Kontroversen über die Grundlagen ethischen Handelns: Chinesisch-Deutsch 9783787343386, 9783787343379

Wáng Yángmíng (1472–1529) ist einer der bedeutendsten konfuzianischen Denker des kaiserzeitlichen China. Seine Philosoph

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Kontroversen über die Grundlagen ethischen Handelns: Chinesisch-Deutsch
 9783787343386, 9783787343379

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SINO -P H I L OSOP H ICA Wáng Yángmíng, Luó Qīnshùn, Ōuyáng Dé

Kontroversen über die Grundlagen ethischen Handelns Chinesisch–Deutsch

S I NO - P H I L OS OP H IC A

SINO -P H I L OSOP H ICA Zweispr achige Ausgaben von Quellentexten der chinesischen Philosophie

Herausgegeben von Rafael Suter, Wolfgang Behr, Fabian Heubel, Richard King, Joachim Kurtz, Martin Lehnert und Kai Marchal

Ba nd 1

FELI X MEINER V ER L AG H A MBU RG

Wáng Yángmíng, Luó Qīnshùn, Ōuyáng Dé

Kontroversen über die Grundlagen ethischen Handelns

Übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von

Iso Kern

Chinesisch–Deutsch

FELI X MEINER V ER L AG H A MBU RG

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.  ISBN 978-3-7873-4337-9  ISBN eBook (PDF) 978-3-7873-4338-6 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der UZH Foundation. Kalligraphie des chinesischen Reihentitels 古今哲學 (gǔ jīn zhéxué, »Philo­sophie aus Altertum und Gegenwart«) von Lin Junchen 林俊臣 (National University of Tainan). © Felix Meiner Verlag Hamburg 2023. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys­temen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Layout, Satz: Jens-Sören Mann. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungs­ beständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorfrei ­ gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Meinem Freund Rafael Suter mit Dank gewidmet

 I N H A LT

V  orwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9  Einleitung. Von Iso Kern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1. Zu den Verfassern der Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2. Kurze Zusammenfassung der praktischen (ethischen) Philosophie von Zhū Xī (1130–1200) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern, ob ethisch ­g utes Handeln nicht doch Erkenntnis der Ordnung der Welt ­voraussetzt, wie es Zhū Xī verlangt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Kurzer Abriss der späten Lehre Wáng Yángmíngs (seit 1521) in ­seiner »Lehre in vier Sätzen« von 1527 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Zum Charakter der vorgestellten philosophischen Briefe und ­Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 6. Grundbegriffe, die in den vorgestellten ­philo­sophischen ­Kontroversen vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 7. Kurze Notiz zur Nachwirkung von Wáng Yángmíngs philosophischer Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 T E X T E U N D Ü B ER S E T ZU N G EN

Teil I Die Kontroverse zwischen dem Vertreter der Schule Zhū Xīs (1130–1200), Luó Qīnshùn (1465–1547), und Wáng Yángmíng (1472–1529) . . . . . . . . . . . .

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A.  Zwei Texte Wáng Yángmíngs, auf die diese Kontroverse Bezug nimmt   Wáng Yángmíngs Vorwort (1515) zu seiner Schrift Meister Zhū Xīs ! ­endgültige Lehre in seinen späten Jahren (publiziert 1518) . . . . . . . . . . . . 71   Wáng Yángmíngs erstes Vorwort (1518) zur alten Fassung des @ Lernens der Großen (Dàxué) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

8

Inhalt

B.   Zwei Briefe zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

#  Brief von Luó Qīnshùn an Wáng Yángmíng vom Sommer 1520 . . . . . . . . 81 $  Antwortbrief von Wáng Yángmíng an Luó Qīnshùn vom Herbst 1520 . . 93

Teil II % Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé (zwischen 1523 und 1526) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Teil III Die Kontroverse von 1534/35 zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn . . 133

^  Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534 . . . . . . . . . . . . . . . 135 &  Antwortbrief von Luó Qīnshùn an Ōuyáng Dé vom 8. September 1534 . 153 *  Antwortbrief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 4. Dezember 1534 . 173 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Ausführliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

VO R W O R T

A  

ls mich mein Freund Rafael Suter, wissenschaftlicher Mitarbeiter der    Abteilung Sinologie des Asien-Orient-Instituts der Universität Zürich, vor etwa fünf Jahren im Namen von Prof. Wolfgang Behr, Lehrstuhl für Sinologie (Traditionelles China) derselben Universität, fragte, ob ich bereit sei, ein Bändchen mit Übersetzungen aus der chinesischen Philosophie für die vom Felix Meiner Verlag in Anlehnung an die seit über hundert Jahren herausgegebene Philosophische Bibliothek konzipierten Sino-Philosophica zusammenzustellen, habe ich dieses Angebot mit großer Freude angenommen. Denn es ist mir persönlich ein großes Anliegen, dass hier in Europa, besonders im philosophischen Unterricht seiner Universitäten, die chinesische Philosophie gegenwärtiger wird. Ich habe dieses Anliegen nicht nur deshalb, weil ich weiß, wie präsent die europäische Philosophie in China ist, wofür ich mich selbst auch eingesetzt habe, sondern auch deshalb, weil ich denke, dass die in Europa Philosophierenden aus der chinesischen Philosophie großen Nutzen ziehen, viel lernen könnten, ohne allerdings dabei den großen Reichtum der eigenen Philosophie vergessen zu dürfen. Durch das gegenseitige Einbeziehen von Lehren anderer großer philosophischer Traditionen wird das Philosophieren nicht nur bereichert, sondern wird zu einem allgemein menschlichen Unternehmen, was es seiner Natur nach auch sein sollte. In meiner folgenden deutschen Übersetzung der chinesischen Texte, in den Anmerkungen und in meiner Einleitung dazu geht es mir in diesem Band der Reihe Sino-Philosophica in erster Linie um das im Titel bezeichnete sachliche philosophische Problem und seine kritische Erörterung und nicht um die Geschichte der chinesischen Philosophie. Diese schätze ich zwar auch, denn sie kann nützlich sein, aber sie ist hier nicht mein Thema. Es gibt viele Bücher über die Geschichte der chinesischen Philosophie in englischer, deutscher, französischer und anderen »westlichen« Sprachen, die der Leser der von mir vorgestellten und übersetzten philosophischen Texte konsultieren kann. Ich habe nicht das Glück, Philosophiehistoriker zu sein, der »nur« historische Fakten und ihre sachlichen und historischen

10

Vorwort

Zusammenhänge eruieren und konstruieren muss, sondern ich bemühe mich zu philosophieren und habe mir damit die Bürde des Denkens auf­ erlegt, des kritischen Suchens nach Einsicht, ob eine philosophische Aussage wahr ist oder nicht. Die Philosophiehistoriker, wenn sie sich überhaupt die Frage stellen, welche der verschiedenen vertretenen Positionen richtig seien und welche nicht, werden oft Skeptiker oder Relativisten und ruhen dann auf dem »mol oreiller du doute« (Michel de Montaigne). In größter Allgemeinheit kann man die Probleme der im vorliegenden Band behandelten Kontroverse im folgenden Satz zusammenfassen : Hat sich ethisches Handeln nach der empirisch zu erkennenden objektiven kosmischen Ordnung (»Ordnungsprinzipien des Himmels«) und nach den objektiv vorliegenden tradierten Schriften der »Heiligen« (Gespräche des Konfuzius, Menzius und anderen Texten) oder aber nach dem eigenen Herzen (Geist) bzw. nach dem »ursprünglichen Wissen« und nach der eigenen Einsicht zu richten ? Wáng Yángmíng 王陽明 (1472–1529) kam zur Auffassung, dass ethische Prinzipien nicht in der objektiven Welt zu erkennen seien, und gab der eigenen Einsicht und dem eigenen »ursprünglichen Wissen« den Vorrang gegenüber den Aussagen der Heiligen, selbst gegenüber denjenigen von Konfuzius. Er schrieb in einem Brief vom Herbst 1520 an Luó Qīnshùn 羅欽順 (1465–1547) : »Nun besteht der Wert des [ethischen] Lernens im Erlangen durch das Herz (den Geist). Wenn ich etwas im Herzen prüfe und es als falsch erkenne, dann wage ich es nicht als richtig zu betrachten, selbst wenn es Konfuzius sagte, und umso weniger, wenn es von jemandem stammt, der das Niveau von Konfuzius nicht erreicht hat. Wenn ich etwas im Herzen prüfe und als richtig erkenne, dann wage ich nicht, es als falsch zu betrachten, selbst wenn es aus dem Mund eines Gewöhnlichen stammt, und umso weniger, wenn es von Konfuzius gesagt wurde.«1 Luó Qīnshùn schrieb in einem Brief an Ōuyáng Dé 歐陽德 (1496–1554) vom 8. September 1534 dagegen, dass sich an die Schriften der Heiligen und Weisen halten müsse, wer ihren ethischen Weg erlernen wolle, seien es doch diese Texte allein, die sie der Nachwelt hinterlassen hätten. Und selbst wenn man sie nur in Teilen erfassen möge, könnten sie dem, der sie geistig durchdringt, gleichwohl Anhaltspunkte zum richtigen 1

Vgl. unten, S. 97.



Vorwort 11

Handeln eröffnen. Edle, die das Dao in sich trügen, seien dagegen selten, so dass jene, die von sich aus in der Lage sind, Wahrheit und Falschheit, Gewinn und Verlust ins rechte Verhältnis zueinander zu setzen, nicht nur dünn gesät seien, sondern in keiner Weise über das hinauszugelangen vermöchten, was die Bücher der Heiligen und Weisen überliefern.2 In diesen zwei verschiedenen Haltungen äußert sich wohl der radikalste Gegensatz innerhalb der konfuzianischen Schule seit dem 11. Jahrhundert in China. Vor dem massiven Eindringen europäischen Denkens am Ende des 19. Jahrhunderts ist im Philosophieren dieser Kultur das Verhältnis von Tradition und eigenem individuellen Denken nie so grundsätzlich diskutiert worden. Diesen Diskussionen entsprechen in Europa in einem ganz anderen Kontext und unter anderen Vorzeichen die Diskussionen über das Verhältnis von Theologie und Philosophie, über das Verhältnis zwischen kanonischen von Gott offenbarten Schriften und ihren dogmatischen Auslegungen durch die Autorität der Kirche einerseits und eigenem vernünftigen Denken und eigenem Gewissen andererseits. Allgemeiner gesprochen geht es um den Gegensatz zwischen traditio­nel­ ler gesellschaftlicher Moral, die aus traditionellen öffentlichen Vorschrif­ten und Erwartungen einer Gesellschaft an ihre einzelnen Mitglieder besteht und die von diesen mehr oder weniger internalisiert (verinnerlicht), d. h. zu eigen gemacht worden sind und ihr gesellschaftliches Gewissen aus­ machen, einerseits und andererseits dem ursprünglichen eigenen Gewissen eines Menschen, was Wáng Yángmíng und seine Schüler seit 1521 liáng zhī 良知 nennen. Dieses ursprüngliche Gewissen kann verlangen, sich den Regeln irgendwelcher tradierten sozialen Moral entgegenzusetzen, z. B. Regeln, die soziale Minderheiten in der Religion, in der Hautfarbe, in der sexuellen Orientierung diskriminieren. Meine Zusage, dieses Bändchen für die Reihe Sino-Philosophica zu verfassen, gab ich Rafael Suter nur unter der Bedingung, dass meine Übersetzungen kritisch gegengelesen würden. Denn ich hatte mich damals seit etwa acht Jahren nicht mehr mit alten chinesischen Texten beschäftigt und war etwas aus der Übung gekommen. Zudem bin ich kein Sinologe, habe nie Sinologie an irgendeiner Universität studiert oder ein Examen in 2

Vgl. unten, S. 153.

12

Vorwort

diesem Fach abgelegt. Rafael Suter hat mich in meiner Arbeit gewissenhaft und mit Kompetenz unterstützt, indem er mir nach der Durchsicht der von mir übersetzten chinesischen Texte viele andere Übersetzungsmöglichkeiten vorlegte, von denen ich die meisten übernommen habe. Ich möchte ihm an dieser Stelle aufrichtig dafür danken. Zwischen der Einreichung dieses Manuskripts und seiner umfassenden Überarbeitung, die ich mittlerweile in meinem 85. Lebensjahr vornahm, liegen etliche Jahre. Von den zahlreichen kritischen Bemerkungen verschiedenster Art zu meiner Übersetzung und der zugehörigen Einleitung, die ich von den Herausgebern erhielt, habe ich auf jene einzugehen versucht, die mir sinnvoll und machbar erschienen. Dabei beschränkte ich mich auf jene Punkte, die meines Erachtens zu dem gehören, was ich als meine philosophische Arbeit betrachte. Trotz aller Unterstützung und Hilfe trage die letzte Verantwortung für die folgende Einleitung und die Übersetzungen ich selbst. Krattigen, oberhalb des Thunersees im Berner Oberland, den 31. Dezember 2022

隱居山人耿寧 yīnjū shānrén Gěng Níng (der im Verborgenen wohnende Bergmensch Kern)

Siglen

WYMQ J

Wáng Shǒurén 王守仁, Wáng Yángmíng quánjí 王陽明全集 (Shànghǎi: Shànghǎi gǔjí chūbǎnshè 上海古籍出版社, 1992).

KZJ

Luó Qinshùn 羅欽順, Kùnzhī jì 困知記 (Běijīng: Zhōnghuá shūjú 中華書局, 1990).

OYDJ

Chén Yǒnggé 陳永革, hg., Ōuyáng Dé jí 歐陽德集 (Nánjīng 南京: Fènghuáng chūbǎnshè 鳳凰出版社, 2007).

EIN LEITU N G

D  

iese Einleitung beginne ich mit den Biographien der in den von mir übersetzten Texten diskutierenden Philosophen. Denn in der chinesi­ schen Philosophie, die vor allem ethisch und politisch interessiert ist, gilt das ethisch gute Leben eines Philosophierenden als Gewähr, ja als Beweis für die Echtheit und Güte seiner Philosophie. Danach biete ich im Abschnitt 2 einen Abriss der Lehre Zhū Xīs (1130–1200), von der Wáng Yángmíng ausging, aber in ihr keine geistige Befriedigung fand, und die im Wesentlichen die Grundlage der von Luó Qīnshùn in seinen Briefen mit Wáng Yángmíng und Ōuyáng Dé vertretenen Positionen bildet. Der Abschnitt 3 widmet sich der Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern, ob ethisch gutes Handeln nicht doch eine Erkenntnis der Ordnung der Welt voraussetze, wie es Zhū Xī verlangt. Im Abschnitt 4 gebe ich die kurze Zusammenfassung der praktischen (ethischen) Philosophie seiner späten Lehre (seit 1521) wieder, die Wáng Yángmíng in seiner »Lehre in vier Sätzen« (sì jù jiào 四句教) von 1527 formulierte, und unterziehe sie einer Kritik. Im Abschnitt 5 erörtere ich einige Grundbegriffe der chinesischen Philosophie, die in den in diesem Band übersetzten philosophischen Kontroversen vorkommen. In einer Schlussbemerkung schließlich sage ich etwas Weniges über das Fortwirken von Wáng Yángmíngs Philosophie in China.

