe, dass Gefühle manchmal schädlich sein können und weil er sie nicht explizit als Teil des spirituellsten Kerns des Selbst betrachtet habe. Aber das läuft kaum auf eine ernsthafte Ambivalenz hinaus. Wenn James Emotionen für sein Ideal eines an Erfahrungen und Gedanken reichen und gelungenen menschlichen Lebens für wesentlich hält, muss er Gefühl im Wesentlichen als eine positive Eigenschaft sehen, selbst wenn einige Gefühle in ihren Folgen negativ sein können. James, Principles of Psychology, a. a. O., 924. Die »Zwangsläufigkeit der Aufmerksamkeit« (eine verbreitete erfahrungsbezogene Realitätsdefinition) wird von James auch als »Folge von Lebendigkeit oder emotionalem Interesse« erklärt (a. a. O., 928 f.). A. a. O., 989. Damasio, Descartes’ Irrtum, 137 ff. A. a. O., 269, 239. A. a. O., 236 f. A. a. O., 85. William James, On a Certain Blindness, in: Talks to Teachers on Psychology and to Students on Some Life’s Ideals, New York 1962, 114. 316 | anmerkungen

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James, Principles of Psychology, a. a. O., 283, 285 – 287. A. a. O., 287 f. A. a. O., 288. A. a. O., 289. A. a. O., 288, 291 f. A. a. O., 307 f. A. a. O., 309. A. a. O., 316. A. a. O., 318. James’ Skepsis gegenüber einer solchen Empfindung reiner psychischer Energie wird dadurch deutlich, dass er diese Passage in Klammern setzt und mit einem Fragezeichen versieht. A. a. O., 323. James, Essays in Radical Empiricism, a. a. O., 19. Siehe zum Beispiel Moshe Feldenkrais, Zwölfte Lektion: Denken und Atmen, in: ders., Bewußtheit durch Bewegung, a. a. O., 224 ff. Auch die Alexander-Technik hält richtiges Atmen für das bessere ganzheitliche Funktionieren des Individuums für wichtig und schlägt vor, unsere gewöhnlich falschen Atemgewohnheiten mittels »bewusster Kontrolle« des Atemmechanismus »umzuerziehen«, bis wir bessere Atemgewohnheiten entwickelt haben. Siehe Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 315 – 339. René Descartes, Die Leidenschaften der Seele, hrsg. und übers. von Klaus Hammacher, Hamburg 1984, 27, 239, 67. James, Principles of Psychology, a. a. O., 1165. Zitiert nach: Ralph Barton Perry, The Thought and Character of William James (Kurzfassung), Nashville, TN 1996, 121. James, Principles of Psychology, a. a. O., 117, 1181. A. a. O., 1166. A. a. O., 1134. James bemerkt an anderer Stelle, dass manchmal ein zusätzlicher mentaler Akt »ausdrücklicher Zustimmung« für die behandelte Idee erforderlich sei (a. a. O., 1172), zum Beispiel in Fällen, in denen der »Akt mentaler Zustimmung« notwendig sei, um antagonistische Ideen im Denken zu überwinden oder zu ersetzen (a. a. O., 1134). Obwohl James zunächst behauptet, dass das bloße »Ausfüllen des Verstandes mit einer Idee […] eine Zustimmung zu dieser Idee ist« (a. a. O., 1169), setzt er dies später gleich mit der »ausdrücklichen Zustimmung« und »der Anstrengung zuzustimmen« als etwas, das mehr ist als bloße Aufmerksamkeit auf die Idee (a. a. O., 1172). Jedenfalls wird dieser weitere Akt der Zustimmung ebenfalls als vollständig mental dargestellt. A. a. O., 1165. A. a. O., 1166. A. a. O., 1167 f. A. a. O., 1168. James insistiert in einer Notiz, dass die »[willentliche] Anstrengung der AufmerkKapitel 5 | 317

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samkeit« oder »einfach nur die Willensanstrengung sorgfältig von der Muskelanstrengung unterschieden werden muss, mit der sie normalerweise verwechselt wird« (a. a. O., 1167). Aber diese Muskelanstrengungen werden als »periphere Empfindung« des »Krafteinsatzes« beschrieben, womit nahegelegt wird, dass sie sich von den zentralen kephalischen Anpassungsbewegung in der Aufmerksamkeit unterscheiden, die so feine Muskelkontraktionen auslösen, dass sie für die meisten Menschen unmerklich sind und daher kaum als Krafteinsatz zählen können, selbst wenn sie Anstrengung erkennen lassen. James bietet überdies keinen Weg an (nicht einmal in Hinblick auf seine eigene Introspektion), zwischen den rein geistigen willentlichen Anstrengungen und den Muskelanstrengungen, von denen er spricht, zu unterscheiden. Auch räumt er die notwendige Rolle des Körpers im Willensausdruck ein, da »die einzigen direkten Außeneffekte unseres Willens körperliche Bewegungen sind« (a. a. O., 1068). A. a. O., 1104. A. a. O., 708. A. a. O., 1165. Ebd. Ebd. Siehe Meyers, William James, a. a. O., 54, 224. Lotze, Wundt, Münsterberg, Mach und andere Psychologen, die James in seiner Psychologie zitiert, taten dasselbe. James verwendet ihre introspektiven Entdeckungen und hält fest, an welchen Punkten sie sich mit seiner eigenen Erfahrung berühren oder sich davon unterscheiden. James, Principles of Psychology, a. a. O., 185. A. a. O., 191. Der Artikel über »Introspektion, Psychologie der« in: The Routledge Enzyklopedia of Philosophy, London 1998, 4, 843, behauptet fälschlicherweise, dass es für James keine »Aspekte des Geistes gibt, die dem introspektiven Bewusstsein verborgen bleiben«. Was James behauptete, ist, dass es keinen mentalen Zustand ohne irgendeine Art von Bewusstsein, das diesen erfährt, geben kann, aber nicht, dass diese Zustände immer introspektiv beobachtbar sind. Denn er sah ein, dass sie zu schwach sein können, um bemerkt zu werden, oder dass sie blockiert oder von dem introspektiven Bewusstsein eines Individuums unterdrückt sein können, wie etwa in der Hypnose, bei multiplen Persönlichkeiten und in anderen ähnlichen Fällen. James teilte jedoch nicht die Freudsche Auffassung eines allgemeinen Unbewussten und wies die Idee geistiger Zustände zurück, die überhaupt nicht im Bewusstsein vorkommen. Näheres zu diesen Fragen bei Myers, William James, a. a. O., 59 f., 210 f. Es gibt eine anhaltende Debatte darüber, ob Introspektion als Beobachtung angesehen werden kann, da diese sich offensichtlich auf signifikante Weise von der visuellen Beobachtung von Außengegenständen unterscheidet. James, Principles of Psychology, a. a. O., 237. A. a. O., 236. Ebd. und a. a. O., 244. 318 | anmerkungen

