Kritische Gesamtausgabe: Band 1 Jugendschriften 1787-1796 9783110839500, 9783110085945

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Kritische Gesamtausgabe: Band 1 Jugendschriften 1787-1796
 9783110839500, 9783110085945

Table of contents :
Einleitung der Herausgeber
I. Das Projekt einer Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe
II. Gliederung der I. Abteilung (Schriften und Entwürfe)
III. Allgemeine editorische Grundsätze für die I. Abteilung (Schriften und Entwürfe)
IV. Besondere Grundsätze für die Edition von Handschriften
Einleitung des Bandherausgebers
I. Historische Einführung
Die frühen literarischen Pläne und Unternehmungen Schleiermachers
Schleiermachers Manuskripte der Jahre 1787–1796
II. Editorischer Bericht
Jugendschriften 1787–1796
Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8–9 (1788)
Übersetzung von Aristoteles: Nikomachische Ethik 8–9 (1789)
Über das höchste Gut (1789)
Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Vermutlich 1789)
Freiheitsgespräch (1789)
Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Übersetzung und Anmerkungen) (1789)
Über das Naive (1789)
An Cecilie (Vermutlich 1790)
Notiz zur Erkenntnis der Freiheit (Zwischen 1790 und 1792)
Über die Freiheit (Zwischen 1790 und 1792)
Entwurf zur Abhandlung über den Stil (1790/91)
Über den Stil (1790/91)
Über den Wert des Lebens (1792/93)
Abschrift und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2,86–93 (Vermutlich 1793)
Über den Geschichtsunterricht (1793)
Philosophia politica Platonis et Aristotelis (1794)
Spinozismus (Vermutlich 1793/94)
Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94)
Über das jenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betrifft, und besonders über seine eigene Philosophie (Vermutlich 1793/94)
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Namensregister

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe I. Abt. Band 1

W DE G

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Herausgegeben von Hans-Joachim Birkner und Gerhard Ebeling, Hermann Fischer, Heinz Kimmerle, Kurt-Victor Selge

Erste Abteilung Schriften und Entwürfe Band 1

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1984

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Jugendschriften 1787-1796

Herausgegeben von Günter Meckenstock

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1984

CIP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Schleiermacher, Friedrich: Kritische Gesamtausgabe / Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Hrsg. von Hans-Joachim Birkner . . . — Berlin ; New York : de Gruyter NE: Schleiermacher, Friedrich: [Sammlung] Abt. 1, Schriften und Entwürfe. B d . l . Jugendschriften 1787—1796 / hrsg. von Günter Meckenstock. - 1983. ISBN 3-11-008594-1

Copyright 1983 by Walter de Gruyter & Co., Berlin — Printed in Germany. Alle Rechte des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, auch auszugsweise, vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin · Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Inhaltsverzeichnis Einleitung der Herausgeber

VII

I. Das Projekt einer Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe II. Gliederung der I. Abteilung (Schriften und Entwürfe) . . III. Allgemeine editorische Grundsätze für die I. Abteilung (Schriften und Entwürfe) IV. Besondere Grundsätze für die Edition von Handschriften

IX XIII

Einleitung des Bandherausgebers

XVII

I. Historische Einführung Die frühen literarischen Pläne und Unternehmungen Schleiermachers Schleiermachers Manuskripte der fahre 1787—1796 . . . . 1. Anmerkungen zu Aristoteles: Nik. Ethik 8—9 . . . . 2. Übersetzung von Aristoteles: Nik. Ethik 8-9 . . . . 3. Uber das höchste Gut 4. Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft . . 5. Freiheitsgespräch 6. Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Übersetzung und Anmerkungen) 7. Über das Naive 8. An Cecilie 9. Notiz zur Erkenntnis der Freiheit 10. Über die Freiheit 11. und 12. Entwurf zur Abhandlung über den Stil und Über den Stil 13. Uber den Wert des Lebens 14. Abschrift und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2,86—93 15. Über den Geschichtsunterricht 16. Philosophia politica Piatonis et Aristotelis 17. Spinozismus 18. Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems . . . .

VII VIII

XVII XVII XXXII XXXII XXXVI XL XLII XLIII XLVIII XLIX LH LIII LIV LIX LXII LXVI LXIX LXXII LXXV LXXX

VI

Inhaltsverzeichnis 19. Über dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betrifft, und besonders über seine

Jugendschriften

1787—1796

Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8—9 (1788) . . . . Übersetzung von Aristoteles: Nikomachische Ethik 8—9 (1789) . . . . Über das höchste Gut (1789) Notizen zu Kant: Kritik der praktischen Vernunft (Vermutlich 1789) Freiheitsgespräch (1789) Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Übersetzung und Anmerkungen) (1789) Über das Naive (1789) An Cecilie (Vermutlich 1790) Notiz zur Erkenntnis der Freiheit (Zwischen 1790 und 1792) Über die Freiheit (Zwischen 1790 und 1792) Entwurf zur Abhandlung über den Stil (1790/91) Über den Stil (1790/91) Über den Wert des Lebens (1792/93) Abschrift und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2,86-93 (Vermutlich 1793) Uber den Geschichtsunterricht (1793) Philosophia politica Piatonis et Aristotelis (1794) Spinozismus (Vermutlich 1793/94) Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems (Vermutlich 1793/94) Über dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betrifft, und besonders über seine eigene Philosophie (Vermutlich 1793/94)

1 45 81 129 135

Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Namensregister

599 601 606

165 177 189 213 217 357 363 391 473 487 499 511 559

583

Einleitung

der

Herausgeber

I. Das Projekt einer Kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe Eine historisch-kritische Ausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Schleiermachers bildet seit langem ein Desiderat. Bislang gibt es nur von einzelnen Schriften und von Teilen des Briefwechsels Ausgaben, die den Grundsätzen einer kritischen Edition genügen. Die alte Gesamtausgabe, nach der die meisten seiner Schriften, Vorlesungen und Predigten bis heute zitiert werden, stammt aus den Jahren 1834—1864. Diese Ausgabe der „Sämmtlichen Werke", die schon gegenüber ihrer eigenen Planung Lücken aufweist, ist unvollständig und unzulänglich. So berücksichtigt sie von den Druckschriften jeweils nur die letzte Auflage, die Schleiermacher besorgt hat. Sein literarischer Nachlaß ist in ihr nur teilweise und zumeist in völlig ungenügender Weise ediert worden. Umfängliche Nachlaßbestände (Manuskripte, Nachschriften, Briefe und biographische Materialien) harren im Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR noch der editorischen Erschließung. Nicht viel besser steht es im Blick auf Schleiermachers Briefwechsel, der in den Sämtlichen Werken nicht enthalten ist. Die umfänglichste und am häufigsten zitierte Ausgabe liegt vor in der vierbändigen Sammlung „Aus Schleiermachers Leben. In Briefen" (1858—1863), die der Ergänzung und der Revision in höchstem Maße bedürftig ist. Bei den von Schleiermacher geschriebenen Briefen, wie auch bei den Nachschriften von Vorlesungen und Predigten sind Umfragen und Nachforschungen nötig, um verstreute Materialien zu erfassen. Der empfindliche Mangel an einer kritischen Schleiermacher-Gesamtausgabe hat in unserem Jahrhundert bereits zwei Vorstöße ausgelöst. 1927 haben auf Initiative Hermann Mulerts mehr als 40 prominente Gelehrte, die ein beachtliches Spektrum sowohl der akademischen Fächer als auch der damaligen philosophischen und theologischen Richtungen repräsentierten, eine entsprechende Eingabe an die Preußische Akademie der Wissenschaften gerichtet. Die Eingabe zielte auf eine Gesamtausgabe, deren erste Bände zu Schleiermachers 100. Todestag im Jahre 1934 erscheinen sollten. Der Plan ist damals an finanziellen Schwierigkeiten gescheitert. Das gleiche Schicksal erlitt eine neuere Planung, die 1961 im Rahmen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften beraten worden ist. In der Theologie ist das Fehlen einer zureichenden SchleiermacherAusgabe in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend empfunden und zur

Einleitung der Herausgeber

VIII

Geltung gebracht worden im Zusammenhang mit dem starken Aufschwung, welchen die Schleiermacher-Forschung vor allem im deutschen Sprachbereich und in den USA in diesem Zeitraum erfahren hat. Bedenkt man die Vielseitigkeit von Schleiermachers geistigem Schaffen, vergegenwärtigt man sich seine geschichtliche Stellung in der Zeit der Frühromantik, des deutschen Idealismus, der preußischen Erhebung und der Restauration und berücksichtigt man seine Wirkung nicht nur in der seitherigen Theologie, sondern ebenso in Philosophie und Pädagogik, so wird zugleich deutlich, daß die Bedeutung einer solchen Ausgabe weit über die Theologie hinausreicht. Die Kritische Gesamtausgabe (KGA), deren erste Bände (1/7.1 u. 2) 1980 erschienen sind, ist seit 1972 geplant und vorbereitet worden. Daß diese Planung möglich wurde, ist der Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zu danken, ferner dem Verlag de Gruyter, dem Nachfolger des Verlags G. Reimer, in dem die meisten von Schleiermachers Schriften, auch die Ausgabe der Sämtlichen Werke, erschienen sind. Seit 1979 wird das Editionsvorhaben auch durch die Schleiermach ersehe Stiftung im Zusammenwirken mit der Evangelischen Kirche der Union und dem Land Berlin gefördert. Geplant ist eine historisch-kritische Gesamtausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels. Ihre Gliederung in die folgenden 5 Abteilungen richtet sich nach den literarischen Gattungen in Schleiermachers Werk, wobei den einzelnen Abteilungen jeweils auch der handschriftliche Nachlaß zugewiesen wird: I. Schriften und Entwürfe II. Vorlesungen III. Predigten IV. Übersetzungen V. Briefwechsel und biographische

Dokumente.

Die Editionsarbeit wurde mit den Bänden der I. Abteilung begonnen; inzwischen ist auch die Arbeit an der V. Abteilung aufgenommen worden. Die Einleitung der Herausgeber, die zuerst im Band 1/7.1 veröffentlicht wurde (Abschnitte I—III), ist für den Abdruck im vorliegenden Band 1 redigiert worden.

II. Gliederung

der I. Abteilung

(Schriften

und

Entwürfe)

Die I. Abteilung, für die bewußt ein allgemeiner Titel gewählt worden ist, enthält sämtliche von Schleiermacher im Druck veröffentlichten Schriften, sofern sie nicht aufgrund ihres Genus in die Abteilungen III und IV gehören; ferner die mit diesen Druckschriften zusammengehörigen handschriftlichen Materialien (z.B. Notizen in Handexemplaren); schließlich die

Allgemeine

IX

editorische Grundsätze für die I. Abteilung

von Schleiermacher nicht veröffentlichten handschriftlichen Arbeiten und Entwürfe, soweit sie nicht aufgrund ihres Genus in eine andere Abteilung gehören. Der Aufbau der Abteilung folgt den biographischen Abschnitten; die Schriften der Jahre 1807—1834 sind in den Bänden 6—13 unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefaßt. Die Abteilung gliedert sich in die folgenden 13 Bände: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13.

Jugendschriften Schriften aus der Schriften aus der Schriften aus der Schriften aus der

1787-1796 Berliner Zeit 1796—1799 Berliner Zeit 1800—1802 Stolper Zeit (1802-1804) Hallenser Zeit (1804-1807).

Schriften aus der Berliner Zeit von 1807—1834: Universitätsschriften. Kurze Darstellung des theologischen diums 1. und 2. Auflage Der christliche Glaube 1. Auflage Exegetische Schriften Kirchenpolitische Schriften Theologisch-dogmatische Abhandlungen Akademieabhandlungen und verschiedene Schriften Über die Religion (2.—) 4. Auflage Der christliche Glaube 2. Auflage.

Stu-

Band 7, die 1. Auflage der Glaubenslehre, die seit mehr als 150 Jahren nicht mehr gedruckt worden ist, wurde zuerst veröffentlicht, und zwar in 3 Teilbänden. Dieser Band, bei dessen Erstellung die zu befolgenden editorischen Grundsätze entwickelt worden sind, hat für die Bände der I. Abteilung die Funktion eines Musterbandes.

III. Allgemeine

editorische Grundsätze für die I. (Schriften und Entwürfe)

Abteilung

Diese Grundsätze haben für die Edition der Bände der I. Abteilung eine Rahmenfunktion. Für die besonderen editorischen Probleme, die bei den einzelnen Bänden auftreten, sind jeweils differenzierende und ergänzende Regelungen nötig. 1. Historische Einführung und Editorischer

Bericht

Der Edition der Druckwerke und Handschriften wird jeweils eine Einleitung der Bandherausgeber vorangestellt, die eine Historische Einführung

X

Einleitung der Herausgeber

und, soweit erforderlich, einen Editorischen Bericht umfaßt. Die Historische Einführung gibt Auskunft über die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Druckwerks oder der Handschrift(en). Gegebenenfalls wird über die unmittelbare Rezeption (Rezensionen, Reaktionen von Zeitgenossen etc.) berichtet. Der Editorische Bericht erläutert und begründet die Gestaltung der Ausgabe, soweit sie sich nicht aus den allgemeinen editorischen Grundsätzen für die I. Abteilung ergibt.

2. Textgestaltung und textkritischer Apparat a) Schreibweise und Zeichensetzung der zu edierenden Originaldrucke oder Handschriften werden grundsätzlich beibehalten. Das gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise, wo es häufig eine Ermessensfrage darstellt, ob eine irrtümliche Schreibweise vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung von Zeichen (z.B. für Abkürzungen und Auslassungen), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, stillschweigend vereinheitlicht. Die für Fußnoten gebrauchten Verweiszeichen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben, die innerhalb einer Texteinheit (Kapitel etc.) durchgezählt werden. b) Offenkundige Druck- oder Schreibfehler und Versehen werden im Text korrigiert. Im Apparat wird — ohne weitere Angabe — die Schreibweise des Originals angeführt. c) Wo der Zustand des Textes eine Konjektur nahelegt, wird diese mit der Angabe „Kj ..." im Apparat vorgeschlagen. Wo bereits Konjekturen vorliegen, werden diese unter Nennung des jeweiligen Urhebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift mitgeteilt. Wird eine solche Konjektur übernommen, so wird das durch die Angabe „Kj (auch NN 00) ..." kenntlich gemacht.

3. Sachapparat a) Von Schleiermacher gegebene Zitate und Verweise werden im Sachapparat nachgewiesen. Dabei wird nach Möglichkeit sowohl die von Schleiermacher benutzte Ausgabe als auch eine heute gängige Ausgabe angeführt. Bei Verweisungen Schleiermachers auf eigene Werke wird entsprechend verfahren; sie werden zitiert nach der von ihm benutzten Ausgabe und nach der besten gegenwärtig vorhandenen Aus-

Allgemeine

editorische Grundsätze für die

I.Abteilung

XI

b) Abweichungen der Zitate Schleiermachers von den zitierten Quellen werden nur in denjenigen Fällen vermerkt, in denen eine Änderung des Sinns eintritt. Der Vermerk erfolgt in der Form:,,Statt. .. Q

;

· · · "

Auslassungen, die von Schleiermacher auf unterschiedliche Weise kenntlich gemacht worden sind, werden einheitlich durch 3 Punkte gekennzeichnet; die von Schleiermacher benutzten Auslassungszeichen werden jeweils im editorischen Bericht mitgeteilt. Auslassungen, die erst der Herausgeber kenntlich macht, werden durch 3 Punkte in eckigen Klammern gekennzeichnet. Wenn es sich um eine Auslassung zu Beginn eines Satzes handelt, dann wird ggf. Schleiermachers Großschreibung in Kleinschreibung geändert und die Änderung im textkritischen Apparat verzeichnet. c) Bibelstellen werden nur dann nachgewiesen, wenn eine förmliche Bezugnahme auf biblische Sätze (z.B. „Johannes sagt . . .") oder ein „verstecktes Zitat" vorliegt, nicht aber bei geläufigen biblischen Wendungen. d) Wenn Texte, auf die Schleiermacher verweist, gegenwärtig schwer zugänglich sind, werden sie auszugsweise in einem Anhang zitiert. Der Verweis im Sachapparat erfolgt durch ,,s. Anhang" nach der Nennung von Autor und Kurztitel, sofern nicht Schleiermacher selbst bereits Autor und Titel nennt. Der Seitenwechsel innerhalb eines Zitats wird in der Regel nicht eigens kenntlich gemacht. Anomalien (Druckfehler etc.), die sich in diesen Texten finden, werden nicht korrigiert, sondern durch ein Ausrufezeichen in eckigen Klammern kenntlich gemacht. e) Zu Anspielungen Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. Zu Anspielungen wird nur in besonders begründeten Fällen ein Textauszug im Anhang gegeben.

4. Verzeichnisse und Register a) Jeder Band erhält ein Abkürzungsverzeichnis, das die Apparate des Bandherausgebers entlastet. Es bietet die Auflösung sämtlicher Zeichen und Abkürzungen, die von Schleiermacher und vom Bandherausgeber benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. b) Jeder Band erhält ein Literaturverzeichnis, in dem sämtliche Schriften mit bibliographisch genauer Angabe aufgeführt werden, die

XII

Einleitung der Herausgeber

in Schleiermachers Text sowie in den Apparaten und, in der Einleitung des Bandherausgebers genannt sind. Bei denjenigen Werken, die im Rauchschen Auktionskatalog der Bibliothek Schleiermachers aufgeführt sind, wird nach dem Titel in eckigen Klammern die Angabe „Rauch" mit der jeweiligen Seitenzahl und Nummer des Katalogs hinzugefügt. c) Das Namensregister jedes Bandes verzeichnet alle historischen Personen, die in diesem Band genannt sind. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer Personen. d) Ein R egister der Bibelstellen erhalten diejenigen Bände, bei denen es von den Texten her sinnvoll ist.

5. Druckgestaltung a) Satzspiegel. Es werden untereinander angeordnet: Text des Originaldrucks oder der Handschrift ggf. mit Fußnoten, textkritischer Apparat, Sachapparat. b) Schriftgrößen. Die im Originaldruck gebrauchten unterschiedlichen Schriftgrößen werden in der Regel entsprechend wiedergegeben. c) Schriftarten. Der Text des Originaldrucks bzw. der Handschrift wird recte wiedergegeben. Zitate, die bei Schleiermacher auf unterschiedliche Weise kenntlich gemacht sind (Anführungsstriche, Kursivsetzung, Antiqua, lateinische Schrift) werden einheitlich durch Anführungsstriche kenntlich gemacht, mit Ausnahme der griechischen Zitate. Sämtliche Zutaten des Herausgebers werden kursiv gesetzt. d) Hervorhebung. Wo Schleiermacher einzelne Worte durch Sperrung, durch Kursivsetzung oder auf andere Weise hervorgehoben hat, wird dieser Sachverhalt einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht. e) Die Seitenzahlen des Originaldrucks werden auf dem rechten Seitenrand angegeben; im Text (auch in Fußnoten) wird die Stelle des Seitenumbruchs durch einen senkrechten Strich zwischen zwei Wörtern bzw. Silben angegeben. Soweit es möglich ist, wird bei Handschriften entsprechend verfahren. Wenn in Einzelfällen die Angabe eines Zeilenumbruchs nötig wird, geschieht das durch einen nach rechts fallenden Schrägstrich (/). f) Beziehung der Apparate auf den Text. Sie erfolgt beim textkritischen Apparat dadurch, daß die Bezugswörter (Lemmata) mit Zeilenangabe wiederholt werden. Kommt in einer Zeile das gleiche Bezugs-

Besondere Grundsätze für die Edition von Handschriften

XIII

wort mehrfach vor, wird ein zusätzliches Bezugswort angeführt. Die Bezugswörter werden durch eine abschließende eckige Klammer (Lemmazeichen) von der folgenden Mitteilung abgegrenzt. Beim Sachapparat wird die Bezugsstelle durch Zeilenangabe bezeichnet.

IV. Besondere Grundsätze für die Edition von Handschriften 1. Textgestaltung und textkritischer Apparat Grundsätzlich werden der Wortlaut, die Schreibweise und die Zeichensetzung der Quelle geboten. Im einzelnen gelten für die Transkription folgende Regeln: a) Es wird die letztgültige Textgestalt des Manuskripts wiedergegeben. Alle Belege für den Entstehungsprozeß (wie Streichungen, Korrekturen, Umstellungen) werden im textkritischen Apparat — nach Möglichkeit gebündelt — mitgeteilt. b) Zusätze zum ursprünglichen Text, die von Schleiermacher eindeutig einverwiesen sind, werden in den laufenden Text eingefügt. Sie werden mit der Formel „mit Einfügungszeichen" und mit Angabe des ursprünglichen Ortes im Manuskript im textkritischen Apparat nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Textzusammenhang einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten — vom übrigen Text deutlich abgesetzt — unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. c) Häufig vorkommende Abbreviaturen (Kontraktionen, Kürzel, Chiffren, Abkürzungen), deren Sinn eindeutig ist, werden im Text stillschweigend aufgelöst. Dabei wird die übliche Schreibweise Schleiermachers zugrunde gelegt. Diese Abbreviaturen werden mit ihren Auflösungen im Editorischen Bericht aufgeführt. Jedoch bleiben geläufige Abkürzungen (z.B., z.E., d.h., h.e., usw.) im Text erhalten; sie werden im Abkürzungsverzeichnis mit ihren Auflösungen zusammengestellt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und η wird stillschweigend ausgeschrieben. Abbreviaturen, die nicht für sich, wohl aber durch Kontext oder Vorlage eindeutig aufzulösen sind, werden im Text aufgelöst. Der textkritische Apparat weist den Bestand des Manuskripts nach.

XIV

Einleitung

der

Herausgeber

Abbreviaturen, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für" gemacht. d) Fehlende Wörter und Zeichen werden in der Regel im Text nicht ergänzt. Fehlende Wörter, die zum Textverständnis unentbehrlich sind, werden im textkritischen Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl" angegeben. Müssen Satzzeichen ergänzt werden, so werden sie im Text in eckige Klammern eingeschlossen. Ein Abkürzungspunkt wird von Schleiermacher in vielen Fällen zugleich in der Funktion des Satzzeichens verwendet; in solchen Fällen wird bei der Auflösung der Abkürzung diese Funktion berücksichtigt und das Satzzeichen stillschweigend gesetzt. Ferner werden fehlende Umlautstriche stillschweigend ergänzt, ebenso Punkte am Satzende, auf die Schleiermacher am Zeilenende verzichtet hat. Wo Schleiermacher in fremdsprachigen Zitaten die diakritischen Zeichen (z.B. Akzente, Spiritus-Zeichen) nicht gesetzt hat, werden diese nicht ergänzt. e) Hat Schleiermacher Umstellungen von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen, so wird mit der Formel „umgestellt aus" die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen oder Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen" angegeben. f ) Streichungen. Hat Schleiermacher im Manuskript Wörter oder Buchstaben gestrichen, so wird das Gestrichene im textkritischen Apparat in Winkelklammern mitgeteilt und entweder an das vorangehende Bezugswort des Textes mit der Formel „folgt" angeschlossen (Beispiel: auf ] folgt (sich)) oder durch Bezug auf das, was an seine Stelle getreten ist, mit der Formel „über" mitgeteilt (Beispiel: auf] über {neben}). Am Anfang eines Absatzes oder eines Satzes findet in der Regel die Formel „davor" Anwendung. Hat Schleiermacher Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Wortund Satzteile in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. Abbreviaturen in gestrichenen Textpassagen werden nach der o.a. Regel 1c behandelt, wobei Angaben des Herausgebers in eckige Klammern gesetzt werden. Belangvolle Änderungen Schleiermachers in Passagen, die er schließlich gestrichen hat, werden, um einen zweiten textkritischen Apparat zu vermeiden, in eckigen Klammern mit den entsprechenden Erläuterungen mitgeteilt. g) Korrekturen Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus" angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus

mein).

Besondere Grundsätze für die Edition von Handschriften

XV

h) Unsichere Lesarten werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: LnochlJ eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder" angegeben (Beispiel: Lauchl] oder LnochlJ. Bei unsicheren Lesarten, zu denen frühere Texteditionen eine abweichende, ebenfalls erwägenswerte Lesart bieten, wird diese unter Nennung des jeweiligen Herausgebers und der Seitenzahl seiner Ausgabe oder Schrift mitgeteilt. Nicht entzifferte Wörter werden durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. i) Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare Stufen im Entsteh ungsprozeß vor, so werden sie wie folgt nachgewiesen: Ms.: b* Drucktext:

-fi *

L l

J Μ

^ f t i ^

'Λ*..

f ^ V v

f y -

Im Ich bildet sich alles organisch und alles hat seine Stelle.

App.: Im . . . hat] (1) Im Gemüth hat alles (2) Im (über der Zeile: Ich) hat alles (3) Im Ich (am Rand mit Einfügungszeichen: bildet sich alles organisch und,) alles (über der Zeile mit Einfügungszeichen: hat,) Keine eigene Mitteilung erfolgt, wenn beim Übergang aus der früheren in die spätere Stufe ein Wort gestrichen oder korrigiert worden ist; dieses ergibt sich aus dem Vergleich der Stufen. Bei einem besonders verwickelten und unübersichtlichen Textbestand können die verschiedenen Entstehungsstufen auch jeweils vollständig aufgeführt werden. j) Bei Exzerpten Schleiermachers, die nicht immer wörtlich sind, wird die Übereinstimmung von Sätzen oder Halbsätzen mit dem Original durch einfache Anführungszeichen (,') kenntlich gemacht. Hat Schleiermacher selbst Anführungszeichen gesetzt, so stehen doppelte Anführungszeichen („"). Werden von ihm bei Zitaten die Anführungszeichen an jedem Zeilenanfang wiederholt, bleibt dies stillschweigend unberücksichtigt. k) Überlieferungslücken. Ist ein Manuskript nur bruchstückhaft überliefert, so wird der Überlieferungsverlust innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Ein umfangreicherer Überlieferungsverlust wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat.

XVI

Einleitung der

Herausgeber

2. Sachapparat a) Im Sachapparat werden außer den Nachweisen in der Regel nur solche Erläuterungen gegeben, die zum Verständnis des Textes unerläßlich sind. b) Zu Exzerpten Schleiermachers wird in der Regel kein Sachapparat geboten. Wo Schleiermacher den exzerpierten Text mit Anmerkungen und Kommentaren versehen hat, gelten die üblichen editorischen Grundsätze. c) Zu von Schleiermacher gestrichenen Passagen, die im textkritischen Apparat mitgeteilt sind, bietet der Sachapparat nur dann Erläuterungen, wenn sie unerläßlich sind.

3.

Druckgestaltung a) Schriftarten. Schleiermachers Manuskripte sind überwiegend in deutscher Schrift geschrieben. Es finden sich aber auch Wörter und Textstücke in lateinischer Schrift. Beide Schriftarten werden einheitlich in Antiqua-Drucktypen wiedergegeben. b) Hervorhebungen, die Schleiermacher überwiegend durch Unterstreichung vollzogen hat, werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht. c) Die Seiten- bzw. Blattzählung wird auf dem rechten Seitenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht von Schleiermacher, so wird sie kursiv gedruckt. Im Namen der Herausgeber Hans-Joachim Birkner

Einleitung

des

Bandherausgebers

Der vorliegende Band „Jugendschriften 1787—1796" enthält 19 Manuskripte Schleiermachers aus dem Nachlaß, die hier zumeist erstmals vollständig veröffentlicht werden. Nur vier dieser Manuskripte waren bisher vollständig publiziert. Einige hatte Wilhelm Dilthey auszugsweise bekannt gemacht, einige beschrieben oder erwähnt. Sechs Manuskripte waren bisher gänzlich unbekannt.

I. Historische

Einführung

Da einerseits nicht alle literarischen Arbeiten Schleiermachers erhalten sind und da andererseits Predigten, Übersetzungen und biographische Dokumente nicht in diesen Band aufgenommen werden, soll der Einführung in die einzelnen Manuskripte eine Übersicht über Schleiermachers verschiedene literarische Arbeiten in diesem Zeitraum vorangeschickt werden.

Die frühen literarischen Pläne und Sch leiermach ers

Unternehmungen

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher wurde am 21. November 1768 in Breslau geboren als zweites Kind und ältester Sohn des reformierten Feldpredigers Gottlieb Schleiermacher (1727—1794) und dessen erster Ehefrau Katharina Maria, geb. Stubenrauch (1736—1783). Nach seiner Kindheit in Breslau und Pleß bzw. Anhalt (Oberschlesien) besuchte Friedrich Schleiermacher 1783—1785 das Pädagogium der Herrnhuter in Niesky (Lausitz) und daran anschließend deren Seminar in Barby an der Elbe. Im Frühjahr 1787 brach er auf eigenen Wunsch seine Studien im herrnhutischen Barby ab und siedelte ins Hallenser Haus seines Onkels und Paten Samuel Ernst Timotheus Stubenrauch (1738—1807) über, der damals Rektor am Reformierten Gymnasium war und in diesem Amt auch Vorlesungen an der Friedrichs-Universität hielt. Zwei Jahre, vom Sommersemester 1787 bis einschließlich des Wintersemesters 1788/89, studierte Schleiermacher1 in Halle Theologie (besonders 1

Zitatnachweise und Belegverweise Schleiermacher.

ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich

XVIII

Einleitung des

Bandherausgebers

bei Samuel Mursinna und August Hermann Niemeyerj und Philosophie (bei Johann August Eberhard). Seine Hallenser Studentenzeit wurde durch das wissenschaftliche Vorbild Eberhards und durch seine Freundschaft mit Carl Gustav von Brinckmann (1764—1847) geprägt, der seit Herbst 1787 nach herrnhutischer Erziehung ebenfalls in Halle studierte und den Schleiermacher wohl mit einem (nicht erhaltenen) Aufsatz zur Religionstheorie2 begrüßte. Beide wirkten anregend auf Schleiermachers literarische Pläne. Schleiermacher plante damals eine literarische Tätigkeit in drei verschiedenen Richtungen. Seine Aristoteles-Studien drehten sich um die „Nikomachische Ethik" und zielten auf deren Übersetzung und Erläuterung mittels Anmerkungen ab. In „Philosophischen Versuchen"3 wollte er bestimmte Themen systematisch abhandeln. „Kritische Briefe"4 sollten einzelne Materien in lockerer Form neu und originell darstellen. Schon in Halle begann er, seine Pläne ins Werk zu setzen. Zu den Aristoteles-Studien kam der Anstoß von Eberhard. Einen Teil der Eberhardschen Gedanken zur „Nikomachischen Ethik" arbeitete Schleiermacher zu Anmerkungen aus und legte sie ihm zur Durchsicht vor. Diese Anmerkungen zum 8. und 9. Buch5, die im Nachlaß erhalten sind, sollten, so Schleiermachers Plan, der Anfang zu einer kommentierten Übersetzung der gesamten „Nikomachischen Ethik" werden. In seinen „Philosophischen Versuchen" plante Schleiermacher, durch die Behandlung zentraler Ideen die Formulierung seines eigenen philosophischen Denkens voranzubringen. Er wählte dazu zwar eine zusammenhängende Form, aber keine ganz strenge, sondern eine eher rhapsodische. Diese Form von Berichten und Erzählungen mit einzelnen strengen Argumentationsgängen und daran anschließenden großen Übersichten war in der damaligen literarischen Produktion durchaus verbreitet; sie dürfte bei Schleiermacher vielleicht von Eberhard inspiriert sein. Eberhard lieferte indirekt auch die Veranlassung für diese Abhandlungen. Schleiermacher sah sich nämlich gedrängt, sich die Positionen in dem sich gerade zuspitzenden Kampf der kritischen Philosophie Kants mit der überlieferten Schulphilosophie Wolffischer Prägung, zu der auch Eberhard zählte, vor Augen zu führen und zu durchleuchten. So ist die Auseinandersetzung mit dem Kritizismus gerade unter Beachtung der Argumente der Schulphilosophie das zen2

3 4

5

Vgl. Schleiermachers Brief vom 16. September 1787 an Brinckmann: „Anbei schicke ich Dir die Religion, damit Du Deinen künftigen Unterthan, si Dis placet, kennen lernst." (Briefe 4,3) Briefe 4,17 (Brief vom 22. Juli 1789 aus Drossen an Brinckmann) Briefe 4,7 (Brief vom 27. Mai 1789 aus Drossen an Brinckmann). Diesem Projekt dürfte ein Manuskript zuzurechnen sein, von dem wir nur durch Diltheys knappe Mitteilung wissen: „Briefe über den Ursprung der Verbindlichkeit in den Verträgen entstanden ebenfalls in der Studentenzeit und sind verloren gegangen." (Denkmale 4) Vgl. unten XXXII-XXXVI

Historische

Einführung

XIX

trale Anliegen dieser Abhandlungen. Und zwar galt Schleiermachers Interesse weniger spekulativen, logischen oder ästhetischen Fragen, es war vielmehr ganz von praktisch-philosophischen Fragen in den Bann geschlagen. Dementsprechend untersuchte Schleiermacher in seiner ersten, noch in Halle entstandenen ,,Rhapsodie"6 einen zentralen Begriff der praktischen Philosophie, den des höchsten Gutes1. Andere Abhandlungen dieses Stils folgten nach. Schleiermachers Plan, „kritische Briefe" zu verfassen, wurde besonders von Brinckmann beeinßußt, der selber in dieser Zeit an zwei Gedichtbänden mit zahlreichen Briefen arbeitete8, wobei ihn Schleiermacher durch Korrekturvorschläge und Schreibarbeiten unterstützte9, und der sich mit dem Plan trug, Religionsbriefe zu schreiben10. Ausarbeitungen zu den „kritischen Briefen", bei denen Schleiermacher offensichtlich an eine Zusammenarbeit mit Brinckmann dachte11, sind nicht erhalten. Im Mai 1789 verließ Schleiermacher Halle und siedelte zu seinem Onkel Stubenrauch nach Drossen bei Frankfurt/Oder über, wo der Onkel im Herbst 1788 eine Ρfarrstelle übernommen hatte. Die Drossener Zeit bis März 1790 ist für Schleiermacher reich an Lektüre und literarischem Schaffen. Gleich zu Beginn sehen wir ihn in Gedanken mit allen drei Plänen beschäftigt. Am 27. Mai, dem Tag nach seiner Ankunft in Drossen, schrieb er an Brinckmann: „Dann werde ich auch erst anfangen können die Aristotelische Theorie von der Gerechtigkeit zu bearbeiten, und zugleich meine Gedanken darüber aufzusezen. Bis dahin haby ich ja, wie Du weißt, Beschäftigungen genug. Denn mit meinen Versuchen ist es mir völliger Ernst; was aus den kritischen Briefen werden wird, muß die Zeit lehren. Die Idee ist mir so lieb und hat wirklich so viele gute Seiten, daß es schade wäre sie ganz aufzugeben; aber jetzt kann ich nur so gelegentlich manches vorarbeiten."12 Da Schleiermacher zunächst keinen Aristoteles-Text der Nikomachischen Ethik zur Hand hatte, schrieb er im Genus der „Versuche" zwei „Freiheitsgespräche", denen er einen Aufsatz „über das Verhältniß der Aristotelischen Theorie von den Pflichten zu der unsrigen"13 und dann ein drittes „Freiheitsgespräch" folgen ließ14. Vorbereitet auf die „Freiheitsgespräche" hatte sich Schleiermacher besonders durch eine intensive Kant-Lektü6 7 8

9 10 11 12 13 14

Unten 106,37 Vgl. unten XL-XLII Brinckmann ließ die beiden Gedichtbände in der Gräffschen Buchhandlung unter seinem Pseudonym „Selmar" erscheinen: Gedichte von Selmar, 2 Bde, Leipzig 1789. Vgl. Briefe 4,4f Vgl. Briefe 4,25 Vgl. Briefe 4,7.20 Briefe 4,7 Briefe 4,19 Vgl. unten XL1U-XLVU

XX

Einleitung

des

Bandberausgebers

re, von der seine erhaltenen Notizen zu einigen Stellen der„Critik der praktischen Vernunft" noch Zeugnis ablegen15. Leider sind die beiden ersten „Freiheitsgespräche" und der Aufsatz zu Aristoteles verlorengegangen. Eberhard, dem Schleiermacher über Brinckmann das erste „Freiheitsgespräch" und den Ρ flieh ten-Aufsatz vorgelegt hatte16, hat vermutlich den Aristoteles-Aufsatz nie an Schleiermacher zurückgeschickt11. Nachdem Schleiermacher im Spätsommer sein Bemühen um Aristoteles mit der Übersetzung des 8. und 9. Buchs der „Nikomachischen Ethik"18 und mit einer kommentierenden Exzerpierung des Anfangs der „Metaphysik"19 fortgesetzt hatte, verfaßte er im Herbst 1789 dann noch zwei Aufsätze, die er brieflich erwähnt hat: „ Ueber den gemeinen Menschenverstand, und Ueber das Naive"20; leider ist der erste Aufsatz verlorengegangen, nur der zweite liegt noch vor21. Über Schleiermachers Pläne zu Beginn der Drossener Zeit gibt noch ein Manuskript Auskunft, das jetzt nicht mehr vorhanden ist, das Dilthey aber beschrieben hat, wobei allerdings diese Beschreibung kein ganz präzises und eindeutiges Bild ergibt. „Acht Octavseiten liegen vor, welche in das lebhafte Planmachen und Ausarbeiten dieses Frühjahrs und Sommers 1789 einen Einblick geben. Der Anfang stammt entweder aus den letzten Wochen der Universitätszeit oder aus den ersten Tagen in Drossen. Zuerst ein Entwurf der Abhandlung vom gemeinen Menschenverstand. , Das Amt des gemeinen Menschenverstandes ist die Beziehung weitläufiger Resultate auf die ersten Urtheile — das Orientiren. Diese ersten Urtheile sind solche die nicht bewiesen zu werden brauchen. Nach Aristoteles beruhen sie auf Analogie und Induktion — Widerlegung dieser empiristischen Meinung. Sie beruhn auf dem Selbstbewußtsein. Der gesunde Menschenverstand ist im Praktischen brauchbarer als im TheoretischenAnmerkungen, welche nunmehr folgen, sind, was die Vergleichung ihrer Ziffern beweist, für die Abhandlung über das höchste Gut bestimmt und da nun das erste Gespräch über die Freiheit damals noch nicht geschrieben war (was aus dem Entwurf desselben der später folgt hervorgeht), so ist wohl die Abhandlung über das höchste Gut in die letzten Wochen der Universitätszeit zu versetzen; so erklärt sich auch, daß über diesen Aufsatz allein unter den vorliegenden kein Wort vorkommt. Diese Thatsache ist für Schleiermachers Entwicklung, als Beweis seiner ungemeinen Frühreife, von großer Wichtigkeit. Der Plan zu einer Abhandlung über den sittlichen Grundsatz folgt, in Briefen, ich 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. unten XLII Vgl. Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 10 Vgl. Briefe 4,35 und Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 14. 18 Vgl. unten XXXVI-XL Vgl. unten XLVIIIf Briefe 4,35 Vgl. unten XLIX-LI

Historische

Einführung

XXI

hebe hervor: ,2. Br. in wiefern können wir zu etwas verbunden sein und es doch nicht können. 3. Br. dies bestätigt Plato's Gedanken von der menschlichen Natur. 4. Br. von der Zulänglichkeit des Kant'schen Princips. 5. Br. einzig möglicher Sinn des Princips der Vollkommenheit. 7. Br. Verteidigung unsrer Vorstellung, deren Uebereinstimmung mit der Kant'schen.' — Dann ein Entwurf der kritischen Briefe; ich hebe hervor: ,3. Br. an Theokies: ob ein Deist mit gutem Gewissen Prediger sein könne. 4. Br. an Timoklea, über ihr naives Religionssystem. 6. Br. an Timanth, Weissagung aus dem Charakter eines Kindes. 8. Br. der Patriotismus des Königs ist deswegen so bewunderungswürdig, weil er weder deutsch dachte noch deutsch sprach. Die Sprache ist es, die dem Wort Vaterland Bestimmung giebt. 10. Br. über die sokratische Ironie. Sie ist ein Produkt aus den beiden entgegengesetztesten Geistern, dem enthusiastischen und dem komischen, sowie der ganze Charakter des Sokrates.' — Aus einer späteren Forts.: ,13. Br. über die Art, sich selbst zu beobachten (aus einem Brief an Charlotte). 18. Br. ob die Empfindungen noch stark sein können, wenn man darüber raisonnirt. 24. Beurtheilung der Kotzebueschen Stückec. Nun der Plan des ersten Gesprächs, ein Entwurf der Charaktere, des Eingangs; auch ein Entwurf zur Vorrede der Versuche: ,νοη schriftstellerischen Vulkanen, die wenigstens Steine und Rauch auswerfen, wenn sie mit der Flamme nicht zum Vorschein kommen wollenDas Folgende ist dann später, Anmerkungen zum ersten Gespräch darunter das inzwischen fertig geworden war. "22 Mit Ausnahme der Abhandlung über den gemeinen Menschenverstand, die nicht erhalten ist, sind diese Pläne offenbar nicht verwirklicht worden. Bei den „kritischen Briefendem Gemeinschaftsprojekt mit Brinckmann, scheint das Scheitern nicht nur an Schleiermacher gelegen zu haben. Im Juli 1789 äußerte sich Schleiermacher noch durchaus engagiert: ,,Billig sollt' ich nun aufhören Dich um Deine Zeit zu betrügen, wenn es nicht noch einen Punckt gäbe, der mir sehr am Herzen liegt, und das sind die kritischen Briefe. Je mehr ich fühle, wie ungeschickt ich bis jezt noch bin, etwas zusammenhängend oder nur einiger Maßen systematisch vorzutragen, desto mehr Zutrauen faß' ich zu der Schreibart, deren wir uns in diesen Briefen bedienen könnten, da ich mir es doch einmal nicht ganz ableugnen kann, daß in meinem Köpfchen so manche Ideen sich kreuzen, die vielleicht den Umständen nach in keinem andern Kopf so gefaßt werden konnten, und die dennoch Beherzigung verdienen. Ich konnte mich nur Anfangs in meine jezige Lage gegen die Literatur nicht recht finden, und das benahm mir den Muth. Allein der jezige Zustand der Philosophie und einige gangbare Artikel können mir Stoff genug geben, bis sich diese Lage, die allerdings etwas unangenehm ist, ändert. Ich wäre demnach stark dafür, daß man die Idee nicht fahren ließe, sondern vielmehr auf die besten Mittel zur Ausfüh22

Denkmale 5

XXII

Einleitung des

Bandherausgebers

rung bedacht wäre. An Materie kann es nicht fehlen, und wenn man erst über die ganze Einrichtung überein gekommen wäre, so würde die Hauptsache die seyn, daß man ein Weilchen vorarbeitete, damit es hernach durch keinen Zufall in's Stocken geräth. Auf diese Art könnte, wenn es Bogenweise erscheinen soll, spätestens mit Anfang des neuen Jahres das Erste erscheinen; soll es lieber Stückweise herauskommen, so möchte es sich doch wol bis Ostern verziehen. Doch das alles geb' ich Dir zu überlegen."2* Mit seinen ,,Philosophischen Versuchen" war Schleiermacher nicht zufrieden. Publikationspläne dafür schob er auf die lange Bank. Am 22. Juli 1789 schrieb er an Brinckmann: „Mich hat Deine Warnung klug gemacht, und die projectirten Philosophischen Versuche schicken sich an, in meinem Schreibpult die Jahre der Verfolgung wie jene berühmten sieben Brüder zu verschlafen. "24 Am 8. August ließ Schleiermacher noch ein schärferes Urteil folgen: „Daß Du den Plan der Rel. Br. nicht aufgegeben, freut mich ungemein. Diese beziehn sich auf das menschliche Leben, und der Weg, den Du dabei nimmst, ist selbst bei den jezigen Kriegszeiten sicher; die empirische Psychologie ist in diese Unruhen nicht mit verwickelt, und Du brauchst Dich also um die heftigen Kanonaden in den Provinzen der Metaphysik gar nicht zu kümmern. Meinen Versuchen hingegen bleibt ihr Urtheil unwiderruflich gesprochen. Es ärgert mich sogar schon, daß ich thörigt genug gewesen bin, Dir das erste Freiheitsgespräch zu schicken, — es scheint mir jezt alles daran krude zu seyn."25 Durch den Gegensatz zu Brinckmanns Unternehmen zeigt diese Briefpassage, daß Schleiermachers „Versuche" sich mit metaphysischen Themen beschäftigen, und zwar wohl vornehmlich in praktisch-philosophischer Hinsicht. Um diese „Versuche" wird es dann still. Die zweite Hälfte der Drossener Zeit stand für Schleiermacher nämlich im Zeichen der Vorbereitung auf seine erste theologische Prüfung,26 Ab April 1790 hielt sich Schleiermacher in Berlin auf, um bis Mitte Juli beim reformierten Kirchendirektorium sein Examen abzulegen. Die 23 24 25 26

Briefe 4,20. Vgl. auch Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 9 Briefe 4,17 Briefe 4,25 Vgl. dazu Schleiermachers Brief an seinen Vater vom 23. Dezember 1789: „Auf diese Weise habe ich in Drossen einen großen Theil der Kantischen Schriften wieder durchstudirt; ich habe die moralischen und metaphysischen Schriften des Aristoteles und des Vater Wolfs gelesen, den Xenophon und verschiedene neuere Behandlungen der griechischen Geschichte, den Perefire, das Leben der Elisabeth und manches andere zur Erläuterung dieses Zeitraums, und jetzt, seitdem ich mich bloß mit der Theologie beschäftige, Sack's vertheidigten Glauben, Töllner's vermischte Aufsätze, Michaelis Einleitung und nächstens werde ich Herrn Less's Wahrheit der christlichen Religion in der Ausgabe lesen, die in des Onkels Bibliothek ist. Die neueste habe ich noch nicht gesehen." (Briefe 1,79). Vgl. außerdem Schleiermachers Brief vom 3. Februar 1790 aus Drossen an Brinckmann in Berlin: „Du mußt wissen, daß ich jezt ziemlich fleißig in den traurigen und finstern Abgründen der Theologie herumirre f. . .]". (Briefe 4,45)

Historische

Einführung

XXIII

Schriftstücke, die Schleiermacher im Zuge seiner ersten theologischen Prüfung anfertigen mußte und die im Geheimen Staatsarchiv (jetzt Berlin-Dahlem/ Merseburg) aufbewahrt waren, sind zusammen mit den übrigen seine Prüfung betreffenden Aktenstücken im 2. Weltkrieg verlorengegangen. Es handelt sich um die beiden Hausarbeiten (angefertigt im April und Mai 1790) und die vier Klausurarbeiten, von denen wir nur durch einen Bericht Meisners Kenntnis haben, sowie um die Probepredigt, die in den „Sämmtlichen Werken" unter den nachgelassenen Predigten27 abgedruckt ist. Meisner gibt uns folgende Nachricht: „Mitglieder des Kollegiums waren der Professor Johann Heinrich Ludwig Meierotto, Rektor des Joachimsthalschen Gymnasiums und der Hof- und Domprediger, Oberkonsistorial- und Kirchenrat Friedrich Samuel Gottfried Sack. Ersterer stellte die Themata, eine Erklärung des 5. Kapitels des Galaterbriefes unter besonderer Bezugnahme auf die Lehre von der Freiheit des Christen, in lateinischer Sprache; als deutsche Arbeit: ,Zu welchem Zweck studiert ein künftiger christlicher Lehrer die Polemik, und wie verhütet er den Nachtheil, den dies Studium, wenn es zu weit getrieben wird, haben kann?' Beide Arbeiten mußten innerhalb sechs Wochen abgeliefert werden. Am 20. Mai bestätigt Sack, daß er den letzteren Aufsatz ,mit Vergnügen' gelesen habe; Meierotto hat ihn Anfang Juni durchgesehen. Beide Arbeiten sind im Original erhalten. Die lateinische umfaßt zehn Quartblätter und behandelt den Anlaß des Briefes, die jüdischen Gebräuche, die unter den Christen in Galatien üblich waren, dann die Wahrheit des von Paulus verkündigten Evangeliums; schließlich werden eine Explicatio der einzelnen Stellen des Briefes und eine Auseinandersetzung de libertate christiana hinzugefügt. Die Klarheit der Darstellung bei Knappheit des Umfanges und bei den dem Verfasser zugänglichen Hilfsmitteln ist durchaus für Schleiermacher bezeichnend. In der zweiten, deutsch geschriebenen Arbeit, die den Umfang von vierzehn Quartseiten hat, kann er inhaltlich und stilistisch sich mehr entwickeln. In der Einleitung wird der Standpunkt der beiden streitenden Parteien hervorgehoben, derer, die ihre ganze Glückseligkeit in der Übung der spekulativen Vernunft und im Ringen nach richtiger Erkenntnis der Religion sehen, und derer, denen es am Herzen liegt, das Praktische in dem Gottesbekenntnis zu suchen und die deshalb die Polemik ganz aus der Reihe der theologischen Disziplinen ausscheiden. Die Wahrheit sei in der Mitte zu suchen, und es sei nicht zu verkennen, daß die Polemik den beurteilenden Blick schärfe, erstens in Absicht der Auslegung der heiligen Schrift, zweitens in der Einsicht in den Zusammenhang der kirchlichen Systeme, aus welcher der Lehrer sich ein eigenes Urteil bilden könne. Ein solches sei besonders in der jetzigen Zeit nötig, wo die Einwürfe auch aus dem Laienelement, besonders von philosophischer Seite, gegen die Lehren der christlichen Religion zahlreicher würden. Nur 27

Vgl. SW 11/7,42-53

XXIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

das gereifte Urteil über alle solche Gegensätze führe zu der wahren Toleranz und zu dem Aufgeben eines schädlichen Indifferentismus. Der Stil dieses Aufsatzes ist in richtiger Weise mit Vergleichen und Zitaten oft in blumenreicher Sprache durchsetzt, ohne die scharfe Prägung zu verlieren, die dem logischen Denker schon damals zu eigen ist, und die Offenheit des Wortes läßt das hie und da bemerkbare Schulmäßige in den Hintergrund treten. Außer diesen beiden Arbeiten wurden dem zu Prüfenden einige Themata gegeben, die er in kurzen Ausführungen in der Klausur behandeln mußte. Das waren folgende: ,Was haben wir für das Wesentliche der hebräischen Dichtkunst anzusehen f Welche Streitigkeiten sind in älteren und in neueren Zeiten in Ansehung der natürlichen Kräfte der Menschen zum Guten gewesen? Welches sind die hauptsächlichsten Übersetzungen des Alten Testaments f Welche Art Bücher soll der angehende Theologe gelesen haben, um dem akademischen Kursus mit Erfolg folgen zu können Die Probepredigt über Lucas 5, Vers 29 bis 32, Jesus und den Zöllner, hielt Schleiermacher im Dom am 15. Juli vor dem Hof- und Dom-Ministerium. Sack, Karl Ludwig Conrad und Karl Georg Heinrich Michaelis, die beiden letzteren auch Hofprediger, bildeten das Spruchkollegium und bestätigten in dem Bericht an den König, daß die Stimme und Deklamation gut und die Ausarbeitung mit großem Fleiß gemacht sei. , Wenn wir etwas an derselben zu tadeln gefunden haben,' so fährt der Bericht fort, ,so ist es dies, daß sie mehr eine philosophische Abhandlung als eine populäre Volksrede war, indessen legte sie von seinen Kenntnissen ein sehr vorteilhaftes Zeugnis ab. Da er es auch selbst gefühlt hat, daß er den rechten Kanzelton in dieser Predigt verfehlt, so ist sein ernstlicher Vorsatz, sich bei künftigen Ausarbeitungen vor diesem Fehler viel sorgfältiger zu hüten.c Nach Ablegung des mündlichen Examens wurde Schleiermacher das nachfolgende Zeugnis ausgestellt: Schulstudia überhaupt: sehr gut, Bücherkenntnis: gut, philosophische Kenntnis: recht gut, Kirchengeschichte: sehr gut, Hebräisch: gut, Griechischlesen des Neuen Testaments: gut, Dogmatik: ziemlich, schriftliche Aufsätze in lateinischer Sprache: sehr gut, in deutscher Sprache: vorzüglich.- "28 Ab Mitte Juli bis Anfang Oktober 1790 hatte Schleiermacher freie Zeit, Muße zu Geselligkeit und Schriftstellerei. In diesem kurzen, völlig ungeprägten Zeitraum, in dem Schleiermacher verschiedene Berufsrichtungen bedachte und auch zu ergreifen versuchte (unter anderem scheiterte sein Versuch, Lehramtskandidat im Gedikeschen Seminar zu werden), schrieb er vermutlich unter dem starken Einfluß Brinckmanns seine Briefe ,,Αη Cecilie" nieder.29 Sehr wohl denkbar ist auch, daß er die Arbeit an seinen „Phi28 29

Meisner: Schleiermachers Vgl. unten Lllf

Lehrjahre

46—48

Historische Einführung

XXV

losophischen Versuchen" wieder aufnahm, daß er nämlich mit seiner Abhandlung „Über die Freiheit" begann. Das philosophische Kampfgetümmel zwischen Kantianern und Antikantianern, in das auch Brinckmann durch den Streit zwischen Eberhards „Philosophischem Magazin" und der Jenaer „Allgemeinen Literatur-Zeitung" 1789/90 hineingeraten war, klingt in dieser Abhandlung noch deutlich an, indem Schleiermacher seine eigenen Überlegungen als einen Beitrag zu dieser Auseinandersetzung versteht30, ohne daß er einfach als Parteigänger einer der beiden Seiten angesprochen werden könnte. Der prägende Einfluß Kants auf Schleiermachers Fragestellungen und Denkrichtung ist auch dann unübersehbar, wenn die starken Modifikationen, die Schleiermacher an der Kantischen Philosophie vornahm, anerkannt und gewürdigt werden. Am 3. Februar 1790 schrieb Schleiermacher an Brinckmann: „Alles dies muß Dir ziemlich Anti-Kantisch scheinen, und dennoch kann ich Dich aufrichtig versichern, daß ich von Tag zu Tage mehr im Glauben an diese Philosophie zunehme, und zwar desto mehr, je mehr ich sie mit der Leibnizischen vergleiche."31 Am 22. Oktober 1790 kam Schleiermacher in Schlobitten (Ostpreußen) an. Er hatte durch die Vermittlung seines Examinators Friedrich Samuel Gottfried Sack die Stelle eines Hauslehrers in der gräflichen Familie Dohna (wohl auf Grund seiner herrnhutischen Erziehung) erhalten. Ursprünglich sollte Schleiermacher den älteren Sohn Wilhelm zu Dohna bei dessen Studium in Königsberg begleiten. Aber kurzfristig wurde ihm Unterricht und Erziehung der jüngeren Söhne Louis, Fabian und Friedrich zu Dohna anvertraut. In der Abgeschiedenheit des ostpreußischen Schlosses32 hatte

30 31 32

Vgl. unten 219f Briefe 4,45 Vgl. dazu die Beschreibung, die der Hermsdorfer Pfarrer Johann Christoph Wedeke, dessen Freundschaft Schleiermacher in diesen Schlobittener Jahren erwarb, im ersten Band seiner anonym veröffentlichten Schrift,,Bemerkungen auf einer Reise durch einen Theil Preußens von einem Oberländer" (Königsberg 1803) gegeben hat: „Eine prächtige Eichenalle führet nach Schlobitten, und kündiget einen Bewohner von altem, mannhaftem, teutschem Stamme an, der in einem Grafen zu Dohna zu suchen ist, welcher hier seinen Sitz und um sich her nahe und ferne seine Güter hat. Es ist ein Rittersitz, mit einem Dörfchen dabei. Der Hofplatz ist geräumig und groß, an zwei Seiten von schönen, hohen Tannenreihen umfaßt, die ihm ein hehres Ansehen geben. An den andern Seiten befinden sich der Stall mit seinem Zubehör und andere Dienerwohnungen. Alles in einem soliden, gar nicht kleinlichen Style gebaut. Besonders hübsch ist der Thurm auf dem Stalle, den ich nicht anders als mit dem Thurm auf der Petrikirche in Berlin vergleichen kann. Das einzige Thor, das zu diesem Vorplatze führt, hat gegen sich über das sogenannte große Haus, von zwei Stock, wenn Du willst von drei, auch allenfalls von vieren. Denn die zwei obern Aufsätze, von denen das oberste schon im Dache ist, können, dünkt mich, auch bewohnt werden. Auf beiden Seiten hat es Ausladungen, und nebenbei weitläufige niedrigere Seitenflügel, in denen sich zur Bibliothek eine zweckmäßig gebauete Galerie, eine ähnliche zum Essen, ein Komödien- und Ballsaal und noch verschiedene Wohn-

XXVI

Einleitung

des

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Schleiermacher mannigfaltige Gelegenheit zu Lektüre und Untersuchungen. Sein Tageslauf, wie er ihn in seinem Brief an Heinrich Catel selbst schilderte, ließ ihm genug Zeit zur eigenen Verfügung: „Gewöhnlich steh ich zwischen fünf und sechs Uhr auf, quia aurora musis etc., und im Sommer wird es noch früher geschehen. Diese Zeit his sieben oder etwas später

zimmer befinden. Auf den Geländern des Perrons liegen Sphynxe, stehen Statuen in Riesengröße und, noch sonst schicklich vertheilt, eine Menge Genien von Sandstein, alles recht gut gearbeitet und gar wohl besehenswerth. Mitten auf dem Platze sind auf beiden Seiten recht hohe Obelisken aufgerichtet. Aber alle diese Pracht der Natur, des Geschmacks, der Kunst und des Reichthums sind für mich entweder zu viel oder zu wenig, denn der Raum kommt mir doch zu groß vor. — Zwar liegt der Ort niedrig an dem Bassin eines gewesenen Sees, aber in so viel üppig wachsendem Gebüsch und Obstbäumen, unter so viel Blumen, daß seine Lage mit den schönsten Landhäusern wetteifert. Hättest Du ihn indessen gesehen, da der See noch See war, der itzt Wiese seyn muß, dessen Spiegel blos seiner Klarheit wegen ein wesentliches Stück des Aufputzes unter diesen Meubles der Natur war, wenn in seiner dunkeln Fläche auch die Bäume und Stauden, Häuser und Hecken sich nicht gespiegelt, das Echo auf ihm verstärkt nicht wieder gekommen, und kleine Schiffchen mit und ohne Musik nicht so lieblich im Abendroth auf ihm hätten schwimmen können! Von dem Parterre des Gartens gehet ein gerader Gang nach einem auf der andern Seite des Sees prächtig gebaueten Vorwerk, die Ufer des Sees sind mit einer Brusthecke, und die andere Seite des Ganges mit einer hohen Hecke eingefaßt. Man kann kaum etwas sehen, wo reiche Pracht und liebliche Natur so glücklich gepaart wären. Der Garten selbst ist reich an Abwechselungen von Hecken, geschornen und wilden; von Grotten aller Art, Einsiedeleien, Kolonnaden, Tempeln und Lauben, das doch nur halb verlohren wäre, wenn ich es Dir auch noch so sorgfältig beschreiben wollte. Nun sollte ich Dich wohl ins Haus selbst führen; allein die Menge der Zimmer, der Aufputz und die Pracht würden Dich so verwirren, wie sie mich verwirrt haben. Ich gebe Dir was sich mir am besten eingedrückt hat. Das ist ein Saal, zu welchem man in den zweiten Stock steigen muß, und der durch zwei Geschosse geht. Es ist wahr, die Pracht lagert sich beim Eintritt schwer auf uns, und wird jeden, der nicht eben fürstliche Säle wie Jahrmarktsbuden zu handhaben gewohnt ist, in Staunen setzen. Man erholt sich doch aber mit der Zeit, und fängt an nachzurechnen, was ihn dann so gedrückt und erweitert hat. Hauptsächlich die Größe, das gute Verhältniß und die zwei Reihen Fenster über einander. Von der Geräumigkeit kannst Du Dir eine Vorstellung machen, wenn ich Dir sage, daß ein Landedelmann mir erzählte, daß sein Wohnhaus mit Dach und Wänden in diesem Saal Raum habe; und doch fanden sich in jenem wenigstens sieben Zimmer auch mit einer Art Saal. Gewiß wird uns, wenn wir erst mit dem Eindruck des Ganzen in Richtigkeit sind, die Decke dieses Saals an sich ziehen. Sie ist alfresco gemahlt und stellt in allegorischen Figuren die vier Welttheile vor. Nur in diesem Hause und in Karwinden habe ich Gemähide al fresco gesehen. — Nein, l. Fr., ich habe sie nicht gesehen: ich müßte unter den Decken wohnen, und mit den Figuren, die von einer bessern Sonne bestralt zu seyn scheinen, zusammen leben, um zu lernen, wie es in schönern Welten aussehen mag, wenn ich sie genug gesehen haben wollte. Dann besiehst Du hier zwei Kamine von herrlicher Arbeit in bronzierten Hautreliefs: dann ein Becken, in welches das Wasser aus unsichtbaren Quellen sprudelt, und über demselben al fresco gemahlte Tugenden, die mit dem Namen des Erbauers etwas zu thun haben. Noch besinne ich mich eines Zimmers mit einer gewirkten Tapete, die ich immer für Gobeline halten würde, weil ich noch keine bessere gesehen. Die Farben sind so frisch und brennend, daß jede Pinselfarbe dagegen ermattet. Und doch bleibt die Zeichnung dabei nicht

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Einführung

XXVII

ist meine; dann frühstücke ich auf meinem Zimmer und habe ein wachsames Auge auf das lever meiner jungen Herren, die dann hinunter zum Frühstück und zur Morgenandacht gehen, und ich kann noch arbeiten bis halb neun. Dann kommt Graf Louis und wir haben Geometrie, und von 10 bis 11 französisch mit den Kleinen. Von 11 bis 1 ist meine Zeit; dann verfüge ich mich hinunter in die Zimmer, und man geht 1 Jh an Tafel. Nach der Tafel nimmt man Caffe, prominirt oder macht sich im Haus Bewegung bis 3 Uhr. Von 3—5 Historie und Geographie mit Graf Ludwig. Dann nimmt man Thee, und nach und nach kommt die ganze Familie im Cabinet der Gräfin zusammen. Ich spiele eine Partie Schach mit dem Grafen oder der Generallieutenantin (der Mutter der Gräfin) und die Kinder arbeiten oder zeichnen. So vergeht die Zeit unter nützlichen Gesprächen, oder bei einer schönen Leetüre wo ich gewöhnlich den Vorleser mache. Von 8 bis 9 an Tafel, und eine halbe Stunde darauf geht man auseinander. Ich plaudre noch ein halb Stündchen mit meinem lieben Louis und arbeite noch bis 11. Diese trockne Lebensbeschreibung kann Dir freilich nicht sonderlich behagen, aber ich versichre Dich so sehr ich nur kann, daß ich bei dieser Weise sehr glücklich bin. Uebrigens ist es wirklich eins der ersten Häuser in Preußen und mit vielen großen Familien liirt. Auch hat man hier auf dem Lande alle Annehmlichkeiten der Stadt, gute Gesellschaft in der Nähe und alle Handwerker auf dem Schloßhof selbst."33 In Schlobitten schrieb er wohl den größten Teil seiner Abhandlung „ Über die Freiheit"34. Hier begann er, nach einem ersten Versuch in Dros-