1.  Zu den Verfassern der Briefe a)  Wáng Yángmíng (1472–1529)

Wáng Yángmíng wurde im 8. Jahr der chénghuà-Ära der Míng-Dynastie (1368–1644) am 30. Tag des neunten Mondes, d. h. nach unserer Zeitrechnung am 31. Oktober 1472, geboren. Sein Geburtsort war Yúyáo 餘姚, eine damalige Kreisstadt, die im südlichen Küstengebiet Chinas in der Provinz Zhèjiāng 浙江, etwa in der Mitte zwischen den beiden Präfekturhauptstädten Shàoxīng 紹興 und Níngbō 寧波 liegt. Sein Geburtshaus befand

16

Einleitung

sich am nördlichen Fuß des »Drachenberges« (Lóngshān 龍山), nordwestlich des Stadtzentrums, und wurde später aufgrund eines Traumes, den die Großmutter Wáng Yángmíngs bei dessen Geburt hatte, »Gebäude der glücksverheißenden Wolke« (ruìyún lóu 瑞雲樓) genannt.1 Sein persönlicher Name (míng 名) war Shǒurén 守仁 (»Bewahrer der Menschlichkeit«), so dass er in früheren Veröffentlichungen in der Volksrepublik China meist Wáng Shǒurén genannt wurde. »Yángmíng« war sein Beiname (hào 號), den er sich selbst gab, als er 30 Jahre alt war. So nannten ihn seine Schüler und so wird er auch heute meistens bezeichnet.2 Sein Vater, Wáng Huá 華 (Beiname : Lóngshān »Drachenberg«, 1453–1522), der 19-jährig war, als Wáng Yángmíng geboren wurde, wurde ein strenger Konfuzianer und ein hoher Beamter. Während der hóngzhì-Ära (1488–1505) hatte er die Ehre, dem Kaiser Vorträge zu halten, und wirkte als Lehrer des Thronnachfolgers. 3 Während der zhèngdé-Ära (1506–1521) war er einige Zeit Minister in der »Südlichen Hauptstadt« Nánjīng 南京. Doch während Wáng Yángmíngs Kindheit, bevor sein Vater höherer Beamter wurde, lebte die Familie in bescheidenen Verhältnissen ; ihre Wohnung im »Gebäude der glückverheißenden Wolke« war nur gemietet.4 Sie bestand aus einem gewöhnlichen zweistöckigen Gebäude. 5 Vom zehnten bis zum 16. Lebensjahr (1482 bis 1487) lebte er zusammen mit seinem Vater und seinem Großvater väterlicherseits und bis 1484 wohl auch mit seiner Siehe »Niánpǔ I« 年譜 (»Lebenschronik von Wáng Yángmíng«), unter dem 8. Jahr der chénghuà-Ära (Wú Guāng 吳光, Hg., Wáng Yángmíng quánjí 王陽明全集 [Shànghǎi : Shànghǎi gǔjí chūbǎnshè 上海古籍出版社, 1992, fortan : WYMQ J], S. 1220 f. ; »Aufzeichnung über das Ruìyún-Gebäude«, Qián Míng 錢明, Hg., Xú Ài, Qián Déhóng, Dǒng Yún jí 徐愛、錢德洪、董澐集 (Nánjīng : Fènghuáng chūbǎnshè 鳳凰出版社, 2007 : fortan QDHJ), S. 170 f. ; »Gedanken an die Spitze des Drachenberges«, ebd., S. 240. 2 Im traditionellen China durfte man jemanden außerhalb der eigenen Familie nicht beim persönlichen Namen (míng) nennen. 3 Siehe Tu Weiming, Neo-Confucian Thought in Action (Berkeley : University of California Press, 1991 [1976]), S. 39. 4 »Aufzeichnung über das Ruìyún-Gebäude«, QDHJ, S. 170. 5 »Niánpǔ« I, unter dem 12. Jahr der chénghuà-Ära, WYMQ J, S. 1221 ; »Aufzeichnung über das Ruìyún-Gebäude«, QDHJ, S. 171.

1



Zu den Verfassern der Briefe 17

Mutter in Peking.6 Sein Vater hatte dort im Frühling 1481 mit 28 Jahren als Primus die höchsten Staatsprüfungen bestanden und war Mitglied der Staatsakademie Hànlín 翰林 geworden. Sein Großvater, der den Beinamen »Bambushütte« (Zhúxuān 竹軒) trug, war nie Beamter gewesen. Er hatte früh seinen Vater verloren und musste für seine Mutter und seinen jüngeren Bruder aufkommen. Er verdiente den Lebensunterhalt als Privatlehrer und lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen. Er besaß viele Bücher, war in den konfuzianischen Klassikern und anderen Schriften sehr bewandert, spielte vorzüglich die siebensaitige Qín-Laute und liebte es, Gedichte zu singen.7 Seine künstlerische Begabung verdankte Wáng Yángmíng diesem Großvater, und er hatte zu ihm, bis dieser 1490 starb, ein enges Verhältnis. Aus dem Jahre 1483, als Wáng Yángmíng elf Jahre alt war, wird in der »Lebenschronik« folgende Begebenheit berichtet : Von diesem Jahr an folgte er dem Unterricht eines Hauslehrers. Er war zu ihm aber anmaßend und ohne Zurückhaltung. Herr »Drachenberg« [sein Vater] machte sich darüber Sorgen, nur Herr »Bambushütte« [sein Großvater] verstand ihn. […] Oft fragte er [Wáng Yángmíng] seinen Hauslehrer : »Was ist denn das Wichtigste ?« Der Hauslehrer antwortete : »Bücher studieren und dadurch in die Liste der höchsten Beamten aufgenommen zu werden.« Der Meister zweifelte und sagte : »Ich glaube, dass das Aufgenommenwerden in diese Liste noch nicht das Wichtigste ist ; das Studieren von Büchern dient doch wohl dem Lernen, ein Heiliger und Weiser zu werden.« Herr Lóngshān [sein Vater] hörte davon und sagte lachend : »Willst du etwa ein Heiliger und Weiser werden ?«

Es gibt keine festen Anhaltspunkte, dass auch die Mutter mit in Peking war. Die Ehefrauen der Beamten folgten ihren Männern nicht immer an die alle paar Jahre wechselnden Beamtenposten. Da Wáng Huá aber seinen Vater nach Peking einlud, ist anzunehmen, dass er auch seine Gattin dorthin mitnahm, um seinem Vater die würdigste Betreuung zu gewährleisten. (Diesen Hinweis verdanke ich Prof. Yán Tāo 閻韜, Universität Nánjīng.) 7 Siehe Tu, Neo-Confucian Thought in Action, S. 16 f. 6

18

Einleitung

明年就 塾師,先生豪 邁不羈,龍山公常懷憂,惟竹軒公知 之。[…]

嘗問塾師曰: 「何為第一等事?」塾師曰: 「惟讀書登

第耳。」先生疑曰: 「登第恐未為第一等事,或讀書學聖賢耳。」 龍山公聞之笑曰: 「汝欲做聖賢耶?」8 Dieser Bericht zeigt, dass Wáng Yángmíng in seiner Kindheit und Jugend zu seinem Großvater, der geistig sehr begabt, aber in keinen hohen gesellschaftlichen Rang aufgestiegen war, ein vertrauteres Verhältnis hatte als zu seinem gesellschaftlich erfolgreichen und gestrengen Vater. Vor allem aber könnte er darauf hinweisen, dass das Ideal des »heiligen Menschen« (shèng rén 聖人) vielleicht Wáng Yángmíng schon im Kindesalter prägte und dass ihm vermutlich schon damals das Leben eines »heiligen Menschen« wichtiger erschien als der von den meisten Konfuzianern so sehr angestrebte Beamtenrang. Schon mit 13 Jahren begann Wáng Yángmíng sich auch für militärische Dinge zu interessieren und lernte Reiten und Bogenschießen. Das hing damit zusammen, dass Peking nahe der Grenze zu den Mongolen lag. Diese fielen, nachdem sie 1368 ihre Herrschaft über China verloren hatten, immer wieder in das Land ein und brachten zeitweise auch die Hauptstadt Peking in Gefahr. Erst im Jahre 1571 konnte mit dem Khan der Mongolen ein dauerhafter Friede geschlossen werden. Mit vierzehn Jahren verbrachte Wáng Yángmíng zusammen mit einem Freund seines Vaters einen ganzen Monat an der »Inneren Großen Mauer«, der zweiten Verteidigungslinie, die etwa 50 km nordwestlich von Peking verläuft, um dort militärische Probleme zu studieren. Von da an hat er sein ganzes Leben lang sein Interesse für militärische Fragen bewahrt : 1499, mit 27 Jahren, unterbreitete er als junger Beamter im Ministerium für öffentliche Bauten (gōng bù 工部) dem Kaiser einen Vorschlag in acht Punkten für eine bessere Verteidigung der Grenzen9 und in seinen mittleren und späteren Jahren wird er als hoher ziviler 8 9

»Niánpǔ I«, unter dem 19. Jahr der chénghuà-Ära (= 1483), WYMQ J, S. 1221. Diese Eingabe an den Thron ist erhalten in WYMQ J, S. 285–290. Sie ist von Wingtsit Chan ins Englische übersetzt worden : Wang Yangming, übers. Wing-tsit Chan, Instructions for Practical Living – and Other Neo-Confucian Writings (New York : ­Columbia University Press, 1963), S. 284–292.



Zu den Verfassern der Briefe 19

Beamter zweimal (1517/18 und 1528) militärische Expeditionen g­ egen Aufständische im Süden Chinas leiten. Mit 16 Jahren kehrte Wáng Yángmíng 1488 von Peking nach Yúyáo zurück und zog von dort im Spätsommer dieses Jahres nach Hóngdū 洪都 (Nánchāng 南昌), der Hauptstadt der südlich des Yángzé-Stromes gelegenen Provinz Jiāngxī 江西, um dort seine Braut abzuholen. Dieses junge Heiratsalter war üblich, für die Braut lag es sogar noch zwei, drei Jahre niedriger. Die Ehe war gemäß der chinesischen Tradition von den Eltern arrangiert. Aber Wáng Yángmíng muss seine Gattin während der ganzen Zeit ihrer Ehe geliebt haben, denn er hat nie eine Nebenfrau genommen, obschon seine Frau ihm keine Kinder gebar. Seiner konfuzianischen Pflicht, für männliche Nachkommen zu sorgen, hat er nicht durch eine Nebenfrau, sondern durch die Adoption eines Sohnes Genüge getan : Er adoptierte 1515, nach 26 Jahren kinderloser Ehe, den fünften Sohn eines Vetters (einen Enkel des jüngeren Bruders seines Vaters), der bei der Adoption sieben Jahre alt und von Wáng Yángmíngs Vater dazu ausgewählt worden war.10 Erst nachdem seine Gattin 1525 starb, heiratete er wieder und erhielt ein Jahr später von dieser zweiten Frau einen leiblichen Sohn. Im Herbst 1492 bestand Wáng Yángmíng mit zwanzig Jahren die Staatsexamen auf Provinzebene ( jǔrén 舉人-Grad, wörtl. »[für die Palastprüfung] empfohlener Gelehrter«). Darauf zog er noch im selben Jahr wieder nach Peking, wohin auch sein Vater zurückgekehrt war.11 Er bereitete sich nun auf das höchste Staatsexamen ( jìnshì 進士, »vorgerückter Gelehrter«, wörtl. »Gelehrter, der [in den Palast] eingeht«) vor, fiel aber 1493 und 1496 zweimal durch, was bei diesen Prüfungen nichts Außergewöhnliches war ; erst beim dritten Versuch, im Frühjahr 1499, war er erfolgreich. Diese Exa­m ina fanden nur alle drei Jahre einmal im Frühjahr in der Hauptstadt Peking statt und waren für sensible Menschen eine ungeheure psychische Belastung. Im Hinblick auf diese staatlichen Prüfungen musste Wáng Yángmíng sich in diesen Jahren auch mit Zhū Xīs 朱熹 (1130–1200) Philosophie befassen. Er tat es sicher nicht nur dieser Prüfungen wegen, sondern auch aus genuinem Interesse, das wohl vor allem durch Lóu Liàng 10

»Niánpǔ I« unter dem 10. Jahr der zhèngdé-Ära (1515), WYMQ J, S. 1237. »Niánpǔ I«, unter dem 5. Jahr der hóngzhì-Ära (1492), WYMQ J, S. 1223.