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A. a. O., 430. A. a. O., 475. A. a. O., 687, 829 f. Diese Gelenk- und Muskelempfindungen werden gefühlt, gehen jedoch einfach als Zeichen der Bewegung des Gliedmaßes unter und werden daher typischerweise ignoriert, da das Bewusstsein dazu neigt, sofort vom Zeichen auf das bezeichnete interessante Ding zu springen. Tatsächlich neigt sogar unsere Vergegenwärtigung der Bewegung des Gliedmaßes dazu, durch unser Interesse am externen Gegenstands verdeckt zu werden, zu dem diese Bewegung führt, dem Ball, der gekickt werden soll, dem Apfel, nach dem gegriffen werden soll und so weiter. A. a. O., 398. A. a. O., 400. A. a. O., 788. James behandelt dies als einen Grundsatz für Aufmerksamkeit jedem großen Ganzen gegenüber. »Die Bewusstmachung von Unterteilungen konstituiert den gesamten Prozess, durch welchen wir von unserem ersten vagen Gefühl unermesslicher Weite zu einer Wahrnehmung der Weite im Detail gelangen« (a. a. O., 793). James (a. a. O., 463 f.) führt zwei verschiedene Arten von Kontrast an: »existenzielle« und »differenzielle«. Ersterer ist der einfache Kontrast zwischen wirklicher An- und Abwesenheit des fraglichen Gefühls (oder, allgemeiner, Elements), ohne über die spezifische Natur dieses Elements nachzudenken. Differenzieller Kontrast betrifft die unterschiedliche Natur der existierenden Gefühle (oder Elemente). Beide Formen von Kontrast können für die somästhetische Introspektion hilfreich sein. Wir können zum Beispiel lernen, ein zuvor unbemerktes Gefühl chronischer Muskelverspannung in unserer Haltemuskulatur, die der Schwerkraft entgegenwirkt, zu unterscheiden, indem wir plötzlich fühlen, wie es ist, wenn jene Muskeln entspannt sind (zum Beispiel durch die Arbeit eines somatischen Therapeuten, der unser Gewicht stützt), und so eine kurze Abwesenheit der Kontraktion zu empfinden. Aber wir können auch lernen, das Ausmaß an gefühlter Spannung, beispielsweise einer geballten Faust, zu erkennen, z. B. auf Grund der Intensivierung der Muskelkontraktion der Faust durch eigene vergrößerte Anstrengung bei der Beugung oder durch das Drücken dieser (oder sogar der anderen) Faust durch den Therapeuten. James führt experimentelle Belege an, um zu zeigen, dass unter den differenziellen Kontrasten die aufeinander folgenden ein größeres Unterscheidungsvermögen ermöglichen als die gleichzeitigen. »In Versuchen, die das lokale Unterscheidungsvermögen der Haut testeten, indem Kompass-Punkte appliziert wurden, hat man festgestellt, dass unterschiedliche Berührungspunkte viel eher gefühlt wurden, wenn zwei Impulse nacheinander gesetzt wurden, als wenn beide gleichzeitig gesetzt wurden. Im letzteren Fall konnten sie auf Rücken, Schenkeln usw. fünf oder acht Zentimeter auseinander liegen und sich noch immer anfühlen, als ob sie an denselben Punkt gesetzt worden waren« (a. a. O., 468). A. a. O., 395. Kapitel 5 | 319

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A. a. O., 382. A. a. O., 419. James hebt hervor, dass der Gebrauch einer sprachlichen Beschreibung für eine zuvor begriffslose Qualität das Gefühl dieser Qualität differenzierter machen kann: »Der gerade gefallene Schnee sah sonderbar aus, anders als Schnee normalerweise aussieht. Ich nannte ihn sogleich ›glimmerig‹, und es schien mir, als ob in dem Moment, in dem ich dies tat, der Unterschied sich stärker herauskristallisierte und konsolidierte, als er es zuvor gewesen war« (a. a. O., 484). In einem ganz anderen Kontext behauptete T. S. Eliot, dass die Fähigkeit des Dichters, Sprache neu zu formen, uns dazu verhilft, Dinge zu empfinden, die sonst nicht empfunden werden könnten, und daher »ein viel größeres Gefühls- und Wahrnehmungsspektrum für andere Menschen ermöglicht, weil er ihnen Redeweisen an die Hand gibt, in denen mehr ausgedrückt werden kann«. Siehe T. S. Eliot, To Criticize the Critic, London 1978, 134. Seine vier praktischen Maximen für Gewohnheiten lauten: (1) Um eine neue Gewohnheit zu erwerben oder eine alte loszuwerden, sollten wir »eine Initiative ergreifen, die so stark und entschieden wie möglich ist«; (2) »uns niemals eine Ausnahme erlauben, bis die neue Gewohnheit in unserem Leben verankert ist«; (3) »die erstmögliche Gelegenheit am Schopfe packen, jeden Entschluss und jeden erfahrenen emotionalen Drang in Richtung einer erstrebten Gewohnheiten in die Tat umzusetzen« (4) »die Fähigkeit zur Anstrengung durch kleine grundlose tägliche Übung wachhalten« (James, Principles of Psychology, a. a. O., 127 – 30). James’ Darstellung des Selbst als Amalgam verschiedener Identitäten bringt ihn dazu, eine Formel zur Steigerung der Selbstachtung vorzuschlagen (a. a. O., 296 f.), und seine Darstellung des Willens als Aufmerksamkeit liefert eine Methode, um Alkoholismus zu bekämpfen (a. a. O., 1169 f.). Die Maxime, die aus seiner Darstellung der Emotionen erwächst, wird weiter unten in diesem Kapitel besprochen. A. a. O., 126. A. a. O., 1108. Ebd. Ebd. A. a. O., 1128. Eine Fülle klinischer Fallbeispiele, die den Erfolg dieser melioristischen Strategie bezeugen, sind in der Literatur zur Alexander-Technik und zur FeldenkraisMethode zu finden. Neben den Schriften von Alexander und Feldenkrais (von denen einige bereits in diesem und in früheren Kapiteln zitiert worden sind) gibt es Sekundärliteratur in beträchtlichem Umfang, umfassender zur AlexanderTechnik, die die ältere Methode ist. Siehe zum Beispiel Wilfred Barlow, The Alexander Technique: How to Use Your Body Without Stress, New York 1973, dessen zweite Auflage (Rochester 1990) Nikolaas Tinbergens Bezeugung der logischen Stichhaltigkeit der zentralen Strategie der Alexander-Technik und ihrer praktischen Wirkung enthält (in seiner Rede zum Erhalt des Medizin-Nobelpreises 1973). Vgl. auch Frank Jones, Body Awareness in Action: A Study of Alexander 320 | anmerkungen