33 34

zurück: sie stellt den Besuch einer Favorite bei ihrem Schach vor. Man kann das Kriechen der armen Schwarzen, welche die Königin auf einem Rollwagen herbei gezogen haben, unter die Fußdecke des Thrones, nicht ohne Lachen ansehen. In einem Zimmer daneben sähe ich Friedrich Wilhelm I. in seiner Jugend, nackend mit seiner Schleuder gemahlt, und noch ein Portrait von einem Feldmarschall Grafen zu Dohna, dem Erbauer des Hauses, beide von Pesne, und beide sehenswerth. In einem andern 7,immer waren die Wände mit schönen Gemählden, von allerlei Meistern aus und nach verschiedenen Schulen, behängt: eine Menge sehr anmuthiger Kamingemähide und Superports. Aber ich kann selbst so wenig von allen Herrlichkeiten sagen, daß ich Dir vielmehr gestehen muß, ich habe nur den Totaleindruck mitgenommen, daß in Schlobitten die Gemähide zu besehen ein belohnender Genuß sey. Doch noch Eins: es ist ein Gartensaal, der gleichfalls durch zwei Stock gehet, wo uns keine Pracht niederdrückt, sondern dessen weisse Wände mit ihren vielen, lichten Fenstern von allen vier Seiten, uns freundlich einladen. An Unterhaltung wirds Dir beim Regenwetter auch nicht mangeln, denn er ist mit kostbaren Kupfern, lauter Naturgegenden, ausgeschmückt. Wenn man den Hof verlassen hat, sieht man an den Gebäuden im Dorfe, durch welches wir itzt kamen, noch immer den Reichthum und den hohen Sinn des Besitzers dieser Güter. Am Ende des Dorfes liegt eine Kapelle unter hohen Bäumen versteckt, ich habe sie inwendig nicht gesehen, weil man mir sagte, daß nichts darin zu sehen sey." (S. 13—20, zitiert ohne Anmerkung) Briefe 3,34 Vgl. unten LIV-LVIII

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Einleitung

des

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sen35 und der Probepredigt in Berlin36, etwas häufiger zu predigen,37 Hier schrieb er für den Unterricht, den er zu erteilen hatte, die grammatisch-hermeneutischen Überlegungen „Über den Stil" nieder.38 Hier verfaßte er schließlich die zur Publikation bestimmte Abhandlung „Über den Wert des Lebens"39, die an die Gedanken einer Predigt anknüpfend doch noch der Reihe seiner „Philosophischen Versuche" zugerechnet werden kann, auch wenn sie in Gedankenführung und Themabehandlung etwas Populär-Erbauliches hat. Nach einem Zerwürfnis mit dem Schlobittener Hausherrn Alexander zu Dohna gab Schleiermacher seine Hauslehrerstelle auf. Er verließ im Mai 1793 Schlohitten und kehrte mit Zwischenaufenthalten in Schlodien und Landsberg (Warthe) am 17. Juni nach Drossen zu seinem Onkel Stubenrauch zurück.40 Von Drossen aus bemühte sich Schleiermacher, eine neue Stelle zu finden. Im August 1793 war er selbst in Berlin, um die nötigen Beziehungen anzuknüpfen bzw. aufzufrischen.41 Durch Vermittlung von Sack wurde Schleiermacher Schulamtskandidat am Seminarium für gelehrte Schulen.42 Am 24. September 1793 siedelte Schleiermacher von Drossen 35

36 37 38 39 40 41 42

Vgl. SWII/7, 13-26. Vielleicht wurde auch die folgende Predigt SW H/7, 27-41 in Drossen gehalten. Die vorangestellte Predigt SW 11/7,3—12 hat der Herausgeber A. Sydow zu Unrecht auf Advent 1789 nach Drossen datiert, sie wurde 3. Advent 1790 in Schlohitten gehalten (s. Briefe 3,36f). Vgl. SW II/7,·42-53 Vgl. SW 11/7,3-12 (s. dazu Briefe 3,36f) und 54-169 Vgl. unten L1X-LXI1 Vgl. unten LXII—LXVI Vgl. Briefe 1,117-119 Vgl. Briefe 1,120 Vgl. dazu Schleiermachers Brief vom 21. September 1793 aus Drossen an seinen Vater: ,, Endlich hatte ich die Post schon bestellt und ging zu Herrn Sack, um Abschied von ihm zu nehmen; da meinte er, ich müsse schlechterdings noch 8 Tage dableiben; er hätte gehört, daß ein paar Vacanzen in Herrn Gedike's Seminarium wären. Wenn ich das annehmen wollte, wollte er gleich an ihn schreiben und er würde mich hernach wohl zu sich bitten lassen; ich sollte auch in der Zwischenzeit einmal predigen, weil er mich noch nicht gehört hätte. Ich predigte in der Woche, weil ich den nächsten Sonntag reisen wollte, und er war mit dem erbaulichen und größtentheils auch mit dem verständlichen Ton recht zufrieden, hat mich auch, wie ich nachher gehört, gegen die andern Hofprediger gelobt. Herr Gedike ließ mich rufen und auch eine doppelte Lection auf dem Friedrich-Werderschen Gymnasio halten und versprach mir nähere Nachricht zu geben. Diese ist nun gestern eingelaufen und demzufolge muß ich in diesen Tagen nach Berlin reisen. Man hat bei dieser Stelle wöchentlich 8—10 Stunden zu geben und außerdem alle Vierteljahre ein paar Abhandlungen einzureichen. Es ist eine Anstalt, die eigentlich zur Bildung künftiger Schulmänner eingerichtet ist und unter Gedike's alleiniger Direction steht. Einnahme ist sehr wenig dabei, nur 120 Rthlr., und keine freie Wohnung, aber man hat viele Gelegenheit durch Stunden Geld zu verdienen, und Sack sowohl als Gedike haben versprochen dafür zu sorgen, daß es mir daran nicht fehlen sollte; auch haben sie mich zum schreiben ermuntert, um mich bekannt zu machen, aber das will mir noch gar nicht weder zu Sinnen noch von der Hand gehn. Bis jetzt habe ich noch keine Wohnung in Berlin und werde solange bei Reinhard logiren, bis

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XXIX

nach Berlin über und nahm zunächst wieder wie schon 1790 Wohnung bei seinem Verwandten Karl August Reinhardt (1718—1811), seit 1752 Prediger an der reformierten Parochialkirche. Später zog er ins Kornmessersche Waisenhaus, wo er gegen Verpflichtung zu Katechisationen freie Unterkunft fand. Schleiermacher hatte in diesem Winterhalbjahr 1793/94 neben seinen dienstlichen Verpflichtungen genug Zeit, die er wie die Sommermonate in Drossen zu privaten Studien nutzte,43 Er lebte in Berlin zurückgezogen.44 Wichtig für seine geselligen Kontakte war, daß Schleiermacher schon im August die unterbrochene freundschaftliche Beziehung zu Brinckmann wieder aufnahm.*5 Brinckmann verschaffte ihm erneut, wie schon früher, die Bücher, die er gerne lesen wollte46, so auch die Jacobischen Schriften zu Spino-

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ich eine gemiethet habe. Daß es mir anfangs kümmerlich gehn wird und daß ich den letzten Rest meiner kleinen Ersparniß augenblicklich drangeben muß, ist wohl sehr klar; inzwischen sehe ich nicht, was anders zu machen wäre, und hoffe doch, daß auch das zum besten ausschlagen wird." (Briefe l,121f) Vgl. Schleiermachers Brief an seinen Vater vom 22. September 1793 aus Drossen unmittelbar vor seiner Übersiedlung nach Berlin: „Ein Vierteljahr ist es beinah, daß ich aus Preußen zurück bin, vier Wochen davon habe ich in Berlin zugebracht, 8 Tage in Landsberg; in den 8 Wochen, welche übrig bleiben, könnte man freilich mehr thun als ich gethan habe; aber es ist auch eine Wahrheit, von der ich immer mehr überzeugt werde, daß man ohne Geschäfte gerade nicht mehr studiren kann, als neben bestimmten Geschäften; denn man hält das einsame sich selbst überlassene Grübeln und Graben doch nur wenige Stunden des Tages aus und ich denke in der nämlichen Zeit in Berlin, wenn ich auch vier Stunden des Tages Information habe, doch eben so viel für mich zu thun als hier, ohne daß ich mich eigentlich rühmen will fleißiger zu sein. Von Amtswegen werde ich mich nun auf philologica legen müssen und meine Privatsorge wird sein, im philosophischen und theologischen Studio nicht zurück zu bleiben. Gedike wollte mich zwar auch dahin bringen, mich ausschließlich dem Schulfach zu widmen; aber ich habe mir auch gegen ihn den Rücken frei gelassen und mich mit den wenigen Aussichten, welche man bei unsrer Confession dabei hat, zu entschuldigen gesucht. Ich werde deswegen auch in Berlin öfter predigen und es ist mir in dieser Rücksicht sehr lieb, daß die drei Hofprediger, welche ich gesprochen habe, mir einige Elogen über meine Anlagen gemacht haben. Das ist so mein Plan; ob ich übrigens dazu schreiten werde etwas zu schreiben, daran zweifle ich noch; ich glaube nicht, daß ich jemals weder ein großer noch ein fruchtbarer Schriftsteller werde." (Briefe 1,123) Auf seine Berliner Zeit 1793/94 zurückblickend schrieb Schleiermacher am 9. Januar 1795 aus Landsberg an den Grafen Wilhelm zu Dohna: „ Zur großen Welt hatte ich natürlich gar keinen Zutritt, für die feine machte mich der Schulstaub noch ungeschickter, als ich schon von Natur bin, und bei der gelehrten hatte ich noch nicht recht Zeit gehabt, mich einzuführen, als ich von meinem Schicksal hierhergeführt ward. Mein Umgang beschränkte sich also auf einige meiner Vorgesetzten, ein paar alte Bekannte meines Vaters f . . .] und ein paar alte Universitätsfreunde [. . .]". (Briefe an Dohna 10) Schleiermacher schrieb am 22. September 1793 an seinen Vater: „Sie waren schon in einem Ihrer letzten Briefe wegen meiner Bedenklichkeiten über Brinkmann unzufrieden. Ich habe ihn nun in Berlin öfter gesprochen und obgleich einiges, so wie ich vermutbete, in ihm verändert ist, indem er beinah ein vollkommener Skeptiker geworden ist, so hat er doch von seinem Eigenthümlichen mehr an sich behalten und von dem mir verhaßten Berlinischen Ton und Wesen weniger angenommen als ich glaubte." (Briefe l,123f) Vgl. ζ. B. Briefe 1,123

XXX

Einleitung

des

Bandherausgebers

za41. Auf Grund dieser Quellen verfaßte Schleiermacher seine Spinoza-Studien: seine Exzerpte und Anmerkungen „Spinozismus"48, seine „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems"49, außerdem seine Exzerpte und Anmerkungen zur Jacobischen Philosophie50. Das Seminarium für gelehrte Schulen war als das erste seiner Art im Jahr 1787 auf Anregung des Direktors des Friedrich wer dersehen Gymnasiums, Friedrich Gedike, vom Königlichen Ober-Schulkollegium gegründet worden. Mit seiner Direktion hatte man Gedike betraut, der 1788 von Friedrich Wilhelm II. bestätigte Instruktionen für die Ausbildung der Lehramtskandidaten verfaßte.51 Danach hatten die jeweils fünf bis acht Lehramtskandidaten, die ihr Jahresgehalt von 120 Talern in vierteljährlichen Raten erhielten, als außerordentliche Lehrkräfte zehn Wochenstunden am Friedrichwerderschen Gymnasium in verschiedenen Fächern und in möglichst vielen der sechs Klassenstufen zu erteilen. Die Lehramtskandidaten mußten in genauer Absprache mit Gedike als ihrem Mentor arbeiten, der das Schwergewicht der Ausbildung in der Entwicklung der pädagogisch-methodischen und der moralisch-psychologischen Fertigkeiten sah. Als künftige Führungskräfte, die ihre jeweilige Fachkenntnis und Fachbegabung nachgewiesen hatten und weiter vertieften, sollten sie sich in allen Bereichen des Schullebens praktikable Grundsätze bilden. Deshalb waren für sie gegenseitige Stundenbeurteilung, Hospitationen bei erfahrenen Fachlehrern, Visitationen des Direktors, Tutorate bei einzelnen schwierigen Schülern, Mitarbeit bei der Durchsicht von Schülerarbeiten und bei der Zensurengebung u. a. vorgesehen. Zur vertiefenden Weiterarbeit waren außerdem zwei monatliche Sozietäten eingerichtet. Am ersten Montag jedes Monats versammelte sich nachmittags normalerweise die pädagogische Sozietät, die aus den Lehramtskandidaten und den Friedrichwerderschen Gymnasiallehrern bestand und in der jeweils zwei der von den Seminaristen vierteljährlich zu liefernden pädagogischen Abhandlungen vorgelesen und besprochen wurden. Aus einem solchen Anlaß schrieb Schleiermacher seine kleine Abhandlung 52 „Über den Geschichtsunterricht" . In der philologischen Sozietät vereinigten sich die Seminaristen unter der Leitung Gedikes, um jeweils einen in lateinischer Sprache verfaßten Aufsatz eines Seminaristen, der vorher im Seminar zirkuliert war, in lateinischer Rede zu erörtern. Seinen Aufsatz in lateinischer Sprache zur Darstellung Aristipps durch Diogenes Laertius53 47 48 49 50 51

52 53

Vgl. Briefe 4,49 Vgl. unten LXXV-LXXX Vgl. unten LXXXf Vgl. unten LXXXI-LXXXIII Vgl. Gedike: Ausführliche Nachricht von dem Seminarium für gelehrte Schulen, in: Gesammelte Schulschriften, Bd 2, Berlin 1795, S. 112—134 Vgl. unten LXIX-LXX11 Vgl. unten LXVI-LXVIII

Historische Einführung

XXXI

brachte Schleiermacher wahrscheinlich als Eintrittsgabe für diesen Kreis im September 1793 aus Drossen mit nach Berlin. Schleiermacher schrieb außerdem für diese Sozietät, nachdem er sich während der Weihnachtsferien im Dezember 1793 und Januar 1794 durch eine Übersetzung der Aristotelischen Politik darauf vorbereitet hatte, seine Abhandlung „Philosophia politica Piatonis et Aristotelis"54. Hinsichtlich der Berufswahl schwankte Schleiermacher zwischen Schulamt und Pfarramt.55 Anfang 1794 meldete er sich schließlich auf Drängen seines Onkels Stubenrauch zur zweiten theologischen Prüfung, die am 31. März 1794 von den Hofpredigern Friedrich Samuel Gottfried Sack, Christian Friedrich Conrad und Ferdinand Stosch abgenommen wurde. Aus den unveröffentlichten und leider verlorengegangenen Prüfungsakten berichtet Meisner: „Schleiermacher erhielt fünf Themata zu einer kurzen schriftlichen Beantwortung in Klausur, an die sich ein Kolloquium anschloß. Es waren folgende: Welches sind die Quellen der Kirchengeschichte der vier ersten Jahrhunderte? Quaenam est significatio vocis πίστις in V. 23, Cap. 14, Epist. ad Rom. ? Quid est Talmud? Übersetzung des 30. Paragraphen aus der ersten Apologie Justins. Welches sind die berühmesten Werke in der Kritik des Neuen Testamentes? Die Beantwortung dieser Fragen nimmt den Raum von nur zwei Folioseiten ein. Das Zeugnis über den Ausfall der Prüfung ist glänzend. Im Hebräischen gut, auch grammatische Kenntnisse, im Griechischen vorzüglich gut, im Lateinischen sowohl im Sprechen als im Schreiben geübt, im Deutsch-Schreiben sehr gut, in Kenntnis der Bibel recht gut, in der Dogmatik hinlängliche Kenntnis, in der Kirchengeschichte sehr gut, in der Übung im Predigen und äußerlichen Gaben: hat oft gepredigt und sehr gute Kanzelgaben; im Katechisieren hat er im Waisenhause Übung erlangt; in der Kenntnis theologischer Bücher sehr gut; in den Wissenschaften hat er sich vorzüglich auf die Philosophie gelegt, auch in mathematischen und in historischen Wissenschaften gute Kenntnisse. In Verhalten und Sitten ist durchaus nichts, was in dieser Rücksicht Tadel verdiente, bekannt geworden. "56 Im April schon wurde Schleiermacher, dem sich die Hoffnung auf diese Stelle bereits im September 1793 eröffnet hatte51, Adjunkt des reformierten Predigers Johann Lorenz Schumann (1719—1795) an der Konkordienkirche in Landsberg an der Warthe. Neben seinen dienstlichen Verpflichtungen (Predigten, Katechisationen, Schulvisitationen) entfaltete er auf Anregung Sacks in Landsberg eine rege Übersetzertätigkeit. Schleiermacher führte in Absprache mit Sack dessen umfängliche Übersetzung der Predigten Hugo 54 55 56 57

Vgl. unten LXXII-LXXV Vgl. Briefe 1,121 Meisner: Schleiermachers Lehrjahre 66 Vgl. Briefe 1,122

XXXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Blairs zu Ende.58 Außerdem begann er wohl schon in Landsberg die Übersetzung der Predigten Joseph Fawcetts.59 Nachdem Schumann im Juni 1795 gestorben war und Schleiermachers Onkel Stubenrauch die vakante Pfarrstelle vom Reformierten Kirchendirektorium erhalten hatte, übernahm Schleiermacher im September 1796 die Predigerstelle an der Berliner Charite.

Schleiermachers

Manuskripte

der Jahre

1787—1796

1. Anmerkungen

zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8—9

In Schleiermachers Nachlaß befinden sich zwei größere Manuskripte, von denen das eine Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch VIII und IX und das andere die Übersetzung dieses Aristoteles-Textes enthält. Schleiermachers eigenhändiges Manuskript mit den Anmerkungen zu Aristoteles ist im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR unter der Nachlaß-Nummer 150/3 archiviert. Es besteht aus zwei ganz verschiedenen Teilen. Der Hauptteil umfaßt in losen Lagen 34 mit Sepia-Tinte beschriebene Oktavblätter von 10,2 cm Seitenbreite und 17,3 cm Höhe. Dieses Manuskript ist ohne Überschrift und ohne Datum. Der Text beginnt mit „Buch VIII. Kapitel 1. Wenn uns auf der einen Seite f . . .]". Schleiermacher hat die Seiten mit ungeraden Ziffern oben rechts mit Tinte paginiert. Außerdem gibt es eine Foliierung mit Bleistift von fremder Hand, beginnend für diesen Manuskriptteil mit,,3Die durch Faltung entstandenen Doppelblätter sind zum Teil paarweise zu Halbbogen ineinander gelegt. Und zwar folgen auf den ersten Halbbogen zwei einzelne Doppelblätter, dann ein Halbbogen, darauf ein Doppelblatt und schließlich vier Halbbogen. Die Seitenkanten des nachgedunkelten Papiers ohne Wasserzeichen sind leicht gezahnt bzw. nicht ganz gerade geschnitten. Dieser Hauptteil liegt in einem von Schleiermacher beschriebenen Umschlagblatt mit der Überschrift „Schlüßel." Es ist ohne Datum. Von diesem durch Faltung entstandenen Doppelblatt hat Schleiermacher nur das Vorderblatt beschrieben, und zwar die Außenseite ganz und die Innenseite zur Hälfte. Das Rückblatt ist unbeschrieben. Die Seitenmaße des Umschlagblatts sind 11,0 cm Breite und 16,8 cm Höhe. Zu diesem Umschlagblatt gehört noch ein einzelnes Blatt, dessen Überschrift „Fortsezung." lau58

59

Blair, Hugh: Predigten, 5 Bde, Leipzig 1781 — 1802; hier Bd 4, aus dem Englischen Ubersetzt von Friedrich Samuel Gottfried Sack und Friedrich Schleiermacher, Leipzig 1795 (Schleiermacher ist der Übersetzer der Predigten 1 — 10 und 18—20.) Fawcett, Joseph: Predigten, aus dem Englischen übersetzt von F. Schleiermacher mit einer Vorrede von F. S. G. Sack, 2 Bde, Berlin 1798

Historische

Einführung

XXXIII

tet. Dieses Blatt hat Schleiermacher nur auf der Vorderseite beschrieben. Der Umschlagbogen und das Einzelblatt haben das gleiche Papier mit Wasserzeichen. Das Vorderblatt des Umschlagbogens ist von fremder Hand unten rechts mit Bleistift als „1" paginiert, das Einzelblatt als „2". Nicht ganz leicht sind die Fragen nach Datierung und nach der zeitlichen Abfolge der Niederschrift von Anmerkungen und Übersetzung zu beantworten. Einen wichtigen Anhaltspunkt liefert der „Schlüßel", der sicherlich jünger ist als die Anmerkungen. In der Vorbemerkung dieses ,,Schlüβ eis" blickt Schleiermacher nämlich auf die ihm vorliegenden abgeschlossenen Anmerkungen mit folgender Charakterisierung: ,,Dies ist ein kleiner Theil der Anmerkungen, wozu Prof. Eberhard den Grund gelegt hat. Die Stellen wobei ein x ist, sind die Hauptideen die er angab mit seinen eignen Worten, das übrige ist Ausfüllung die er mir überließ und nur in manchen Stellen verbessert hat. Da sie sich alle auf Stellen eines gewißen alten Schriftstellers beziehn, so habe ich diese hier soviel zum Verständniß nöthig ist beigefügt. "60 Die insgesamt 16 Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik sind also von Eberhard angeregt und durchgesehen. Da eine direkte briefliche Verbindung zwischen Eberhard und Schleiermacher nach dessen Weggang aus Halle höchst unwahrscheinlich istbl, muß nicht nur die Anregung Eberhards zu diesen Anmerkungen in Schleiermachers Hallenser Studentenzeit liegen, sondern auch die Niederschrift und die Korrektur durch Eberhard. Das Manuskript dürfte demnach 1788 entstanden sein. Diese Vermutung wird durch zwei Anhaltspunkte gestützt. Zum einen erkundigte sich Schleiermachers Jugendfreund Albertini im Juni 1788 brieflich nach dem Stand der Schleiermacherschen Aristoteles-Studien: „Wie geht es Dir denn jetzt in Halle? Ist Professor Eberhard von Halberstadt wieder zurückgekommen, und hast Du schon die Ethik des Aristoteles Deinem löblichen Vorsatz gemäß zu studiren angefangen ? Es muß allerdings ein sehr angenehmes Studiren sein, wenn man dabei den mündlichen Unterricht eines Mannes wie Eberhard ist genießen kann; aber so mag ich gar nicht an den Aristoteles denken. "62 Zum anderen legt der erste Satz von Schleiermachers erläuterndem „Schlüßel" („Dies ist ein kleiner Theil der Anmerkungen, wozu Prof. Eberhard den Grund gelegt hat. "63j es nahe, nach einer Vorlesung Eberhards zur Aristotelischen Ethik zu forschen. In den vier Studiensemestern Schleiermachers (Sommersemester 1787 bis Wintersemester 1788/89) hat Eberhard laut den Ankündigungen der Hallenser Friedrichs-Universität64 60 61 62 63 64

Unten 42,2-7 Vgl. Briefe 4,35 Briefe 3,21 Unten 42,2f Vgl. Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, Bd 22 (Halle 1787), S. 221-232 und 621-633; Bd 23 (Halle 1788), S. 177-189 und 657-671. Die Vorlesungsverzeichnisse für diesen Zeitraum sind verlorengegangen.

XXXIV

Einleitung des Bandherausgebers

keine Vorlesung über Aristoteles gehalten. Wohl aber findet sich für das Sommersemester 1788 die Ankündigung: „Philosophische Moral lehrt um 10 Uhr Herr Prof. Eberhard nach seinem Lehrbuch. [. . .] Ein Examinatorium und Disputatorium wird Herr Prof. Eberhard unentgeldlich halten, um das zu wiederholen, oder weiter aus einander zu setzen, was in den Lektionen vorgekommen ist."65 Eberhard hat offensichtlich in seiner Vorlesung über philosophische Moral ausführlich auf Aristoteles Bezug genommen, und zwar wohl auch bei seinen Erörterungen der Freundschaft. Gut denkbar ist auch, daß Eberhard seine Ausführungen im ,,Disputatorium·." vertieft hat. Schleiermacher hat demnach Bemerkungen Eberhards zur Nikomachischen Ethik, die sich auf das 8. und den Anfang des 9. Buches beziehen, mitgeschrieben, diese verbreitend ausgearbeitet und die saubere Niederschrift Eberhard vermutlich im Rahmen des „Disputatorium" vorgelegt. Eberhards Verbesserungsvorschläge waren vermutlich mündlicher Natur, denn einerseits finden sich keine Schriftzüge von fremder Hand im Manuskript und andererseits steht der Vermutung, das erhaltene Manuskript sei eine Abschrift Schleiermachers nach der Überarbeitung, die Feststellung entgegen, daß es keine echte Reinschrift ist. Der „Schlüßel" gibt noch eine weitere, allerdings indirekte Auskunft. Schleiermacher führt nämlich zu den meisten Anmerkungen die Stellen der Nikomachischen Ethik an, auf die sich seine Überlegungen beziehen bzw. an die sie anknüpfen. Das legt aber die Vermutung nahe, daß zum Zeitpunkt, als Schleiermacher den „Schlüßel" schrieb, er das 8. und 9. Buch der Nikomachischen Ethik noch nicht übersetzt hatte. Hätte seine Übersetzung ihm schon vorgelegen, als er die Anmerkungen niederschrieb, so hätte er sich wohl nur mit Verweisziffern begnügt, um den Textbezug sicherzustellen. Statt dessen gibt er bei jeder Anmerkung an, an welches Kapitel sie anknüpft, und hält es außerdem noch für nötig, sich im „Schlüßel" den genauen Wortlaut und Umfang der entsprechenden Textstelle zu notieren. Diese Vermutung, daß die Ubersetzung in der Reihe dieser Manuskripte das jüngste Glied ist, wird noch durch den Umstand gestützt, daß die im „Schlüßel" vorliegende Übersetzung der betreffenden Aristoteles-Stellen öfters einen etwas anderen Wortlaut hat als die fortlaufende Übersetzung, d. h. daß die Passagen des „Schlüßels" kein Auszug aus der fortlaufenden Übersetzung sind, sondern daß sie als Einzelbelege offensichtlich der durchgehenden Übersetzung vorausliegen. Eine Verwicklung wird allerdings noch durch den Tatbestand herbeigeführt, daß die meisten Anmerkungen nach der Buch- und Kapitelangabe in Klammern noch eine Verweisziffer haben, die den Bezug zur vermutlich späteren Übersetzung Schleiermachers korrekt herstellt. Schleiermacher hat in seiner Übersetzung des 8. Buches der Nikomachischen Ethik 26 Anmer65

Hallische Neue Gelehrte Zeitungen, Bd 23 (Halle 1788), S. 186

Historische

Einführung

XXXV

kungen vorgesehen, die er durch hochgestellte Ziffern an den betreffenden Stellen bezeichnet hat. Diese vorgesehenen Anmerkungen sind nicht alle realisiert. Die uns vorliegenden Anmerkungen umfassen die Nr. 1, 2, 8, 11, 12, 13, 15, 16, 18, 19, 20, 24, 25, 26 zum 8. Buch, außerdem zwei Anmerkungen zum 9. Buch. In der fortlaufenden Übersetzung des 9. Buches hat Schleiermacher allerdings keine Anmerkungen markiert. Der Umstand, daß die Anmerkungen durch Verweisziffern mit der Übersetzung verklammert sind, scheint für ein gegenüber der Übersetzung späteres Entstehen der Anmerkungen zu sprechen. Doch zweierlei steht dagegen. Zum einen ist, abgesehen von den dann überflüssigen Kapitelangaben bei den einzelnen Anmerkungen, doch auffällig, daß Schleiermacher im 8. Buch nur 14 von vorgesehenen 26 Anmerkungen — und zwar in fortlaufendem Text — niedergeschrieben hat und daß seine Anmerkungen wiederum zwei Überlegungsgänge zum 9. Buch enthalten, obwohl dort die Planung von Anmerkungen zumindest nicht durch hochgestellte Ziffern ersichtlich ist. Zum andern läßt die Beobachtung stutzen, daß in verschiedenen Fällen66 Schleiermacher die entsprechende Verweisziffer gar nicht in die vorhandenen leeren Klammern eingetragen hat, sondern daß die zutreffende Verweisziffer erst auf Grund der Angaben des „Schlüßels" bzw. durch einen Vergleich mit der Übersetzung erschlossen werden muß. Gerade die beiden Anmerkungen zum 9. Buch, die auch leere Klammern für die Verweisziffern aufweisen, machen es wahrscheinlich, daß Schleiermacher diese Klammern vorsorglich gesetzt hat, um später Verweiszahlen nachtragen zu können, denn die Übersetzung des 9. Buches hat keine Verweisziffern, und folglich sind die vorhandenen leeren Klammern zumindest durch den jetzigen Textbestand der Übersetzung nicht motiviert. Die Vermutung einer nachträglichen Eintragung der Verweiszahlen wird durch den Manuskript-Befund erhärtet, daß diese Ziffern durchgängig eine viel dunklere Tintenfarbe als ihre Umgebung haben. Wenn man diese einzelnen Beobachtungen summiert, ergibt sich folgendes Bild: Schleiermacher schrieb während seiner Hallenser Studentenzeit, durch Eberhards Vorlesung über philosophische Sittenlehre im Sommersemester 1788 angeregt, Anmerkungen zum 8. und 9. Buch der Nikomachischen Ethik, wobei er Zitate Eberhards benutzte. Schon bei dieser Niederschrift scheint sich Schleiermacher auch mit dem Plan einer späteren Übersetzung getragen zu haben, denn er sah leere Klammern für später nachzutragende Verweisziffern gleich vor. Eberhard sah dieses Manuskript durch und machte gesprächsweise Verbesserungsvorschläge. Nach der Rückgabe des Manuskripts an Schleiermacher notierte sich dieser in einem „Schlüßel" die für jede Anmerkung einschlägige Aristoteles-Stelle und einen 66

Vgl. Anm. 1 (hier fehlt auch die leere Klammer), 11, 16, 18 und die beiden Anmerkungen zum 9. Buch

XXXVI

Einleitung

des

Bandherausgebers

Arbeitsauftrag Eberhards; außerdem, stellte Schleiermacher fest, daß die Seiten 29—36 seines Manuskripts verlorengegangen waren. Dies alles dürfte noch in Halle geschehen sein, denn in Drossen (Mai!Juni 1789) hatte Schleiermacher zunächst keine Aristoteles-Ausgabe zur Verfügung67 und war sodann mit der Aristotelischen Gerechtigkeitstheorie (5. Buch der Nikomachischen Ethik) beschäftigt68. Bei seiner im Sommer 1789 begonnenen fortlaufenden Übersetzung setzte Schleiermacher mit den beiden Büchern der Nikomachischen Ethik ein, zu denen er schon eine Anzahl von Anmerkungen besaß. Die Zahl der für das 8. Buch vorgesehenen Anmerkungen ging allerdings deutlich über seinen Bestand hinaus. In den meisten Fällen trug er die entsprechenden Verweisziffern aus seiner Übersetzung auch in seinen Anmerkungen nach, bei einigen vergaß er es. Die Anmerkungen folgen hinsichtlich der Kapiteleinteilung der Nikomachischen Ethik derselben Texttradition wie die Übersetzung, d. h. sie kennen im 8. Buch 16 Kapitel statt der üblichen 13 Kapitel. Dilthey hat zwar bei seiner Beschreibung der Aristotelischen Studien in den „Denkmalen" besonders aus dem „Schlüßel", aber auch aus den Anmerkungen einiges zitiert, leider aber so, daß die Eigenart dieser so unterschiedlichen Manuskripte und ihr genetischer Zusammenhang keineswegs deutlich wird und daß auch Gewichtung und Gang der Überlegungen in den Anmerkungen vom Leser nicht eingeschätzt werden können. Es bleibt bei einer summarischen und etwas diffusen Beschreibung.69 Die Hallenser Anmerkungen Schleiermachers zur Nikomachischen Ethik (8. und 9. Buch) des Aristoteles nebst dem dazugehörigen „Schlüßel" werden hier erstmals vollständig veröffentlicht.