11

20

Einleitung

婁諒 (1422–1491) geweckt worden war, den er als Siebzehnjähriger im Winter 1489/90 aufgesucht hatte. Dieser hatte »mit ihm über die Lehre der Sòng-Konfuzianer von der Erforschung der [Ordnungsprinzipien der] Dinge (gé wù 格物)12 gesprochen«, d. h. wohl über die diesbezügliche Lehre von Chéng Yí 程頤 (Beiname : Yīchuān 伊川, 1033–1107) und Zhū Xī. »Er [Lóu Liàng] sagte, dass das Lernen, ein heiliger Mensch (shèng rén 聖人) zu werden, und das Erreichen [dieses Zieles] möglich sein muss. Er [Wáng Yángmíng] war daraufhin damit in tiefem Einverständnis« (shēn qì zhī 深契之).13 Aber Wáng Yángmíng kam, als er später Zhū Xī studierte, mit dessen Aufforderung, die »Ordnungsprinzipien« (lǐ 理) in den Dingen zu erforschen14, nicht zurecht und soll gemäß seiner »Lebenschronik« dieses Unternehmen tief enttäuscht aufgegeben und sich der literarischen Komposition gewidmet haben15, die für jene Prüfungen auch sehr wichtig war. In einer Aufzeichnung im dritten Teil des Chuánxí lù 傳習錄 (Aufzeichnungen zum Üben des [vom Lehrer] Übermittelten), das sehr wichtige Texte über Wáng Yángmíngs Philosophie enthält16, berichtet er selbst über diesen Misserfolg und diese Enttäuschung. Diese soll nach der »Lebenschronik« bereits 1492 in Peking stattgefunden haben, als Wáng Yángmíng zwanzig Jahre alt war17 : Der Meister [Yángmíng] berichtete : Die meisten Leute sagen bloß, dass man das gé wù 格物 (nach Zhū Xīs Interpretation zu übersetzen mit »das Erforschen [der Ordnungsprinzipien] der Dinge«) in der Weise von Zhū Xī durchführen soll. Aber haben sie denn »Niánpǔ I«, 2. Jahr der hóngzhì-Ära (1489) ; WYMQ J, S. 1223. »Gé wù« ist hier im Sinne Zhū Xīs übersetzt. 13 先生以諸夫人歸, 舟至廣信,謁婁一齋諒,語宋儒格物之學,謂「聖人必可 學而至」,遂深契之。WYMQ J, S. 1223. 14 Zu Zhū Xīs Lehre von der Erforschung der Ordnungsprinzipien in den Dingen siehe den entsprechenden Abschnitt in der allgemeinen Einleitung zu meiner Studie : Iso Kern, Das Wichtigste im Leben. Wang Yangming (1472-1529) und seine Nachfolger über die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« (Basel : Schwabe Verlag, 2010), § 4, S. 30–35. 15 »Niánpǔ I«, 5. Jahr der hóngzhì-Ära (1492). WYMQ J, S. 1223. 16 Zu diesem Werk s. Kern, Das Wichtigste im Leben, Teil I, Einleitung, Anhang, S. 114 ff. 17 »Niánpǔ I«, unter dem 5. Jahr der hóngzhì-Ära (1592), WYMQ J, S. 1223. 12



Zu den Verfassern der Briefe 21

das, was er sagt, jemals selbst auch wirklich praktiziert ? Ich habe es wirklich praktiziert. In jungen Jahren diskutierte ich mit meinem Freund Qián darüber, dass man, um aus sich einen Heiligen und Weisen zu machen, die Dinge unter dem Himmel erforschen (gé wú 格物) müsse, und wie man dazu die nötige große Energie erlangen könne. Aus diesem Grund wies ich auf den Bambus vor dem Gebäude und veranlasste ihn, ein solches Erforschen zu versuchen. Qián versuchte Tag und Nacht, das Ordnungsprinzip im Bambus auszuforschen. Er dachte mit größter Anstrengung nach, bis er am dritten Tag aus geistiger Erschöpfung erkrankte. Ich meinte zuerst, dass bloß seine Energie dazu nicht ausreichte. In der Folge machte auch ich mich an ein gründliches Erforschen, aber auch ich fand vom Morgen bis zum Abend das Ordnungsprinzip nicht. Am siebenten Tag schließlich wurde auch ich aus Überanstrengung des Denkens krank. Daraufhin sagten wir uns seufzend : Wir können aus uns nicht Heilige und Weise machen, denn wir verfügen nicht über jene große Kraft, die nötig ist, um die Dinge zu erforschen. Erst als ich später drei Jahre unter den Barbaren lebte18, verstand ich die Bedeutung des gé wù 格物 : dass es nämlich bei den Dingen unter dem Himmel gar nichts zu erforschen gibt, sondern dass vielmehr die Anstrengung des gé wù 格物 in Hinsicht auf die eigene Person und das eigene Herz zu leisten ist und dass man entschieden der Auffassung sein muss, dass ein heiliger Mensch zu werden etwas ist, das allen Leuten möglich ist und wofür man folglich selbst die Verantwortung trägt.19

先生曰: 「眾人只說格物要依晦翁,何曾把他的說去用?我著實 曾用來。初年與錢友同論做聖賢,要格天下之物,如今安得這等 大的力量?因指亭前竹子,令去格看。錢子早夜去窮格竹子的 道理,竭其心思,至於三日,便致勞神成疾。當初說他這是精 力不足,某因自去窮格。早夜不得其理,到七日,亦以勞思致疾。 18

Nämlich 1508–1510, vgl. Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 70 ff. Chuánxí lù, 3. Teil, Nr. 319, WYMQ J, S. 120.

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Einleitung

遂相與歎聖賢是做不得的,無他大力量去格物了。及在夷中三年, 頗見得此意思乃知天下之物本無可格者。其格物之功,只在身 心上做,決然以聖人為人人可到,便自有擔當了。」 Offensichtlich ging es dem jungen Wáng Yángmíng bei dieser Beschäftigung mit der Lehre Zhū Xīs über die »Erforschung (der Ordnungsprinzipien) der Dinge« nicht nur um den Erfolg in jenen Staatsprüfungen. Der Kontext dieser Beschäftigung war, wie auch der Hinweis im obigen Zitat auf die eigene Person (shēn 身) und das eigene Herz (auch Geist : xīn 心) zeigt, der zentrale Abschnitt innerhalb des in der Tradition dem Konfuzius-Schüler Zēng Shēn 曾參 (Zēngzǐ 曾子) zugeschriebenen ersten Kapitels des Dàxué, des sogenannten Lernens der Großen 大學20. Dieses Werk hatte Zhū Xī an die erste Stelle der von ihm zusammengestellten, teilweise neu arrangierten und kommentierten »Vier Bücher« gesetzt.21 Diese »Vier Bücher« sollen nach Zhū Xī in einer bestimmten Reihenfolge das konfuzianische Grundstudium der Erwachsenen 22 ausmachen, wobei jener zentrale Abschnitt im Dàxué in prinzipieller Weise den ganzen konfuzianischen Lernprozess skizziert. Wáng Yángmíng hat Zhū Xīs Gewichtung und Ordnung der »Vier Bücher« nie in Frage gestellt, aber er wird durch eine davon ganz verschiedene Interpretation des gé wù innerhalb des Grundkapitels des Dàxué diesem Lernprozess einen ganz anderen Sinn geben. Der zentrale Abschnitt im Grundkapitel des Dáxué, auf den unten in den übersetzten Texten immer wieder Bezug genommen wird, lautet folgendermaßen :

Dàxué, eig. »großes Lernen«. Seit dem Altertum wird das Adjektiv »groß« als Attribut der Lernenden verstanden, eine Auffassung, die auch der erwähnte Zhū Xī teilt. Das »große« Lernen ist somit das Lernen der »Großen« oder »Erwachsenen«. Xiǎoxué, oder »kleines Lernen«, später ein Oberbegriff für die Hilfsdisziplinen der Klassikerexegese, wurde analog im Sinne eines Propädeutikums als Lernen der »Kleinen« verstanden. 21 Zum Dàxué und den »Vier Büchern« s. Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 12–22. 22 Es gab auch einen konfuzianischen Grundtext für die Kinder : das Xiǎoxué (»Lernen der Kleinen«). 20



Zu den Verfassern der Briefe 23

Die Alten, die ihre helle Tugend unter dem [ganzen] Himmel zum Leuchten bringen wollten, regierten zuerst ihr eigenes Land. Wenn sie ihr eigenes Land regieren wollten, ordneten sie zuerst ihre eigene Familie. Wenn sie ihre Familie ordnen wollten, veredelten (»kultivierten«) sie zuerst ihre eigene Person. Wenn sie ihre Person veredeln wollten, machten sie zuerst ihr Herz (ihren Geist) gerade. Wenn sie ihr Herz gerade machen wollten, machten sie zuerst ihren Willen wahrhaftig. Wenn sie ihren Willen wahrhaftig machen wollten, verwirklichten sie zuerst ihr Wissen. Die Verwirklichung des Wissens geschieht im gé wù 格物 (nach Zhū Xīs Interpretation übersetzt :), im Erforschen der Dinge.

古之欲明明德於天下者,先治其國;欲治其國者,先齊其家;欲 齊其家者,先修其身;欲修其身者,先正其心;欲正其心者,先 誠其意;欲誠其意者,先致其知,致知在格物。 Dieser antike Text war ursprünglich für den »heiligen König« gedacht, aber es wurde ihm später eine für alle Menschen gültige Bedeutung zugeschrieben. Man ersieht aus diesem Kontext, dass der Misserfolg bei der »Erforschung der Ordnungsprinzipien der Dinge« im Sinne Zhū Xīs für den jungen Wáng Yángmíng eine ihn niederschlagende Konsequenz haben musste : Er sah sich unfähig, den ersten Schritt auf dem Weg zur »Heiligkeit« zu tun. Erst nachdem er, viele Jahre später (ungefähr 1508), zur Überzeugung gekommen war, dass das gé wù 格物 in diesem Text nicht mit ­etwas außerhalb der eigenen Person (shēn 身) und des eigenen Herzens (xīn 心) zu tun hat, war es für ihn zu einem gangbaren Weg geworden. In der »Lebenschronik« steht unter dem Jahr 1498, also sechs Jahre nach jenem gescheiterten Versuch, das Ordnungsprinzip des Bambus herauszufinden, und nach erneuten Versuchen, unter Anweisung von Zhū Xī den Weg zum »heiligen Menschen« zu gehen : »Zufällig hörte er damals einen Daoisten über das ›Nähren des Lebens‹ (yǎng shēng 養生) sprechen. In der Folge hatte er die Absicht, die Welt der Gesellschaft zu verlassen und sich in die Berge zurückzuziehen.«23 Er zog sich aber nicht sofort »in die 23

偶聞道士談養生,遂有遺世入山之意。WYMQ J, S. 1224.

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Einleitung

Berge« zurück, sondern bestand im Frühjahr 1499 zunächst das höchste Staats­examen und war danach drei Jahre als Beamter in den Gebieten von Běijīng 北京 und Nánjīng tätig. Doch dann (1502) verwirklichte er diesen Rückzug : »Er meldete sich krank, zog nach Yuè 越 [Präfektur Shàoxīng in der Provinz Zhèjiāng] und baute sich im Yángmíng dòng 陽明洞 (»Yángmíng-Höhle«, d. h. »Höhle der Klarheit des Yáng«) eine Hütte.«24 Vom Namen dieser »Höhle«, die keine Höhle im üblichen Sinn war, gab er sich seinen Beinamen Yángmíng. Dort widmete er sich während einiger Monate daoistischen Studien und Praktiken, die ihn aber nicht befriedigten. Darauf zog er sich in die buddhistischen Klöster in der Umgebung von Hángzhōu­ 杭州 zurück, um in buddhistischer Weise den Weg zum »heiligen Menschen« zu versuchen. Aber auch dieser Weg schien ihm nicht gangbar. Im Jahre 1504, also zwei Jahre, nachdem er die Beamtentätigkeit niedergelegt hatte, kehrte er wieder zu dieser Tätigkeit zurück. Wáng Yángmíng blieb ein Suchender, bis er, wie wir oben hörten, ungefähr 1508 im Alter von 36 Jahren in Verbannung und Lebensgefahr in Lóngchǎng 龍場 (»Drachenfeld«) in der chinesischen Randprovinz Guìzhōu 貴州 in einer Art »Erleuchtung« den Ansatz zu seinem Weg zum »heiligen Menschen« fand (Lóngchǎng lag in einem Gebiet, das von Nichtchinesen besiedelt war). Dieser Weg wurde ihm immer deutlicher, bis er um 1520, wiederum in einer lebensgefährlichen Situation, in der er ganz allein und auf sich selbst gestellt zu entscheiden hatte, zu seiner Lehre von der »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« fand. Um diese Lehre zu verstehen, habe ich drei verschiedene Begriffe des »ursprünglichen Wissens« (liáng zhī 良知) und entsprechend auch drei verschiedene Bedeutungen des Ausdrucks zhì 致知, »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens«, unterschieden.25 Diese Unterscheidung fand nach Erscheinen der chinesischen Übersetzung dieses Buches im Jahr 2014 26 bei chinesischen Kennern des Denkens von Wáng Yángmíng allgemeine Anerkennung. Ich fasse sie hier kurz zu 遂告病歸越,築室陽明洞中。»Niánpǔ I«, 15. Jahr der hóngzhì-Ära (1502), WYMQ J, S. 1225. 25 Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 122–249. 26 Gěng Níng 耿寧 [Iso Kern], Rénshēng dì-yī-děng shì – Wáng Yángmíng jíqí hòuxué lùn ›zhì liáng zhī‹ 人生第一等事——王陽明及其後學論“至良知” (Běijīng : Shāngwù yìnshūguǎn 商務印書館, 2014). 24



Zu den Verfassern der Briefe 25

sammen : Wenn das »ursprüngliche Wissen« im Anschluss an Mèngzǐ 孟子 (4./3. Jh. v. Chr.) von Wáng Yángmíng als gute emotionale Dispositionen und Regungen des menschlichen Herzens gedacht wird, vor allem als Mitgefühl mit anderen lebenden Wesen, aber auch als Sinn für Gerechtigkeit, für harmonischen Umgang mit den Mitmenschen und für den Unterschied von Richtig und Falsch, dann besteht seine »Verwirklichung« in der Ausführung dieser Tendenzen im Handeln und in ihrer Durchsetzung gegen ihnen zuwiderlaufende »egoistische Begierden«. Wenn das »ursprüngliche Wissen« als kritisch zwischen den eigenen Intentionen unterscheidendes »Gewissen« gedacht wird (zweite Bedeutung, von Wáng Yángmíng auch als »allein wissen«, dú zhī 獨知, bezeichnet), dann besteht seine »Verwirklichung« in der Ausführung der als gut bewussten Intentionen und der Abweisung der als schlecht bewussten. Wenn das »ursprüngliche Wissen« als immer vollkommenes »eigentliches Wesen« gedacht wird (dritte Bedeutung), dann besteht seine »Verwirklichung« im Innewerden und im vertrauenden Wirkenlassen dieses vollkommenen »Wesens« im eigenen Leben und Handeln. All diese Formen haben die ethische Integrität der eigenen Person zum Ziel, aber beinhalten notwendig auch den Dienst an den Mitmenschen und die Förderung des gesellschaftlichen Wohls. Umgekehrt ist in ihnen auch der Gedanke enthalten, dass dieses allgemeine Wohl letztlich nur durch die »Verwirklichung« des im Herzen der einzelnen Menschen angelegten Guten erreicht werden kann. Das »eigentliche Wesen des ursprünglichen Wis­sens« drückt aus, was ein »heiliger Mensch« ist : Seine wesentlichen Charaktere sind ein Handeln, das erstens durch wahres Mitgefühl mit anderen Wesen, d. h. durch »Menschlichkeit« (rén 仁), geleitet wird und das zweitens aus innerer »Ruhe« ( jìng 靜) heraus und in innerer »Festigung« (dìng 定) geschieht. Durch diese zwei Charakterzüge gewinnt der Mensch Übereinstimmung mit seinem wahren Selbst und wird somit mit »Freude« (lè 樂) erfüllt. Wáng Yángmíng starb am 9. Januar 1529 auf der Heimreise von einer von ihm in außerordentlich humaner Weise hauptsächlich durch Verhandlungen durchgeführten Befriedung eines Aufstandes des nicht-chinesischen Volkes der Yáo 瑶 in der chinesischen Provinz Guǎngxī 廣西 ganz im Südwesten Chinas. In der »Lebenschronik« steht über seinen Tod :