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Technique, New York, 1979, worin sich klinische Darstellungen und experimentelle Studien über die Wirkungen gesteigerten Bewusstseins und gesteigerter bewusster Kontrolle finden. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hamburg 2000, 18; und: Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie. Aus Kants handschriftlichen Aufzeichnungen hrsg. von Benno Erdmann, Stuttgart 1992,68 f. (Abs. 17, 19). William James, The Gospel of Relaxation, in: Talks To Teachers, a. a. O., 99. Zu James’ Hypochondrie siehe Perry, The Thought and Character of William James, a. a. O., der auch die Beschwerden von James’ Mutter über sein übermäßiges Zum-Ausdruck-Bringen »jedes ungünstigen Symptoms« zitiert (361). Zur »philosophischen Hypochondrie« »introspektiver Studien« siehe James’ Brief an seinen Bruder Henry vom 24. August 1872, in: Correspondence, a. a. O., Bd. 1,167. So wie Kant öffentlich seine »natürliche Anlage zur Hypochondrie« im Streit der Fakultäten gestand (ders., Der Streit der Fakultäten, Hamburg 2005, 117), so gestand James wiederholt in seiner Privatkorrespondenz, »ein abscheulicher Neurastheniker« zu sein. Siehe zum Beispiel seine Briefe an F. H. Bradley und George H. Howison, in: Correspondence, a. a. O., Bd. 8, 52, 57. James, The Gospel of Relaxation, a. a. O., 100; Principles of Psychology, 1077 f. Ders., Correspondence, a. a. O., Bd. 9, 14; Bd. 5, 586. Ders., The Gospel of Relaxation, a. a. O., 100. Ders., The Energies of Men, a. a. O., 1225 f. Ders., The Gospel of Relaxation, a. a. O., 109. Ebd. A. a. O., 103 – 105, 107. James bezieht sich erster Linie auf ihr erstes Buch von 1891, Power through Repose, auch wenn er sich später, in Bezug auf die moralische Entspannung, auf ihr späteres Buch A Matter of Course rekurriert. James mag den Ausdruck »Evangelium der Entspannung« vom englischen Entwicklungsphilosophen Sir Herbert Spencer abgeleitet haben, der häufig Gegenstand von James’ Studien und kritischen Diskussionen war. Bei einem Besuch in Amerika 1882 kommentierte Spencer in einer Bostoner Zeitung, dass das überarbeitete Nordamerika zu viel vom »›Evangelium der Arbeit‹ [habe]. Es wird Zeit, das ›Evangelium der Entspannung‹ zu predigen.« Siehe Feinstein, a. a. O., 190. James, The Gospel of Relaxation, a. a. O., 104. A. a. O., 101 – 103. Siehe: The Moral Philosopher and The Moral Life und: The Moral Equivalent of War, in: J. J. McDermott (Hrsg.), The Writings of William James: a Comprehensive Edition, Chicago 1993, 627 f., 669 sowie: The Absolute and the Strenuous Life in: Kuklick (Hg.), The Meaning of Truth: Writings 1902 – 1910, 941. Im letzteren Aufsatz wird James’ überwältigende Vorliebe für die Bereitschaft zur Anstrengung hervorgehoben durch seine kontrastreiche Gegenüberstellung mit den »kranken Seelen«, die »moralischer Ferien« bedürften. So setzt er implizit unbeschwerte Entspannung mit (geistiger oder moralischer) Krankheit gleich. Kapitel 5 | 321