2. Übersetzung von Aristoteles: Nikomachische Ethik 8—9 Schleiermachers eigenhändiges Manuskript mit einer Übersetzung von Aristoteles: Nikomachische Ethik 8—9 (Nachlaß-Nr. 150/1 u. 2 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt 28 Blätter in losen Lagen. Es ist ohne Überschrift und ohne Datum. Der Text beginnt mit „Achtes Buch. Erstes Kapitel. Wenn auch die Fertigkeit [. . .]". Die Blattzählung mit Bleistift stammt nicht von Schleiermacher. Das nachgedunkelte Papier mit Wasserzeichen hat außen und unten gezahnte Kanten und ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Die obere Kante ist glatt geschnitten. Das Manuskript besteht aus drei Bogen und einem Halbbogen, und zwar sind jeweils vier (bzw. zwei) durch Faltung entstandene Doppelblätter lose 67 68 69

Vgl. Briefe 4,8 Vgl. Briefe 4,7.8.19 Vgl. Denkmale 3f

Historische

Einführung

XXXVII

ineinander gelegt. Das Manuskript ist ohne Rand sauber beschrieben. Es hat Oktav-Format, das allerdings bei den einzelnen Lagen etwas schwankt: 1. Lage 10,6 cm Breite und 17,9 cm Höhe; 2. Lage 10,2 cm Breite und 17,1 cm Höhe; 3. Lage 10,1 cm Breite und 17,6 cm Höhe; 4. Lage 10,3 cm Breite und 17,5 cm Höhe. Das letzte Viertel von Bl.l6v und das letzte Fünftel von Bl. 28ν sind unbeschrieben. Das Papier ist teilweise braunflekkig und etwas durchscheinend. Das Manuskript befindet sich jetzt in einem Umschlagblatt, dessen Vorderseite von Diltheys Hand mit der Aufschrift „Aristotelische Übersetzungen" versehen ist. Die Datierungsfrage läßt sich, wie in der Einführung zu den ,,Anmerkungen" dargestellt, nicht so leicht beantworten. Während Dilthey die Aristoteles-Übersetzung wie auch Schleiermachers Anmerkungen zur Nikomachischen Ethik der Hallenser Studentenzeit zuweist10, legen Briefstellen eine andere Einschätzung nahe, die dadurch noch stärker erhärtet wird, daß sie den verschiedenen Charakter der vorliegenden Materialien zu Aristoteles befriedigend zu rekonstruieren erlaubt. Sicher ist, daß Schleiermachers Anmerkungen und der dazugehörige „Schlüßel" aus der Hallenser Zeit stammen.11 Wie läßt sich dem die vorliegende Aristoteles-Übersetzung zuordnen f Wie bereits erwähnt wurde, muß keineswegs angenommen werden, daß Schleiermacher erst die Übersetzung angefertigt und dann erst die dazugehörigen Anmerkungen notiert habe. Vielmehr deutet eine Briefstelle an, daß Schleiermacher die Übersetzung in Drossen vorgenommen hat, d. h. daß die Abfolge genau umgekehrt ist: erst die Anmerkungen, dann die Übersetzung. Für diese Hypothese spricht folgendes: Am 27. Mai 1789, dem Tag nach seiner Ankunft bei seinem Onkel Stubenrauch in Drossen, ließ Schleiermacher brieflich Brinckmann von seinem Plan wissen, „die Aristotelische Theorie von der Gerechtigkeit zu bearbeiten, und zugleich meine Gedanken darüber aufzusezen" ,12 Diese Beschäftigung mit dem fünften Buch der Nikomachischen Ethik verzögerte sich zunächst um etwa drei Wochen, weil in der Stubenrauch sehen Bibliothek keine Aristoteles-Ausgabe vorhanden war und Schleiermacher sich eine solche aus dem benachbarten Frankfurt/Oder kommen lassen mußte.13 Schleiermacher begann deshalb mit der Niederschrift seiner „Freiheitsgespräche"14. Doch am 22. Juli 1789 schickte Schleiermacher neben dem ersten ,,Freiheitsgespräch" auch einen kleinen, uns nicht erhaltenen Aufsatz über die Pflichtentheorie an Brinckmann und äußerte sich zu seinen Übersetzungsabsichten: „Den andern kleinen Aufsatz sei so gütig Eberharden in meinem Namen zu Füßen zu legen; 70

72 73 74

Vgl. Denkmale 3 Vgl. oben XXXIII-XXXVI Briefe 4,7 Vgl. Schleiermachers Brief an Brinckmann Vgl. unten XLIII-XLVII

vom 10. Juni 1789, besonders Briefe

4,8

XXXVIII

Einleitung des Bandherausgebers

er enthält meine Ansichten über das Verhältniß der Aristotelischen Theorie von den Pflichten zu der unsrigen, und wäre unstreitig vollständiger und richtiger geworden, wenn ich mehr Belesenheit in dem Fache des Naturrechts hätte, oder wenn ich wenigstens jezt mehrere Ausführungen unserer neuen Theorie hätte nachschlagen können. Sollte er einmal gelegentlich seine Gedanken darüber äußern, so sei so gut und fange jedes Wort davon so getreu als möglich auf, und laß es zu meiner Kenntniß gelangen. Das was er davon billigt, und das was er darüber erinnert, kann einmal die Grundlage zu einer Einleitung in das Buch des Aristoteles ausmachen. Bin ich nicht ein närrischer Mensch? ich nehme mir vor nichts drucken zu lassen, und stelle mir doch vor, daß alles gedruckt werden sollte? Ich habe jezt einen Aristoteles erhalten, und arbeite wirklich an einer Uebersezung der Ethik. Das schwerste dabei ist, mit sich selbst einig zu werden. Soll man frei, soll man getreu, soll man wörtlich übersezen? Ich glaube, man muß alles mit einander verbinden, frei wo es der Genius der Sprachen erfordert, getreu überall, und wörtlich da wo es nothwendig ist, um in den Geist der Terminologie und der Ableitung der Gedanken einzudringen. Hier aber die Schönheitslinie nicht zu verfehlen ist etwas, worauf ein junger Mensch gar keinen Anspruch machen darf. Wenn ich im Saalathen wäre, und dann und wann Eberhards Rath einholen könnte, — mit welchem Eifer wollt' ich mich dann an diese Arbeit machen, die übrigens viel Anziehendes für mich hat. "7S Also im Sommer 1789 arbeitete Schleiermacher an einer Übersetzung der Nikomachischen Ethik des Aristoteles76 und wollte sie zusammen mit einer Einleitung drucken lassen. Wie lange Schleiermacher diesen Plan verfolgt hat und wann er seine Übersetzungsarbeit eingestellt hat, läßt sich aus den Briefen nicht genau ermitteln. Eine briefliche Äußerung an Bnnckmann vom 28. September 1789 läßt sich vielleicht so deuten, daß er zu diesem Zeitpunkt die Übersetzung des 8. und 9. Buches der Nikomachischen Ethik bereits abgeschlossen hatte. Die dort von Aristoteles vorgetragenen Gedanken zur Freundschaft werden von Schleiermacher als bekannt vorausgesetzt, und das Hauptaugenmerk seiner Vergleichung wird auf die Essays von Montaigne gelegt.77 Auch wenn die Annahme viel für sich hat, daß 75 76 77

Briefe 4,19f Vgl. Briefe 1,79 Vgl.: „(. . .] ich size jezt meistentheils vom Morgen bis auf den Abend —außer wenn ich zu Tisch und zum Kaffee gerufen werde — wie angenagelt an meinem Schreibtisch; aber so wie ich Dich vermißte, wenn ich mit Wieland an einem schönen Pläzchen saß, das mich an unsre Dieskau'sehen Sonnabende erinnerte, eben so oft vermiss' ich Dich auch jezt, wenn ich etwas in unsern Kram Gehöriges lese oder bemerke, oder wenn mir etwas dergleichen aufstößt, was ich gern erklärt oder aufgelöst haben möchte, kurz, ich werde immer mehr gewahr, was es für eine herrliche Sache ist, einen Freund um sich zu haben, und daß man auch nicht das geringste Vergnügen auf eine vernünftige Art genießen oder entbehren kann, wenn man sich nicht wenigstens in Gedanken eines Freundes bewußt ist; — ich weiß nicht wie es kommt, daß ich mich unter allen Selmarianis auf kein Stück zu besinnen weiß,

Historische

Einführung

XXXIX

Schleiermacher diesen Teil der Nikomachischen Ethik im Juli/August 1789 übersetzt hat, ist damit noch kein Anhaltspunkt gewonnen zur Beantwortung der Frage, wie lange Schleiermacher an seinem Übersetzungsplan für die ganze Ethik festgehalten hat. Im November 1789 scheint Schleiermacher sich noch mit dieser Absicht getragen zu haben.1* Aus dem Schülerkreis Eberhards entstand etwa zur selben Zeit noch eine Teilübersetzung. Im dritten Jahrgang des von Eberhard herausgegebenen und von Schleiermacher gelesenen „Philosophischen Magazin" ist 1790 der „Versuch einer deutschen Uebersetzung des achten Buches der Ethik des Aristoteles"79 von G. Dellbrück zum Druck gekommen. Schleiermacher gab wohl seine Pläne für die Aristoteles-Übersetzung auf, als die Übersetzung der Nikomachischen Ethik von Daniel Jenisch in Danzig bei Troschel 1791 erschien .80 Zumindest ist gut verständlich, warum uns gerade die Übersetzung des 8. und 9. Buches der Nikomachischen Ethik vorliegen. Schleiermacher hatte nämlich die von Eberhard inspirierten Hallenser Anmerkungen zu diesen beiden Büchern in Drossen zur Hand. Bei diesen beiden Büchern konnte er sich also der für die Übersetzung wichtigen und sie leitenden Gesichtspunkte gewiß sein. Dilthey gibt in seiner Darstellung der Aristotelischen Studien Schleiermachers eine kurze, aber treffende Charakteristik der Schleiermacherschen Übersetzung. „Die Uebersetzung ist, gleich der Garve's, Paraphrase. Ueberall werden die schneidenden, straffen Sätze des aristotelischen Styls in die langgegliederten Perioden eines Engel und Mendelssohn verwandelt; die Mittelglieder, deren Wegfall einen so eigenthümlichen Reiz der gedankenschweren aristotelischen Form ausmacht, werden eingeschoben, concrete Züge in eine gleichmäßig erhabene Sphäre erhoben."81

78

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81

welches der Freundschaft eigenthümlich gewidmet wäre, da doch der Verfasser derselben sie so richtig zu schäzen weiß. Ob er etwa glauben mag, dafl sich darüber nun nichts Neues mehr sagen lasse? — meines Erachtens würde er sich dann wenigstens sehr irren. Es ist mir lange nichts so interessant gewesen, als den Aristoteles, Cicero und Montaigne über diesen Punkt zu vergleichen; aber was ich Dir davon sagen könnte, würde Dir nichts Neues sagen. Bei Letzterem hab' ich eine so unerschöpfliche Quelle von Bon-sens und wahrer Philosophie gefunden, daß ich mich nicht genug daran laben kann. Dieser Mann verstand es aus dem Grunde mit dem Zugemüse umzugehn, und sich ganz davon zu nähren; — deswegen betracht' ich auch seine Essays schon seit geraumer Zeit als meine Handbibel, woran ich täglich mein Herz stärken muß. Ich beschäftige mich jezt mit nichts als mit Lesen, wobei ich mich ungemein wol befinde; aber unter allem ist mir Montaigne das Liebste." (Briefe 4,27). Vgl. Briefe 4, 35, wo Schleiermacher die Anknüpfungsmöglichkeit zu einer Korrespondenz mit Eberhard sucht, vermutlich der Aristoteles-Übersetzung wegen. Philosophisches Magazin 3 (Halle 1791), 2. Stück (1790), S. 217-235 und 3. Stück (1790), S. 304-332. Aristoteles: Die Ethik in 10 Büchern, aus dem Griechischen mit Anmerkungen und Abhandlungen von Dan. Jenisch, Danzig 1791 Denkmale 4

Einleitung des

XL

Bandherausgebers

Die Aristoteles-Übersetzung wird hier im Rahmen der Jugendschriften erstmals veröffentlicht. Sie wird nicht der 4. Abteilung („ Übersetzungen") der Kritischen Gesamtausgabe zugewiesen, weil sie in engem Zusammenhang mit den „Anmerkungen" steht. Die Übersetzung wird, obwohl sie nach dem chronologischen Ordnungsprinzip hinter das Manuskript „Freiheitsgespräch" piaziert werden müßte, gleichsam als erläuternder Text zu den ,,Anmerkungen" hier eingeordnet. Sie wird deshalb auch in einem kleineren Schriftgrad gesetzt. Die „Anmerkungen" werden durch diese Übersetzung glücklich ergänzt, weil sie zum einen für den Benutzer leichter lesbar sind und weil sie zum andern die Aussagerichtung und Deutungsintention Schleiermachers unterstreichen. Um die Vorlage für Schleiermachers Übersetzung zu ermitteln, bietet die Kapiteleinteilung, der Schleiermacher folgt, einen wichtigen Hinweis. Die von Schleiermacher benutzte Aristoteles-Ausgabe steht in derjenigen Textüberlieferung, die das 8. Buch der Nikomachischen Ethik in 16 Kapitel statt der sonst üblichen 13 Kapitel unterteilt. Bei Schleiermachers Tod fand sich in seinem Besitz die Ausgabe der Nikomachischen Ethik, Basel 1556, die diese Einteilung in 16 Kapitel auf weist.82 Ob Schleiermacher gerade diese Ausgabe in Drossen benutzt hat, muß allerdings unsicher bleiben.

3. Über das höchste Gut Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „ Ueber das höchste Gut" (Nachlaß-Nr. 114 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt 66 geheftete Oktavseiten von 10,4 cm Breite und 17,1 cm Höhe. Die Seiten 2 und 60—66 sind nicht beschrieben und auch nicht paginiert. Dagegen hat Schleiermacher die beschriebenen Seiten 3—58 auch selbst paginiert. Auf Seite 59 sollte der Anmerkungsteil beginnen, der aber über die Überschrift und die erste Ziffer nicht hinaus gediehen ist. Das Manuskript ist nicht datiert, die Überschrift auf der unpaginierten Titelseite stammt von Schleiermacher. Auf den meisten Seiten mit gerader Seitenzahl findet sich unter der letzten Zeile rechts ein Kustos. Des öfteren hat Schleiermacher allerdings vergessen, den Bestand des Kustos am Anfang der nächsten Seite zu wiederholen, so daß dieses Merkwort bzw. diese Merksilben jetzt zum Text gerechnet werden müssen. Die durch Faltung entstandenen Doppelblätter sind in 6 Lagen unterschiedlichen Umfangs (3—8 Blätter je Lage) geheftet. Das Manuskript ist sauber geschrieben. Seine gute Lesbarkeit wird nur beeinträchtigt durch eine Anzahl von Abbreviaturen, durch die Schleiermacher die Niederschrift beschleunigen wollte. Als ausgefallenstes Beispiel dieser Art sei auf ö gleich δύναμις für „Kraft"83 hingewiesen. 82

Vgl. Rauch 70,511

83

Vgl. unten

85,32

Historische Einführung

XLI

Das Vorhandensein der Abbreviaturen schließt es aus, daß dieses Manuskript als Druckvorlage dienen sollte. Es ist eine abgeschlossene Abhandlung, die hier erstmals vollständig veröffentlicht wird. Zur Datierung finden sich in den Briefen Schleiermachers keine Hinweise, wohl aber bei Dilthey, der die erste Beschreibung (er gibt fälschlicherweise einen Umfang von „50 Oktavseiten"84 an) und Teiledition lieferte. Dilthey lag nämlich noch ein schmales Manuskript mit Entwürfen zu Abhandlungen und mit Anmerkungen zum ,,höchsten Gut" vor, das heute leider unauffindbar ist und das für die Datierung des „höchsten Guts" ins Jahr 1789 von großer Bedeutung ist.85 Ein allerdings nicht sehr präzises Indiz für eine frühe Datierung ist in der stilistischen Eigentümlichkeit zu sehen, daß Kant von Schleiermacher jeweils als „HErr Kant"86 apostrophiert wird. Dies findet sich nur noch in wenigen ebenfalls frühen Manuskripten und spricht deutlich den Respekt vor einem verehrten älteren Lehrer aus. Da sich Schleiermacher in diesem Manuskript kritisch besonders mit Kants praktischer Philosophie auseinandersetzt, läßt sich aus diesen inhaltlichen Ausführungen ein terminus a quo festlegen, der mit der Diltheyschen Datierung durchaus harmoniert. Schleiermacher bezieht sich nämlich ausdrücklich auf Kants „Critik der practischen Vernunft", die 1788 erschienen ist. Und zwar setzt seine Abhandlung eine eingehende Lektüre dieses Textes ganz offensichtlich voraus; sie ist keineswegs die Lektüre begleitend konzipiert, sie geht mit den Kantischen Texten durchaus vertraut und durchdacht um. Von daher spricht viel für die Vermutung, daß Schleiermacher diese Abhandlung „ Über das höchste Gut" während seiner Hallenser Studienzeit in den ersten Monaten des Jahres 1789 geschrieben hat. Zu mehreren anderen Manuskripten Schleiermachers lassen sich Querverbindungen feststellen. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die literarische Gattung als auch in bezug auf thematische Berührungen. Schleiermacher selbst kennzeichnet seine Abhandlung „Über das höchste Gut" als eine „Rhapsodie" (,,[. . .] wir haben nicht eine Geschichte sondern eine Rhapsodie zu schreiben versprochen"87) und stellt sie damit in die Reihe seiner kritischen Früh Schriften, in denen er sich besonders mit der Kantischen Philosophie rhapsodisch auseinandersetzen wollte. Schleiermacher hatte eine Sammlung solcher Rhapsodien geplant und sie wohl auch zur Veröffentlichung bestimmt. Das beweist der Anfang der von Dilthey so betitelten Abhandlung „Über die Freiheit des Willens". Schleiermacher beginnt sie mit dem Satz: „Es scheint in dem jetzigen Zustand der philosophischen Welt in Deutschland nichts weniger als vorteilhaft für den Schriftsteller zu seyn, daß 84 85 86

87

Denkmale 6 Vgl. oben XXf Unten 91, 4; 94, 3f; 94, 10; 97, 21; 98, 23; 99, 37; 100, 1; 100, 11; 100, 21; 101, 28; 102, 32; 102, 37; 104, 1; 104, 4f; 104, 19; 104, 29; 105, 6; 106, 26; 106, 32; III, 32; 118, 10; 121, 11 Unten 106,36f

XLII

Einleitung

des

Bandherausgebers

er eine Samlung philosophischer Rhapsodien gradezu mit einer Abhandlung über diesen Streitpunkt anfängt."88 Meine Übertragung des insgesamt gut lesbaren Textes empfing eine Hilfe durch die Texttranskription, die Prof. Marlin E. Miller aus Elkhart, Indiana (USA) im Jahr 1967 mit der Absicht einer Publikation vorgenommen hatte. Diese weitgehend korrekte Transkription, deren Publikation durch verschiedene Umstände unterblieben war, wurde von Herrn Miller der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel 1979freundlich zur Verfügung gestellt. 4. Notizen zu Kant: Kritik der praktischen

Vernunft

Schleiermachers eigenhändiges Manuskript mit Notizen zu Kants Kritik der praktischen Vernunft (Nachlaß-Nr. 134/1 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt 3 einzelne Blätter, die beidseitig mit verblaßter Sepia-Tinte beschrieben sind. Der Text beginnt mit „p. 4. transcendentale Freiheit. [. . .]". Das durchscheinende bräunliche Papier ohne Wasserzeichen ist an den Kanten gezahnt und hat ein Format von 10,5 cm Breite und 17,4 cm Höhe. Das Manuskript ist ohne Überschrift und ohne Datum. Es wird jetzt in einem Umschlagblatt von blauem Papier aufbewahrt. Die Foliierung mit Bleistift stammt nicht von Schleiermacher. Dieses Manuskript ist bisher weder veröffentlicht noch beschrieben worden. Es handelt sich bei ihm um Überlegungen zu bestimmten Sätzen oder Passagen von Kants „Critik derpractischen Vernunft" (1788), die sich Schleiermacher wohl bei einer erneuten Lektüre notiert hat. Schleiermacher bezieht sich gezielt auf solche Aussagen Kants, die der Grundlegung der Freiheitsthematik gewidmet und für den Gesichtspunkt einer Determinismustheorie wichtig sind (z.B. den Begriff des moralischen Gefühls). Die Datierungsfrage läßt sich ziemlich genau beantworten. Durch den inhaltlichen Bezug auf das Kant-Buch ist mit dessen Publikationsdatum ein terminus a quo für die Abfassung dieses Manuskripts gesetzt. Andererseits ist es wegen der inhaltlichen Parallelität sehr wahrscheinlich, daß das Ende des dritten „Freiheitsgesprächs"89 eine entsprechende Kant-Interpretation voraussetzt. In der relativen Chronologie müssen diese „Notizen" eher an das „Freiheitsgespräch" als an das Ms. „Über das höchste Gut" herangerückt werden, weil das letztere zwar auch auf Kants „Critik der practischen Vernunft" häufig Bezug nimmt, aber in völlig anderen Sachzusammenhängen, während die „Notizen" zum ersteren sachliche Übereinstimmungen aufweisen. Die „Notizen zu Kant" hat Schleiermacher demnach höchst wahrscheinlich in der ersten Jahreshälfte 1789 niedergeschrieben. 88 89

Unten 219,2-5 Vgl. unten 161,3-164,10

Historische Einführung

XLIII

5. Freiheitsgesprach Schleiermacbers eigenhändiges Manuskript „Freiheitsgespräch" (Nachlaß-Nr. 194 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt 40 geheftete Oktavseiten von 10,1 cm Seitenbreite und 13,7—15,2 cm Höhe. Es ist ohne Umschlagblatt, ohne Titel und ohne Datum. Titel und Datum sind durch Briefzeugnisse gesichert. Der Text beginnt mit „Kleon begegnete auf einem seiner Spaziergänge [. . .]". Die Seiten, deren Paginierung mit Bleistift nicht von Schleiermacher stammt, sind ohne oberen und seitlichen Rand unter Verwendung zahlreicher Abbreviaturen eng beschrieben, wohl aber sind jeweils unter einem Querstrich etwa 5—6 cm als unterer Rand abgeteilt. Hier sind auf verschiedenen Seiten Bemerkungen nachgetragen. (Vgl. dazu das Faksimile der Ms.-S. 14, unten 136.) Die letzte unpaginierte Seite 40 ist unbeschrieben. Das stark nachgedunkelte Papier mit Wasserzeichen ist mit Sepia-Tinte beschrieben; die Schriftzüge der Gegenseite scheinen jeweils durch. Die Blattkanten sind nicht ganz regelmäßig geschnitten. Von den durch Faltung entstandenen Doppelblättern sind jeweils zwei zu Halbbogen mit etwas unterschiedlicher Seitenhöhe ineinandergelegt. Die Heftung der 5 Halbbogen hat sich so gelockert, daß einige Blätter jetzt lose sind und andere nur noch an einem Faden hängen. Schleiermacher hat den weitgehend fortlauf end geschriebenen Text nur durch wenige Absätze gegliedert. Er hat aber, da in diesem Gespräch über den Freiheitsbegriff der Gedankengang durch die Beiträge der drei Gesprächspartner Kleon, Kritias und Sophron bestimmt wird, den Sprecherwechsel fast immer durch Ν amensunter Streichung desjenigen angezeigt, der jeweils neu zu reden beginnt. Dieser Sprecherwechsel ist in der vorliegenden Ausgabe jeweils durch einen Absatz verdeutlicht. Die wenigen von Schleiermacher selbst stammenden Absätze sind im textkritischen Apparat nachgewiesen. Wichtige Sätze des Textes sind von fremder (vermutlich Diltheys) Hand mit Bleistift unterstrichen. Titel und Abfassungsdatum dieses Manuskripts lassen sich glücklicherweise aus einer kurzen und einer ausführlichen Briefstelle Schleiermachers eindeutig ermitteln. Schleiermacher schrieb am 10. Juni 1789 aus Drossen an Brinckmann in Halle unter anderem: „Von den Gesprächen über die Freiheit, oder wie ich sie lieber nennen will, über die Natur der moralischen Handlungen sind bereits zweie völlig fertig, und ehestens werde ich mich auch über das dritte machen; ich hätte lieber die ganze Sache noch liegen lassen und die Gerechtigkeitstheorie bearbeitet; allein mein Onkel hat keinen Aristoteles in seiner Bibliothek, und ich erwarte erst einen aus Frankfurt.''''90 Im Brief an Brinckmann vom 22. Juli 1789 findet sich folgende Passage: 90

Briefe 4,8

XLIV

Einleitung des

Bandherausgebers

„Du hast meine Freiheitsgespräche zu sehn verlangt, und, ich willfahre Dir darin so weit ich kann. Das dritte ist noch nicht fertig, und das zweite hab' ich so eben einer kleinen Verbesserung unterworfen, — ein Anfänger ist selten mit dem zufrieden, was er zum erstenmal niederschreibt. Du erhältst also nur das erste zur Probe. Gefällt es Dir nicht, so kannst Du mich der Mühe überheben Dir das Weitere zu schicken, — sonst wirst Du den Rest in meinem nächsten Brief enthalten finden. Du wirst finden, daß ich dem Dialog noch nicht gewachsen bin, und das gestehe ich gern zu; allein — qui nunquam male, nunquam bene, und ich schicke Dir es ja eben deswegen, um Deine Meinung zu hören, und mir Deine Erinnerungen zu Nuz zu machen. Du wirst ferner gewahr werden, daß gewisse bekannte Materien etwas weitläufig abgehandelt sind, — und das hab' ich wenigstens gewußt und gewollt. Aber es schien mir unvermeidlich, wenn ich zeigen wollte, daß man die Willenskraft eben so wie jede andere behandeln müsse, und wenn der philosophische Character meines Kleons ein wahrer und gewöhnlicher Character ist, wenn es wirklich viele giebt, die sich über diesen Punkt bei einer gewissen unstatthaften Mittelstraße begnügen, wobei unrichtige und dunkle Begriffe von der Zurechnung unvermeidlich sind: so wirst Du mich vielleicht über die ganze Oeconomie dieses Gesprächs rechtfertigen. Was Du zu dem lezten Theil desselben sagen wirst, darauf bin ich sehr begierig, und Deine Gedanken sollen mir willkommen seyn. Das zweite Gespräch wird sich mit einigen praktischen Folgen beschäftigen; die beiden Freunde werden untersuchen, ob die Reue bei diesem System eine Täuschung sei, und wie sie angewendet werden müsse. Sie werden sehen: ob man von Seiten der sinnlichen Triebfedern zur Sittlichkeit verliere, wenn man das dunkle Gefühl von unbestimmbarer Freiheit der Wahl aufgeben müsse, und ob diese Art der Νothwendigkeit unsrer Handlungen zum moralischen Quietismus führe. Das dritte wird vornemlich dem Kantischen Begriff von der Freiheit und von der Achtung für's moralische Gesez gewidmet seyn."91 Vergleicht man das vorliegende „Freiheitsgespräch" mit den Angaben, die Schleiermacher zu jedem seiner drei Gespräche macht, so fällt das Urteil nicht schwer, daß es sich bei dem vorliegenden um das dritte „Freiheitsgespräch" handelt: die Aufnahme und Behandlung des Kantischen Freiheitsbegriffs steht ja im Mittelpunkt des Dialogs. Dieses Urteil wird zusätzlich gestützt durch den Sachverhalt, daß im Laufe dieses Gesprächs des öfteren92 auf vorangegangene Erörterungen und deren Resultate Bezug genommen wird93 91 92 93

Briefe 4,18f Vgl. unten 137. 138. 146. 147f. 159f Eine Kombination der Briefangaben mit dem Anfang des vorliegenden Gesprächs kann für das Verständnis dieses Anfangs die Präzisierung bringen, daß hier auf zwei Gespräche zurückgeblickt wird. Indem Kleon die Position des Kritias, des Protagonisten des Kritizismus,

Historische

Einführung

XLV

Die Niederschrift des dritten „Freiheitsgesprächs" hat Schleiermacher bald nach dem 10. Juni 1789 begonnen und wohl im August desselben Jahres abgeschlossen. Über das Schicksal der beiden ersten „Gespräche" lassen sich nur Vermutungen anstellen. Diese Vermutungen stützen sich auf einige weitere Angaben im Briefwechsel zwischen Brinckmann und Schleiermacher. Brinckmann schrieb am 26. Juni 1789 aus Dieskau unter anderem: „Du wirst mir auch zugestehen, daß das Schreiben nicht das eigentlichste, sondern das Denken dabei sei. Beweis Deine Freiheitsgespräche, die jezt so schnell aufs Papier gekommen sind. Ich bin äußerst begierig sie zu sehen, und ich dächte Du schicktest sie mir so bald als möglich im Manuskript zu. Ich werde sie Eberhard komuniziren, der auch Deinen lezten Brief gelesen hat. Es ist ewig Schade, daß Du seine nähere Bekantschaft so spät machtest. Du wirst ganz gewiß noch was in der Welt leisten."9* Das erste „Freiheitsgespräch", das Schleiermacher auf diese Aufforderung hin nach Halle an Brinckmann gesandt und das dieser zusammen mit einem Aufsatz zur Pflichtentheorie95 an Schleiermachers Lehrer Johann August Eberhard zur Begutachtung weiter geleitet hatte, ist im November 1789 von Brinckmann kurz vor dessen Übersiedlung von Halle nach Berlin an Schleiermacher zurückgeschickt96 und dann wohl von Schleiermacher selbst wegen starker Qualitätsmängel vernichtet worden. Schleiermacher äußerte nämlich schon

94 95 96

ins Spiel bringt und damit den Widerspruch anzeigt, den das dritte Gespräch abarbeiten muß, resümiert er vermutlich den Inhalt des ersten und zweiten Gesprächs: „unser Begriff von der Freiheit sei eine kleine Wortklauberei [erstes Gespräch] womit die Sache nicht abgethan wäre und unsre Rechtfertigung der Zurechnung eine Täuschung [zweites Gespräch] welche bei näherer Beleuchtung sehr bald verschwinde." (Unten 137,17—20) Diese schon von Dilthey vorgetragene Deutung ist allerdings nur haltbar, wenn in der zweiten Satzhälfte der Ton auf „Rechtfertigung" gelegt und damit die Annahme verbunden wird, daß Schleiermacher hier auf die im zweiten ,, Gespräch" erörterten Folgen der Zurechnungsproblematik anspiele, denn nach obiger Briefstelle ist die Zurechnung selbst schon gegen Ende des ersten „Gesprächs" abgehandelt worden, so daß dieser Gesprächsanfang auch gut nur durch Rückbezug auf das erste „Gespräch" gedeutet werden kann, Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 4 Vgl. oben XXXVIIf Vgl. Brinckmanns Brief aus Dieskau vom 6. November 1789: „Hier Deine philosophischen Hefte." (Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 13) Im Postskript desselben Briefes steht noch der Hinweis: „Die Aristoteles Papiere hat Eberhard, wird Dir sie aber gewiß schicken." (Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 14) Bedeutet dieser Hinweis für die vorangehende Briefstelle eine Berichtigung oder eine Ergänzung? Der Plural „Hefte" könnte, da ja der Aristoteles-Aufsatz von Brinckmann nicht mitgeschickt wurde, so gedeutet werden, daß Schleiermacher doch noch eins oder die beiden weiteren „Freiheitsgespräche" nach Halle gesandt hatte. Das ist nicht auszuschließen. Ich halte es allerdings für viel wahrscheinlicher, daß Brinckmann „Freiheitsgespräch " und Aristoteles-Aufsatz zusammen nach Drossen schicken wollte, bei seiner Rückkehr von Dieskau nach Halle jedoch feststellte, daß Eberhard den letzteren noch in Besitz hatte bzw. noch etwas behalten wollte. Deshalb korrigierte er im Postskript seinen Hinweis auf die Briefanlagen.