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Einleitung

Als er [von der Provinz Guǎngdōng 廣東] über das Méilíng-Gebirge kommend in Nán’ān [ganz im Süden der Provinz Jiāngxī] das Schiff bestiegen hatte, besuchte ihn sein Schüler, Untersuchungsrichter Zhōu Jī 27. Der Lehrer [Wáng Yángmíng] richtete sich sitzend auf und hustete unaufhörlich. Langsam sprach er : ›Wie waren in letzter Zeit Ihre Fortschritte im Lernen ?‹ [Zhōu Jī] wies auf seine Regierungsgeschäfte und fragte darauf nach der unzerstörbaren Grundwirklichkeit des Dao. Der Lehrer antwortete : »Ich bin sterbenskrank ; doch was nicht stirbt, ist die ursprüngliche Kraft des Lebens«.28

逾梅嶺至南安。登舟時,南安推官門人周積來見。先生起坐,咳 喘不已。徐言曰: 「近來進學如何?」積以政對。遂問道體無恙。 先生曰: 「病勢危亟,所未死者,元氣耳。」 Noch bevor er Gànzhōu 赣州 erreichte, starb er am 9. Januar 1529. Im ­»Lebenslauf« (xíngzhuàng 行狀) seines Freundes Huáng Wǎn 黃綰 (1480– 1554) steht über seinen Tod folgendes : Am 29. Tag [des elften Mondmonats, = 9. Januar 1529] erreichte er den Kreis Nánkāng [zwischen Nán’ān 南安 und Gànzhōu]. Er lag im Sterben. Der Hausdiener fragte ihn, ob er noch einen Auftrag habe. Er antwortete : »Ich denke an nichts anderes als daran, dass ich im Lernen meines Lebens eben erst einiges eingesehen habe und es nun nicht zusammen mit den Leuten unserer Gemeinschaft vollenden kann. Das ist traurig !« Darauf verschied er.29, 30

廿九日至南康縣,將屬纊,家童問何所囑。公曰: 「他無所念, 平生學問方才見得數分,未能與吾黨共成之,為可恨耳!」遂逝。

29 30 27

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Zhōu Jī ist mir sonst nicht bekannt. »Niánpǔ III«, WYMQ J, S. 1284 ff. WYMQ J, S. 1428. Eine ausführlichere Biographie über Wáng Yángmíng findet sich in Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 49–108.



Zu den Verfassern der Briefe 27

b)  Luó Qīnshùn (1465–1547)

Luó Qīnshùn 羅欽順 (Beiname : Zhěng’ān 整庵) war zu seiner Zeit der wohl prominenteste Vertreter des Konfuzianismus Zhū Xīs, äußerte allerdings auch Vorbehalte gegenüber dessen Lehre über das Verhältnis zwischen »Ordnungsprinzip« (lǐ 理) und »Lebensenergie« (qì 氣). Er hatte den konfuzianischen Kanon und die Konfuzianer der Sòng-Zeit, vor allem die beiden Chéng-Brüder, Zhāng Zài 張載 (1020–1077) und Zhū Xī (1130–1200), aber auch buddhistische Texte studiert. Er setzte sich mit Wáng Yángmíngs Lehre vom »ursprünglichen Wissen« auseinander und kritisierte diese Lehre aufgrund von Zhū Xīs Unterscheidung zwischen menschlicher Natur (xìng 性) und menschlichem Herz (Geist, Bewusstsein : xīn 心). 1528 veröffentlichte er die ersten beiden, 1533 die nachfolgenden beiden »Bände« ( juàn 卷) seines philosophischen Hauptwerks, der Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not (Kùnzhī jì 困知記).31 1493 hatte Luó Qīnshùn in Peking die höchsten Staatsprüfungen bestanden. Von 1493 bis 1502 war er dort Mitglied der Hànlín-Akademie und danach, 1502–1504, Lehrer an der Kaiserlichen Hochschule (Guózǐ jiàn 國子監) in Nanking. Als der Eunuche Liú Jǐn 劉瑾 und seine Komplizen an der Macht waren, wurde er 1508 (als Wáng Yángmíng sich im Exil in Lóngchǎng befand) von der Beamtenliste gestrichen und zum gemeinen Mann degradiert. Nach der Hinrichtung von Liú Jǐn am 27. September 1510 erfolgte 1511 seine Rehabilitierung, und er stieg danach auf verschiedenen Stufen vom zweiten und ersten Vize­ minister in Nanking und Peking bis zum Minister des Beamtenministeriums in Nanking auf. Aber noch im selben Jahr (im ersten Jahr des Jiājìng 嘉靖-Kaisers : 1522, in dem sich auch Wáng Yángmíng für sechs Jahre ins Privatleben zurückzog) bat er um Entlassung, mit der Begründung, für seinen alten Vater sorgen zu müssen. Danach kehrte er trotz mehreren Berufungen nie mehr in ein Amt zurück. Er lebte vom Jahr 1523, als er achtundfünfzig Jahre alt wurde, bis zu seinem Tod 1547 zurückgezogen als Gelehrter 31

Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, hg. Yán Tāo 閻韜 (Běijīng : Zhōnghuá shūjú 中華書局, 1990), 2. Buch, Kap. 54, S. 40 f., 2. Auflage (Běijīng : Zhōnghuá shūjú, 2013), S. 52 f. Die ersten beiden Bände dieses Werks hat Irene Bloom ins Englische übersetzt : Irene Bloom, übers. Knowledge Painfully Acquired (New York : Columbia University Press, 1987).

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Einleitung

zu Hause im Kreis Tàihé 泰和. Luó Qīnshùn galt als ein außerordentlich integrer, unbestechlicher Beamter und wollte sich wohl mit seinem Rückzug von 1522 aus den Parteikämpfen unter dem Jiājìng-Kaiser heraushalten.32 Luó Qīnshùn gehörte zur Generation von Wáng Yángmíng und war 31 Jahre älter als sein Bekannter, der Wáng-Yángmíng-Schüler Ōuyáng Dé 歐陽德33 . Als im Sommer 1520 Wáng Yángmíng auf der Fahrt nach Gànzhōu in Tàihé vorbeikam, überreichte Luó ihm einen großen Brief, in dem er Wángs Auffassung des gé wù 格物 als »Berichtigung der Handlungen« kritisierte34 . Wáng Yángmíng antwortete wenige Wochen später mit einem Antwortbrief. Diesen Briefwechsel lege ich im Teil I in einer deutschen Übersetzung vor. 1528 veröffentlichte Luó Qīnshùn die ersten beiden Bände seiner Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not. Darin nimmt er in einer sehr vagen und allgemeinen Form kritisch Bezug auf die 1518 veröffentlichte früheste Fassung von Wáng Yángmíngs Chuánxí lù (den heutigen ersten Teil dieses Werkes). 35 In den 1533 herausgegebenen beiden Fortsetzungsbänden wird seine Kritik genauer. Er zitiert verschiedene Aussagen aus dem um 1526 erschienen zweiten Teil von Wáng Yángmíngs Chuánxí lù über das Zu Luó Qīnshùns Biographie s. die Einleitung zu seinem Kapitel im Míngrú xué’àn, juàn 47 (Huáng Zōngxī 黃宗羲, Míngrú xué’àn 明儒學案, fortan : MRXA (Huáng Zōngxī quánjí 黃宗羲全集 [Hángzhōu : Zhèjiāng gǔjí chūbǎnshè 浙江古籍出版 社, 2002], Bd. 8, S. 407–410], sowie den Beitrag von Tu Ching-i (Tú Jīngyí 涂經詒) im Dictionary of Ming Biography (Luther Carrington Goodrich, hg., Dictionary of Ming Biography [New York : Columbia University Press, 1976]), fortan DMB, S. 972– 974. Die biographische Einleitung zum Eintrag über Luó Qīnshùn liegt in Julia Ching und Chaoying Fangs Teilübersetzung von Huáng Zōngxīs Werk in englischer Übersetzung vor. Siehe Huang Tsung-hsi, The Records of Ming Scholars (Honolulu : University of Hawai’i Press, 1987), S. 213–217. 33 Zu Ōuyáng Dé siehe unten S. 18 ff. 34 Ein Teil dieses Briefes und Wáng Yángmíngs Antwort darauf wurde um 1526 in den Teil II von Wáng Yángmíngs Chuánxí lù aufgenommen. Dass Luó Qīnshùn diesen Brief Wáng Yángmíng persönlich in Tàihé überreichte, entnehme Yán Tāos Ausgabe (Wáng Yángmíng, Chuánxí lù, Yán Tāo 閻韜, komm. und übers., (Nánjīng : Jiāngsū gǔjí chūbǎnshè 江蘇古籍出版社, 2001), S. 197. 35 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, 2. Buch, 54. Kap., S. 40 f., (2. Auflage 2013, S. 52 f.). 32



Zu den Verfassern der Briefe 29

»ursprüngliche Wissen« und bemerkt kritisch, dass solche Aussagen dem Buddhismus folgen und unser »wahrnehmendes Wissen« (das wahrnehmende Bewusstsein : zhī jué 知覺) für eine »klare Bezeugung der menschlichen Natur« (xìng zhī míng yàn 性之明驗) halten. 1534 schickte er dieses Werk an Ōuyáng Dé, woraus sich der Briefwechsel ergab, den ich unten im Teil III in deutscher Übersetzung vorlege. Wie Zhū Xī wollte Luó Qīnshùn das »Ordnungsprinzip des Himmels« nicht im »Herz« im Sinne des menschlichen Bewusstseins aufgehen lassen und hob den Unterschied zwischen der »menschlichen Natur«, als dem vom »Himmel« stammenden »Ordnungsprinzip« im Menschen, und dem menschlichen »Herzen« hervor. Von diesem Standpunkt kritisierte er eine Reihe von buddhistischen Auffassungen. Gleichzeitig wandte er sich aber auch gegen jene Konfuzianer, die das Herz (Geist, xīn 心) zur Grundlage ihrer Ethik machten, allen voran Lù Jiǔyuān 陸九淵 (Beiname : Xiàngshān 象山, 1139–1193) aus der Sòng-Zeit, aber auch seinen eigenen Zeitgenossen Wáng Yángmíng.

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Einleitung

c)  Ōuyáng Dé (1496–1554)

Ōuyáng Dé 歐陽德 (Erwachsenenname : Chóngyī 崇一, Rufname : Nányě 南野) wurde im 9. Jahr der hóngzhì-Ära am 2. Tag des fünften Mondmonats (13. Juni 1496) geboren 36 . Er stammte aus dem Süden des Kreises Tàihé in der Präfektur Jí’ān 吉安 der Provinz Jiāngxī, aus derselben Präfektur, in der auch noch weitere der prominentesten Schüler Wáng Yángmíngs zu Hause waren (nämlich Niè Bào 聶豹 [1487–1563], Zōu Shǒuyì 鄒守益 [1491–1562], Liú Bāngcǎi 劉邦采 [1490–1578] und Luó Hóngxiān 羅洪先 [1504–1564]). Sein Vater und seine anderen direkten Vorfahren waren keine bekannten Leute.37 Doch hatte seine Sippe der Ōuyáng seit der yǒnglè 永樂Ära der Míng-Dynastie (1403–1424) bis zu Ōuyáng Dé dreizehn Gelehrte hervorgebracht, welche die höchsten Staatsexamina ( jìnshì) bestanden hatten, was eine außerordentlich hohe Anzahl ist. Im Herbst 1516 bestand Ōuyáng Dé mit zwanzig Jahren die Staatsprüfungen auf Provinz-Ebene und lernte dann von 1517 bis 1520 bei Wáng Yángmíng, als dieser in der Präfektur Gànzhōu, der südlichen Nachbarpräfektur von Jí’ān, tätig war. Er ließ sowohl die höchsten Staatsprüfungen vom Frühling 1517 als auch diejenigen vom Frühling 1520 aus, um sich ganz dem Lernen bei Wáng Yángmíng widmen zu können.38 Er gehörte daher zu seinen vertrautesten Schülern. Wáng Yángmíng schrieb 1522 in Shàoxīng, dass er in Jiāngxī ausführlich mit Chén Jiǔchuān 陳九川 und Ōuyáng Dé über die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« gesprochen habe. Diese Gespräche waren wahrscheinlich für die Konzeption seines neuen Begriffs des »ursprünglichen Wissens« als »Gewissen« anregend.39 Nach dem Bestehen der höchsten Staatsprüfungen im Frühjahr 1523 war Ōuyáng Dé zuerst während drei Jahren Vorsteher der Unterpräfektur Liù’ān 六安 im direkten Verwaltungsge Nach Xú Jiēs 徐階 (1503–1583) Steleninschrift am Anfang des »Geisterweges« (shéndào 神道) zu Ōuyáng Dés Grab und Niè Bàos »Grabinschrift« (mùzhìmíng 墓誌銘) : Chén Yǒnggé 陳永革, hg., Ōuyáng Dé jí 歐陽德集 (Nánjīng : Fènghuáng chūbǎnshè, 2007) fortan OYDJ, S. 844 ; 850. 37 Siehe die von Niè Bào verfasste »Grabinschrift« : »Urgroßvater …, Großvater und Vater hatten in der Welt geringen Erfolg (shì yǒu yǐn dé 世有隱德).« OYDJ, S. 848. 38 Siehe die von Niè Bào verfasste »Grabinschrift«, OYDJ, S. 848. 39 Siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 119 f.