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Ganz ähnlich argumentiert James für »Kraft und Anstrengung, Intensität und Gefahr« und das »heroische Leben« der »zum äußersten gespannten menschlichen Natur« als entscheidenden Elementen, um Leben bedeutungsvoll statt leer und fad zu machen (in: What Makes a Life Significant?, in: Talks to Teachers, a. a. O., 133 f.). Auch preist er »das höchste Theater menschlicher Anstrengung« und »mannhafte Ehre« im Gegensatz zu »unmännlicher Bequemlichkeit« (in: The Moral Equivalent of War, a. a. O., 666, 669). Seinem toleranten Pluralismus treu, gab James jedoch zu, dass einige Menschen wahre Freude in einem einfachen Leben fänden, »in dem sie nicht denken und nichts tun«, und drang darauf, ihre Form des Lebens und des Glücks zu respektieren (solange sie nicht schädlich ist), selbst wenn wir diese Formen »unverständlich« fänden (On a Certain Blindness in Human Beings, in: Talks to Teachers, a. a. O., 127, 129). Ders., The Gospel of Relaxation, a. a. O., 112. Dieser Vortrag an der Bostoner Hochschule für Gymnastik schließt folgendermaßen: »Was unsere Studentinnen und Lehrerinnen heutzutage am meisten brauchen, ist nicht Verbitterung, sondern eine Milderung ihrer moralischen Spannungen« (ebd.). James wiederholte den Vortrag an den Hochschulen von Wellesley, Bryn Mawr und Schmied, und er bezeichnete sie als seine »weibliche Hochschulrede«. Siehe ders., Correspondence, a. a. O., Bd. 2, 389; Bd. 8, 96. Ders., The Absolute and the Strenuous Life, a. a. O., 941. Das habe ich in meiner klinischen Erfahrung als professioneller FeldenkraisPraktiker gelernt. Viele Klienten, mit denen ich gearbeitet habe, wussten nicht, wie es sich anfühlt, bestimmte chronische Muster übermäßiger Verspannung in ihrem oberen Rücken, Nacken und Brustkorb zu lösen, und waren daher außerstande, die Muskeln dort zu entspannen, bis sie durch körperliche Manipulationen zur gewünschten Lösung dieser Verspannungen gebracht werden konnten. James, The Gospel of Relaxation, a. a. O., 112. Ders., The Energies of Men, a. a. O., 1225. A. a. O., 1226. A. a. O., 1240. A. a. O., 1230 f. A. a. O., 1234, 1236. A. a. O., 1234. Vgl. etwa Jon Kabat-Zinn et al., Effectiveness of a Meditation-Based Stress Reduction Program in the Treatment of Anxiety Disorders, in: American Journal of Psychiatry 149 (1992), 936 – 943; und: ders., The relationship of cognitive and somatic components of anxiety to patient preference for alternative relaxation techniques, in: Mind/Body Medicine 2 (1997), 101 – 109. Siehe Richard J. Davidson et al., Alterations in Brain and Immune Function Produced by Mindfulness Meditation, in: Psychosomatic Medicine 65 (2003), 564 – 570; sowie ders., Well-Being and Affective Style: Neural Substrates and Biobehavioural Correlates, in: Philosophical Transactions of the Royal Society, Series B, 359 (2004), 1395 – 1411. 322 | anmerkungen

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Obwohl ein großer Teil zeitgenössischer psychologischer Literatur noch eine Verbindung zwischen Grübeleien und Depression bestätigt, betonen neuere Studien die Notwendigkeit, zwischen der Introspektion, die depressiv, zwanghaft und auf das Negative konzentriert ist (das, was man als Grübeleien bezeichnet), und anderen, positiveren Formen von Introspektion in Form von Selbstbewusstwerdung und Selbstreflektion zu unterscheiden. Siehe zum Beispiel S. Nolen-Hoeksema, Responses to Depression and Their Effects on the Duration of Depressive Episodes, in: Journal of Abnormal Psychology 100 (1991), 569 – 582; ders. und J. Morrow, Effects of Rumination and Distraction on Naturally Occurring Depressed Mood, in: Cognition & Emotion 7 (1993), 561 – 570; sowie P. D. Trapnell and J. D. Campbell, Private Self-consciousness and the Five-Factor Model of Personality: Distinguishing Rumination from Reflection, in: Journal of Personality and Social Psychology 76 (1999), 284 – 304. Vgl. Perry, The Thought and Character of William James, a. a. O., 32 f., 66, 220. Auch bei Roosevelt wurde in seiner Jugend Neurasthenie diagnostiziert; er kurierte und änderte sich dann aber durch den rauen Drill und das rigorose und willentliche Streben nach männlicher Kraft und Härte. Siehe Tom Lutz, American Nervousness – 1903, Ithaca, NY 1991. James scheint sich zum ersten Mal im Juli 1898 bei einer Bergbesteigung im Adirondacks eine Herzverletzung zugezogen zu haben, während er versuchte, mit einer Gruppe viel jüngerer Bergsteiger (einschließlich einiger junger Frauen, die er besonders bewunderte) Schritt zu halten. Der Herzschaden verschlimmerte sich erheblich, als er sich im nächsten Sommer wieder verletzte, während er sich beim Bergsteigen in der gleichen Region des Mount Marcy hoffnungslos verlief und gezwungen war, stundenlang mühsam herumzukraxeln, bis er seinen Weg zurück nach Hause fand. Siehe Correspondence, a. a. O., Bd. 3, 59, 64, 228, 345; Bd. 4, 327; Bd. 8, 390 f. A. a. O., Bd. 4, 346; Bd. 9, 157. Ders., The Energies of Men, a. a. O., 1226; Correspondence, a. a. O., Bd. 8, 389. Aus einem Tagebuch-Eintrag, zitiert von Perry, The Thought and Character of William James, a. a. O., 225; James, Correspondence, a. a. O., Bd. 4, 409; Bd. 7, 399; ders., The Sentiment of Rationality, in: The Will to Believe, Cambridge, MA 1979, 74; vgl. ders., The Moral Equivalent of War, a. a. O., 662, in dem James schreibt: »Unsere Vorfahren haben uns Kampflust in unsere Knochen und unser Knochenmark eingepflanzt, und Tausende von Jahren gewonnenen Friedens werden sie uns nicht austreiben.« A. a. O., 666. Ders., Correspondence, a. a. O., Bd. 3, 376. A. a. O., Bd. 3, 381. A. a. O., 386 f. A. a. O., 407 f., 424 f. Zitiert in: Gay Wilson Allen, William James, New York 1967, 491 f.