XLVI

Einleitung des

Bandherausgebers

am 8. August 1789 ein sehr abschätziges Urteil über dieses erste „Gespräch": „Meinen Versuchen hingegen bleibt ihr Urtheil unwiderruflich gesprochen. Es ärgert mich sogar schon, daß ich thörigt genug gewesen bin, Dir das erste Freiheitsgespräch zu schicken, — es scheint mir jezt alles daran krude zu seyn. Der Eingang ist steif und alles darauf folgende langweilig; es ist lange nicht bündig genug dargestellt, wie man nothwendig auf die Folgerungen kommen muß, die den Kleon am Ende beunruhigen, und wie dazu keine andere Auflösung möglich ist, kurz es sind da nur einige wenige Stellen erträglich. Ich hoffe dies selbst obgleich zu spät gefällte Urtheil wird Dich bestimmen, Eberharden nichts davon zu zeigen, sondern höchstens allgemein mit ihm über die darin liegenden Ideen zu reden, die Du ihm gewiß deutlicher wirst machen können, als es in diesem Geschreibsel geschehen ist, welches eine gänzliche Umarbeitung erfahren muß, wenn es zu irgend etwas Nuz seyn soll."97 Auch Brinckmanns zustimmendes und Eberhards vorsichtiges, aber doch nicht ablehnendes Urteil98 scheint bei Schleiermacher keinen Sinneswandel bewirkt zu haben, denn er überging einfach Brinckmanns Lob und nahm Eberhards Zurückhaltung betont bejahend auf", ja er wiederholte, nachdem er das Manuskript zurückerhalten hatte, am 18. November 1789 gegen Brinckmann seine Geringschätzung: „Doch hab' ich zwei kleine Aufsäze gemacht, Ueber den gemeinen Menschenverstand, und Ueber das Naive, die wenigstens besser sind als der Schofel, den Du von mir gelesen hast, und über den Du mir noch Anmerkungen schuldig bist. Sie liegen gleich diesem in meinem Pult, und warten auf das Reifwerden meines Verstandes; — damit wär's wol endlich Zeit, wenn es noch in diesem Leben geschehen soll."100 Das Schicksal des zweiten „Freiheitsgesprächs" über Zurechnung und moralischen Quietismus läßt sich vielleicht etwas genauer aufklären. Daß es heute nicht im Nachlaß als eigenes Traditionsstück vorhanden ist, muß nicht bedeuten, daß es gänzlich verschwunden ist. Ich teile mit Dilthey die Vermutung101, daß der in den zweiten Abschnitt der Abhandlung „Über die 97 98

99

100 101

Briefe 4,25 Vgl. Brinckmanns Brief aus Halle vom 26. September 1789: „Eberhard hat noch Deine Philosophischen Aufsäze, sonst würde ich sie Dir schicken. Mit dem Stück über den Aristoteles ist er noch zufriedner als mit dem Gespräch. Lezteres hat mir sehr gefallen, und nächstens einige Bemerkungen über den Schluß desselben." (Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 10) Die Wendung „noch zufriedner" muß doch wohl im Sinne einer insgesamt positiven Beurteilung des „Freiheitsgesprächs" durch Eberhard gedeutet werden. Wichtig ist, daß hier nur von einem ,, Gespräch" die Rede ist. Zumindest bis September hatte Schleiermacher kein weiteres „Freiheitsgespräch" nach Halle geschickt. Vgl. Schleiermachers Antwortbrief wohl vom Oktober 1789: „Wenn ihm [d. i. Eberhard] das Stück über den Aristoteles besser gefällt, als das Gespräch, so stimmt sein Urtheil mit dem meinigen überein [. . .]". (Briefe 4,32) Briefe 4,35 Vgl. Denkmale 20

Historische

Einführung

XLVII

Freiheit" eingeschobene Dialog zwischen Kleon und dem Autor Teile dieses Gesprächs auft>ehält. Schleiermacher saß ja im Juli 1789 an einer Überarbeitung des zweiten „Gesprächs", weshalb es erst im nächsten Brief folgen sollte. 102 Wohl wegen weiterer Nachbesserungen hat er es nicht an Brinckmann geschickt, und dies könnte zu dieser Einflechtung Anlaß gegeben haben. Anders ist dieser stilistische Findling in der großen Abhandlung kaum zu erklären. 103 Alle drei Freiheitsgespräche gehören in Schleiermachers Drossener Sommer 1789. Sie zeigen die intensive Auseinandersetzung mit Kants kritischer Philosophie, wobei deren praktisch-philosophische Seite im Vordergrund steht. Schleiermacher arbeitet an einer eigenständigen Stellung sowohl zu Kant als zur älteren Schulphilosophie. Schleiermachers Überlegungen zeichnen sich durch sachliche Unparteilichkeit und strenge argumentative Prüfung der Reichweite und Begründung der aufeinander prallenden Behauptungen aus. Er hält sein Urteil von allen Schul- und Fraktionszwängen frei. Er kann die Bedeutung und den von Kant heraufgeführten Umbruch würdigen, ohne deshalb alle Einsichten der älteren Überlieferung preisgeben zu müssen. Dilthey hat das „Freiheitsgespräch" nicht veröffentlicht. Er hat im Vorbericht zu seinen Auszügen aus Schleiermachers Abhandlung „ Über die Freiheit" nur auf sein Vorhandensein hingewiesen und einige Nachrichten über alle drei „Freiheitsgespräche" kurz dargestellt und ausgewertet.104 Sein Bericht geht auf den Gedankengang und die Eigenarten des dritten „Gesprächs" nicht ein. Das dritte „Freiheitsgespräch" steht in näherem Zusammenhang mit zwei erhaltenen Manuskripten. Zum einen sind Schleiermachers Notizen zu Kants Kritik der praktischen Vernunft wohl so etwas wie Vorstudien zu dem hier verhandelten Thema, auch wenn direkte Parallelen selten sind.105 Zum andern führt die Abhandlung „Über die Freiheit" die Erörterungen zum Freiheitsbegriff systematisch genau aus, wobei die Kantische Theorie nicht dauernder Gegenstand in der eigenen gedanklichen Ausarbeitung, wohl aber dauernde Folie ist.106

102 103 104

105 106

Vgl. Briefe 4,18 Vgl. unten LVIIf Dilthey stellt ζ. B. eine wichtige thematische Differenz zwischen dem ersten Gespräch und der Abhandlung fest. „Das theoretische Problem von der Behandlung des Willens als einer Kraft in Unterordnung unter die Gesetze, denen Kräfte Uberhaupt unterworfen sind, ist ausdrücklich von der späteren Untersuchung ausgeschlossen worden." (Denkmale 20) Die große Abhandlung hat, wie auch das vorhandene dritte „Freiheitsgespräch" bestätigt, keineswegs alle vorausgehenden Überlegungen aufgesogen und überflüssig gemacht. Vgl. unten 129-134 Vgl. unten 219-356

XLVIII

Einleitung

des

Bandherausgebers

6. Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Übersetzung und gen)

Anmerkun-

Schleiermachers eigenhändiges Manuskript, das ein Exzerpt aus den ersten beiden Büchern der Aristotelischen Metaphysik enthält (Nachlaß-Nr. 148/2 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR), umfaßt 4 Oktavblätter von 10,4 cm Breite und 16,0 cm Höhe. Das Manuskript hat kein Umschlagblatt und ist nicht datiert. Die Foliierung mit Bleistift stammt nicht von Schleiermachers Hand. Die beiden ineinandergelegten Doppelblätter sind etwas ungleich gefaltet. Der obere Blattrand ist nicht ganz sauber geschnitten, der untere Blattrand und der Außenrand sind stark gezahnt und eingerissen. Das stark nachgedunkelte bräunliche Papier, das ein Wasserzeichen hat, ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Die Schriftzüge der jeweiligen Gegenseite scheinen stark durch. Der Text beginnt mit der Überschrift „Aristot. Metaph. 1" und fährt auf derselben Seite unmittelbar fort: „1. Wir sind alle nach Erkenntniß begierig /. . .]". Das Manuskript ist weitgehend Exzerpt des griechischen Textes; eingestreut sind sechs Anmerkungen Schleiermachers; nur wenige Sätze in ,,Metaphysik" 1,1 und 2,3 sind eine exzerpierende Übersetzung ins Deutsche. Das letzte Drittel von Blatt 3ν und Blatt 4 sind unbeschrieben. Für die Datierung dieses Manuskripts gibt es zwei Anhaltspunkte, einen im Briefwechsel und einen im Text selber, die sich gegenseitig stützen. Am 28. September 1789 schrieb Schleiermacher aus Drossen an Brinckmann: „Aristoteles Metaphysik gibt, wie Du Dir leicht denken kannst, für das Practische wenig Ausbeute, aber selbst für die Geschichte der Philosophie fast nichts, was nicht Eberhard wo nicht ausdrücklich gesagt, doch wenigstens zu verstehen gegeben hat. "W1 Diese Briefstelle belegt nicht nur Schleiermachers Beschäftigung mit der Aristotelischen Metaphysik, wobei Schleiermachers Hinweis auf die geringe „Ausbeute" der Erklärungsgrund für den fragmentarischen Charakter dieses Manuskripts sein könnte, sondern sie schlägt selbst die Brücke zu Eberhard und zu dessen 1788 publizierter „Geschichte der Philosophie"108. Ein solcher Brückenschlag findet sich auch im Text selbst: In einer Bemerkung zu Metaphysik 1,3 kritisiert Schleiermacher den Gebrauch, den Eberhard in seiner Philosophie geschickte von einer bestimmten Belegstelle macht.109 Diese Textanmerkung zeigt, daß Schleiermacher bei seiner Beschäftigung mit Aristoteles die Eberhardsche Philosophiegeschichte präsent hatte und diese ein Gegenstand seines Nachdenkens war, so daß ihn ein Detailproblem der Eberhardschen Darstellung

107 108

109

Briefe 4,27 Eberhard: Allgemeine Geschichte der Philosophie zum Gebrauch academischer gen, Halle 1788 Vgl. unten 169,34-170,1

Vorlesun-

Historische

Einführung

XLIX

zu einer Korrekturnotiz veranlaßte. Da die Briefstelle und die Textanm'erkung gut zusammenstimmen, kann es als wahrscheinlich angenommen werden, daß Schleiermacher dieses Manuskript im September 1789 in Drossen verfaßt hat. Dieser Datierungsansatz wird noch untermauert durch Schleiermachers letzte Textanmerkung („Symbolisch für die Philosophischen Versuche"iw), die belegt, daß Schleiermacher während der Exzerpierung mit seinem literarischen Vorhaben der „Philosophischen Versuche" schwanger ging. Die Textausgabe der Aristotelischen Metaphysik, die Schleiermacher benutzte, konnte nicht eindeutig ermittelt werden. Aus welchem Text er exzerpiert hat, darüber lassen sich nur Vermutungen, allerdings begründete Vermutungen, anstellen. Die von ihm benutzte Aristoteles-Ausgabe ist dadurch gekennzeichnet, daß sie das erste Buch der „Metaphysik" nur in 7 Kapitel einteilt und daß sie sich hauptsächlich an den Codex Ε (Paris Nr. 1853) als Quelle anschließt. Diese beiden Merkmale treffen auf die Textausgabe von Sylburgius, Frankfurt (Main) 1585, zu. Da Schleiermacher für die Aristotelische „Politik" auch eine von Sylburgius besorgte Ausgabe benutztein, liegt die Vermutung sehr nahe, daß er sich dieser verbreiteten Ausgabe auch bei der „Metaphysik" bediente. Die von Schleiermacher exzerpierten griechischen Sätze oder Satzteile sind im Sachapparat unter Verwendung der Bekkerschen Ausgabe nachgewiesen.Die Abweichungen des Exzerpts von heute üblichen Textausgaben sind nicht eigens notiert worden. Auslassungen im Aristoteles-Text, die Schleiermacher nicht angezeigt hat, sind in der vorliegenden Edition nur dann gekennzeichnet, wenn es sich um sinnrelevante Auslassungen mehrerer Wörter handelt.

7. Über das Naive Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „ Über das Naive" (Nachlaß-Nr. 136 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) wird hier erstmals veröffentlicht. Es umfaßt 6 Oktavblätter von 10,7 cm Seitenbreite und 17,4 cm Seitenhöhe. Das durch Faltung entstandene Doppelblatt 213 ist in das entsprechende Doppelblatt 1/4 eingelegt, es folgt Doppelblatt 5/6. Das Manuskript ist ohne Überschrift und ohne Datum. Beides ist aber aus der unten angeführten Briefstelle gesichert. Der Text beginnt mit „Was ist naiv? M. Mendelssohn [. . .]". Das Manuskript hat jetzt ein Umschlagblatt, auf dessen Vorderseite von Diltheys Hand ver-

110 111

Unten 173,27 Vgl. unten LXXV

L

Einleitung

des

Bandherausgebers

zeichnet steht: „Über das Naive". Die Paginierung mit Bleistift stammt nicht von Schleiermacher. Die Seitenkanten sind oben glatt geschnitten, außen und unten gezahnt. Das nachgedunkelte handgeschöpfte Papier mit Wasserzeichen ist mit Sepia-Tinte sauber beschrieben. Der Zeitpunkt, zu welchem Schleiermacher dieses Manuskript niedergeschrieben hat, läßt sich ebenso wie sein Titel durch eine Briefstelle eindeutig ermitteln. Schleiermacher schrieb am 18. November 1789 aus Drossen an Brinckmann in Berlin unter Anspielung auf das nicht erhaltene erste „Freiheitsgespräch": „Was mich betrifft, so bin ich hier kränklich und verdrießlich gewesen, und habe mehr vegetirt als gelebt, Viel gelesen, aber leider nur wenig gedacht. Beinahe hätt' ich einmal aus Unmuth den verzweifelten Streich begangen zu predigen. Doch hab' ich zwei kleine Aufsäze gemacht, Ueber gemeinen Menschenverstand, und Ueber das Naive, die wenigstens besser sind als der Schofel, den Du von mir gelesen hast, und über den Du mir noch Anmerkungen schuldig bist. Sie liegen gleich diesem in meinem Pult, und warten auf das Reifwerden meines Verstandes; — damit wär's wol endlich Zeit, wenn es noch in diesem Leben geschehen soll."112 Nachdem Schleiermacher das dritte „Freiheitsgespräch" wohl im August 1789 abgeschlossen hatte, hat er unter anderem die „Philosophischen Schriften" von Moses Mendelssohn gelesen. In Verbindung mit dieser Lektüre ist der Aufsatz „Über das Naive" entstanden. Da Schleiermacher sich in seinem Oktober-Brief an Brinckmann noch nicht dazu geäußert hatte, legt sein Schweigen die Vermutung nahe, daß die am 18. November 1789 erwähnten beiden kleinen Aufsätze erst kurz vor diesem Datum verfaßt wurden. Dilthey hat den Aufsatz „ Über das Naive" nicht veröffentlicht, sondern nur kurz beschrieben. „Von den zwei kleinen Aufsätzen über den gemeinen Menschenverstand, und ,über das Naive', welche in Drossen 1789 geschrieben wurden (4, 3.5) hat sich der Entwurf des ersteren, der zweite Aufsatz ganz erhalten. Die Begriffsbestimmung des Naiven war schon vor Schiller eine gern discutirte Frage. Schi, geht vom Gegensatz gegen die Definition Mendelssohns aus: das Einfältige hinter dem etwas verborgen ist. Er verwirft dieselbe als zu allgemein. An der in dieser Beziehung so berühmt gewordenen Stelle Ii. 6, 466 sucht er seine eigne Begriffsbestimmung zu begründen. ,Das Naive ist das Simple, das wir nicht erwartet hätten.' Der naive Charakter läßt sich bestimmen als ,anschauliche Simplicität verbunden mit einer gewissen Ausbildung, welche uns jene Simplicität nicht erwarten läßt.' Auch das Erhabene ist simpel im Ausdruck; aber es pflegt nicht naiv zu sein, weil es nicht unvermuthet kommt; der erhabene Gegenstand läßt uns einen simplen Ausdruck erwarten. Doch kann unter Umständen auch

112

Briefe

4,35

Historische

Einführung

LI

das Erhabene überraschen. ,Auf die Frage wie Gott die Welt aus nichts geschaffen habe, erwarte ich irgend eine spitzfindige Ausrede. Wenn also Mendelssohn sagt: ,wüßt' ich das, so könnt5 ichs auch', so ist diese Antwort unstreitig sehr erhaben, aber sie ist zugleich außerordentlich naiv'.c'113 Schleiermachers Aufsatz „Über das Naive" ist im wesentlichen eine Auseinandersetzung mit Mendelssohns Aufsatz „ Ueber das Erhabene und Naive in den schönen Wissenschaften", der Bestandteil von dessen „Philosophischen Schriften" ist. Dieser Aufsatz hat in der 2. Auflage der „Philosophischen Schriften" (1771)114 eine beträchtliche Erweiterung erfahren gegenüber der ursprünglichen Fassung, die unter dem Titel „Betrachtungen über das Erhabene und das Naive in den schönen Wissenschaften" 1758 anonym in der „Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste"115 veröffentlicht und dann ergänzt in den „Philosophischen Schriften" (1761)116 abgedruckt worden war. Zwar befand sich später in Schleiermachers Bibliothek nur die 1. Auflage von Mendelssohns „Philosophischen Schriften"117, doch bezieht sich Schleiermacher in den Anspielungen seines Manuskripts auf eine vollere Textfassung des Mendelssohn-Aufsatzes. Schleiermacher schreibt in bezug auf Mendelssohn unter anderem: „[. . .] desto mehr aber läßt er uns über die Eigenschaften in Unwissenheit, welche das bezeichnete, oder das innere des Naiven haben muß. Dis soll bald eine große innre Würde, Wichtigkeit und Vollkommenheit, bald eine kleine unschädliche, bald eine große von gefährlichen und tragischen Folgen begleitete Unvollkommenheit enthalten."116 Während Mendelssohn in der 1. Auflage der „Philosophischen Schriften" das Innere des Naiven gemäß seinen Wirkungen bloß schematisch durch die Triplizität von „komisch", „tragisch" und „beides von diesen"119 bestimmt, stellt er in der 2. Auflage diese drei Arten des Naiven mit Charakterisierungen und Beispielen viel ausführlicher dar120. Da sich Schleiermacher offensichtlich nicht auf ein bloßes Schema, sondern auf materiale Ausführungen bezieht, ist hier der Schluß unabweisbar, daß ihm die 2. Auflage der „Philosophischen Schriften" (1771) oder deren Nachdruck in der Ausgabe letzter Hand (1777) vorlag.

1.3 1.4 115 116 117 118 119 120

Denkmale 6 Mendelssohn: Philosophische Schriften, 2. Aufl., Zweyter Theil, Berlin 1771, S. 153 - 240 Bd 2, 2 (Leipzig 1758), S. 229-267 [Mendelssohn:J Philosophische Schriften, Zweyter Theil, Berlin 1761, S. 121-186 Vgl. Rauch 85,338 Unten 179,16-180,2 [Mendelssohn:] Philosophische Schriften 2,185 Vgl. dazu: „Ist nun dieses innerliche Wichtige [. . .}" (236), „Ist aber das Innere des Naiven ein Uebel ohne Gefahr [. . .]" (237), „ Wenn aber das Innere des Naiven eine wirkliche Gefahr ist [. . .}" (238).

LII

Einleitung

des

Bandberausgebers

8. An Cecilie Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „An Cecilie" (NachlaßNr. 137 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) wird hier erstmals veröffentlicht. Es umfaßt 20 Blätter in losen Lagen. Es ist ohne Datum. Das nachgedunkelte handgeschöpfte Papier mit Wasserzeichen hat glatt geschnittene Seitenkanten und ist mit Sepia-Tinte sauber und gut lesbar beschrieben. Jeweils zwei durch Faltung entstandene Doppelblätter sind ineinander gelegt, so daß das Manuskript 5 lose Halbbogen stark ist. Die Seiten haben ein Format von 13,3 cm Breite und 17,4 cm Höhe. Sie weisen jeweils links einen Rand von ca. 2,5 cm Breite auf. Der Text beginnt auf Blatt 1 r mit ,,Αη Cecilie. Sie haben die Ursach getroffen [. . .]". Zweimal, nämlich auf Blatt 3 ν und 4 ν hat Schleiermacher den Seitenanschluß durch einen Kustos unter der letzten Zeile angezeigt. Die mit Bleistift vorgenommene Blattzählung stammt nicht von Schleiermacher. Im Text finden sich Bleistiftunterstreichungen, vermutlich von Diltheys Hand. Das Manuskript liegt jetzt in einem Umschlagblatt, auf das Dilthey vorne geschrieben hat: „Religionsbriefe. Fragment.". Für die Datierung ergeben sich aus dem Gedankengang der Schrift wichtige Hinweise, die als Abfassungszeit das Jahr 1790 wahrscheinlich machen. Sowohl in der Datierungsfrage als auch in der inhaltlichen Wertung dieses Manuskripts kann ich mich Diltheys Einschätzung nicht anschließen, die er in seiner kurzen Beschreibung dieses Manuskripts unter dem Titel „Briefe über Schwärmerei und Skepticismus" vorgetragen hat. „Dagegen haben sich diese Briefe aus der Studentenzeit erhalten, die wohl mit den aristotelischen Studien gleichzeitig sind, vor der Abhandlung über das höchste Gut geschrieben, wie sie denn in einem Entwurf der Drossener Zeit als Material an einige kritische Briefe vertheilt werden. [. . .] Die Briefe enthalten nichts, was in Schi.'s Zukunft blicken ließe."121 Richtig ist, daß dieses Manuskript Schleiermachers sowohl stilistisch als thematisch stark auf Brinckmann bezogen ist. Die Aufnahme der Figur Selmars wäre auch schon in Schleiermachers Hallenser Studentenzeit erklärlich, denn Brinckmann arbeitete an den Gedichten unter Mithilfe Schleiermachers schon 1788. (Selmar war der Deckname und Freundschaftsname Brinckmanns.) Doch dadurch, daß Schleiermacher das Erscheinen der Brinckmannschen „Gedichte von Selmar"122 voraussetzt123, ist für die Datierung der terminus a quo gegeben. Am 26. Juni 1789 berichtete Brinckmann nach Drossen an Schleiermacher: „Die Selmariana sind denn endlich 121 122 123

Denkmale 4 [Brinckmann:] Gedichte von Selmar, 2 Bde, Leipzig 1789 Vgl. dazu:,, Wie freute ich mich nicht, diesen Dichter, von dem ich Ihnen so oft gesprochen endlich vertraut auf Ihrem Tisch zu sehn!" (Unten 191,17f)

Historische

Einführung

LIII

heraus; aber wahrhaftig ich zittre und bebe vor dem kritischen Urtheilsspruch."124 Ein anderer wichtiger Hinweis für die Datierung steckt in Schleiermachers Anspielung auf die Französische Revolution.125 Da Schleiermacher hier mit einer gewissen Distanz von dem Umbruch in Frankreich und von dem diesem Umbruch zugrunde liegenden Programm spricht, halte ich es für wahrscheinlicher, daß das Manuskript im Jahr 1790, als daß es in der zweiten Jahreshälfte 1789 geschrieben wurde. Der unverkennbare starke Einfluß Brinckmanns könnte auch einen Anhalt für die Beantwortung der Datierungsfrage geben. Im Jahr 1790 waren beide in Berlin und pflegten ihre freundschaftliche Beziehung. Schleiermacher, der von Drossen aus am 13. Februar 179012e um die Zulassung zur ersten theologischen Prüfung gebeten hatte, fuhr im April nach Berlin, um diese Prüfung vor dem Reformierten Kirchendirektorium abzulegen. Er wohnte bei seinem Verwandten Reinhardt, Prediger an der Parochialkirche. Im April und Mai schrieb er innerhalb von sechs Wochen eine lateinische Abhandlung über das 5. Kapitel des Galaterbriefs und eine deutsche über Sinn und Gefahren der Polemik.127 Es folgten vier Klausurarbeiten, und die Prüfung endete am 15. Juli mit der Probepredigt über Lukas 5, 29—J2128 im Dom. Die nun folgende Ruhepause nach dem bestandenen Examen, in der sich Schleiermacher zwar auch um eine aussichtsreiche Gestaltung seiner beruflichen Zukunft bemühen mußte, in der er aber besonders den engen Umgang mit Brinckmann und dessen Bekanntenkreis genoß129, dürfte auch der Zeitraum sein, in dem er die Briefe „An Cecilie" schrieb. Im Oktober 1790 trat Schleiermacher dann die Hofmeisterstelle bei den Dohnas in Schlobitten an, die er durch Vermittlung des Hofpredigers, Oberkonsistorial- und Kirchenrats Friedrich Samuel Gottfried Sack erhalten hatte. Das Fragmentarische des Manuskripts hängt vielleicht mit diesem Wechsel seiner Lebensumstände zusammen. Die Briefe „An Cecilie" zeigen deutlich Spuren der kritischen Philosophie Kants. Sie fallen keineswegs, wie Dilthey meint, als bedeutungslose Vorarbeiten aus dem Opus Schleiermachers heraus. 9. Notiz zur Erkenntnis der Freiheit Schleiermachers eigenhändiges Manuskript, das eine Notiz zur Erkenntnis der Freiheit enthält (Nachlaß-Nr. 134/2 im Zentralen Archiv der 124 125 126 127 128 129

Briefe von Brinckmann an Schleiermacher 9 Vgl. unten 204,19-28 Vgl. Meisner: Schleiermachers Lehrjahre 46 Vgl. oben XXIIIf Vgl. SW 11/7,42-53 Vgl. Meisner: Schleiermachers Lehrjahre 48f

LIV

Einleitung des

Bandherausgebers

Akademie der Wissenschaften der DDR), wird hier zum erstenmal veröffentlicht. Es besteht aus einem beidseitig beschriebenen Blatt mit nicht ganz glatten Kanten. Es ist ohne Überschrift und ohne Datum. Der Text beginnt mit „Es kommt nun bei dieser Klassifikation [. . .]". Das nachgedunkelte bräunliche Papier mit Wasserzeichen ist 10,3 cm breit und 17,1 cm hoch. Es ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Die Foliierung mit Bleistift stammt nicht von Schleiermacher; weil das Blatt mit dem Manuskript Nr. 134/1 zusammengezählt wird, lautet die Foliierung „4". Das Blatt ist inhaltlich eng mit der Abhandlung „Über die Freiheit" verknüpft. Und zwar handelt es sich um Überlegungen, die in den vierten Abschnitt dieser Abhandlung Eingang gefunden haben: sein Inhalt ist parallel zu Ms.-S. 95 f dort. Schleiermacher erörtert, wie sich der Begriff der Freiheit von seinen Anwendungsbereichen her sinnvoll gliedern und darstellen läßt. Da das Blatt eine Vorstudie und Skizze zur Ausarbeitung in der großen Abhandlung ist, ist für die Datierung ein wichtiger Anhaltspunkt gewonnen. Es muß unmittelbar vor oder während der Arbeit an der Abhandlung von Schleiermacher verfaßt worden sein. Da zu den „Freiheitsgesprächen" stilistisch und sachlich der Abstand unübersehbar ist, dürfte die Niederschrift wohl im Zeitraum zwischen 1790 und 1792 erfolgt sein.

10. Über die Freiheit Schleiermachers eigenhändiges Manuskript, das eine Fragment gebliebene Abhandlung über die Freiheit enthält, ist unter der Nachlaß-Nr. 133 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR archiviert. Es ist ein umfangreicher Text ohne Überschrift und ohne Datum. Der Text beginnt mit „Erster Abschnitt. Es scheint in dem jezigen Zustand[. . .]". Das nachgedunkelte handgeschöpfte Papier mit Wasserzeichen, dessen geschnittene Kanten zumeist glatt sind, ist mit Sepia-Tinte ohne Seitenrand beschrieben. Das Manuskript ist von Schleiermacher nur auf den Seiten 41, 49 und 57 paginiert. Jetzt befindet sich das Manuskript in einem Umschlagblatt, auf dessen Titelseite von Diltheys Hand geschrieben steht: „ Über die Freiheit des Willens. Fragment." Bleistiftunterstreichungen im Text stammen wohl von Dilthey. Die jetzige Seitenzählung mit Bleistift orientiert sich nur an den beschriebenen Seiten, die unbeschriebenen bleiben unberücksichtigt. Schleiermacher hat Blätter zweierlei Formates benutzt. Die ersten 32 Seiten sind 14,5 cm breit und 19,4 cm hoch; da jeweils zwei durch Faltung entstandene Doppelblätter ineinander gelegt sind, umfaßt dieser Manuskriptteil 4 lose Halbbogen. Die Seiten 33—103 sind 10,4 cm breit und 17,4 cm hoch; sie bestehen wiederum aus losen Lagen, insgesamt 10 Halbbogen. Auf S. 25 ist das letzte Fünftel der Seite unbeschrieben, auf S. 90 die letzten beiden Drittel und auf S. 103 das letzte Viertel. Nach S. 90 folgen 6

Historische

Einführung

LV

leere Seiten und nach S. 103 noch einmal 3 leere Seiten, die alle nicht mitgezählt worden sind. Den Seitenanschluß durch einen Kustos unter der letzten Zeile hat Schleiermacher auf den Seiten 2. 4. 6. 8. 32. 40. 42. 52. 56. 57. 58. 62. 64. 68. 70. 72. 80. 86. 88. 89. 92. 94. 98. 100. 102 markiert. Er hat allerdings auf den Seiten 8. 52. 56. 72. 89. 94 vergessen, den Kustos auf der neuen Seite zu wiederholen, so daß er jetzt zum normalen Textbestand gehört. Eine Eigentümlichkeit dieses Manuskripts ist das Schriftbild. Schleiermacher beginnt in einer gut leserlichen Größe und schreibt dann immer enger und kleiner, bis er sich der Unleserlichkeit nähert. (Vgl. dazu das Faksimile der Ms.-S. 103, unten 218.) Da Schleiermacher den ersten, zweiten und vierten Abschnitt jeweils auf einer neuen Seite beginnt, ist im Sinne der Vereinheitlichung hier auch der dritte Abschnitt mit neuem Seitenbeginn gedruckt. Im Dialogteil des zweiten Abschnitts ist der von Schleiermacher zumeist durch Unterstreichung des ersten Wortes hervorgehobene Sprecherwechsel hier jeweils durch einen neuen Absatz verdeutlicht. Schleiermacher hat öfters in den fortlaufenden Text Anmerkungen eingeschoben, die bei Drucklegung der Abhandlung als Fußnoten unter den Text piaziert worden wären. Um diese Anmerkungen deutlicher herauszuheben, ist die von Schleiermacher nur an einigen Stellen unterstrichene Eingangsformel „Anm." durchgängig gesperrt wiedergegeben. Das Manuskript ist ein Fragment. Schleiermacher bricht im dritten Kapitel des vierten Abschnitts ab. Nicht ausgeführt sind der größere Teil dieses dritten Kapitels „ Von der Freiheit als Prädikat menschlicher Zustände" und das vierte Kapitel „Von der Freiheit als Prädikat menschlicher Vermögen" i3o Mehr als vier Abschnitte sollte die Abhandlung offensichtlich nicht umfassen. Das Manuskript „ Über die Freiheit" ist nicht datiert. Auch in Schleiermachers Briefwechsel finden sich keine eindeutigen Hinweise zur Abfassungszeit. Durch seinen ersten Satz weist sich dieses Manuskript als erste Abhandlung in einer geplanten ,,Samlung philosophischer Rhapsodien "131 aus. Es steht also im Zusammenhang mit den beiden Abhandlungen „ Über das höchste Gut" und ,,Über den Wert des Lebens". Bei diesen Abhandlungen handelt es sich offensichtlich um die „schriftstellerischen Projecte"132 bzw. die „philosophischen Versuche"133 bzw. die „philosophischen Aufsätze"134, von denen im Briefwechsel des öfteren die Rede ist. Damit ist eine grobe 130 131 132 133 134