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Zu den Verfassern der Briefe 31

biet von Nánjīng (heute in der Provinz Ānhuī 安徽, ca. 80 km westlich der Provinzhauptstadt Héféi 合肥). Danach war er meistens als hoher Beamter auf verschiedenen Posten in Běijīng und Nánjīng tätig. Doch nach dem Tod seines Vaters im Jahre 1539 verbrachte er die »dreijährige« Trauerzeit (traditionell waren 27 Monate vorgeschrieben) zu Hause in seinem Heimatdorf Shǔjiāngcūn 屬江村 und unterrichte dort auch zahlreiche Schüler40. 1542 wurde Ōuyáng Dé Minister für Staatszeremonien in Nanking (»Minister des Hónglú-Hofes von Nanking« : 南鴻臚卿 Nán hónglú qīng), konnte aber dieses Amt wegen der widrigen politischen Umstände, denen in diesem Jahr ein großer Teil der Mitglieder der Schule Wáng Yángmíngs zum Opfer fiel, nicht lange ausüben, sondern kehrte nach Hause zurück. Da seine Mutter damals über 80 Jahre alt war, wünschte er, sie bis zu ihrem Tod zu pflegen. Als er 1546 auf Empfehlung wieder auf seinen früheren Posten nach Nánjīng berufen wurde, wollte er zunächst um Verlängerung seines Urlaubes bitten, doch seine Mutter gestattete es ihm nicht.41 Noch bevor er Nánjīng erreichte, wurde er 1547 zum Leiter des dortigen Opferamtes ernannt. Darauf wurde er in Peking Leiter ( jì jiǔ 祭酒) der kaiserlichen Hochschule, dann Vizeminister im dortigen Ritenministerium, 1549 wurde er Vizeminister im einflussreichen Beamtenministerium und gleichzeitig Kanzler der Hànlín-Akademie (Hànlínyuàn xuéshì 翰林院學士). Im Frühling 1550 leitete er die höchsten Staatsprüfungen in Peking. Nach dem Tod seiner Mutter im Sommer 155042 kehrte er in seine Heimat zurück. Nach dem Ende der rituellen Trauerzeit von drei Jahren folgte er im Oktober 1552 seiner Ernennung zum Minister des Ritenministeriums in Peking und zum Kanzler der Hànlín-Akademie.43 Als Riten-Minister versuchte er Siehe Wú Zhèn 吳震, Míngdài zhīshijiè jiǎngxué huódòng xìnián 1522–1602 明代知 識界講學活動系年1522–1602 (Shànghǎi : Xuélín chūbǎnshè 學林出版社, 2003), S. 104 f. ; 106. 41 Siehe Niè Bàos »Grabinschrift« (OYDJ, S. 849) sowie Xú Jiēs »Steleninschrift« (ebd., S. 844). 42 Nach Niè Bàos »Grabinschrift«, OYDJ, S. 849. 43 Zu Ōuyáng Dés Biographie s. Niè Bàos »Grabinschrift«, OYDJ, S. 848 ff., den Eintrag aus der Hand Du Weimings in DMB, S. 1102 f., sowie die Einleitung zum Kapitel über ihn im MRXA, juàn 17, Bd. 7, S. 411–414. Für eine englische Übersetzung siehe Julia Ching, hg. und übers., Fang Chaoying, The Records of Ming Scholars by Huang Tsung-hsi, S. 121–126. 40

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Einleitung

den Jiājìng-Kaiser unter Berufung auf die vom Gründer der Míng-Dynastie festgelegten Riten mehrmals zur Regelung der Thronnachfolge zur Bezeichnung seines Nachfolgers zu bewegen. Der Kaiser schätzte den ältesten seiner damals noch lebenden Söhne, Zhū Zàihòu 朱載垕 (1537–1572), und besonders dessen Mutter, die Konkubine Kāng 康, nicht, sondern zog eine andere Konkubine, die Mutter seines nächsten, nur etwas mehr als einen Monat jüngeren Sohnes, vor. Er behandelte beide Söhne und ihre Mütter nach Riten, die sie auf dieselbe Stufe stellten, und ließ so die Thronnachfolge in der Schwebe. Dadurch wurde seinem älteren Sohn die ihm als Thronnachfolger zustehende Ausbildung und Funktion innerhalb des Hofes vorenthalten.44 Ōuyáng Dés wiederholte Eingaben an den Thron erregten den Zorn des Kaisers und blieben alle unbeantwortet. Sein Vorgehen war außerordentlich mutig, denn als 1560 ein anderer Beamter dasselbe Gesuch an den Kaiser stellte, wurde er sofort hingerichtet.45 Am 21. Tag des dritten Mondes des Jahres jiǎ yín (22. April 1554) erkrankte Ōuyáng Dé und zwei Tage später (24. April 1554) starb er in Peking auf diesem hohen Posten, noch nicht achtundfünfzig Jahre alt. Sein Leichnam wurde in seine 2000 Kilometer entfernte Heimat gebracht und mehr als zwei Jahre später (4. Juni 1556) im Hóngyá-Gebirge 宏厓山 oberhalb von Shíwǔdū 十五都 im südlich seines Heimatkreises Tàihé gelegenen Kreis Wàn’ān 萬安 in der Präfektur Jí’ān beerdigt. Keiner der prominenten Schüler Wáng Yángmíngs war so viel im Staatsdienst tätig gewesen wie Ōuyáng Dé. Die Gründe dafür waren wohl vielfältig ; einer davon war sicher Ōuyáng Dés Überzeugung, dass die Aufgaben und Mühsale des Staatsdienstes ein besonders geeignetes Übungsfeld für die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« sind. Er schrieb um 1535 in einem Brief an Hú Yǎngzhāi 胡仰齋 : Ihr soeben empfangenes Schreiben ist wahrhaftig voller Freude, und so weiß ich, dass das reale Lernen der »Verwirklichung des Wissens durch das Berichtigen der Handlungen« im Getriebe des Staatsdienstes etwas ganz anderes ist als das bloße Nachdenken [über das »ur Siehe die Einleitung zum Abschnitt über Ōuyáng Dé in MRXA, S. 411 f. Siehe Julia Ching, übers., The Records of Mings Scholars, S. 122 f. 45 Siehe den Artikel über Chu Tsai-hou in DMB, S. 365b. 44



Zu den Verfassern der Briefe 33

sprüngliche Wissen«] im Inneren und das bloße darüber Sprechen. Ihr Schreiben erquickt mich. Demgegenüber sprechen die Gleichgesinnten bloß über das »ursprüngliche Wissen« und vernachlässigen dabei die Gesinnung seiner »Verwirklichung«. Ich befürchte, dass man auch das »ursprüngliche Wissen« nicht erkennen kann, wenn man nur darüber nachdenkt und darüber spricht und seine Energie nicht in der Realität anwendet.

來教真切痛快, 乃知於吏事倥偬之中, 而能實用其力, 此格物 致知之實學, 語臆想談說者, 迥不侔矣。慰羨所諭。比來同志但 講良知, 而遺卻致的意思. 是蓋臆想談說, 而未嘗實用其力者。 正恐良知亦未能知得耳。46 Ōuyáng Dé war sich aber auch der Gefahren bewusst, die das Positionsstreben und Karrieredenken in der Beamtenschaft für das ethische Lernen darstellen. Im dritten Teil des Chuánxí lù findet sich ein kurzes Gespräch zwischen Wáng Yángmíng und seinen Schülern, unter anderen auch Ōuyáng Dé, vermutlich aus der Zeit um 1524, das dies illustriert : Der Lehrer [Wáng Yángmíng] sagte seufzend : »Die Leute in der Welt, die sich auf das [ethische] Lernen verstehen, haben nur diese Gebrechen, die sie nicht zu überwinden vermögen, und daher sind sie nicht gut darin, sich mit anderen Menschen gleichzustellen«. Chóngyī [=  Ōuyáng Dé] sagte : »Diese Gebrechen bestehen nur im Streben nach hoher Stellung und in der Unfähigkeit, sich selbst zu vergessen.«

先生嘆曰: 「世間知學的人,只有這些病痛打不破,就不是善與 人同。」崇一曰: 「這病痛只是個好高不能忘己爾。」47

OYDJ, S. 28. Chuánxí lù III, Nr. 303 ; WYMQ J, S. 114.

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Einleitung

Ōuyáng Dé war verheiratet und hatte zwei Söhne und eine Tochter. Er muss eine sehr friedfertige und gerechte sowie außerordentlich mutige und tatkräftige Persönlichkeit, aber auch auch ein ausgezeichneter Lehrer gewesen sein. Wáng Jī 王畿 (1498–1583), einer der prominentesten Schüler Wáng Yángmíngs, sagte 1565 von ihm zu einem von dessen Schülern : Nur der ältere Bruder Nányě [Ōuyáng Dé] besaß das Niveau der Fähigkeiten und des Wagemutes des verstorbenen Lehrers [Wáng Yángmíng].

先師生平才力氣魂, 惟南野兄得其涯涘 […]。48 Ich habe unten im Teil II den Antwortbrief übersetzt, den Wáng Yángmíng wohl 1526 an ihn schrieb. Yángmíng geht in diesem Brief in genauer Weise auf die phänomenologische Psychologie des »ursprünglichen Wissens« und seiner »Verwirklichung« ein. Dies hat seinen Grund in den Fragen, die Ōuyáng Dé ihm in einem heute nicht erhaltenen Brief gestellt hatte. Wie schon die Gespräche mit ihm um das Jahr 1520 Wáng Yángmíngs Konzeption seines neuen Begriffs des »ursprünglichen Wissens« förderten, so verlangten auch Ōuyáng Dés spätere briefliche Fragen von seinem Lehrer mehr Klarheit. Denn diese Fragen waren nicht allgemein theoretischer Art, sondern sie stellten sich Ōuyáng Dé in seiner eigenen ethischen Praxis ganz unmittelbar, es waren ganz konkrete Erkundigungen nach dem genuinen »Erlernen des [eigentlichen] Herzens« (xīn xué 心學). In der ersten Frage stellte er das Problem des Verhältnisses zwischen »ursprünglichem Wissen« und empirisch-informativem Erkennen ; in der zweiten dasjenige der Unterscheidung zwischen einem Denken und Überlegen in egoistischem Interesse und dem Denken und Überlegen als Funktion des »ursprünglichen Wissens« ; in der dritten das Problem der geistigen Erschöpfung in der gesellschaftlichen Tätigkeit und der ethisch geistigen Erholung, in der vierten dasjenige des Unterschiedes zwischen einem misstrauenden Berechnen der künftigen Reaktionen der andern 48

Aussage gegenüber Lǐ Suì 李遂 (1504–1566) in der Versammlung in Liúdū 留都 (Nanking) (1565). Wáng Jī, Wáng Lóngxī quán jí 王龍溪全集 (Táiběi : Huáwén shūjú 華文書局, 1970), S. 305.



Zu den Verfassern der Briefe 35

auf das eigene Verhalten zum einen und der Hellsichtigkeit des »ursprüng­ lichen Wissens« zum anderen. Nach der 27-monatigen Trauerzeit der Wáng Yángmíng-Schüler um ihren am 9. Januar 1529 verstorbenen Lehrer49 war Ōuyáng Dé, als er zwischen 1532 und 1535 in Nanking Studienleiter an der dortigen Kaiserlichen Hochschule war, die führende Persönlichkeit bei der Wiederbelebung der Schule Wáng Yángmíngs. In dieser Zeit setzte er sich auch in seinem berühmt gewordenen Briefwechsel mit Luó Qīnshùn über Wáng Yángmíngs Lehre vom »ursprünglichen Wissen« auseinander. Ōuyáng Dé schrieb den ersten dieser Briefe am 25. Juli 1534 und Luó Qīnshùn antwortete mit dem letzten (dem vierten) nach dem 14. März 1535. Luó Qīnshùn lebte damals von allen Ämtern zurückgezogen zu Hause im fast 1000 km von Nanking entfernten Kreis Tàihé in der Provinz Jiāngxī, aus dem auch Ōuyáng Dé stammte. Die beiden kannten sich und standen sich nahe. In seiner Verteidigung von Wáng Yángmíngs Lehre des »ursprünglichen Wissens« gegenüber Luó Qīnshùns Kritik wurde Ōuyáng Dé zu einer besonders klaren Formulierung dieser Lehre gezwungen. Besonders wichtig ist sein zweiter Brief an Luó Qīnshùn vom 4. Dezember 1534, in dem er das Verhältnis zwischen »ursprünglichem Wissen« (liáng zhī 良知) und »wahrnehmendem Wissen« (zhī jué 知覺)50, d. h. Wissen aufgrund von »Lernen und Überlegen«, zu klären versucht. Diesen Briefwechsel habe ich unten im Teil III übersetzt.

Damals war die Trauerzeit um den Lehrer gleich lang wie diejenige um Vater oder Mutter. 50 Es ist außerordentlich schwierig, für zhī jué 知覺 eine Übersetzung zu finden, die in unserem Kontext überall passend ist. Für Luó Qīnshùn bezeichnet der Ausdruck allgemein ein wahrnehmendes Bewusstsein. Für Ōuyáng Dé bezeichnet er das durch Lernen, Erfahren, Überlegen »von außen« erworbene Wissen oder Bewusstsein im Gegensatz zur »Ursprünglichkeit« des »ursprünglichen Wissens«. Ein ­a nderer Ausdruck, den er gleichbedeutend benutzt, ist zhī shí 知識 : »Wissen des [lernenden] Erkennens«.

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Einleitung

2. Kurze Zusammenfassung der praktischen (ethischen) Philosophie von Zhū Xī (1130–1200)

Zhū Xī lehrte ein universales Ordnungsprinzip, das er tiān lǐ 天理 (Ordnung des Himmels), dào 道 (ursprüngliche Bedeutung : Weg) oder tài jí 太極 nennt (Weltachse ; ursprüngliche Bedeutung : oberster Firstbalken eines Hauses). Dieses oberste Ordnungsprinzip ist, wie die oberste Idee (Überidee) des Einen oder Guten bei Platon, an sich eines, aber in den mannigfaltigen Dingen des Universums verschieden ausgeprägt, so dass sich das eine Ordnungsprinzip zu vielen Ordnungsprinzipien vervielfältigt und jedes Ding sein Ordnungsprinzip (lǐ) besitzt. Er definiert ein solches »Ordnungsprinzip« als »Ursache, warum etwas so ist, wie es ist« (suǒ yǐ rán zhī gù 所以當然之故)51, und als »Norm, wie etwas sein soll« (suǒ dāng rán zhī zé 所當然之則)52. Es ist also zugleich ein Sein und ein Sollen (eine normative Regel). Ein Wesen, z. B. ein Mensch, ein Tier oder eine Pflanze, entspricht nicht immer vollständig seinem Ordnungsprinzip. Denn ein solches Wesen besteht auch aus Lebensenergien, aus qì 氣 (ursprüngliche Bedeutung : Atem, Luft). Diese Energien entstehen und vergehen kontinuierlich ; sie sind das Prinzip der Veränderung. Während die »Ordnungsprinzipien« selbst Einheit sind, nämlich die normative Gesamtordnung der Welt bilden, sind die »Lebensenergien« an sich Vielheit. Sie sind als solche inhärent dual und bestehen aus den Gegenpolen Yin (yīn 陰, das Dunkle) und Yang (yáng 陽, das Helle). Diese Zwei generieren aus sich in einem zyklischen Prozess die fünf dynamischen Elemente (Grundkräfte) : Wasser, Holz, Feuer, Erde und Metall. Die »Energien« sind in den Dingen mehr oder weniger »klar« oder »trübe«, so dass die Ordnungsprinzipien sich in ihnen nur mehr oder weniger deutlich »manifestieren«, mehr oder weniger vollständig auszudrücken vermögen. Sie entsprechen nicht der modernen Idee physikalischer Naturgesetze, von denen es prinzipiell keine Abweichungen gibt. Die »Ordnung des Himmels«, sofern sie sich im Menschen als sein spezifisches Ordnungsprinzip ausprägt, ist die »vom Himmel bestimmte Zhū Xī, Zhūzǐ yǔlèi 朱子語類, hg. Lí Jìngdé 黎靖德, punktiert und annotiert Wáng Xīngxián 王星賢 (Běijīng : Zhōnghuá shūjú, 1994) fortan : ZZYL, S. 552 ; 553. 52 ZZYL, S. 383. 51