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nennt) eine Einheit nahelegt, die nicht nahtlos ist. Dewey hat Körper-Geist einmal folgendermaßen definiert und die zwei Elemente der Einheit funktional unterschieden: »Körper-Geist bezeichnet einfach, was wirklich stattfindet, wenn ein lebendiger Körper in Situationen von Diskurs, Kommunikation und Partizipation verwickelt ist. In dem Bindestrich-Ausdruck Körper-Geist bezeichnet ›Körper‹ das fortgesetzte und konservierte, das registrierte und allmählich anwachsende Wirken der Faktoren, die mit dem Rest der Natur, der unbelebten wie der belebten, kontinuierlich verbunden sind; während ›Geist‹ die charakteristischen Eigenschaften und Konsequenzen bezeichnet, die Merkmale anzeigen, die erst dann erscheinen, wenn der ›Körper‹ in eine weitere und komplexere Situation von größerer wechselseitiger Abhängigkeit verwickelt wird« (ders., Erfahrung und Natur, a. a. O., 272). Dewey, Die menschliche Natur. Ihr Wesen und ihr Verhalten, mit einem Nachwort neu hg. von Rebekka Horlacher und Jürgen Oelkers, Zürich 2004, 34. Dewey, Körper und Geist, a. a. O., 296. A. a. O., 297 f. Ders., Erfahrung und Natur, a. a. O., 252. A. a. O., 246. Möglicherweise widerstrebt uns Deweys linguistisch-begriffliche Schwelle des Geistes aufgrund unserer Überzeugung, dass einige Tiere und zweifellos Säuglinge ein geistiges Leben haben können, ohne dass sie über Sprache verfügen. Aber dieser Einwand könnte dadurch gemildert werden, dass Dewey ihnen noch ein Seelenleben zuspricht (Gefühle, Wahrnehmungen und intentionale Handlungen), welches dem Psychophysischen zugehört. Darüber hinaus ließe sich Deweys Sprachvoraussetzung auf Formen nonverbaler Körpersprache ausdehnen: es ließe sich dafür argumentieren, dass höhere Tiere und Säuglinge darüber verfügen. Was wir jedenfalls nicht behaupten sollten, ist, dass in der Entwicklung des Säuglings vom psychophysischen Verhalten zum diskursiven Sprachgebrauch ein radikaler Wechsel des ontologischen Status stattfindet. Der Säugling bleibt ein empfindungsfähiger, natürlicher Organismus, der schon immer die Entfaltungsmöglichkeit sprachlichen Denkens in sich trägt. James, Principles of Psychology, a. a. O., 1082 – 1085. John Dewey, The Theory of Emotion, in: Early Works, Bd. 4, 157. A. a. O., 174. James, Principles of Psychology, a. a. O. 1167 f. A. a. O., 1177. A. a. O., 429. John Dewey, The Ego as Cause, in: Early Works, Bd. 4, 91, 94. A. a. O., 93. A. a. O., 95. Ders., Die menschliche Natur, a. a. O., 20 f. Ders., Philosophien der Freiheit, in: ders., Philosophie und Zivilisation, a. a. O., 266 – 291: 268. Kapitel 6 | 325

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Dewey, Die menschliche Natur, a. a. O., 25 f. Wenn die Gewohnheiten, die das Selbst konstituieren, auch die Umgebung verkörpern, folgt hieraus, dass das Selbst teilweise ein Umweltprodukt ist. Unsere Körper, ebenso wie unsere Gedanken, verkörpern unsere Umgebungen und gehen dabei über die herkömmlichen Körpergrenzen hinaus, um seine grundlegenden Bedürfnisse nach Atmung und Nahrung zu befriedigen. Die ethischen und sozialen Konsequenzen dieses Punkts werden am Ende des Kapitels diskutiert. Experimente haben gezeigt, dass die eigene mentale Wahrnehmung willentlicher Anstrengung auf motorischen Befehlen beruht und physiologisch zum Ausdruck kommt. Bei der bloß geistigen Vorstellung einer Handlungsdurchführung werden, ohne tatsächlich die Handlung zu vollziehen, muskuläre und andere physiologische Reaktionen aktiviert, die mit der entsprechenden Anstrengung verbunden wären, einschließlich einer »Veränderung der Herzfrequenz«. Sogar die Lokalisierung eines Gegenstandes im Raum, den man greifen will, schließt die simulierte Erfahrung einer »Muskelwahrnehmung« von »Bewegungen, die notwendig wären, um diesen zu greifen«, ein. Siehe Alain Berthoz, The Brain’s Sense of Movement, übers. von G. Weiss, Cambridge 2000, 31 f., 37. Siehe F.M. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 22, 89. Alexander beschreibt am besten den Prozess der Selbstprüfung und Selbstkorrektur, die zur Entdeckung seiner Theorie und Technik im dritten seiner Bücher führte, in: ders., Der Gebrauch des Selbst, Basel/Freiburg 2001. Sein erstes Buch war Mans’ Supreme Inheritance, dessen Erstausgabe in England 1910 veröffentlicht wurde. Darauf folgte Die konstruktive bewusste Kontrolle des individuellen Menschen (Basel/Freiburg 2006). Alexanders letztes Buch, das im Wesentlichen eine Neuformulierung früherer Ideen darstellt, heißt Die Universelle Konstante im Leben (Basel/Freiburg 2001). Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 204. Ders., Die konstruktive bewusste Kontrolle, 91 – 93; ders., Gebrauch des Selbst, a. a. O., 57 ff. Ders., Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 57 – 72, 89, 189. Corliss Lamont, Dialogue on John Dewey, New York 1959, 27. Siehe auch Deweys Brief an Joseph Ratner vom 24. Juli 1946, zitiert in Rockefeller, John Dewey, a. a. O., 343. Dewey nahm auch bei anderen Lehrern der Technik, die von Alexander und seinem Bruder ausgebildet worden waren, Unterrichtsstunden. Siehe Frank Jones, Body Awareness in Action, a. a. O. Dewey, Die menschliche Natur, a. a. O., 27 f. A. a. O., 28. A. a. O., 29, 31. Siehe Jones, Body Awareness in Action, a. a. O., 104 – 105, der auch beschreibt, wie einige von Deweys Kollegen seine »naive« Anhänglichkeit an Alexanders Theorie »belächelten« und als einen Urteilslapsus oder sogar als »Aberglauben« ansahen (98). Dewey gibt zwar zu, dass Alexander »in den Bereichen Physiolo326 | anmerkungen