Vgl. unten 339,24-27 Vgl. unten 219,2-5 Briefe 3,28 Briefe 3,38.45 Briefe 3,46

LVI

Einleitung

des

Bandherausgebers

Einordnung in den Zeitraum seiner Aufenthalte in Drossen, Berlin und Schlobitten 1789 bis 1793 möglich. Eine genauere Eingrenzung des Entstehungszeitraums läßt sich aus dem sachlichen Bezug dieses Manuskripts auf das Manuskript „Freiheitsgespräch" (SN 194)135 gewinnen. Dieses „Freiheitsgespräch", das als letztes der drei von Schleiermacher verfaßten Freiheitsgespräche136 in Drossen am 22. Juli 1789 in Arbeit, aber „noch nicht fertig"131 ist, muß auf Grund sachlicher und stilistischer Merkmale der umfangreichen Abhandlung ,, Über die Freiheit" vorausgehen. Damit ist der Sommer 1789 als terminus a quo dieses Manuskripts gesichert. Ein weiterer Hinweis ergibt sich aus Stubenrauchs am 16. März 1791 brieflich geäußertem Wunsch gegenüber Schleiermacher, „daß Sie Ihre philosophischen Versuche ganz ausarbeiteten und drucken ließen"138. Wie Dilthey diese Stelle als Beleg dafür werten kann, daß diese Untersuchung „nach dem Frühjahr 1791 begonnen"139 wurde, ist unverständlich. Denn die Wendung „ganz ausarbeiteten" deutet doch wohl eher darauf hin, daß schon ein großer Teil der Arbeit getan ist und das Unternehmen nur noch der publikationsfähigen Vollendung bedürfe. Einen solchen Status hat aber das Manuskript „ Über die Freiheit". Als Druckvorlage kann es auf keinen Fall eingestuft werden; vom Fragmentarischen abgesehen erfordert auch die stilistische Gestalt noch eine Überarbeitung, ganz zu schweigen von dem teilweise nahezu unleserlichen Schriftbild. Die anderen von Dilthey angeführten Stellen aus publizierten und noch nicht publizierten Briefen des Jahres 1792140, die von Verhandlungen Schleiermachers mit einem Verleger berichten, werden von Dilthey zu Unrecht auf die Freiheitsabhandlung bezogen. Der vollständige Kontext dieser bisher nicht edierten Briefe zeigt nämlich, daß diese Verlagsverhandlungen nur die Publikation des Manuskripts „ Über den Wert des Lebens" zum Inhalt und Ziel hatten.141 Und der Hinweis aus Stubenrauchs Brief vom 20. Juni 1792, daß Schleiermacher „philosophische Discussionen über die Freiheit"142 veröffentlichen wolle, muß keineswegs so verstanden werden, daß Schleiermacher damals gerade an dem Manuskript „ Über die Freiheit" arbeitete. Dieses Manuskript konnte damals auch für eine letzte Überarbeitung zur Publikation bereitliegen. Zumindest sprechen alle Briefzeugnisse des Jahres 1792 nicht ausdrücklich von

135 136 137 138

Vgl. unten 137-164 Vgl. oben XLIV-XLVII Briefe 4,18 Briefe 3,38

139 E)enkmale 21 140 141 142

Vgl. Denkmale 20 Vgl. unten LXIII Briefe 3,46

Historische

Einführung

LVII

Arbeiten an diesem Manuskript, wohl aber von Arbeiten am „ Wert des Lebens". Noch eine stilistische Beobachtung muß bei der Datierungsfrage berücksichtigt werden. Im zweiten Abschnitt hat Schleiermacher zwischen die beiden umfangreichen Gedankengänge über die Zurechnung bzw. das Freiheitsgefühl einen Dialog eingeschoben143, in dem der Autor („ich") mit Kleon spricht. Dieser literarische Gattungswechsel wirkt unmotiviert und rätselhaft. Der Dialog wirkt innerhalb der Abhandlung wie ein Fremdkörper. Seine Nähe zu den „Freiheitsgesprächen" ist unübersehbar. Kleon ist hier wie dort „ein wahrer und gewöhnlicher Character"144. Es ist also die Vermutung nicht abzuweisen, daß dieser eingeschobene Dialog ein überarbeiteter Teil des ersten oder zweiten Freiheitsgespräches ist, wahrscheinlich des zweiten, denn dort hatte Schleiermacher unter anderem die Frage abgehandelt, „ob diese Art der Nothwendigkeit unsrer Handlungen zum moralischen Quietismus führe."145 Daß Schleiermacher bei Überarbeitungen oder erneuten Behandlungen von Themen ältere Entwürfe auswertet und teilweise abschreibend übernimmt, ist eine Eigenart, die bei ihm auch später noch vorkommt und belegbar ist.146 Einer eindeutigen Interpretation entzieht sich leider auch der Anfang dieses Dialogteils, obwohl eine eindeutige Auskunft für die Datierungsfrage ausgesprochen erhellend wäre. Schleiermacher schreibt: „Ich war hier durch mancherlei Zufälle lange an der weiteren Aufzeichnung meiner Ideen über diesen Gegenstand unterbrochen worden; eben wollte ich mich dran geben sie fortzusezen [. . .]".147 Ist dieser Hinweis auf die Unterbrechung eine literarische Fiktion, um den Übergang zum Dialog zu rechtfertigen bzw. abzumildern? Oder ist dies ein biographischer Reflex, wodurch der Rückgriff auf das ältere Dialogmaterial psychologisch so erklärbar wäre, daß Schleiermacher dadurch seine Überlegungen leichter wieder aufnehmen konnte? Die Alternative läßt sich nicht entscheiden. Erstaunlich ist jedoch, daß Schleiermachers hier skizziertes Programm („ich wollte untersuchen woher es doch käme, daß man die beiden so sehr zusammengehörigen Ideen der Zurechnung oder vielmehr der Sittlichkeit überhaupt und der Nothwendigkeit von einander getrennt und als widersprechend angesehn, wann diese Trennung angefangen und wie daraus die mannigfaltigen Irrthümer in dieser Lehre entstanden sind f. . J"148) nicht mit dem weiteren Gedankengang des zweiten Abschnitts übereinstimmt,

143 144 145 146

147 148

Vgl. unten 271,21-281,40 Briefe 4,19 Briefe 4,19 Diese Arbeitsweise läßt sich z.B. bei den „Wissenschaftlichen Tagebüchern" feststellen, die in KGA 1/2 und 1/3 veröffentlicht werden. Unten 271,21-23 Unten 271,23-28

(1796-1802)

LVIII

Einleitung

des

Bandherausgebers

daß dieses Programm vielmehr den Inhalt des dritten Abschnitts umschreibt. Die Untersuchungen zum Freiheitsgefühl scheinen sich also aus den Gedanken des Dialogs zu entwickeln und somit eine Korrektur des Plans zu veranlassen. Dies könnte als Hinweis für eine Zäsur in den Arbeiten an dieser Abhandlung gedeutet werden. Eine solche Zäsur ist innerhalb der Schlobittener Zeit nur schwer anzunehmen, sie ist leichter durch Schleiermachers Wechsel von Drossen nach Berlin bzw. von Berlin nach Schlobitten zu erklären. Überblickt man den allerdings ziemlich spärlichen Bestand von Anhaltspunkten für die Datierung, so neige ich zur Annahme, daß das Manuskript ,, Über die Freiheit" in nur geringem zeitlichen Abstand zu den drei „Freiheitsgesprächen" geschrieben worden ist: wichtige Themen aller drei „Freiheitsgespräche", nämlich Zurechnung, Antriebe zur Sittlichkeit, moralischer Quietismus, Kantischer Freiheitsbegriff149 werden auch hier ausführlich behandelt, wenngleich systematisch umgeformt. Ich halte demnach als Abfassungszeit die letzten Monate in Drossen bis in die ersten Monate in Schlobitten, mithin das Jahr 1790 für wahrscheinlich. Dilthey hat das Manuskript „Über die Freiheit" auszugsweise veröffentlicht. 150 Es steht zusammen mit den „Freiheitsgesprächen" bei ihm unter dem Gesamttitel „ Ueber die Freiheit des Menschen", es wird aber auch genauer als „Untersuchung über die Freiheit des Willens"151 bezeichnet. Dieser Einzeltitel, der sich auch auf dem Umschlagblatt des Manuskripts findet, stellt jedoch eine unangemessene Eingrenzung dar, der Gesamttitel entspricht den hier verhandelten Themen besser. Offenbar wegen der großen Mühen beim Lesen und Entziffern des Manuskripts hat Dilthey seinen Auszug aus dem zweiten Kapitel des vierten Abschnitts unverhältnismäßig gekürzt und den vorhandenen Anfang des dritten Kapitels ganz weggelassen. Mehrere Manuskripte müssen als direkte Vorarbeiten zur Abhandlung „ Über die Freiheit" angesprochen werden. Zunächst handelt es sich um Notizen Schleiermachers, die er sich bei der Lektüre von Kants „Critik der practischen Vernunft" gemacht hat152; ferner um die drei „Freiheitsgespräche", von denen uns leider nur das Manuskript des dritten „Freiheitsgesprächs" erhalten ist153; sodann um ein Blatt, auf dem Schleiermacher parallel zu seinen Ausführungen am Ende des ersten Kapitels des vierten Abschnitts den weiteren Gedankengang des vierten Abschnitts vorzeichnet154.

149 150 151 152 153 154

Vgl. Briefe 4,19 Vgl. Denkmale 21-46 Denkmale 21 Vgl. unten 129-134 Vgl. unten 137-164 Vgl. unten 215

Historische

11. und 12. Entwurf zur Abhandlung

Einführung

LIX

über den Stil und Über den Stil

Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „ Ueber den Styl" (Nachlaß-Nr. 113 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) wird hier erstmals veröffentlicht. Es umfaßt 15 Blätter von 17,4 cm Breite und 20,8 cm Höhe in losen Lagen. Dabei lassen sich zwei sehr verschiedene Manuskriptteile unterscheiden: zum einen ist da das Einzelblatt S. 29f, das einen überschriftslosen Entwurf zur Abhandlung über den Stil darstellt; zum anderen sind da die 14 Blätter der Abhandlung „ Über den Stil", die aus Doppelblättern bestehen, die durch Faltung entstanden sind. Zweimal sind je zwei dieser Doppelblätter ineinander gelegt155, dann folgen noch drei Doppelblätter. Das Manuskript ist ohne Datum. Die Paginierung stammt nicht von Schleiermachers Hand. Der Text beginnt auf S. 1 nach der Überschrift mit „Das Wort Styl, welches eigentlich [. . .]". Die Seiten 15 und 16 sind unbeschrieben; verschiedene Seiten sind nur teilweise beschrieben: so sind auf S. 7 das letzte Siebtel, auf S. 8 die unteren vier Fünftel, auf S. 14 die unteren neun Zehntel und auf S. 30 die letzten vier Fünftel leer. Das nachgedunkelte Papier ohne Wasserzeichen ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Die Blattkanten sind unregelmäßig geschnitten; die obere Kante ist wenig, die untere und die Außenkante stark gezahnt. Das Manuskript ist unvollständig. Nach S. 24 fehlt mindestens ein Doppelblatt, desgleichen nach S. 28. Durch diese Verluste läßt sich die Frage nicht mehr beantworten, ob die Abhandlung insgesamt ein Fragment ist; doch spricht für diese Annahme der Umstand, daß in dem erhaltenen Manuskript die Ausführung den von Schleiermacher skizzierten Plan bei weitem nicht eingelöst hat. Die Datierung des Manuskripts ist durch eine Briefstelle sichergestellt. Stubenrauch schrieb am 3. Februar 1791 an Schleiermacher in Schlobitten: „Daß Sie aber noch immer alles fein bis auf die Letzt verschieben, ist nicht fein, und will besonders der Mama gar nicht behagen. Mit Ihren Vorlesungen über den Stil wird's dann auch wohl so gehen, und ich denke es wird sich noch oft treffen, daß Sie geradezu aus dem Kopf dictiren."156 Das vorliegende Manuskript sind also Ausarbeitungen Schleiermachers für seinen Unterricht in Schlobitten im Hause Dohna. Stubenrauchs Brief setzt eine Nachricht Schleiermachers voraus, die wohl auf den Jahresanfang 1791 angesetzt werden muß. Da Schleiermacher wohl nicht über einen Plan, sondern aus seinem laufenden Unterricht berichtete, können Entwurf und Teile der Abhandlung durchaus ins Jahr 1790 zurückreichen. Aus Stubenrauchs Brief kann allerdings keineswegs geschlossen werden, daß das Manuskript insgesamt zu Beginn des Jahres 1791 in einem Arbeitsprozeß entstanden sei. Denn die verschiedenen Brüche, die eingesprengten, den Stoff raffenden 155 156

Ms.-S. 1-8. Briefe 3,37

9-16

und

17-24

LX

Einleitung

des

Bandherausgebers

Kurzübersichten und die Neuansätze zur Behandlung desselben Gegenstandes deuten darauf hin, daß es sich bei diesem Manuskript nicht um eine fortlaufende Niederschrift handeln muß, sondern daß mit einem längerfristigen Wachstum gerechnet werden kann, das diese Verwerfungen erklärlich machte. Es bleibt nämlich völlig offen, wie häufig und in welchen zeitlichen Abständen Schleiermacher seine „Vorlesungen" gehalten hat. Das könnte die Erklärung für den Sachverhalt sein, daß in der Abhandlung mehrfach wörtliche oder umschreibende Wiederholungen begegnen.157 Die stichwortartige Übersicht158 und die Brüche159 im Manuskript passen genau zu Stubenrauchs Vermutung, Schleiermacher habe aus Zeitmangel seine Vorbereitungen nicht abgeschlossen und habe, statt aus formulierte Sätze vom Blatt ablesend zu diktieren, sein Diktat extemporiert. Es ist auch denkbar, da die drei Schleiermachers Obhut anvertrauten Grafen Louis, Fabian und Friedrich zu Dohna in ihrem Lebensalter doch einige Jahre auseinanderlagen, daß Schleiermacher zum Sachgebiet des Stils in seinem Unterricht nicht nur einmal diktiert hat. Das Manuskript hat im einzelnen sehr unterschiedlichen Charakter. Zum einen ist da derEntwurf in dem sich Schleiermacher eher tastend dem Gegenstand nähert und sich über sein Thema zu verständigen sucht; zum andern stehen in der Abhandlung neben längeren Abschnitten fertiger Ausarbeitungen auch gedrängte oder stichwortartige Überblicke. Sicher ist, daß das Manuskript in Schleiermachers Hauslehrerzeit in Schlobitten fällt und daß Schleiermacher schon zu Beginn des Jahres 1791 Diktate über diesen Gegenstand gegeben hat. Dilthey hat an zwei Stellen auf dieses Manuskript nur kurz hingewiesen. In einer Anmerkung zu der oben zitierten Stubenrauch sehen Briefstelle schreibt er: „ Von diesen Vorträgen über den Stil ist noch einiges unter Schleiermachers Papieren; nämlich ein Bruchstück des Entwurfs dazu von seiner eignen Hand, und einige weitere Ausführungen des Entwurfs in der Nachschrift eines Schülers,"160 Offensichtlich hatte Dilthey dieses Manuskript Schleiermachers nur flüchtig eingesehen, denn die Unterschiede in der Schreibart und im Schriftbild rechtfertigen keineswegs die Annahme, daß einiges nicht von Schleiermachers Hand sei, sondern resultieren daraus, daß Schleiermacher mit seinen Ausarbeitungen in sehr unterschiedlichen Graden vorangekommen ist: vom Stichwort bis zur Reinschrift ist in diesem Manuskript alles vorhanden. Diltheys zweiter Hinweis findet sich vor seiner Beschreibung von Schleiermachers Abhandlung ,,Ueber den historischen Unterricht". In die157 158 159 160

Vgl. unten 37If mit 369; 37if mit 374f; 383, 13-15 Vgl. unten 370 Vgl. unten 369. 370. 375 Briefe 3, 37 Anm.

mit 385,

7-9

Historische

Einführung

LXI

ser ganz kurzen Nachricht der „Denkmale" von 1870 scheint Dilthey durch sein Schweigen, indem er nämlich die von ihm 1861 behauptete Schülernachschrift nicht erwähnt und statt dessen Schleiermachers Manuskript durch den Plural ,,Diktate" vorstellt, seine erste Kurzdarstellung implizit zu widerrufen und den wechselnden Charakter des Manuskripts nun neu zu deuten. „Aus der Zeit von Schlobitten geschieht keiner andren Schrift Erwähnung. Seine Diktate über den Styl an seine Zöglinge liegen noch vor. Flüchtig wie sie entstanden sind, sodaß sie bisweilen extemporirt wurden, bieten sie nichts, was hervorgehoben zu werden verdiente. "161 Daß Dilthey dieses Manuskript so harsch abwertet, läßt wohl auf eine flüchtige Durchsicht dieser Papiere schließen. Dilthey hat die mannigfaltigen Ansatzpunkte, die für die Entwicklung und Ausarbeitung der Schleiermach ersehen Hermeneutik hier schon festzustellen sind, ganz übersehen. Diltheys abschätziges Urteil ist durch die Ausführungen Schleiermachers selbst nicht gerechtfertigtDie Beobachtung, daß sich Schleiermacher im Entwurf zu seiner Abhandlung über den Stil Seitenzahlen notiert hat, treibt zur Suche nach einer literarischen Vorlage. Die Abhandlung selbst hat keinerlei Literaturhinweise oder Belege. Wohl aber können die zahlreichen Beispiele Schleiermachers, durch die stilistische Mängel in concreto dargestellt werden, als wertvolle Anhaltspunkte für die Identifizierung der literarischen Vorlage genutzt werden. Alle diese Hinweise führen auf den 1. Band des dreiteiligen Werkes „ Ueber den Deutschen Styl" von Johann Christoph Adelung, und zwar läßt sich mittels der Seitenangaben die dritte Auflage, Berlin 1789 als Vorlage Schleiermachers identifizieren.162 Die Konzeption und die Grundgedanken der fragmentarischen Abhandlung Schleiermachers zeichnen sich durch eine große Selbständigkeit gegenüber der literarischen Vorlage aus. Auch in der Materialauswertung und der Betonung mancher Details geht Schleiermacher andere Wege als Adelung. Während Adelung die Hauptgesichtspunkte, deren er sich zur Beschreibung des Stils bedient, einfach aneinanderreiht, entwickelt Schleiermacher einen festen Rahmen, der ihm die Vollständigkeit der Gesichtspunkte und die sachgemäße Anordnung verbürgen soll. Adelung illustriert seine Urteile und Einschätzungen durch einen reichen Schatz von Beispielsätzen, die überwiegend aus der Literatur stammen, deren Fundort von ihm aber nur zum Teil angegeben wird. Dabei geht Adelung zumeist so vor, daß er diese Beispielsätze kommentiert und den Punkt ausdrücklich macht, auf den er die Aufmerksamkeit des Lesers lenken möchte. 161 162

Denkmale 63 Schleiermacher notierte sich in seinem Entwurf: „Empfang. Achtung p. 141./142.". Der von Schleiermacher gemeinte Beispielsatz findet sich nur in der 3. Auflage, nicht aber in der 1. und 2. Auflage des Adelungschen Werkes an der angegebenen Stelle. Die übrigen Seitenverweise des Schleiermacherschen „Entwurfes" stützen diese Feststellung.

LXII

Einleitung des

Bandherausgebers

Schleiermacher verfährt bei der Übernahme der Adelungschen Beispielsätze eklektisch, und er läßt das kommentierende Rankenwerk weg. Seine Aneinanderreihung Adelungscher Beispielsätze wird in ihrer Aussagerichtung teilweise nur verständlich, wenn der Adelungsche Kontext mitgewußt wird. In diesen Fällen bietet deshalb der Sachapparat ausführlicher den Adelungschen Text. Ist dagegen die Aussagerichtung der Beispielsätze in sich verständlich, so notiert der Sachapparat nur die Übereinstimmung oder Verwandtschaft mit der Quelle.

13. Über den Wert des Lebens Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „Über den Wert des Lebens" (Nachlaß-Nr. 135 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt in losen Lagen 76 Blätter von 12,8 cm Breite und 17,8 cm Höhe. Nur die beschriebenen 147 Seiten sind mit Bleistift paginiert, wobei die Paginierung nicht von Schleiermacher ist. Blatt 74 ν, 75 r, 75v, 76r und 76v sind unbeschrieben. Auf Seite 147 ist nur das erste Viertel beschrieben. Das Manuskript ist ohne Überschrift und ohne Datum. Die Überschrift „Über den Wert des Lebens" ist durch eine Briefbemerkung Duisburgs sichergestellt.163 Das Manuskript beginnt „Warum sollt ich mirs läugnen, daß ich [. . .]". Das Manuskript befindet sich jetzt in einem Umschlagblatt, auf dem vorne von Diltheys Hand der obige Titel vermerkt ist. Das Manuskript besteht aus insgesamt 19 losen Halbbogen, wobei jeweils zwei durch Faltung entstandene Doppelblätter zu einem Halbbogen zusammengelegt sind. Das nachgedunkelte Papier ohne Wasserzeichen hat zumeist glatt geschnittene Kanten und ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Schleiermacher hat jeweils links einen ca. 2 cm breiten Rand gelassen. Alle Seiten mit geraden Ziffern (außer S. 106), außerdem einige Seiten mit ungeraden Ziffern164 haben unter der letzten Zeile rechts einen Kustos. Bei diesen Merksilben für den Seitenanschluß sind zwei Unregelmäßigkeiten zu beobachten: einmal165 weichen Kustos und Text im Buchstabenbestand voneinander ab, sodann wird auf Ms.-S. 27 bzw. 131 der Kustos von S. 26 bzw. 130 nicht wiederholt. Das Manuskript ist sauber geschrieben und gut lesbar. (Vgl. dazu das Faksimile der Ms.-S. 1, unten 392). Es sollte vermutlich als Druckvorlage dienen. Die Datierung des Manuskripts ist durch Hinweise aus bisher unveröffentlichten Briefen des Hallenser Studienfreundes Friedrich Karl Duisburg an Schleiermacher gesichert. Das Manuskript ist wohl in der zweiten Jahres163 164 165

Vgl. SN 277, Bl. 4r Ms.-S. 17. 77. 93 Ms.-S. 108f „äu-\ßern" und „äu-[ßeren"

Historische Einführung

LXIII

hälfte 1792 und zu Beginn des Jahres 1793 in Schlobitten entstanden. Dilthey hat durch die Kombination der Predigt vom Neujahrstag 1792166 mit einer auf diese Predigt bezogenen brieflichen Anregung Stubenrauchs zur ausführlicheren Ideenentwicklung vom 20. Juni 1792167 ebenfalls den Sommer 1792 als den terminus a quo bestimmt168. Bisher unveröffentlichte Briefe machen auch einen terminus ad quem wahrscheinlich. Schleiermachers Freund Duisburg in Danzig war als Mittelsmann in dessen Verhandlungen mit dem Verleger Ferdinand Troschel eingespannt. Unsere ersten Nachrichten über die Publikationsverhandlungen beziehen sich auf Freitag, den 7. September 1792. Im Brief vom 9.—11. September 1792 schreibt Duisburg unter dem 11. September an Schleiermacher: „Mit Troschel habe ich am Frey tage gesprochen. Er hat an Dich geschrieben, ohne mirs vorher zu sagen und hat also den Brief nach Schlobitten addreßirt. Wer weiß ob er schon in Deine Hände mag gekommen seyn. Er ist wohl willens das Werklein über den Werth des Lebens zu nehmen, wenn Du Dich näher gegen ihn darüber erklären willst. "169 Nachdem offensichtlich Schleiermacher eine Einigung mit dem Verleger Troschel erzielt hatte, wartete Duisburg auf die Zusendung der Vorlage für den Druck. Er schrieb am 18. Oktober: „Deine hiesigen Commissiones habe ich alle wohl ausgerichtet, wie die beykommenden Bücher zeigen und Troschels Brief. Das Manuscript sende nur fein bald nach Danzig, ich werde Dir das Kind dann recht schön gedruckt nach Finckenstein oder Schlobitten hinsenden. Meine alltägliche Bemerkung: daß man über das Menschenleben nichts neues schreiben könne, war wahrlich nicht in Rücksicht auf Dein Werkchen geschrieben oder gedacht. Ich bescheide mich gern, daß ich nicht im Stande bin, dieses zu beurtheilen, und daher sah ich es beynahe für einen Hieb an, daß Du mir das Oberrichterliche Amt, über das Werden oder Nichtwerden Deiner Schriftsteller Existenz übertragen wolltest."™ Am 4. Dezember 1792 mahnte Duisburg sehr deutlich: „Nun will ich mir die Freyheit nehmen Dir auch ein Wörtchen ins Ohr zu sagen. Wo ist der Freund, der mir und Troschel Hofnung gab auf Neujahr ein Werklein von ihm in Händen zu haben? Troschel ist ziemlich verdrüßlich, denn er rechnete auf einen Verlagsartickel zur Neujahrsmesse und er sieht sich in seiner Rechnung betrogen."171 Und im Postskript desselben Briefes unterstreicht Duisburg seine Mahnung nochmals: „ Vergiß doch das Manuscript nicht!"172 166 167 168 169 170 171 172

Vgl. SW 11/7,135-152 Vgl. Briefe 3,47 Vgl. Denkmale 46f SN 277, Bl. 3v. 4r SN 277, Bl. 6v SN 277, Bl. 8v SN 277, Bl. 9v. Diesen letzten Brief kannte Dilthey (vgl. Denkmale 20), bezog ihn aber fälschlich auf die Abhandlung „Über die Freiheit".

LXIV

Einleitung des

Bandherausgebers

Für die weitere Entstehungsgeschichte läßt sich aus diesem letzten Brief die Vermutung entnehmen, daß Schleiermacher das Manuskript nicht zum vereinbarten Zeitpunkt liefern konnte und der ,,Verdruß" den Verleger Troschel zum Rücktritt von der Vereinbarung trieb. Als terminus ad quem ist also für dieses Manuskript mit dem Frühjahr 1793 zu rechnen. Dilthey datiert ebenso: „Also im Sommer 1792 ward der Plan gefaßt. Am 7. Mai 1793 war dann Schleiermachers Weggang von Schlobitten entschieden. Auf den dortigen Aufenthalt bezieht sich das Bruchstück vielfach und muß demnach in diese Zwischenzeit fallen; vielleicht daß der Faden bei dieser Veränderung seines Zustandes abbrach. Erwäge ich in der Einleitung sowohl die Form einer Geburtstagsbetrachtung als die Anspielung auf eine drohende Trennung, dazu den Brief an Catelvom 26. Nov. 1792 (III, 49), so möchte ich die Vermutung wagen, daß Schleiermacher diese Selbstbetrachtungen am 21. November 1792, an seinem vierundzwanzigsten Geburtstage begann. "173 Schon Dilthey hat auf den genetischen und sachlichen Zusammenhang zwischen diesem Manuskript und der Predigt hingewiesen, die Schleiermacher unter der Überschrift „Die wahre Schäzung des Lebens"174 am Neujahrstag 1792175 über Psalm 90,10 gehalten hat. In dieser Neujahrspredigt 1792 können wir gleichsam den Keim der Abhandlung erblicken. Schleiermachers Onkel Stubenrauch schrieb am 26. Juni 1792 nach Schlobitten: „Sehr schön wäre es wohl, wenn Sie den Vorsatz die Neujahrspredigt zu erweitern, die Ideen noch mehr zu entwickeln, wirklich ausführten. An Kraft dazu fehlt es Ihnen wahrlich nicht, an Lust auch nicht, und so viel Muße ließe sich auch wohl finden. Aber, aber."176 Diltheys Einschätzung der sachlich-konzeptionellen Korrespondenz zwischen Predigt und ausführender Darstellung kann ich allerdings nicht ganz folgen. Dilthey schreibt mit Bezug auf den Predigtenband: „Nunmehr leuchtet ein, daß die Predigt, von deren Erweiterung Schleiermacher plant, die uns S. 135 vorliegende ist. Denn die Ausführung schließt sich ganz genau an die Ordnung der Predigt; nur wird, was auf der Kanzel über die Bestimmung des Menschen vorausgesetzt wurde, hier zuerst ausführlich entwikkelt; bei der Ausführung des auf S. 141 (Absatz) Begonnenen bricht die philosophische Bearbeitung ab."177 173 174 175

176 177

Denkmale 47 Vgl. SW 11/7,135-152 Der Herausgeber der nachgelassenen Predigten, Ad. Sydow, hat diese Predigt irrtümlich auf den Neujahrstag 1793 datiert (SW II/7, S. XIIIf. und 135); Dilthey hat die Korrektur überzeugend begründet (vgl. Briefe 3, 43. 47 und Denkmale 46f). Diltheys Anmerkung in Briefe 3, 43 weist leider einen höchst irreführenden Druckfehler auf: statt „1790" muß es „1791" heißen. Briefe 3,47 Denkmale 47

Historische

Einführung

LXV

Weder folgt die Abhandlung genau dem Aufbau der Neujahrspredigt, denn die Abhandlung hat einen anderen Einsatz und auch nicht die für die Predigt charakteristische Zweiteilung, noch beschränkt sich die Abhandlung auf die im ersten Drittel der Predigt geäußerten Gedanken, denn auch aus der zweiten Predigthälfte nimmt Schleiermacher durchaus Gedanken in die Abhandlung auf. Schließlich hat die Abhandlung alle Bezüge und Anklänge an die Predigtsituation „Neujahr" und an den Predigttext Psalm 90,10 abgestreift. Wenn man bedenkt, daß diese Bezüge für die Predigt nicht nur marginalen Charakter haben, wird das Ausmaß der Umformung und Differenz deutlich. Auch wenn die große Bedeutung der Neujahrspredigt für die Entstehung und den gedanklichen Entwurf der Abhandlung unbestreitbar ist und diese Predigt deshalb die meisten Verständnishilfen bereitstellt, so ist doch die Verbindung noch zu einer anderen Predigt augenfällig. Die auch aus der Schlobittener Zeit stammende Predigt „ Von der rechten Art über die Unterstützungen und Hülfsmittel zur Besserung nachzudenken, die Gott einem jeden zu Theil werden läßt"17S, die auf 1792 oder 1793 datiert werden muß179, widerlegt im Anschluß an den Predigttext Lk 11,28 den Gedanken, daß die Vervollkommnungsmöglichkeiten von Gott ungleich verteilt seien: bei den Gelegenheiten zur Besserung bestehe vielmehr Summeninvarianz wegen der Doppelgesichtigkeit aller Lebensphänomene. Dieses Thema behandelt Schleiermacher auch in seiner ausführlichen Darstellung „ Über den Wert des Lebens".180 Schleiermacher macht hier wie dort gegen ein vom Neid vergiftetes undankbares Herz Front. Dieses Manuskript „Über den Wert des Lebens" ist von Dilthey unter diesem Titel, ergänzt durch den Untertitel „Ein Fragment,"181 in Auszügen veröffentlicht worden.182 Diese Teilveröffentlichung hat Nachdrucke erfahren. Bei seiner Kritischen Ausgabe von Schleiermachers „Monologen" hat F. M. Schiele 1902 in seiner Einleitung die Neujahrspredigt von 1792 und Diltheys Auszug aus,, Über den Wert des Lebens" ausführlich dargestellt.183 In der 2. Auflage dieser „Monologen"-Ausgabe sind diese beiden Texte dann 1914 von H. Mulert als Anhang abgedruckt worden. Dabei hat er weitgehend den Dilthey sehen Textauszug,, Über den Wert des Lebens" (mit geringen Korrekturen) abgedruckt184; nur den Anfang des Manuskripts bis Ms.178 179

180 181 182 183 184

SW 11/7,170-181 Sydow datiert durch einen unausgesprochenen Schluß, dessen Vordersatz aber ist, auf 1793 (vgl. SW I1I7, S. XIV). Vgl. unten 426ff Denkmale 46 Vgl. Denkmale 47-63 Schleiermacher: Monologen, ed. F. M. Schiele, Leipzig 1902, S. X—XX

zweifelhaft

Schleiermacher: Monologen nebst den Vorarbeiten, Kritische Ausgabe, 2. Aufl., edd. F. M. Schiele/H. Mulert, Leipzig 1914 (Nachdruck Hamburg 1978), S. 166-198

Einleitung

LXVI

des

Bandherausgebers

S. 8 hat er vollständig wiedergegeben, gleichsam um die Kontrolle des Diltheysehen Editionsverfahrens zu ermöglichen.18s

14. Abschrift und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum 2, 86—93 Schleiermachers eigenhändiges Manuskript ,,Diog. Laert. Lib. II segm. 86—93.", das im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR unter der Nachlaß-Nr. 190 archiviert ist, wird hier erstmals veröffentlicht. Es umfaßt in losen Lagen 6 Blätter von 17,0 cm Breite und 21,2 cm Höhe. Die durch Faltung entstandenen drei Doppelblätter sind lose ineinander geschachtelt. Die Blattkanten sind zumeist leicht gezahnt. Das Manuskript ist ohne Datum. Die mit Bleistift vorgenommene Blattzählung stammt nicht von Schleiermachers Hand. Vorder- und Rückseite von Blatt 1 sind unbeschrieben, ebenso die zweite Hälfte von Bl. 6v. Das graue Papier mit Wasserzeichen ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Der Text beginnt auf Bl. 2r nach der Überschrift mit der Abschrift der griechischen Vorlage aus dem Werk „De vitis, dogmatibus et apophthegmatibus clarorumphilosophorum" von Diogenes Laertius „ Ol μεν ovv έπι της άγωγης [. . .]", wobei Schleiermacher sich auf dem Rand die Segmentzählung von 87 bis 93 notiert hat; auf Bl. 3r bis 6v folgt dann Schleiermachers lateinische Abhandlung, die in lateinischer Schrift verfaßt ist. Die lateinische Abhandlung ist stark überarbeitet worden, so daß dieser Teil des Manuskripts den Charakter eines Entwurfs hat. Die Korrekturen sind mit der gleichen Tinte ausgeführt worden. Um die Datierungsfrage zu beantworten, lassen sich nur Vermutungen beibringen, die sich am Charakter der Abhandlung und an einer Briefstelle festmachen lassen. Diese lateinische Abhandlung ist von ihrem literarischen Genus her der Abhandlung über die Staatslehre von Piaton und Aristoteles186 verwandt. Von daher legt sich die Hypothese nahe, ihre Entstehung 185