Kurze Zusammenfassung der praktischen Philosophie von Zhū Xī

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Natur des Menschen« (tiān mìng zhī xìng 天命之性). Wird diese »Natur« zusammen mit den »Energien« und deren greifbaren stofflichen Verfestigungen (zhì 質) betrachtet, die diese Natur in sich aufgenommen haben, spricht Zhū Xī von der »physischen Natur« des Menschen (wörtlich : »Natur der Energien und der Stoffe« : qì zhì zhī xìng 氣質之性). Die Regungen oder Gefühle des menschlichen Herzens sind keine reinen Äußerungen der vom »Himmel bestimmten Natur«, sondern Phänomene der »physischen Natur«, da in ihnen auch die Faktoren des »physischen Werdens« wirksam sind, die mehr oder weniger trüben qì. Nur in den Gefühlen des »heiligen Menschen«, allen voran Konfuzius, dessen Energien ganz »klar«, sozusagen völlig transparent sind, kommt die »vom Himmel bestimmte Natur« zur vollen Erscheinung und reinen Auswirkung. Das kosmische Ordnungsprinzip hat bei Zhū Xī eine enge Beziehung zu den konfuzianischen Tugenden, besonders zur Menschlichkeit oder Güte (ren 仁). Diese ist die erste Tugend und birgt die anderen keimhaft in sich. Das kosmische Ordnungsprinzip ist letztlich mit diesen Tugenden identisch. Zhū Xī sieht wie seine Vorgänger, die Brüder Chéng (Chéng Hào und Chéng Yí, 11. Jahrhundert), die Tugend der Menschlichkeit oder Güte als schöpferische Lebendigkeit und Feinfühligkeit im Gegensatz zum Starren, Toten, Unempfindlichen. Wer gegenüber dem Schicksal anderer Menschen unempfindlich ist, wen dieses kalt lässt, dem ist die Menschlichkeit verschüttet. »Unerschöpfliche schöpferische Lebendigkeit« (shēng shēng bù yǐ 生生不已) ist auch die Grundlage des kosmischen Ordnungsprinzips. Da das universale kosmische Ordnungsprinzip, die »Ordnung des Himmels«, oberstes ethisches Gesetz ist, bildet die Erkenntnis dieses umfassenden Prinzips eine Voraussetzung echten ethischen Lebens. Dieses eine Ordnungsprinzip, das sich in den verschiedenen Dingen und Geschehnissen als deren Ordnungsprinzipien verkörpert, kann nicht losgelöst von diesen, sondern nur in diesen erkannt werden. Die Ordnungsprinzipien an sich selbst sind »oberhalb der Formen« (xíng ér shàng 形而上), in die Sprache der europäischen Philosophie übersetzt : sie sind metaphysisch. Fassbar sind sie aber in dem, »was unterhalb der Formen« ist (xíng ér xià 形而下), d. h. in den konkreten physischen Dingen. Jede Sache und jedes Ding haben ein eigenes Ordnungsprinzip. Die Sachen und Dinge sind wahrnehmbar (kě jiàn 可見), aber ihre Ordnungsprinzipien sind schwie-

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Einleitung

rig zu erkennen (nán zhī 難知). Wie der jüngere der beiden Chéng-Brüder, Chéng Yí, ist Zhū Xī der Meinung, »dass auch jedes Gras und jeder Baum sein Ordnungsprinzip (lǐ 理) hat, das erforscht werden muss«. 53 Allerdings soll man nicht weitschweifig beliebige Ordnungsprinzipien zu erforschen trachten, sondern sich mit dem befassen, was einen selbst betrifft : Wenn man nur weitschweifend die Ordnungsprinzipien aller Wesen der Welt ausforscht und sich nicht mit dem befasst, was einen selbst betrifft, dann ist es so, wie es in den Nachgelassenen Schriften [der beiden Chéng-Brüder] heißt : »Man reitet davon und hat keine Rückkehr.«54

若只泛窮天下萬物之理,不務切己,即是遺書所謂「遊騎無所 歸」矣。 In meiner einleitenden biographischen Skizze des Lebens Wáng Yángmíngs habe ich einen Text zitiert, in dem er erzählt, wie er in jungen Jahren mit seinem Freund Qián darüber diskutierte, dass man, um aus sich einen Heiligen und Weisen zu machen, die Dinge unter dem Himmel erforschen (gé wú 格物) müsse und wie man dazu die nötige große Energie erlangen könne. Aus diesem Grund habe er auf den Bambus vor dem Gebäude gewiesen und ihn veranlasst, ein solches Erforschen zu versuchen. Qián versuchte Tag und Nacht, das Ordnungsprinzip im Bambus auszuforschen. Er dachte mit größter Anstrengung nach, bis er am dritten Tag aus geistiger Erschöpfung erkrankte. Wáng meint zuerst, dass bloß die Energie seines Freundes nicht dafür ausreichte und machte sich selbst an ein gründliches Erforschen. Aber auch er fand das Ordnungsprinzip nicht. Am siebenten Tag schließlich wurde er aus Überanstrengung des Denkens krank. Am Ende seufzten die beiden Freunde erschöpft : »Wir können aus uns nicht Heilige und Weise machen, denn wir verfügen nicht über jene große Kraft, die nötig ist, um die Dinge zu erforschen.«55 Die beiden Freunde haben das 一草一木亦皆有理, 不可不察。ZZYL, S. 400 ; 406. ZZYL, S. 400. 55 Siehe oben, S. 21. 53

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Kurze Zusammenfassung der praktischen Philosophie von Zhū Xī

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Ordnungsprinzip des Bambus zu finden versucht, der gerade zufällig vor dem Gebäude stand, wo sie sich befanden, und haben sich nicht an Zhū Xīs Forderung gehalten, sich mit dem zu »befassen, was einen selbst betrifft«. Doch selbst wenn Wáng Yángmíng das Ordnungsprinzip in etwas gesucht hätte, das ihn selbst betraf, denke ich doch, dass er kein Prinzip ethischen Handelns gefunden hätte : Ein kosmisches Ordnungsprinzip kann kein Prinzip ethischen Handelns sein. Auch Zhū Xī schien der Erforschung des eigenen Herzens eine gewisse Priorität zu geben : Es besteht ein großes Gedränge und eine große Anzahl von Ordnungsprinzipien in der Welt ; was die Augen sehen und die Ohren hören, sind alles Dinge [mit ihren Ordnungsprinzipien]. Wie kann man dem auf den Grund gehen ? Man muss sie im Herzen (Geist) erforschen ; wenn die Ordnungsprinzipien des Herzens klar geworden sind, kann man danach bei den Dingen, bei denen es sich aufhält, forschend weiterschreiten.

天下之理,偪塞滿前,耳之所聞,目之所見,無非物也,若之何 而窮之哉!須當察之於心,使此心之理既明,然後於物之所在從 而察之,則不至於汎濫矣。56 In der Pädagogik gibt Zhū Xī dem Studium der Schriften der Weisen, d. h. im Wesentlichen dem konfuzianischen Kanon, in dem die Ordnungsprinzipien in vorzüglicher Weise ausgedrückt sind, eine zeitliche Priorität. Daran hat sich, wie im weiter oben zitierten Text ersichtlich, auch Luó Qīnshùn gehalten. In seinem Brief vom 8. September 1534 an Ōuyáng Dé schreibt er : Das Dao (der ethische Weg) ist schon seit langem nicht mehr klar, doch die Bücher der Heiligen und Weisen sind noch erhalten. Diejenigen, die den Willen zum Lernen haben, ihre Worte rezitieren und deren Bedeutung kosten, nach ihren Grundlagen suchen, sie reflektierend am eigenen Geist prüfen, erspähen auch nur Teile davon und 56

ZZYL, S. 400.

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Einleitung

betrachten sie als das, woran sie sich halten können. Doch da die Edlen, die das Dao in sich tragen, in der Welt selten sind, das Wahre und Falsche, das Erlangen und Verlieren kaum ins Rechte gestellt werden, können sie auch nicht über die Bücher der Heiligen und Weisen hinausgelangen.

夫道之不明久矣,所幸聖賢之遺書尚存,有志於學者誦其言而 咀其味,探其歸趣反而驗之吾心,庶或窺見其一二,以為持循 之地。顧有道之君子,世不多得,是非得失莫或正之,其所取証, 終亦不出乎聖賢之書而已。57 Doch Zhū Xī fordert auch die Erforschung der Ordnungsprinzipien in den sozialen Beziehungen und in der Natur. Man braucht nach ihm nicht alle einzelnen Ordnungsprinzipien zu erforschen, um Einsicht in das höchste universale Ordnungsprinzip, das Dao, zu gewinnen, das die Einheit aller Ordnungsprinzipien und der oberste Maßstab alles ethischen Verhaltens ist, aber man kann die Erforschung auch nicht beim Ordnungsprinzip eines einzelnen Dinges bewenden lassen, wie das Wáng Yángmíng und sein Freund mit dem Bambus vor ihrem Haus versuchten. Zhū Xīs Leitidee ist wohl, dass alle Ordnungsprinzipien analog sind, so dass die Erkenntnis des einen die Erkenntnis des anderen fördert und umgekehrt. In seinen Anmerkungen zu den Kapiteln und Sätzen des Dàxué (Dàxué zhāng jù jí zhù 大學 章句集注) kommentiert er, sich auf die Auslegung der beiden Chéng-Brüder berufend, die Stelle im Grundkapitel über »die Erforschung der Dinge und die Ausdehnung des Wissens« (gé wù zhì zhī 格物致知) wie folgt : Die erste Unterweisung des Lernens der Großen (Dàxué) ist es, den Lernenden zu veranlassen, beim Zusammentreffen mit jedem Ding der Welt aufgrund der ihm schon bekannten Ordnungsprinzipien das jeweilige Ding auszuforschen und dabei bis zum Äußersten zu streben. Wenn er sich auf diese Weise lange angestrengt hat, wird er eines Tages plötzlich durchblicken. 57

Siehe unten, S. 153.



Kurze Zusammenfassung der praktischen Philosophie von Zhū Xī

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是以大學始教,必使學者即凡天下之物,莫不因其已知之理而 益窮之,以求至乎其極。至於用力之久,而一旦豁然貫通焉。58 Soweit ich weiß, hat Zhū Xī nie gesagt, dass er dieses Durchblicken erreicht habe oder dass ein anderer als Zhū Xī dies von ihm begründeterweise behauptet hat. Doch das ethische Lernen, die ethische Anstrengung (gōngfu 工夫), besteht nach Zhū Xī nicht nur in diesem Erkenntnisprozess der universalen kosmischen Ordnung und in dem dieser Ordnung entsprechenden Handeln, sondern dieser aktive Umgang mit den Dingen setzt nach ihm eine Übung in der Ruhe ( jìng 靜) voraus. Zu dieser Position konnte er sich nur langsam durchringen. Ihr Hintergrund in den kanonischen Texten bildet das Buch der Mitte (Zhōngyōng) das zweite der »Vier Bücher«, in dem von der »Mitte« (zhōng 中) »vor dem Entstehen« (wèi fā 未發) der Gefühle die Rede ist. Zhū Xīs Lehrer, Lǐ Tóng 李侗 (Beiname Yánpíng 延平, 1093–1163), der wie Zhū Xī selbst im Süden der Provinz Fújiàn 福建 im Südosten Chinas lebte und bei dem er 1143–1153 lernte, lehrte nach Zhū Xīs Bericht, dass man »in der Ruhe die ›große Grundlage‹ (dà běn 大本) erfahren«, das heißt, sich »in der Zeit vor dem Entstehen« (wèi fā shí 未發時) der Gefühle der Mitte innewerden müsse.59 Zhū Xī schreibt, dass er beim Tod seines Lehrers (1163) diese Lehre noch nicht verstanden habe.60 Einige Jahre später kam er zur Auffassung, dass das dem Entstehen der Gefühle Vorangehende (wèi fā) gar nicht das Herz betreffe, also keinen zeitlichen psychologischen oder geistigen Zustand meine, sondern vielmehr die unveränderliche »Natur« oder das »Wesen« (xìng 性) des Menschen. Denn im Herzen würden sich immer schon Gefühle oder Gedanken abspielen, so dass es ein »Herz« in der Zeit vor dem Entstehen der Gefühle gar nicht geben könne.61 Doch drei Jahre später (1166) revidierte Zhū Xī diese Auffassung und teilte seine neue Sicht Zhū Xī, Sì shū zhāng jù jí zhù 四書章句集注 (Běijīng : Zhōnghuá shūjú, 1983), ­Dàxué zhāng jù 大學章句 6, S. 7. 59 Zhū Xī, Zhūzǐ quánshū 朱子全書 (Shànghǎi/Héféi : Shànghǎi gǔjí chūbǎnshè 上海古籍出版社/Ānhuī jiàoyù chūbǎnshè 安徽教育出版社, 2003) fortan ZZQS, fasc. 55, S. 12a. 60 ZZQS, fasc. 24, S. 34a. 61 ZZQS, fasc. 24, S. 25b. 58