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gie, Anatomie oder Psychologie […] sich stets von beeindruckenden Wortgebäuden technisch-wissenschaftlicher Terminologie distanziert«, doch interpretiert er dies als Tugend intellektueller »Aufrichtigkeit und Gründlichkeit«, die seinen wissenschaftlichen Status nicht gefährde. Stattdessen argumentiert er dafür, dass »Alexanders Lehre im wahrsten Sinn des Wortes wissenschaftlich ist«, was »die Konsequenz in der Ausführung« zeigen würde, die »experimentell durch Beobachtungen verifiziert werden« könne, und durch die Weise, in der diese Folgen von den »generellen Prinzipien« seiner Theorie logisch ableitbar sind; so würde sie »den strengsten wissenschaftlichen Anforderungen gerecht« (Dewey, Einführung, a. a. O., IX f., XXII). James, Principles of Psychology, a. a. O., 1128, sowie ders., The Energies of Men, a. a. O., 1225 – 1226. Einem Freund gestand er, »von Natur aus zu introspektiv zu sein, weswegen ich lernen musste, die Richtung zu kontrollieren, die diese einschlägt«. Dewey drückt besonderes Unbehagen gegenüber »autobiographischer Introspektion aus […] da sie nicht gut für mich ist«. Brief an Scudder Klyce, zitiert in Rockefeller, John Dewey, a. a. O., 318. Deweys Vorstellung davon, die Richtung der Introspektion kontrollieren zu können, legt eine sinnvolle Differenzierung zwischen diszipliniertem somatischen Nachdenken zwecks Selbsterkenntnis und nicht kontrolliertem persönlichen Grübeln über das eigene Leben nahe. Dewey, Einführung, a. a. O., XXIII f. Ders., The Later Works. 1925 – 1953, Carbondale 1981 ff., Bd. 6, 318. Alexander, Die konstruktive bewusste Kontrolle, a. a. O., 113, 92, 98. Ders., Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 35. Ders., Middle Works, a. a. O., Bd. 11, 351 f.; ders., Later Works, a. a. O., Bd. 6, 318. Ebd. Siehe Benjamin Libet, Unconscious Cerebral Initiative and the Role of Conscious Will in Voluntary Action, in: Behavioral and Brain Sciences 8 (1985), 529 – 566 (Zitate S. 529, 536); ders., The Neural Time-Factor in Perception, Volition, and Free Will, in: Revue de Métaphysique et de Moral 2 (1992), 255 – 272; ders., Do We Have Free Will?, in: Journal of Consciousness Studies 6 (1999), 47 – 57; ders., Can Conscious Experience Affect Brain Activity?, in: Journal of Consciousness Studies 10 (2003), 24 – 28; sowie P. Haggard und B. Libet, Conscious Intention and Brain Activity, in: Journal of Consciousness Studies 8 (2001), 47 – 63. In den Worten Dōgens heißt das, »um nach der Perle [der Erleuchtung] zu streben, sollten wir die Wellen still werden lassen«, weil die Perle im bewegten Wasser schwer zu erkennen ist. Siehe Dōgen, Manual of Zen Meditation, übersetzt von Carl Bielefeld, Berkeley 1988, 183. Ebd., 181. Alexander, Die konstruktive bewusste Kontrolle, a. a. O., 93. A. a. O., 94. Ders., Gebrauch des Selbst, a. a. O., 59. Obwohl ich dies aus meiner eigenen Erfahrung mit der Alexander-Technik weiß, Kapitel 6 | 327

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zitiere ich aus einer dies bestätigenden E-Mail-Nachricht (vom 26. März 2003) von Galen Cranz, einer Praktikerin der Alexander-Technik, die für mich auch ihre Kollegen konsultierte. Cranz ist Autorin des schönen Buchs The Chair. Rethinking Culture, Body, and Design, New York, 2000, das anhand der Grundsätze Alexanders eine scharfe und kritische Analyse dieses Alltagssitzgegenstandes vornimmt, der, obwohl er so harmlos zu sein scheint, für unsere Haltung und Gesundheit überraschend schädlich sein kann. Ders., Gebrauch des Selbst, a. a. O., 59 Rudolph Magnus, Körperstellung. Experimentell-physiologische Untersuchungen über die einzelnen bei der Körperstellung in Tätigkeit tretenden Reflexe, über ihr Zusammenwirken und ihre Störungen, Berlin 1924. Alexander sprach kein Deutsch und musste sich auf Erklärungen und Übersetzungen seiner medizinischen Freunde verlassen, um einen Eindruck von diesem Buch zu gewinnen, das erst 1987 in der englischen Übersetzung erschien. Dewey, Later Works, a. a. O., Bd. 6, 317. Magnus, Körperstellung, a. a. O., 653. A. a. O., 4. Magnus bemerkt, dass ein Tier ohne intakte Großhirnrinde, aber mit einem funktionierenden Zentralapparat sich selbst aufrichten, instinktiv gehen und Reflexreaktionen auf Außenstimuli geben kann, nicht aber spontane Handlungen initiieren kann, die Magnus »spontane Bewegungen« nennt; »Außenstimuli sind jedes Mal erforderlich, um das Tier in Bewegung zu versetzen« (ders., Körperstellung, a. a. O., 4). Dewey, Later Works, a. a. O., Bd. 6, 316 f. Siehe Moshe Feldenkrais, Der Weg zum reifen Selbst. Phänomene menschlichen Verhaltens, aus dem Engl. von Bringfried Schröder, hg. und mit Anm. vers. von Robert Schleip, Paderborn 1994. In einem Brief an Frank Jones beispielsweise beschreibt Dewey Alexanders negative Haltung gegenüber wissenschaftlichen Testverfahren als Produkt »früherer hartnäckiger Vorurteile – deren Herausbildung oder Langlebigkeit in jeder anderen Theorie ohne weiteres verständlich wäre – außer in seiner eigenen.« Siehe Jones, Body Awareness in Action, a. a. O., 105. Eine neuere Biographie über Dewey weist darauf hin, dass Dewey es schaffte, die Macy-Stiftung davon zu überzeugen, eine wissenschaftliche Untersuchung der Alexander-Technik finanziell zu unterstützen, dass sich aber Alexanders Brüder weigerten zu kooperieren und die Initiative ablehnten. Siehe Thomas C. Dalton, Becoming John Dewey: Dilemmas of a Philosopher and a Naturalist, Bloomington 2003, 233. Alexander, Die konstruktive bewusste Kontrolle, a. a. O., 27. Ders., Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 56. A. a. O., 41. A. a. O., 90 – 92. A. a. O., 199. Prinzipiell könnte man bewusst, aber indirekt jene somatischen Funktionen kontrollieren, derer wir uns nicht bewusst sind, wenn solche Funk328 | anmerkungen