Mulert war sieb der Eigenart des Diltheyschen Textauszuges wohl bewußt: „Dilthey hat durch Anführungszeichen die Abschnitte kenntlich gemacht, die er wörtlich wiedergibt; in den dazwischen stehenden Sätzen sind oft lange Stücke des Schleiermacherschen Textes aufs kürzeste zusammengezogen. Aber auch der in Anführungszeichen gesetzte Text ist oft, ohne daß dies erkennbar ist, gekürzt, überdies ist der Abdruck nicht immer völlig genau. So war zu erwägen, ob nicht der ganze Text auf Grund der Handschrift neu gedruckt werden sollte. Ich habe darauf verzichtet, weil erstens der Umfang der Handschrift fast viermal so groß ist, wie das von Dilthey Mitgeteilte; [. . .] Wäre er aber auch inhaltlich lohnend erschienen f Kaum, denn — und dies ist das zweite — die von Dilthey durch kurze Inhaltsangaben ersetzten Stücke sind zum großen Teil in der Tat weniger bedeutend, so reizvoll die Plastik des Ausdrucks an einzelnen Stellen sein mag, und Diltheys Zusammenfassungen, soviel ich nachgeprüft habe, durchweg zutreffend." (Schleiermacher: Monologen, edd. Schiele/Mulert, 166)

186

Vgl. unten

501-509

Historische

Einführung

LXVII

aus demselben biographischen Umfeld zu erklären, in das die letztere Abhandlung eindeutig hineingehört. Im September 1793 wurde Schleiermacher in Berlin Schulamtskandidat im Seminar für gelehrte Schulen, das von Friedrich Gedike geleitet wurde. Zur Seminarausbildung gehörte auch, daß regelmäßig Abhandlungen angefertigt werden mußten, die in der pädagogischen bzw. in der philologischen Sozietät erörtert wurden. Die Abhandlung zu Diogenes Laertius hat Schleiermacher wohl für die monatlich tagende philologische Sozietät187 der Schulamtskandidaten geschrieben. Hier nun können wir eine Briefstelle heranziehen, die der Deutung bedürftig und fähig ist. Am 22. September 1793 schrieb Schleiermacher an seinen Vater, kurz bevor er von Drossen nach Berlin übersiedelte, um seine neue Stelle im Gedikeschen Seminar anzutreten: ,,[. . .] heute habe ich für den Onkel gepredigt, habe nun noch eine große Abhandlung für Gedike zu mundiren, Abschieds-Visiten zu machen und einzupacken, das alles heute und morgen; übermorgen früh denk' ich meine Reise anzutreten und dann mein Schicksal so weiter abzuwarten."188 Die in dieser Briefstelle erwähnte Abhandlung hat Dilthey als Schleiermachers Abhandlung „Über den Geschichtsunterricht" gedeutet.189 Doch wird die Deutung vom Inhalt dieser pädagogisch-didaktischen Abhandlung her nicht nahegelegt.190 Da beide hier in Rede stehenden Abhandlungen darin übereinkommen, daß sie den Charakter eines Entwurfs aufweisen, der mit der brieflich erwähnten Aufgabe der Mundation gut zusammenstimmt, spricht meines Erachtens mehr für die Annahme, daß es sich bei der brieflich erwähnten Abhandlung um die von Dilthey gar nicht erwähnte philologische zu der Darstellung Aristipps durch Diogenes Laertius handelt. Diese Annahme fügt sich gut in unser Bild von Schleiermachers Eintritt ins Gedikesche Seminar. Nachdem er sich im August 1793, vermittelt durch Sack, um die Schulamtskandidatenstelle beworben hatte, wartete er Gedikes Bescheid in Drossen ab, wobei er mit einer positiven Nachricht rechnen konnte. Um sich in seiner philologischen Arbeit auszuweisen und zugleich den Schwerpunkt seiner gelehrten Neigungen und seiner Privatstudien anzuzeigen, empfahl sich Schleiermacher mit dieser Eintrittsgabe. Wahrscheinlich hatte Gedike an Schleiermacher nach dessen Probestunden eine entsprechende Bitte gerichtet. Denn Stubenrauch teilte seinem gerade nach Berlin übergesiedelten Neffen mit: „Herrn Cons.-R. Gedike's Brief an Sie kam gestern vor 8 Tagen, enthält aber nur Complimente und Einladung, ja mit der nächsten Woche zu kommen. Ihre Abhandlung haben Sie doch ihm wohl schon eingehändigt, denn auch darum wurden Sie gemahnt. "191 187 188 189 190

Vgl. Gedike: Gesammelte Schulschriften, Bd 2, Berlin 1795, S. 127f; vgl. unten Briefe 1,122 Denkmale 63f 191 Briefe Vgl. unten 489-497 3,57

LXXIV

LXVIII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Gedike wollte vielleicht auf diese Weise Unterlagen zur Charakterisierung Schleiermachers für seinen halbjährlichen Bericht ans Oberschulkollegium gewinnen, der im Herbst anstand. In den Seminar-Instruktionen hatte Gedike 1788 festgesetzt: „Um auch das Oberschulkollegium desto besser in den Stand zu setzen, über die Mitglieder des Seminariums und ihre künftige Brauchbarkeit zu urtheilen: so wird der Direktor seinem halbjährigen Bericht zugleich eine von jedem Schulamtskandidaten ihm am Ende jedes halben Jahres einzureichende Nachricht beifügen, mit welchen gelehrten Kenntnissen er sich im Lauf des halben Jahres vorzüglich beschäftigt, und auf welches Fach der Gelehrsamkeit er sich während desselben vorzüglich gelegt, und was er zu dem Ende in Ansetzung seines Privatstudirens für Maaßregeln getroffen habe. Es versteht sich von selbst, daß jeder Schulamtskandidat hierin völlig uneingeschränkte Freiheit behält, indem die Absicht lediglich dahin geht, das Oberschulkollegium frühzeitig in den Stand zu setzen, zu beurtheilen, in welchem Fache der Gelehrsamkeit jeder Schulamtskandidat etwas vorzügliches zu leisten gedenkt und vermag, und in welchem er daher einst am besten als öffentlicher Lehrer gebraucht werden könnte. Uebrigens ist es Pflicht des Direktors, wenn er bei diesen halbjährigen Studirplanen eines oder des andern Schulamtskandidaten etwas unzwekmäßiges zu bemerken glauben sollte, ihn darauf freundschaftlich aufmerksam zu machen, so wie er überhaupt verpflichtet ist, seine Kenntnisse und Erfahrungen von den Bedürfnissen und der gesammten Lage des Schulwesens auch dazu zu nutzen, daß er den Mitgliedern des Seminariums auch in Ansehung ihres Privatstudirens mit seinem guten Rath an die Hand gehe. Da auch für das königliche Seminarium und für die Mitglieder desselben eine eigne Sammlung von Büchern und andern Lehrmitteln angeschaft wird, und zu deren allmäligen Vermehrung ein jährlicher Fonds von hundert Thalern ausgesetzt worden: so steht es den Schulamtskandidaten frei, davon zu jeder Zeit sowol zum Behuf ihrer Lehrstunden auf dem Gymnasium als auch zu ihrem Privatstudiren Gebrauch zu machen, doch also, daß nicht einer durch den andern darin gehindert und beschränkt werde."192 Das uns vorliegende Manuskript ist demnach vermutlich der Entwurf zu einer philologischen Abhandlung, die Schleiermacher im September 1793 in Drossen bei seinem Onkel Stubenrauch verfaßte und am 22.123. Septemberin Reinschrift brachte, um diese „mundierte" Abhandlung in Berlin Gedike bei seinem Eintritt ins Seminar für gelehrte Schulen zu übergeben. Welche Ausgabe von Diogenes Laertius Schleiermacher benutzt hat, konnte nicht zweifelsfrei ermittelt werden. Schleiermacher selbst hatte in seinem Todesjahr die von Meibom besorgte Ausgabe Amsterdam 1692 in seiner Bibliothek.193 192 193

Gedike: Schulschriften 2,128f Vgl. Rauch 74,4 und 3,3

Historische

Einführung

LXIX

15. Über den Geschichtsunterricht Schleiermachers eigenhändiges Manuskript, in dem er sich zum Thema des gymnasialen Geschichtsunterrichts äußert (Nachlaß-Nr.228 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR), besteht aus 6 Blättern. Es ist ohne Überschrift und ohne Datum. Der Titel wird durch den Inhalt des Manuskripts nahegelegt. Der Text beginnt mit „Der größte Theil derer, welche eine sogenante gelehrte Erziehung [. . .]". Die mit Bleistift vorgenommene Foliierung stammt nicht von Schleiermachers Hand. Die Blattgröße beträgt 16,9 cm Breite und 21,1 cm Höhe. Die Blätter sind so geheftet, daß zweimal auf ein Doppelblatt ein Einzelblatt folgt. Die geschnittenen Blattkanten sind abgestoßen und am unteren Rand leicht gezahnt. Das letzte Fünftel der Vorderseite und die Rückseite von Blatt 6 sind unbeschrieben. Schleiermacher hat bei der Niederschrift jeweils links einen Rand von 1—2 cm gelassen. Verschiedene Seiten sind von Schleiermacher stark überarbeitet worden und dadurch schwer lesbar. Das nachgedunkelte Papier mit Wasserzeichen ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Das Manuskript war vermutlich als Reinschrift vorgesehen, hat aber wegen der Überarbeitung den Charakter eines Konzepts angenommen. Gegenstand und Charakter dieser Abhandlung liefern einen ersten Anhaltspunkt für die Datierung. Der Bezug auf Gymnasialunterricht und auf die methodischen Erfordernisse der Schulpraxis fällt ins Auge. Von daher legt es sich nahe, diese Abhandlung mit Schleiermachers Tätigkeit als Schulamtskandidat im Seminarium für gelehrte Schulen, das von Gedike geleitet wurde, zu verknüpfen. Am 25. September 1793 trat Schleiermacher in dieses Seminar ein. Er brachte als Eintrittsgabe „eine große Abhandlung für Gedike"194 aus Drossen mit. Dilthey identifiziert in seiner Beschreibung der Abhandlung „Ueber den historischen Unterricht" dieses Manuskript mit der brieflich erwähnten Eintrittsgabe und datiert dementsprechend auf September 1793.195 Dagegen scheint mir zum einen zu sprechen, daß in diese Abhandlung Erfahrungen der Unterrichtswirklichkeit Eingang gefunden haben und demnach bei Schleiermacher schon Schulpraxis vorausgesetzt werden muß, und zum anderen, daß die von Dilthey herangezogenen Briefstelle zusammen mit einer anderen Stelle desselben Briefes196 und zusam194 195 196

Briefe 1,122 Vgl. Denkmale 63 Vgl. dazu: ,,[. . .] ich denke in der nämlichen Zeit in Berlin, wenn ich auch vier Stunden des Tages Information habe, doch eben so viel für mich zu thun als hier, ohne daß ich mich eigentlich rühmen will fleißiger zu sein. Von Amtswegen werde ich mich nun aufphilologica legen müssen und meine Privatsorge wird sein, im philosophischen und theologischen Studio nicht zurück zu bleiben. Gedike wollte mich zwar auch dahin bringen, mich ausschließlich dem Schulfach zu widmen; aber ich habe mir auch gegen ihn den Rücken frei gelassen und mich mit den wenigen Aussichten, welche man bei unsrer Confession dabei hat, zu entschuldigen gesucht. Ich werde deswegen auch in Berlin öfter predigen und es ist

LXX

Einleitung des

Bandherausgebers

men mit der Überlegung, wie sich Schleiermacher wohl am leichtesten und am besten bei Gedike empfehlen konnte, eher auf ein von Dilthey gar nicht zur Kenntnis genommenes Nachlaßstück zu passen scheint, nämlich auf Schleiermachers lateinische Abhandlung über die Darstellung Aristipps durch Diogenes Laertius. Damit ist der Entstehungszeitraum für diese Abhandlung „ Über den Geschichtsunterricht" näher eingegrenzt. Wenn Schleiermacher sie nicht bei seinem Seminareintritt schon im Gepäck hatte, muß er sie wohl in den letzten Monaten des Jahres 1793 verfaßt haben, denn die ersten Monate des Jahres 1794 sahen ihn mit der lateinischen Abhandlung über die Staatslehre von Piaton und Aristoteles und mit der Vorbereitung auf seine zweite theologische Prüfung am 31. März 1794 beschäftigt. Wahrscheinlich ist diese Abhandlung also im letzten Quartal (genauer November) 1793 entstanden. Über die pädagogischen Abhandlungen, die die Schulamtskandidaten vierteljährlich anzufertigen hatten, und über die pädagogische Sozietät, in der diese Abhandlungen besprochen wurden, geben die Gedikeschen Seminar-Instruktionen ausführlich Auskunft: „Um auch den Mitgliedern des Seminariums Gelegenheit zu geben, ihre einzelnen Beobachtungen zu einem Ganzen zusammen zu reihen und überhaupt außer der Praxis auch die Theorie der Pädagogik zu bearbeiten, ist jeder Schulamtskandidat verpflichtet, vierteljährlich eine pädagogische Abhandlung über irgend eine von ihm selbst ausgewählte Materie zu verfertigen. Diese Abhandlungen werden um so lehrreicher und zwekmäßiger werden, wenn die Schulamtskandidaten den Stof dazu aus ihren eigenen Beobachtungen hernehmen, und kann ihnen besonders die Bearbeitung der ihnen zur besondern Aufsicht und Kuratel empfolenen einzelnen Subjekte Gelegenheit geben, ihre pädagogische Observationen, und gewissermaßen eine historiam morbi nebst Anzeige und Beurtheilung der mit oder ohne Erfolg versuchten Mittel, kurz eine auf einzelne Subjekte angewandte pädagogische Pathologie und Therapie zum Gegenstand ihrer vierteljährigen Abhandlung zu machen, und dabei aus ihren individuellen Observationen und Erfahrungen allgemeine pädagogische Bemerkungen und Räsonements herzuleiten. Doch steht es ihnen auch frei, im allgemeinen eine oder die andere zur Pädagogik gehörige Materie, sowol was den Unterricht als die moralische Erziehung betrift, zu bearbeiten. Um diese Abhandlung desto nutzbarer zu machen, und den gesammten Zwek des Instituts desto besser zu befördern, hat der Direktor zugleich eine pädagogische Societät errichtet, in welcher diese Abhandlungen vorgemir in dieser Rücksicht sehr lieb, daß die drei Hofprediger, welche ich gesprochen habe, mir einige Elogen über meine Anlagen gemacht haben. Das ist so mein Plan; ob ich übrigens dazu schreiten werde etwas zu schreiben, daran zweifle ich noch; ich glaube nicht, daß ich jemals weder ein großer noch ein fruchtbarer Schriftsteller werde." (Briefe 1,123)

Historische

Einführung

LXXI

lesen werden, und nachher zu einer freundschaftlichen und lehrreichen Diskussion Gelegenheit geben sollen. Zu diesem Ende versammlen sich monatlich einmal alle Mitglieder des Seminariums nebst dem Direktor und sämtlichen Lehrern des Gymnasiums, und in dieser monatlichen Versammlung werden nach der Reihe zwei Mitglieder des Seminariums ihre pädagogischen Abhandlungen vorlesen, worauf, um den Gegenstand sowohl im Ganzen als in einzelnen Punkten von mehr als einer Seite zu betrachten und dadurch zu noch mehrerer Berichtigung und Verdeutlichung mancher pädagogischen Bemerkungen, Wünsche und Vorschläge Gelegenheit zu geben, von dem Direktor eine freundschaftliche Debatte und Unterredung über die Vorlesung eröfnet wird, wobei jeder Schulamtskandidat über den Inhalt der Vorlesungen seine eigenen Gedanken der Versammlung freimüthig mittheilen, und was seinen eignen bisherigen Begriffen oder Bemerkungen zu widersprechen scheint, ohne Zurükhaltung anzeigen kann. Sodann wird von dem Direktor sein eigenes Urtheil hinzugefügt, worin er nach Maßgabe seines eigenen Nachdenkens und seiner eignen Erfahrung die von dem vorlesenden Mitgliede des Seminariums geäußerten Ideen, wo es ihm nöthig scheinen sollte, zu berichtigen versucht, oder auf einen oder den andern vielleicht übersehenen Punkt aufmerksam macht. Eben so werden auch die übrigen dabei gegenwärtigen Lehrer des Gymnasiums, wie auch jeder einheimische oder fremde Gelehrte und Schulmann, der dieser Versammlung beizuwohnen Lust und Zeit hat, von dem Direktor zur Mittheilung ihrer eignen Ideen aufgefordert, so daß es nicht fehlen kann, daß die behandelte Materie soviel möglich aus allen Gesichtspunkten und von allen Seiten betrachtet wird. Und damit der Direktor desto besser im Stande sei, ohne Uebersehung eines wichtigen Punkts ein richtiges und gründliches Urtheil über den Inhalt der Vorlesung zu fällen, so wünscht er, daß die Mitglieder des Seminariums ihm ihre Vorlesungen ein Paar Tage vor der monatlichen Versammlung zur vorläufigen Ansicht und Durchlesung mittheilen. Diese pädagogische Gesellschaft versammelt sich jedesmal in der Regel, wenn nicht besondere Verhinderungen vorfallen, an dem ersten Montage in jedem Monat, Nachmittag nach geendigten Lektionen in einem Lehrzimmer des Gymnasiums. Auch wird nach geendigten Vorlesungen, so viel es die Zeit erlaubt, noch über andre mit dem Interesse des Instituts in unmittelbarer oder mittelbarer Verbindung stehende Punkte deliberirt und konferirt; wie denn in dieser Versammlung, besonders in der in dem letzten Monat jedes Vierteljahres, der Direktor manche, das Gymnasium sowohl als das Seminarium und beider fortschreitende Verbesserung betreffende Angelegenheit zum Vortrag bringen und zum Gegenstande einer freundschaftlichen Unterhaltung machen wird. Besonders soll auch bei dieser Gelegenheit die Bibliothek und sonstige Sammlung des Seminariums revidirt, und über die zwekmäßigsten Vorschläge zu deren fernem Vermehrung deliberirt werden.

LXXII

Einleitung

des

Bandherausgebers

Damit indessen die Vorlesungen zu noch reifern und gründlicheren Betrachtungen Gelegenheit geben, als sogleich auf der Stelle bei der Versammlung möglich ist: so werden solche nochmals unter den Mitgliedern des Seminariums ad votandum cirkuliren, da denn jeder sein Votum und seine Bemerkungen, bald mehr bald weniger ausführlich, je nachdem Zeit und Umstände es ihm erlauben, niederschreiben, und sodann an ein anderes Mitglied senden wird; um gleichfalls seine durch die Vorlesung veranlaßten Gedanken niederzuschreiben. Nach geendigter Cirkulation unter den Mitgliedern des Seminariums kömmt die Vorlesung zuletzt an den Direktor, der sodann die niedergeschriebenen Vota nebst seinem eignen dem Verfasser mittheilen wird, da denn letzterem frei steht, auch noch selbst einen Zusatz beizufügen, um entweder sich zu vertheidigen, oder, falls er finden sollte, daß er hie und da misverstanden sein sollte, die nöthigen Erläuterungen zur Hebung des Misverstandes beizufügen. Die Cirkulation muß aber, wo irgend möglich, vor der nächsten Session geendigt sein, da denn in derselben der Direktor die zu den Vorlesungen der vorigen Session beigefügten Vota und Bemerkungen vorlesen wird, wodurch denn aufs neue ein Anlaß zu nützlichen Erörterungen und Erläuterungen gegeben wird. "197 Dilthey hat diesem Manuskript unter dem Titel „Ueber den historischen Unterricht" in seinen „Denkmalen" lediglich eine knappe Beschreibung auf einer halben Seite gewidmet.198 Erstmals vollständig ediert worden ist dieses Manuskript von Erich Weniger im 2. Band der von ihm veranstalteten Ausgabe der „Pädagogischen Schriften" Schleiermachers.199 Seine Edition bietet jeweils nur die letzte Textfassung, die in moderner Orthographie und Zeichensetzung wiedergegeben wird. 16. Philosophia politica Piatonis et Aristotelis Schleiermachers eigenhändiges Manuskript „Philosophiam politicam Piatonis et Aristotelis comparavit Schleiermacher" (Nachlaß-Nr. 187 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR) umfaßt 7 geheftete Blätter im Folio-Format von 21,5 cm Breite und 36,5 cm Höhe. Es waren ehemals 4 geheftete Doppelblätter; jetzt ist Bl. 8 abgeschnitten ebenso wie die unteren zwei Drittel (22 cm) von Bl. 7. Die verbliebenen Randstreifen der abgeschnittenen Blätter zeigen, daß sie von fremder Hand beschrieben waren; sie weisen verschiedene Handschriften und Tintensorten auf.

197 198 199

Gedike: Schulschriften 2,124-127 Vgl. Denkmale 64 Schleiermacher: Pädagogische Schriften, ed. E. Weniger, Bd 2, Düsseldorf/München S. 37-44

1957,

Historische

LXXIII

Einführung

Das Manuskript ist nicht datiert, die Überschrift auf der Titelseite stammt von Schleiermacher. Unter dieser Überschrift befindet sich folgende Tabelle: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

HE HE HE HE HE HE HE G.

Schabe. Köpke. Barby. Bauer. Heidemann. Barth. Bartoldy.

Soll erhalten 17. Febr. 94. 24. Febr. 3. März 10. März 17. März 24. März 31. März 7. April

Hat erhalten 17. Febr. 94 24. Febr. 3. März 11. März 20. März 26. 31. März

In dieser Tabelle sind alle Namen, die Spaltenüberschriften, alle Daten in der zweiten Spalte und die erste Terminangabe in der dritten Spalte von derselben Hand geschrieben (offensichtlich von Gedike), die anderen Daten der dritten Spalte stammen von verschiedenen Händen. Schleiermachers lateinische Abhandlung, die hier erstmals veröffentlicht wird, ist in lateinischer Schrift geschrieben. Durch Faltung ist ein 10—11 cm breiter Außenrand abgeteilt. Schleiermacher hat diese Begrenzung aber nicht immer eingehalten, sondern teilweise etwas auf den Rand hinausgeschrieben. Außerdem hat Schleiermacher auf dem Rand die Belegstellen aus Piaton und Aristoteles angegeben, auf die sich seine Aussagen beziehen. Die Rückseiten der Blätter 1 und 7 sind unbeschrieben. Die Blattzählung stammt nicht von Schleiermachers Hand. Auf Bl. 3 ν ist auf dem unteren Seitenrand ein Kustos für die Seitenverknüpfung. Das mit SepiaTinte beschriebene Papier ist stark nachgedunkelt und hat als Wasserzeichen einen Adler mit zwei Zeptern in den Klauen, darunter die Großbuchstaben KPHSTUCK. Bei dieser lateinischen Abhandlung läßt sich durch die Tabellenangaben auf der Titelseite genau bestimmen, wann Schleiermacher sie abgefaßt hat. Der 17. Februar 1794 ist der Terminus ante quem. Schleiermacher war damals Schulamtskandidat im Seminarium für gelehrte Schulen in Berlin. Dieses Seminarium wurde von Friedrich Gedike, dem Direktor des Friedrichwerderschen Gymnasiums, geleitet. Das 1787 gegründete Seminarium bildete damals acht Kandidaten aus. Die ersten sieben Namen der Tabelle bezeichnen die sieben Kollegen Schleiermachers, der abgekürzte achte Name „G." steht für Gedike. Schleiermacher war im September 1793 durch Vermittlung Sacks in dieses Seminarium eingetreten. Als Schulamtskandidat mußte er nicht nur am Friedrichwerderschen Gymnasium zehn Unterrichtsstunden wöchentlich erteilen, sondern auch an den verschiedenen Einrichtungen des Seminars teilnehmen. Dazu gehörte auch eine philologische So-

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Einleitung

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zietät. Die von Gedike verfaßten Instruktionen für die Ausbildung der Schulamtskandidaten beschreiben diese Einrichtung: „Außer dieser pädagogischen Gesellschaft vereinigen sich die Mitglieder des Seminariums noch zu einer philologischen Sodetät unter der Leitung des Direktors. Auch diese wird monatlich einmal zusammen kommen. Zum Behuf dieser Zusammenkünfte werden von den Mitgliedern des Seminariums nach der Reihe allerlei philologische und humanistische Abhandlungen und Aufsätze ausgearbeitet, und zwar in lateinischer Sprache. Diese cirkuliren vorher, und werden zur Ersparung der Zeit in der Versammlung selbst nicht vorgelesen. Aber jeder trägt alsdann seine schriftlichen Bemerkungen über die Abhandlung vor, und erläutert und rechtfertigt dieselben mit mündlichen Zusätzen, so wie der Verfasser zur Vertheidigung seiner Abhandlung ein gleiches thut und einen oder den andern Punkt näher erörtert. Alles dies geschieht in lateinischer Sprache. Ferner macht der Direktor in diesen Zusammenkünften die Mitglieder des Seminariums mit den neuesten sowol unmittelbar als mittelbar zum humanistischen Fach gehörigen Büchern bekannt. Ζ. B. mit neuen Ausgaben irgend eines alten Autors, neuern Hülfsmitteln, neuern Erörterungen streitiger Materien u. s. w., trägt ihnen auch wol entweder eine schriftliche Beurtheilung oder auch nur eine mündliche Relation von einem solchen Buche für die nächste Zusammenkunft auf. u. s. w. Da der Direktor angewiesen ist, einen halbjährigen Bericht über den Zustand und Fortgang des Seminariums an das Oberschulkollegium abzustatten, um dasselbige in den Stand zu setzen, über die einzelnen Mitglieder des Seminariums und ihre Ausbildung zu ihrer Bestimmung zu urtheilen: so wird er dem ihm geschehenen Auftrage gemäß einige Vorlesungen der Schulamtskandidaten nebst den schriftlichen Βeurtheilungen der einzelnen Mitglieder seinem jedesmaligen Bericht beifügen,"200 Schleiermachers lateinische Abhandlung zur Staatslehre von Piaton und Aristoteles ist für diese philologische Sozietät geschrieben. Vom 17. Februar bis 7. April 1794 kursierte sie unter den anderen Schulamtskandidaten. Die lateinisch geführte mündliche Erörterung sollte nach dem Umlauf stattfinden. Schleiermacher begann mit den Vorarbeiten für diese Abhandlung offensichtlich im Dezember 1793. In seinem Nachlaß findet sich nämlich eine umfangreiche datierte Übersetzung der Aristotelischen „Politik" 201 nebst philologischen Anmerkungen, In den Weihnachtsferien 1793/94 fertigte er diese Übersetzung an, sehr zum Leidwesen der Stubenrauchs, die er deshalb in Drossen nicht besuchen, ja ihnen noch nicht einmal schreiben

200 201

Gedike: Schulscbriften 2,127f Nacblaß-Nr. 151/1 u. 2 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der

DDR.