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in einem berühmt gewordenen Brief seinen Freunden in der Provinz Húnán 湖南 mit, besonders Zhāng Shì 張栻 (1133–1180), mit denen er dieses Problem zuvor mündlich und schriftlich diskutiert hatte.62 Diese neue Auffassung hat Zhū Xī später auch in seine Erklärung des ersten Kapitels des Zhōngyōng einfließen lassen. Nach dieser neunen Auffassung, an der er danach festhielt, gibt es sehr wohl einen Zustand des »Herzens/Geistes«, in dem die Gefühle noch nicht entstanden sind. Es ist ein »Zustand, in dem die Gedanken und Überlegungen noch nicht gekeimt sind und die Dinge und Geschäfte noch nicht da sind (sī lǜ wèi méng, shì wù wèi zhì 思慮未萌, 事務未至). Es ist dies die stille, nicht tätige Substanz des Herzens/Geistes, in der die vom Himmel bestimmte Natur (tiān mìng zhī xìng 天命之性) verkörpert sein muss.«63 Diesen Zustand gilt es in einer Haltung der »ehrfürchtigen Konzentration« ( jìng 敬) zu »pflegen« (hán yǎng 涵養).64 Dadurch wird »das Herz/der Geist bewahrt« (cún xīn 存心). Es ist die Grundlage dafür, dass das »Wissen durch die Erforschung der Ordnungsprinzipien verwirklicht werden kann« (zhī zhì 知致), »nachdem die Gefühle entstanden sind«, d. h. in den intentionalen Beziehungen zu den Gegenständen und Geschäften. Zhū Xī betont im erwähnten Brief an die Freunde in der Provinz Húnán, dass es hier nicht nur um die Erkenntnis des Verhältnisses zwischen »Herz« (xīn 心) und »vom Himmel bestimmter Natur«, sondern um die ethische Praxis gehe : Früher habe ich in meinen Erklärungen das Herz als dasjenige betrachtet, in dem die Gefühle bereits entstanden sind, und habe das Erforschen und Erkennen für den ersten Schritt der [ethischen] Praxis gehalten. Dadurch mangelte mir das Stück Anstrengung der täglichen Pflege [des Herzens], und ich habe die Leute zu einem geistigen Zustand der Unordnung, Oberflächlichkeit und Unkonzentriertheit veranlasst. Und so wurde oft auch ihr Sprechen und Tätigsein »nach dem Entstehen [der Gefühle]« hastig und oberflächlich und gebrach des inneren Friedens und der Tiefe. »Yǔ Húnán zhū gōng lùn zhōng hé« 與湖南諸公論中和, ZZQS, fasc. 24, S. 25b–27a. 以思慮未萌, 事物未至之時為喜怒哀樂之未發。當此之時即是此心寂然不 動之體, 而天命之性當體具焉。ZZQS, fasc. 24, S. 26a. 64 ZZQS, fasc. 24, S. 26b. 62

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Kurze Zusammenfassung der praktischen Philosophie von Zhū Xī

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向來講論思索直以心為已發, 而所論致知格物亦以察識端倪 為初下手處, 以故缺卻平日涵養一叚工夫, 其日用意趣常偏於 動無復深潛純一之味, 而其發之言語事為之間亦常躁廹浮露。65 Auch nachdem man tätig geworden ist, muss man nach Zhū Xī die in der Ruhe gewonnene »ehrfürchtige Konzentration« bewahren : In der Zeit ohne Geschäfte ist die »ehrfürchtige Konzentration« innen. In der Zeit der Geschäfte ist die ehrfürchtige Konzentration bei den Geschäften. Ob man Geschäfte hat oder nicht, unsere ehrfürchtige Konzentration soll nie unterbrochen werden.

無事時敬在裏面,有事時敬在事上。有事無事,吾之敬未嘗間 斷也。66 In der Zeit der Geschäfte bedeutet die »ehrfürchtige Konzentration« die Fokussierung auf die jetzt zu erledigende Sache, ohne gedanklich davon abzuschweifen. Zhū Xīs Lernen kennt also zwei Komponenten : eine »meditative« Komponente der ehrfürchtigen Konzentration, die in der Ruhe »vor dem Entstehen der Gefühle«, vor der Auseinandersetzung mit der Welt einsetzt und »das Herz pflegt«, sowie eine auf der Erforschung und Erkenntnis der Ordnungsprinzipien beruhende tätige Komponente. Der große Synthetiker Zhū Xī versuchte auch in Bezug auf Ruhe und Tätigkeit, Meditation und rationales Denken eine Einheit herzustellen. Wáng Yángmíng wird mit beiden Bestandteilen von Zhū Xīs Synthese seine Schwierigkeiten haben : Weder wird es ihm gelingen, die Ordnungsprinzipien zu erforschen, noch wird er einen Zustand des Herzens finden, in dem sich noch keine Gedanken regen. Doch bei seinen Schülern werden beide Ideen Zhū Xīs weiter wirksam bleiben.

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ZZQS, fasc. 24, S. 29b–30a. ZZYL, S. 213.

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Zhū Xīs Philosophie wurde in den letzten Jahren seines Lebens von offizieller Seite angegriffen und verurteilt, und er verlor seine Stellung und seine Titel. Aber schon bald nach seinem Tod (1200) gewann seine Lehre auch offiziell immer mehr Anerkennung. 1241, noch unter der Sòng-Dynas­ tie (960–1279), wurde seine Seelentafel in den Konfuzius-Tempel aufgenommen. Unter der nächsten Dynastie, derjenigen der Mongolen (Yuán, 1279–1368), wurde sein Kommentar der »Vier Bücher« offiziell zum Prüfungsstoff in den Staatsexamina erhoben.

3. Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern, ob ethisch gutes ­Handeln nicht doch Erkenntnis der Ordnung der Welt voraussetzt, wie es Zhū Xī verlangt

Wáng Yángmíng war nach seinen Erfahrungen in der Verbannung von Lóngchǎng (1508) im Gegensatz zur offiziellen Lehre von Zhū Xī der Auffassung, dass der Mensch zu seiner ethischen Vervollkommnung nicht Ordnungsprinzipien in den äußeren Dingen und Ereignissen oder in den konfuzianischen Schriften erforschen und erkennen muss, sondern dass dazu die Ordnungsprinzipien ausreichen, die in seinem eigenen Herzen oder, wie er von etwa 1521 an sagen wird, in seinem »ursprünglichen Wissen« enthalten sind ; anstatt »ursprüngliches Wissen« können wir hier auch »ethisches Bewusstsein« sagen. Vielen seiner Schüler fiel es aber nicht leicht, sich diese Auffassung anzueignen. Sie räumen ihrem Lehrer zwar ein, dass das menschliche Herz im Sinne von Mèngzǐ zum Guten tendiert, aber sie bezweifeln, dass dies ausreicht, um in der jeweiligen praktischen Situation zu wissen, wie man sich ethisch richtig verhalten soll. Schon 1512/13 stellt Xú Ài 徐愛 (1487–1517), Wáng Yángmíngs Schwager und einer der ersten bekannten seiner Schüler, dieses Problem, und noch in einem Brief von 1527 schreibt Wáng Yángmíng, dass es unter seinen Schülern oder »Gleichgesinnten« Leute gebe, die zwar das »ursprüngliche Wissen« hochhalten, aber es oder dessen »Verwirklichung« für sich allein genommen als für das ethische Handeln ungenügend betrachten und noch zusätzliche Erkenntnisse fordern :



Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern 45

In der neueren Zeit vermögen alle Gleichgesinnten über das »ursprüngliche Wissen« Reden zu führen, aber ich habe noch keinen gesehen, der es wirklich in der eigenen Erfahrung zu erkennen vermöchte. Daher ist es unvermeidlich, dass sie noch an ihm zweifeln. So gibt es solche, die meinen, dass das »ursprüngliche Wissen« nicht genüge, um die Ordnungsprinzipien der Welt auszuschöpfen, sondern dass man noch unermüdlich Untersuchungen anstellen müsse, um es zu ergänzen. Und es gibt auch solche, die meinen, dass die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« noch nicht notwendig zur Übereinstimmung mit den himmlischen (natürlichen) Ordnungsprinzipien führe, sondern dass man mit dem »ursprünglichen Wissen« das untersuchen müsse, was sie die himmlischen Ordnungsprinzipien nennen ; erst nachdem man an diesen festhalte und sie als feste Regeln betrachte, könne man ihm ohne Fehl folgen.

近時同志,莫不知以良知為說,然亦未見有能實體認之者,是以 尚未免於疑惑。蓋有謂良知不足以盡天下之理,而必假於窮索 以增益之者,又以為徒致良知未必能合於天理,須以良知講求 其所謂天理者,而執之以為一定之則,然後可以率由而無弊。67 Auch nach dem Tod Wáng Yángmíngs wurde dieses Problem unter seinen Schülern weiter diskutiert, was sicher auch dem Einfluss der Lehre Zhū Xīs, die damals ja die offizielle war, zuzuschreiben ist. Im Jahre 1549 kritisierte Wáng Jī in einer Versammlung der Schule Wáng Yángmíngs im »Tempel der Quellenden Dunkelheit« (Chōngxuán guān 沖玄觀) beim »DrachenTiger-Gebirge« (Lónghǔshān 龍虎山) im Nordosten der Provinz Jiāngxī zwei Meinungen innerhalb der Schule. Die erste war die Auffassung Niè Bàos68, die zweite war die Auffassung der Ergänzungsbedürftigkeit des »­u rsprünglichen Wissens« durch »Sehen und Hören« :

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»An Mǎ Zǐxīn« 馬子莘, datiert auf das Jahr dīng hài 丁亥 (1527), WYMQ J, S. 218. Siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 669 f.

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Einleitung

Es gibt [unter uns] Leute, die meinen, dass das ›ursprüngliche Wissen‹ nicht ausreicht, um die Veränderungen in der Welt auszuschöpfen (vollständig zu erfassen). Man müsse es durch Hinzufügung des [empirischen] Wissens des Sehens und Hörens ergänzen und ihm so bei der Äußerung nachhelfen ; das ist die gewöhnliche Lehre.

或以良知不足以盡天下之變, 必加見聞知識, 補益而助發之, 便是俗學。69 Vier Jahre später (1553) unterschied er in einer anderen Versammlung von Anhängern Wáng Yángmíngs beim damals für diesen neu errichteten Ahnentempel in Chúyáng 滁陽 (Präfektur Chúzhōu 滁州), das damals zum direkten Verwaltungsgebiet der südlichen Hauptstadt Nanking gehörte (heute Ānhuī), unter den Nachfolgern Wáng Yángmíngs vier verschiedene falsche Meinungen über das »ursprüngliche Wissen«.70 An erster Stelle nannte er wiederum jene Auffassung der Ergänzungsbedürftigkeit : Es gibt Leute, die meinen, dass das »ursprüngliche Wissen« im Leeren hänge, dass es des Sehens und Hörens [der empirischen Erkenntnis] bedürfe, um ihm bei seiner Äußerung nachzuhelfen. Das »ursprüngliche Wissen« müsse, um kein leeres Wissen zu sein, von den himmlischen Ordnungsprinzipien Gebrauch machen. Das ist die traditionelle Auffassung.

有謂「良知落空, 必須聞見以助發之, 良知必用天理則非空知」, 此沿襲之說也。71 Wáng Jī appelliert bei der Kennzeichnung dieser nach ihm falschen Auffassung an den von Zhāng Zài aufgestellten Unterschied zwischen »Wissen der Tugend-Natur« (dé xìng zhī zhī 德性之知) und »Wissen durch Sehen In Luó Hóngxiāns »Aufzeichnungen von der Sommerreise« (Xú Rúzōng 徐儒宗, hg., Luó Hóngxiān jí 羅洪先集 (Nánjīng : Fènghuáng chūbǎnshè, 2007), S. 71. 70 Zu diesen vier »falschen Meinungen« s. Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 539 f. 71 »Rede in der Versammlung von Chúyáng«, (1553), Wáng Jī, Wáng Lóngxī quánjí, S. 174. 69



Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern 47

und Hören« ( jiàn wén zhī zhī 見聞之知)72 und versteht das »Wissen der Tugend-Natur« als das »ursprüngliche Wissen« und das »Wissen durch Sehen und Hören« als Wissen aufgrund der Erforschung der Ordnungsprinzipien der äußeren Dinge. Dieses Verhältnis zwischen »ursprünglichem Wissen« und dem empirischen Wissen ist bis ins 20. Jahrhundert kontrovers diskutiert worden.73 Wáng Yángmíngs Antwort auf die Frage seiner Schüler über die Hinlänglichkeit des »ursprünglichen Wissens« für das ethisch richtige Handeln fällt nun verschieden aus, je nachdem, ob er seiner Antwort seinen älteren, auf Mèngzǐ basierenden Begriff des »ursprünglichen Wissens« zugrunde legt, den wir oben in der Einführung über Wáng Yángmíng als seinen ersten Begriff des »ursprünglichen Wissens« bestimmten, oder aber seinen späteren Begriff des immer vollkommenen, auch alle mentalen Funktionen einschließenden »eigentlichen Wesens des ursprünglichen Wissens«, den wir oben als seinen dritten Begriff des »ursprünglichen Wissens« bezeichneten. Das »ursprüngliche Wissen und Können« des Mitgefühls, der Scham usw. nach Mèngzǐ ist ja ein besonderes, beschränktes »Wissen«, das für sich allein genommen kaum ausreichen dürfte, um in einer konkreten Situation zu wissen, wie man sich ethisch richtig verhalten soll. Siehe seine Schrift Zhèng méng 正蒙 (Berichtigung der Verblendungen) (Lín Lèchāng 林樂昌, hg., Zhèng méng hé jiào jí shì 正蒙合校集釋 [Běijīng : Zhōnghuá shujú 中華書局, 2012]), Kap. 7 (»Dà xīn« 大心, »Das große Herz«) : »Der weltliche Mensch hält in der Begrenztheit von Sehen und Hören inne. Der heilige Mensch schöpft seine Natur aus und fesselt sein Herz nicht durch Sehen und Hören. (S. 371) […] Das Wissen durch Sehen und Hören weiß aufgrund des Kontaktes mit den Dingen, aber weiß nicht, was das Wissen der Tugend-Natur weiß. Was das Wissen der Tugend-Natur weiß, entsteht nicht durch Sehen und Hören« (S. 374). Vor dem Hintergrund dieses 7. Kapitels identifiziert Zhāng Zài im 6. Kap. (»Chéng míng« 成明, »Vollkommene Klarheit«) implizit das »Wissen der Tugend-Natur« mit dem »ursprünglichen Wissen« (liángzhī 良知) : »Was um die wahre Helligkeit weiß, ist das ursprüngliche Wissen der Himmels-Tugend (tiāndé liángzhī 天德良知) und nicht bloß das kleine Wissen des Sehens und Hörens.« (S. 285). Vgl. Chang Tsai, Rechtes Auflichten (Cheng-meng), übers., mit Einleitung und Kommentar versehen und hg. von Michael Friedrich, Michael Lackner und Friedrich Reimann (Hamburg : Meiner, 1996). Für die zitierten Stellen vgl. S. 40 (Kap. 7) bzw. S. 32 (Kap. 6, hier : »Wahrheit und Licht«). 73 Siehe hierzu weiter unten, S. 63.