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tionen auf grundlegende und stabile Weise mit Funktionen verknüpft sind, derer wir uns tatsächlich bewusst sind und die wir bewusst kontrollieren können. In dem Abschnitt »Notes and Instances« am Ende von Man’s Supreme Inheritance scheint Alexander diese Möglichkeit indirekter Kontrolle anzuerkennen, während er zugleich zugibt, dass »es vielleicht nicht möglich ist, direkte Kontrolle« über jeden Körperteil (z. B. »jeden einzelnen Teil der inneren Organe«) und jede Körperfunktion (z. B. »die niederen automatischen Funktionen«) auszuüben. Gleichwohl stellt er nicht in Frage, dass man sich all dieser Körperteile und -funktionen direkt bewusst werden kann (vgl. a. a. O., 291 – 292). Siehe John Dewey, Qualitative Thought, in: Later Works, a. a. O., Bd. 5, 243 – 262, sowie ders., Logic. The Theory of Inquiry, Carbondale 1984, 12, 73 – 76. Zu einer kritischen Diskussion seiner Argumentation, dass solches qualitativ unmittelbares Gefühl notwendigerweise der Kohärenz unseres ganzen Denkens unterliegt, siehe Shusterman, Practicing Philosophy. Pragmatism and the Philosophical Life, New York 1997, 162 – 166. Dewey, Die menschliche Natur, a. a. O., 56. A. a. O., 128 f. A. a. O., 56. A. a. O., 102 f. Ders., Later Works, a. a. O., Bd. 6, 319. Ders., Middle Works, a. a. O., Bd. 11, 352. Sieh J. R. Lackner und Paul A. DiZio, Aspects of Body Self-Calibration, in: Trends in Cognitive Science 4 (2000), 282. Lackner und seine Kollegen verweisen auch auf die Beteiligung anderer Körperteile an der körperlichen Orientierung. Ihr »Rotisserie-Experiment« demonstriert, dass wenn dem Probanden gewöhnliche Anhaltspunkte des Seh- und Gleichgewichtssinns entzogen werden, indem dieser im Dunkeln horizontal auf einer Maschine rotiert, der Berührungsdruck auf verschiedenen Körperteilen sehr unterschiedliche Wahrnehmungen körperlicher Orientierung erzeugt: Druck auf dem Hintern zum Beispiel führte zum Sinneseindruck des Sitzens und des Drehens, Druck auf den Füßen zu dem des Kippens und vertikalen Drehens. Siehe auch Berthoz, The Brain’s Sense of Movement, a. a. O., 106, der bemerkt, wie der Reflex von Tieren, sich wieder aufzurichten, durch Druck auf die Flanken unterbunden werden kann. Siehe A. Kavounoudias, R. Roll, und J.-P. Roll, Foot Sole and Ankle Muscle Inputs Contribute Jointly to Human Erect Posture Regulation, in: Journal of Physiology, 532.3 (2001), 869 – 878. Ebd., 870. Neben seinem Engagement für Alexanders Arbeit an der aufrechten Haltung war Dewey intensiv eingebunden in die empirische Forschung des Entwicklungspsychologen Myrtle McGraw zum kindlichen Erwerb des aufrechten Gangs. Diese Beziehung wird genauestens bei Dalton beschrieben in: Becoming John Dewey, a. a. O., Kap. 9 und 10, der behauptet, dass Dewey »die Beherrschung des aufrechten Gangs als »die Geburtsstunde des Forschens« ansah, weil diese Kapitel 6 | 329

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die neurologischen Grundlagen zur Entwicklung des Bewusstseins gelegt habe und die Fähigkeit zu konstruktiver und ausgeglichener Problemlösung und den »Schritt und die Gangart [als Voraussetzung] für rudimentäre Messmethoden« ermöglicht habe (a. a. O., 200, 208). Im Gegensatz zu vergleichbaren somatischen Disziplinen wie Feldenkrais und Bioenergetik konzentriert sich die Alexander-Technik auf Übungen der Aufwärtsbewegung und vertikale Positionierungen. Obwohl viele Körpertherapeuten der Alexander-Technik heute mit Patienten arbeiten, indem diese auf einem Behandlungstisch liegen (eine Position, die auf sinnvolle Weise bestimmte Probleme des gewöhnlichen Drucks der Schwerkraft und verfestigter Gewohnheiten in Haltung, Bewegung und Denken abfedert), vermeiden puristische Vertreter der Technik die Anwendung der Bauchlage, die von F. M. Alexander und seinem Bruder A.R geächtet wurde, weil sie glaubten, dass diese Position der gesteigerten Aufmerksamkeit, Kontrolle und Rationalität nicht gerade zuträglich wäre. Stattdessen legten sie eine unbewusste Übertragung durch Hypnose und Psychoanalyse nahe. In Alexanders vertikaler und aufsteigender Somatik stellt es eine Kardinalssünde dar, sich »herunterzuziehen«. Paradigmatisch für die Alexander-Technik ist eine Übung, bei der der Schüler sich mühelos aus einer aufrechten Sitzposition erheben solle, während er sich bewusst auf das somatische »Mittel-wodurch« konzentriert. Wenn die Übung korrekt durchgeführt wird, vermittelt sie (manchmal beschrieben als ein »Sich-heraus-Denken aus dem Stuhl«) das Gefühl, durch Ausübung der rationalen, erhebenden Kräfte des Geistes mühelos die herabziehenden Kräfte der Schwerkraft zu überwinden. Siehe Alexander, Die konstruktive bewusste Kontrolle, a. a. O., 107; Jones, Body Awareness in Action, a. a. O., 6 – 8, 76, sowie meine vergleichende Methodenanalyse der Alexander-Technik, des Feldenkrais-Ansatzes und der Bioenergetik im 7. Kapitel (Die somatische Wende in der heutigen Kultur) in: Shusterman, Leibliche Erfahrung in Kunst und Lebensstil, a. a. O., 141 – 168. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 284; ders., Die konstruktive bewusste Kontrolle, 106. Ders., Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 124 f. A. a. O., 124 – 125. Später behauptet Alexander: »Je niedriger die Stufe der evolutionären Entwicklung, innerhalb bestimmter Grenzen, desto größer der Anklang von Musik und Tanz« (a. a. O., 165). A. a. O., 72. Dewey teilte definitiv nicht Alexanders radikalen Rassismus. In seinem politischen Engagement als einer der Begründer der 1909 gegründeten National Association for the Advancement of Colored People kommt ein bewunderungswürdiger Einsatz für Afroamerikaner zum Ausdruck. Doch widmete er dem Thema Rassismus nicht viel philosophische Aufmerksamkeit, abgesehen von seinem Aufsatz Racial Prejudice and Friction (Middle Works, a. a. O., Bd. 13, 242 – 254. Manche Texte Deweys weisen eine scharfe Trennung zwischen dem Denken Zivilisierter und »Wilder« auf, die heute als rassistisch angesehen wer330 | anmerkungen