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konnte.202 Schleiermacher hat sich für seine Übersetzungsarbeit an der „Politik" des Bandes 11 (Politik und Ökonomie) in der von F. Sylburgius besorgten Aristoteles-Werkausgabe, Frankfurt 1587 bedient, die sich vermutlich in der Bibliothek des Seminars203 befand. Nach diesen Vorarbeiten (über die entsprechenden Platon-Studien wissen wir nichts) verfaßte Schleiermacher seine lateinische Abhandlung, wohl in der zweiten Januar- und der ersten Februarhälfte des Jahres 1794. Die uns überkommene und jetzt archivierte Fassung ist die für den Umlauf im Seminar bestimmte Reinschrift. Diese hat Schleiermacher wohl erst kurz vor Beginn des Umlaufs Mitte Februar 1794 angefertigt. Schleiermachers Abhandlung über die Staatslehre von Piaton und Aristoteles ist auf eine Fortsetzung angelegt, die nicht geliefert worden ist. Im jetzigen Umfang stellt sie in einem ersten Kapitel die Grundbegriffe und Prinzipien der beiden verglichenen Theorien dar. Im Rahmen der philologischen Sozietät wollte Schleiermacher für eine spätere Sitzung offensichtlich noch Detailthemen erörtern. Die jetzt vorliegende Abhandlung war für die April-Sitzung der philologischen Sozietät bestimmt, weil der Umlauf unter den Seminaristen der Besprechung voranging und dieser Umlauf am 7. April beendet war. Ob es zu dieser in lateinischer Sprache geführten Diskussion, in der Schleiermacher auf die jetzt leider abgeschnittenen Kommentare der anderen Schulamtskandidaten hätte antworten müssen, noch gekommen ist, bleibt fraglich, weil Schleiermacher am 31. März 1794 in Berlin seine zweite theologische Prüfung glänzend ablegte und am 23. April bereits seine Antrittspredigt als Adjunkt des reformierten Predigers in Landsberg (Warthe) hielt. 17. Spinozismus Das eigenhändige Manuskript, das Schleiermacher mit dem Titel „Spinozismus" versehen hat (Nachlaß-Nr. 138 im Zentralen Archiv der Akade202 Ygl Stubenrauchs Brief vom 4. Januar 1794: „So kann ich denn auch hoffen, daß ich auf den mir zugedachten längeren Brief nicht allzulange werde warten dürfen. Denn daß ich diesmal einen langen Brief verbat, das wissen Sie that ich bloß um Ihnen Ihre Ferien nicht zu verkümmern; aber wie ich sehe hat Herr Gedike schon dafür gesorgt, daß Sie nicht viel wirkliche Ferien gehabt. Ο wenn Sie doch aus dem lästigen Joch dieses Menschen heraus wären!" Briefe 3,59) 203

Vgl. dazu Gedike: „Da auch für das königliche Seminarium und für die Mitglieder desselben eine eigne Sammlung von Büchern und andern Lehrmitteln angeschaft wird, und zu deren allmäligen Vermehrung ein jährlicher Fonds von hundert Thalern ausgesetzt worden: so steht es den Schulamtskandidaten frei, davon zu jeder Zeit sowol zum Behuf ihrer Lehrstunden auf dem Gymnasium als auch zu ihrem Privatstudiren Gebrauch zu machen, doch also, daß nicht einer durch den andern darin gehindert und beschränkt werde." (Schulschriften 2,129)

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Einleitung des

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mie der Wissenschaften der DDR), umfaßt 22 geheftete Oktavblätter von ca. 10,8 cm Breite und 18,4 cm Höhe. Die Paginierung der Seiten 3—40 stammt von Schleiermachers Hand. Die Seiten 2, 43 und 44 sind unpaginiert, die Seiten 1, 41 und 42 von fremder Hand mit Bleistift paginiert. Das nachgedunkelte Papier, das teilweise ein Wasserzeichen hat, ist mit SepiaTinte beschrieben. Die Blattkanten sind unregelmäßig geschnitten. Je zwei durch Faltung entstandene Doppelblätter sind ineinandergelegt zu Halbbogen; 5 Halbbogen und ein einzelnes Doppelblatt sind dann geheftet. Auf Seite 1 findet sich nur die unterstrichene Überschrift „Spinozismus". Die Seiten 2, 43 und 44 sind nicht, die Seite 42 ist nur zur Hälfte beschrieben. Das Manuskript ist ohne Datum. In seinem ersten Teil auf den Seiten 3—14 ist das Manuskript eine saubere Abschrift der 44 Paragraphen, in denen Friedrich Heinrich Jacobi in seinem Buch „ Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn" (2. Aufl., Breslau 1789) die Philosophie Spinozas zusammenfassend dargestellt hat; Schleiermacher hat nur einige der von Jacobi beigebrachten Belegstellen aus dem Werk Spinozas weggelassen. Der zweite Teil des Manuskripts auf den Seiten 15—42 ist eine Abfolge von zumeist kurzen Auszügen aus der Jacobischen Schrift „ Ueber die Lehre des Spinoza", die Schleiermacher jeweils in einer eigenen Anmerkung kritisch kommentiert hat. Dabei haben zwei dieser Schleiermach ersehen Anmerkungen den Charakter eigenständiger themenbezogener Exkurse: die Anmerkung auf S. 26—32 erörtert den Personalitätsbegriff die Anmerkung auf S. 34—39 das prineipium individui. Zwischen den beiden großen Manuskriptteilen findet sich noch ein kurzer Abschnitt, in dem Schleiermacher seinen Plan zu „Bemerkungen über die vorstehenden Paragraphen"204 kurz skizziert hat. Im vorliegenden Manuskript ist dieser Plan aber nur bis zur Überschrift des ersten Hauptpunktes „Von dem Unendlichen Ding an sich"205 gediehen.206 Das Manuskript schließt auf S. 42 mit einem kurzen Nachtrag, in dem sich Schleiermacher einen Aufsatztitel des Jahres 1794 mit anderer Tinte notiert hat. Im Manuskript findet sich auf S. 17 die Notiz: „Solcher unwillkürlichen Uebereinstimmung [sc. mit der Kantischen Theorie] werden sich mehrere finden, ich werde sie jedesmal durch eine Hand bezeichnen. "20? Schleiermacher hat diesen Vorsatz nicht durchgeführt. Es gibt keine entsprechenden Zeichen, mit denen er die Übereinstimmungen markiert hätte. Wollen wir die Entstehungsgeschichte dieses Manuskripts erhellen, so müssen wir seine enge Verflechtung mit dem anderen Schleiermach ersehen 204 205 206

207

Unten 523,29f Unten 524,4 Schleiermacher hat diesen Plan in dem selbständigen Manuskript „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" ausgeführt. Unten 527,25-27

Historische Einführung

LXXVII

Manuskript zu Spinoza: „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems"208 berücksichtigen. Für diese beiden Manuskripte läßt sich durch die verschiedenen Querverweise zwischen beiden eine genaue relative Chronologie ermitteln. Der erste Teil des Manuskripts „Spinozismus", Schleiermachers Abschrift der Jacobischen Paragraphen zu Spinoza, muß als ältestes Stück eingeschätzt werden. Das Manuskript „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" blickt nämlich auf dieses Stück zurück, indem Schleiermacher an einer Stelle schreibt: „Ich habe bei dem Copiren der Paragraphen eine lange zu § XI. gehörige Stelle mehr von ohngefähr als absichtlich (welches leztere bei mehreren der Fall gewesen ist) ausgelaßen [. . ,J".209 Außerdem ist auffällig, daß Schleiermacher in seiner „Darstellung" sich fast ausschließlich auf die Jacobischen Paragraphen stützt und die anderen Passagen des Jacobischen Buches für seine Argumentation fast gar nicht hinzuzieht und auswertet (außer einigen Bemerkungen zu Leibniz). Der zweite Teil des Manuskripts „Spinozismus" (SN 138) muß hingegen nach der „Darstellung" (SN 139) abgefaßt worden sein. An drei Stellen in seinen Anmerkungen nämlich verweist Schleiermacher auf seine „Darstellung" zurück. Zunächst heißt es: ,,[. . .] es scheint mir nemlich daß Leibniz hier bei sich selbst auf halbem Wege stehn geblieben, und daß uns die Monaden wieder zum Spinozismus zurükführen. Ich habe dies zum Theil schon bei der Vergleichung des Spinozismus und Leibnitianismus berührt [. . .]".210 Dann schreibt Schleiermacher zu Beginn seiner letzten Anmerkung: „Diese Stelle giebt manchem was ich in der kurzen Darstellung fast nur concedirt hatte, wenigstens von Jakobis Seite seine Bestätigung."211 Und schließlich stellt Schleiermacher in derselben Anmerkung zu Jacobifest: „ Was er von von dem Zugleichseyn der endlichen Dinge sagt stimt ganz mit der Art überein wie ich diese Artikel in der Darstellung auseinander gesezt."212 Für die Frage der Entstehungsgeschichte summieren sich diese Hinweise zu dem Resultat, daß Schleiermacher zunächst die 44 Jacobischen Paragraphen zu Spinoza abschrieb, auf dieser Quelle fußend sodann seine „ Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" verfaßte, um abschließend sich zu ausgewählten Stellen der Jacobischen Schrift „ Ueber die Lehre des Spinoza" eigene Anmerkungen zu machen.212.

208 209 2W 211 212 213

Vgl. unten 561-582 Unten 568,10-12 Unten 547,1-4 Unten 557,13-15 Unten 557,21-23 So auch Quapp: Christus im Leben Schleiermachers, Göttingen 1972, S. 231; Dilthey dagegen nimmt die Abfolge von „Spinozismus" auf „Kurze Darstellung" (vgl. Denkmale 64) an.

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Einleitung

des

Bandherausgebers

Sehr viel unsicherer fällt die Antwort auf die Frage nach der Entstehungszeit aus. Nur durch die Kombination mehrerer Anhaltspunkte kann eine ziemliche Wahrscheinlichkeit bei der Datierung erreicht werden. Als erste Eckdaten ergeben sich 1793 und 1799. Das Manuskript „Spinozismus", das sich nur auf die Jacobische Spinoza-Darstellung und nicht auf eigene Spinoza-Lektüre stützt, muß vor 1799 geschrieben worden sein, denn spätestens ab 1799 besaß Schleiermacher eine Spinoza-Ausgabe.214 Das Manuskript kann nicht vor 1793 verfaßt worden sein, denn Schleiermacher führt an einer Stelle die 1793 erschienenen „Streifereien " von Salomon Maimon an.215 Zwei briefliche Hinweise erlauben es uns, den Abfassungszeitraum noch näher einzugrenzen. Ein nicht datiertes Billet Schleiermachers an Brinckmann, das vermutlich im Winterhalbjahr 1793/94 in Berlin geschrieben wurde216, lautet: „Die Jakobischen Sachen erfolgen, ich war im Begriff sie Dir Morgen früh zu bringen, und will mir auch nicht den Weg, sondern nur die Last sparen. Daß ich sie so lange behalten, wird Dich nicht sehr wundern, wenn ich Dir sage daß ich dabei förmlich den Spinoza studirt habe."211 Schleiermacher hatte also seine Jacobi-Quellen der Brinckmannschen Bibliothek entliehen, die ihm ab Sommer 1793 in Berlin zur Verfügung stand.218 Die Rückgabe der Bücher könnte vielleicht durch Schleiermachers Wegzug nach Landsberg (Warthe) veranlaßt sein. Eine andere Brief stelle deutet möglicherweise auf denselben Zeitraum. Am 3. Juli 1794 äußerte Schleiermachers Vater brieflich den Wunsch: „Ich wünsche von Dir eine concentrirte Darstellung des platonischen Systems zu lesen: das von Spinoza kenne ich ziemlich aus Jacobi und zweifle, daß jenes so consequent sein wird."219 Hier muß zumindest mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß Schleiermachers Vater sich zu seinem Wunsch durch einen Bericht des Sohnes über eigene Spinoza-Studien angeregt sah. Diese Zeugnisse machen alle eine Datierung ins Winterhalbjahr 1793/94 in Berlin wahrscheinlich. Dadurch daß die Niederschrift des Ms. „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" in die des Ms. ,,Spinozismus" eingeschoben worden ist, stellt sich die Frage, ob zwischen der Entstehung der beiden Teile von „Spinozismus" nicht einige Zeit verflossen ist. Diese Möglichkeit läßt sich zumindest nicht ausschließen. Ein Indiz für diese Vermutung könnte der ziemlich unpräzise Rückbezug des zweiten Manuskriptteils auf die „Kurze Darstellung" sein220, der durch einen gewissen zeitlichen Abstand am besten 214" 215 216 217 218 219 220

Vgl. Briefe 3,231 Vgl. unten 354,26-29 Gegen Diltbey: Anm. zu Briefe 4,49; mit Denkmale 65. Briefe 4,49 Vgl. Briefe 1,123 Briefe 1,128 Vgl. unten 557,13-15

Historische

Einführung

LXXIX

verständlich wäre. Auch in Landsberg konnte sich Schleiermacher sicherlich ein Jacobi-Exemplar ausleihen. Diese Vermutungen würden also ins Sommerhalbjahr 1794 nach Landsberg (Warthe) weisen. Sie sind nicht völlig von der Hand zu weisen, werden meines Erachtens aber doch bei weitem überwogen von der 'Wahrscheinlichkeit, daß Schleiermacher alle drei Manuskripte zu Jacobi-Texten im Winterhalbjahr 1793/94 in Berlin geschrieben hat. Zu erwähnen ist noch, daß der wohl kurz nach Fertigstellung des Manuskripts geschriebene Nachtrag einen Literaturtitel von Anfang 1794 anführt.™ Das Manuskript ist bisher einmal vollständig und einmal auszugsweise veröffentlicht worden, nachdem es Dilthey in den „Denkmalen" nur beschrieben hatte. Diltheys Beschreibung geht nach einer Vorbemerkung222, in der er die Entstehungszeit aller drei auf Jacobi als Quelle bezogener Manuskripte zu ermitteln sucht, hauptsächlich auf das Ms. „Spinozismus" ein, wobei er allerdings ohne Kennzeichnung auch Gedankengänge des Ms. „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" einßießen läßt bzw. aus diesem zitiert. Zum einen würdigt Dilthey die historisch-kritische Leistung, daß Schleiermacher aus der Jacobischen Darstellung heraus die Mängel dieser Darstellung hinsichtlich des polemischen Ausgangspunkts Spinozas und hinsichtlich der Attributenlehre erfaßt und verbessert.223 Diltheys Beschreibung ist dadurch unübersichtlich und teilweise irreführend, daß er den Leser nicht auf Charakter und Eigenart des Schleiermach ersehen Manuskripts (Exzerpte und Anmerkungen) aufmerksam macht und darüber hinaus Jacobis und Spinozas Gedankengänge und Absichten aus seiner eigenen Sicht darstellt, schon selbst die Jacobische Darstellung kritisiert, um dann an einigen Punkten Schleiermachers Beurteilung herauszuarbeiten. Zum anderen stellt Dilthey an Hand von Ms.-Zitaten kurz Schleiermachers eigene Theonen zu Individualität und Personalität vor.224 Eine Teilveröffentlichung des Ms.,,Spinozismus" hat Hermann Mulert 1923 in seinem Aufsatz „Schleiermacher über Spinoza und Jacobi"225 veranstaltet. Nach einer kurzen Einleitung und nach dem Hinweis auf Schleiermachers Abschrift der 44 Jacobischen Paragraphen zu Spinoza, wobei Mulert Schleiermachers Plan zu Bemerkungen allerdings nicht mit dem Ms. „Kurze Darstellung" zusammenbringt22^, gibt Mulert die Ms.-S. 15—26 in einer übersichtlichen und recht genauen Übertragung wieder.221 Die Mitteilung des letzten Manuskriptdrittels, also in der Hauptsache die Schleierma221

Vgl. unten 558,1-4 Vgl. Denkmale 64f 223 Vgl. Denkmale 65-68 224 Vgl. Denkmale 68f 225 Chronicon Spinozanum 3 (Den Haag 1923), S. 295—316 226 \/gi Chronicon Spinozanum 3,297 227 Vgl. Chronicon Spinozanum 3,298—311 222

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Einleitung des

Bandherausgebers

eberseben Überlegungen zu Personalität und Individualität, war von Mulert vorgesehen und angekündigt, ist jedoch unterblieben. Sein Aufsatz schließt mit einem kurzen historischen Überblick über Schleiermachers Stellung zu Spinoza und Jacobi.228 Vollständig publiziert worden ist Schleiermachers Ms. „Spinozismus" von Erwin Quapp 1972 als Anhang zu seinem Buch „Christus im Leben Schleiermachers": diese Wiedergabe ist das erste Dokument der von Quapp mitgeteilten „Urkunden des reifenden Schleiermacher"229. Seine Übertragung ist voller Mängel und Lesefehler (mit teilweiser Umkehrung der Bedeutung). Hermann Peiter hat in seiner Besprechung des Quappschen Buches230 107 Übertragungsfehler aufgelistet, außerdem eine Stelle, wo die bessere Lesart im Apparat steht. Und diese Liste von Übertragungsfehlern ist keineswegs vollständig. 18. Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems Das eigenhändige Manuskript, das Schleiermacher unter dem Titel „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" verfaßt hat, ist unter der Nachlaß-Nr. 139 im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR archiviert. Die zwölf gehefteten Oktavblätter sind 10,8 cm breit und 18,5 cm hoch. Das Manuskript ist ohne Datum. Die Paginierung der Seiten 1—22 mit Bleistift stammt nicht von Schleiermachers Hand. Das nachgedunkelte Papier, das teilweise ohne Wasserzeichen ist, ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Es ist von derselben Sorte wie bei den Manuskripten SN 138 und 140. Die Blattkanten sind unregelmäßig geschnitten. Die durch Faltung entstandenen Doppelblätter sind zu unterschiedlichen Lagen von 5 bzw. 4 bzw. 3 Blättern (zweimal ist ein Blatt abgeschnitten) ineinandergeschachtelt und dann geheftet. Nach dem Titel auf Seite 1 folgt auf Seite 2 eine Inhaltsübersicht und ab Seite 3 Schleiermachers Darstellung. Die unpaginierten Seiten 23 und 24 sind unbeschrieben. Für die Datierung dieses Manuskripts ist seine Verflechtung mit der Entstehung des Ms. „Spinozismus" maßgebend. Schleiermacher hat seine „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" nach seiner Abschrift der 44 Jacobischen Paragraphen zu Spinoza231 wahrscheinlich im Winterhalbjahr 1793/94 in Berlin verfaßt und dabei als Quelle nur aus dem JacobiBuch „ Ueber die Lehre des Spinoza", nicht aus Spinoza-Texten selbst, ge228 229

230 231

Vgl. Cbronicon Spinozanum 3,312—316 Quapp: Christus im Leben Schleiermachers, Göttingen 1972, S. 329—373. An 23 Stellen hat Quapp im Apparat Lesarten von H. G. Starke mitgeteilt. Außer in einem Fall verdienen die Starkeschen Lesarten sämtlich den Vorzug. Theologische Literaturzeitung 99 (Berlin 1974), Sp. 213-217 Vgl. unten 513- 523

Historische

Einführung

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schöpft. Durch das Medium der Jacobischen Darstellung hindurch bemüht er sich, die Hauptlinien der Philosophie Spinozas zu konstruieren und zu beurteilen, um dann besonders durch die Vergleiche mit Leibniz und Kant die Konturen Spinozas noch schärfer herauszuarbeiten. Das Inhaltsverzeichnis hat Schleiermacher vermutlich erst zum Abschluß seiner Niederschrift hinzugefügt. Für diese Annahme spricht der Sachverhalt, daß in der Darstellung selbst die einzelnen Abschnitte Überschriften haben, die teilweise von den Formulierungen des Inhaltsverzeichnisses abweichen, ferner daß das Inhaltsverzeichnis selbst knapper, durchgefeilter und einheitlicher formuliert ist und schließlich daß sich im Text der Darstellung ein Hinweis auf einen Wachstumsprozeß findet, der sich im Inhaltsverzeichnis nicht niedergeschlagen hat, dort vielmehr als schon vollzogen vorausgesetzt wird. Zum Beginn seines zweiten Hauptteils ,,Spinozas Kosmologie"232 wollte Schleiermacher ursprünglich schon nach zwei Sätzen den Vergleich mit Leibniz beginnen lassen. Den schon geschriebenen ersten Satz dieses Vergleichs hat er dann durch Einklammerung an eine spätere Stelle verwiesen und noch seine dreiteilige ,,Exposition" eingeschoben, wobei Schleiermacher diese ,,Exposition" und auch den ersten Unterpunkt in der Darstellung selbst nicht markiert hat. Das Inhaltsverzeichnis zeigt von diesem Wachstum keine Spur. Das Manuskript „Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems" wurde vollständig bereits 1839 im Rahmen der „Sämmtlichen Werke"233 von Heinrich Ritter als Anhang zur „ Geschichte der Philosophie" veröffentlicht. Diese Edition, die allerdings nicht kritischen Grundsätzen verpflichtet ist, weist nur wenige Mängel auf. Dieses Manuskript, dessen Entstehung Ritter etwas vage in die Zeit vor 1802 setzt234, hat weitgehend das Bild von Schleiermachers Stellung zu Spinoza geprägt.

19. Uber dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betrifft, und besonders über seine eigene Philosophie Schleiermachers eigenhändiges Manuskript ,,Ueber dasjenige in Jakobis Briefen und Realismus was den Spinoza nicht betrift, und besonders über seine eigene Philosophie" ist im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR unter der Nachlaß-Nr. 140 archiviert. Dieses Manuskript umfaßt 6 Blätter von ca. 10,7 cm Breite und 18,5 cm Höhe. Es ist ohne Datum. Die Foliierung stammt nicht von Schleiermachers Hand. Die drei durch Faltung entstandenen Doppelblätter sind lose ineinander gelegt. Unten 577,5 233 SW III/4.1,283 -311 234 Vgl. SW III/4.1,10f 232

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Einleitung des

Bandherausgebers

Das nachgedunkelte Papier ohne Wasserzeichen ist mit Sepia-Tinte beschrieben. Die Blattkanten sind unregelmäßig geschnitten. Bl. Ir enthält nur den Manuskripttitel, Bl. lv ist unbeschrieben. Der Textteil beinhaltet hauptsächlich Exzerpte Schleiermachers aus Jacobis Schrift „ Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn"235, und zwar besonders eine Übersicht über die 52 Jacobischen Sätze zur Freiheit236; außerdem einige Exzerpte aus Jacobis Schrift „David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus"231. In diese Exzerpte sind drei Anmerkungen Schleiermachers eingestreut, zwei zu den Jacobischen Freiheitssätzen und eine vergleichende zum Verhältnis von Hemsterhuis und Kant am Schluß. Die Entstehungsgeschichte dieses Manuskripts ist mit derjenigen der beiden Manuskripte zu Spinoza aufs engste verknüpft. Dementsprechend muß dieses Manuskript wahrscheinlich in das Winterhalbjahr 1793/94 datiert werden.238 Schleiermacher hat bei der Lektüre der beiden Jacobischen Schriften sich auch das notiert, was für Jacobis eigene Philosophie charakteristisch ist, bzw. was Jacobi zur Entwicklung der Leibnizschen Philosophie239 und zu Gedankengängen von Hemsterhuis berichtet. Ein sicheres Urteil über die relative Chronologie ist nicht möglich. Schleiermacher kann dieses Manuskript bei einem erneuten Durchgang durch die Jacobischen Schriften angefertigt haben, nachdem er erst die für die Jacobische Darstellung der Spinozistischen Philosophie wichtigen Passagen exzerpiert und kommentiert hatte. Die Anordnung der Exzerptstellen im jetzt vorliegenden Manuskript drängt allerdings eher die Vermutung auf, daß Schleiermacher den ersten Teil der Exzerpte aus Jacobis Schrift „ Ueber die Lehre des Spinoza"240 zugleich mit dem zweiten Hauptteil des Ms. „Spinozismus" geschrieben hat, daß er sich dann zum Abschluß seiner Lektüre die 52 Jacobischen Sätze zur Freiheit aus der Vorrede dieser Schrift notiert und begutachtet hat, um schließlich sich noch kurz der zweiten Jacobischen Schrift zuzuwenden. Dilthey hat nur kurz auf die Existenz dieses Manuskripts hingewiesen, aber keine nähere Beschreibung und auch keine Zitate gegeben,241 Dieses Manuskript ist dann von Erwin Quapp 1972 im Anhang seines Buches „Christus im Leben Schleiermachers" als zweite der „ Urkunden des reifenden Schleiermacher" erstmals vollständig ediert worden.242 Gegen diese Edi235

236 237

238 239 240 241 242

Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn, 2. Aufl., Breslau 1789 Vgl. unten 588,20-594,26 Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch, Breslau 1787 Vgl. oben LXXVJIIf Vgl. unten 587 Vgl. unten 585,5-588,17 Vgl. Denkmale 64 Quapp: Christus im Leben Schleiermachers, Göttingen 1972, S. 375 —389

Historische

Einführung

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tion gelten ähnliche Kritikpunkte wie die, die beim Ms. „Spinozismus" muliert sind243, auch wenn die Zahl der Einzelmängel geringer ist. Tabellarische

for-

Übersicht

Den Abschluß dieser Historischen Einführung bilde eine tabellarischchronologische Zusammenfassung der literarischen Unternehmungen Schleiermachers, soweit sie der I. Abteilung dieser Gesamtausgabe zugerechnet werden müssen. 1787 1788 1788

Aufsatz zur Religionstheorie (?) nicht erhalten nicht erhalten Briefe zur Verbindlichkeit (?) Anmerkungen zu Aristoteles: Nikomachische Ethik 8—9 erhalten 1789 Entwürfe zu Abhandlungen nicht erhalten (Exzerpt bei Dilthey: Denkmale) 1789 Über das höchste Gut erhalten 1789 (Erstes) Freiheitsgespräch nicht erhalten 1789 Abhandlung zur Pflichtentheorie nicht erhalten 1789 (Zweites) Freiheitsgespräch nicht erhalten 1789 (Drittes) Freiheitsgespräch erhalten 1789 Übersetzung von Aristoteles: Nikomachische Ethik 8—9 erhalten 1789 Exzerpt aus Aristoteles: Metaphysik (mit Übersetzung und Anmerkungen) erhalten 1789 Über den gemeinen Menschenverstand nicht erhalten 1789 Über das Naive erhalten ca. 1790 An Cecilie erhalten erhalten ca. 1790—1792 Notiz zur Erkenntnis der Freiheit erhalten ca. 1790-1792 Über die Freiheit erhalten 1790/91 Entwurf zur Abhandlung über den Stil erhalten 1790/91 Über den Stil erhalten 1792/93 Über den Wert des Lebens 1793 Abschrift und textkritische Erörterung von Diogenes Laertius: De vitis philosophorum erhalten 1793 Über den Geschichtsunterricht erhalten 1794 Philosophia politica Piatonis et Aristotelis erhalten ca. 1793/94 Spinozismus erhalten erhalten ca. 1793/94 Kurze Darstellung des Spinozistischen Systems ca. 1793/94 Über dasjenige in Jacobis Briefen und Realismus, was den Spinoza nicht betrifft, und besonders über seine eigene Philosophie erhalten 243

Vgl. oben LXXX

LXXXIV

Einleitung

des

Bandherausgebers

II. Editorischer Bericht Der hier vorgelegte Band „Jugendschriften 1787—1796" umfaßt die handschriftlich erhaltenen Arbeiten Schleiermachers aus dem Zeitraum vom Beginn seines Studiums an der Universität Halle im Mai 1787 bis zum Antritt der Predigerstelle an der Berliner Charite im September 1796. Die Abgrenzung dieses Zeitraums ist, wie bei den folgenden Bänden der I. Abteilung auch, an biographischen Stationen orientiert. In diesen Band wurden alle die Arbeiten Schleiermachers nicht aufgenommen, die ihrer literarischen Gattung nach der III., IV. oder V. Abteilung zugewiesen werden mußten. Das gilt zuerst für die Entwürfe und Druckfassungen von Predigten, die er in diesem Zeitraum gehalten hat. Ferner gilt es für ein umfangreiches Manuskript, das die Übersetzung der „Politik" des Aristoteles und Anmerkungen umfaßt, sowie für die Übersetzung von Blairs Predigten. Endlich gilt es für alle Gedichte und tagebuchartigen Aufzeichnungen, die aus der Pädagogiumszeit in Niesky bei Görlitz (Frühjahr 1783 bis Herbst 1785) und der Seminarzeit in Barby an der Elbe (Herbst 1785 bis April 1787) stammen; diese werden in der Abteilung „Briefe und biographische Dokumente" veröffentlicht. Alle hier abgedruckten Nachlaßstücke werden im Zentralen Archiv der Akademie der Wissenschaften der DDR in Berlin-Mitte aufbewahrt. Der dort befindliche Schleiermacher-Nachlaß war 1898 von der „Litteraturarchiv-Gesellschaft" erworben worden, an deren Gründung im Jahr 1891 Wilhelm Dilthey maßgeblich beteiligt war und der im Gebäude der Deutschen Staatsbibliothek Berlin Räume zur Verfügung standen. Nach der Auflösung der „Litteraturarchiv-Gesellschaft" 1944 wurden deren Bestände von der Akademie der Wissenschaften übernommen. Zunächst war dieses Literaturarchiv der Deutschen Kommission, ab 1952 dem Institut für deutsche Sprache und Literatur zugeordnet, bis es im Juli 1968 ins Zentrale Archiv eingegliedert wurde. Alle Handschriften tragen auf den Titelblättern bzw. Umschlagblättern den roten rechteckigen Stempel „Litteraturarchiv Berlin". Der Schleiermacher-Nachlaß war früher in Kapseln nur schlecht geordnet. Friedrich Laubisch hat nach einer ersten kritischen Sichtung, die zur Niederschrift einer Bestandsinventur führte, in den Jahren 1964 und 1965 neu gefundene Manuskripte in den Nachlaß eingeordnet, den Nachlaß selbst neu geordnet und seine Erschließungsarbeiten 1969 durch eine 76 Seiten starke ,, Übersicht" über den Nachlaß abgeschlossen. Eine systematische Auswertung des Schleiermacher-Nachlasses beginnt erst jetzt im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe. Die Jugendschriften Schleiermachers waren bisher der wissenschaftlichen Öffentlichkeit im wesentlichen bekannt in der Gestalt, wie sie Wilhelm Dilthey in „Denkmale der inneren Entwicklung Schleiermachers, erläutert

Editorischer

Bericht

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durch kritische Untersuchungen" vorgestellt hat. In diesem Anhang seines „Leben Schleiermachers" (1870) hat Dilthey das von ihm benutzte Nachlaßmaterial beschrieben und in vielen Stücken auszugsweise mitgeteilt. Dilthey ist auch heute noch ein wichtiger Zeuge, insofern er Nachlaßstücke benutzt und dargestellt hat, die heute nicht mehr vorhanden sind. Gerade bei der Darstellung der frühen schriftstellerischen Pläne Schleiermachers mangelt es allerdings des öfteren bei Dilthey an der gebotenen Genauigkeit, so daß nicht immer sicher zu entscheiden ist, ob es sich bei dem von ihm Dargestellten um echte Nachlaßstücke oder um durch Briefstellen gestützte Pläne Schleiermachers handelt. In Diltheys „Denkmale" überwiegt das Referat, das wörtliche Zitat steht demgegenüber deutlich zurück.244 Wo Dilthey zitiert, tut er das weder im Sinne einer kritischen Edition noch mit der nötigen Sorgfalt. Er markiert ζ. B. nie, wo er innerhalb von Zitaten Wörter oder Sätze Schleiermachers ausgelassen hat. Oft sind in seine berichtenden Passagen nicht gekennzeichnete Zitate eingestreut, in seltenen Fällen sind sogar Teile seiner Zitate eigener Bericht. Dilthey unterscheidet nicht, welche Hervorhebungen durch Sperrung in den Zitaten von Schleiermacher selbst und welche nur von ihm sind. Der überwiegende Teil der Hervorhebungen geht auf Diltheys Konto, der dadurch die ihm wichtigen Gesichtspunkte zur Geltung bringen wollte. Stilistisch greift Dilthey des öfteren glättend ein, entweder durch Auslassung oder indem er plastische, vielleicht ihm etwas anstößige Formulierungen Schleiermachers referierend durch andere ersetzt. Im vorliegenden Band sind die Manuskripte chronologisch geordnet. Schleiermacher hat allerdings nur ganz wenige Manuskripte selbst datiert, für einige geben die Briefe eindeutige Zeugnisse, für die meisten läßt sich durch Kombination der Hinweise eine überzeugende relative Chronologie erschließen. Schleiermachers Handschrift schwankt in den hier veröffentlichten Manuskripten zwischen leicht leserlich und fast gar nicht leserlich. Das hängt sowohl von der sehr verschiedenen Größe der Schriftzüge als auch von der Flüchtigkeit bzw. Sorgfältigkeit des Schriftbildes einzelner Wörter und Buchstaben ab. Obwohl Schleiermachers Jugendmanuskripte insgesamt weitaus besser lesbar sind als seine Aufzeichnungen aus späteren Lebensjahren245, gibt es doch auch unter ihnen einige, die vergleichbare Schwierigkeiten bieten. Um die Eigenarten der Handschrift Schleiermachers in ihrer Vielgestaltigkeit anschaulich zu machen, sind dem Drucktext drei ausgewählte 244 245

Vgl. Denkmale 3-69 für den Zeitraum 1787-1796 Ludwig Jonas etwa, der Herausgeber der ,,Dialektik", beschreibt seine Leiden so: „ Um so mehr aber mufl ich mich von aller Schuld einer Verzögerung freisprechen, als ich mir schon über dem mühsamen Errathen der schleiermacherschen Manuscripte eine Augenkrankheit zuzog, die mich länger als achtzehn Monate unfähig gemacht hat etwas anderes zu lesen und zu schreiben, als was mein Amt gebieterisch forderte." (SW III/4.2,XII)

Einleitung des Bandherausgebers

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Faksimiles beigegeben: das erste steht für einen Text mit vielen Niederschriftskürzeln246, das zweite für die häufiger vorkommende extreme Kleinschrift Schleiermachers241, das dritte für ein in Reinschrift überliefertes Ma248 nuskript . Der vorliegende Band ist nach den editorischen Grundsätzen für die gesamte I. Abteilung gestaltet 249 Die besonderen Gegebenheiten des hier veröffentlichten Nachlaßmaterials machen einige zusätzliche Regelungen erforderlich. Durch Sperrung von Stichworten wird der Querverweis zu den allgemeinen Grundsätzen hergestellt. Abbreviaturen. Schleiermacher bedient sich zur Beschleunigung der Niederschrift des öfteren einer Anzahl von Kürzeln und Abkürzungen. Dabei ist auffällig, daß er keineswegs konsequent verfährt. Auf derselben Seite, ja im selben Satz kann ein Wort sowohl in der Kurzform als auch ausgeschrieben begegnen. Die Zeichenwerte selbst sind allerdings konstant und das von den ersten erhaltenen Manuskripten an. Doppeldeutig können Kurzformen allenfalls werden, wenn sie auch als Abkürzungen eines Namens gebraucht werden können (Beispiel: M. steht für Mensch, kann aber auch Mendelssohn heißen). In solchen Fällen ermöglicht aber der Kontext jeweils eine eindeutige Entscheidung. Die ungewöhnliche Verwendungsart wird im textkritischen Apparat nachgewiesen, die durchgängig übliche im hier folgenden Verzeichnis der Abbreviaturen. Schwierigkeiten beim Entziffern machte Schleiermachers Gebrauch griechischer Buchstaben zur Bezeichnung von Begriffen, ζ. B. Ö für Kraft. Diese griechischen Buchstaben sind reine Kürzel, die mit deutschen Buchstaben kombiniert werden können, ζ. B. de für Kräfte. Folgende Abbreviaturen des Originals sind im Drucktext aufgelöst, ohne daß ein Nachweis im textkritischen Apparat erfolgt. Kombinationen von Abbreviaturen werden nicht eigens aufgeführt, ebensowenig wie die Flexionsformen von Abbreviaturen, die Schleiermacher häufig durch den hochgestellten letzten Buchstaben der entsprechenden Flexionsendung kenntlich e gemacht hat (Beispiel: B für Begriffe). a, ä ab a pr Aristot f, -f, f6,-6, 6-

246 247 248 249

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

auch aber a priori Aristoteles auf, -auf, aufaus, -aus, aus-

unten 136 unten 218 unten 392 oben IX-XVI

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