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den könnte, obwohl Dewey diesen Unterschied keinen angeborenen Merkmalen zuschrieb, sondern »reaktionären Institutionen« so genannter ›wilder Gesellschaften‹ (a. a. O., Bd. 9,41). Auf rassistische Aspekte im Denken Deweys weist Shannon Sullivan hin in: Re(construction) Zone, in: Dewey’s Wake: Unfinished Work of Pragmatic Reconstruction, Albany 2003, 109 – 127. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 144. Dewey, Middle Works, a. a. O., Bd. 11, 352. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 135 f. Dewey, Middle Works, a. a. O., Bd. 11, 352. Vielleicht hielten Dewey Beweggründe der Freundschaft und Dankbarkeit davon ab, Alexanders einseitige Betonung eines hemmenden, reflektierenden, rationalen Körperbewusstseins zu kritisieren, doch es stieß ohnehin angesichts von Deweys persönlicher Tendenz, seine Leidenschaften strikt zu kontrollieren, bei ihm auf große Resonanz. Es ist bemerkenswert, dass Dewey spezifische Kritik an frei zum Ausdruck kommendem »körperlichen Handeln« und »emotionalen Ausbrüchen« genau zu der Zeit schrieb, in der er damit kämpfte, sein eigenes leidenschaftliches körperliches Begehren nach der jungen polnischen Schriftstellerin Anna Yezierska, die ihn aufsuchte und um ihn warb, unter Kontrolle zu halten, was ihn zu einem dichterischen Ausbruch inspirierte, in dem er sich selbst traurig als »verstopften Brunnen« bezeichnete. Siehe das Gedicht »Two Weeks«, in: Jo Ann Boydston (Hg.), The Poems of John Dewey, Carbondale 1977, 16. An anderer Stelle in diesem Gedicht über seine Beziehung mit Yezierska drückt Dewey sein körperliches Begehren und dessen Verdrängung durch sein »kaltes Herz« und seinen »klaren Kopf« aus: »Ich sehe das Atmen deines Körpers / Die Wölbung deiner Brust / Und höre warme Gedanken brodeln / …Während ich im Wunder versinke / Überkommt es mich wie ein Donnergroll / Aus meinem drängenden Blut / …Verzichte, verzichte; / Der Horizont ist zu fern, um ihn zu greifen. / Alles muss aufgegeben werden. / Die Lippen am trockensten, wenn der Becher überschäumt« (»I see your body’s breathing / The Curving of your breast / And hear the warm thoughts seething / …While I am within this wonder / I am overcome as by thunder / Of my blood that surges / …Renounce, renouce; / The Horizon is too far to reach. / All things must be given up. / Driest the lips, when most full the cup« (a. a. O., 15 f.). Dewey, Erfahrung und Natur, a. a. O., 286. Alexander, Man’s Supreme Inheritance, a. a. O., 22. A. a. O., X, 11, 236. A. a. O., 155, 188. Alexander bestätigte später erneut diesen Punkt: »Ich bin bereit zu beweisen, dass die Mehrheit aller körperlichen Defekte hervorgerufen wird durch von dem Patienten willentlich ausgeführte Handlungen, unter dem Einfluss falscher vorgefasster Ideen und daraus folgender Wahnvorstellungen und bewusst oder öfter unterbewusst vollzogen, und dass diese Gegebenheiten durch denselben Willen verändert werden können, angeleitet durch die richtige, vom Lehrer eingegebene Auffassung« (a. a. O., 216). Kapitel 6 | 331

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Dewey, Later Works, a. a. O., Bd. 6, 319. A. a. O., Bd. 16, 119. Siehe a. a. O., 112 – 115. Dewey expliziert seine transaktionale Perspektive auf den Menschen so, dass »alle Verhaltensweisen [des Menschen], einschließlich seiner fortgeschrittensten Kenntnisse, nicht allein als seine eigenen [begriffen werden], nicht einmal in erster Linie, sondern als Vorgänge im Gesamtzusammenhang Organismus-Umwelt« (LW 16, 97). Shannon Sullivan setzt Deweys Begriff des Transaktionalen geschickt ein, mit spezieller Aufmerksamkeit auf feministische Fragen, in: dies., Living Across and Through Skins: Transactional Bodies, Pragmatism, and Feminism, Bloomington, 2001, wo auch ein Kapitel über Somästhetik aus feministischer »transaktionaler« Perspektive zu finden ist. Ralph Waldo Emerson, Kunst, a. a. O. Vgl. auch ders., Civilization, in: Society and Solitude, New York 1904, 27: »Du hast einen Zimmermann auf einer Leiter mit einer breiten Axt gesehen, der Späne von einem Balken über ihm hackt. Wie ungeschickt! Wie unvorteilhaft er arbeitet! Aber sieh ihn auf dem Boden, sein Bauholz unter sich bearbeitend. Jetzt sind es nicht seine schwachen Muskeln, sondern es ist die Schwerkraft, die ihn seine Axt senken lässt; das heißt, der Planet selbst spaltet seinen Stock.« Emerson hebt typischerweise die natürlichen kosmischen Mächte wie die Schwerkraft hervor, die eine Kraft genialisch wirken lassen, die »unsere persönliche« Macht übersteigt. Aber wir sollten auch die Mächte der Gesellschaft und der kulturellen Traditionen als Teil einer mehr-alspersönlichen »unendlichen Kraft« mit bedenken, die zustande kommen kann und das bloße Individuum in ein Genie galvanisiert und verwandelt. Wang Yangming, Instructions for Practical Living, in: A Source Book in Chinese Philosophy, hg. und übers. von Wing-tsit Chan, Princeton 1963, 675 (wo er bezogen auf diesen Punkt ausdrücklich Cheng Hao zitiert), 685, 690; sowie Cheng Hao selbst bei Chan, a. a. O., 530. Siehe Menzius, The Doctrine of the Mean, in: a. a. O., 108; W. Dobson, Mencius, Toronto 1963, 144.

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