72

48

Einleitung

Die Frage der Zulänglichkeit des »ursprünglichen Wissens« für das moralisch richtige Handeln enthält aber zwei grundsätzlich verschiedenartige Probleme : Das eine betrifft die Ergänzungsbedürftigkeit des »ursprünglichen Wissens« durch Erkenntnisse oder Informationen über die faktische Situation, in der man handelt, z. B. über die faktische Lage der Eltern, deren Wohlergehen man aus Kindes-Pietät (xiào 孝) ihnen gegenüber anstrebt, und durch Kenntnisse der besten »technischen« Mittel, die man z. B. in der Sorge für das Wohlergehen der Eltern einsetzen kann. Solche Kenntnisse sind an und für sich nicht moralischer Natur. Bei den Fragen der Schüler Wáng Yángmíngs nach der Hinlänglichkeit des ursprünglichen Wissens geht es hauptsächlich um die Erkenntnisse der Mittel, um das »technische« Know-how, wie man das ethisch Gute verwirklichen kann. Das andere Problem betrifft aber die Ergänzungsbedürftigkeit des »ursprünglichen Wissens« durch moralische Erziehung und Bildung, durch das Erlernen von moralisch richtigen Verhaltensweisen, sei es aufgrund der Erziehung der Eltern, Lehrer und anderer sozialer Autoritäten, sei es aufgrund des eigenen Studiums, besonders des konfuzianischen Kanons, und der eigenen Erfahrung. Solches »moralische Wissen« ist nicht »ursprünglich« im »Herzen«, sondern durch »Sehen und Hören« erworben.74 Die Schüler, die Wáng Yángmíng über das erste Problem befragen, räumen ihm ohne weiteres ein, dass das menschliche Herz im Sinne von Menzius von Natur aus Tendenzen zum Guten hat, aber sie bezweifeln, ob diese guten Tendenzen ausreichen, um in den jeweiligen praktischen Situationen zu wissen, wie man sich ethisch richtig verhalten soll. Sie fragen ihren Lehrer, ob man dazu nicht doch im Sinne von Zhū Xī gé wù 格物 betreiben, d. h. die Ordnungsprinzipien der Dinge erforschen soll. Dabei bedeuten hier die »Ordnungsprinzipien« nicht moralische Normen, sondern die Struktur und Zusammenhänge der Dinge, wie dies bei Zhū Xī auch der Fall sein kann. In diesem Sinne sagte Xú Ài in einem Gespräch, das er mit Wáng Yángmíng im Winter 1512/13 führte :75

74

Zu diesem zweiten Problem siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 259–268. Ebd., S. 74.

75



Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern 49

Ich vermute, dass es bei der Pietät gegenüber den Eltern, bei der Loyalität gegenüber dem Herrscher, bei der Zuverlässigkeit gegenüber den Freunden und bei der Menschlichkeit in der Regierung des Volkes viele Ordnungsprinzipien gibt, die man auch untersuchen muss.

如事父之孝,事君之忠,交友之信,治民之仁,其間有許多理在。 恐亦不可不察。76 Wáng Yángmíng antwortet ihm, dass man die Ordnungsprinzipien der Pietät gegenüber den Eltern, der Loyalität gegenüber dem Herrscher, der Zuverlässigkeit gegenüber den Freunden und der Menschlichkeit gegenüber dem regierten Volk nicht auf Seiten der Eltern, des Herrschers, der Freunde und des Volkes suchen dürfe, sondern dass im Umgang mit den Eltern, dem Herrscher, den Freunden und dem Volk die Äußerungen unseres Herzens pietätvoll, loyal, zuverlässig und menschlich seien, d. h. jenen Ordnungsprinzipien entsprechen, wenn nicht egoistische Wünsche unser Herz verdecken. Doch Xú Ài wird seine Zweifel nicht los und antwortet : Wenn ich Sie so sprechen höre, fühle ich schon, dass es da Einsichtiges gibt. Doch die alte Lehre [von Zhū Xī] bindet noch meine Gedanken und ich werde sie nicht los. Z.B. im Dienst an den Eltern, in der Sorge um Wärme [im Winter] und Kühlung [im Sommer], bei der Sicherung [ihrer Gesundheit am Morgen und Abend]77 gibt es doch viele Einzelheiten ; muss man diese nicht untersuchen ?

聞先生如此說,愛已覺有省悟處。但舊說纏於胸中,尚有未脫 然者。如事父一事,其間溫凊定省之類,有許叫多節目。不知亦 須講求否 ? 78

Chuánxí lù I, Nr. 3, WYMQ J, S. 2. Gemäß den Anweisungen im Klassiker der Sitten (Lǐjì 禮記), Kap. 1 »Qǔlǐ 曲禮«, 2.2 (siehe Ch’u Chai, Winberg Chai, hg. und eingel., Li Chi – Book of Rites, übers. James Legge (New Hyde Park, NY : University Books, 1967, erg. Ausgabe), S. 67. 78 Chuánxí lù I, Nr. 3, WYMQ J, S. 2. 76

77

50

Einleitung

Wáng Yángmíng weist in seiner Antwort zuerst auf das für ihn allein W ­ esentliche : Wie sollte man nicht untersuchen müssen ! Doch geht es dabei nur um die Hauptsache (das Entscheidende : zhǐ shì yǒu ge tóunǎo 只是 有個頭腦 ) : Man muss nur in unserem Herzen untersuchen, ob die menschlichen [egoistischen] Wünsche vertrieben und die himmlischen Ordnungsprinzipien bewahrt werden. Wenn man z. B. in Bezug auf das Erwärmen im Winter Untersuchungen anstellt, geht es nur darum, die kindliche Pietät unseres Herzens auszuschöpfen, in der Befürchtung, dass sich ein wenig menschliche [egoistische] Wünsche eingemischt haben könnten ; wenn man sie z. B. im Hinblick auf das Kühlen im Sommer anstellt, geht es auch nur darum, die Pietät unseres Herzens gegenüber den Eltern auszuschöpfen, in der Befürchtung, dass sich ein wenig menschliche [egoistische] Wünsche eingemischt haben könnten : Es geht nur darum, unser Herz zu untersuchen.

如何不講求?只是有個頭腦。只是就此心去人欲存天理上講 求。就如講求冬溫,也只是要盡此心之孝,恐怕有一毫人欲間 雜。講求夏凊,也只是要盡此心之孝,恐怕有一毫人欲間雜。只 是講求得此心。79 Wáng Yángmíng will also die ganze Energie unserer »Untersuchung« auf unser eigenes Herz lenken : Es gilt zu untersuchen, ob es ohne Beimischung von egoistischen Interessen seinem innersten »Ordnungsprinzip« folgt. Er lenkt damit zunächst von der Frage Xú Àis ab, die auf die Notwendigkeit der Untersuchung von technischen Mitteln für die Fürsorge gegenüber den Eltern abzielte, und weist ihn auf das nach seiner Meinung im ethischen Handeln allein Entscheidende. Erst danach geht er auf Xú Àis Anliegen ein :

79

Ebd.



Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern 51

Wenn unser Herz keine menschlichen [egoistischen] Begierden hat und rein das himmlische Ordnungsprinzip, rein ein Herz der kindlichen Pietät und Liebe ist, dann wird es sich im Winter ganz von selbst Gedanken über das Frieren der Eltern machen und folglich von sich aus nach einem Verfahren des Wärmens suchen wollen, und im Sommer wird es sich ganz von selbst Gedanken über die Hitze der Eltern machen und folglich von sich aus nach einem Verfahren des Kühlens suchen wollen. All das sind einzelne konkrete Bedingungen [des betreffenden pietätvollen Verhaltens], die jenes wahrhaft pietätvolle Herz hervorbringt. Zuerst bedarf es eines Herzens wahrhaftiger kindlicher Pietät und nachher treten jene Bedingungen hervor. Wenn man es mit einem Baum vergleicht, ist das Herz wahrhaftiger Pietät die Wurzel, und die zahlreichen Bedingungen sind die Äste und Blätter. Zuerst bedarf es der Wurzel, und nachher gibt es Zweige und Blätter. Man kann nicht zuerst nach den Zweigen und Blättern suchen und nachher die Wurzel einpflanzen.

此心若無人欲,純是天理,是個誠於孝親的心,冬時自然思量 父母的寒,便自要求個溫的道理。夏時自然思量父母的熱,便自 要求個凊的道理。這都是那誠孝的心發出來的條件。卻是須有 這誠孝的心,然後有這條件發出來。譬之樹木,這誠孝的心便 便是根。許多條件便枝葉。須先有根,然後有枝葉。不是先尋了 枝葉,然後去種根。80 In diesem Gespräch zwischen Wáng Yángmíng und Xú Ài treten die Ausdrücke »ursprüngliches Wissen« und »Wissen aufgrund von Sehen und Hören« nicht auf. Aber das »die himmlischen Ordnungsprinzipien in sich tragende Herz« kann für den schon damals von Wáng Yángmíng verwendeten Begriff des »ursprünglichen Wissens« (im Sinne von Menzius) stehen, und das »technische« Wissen um jene einzelnen faktischen Bedingungen pietätvollen Verhaltens etc. ist ein »Wissen aufgrund von Sehen 80

Ebd., Nr. 3, WYMQ J, S. 2 f.

52

Einleitung

und Hören«. Wáng Yángmíng legt in diesem Gespräch das ganze Gewicht auf die Reinigung des Herzens von der »Verdeckung« durch egoistische Wünsche. Aber er verneint keineswegs, dass dieses so gereinigte und seinen inneren Ordnungsprinzipien folgende Herz noch zusätzlich des »Sehens und Hörens« bedarf, um die technischen Voraussetzungen des jeweiligen konkreten ethischen Verhaltens herauszufinden. Nur veranlasst nach ihm ein ethisch wahrhaftes Herz solche situationsabhängigen empirischen Untersuchungen spontan und ganz von selbst, so dass das ganze Problem des ethischen Verhaltens nicht solche Untersuchungen, sondern die fundamentale ethische Gesinnung oder Einstellung ist. Zu solchen empirischen Untersuchungen durch »Sehen und Hören« kann man nicht nur das Herausfinden von technischen Mitteln, z. B. des »Erwärmens und Abkühlens«, sondern auch das Erkennen einer faktischen Situation, in der man handeln muss, rechnen, z. B., wie es den Eltern faktisch geht, woran sie leiden, was ihnen fehlt, was sie wünschen etc. Wenn Wáng Jī 1549 im »Drachen-TigerGebirge« und 1553 in Chúyáng es als eine falsche Meinung hinstellte, dass das »ursprüngliche Wissen« für sich im Leeren schwebe und noch des »Sehens und Hörens« bedürfe, um ihm bei der praktischen Tätigkeit beizustehen, so konnte sich eine solche Meinung in gewissem Sinne auf den frühen Wáng Yángmíng berufen. Denn die »einzelnen Bedingungen«, um die man in einer konkreten Situation des Handelns wissen muss, werden hier nicht zum Inhalt des »ursprünglichen Wissens« gerechnet, sondern als etwas betrachtet, was der ethisch Gesinnte noch herauszufinden und zu überlegen hat. Dies entspricht völlig Wáng Yángmíngs erstem, auf Menzius zurückgehenden Begriff des »ursprünglichen Wissens«. Im selben Sinne antwortet Wáng Yángmíng im ersten Teil des Chuánxí lù einem anderen Gesprächspartner, der ihm dieselbe Frage wie Xú Ài stellt. Das Gespräch wurde auch von Xú Ài aufgezeichnet und dürfte im selben Jahr wie das zuvor zitierte stattgefunden haben : Zhèng Cháoshuò81 sagte : »Das höchste Gute muss man auch in Ereignissen und Dingen suchen.« Der Lehrer [Yángmíng] antwortete : »Das höchste Gute besteht nur in der völligen Einheit dieses unseres 81

Zhèng Yīchū 鄭一初 (Beiname : Cháoshuò, geb. 1476).



Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern 53

Herzens mit dem himmlischen Ordnungsprinzip. Was soll man da noch in den Ereignissen und Dingen suchen ? Legen Sie mir ein Beispiel vor !« Cháoshuò sagte : »Zum Beispiel im Dienst an den Eltern muss man bei den Einzelheiten für die Erwärmung im Winter und für die Abkühlung im Sommer und bei der passenden Pflege das Richtige suchen, erst dann ist es das höchste Gute. Dies bedarf also der Anstrengung des ›Lernens, Fragens, Denkens und Erörterns‹82.« Der Lehrer [Yángmíng] antwortete : »Wenn es sich nur um die Einzelheiten der Erwärmung und Abkühlung und um das Passende der Pflege handelt, reicht eine Erörterung von ein bis zwei Tagen aus. Was braucht es an dieser Stelle ein ›Lernen, Fragen, Denken und Erörtern‹ ! Was bei der Erwärmung und Abkühlung und der Pflege der Eltern vonnöten ist, ist ebenfalls nur die völlige Einheit unseres Herzens mit dem himmlischen Ordnungsprinzip. Wenn es an dieser Stelle am ›Lernen, Fragen, Denken und Erörtern‹ gebricht, dann entstehen unvermeidlich aus kleinen Abweichungen große Verfehlungen. […] Wenn man meint, dass es das höchste Gute ist, wenn nur jene äußeren Einzelheiten richtig gesucht sind, dann kann man auch das Mimen eines Schauspielers von solchen richtigen äußeren Einzelheiten des Erwärmens, Abkühlens und Pflegens als höchstes Gutes bezeichnen.«

鄭朝朔問: 「至善亦須有從事物上求者」,先生曰: 「至善只是 此心純乎天理之極便是。更於事物上怎生求?且試說幾件看」。 朝朔曰: 「且如事親,如何而為溫凊之節,如何而為奉養之宜, 須求個是當,方是至善。所以有學問思辨之功」。先生曰: 「若只 是溫凊之節,奉養之宜,可一日二日講之而盡。用得甚學問思辨? 惟於溫凊時,也只要此心純乎天理之極。奉養時,也只要此心 純乎天理之極。此則非有學問思辨之功,將不免於毫厘千里之 繆。[…] 若只是那些儀節求得是當,便謂至善,即如今扮戲子扮 82

Zhōngyōng (»Buch der Mitte«), 19. Kap., siehe Zhū Xī, Sì shū zhāng jù jí zhù, S. 27.

54

Einleitung

得許多溫凊奉養得儀節是當,亦可謂之至善矣」。愛於是日又 有省。」83 Auch hier legt Wáng Yángmíng das ganze Gewicht der ethischen Anstrengung darauf, dass das menschliche Herz im Streben und Handeln rein das ihm eigene »himmlische Ordnungsprinzip« zum Ausdruck bringt. Hier muss man »lernen, fragen, denken und erörtern«. Die ethische Entscheidung liegt allein hier. Der bloße Gebrauch der richtigen Mittel kann auch einfach Schauspiel sein. Das Herausfinden dieser »technischen« Mittel ist eine leichte Sache, die »in ein bis zwei Tagen« zu erledigen ist. Aber es braucht immerhin noch »ein bis zwei Tage« der empirischen Erkundigung, d. h., das »Herz«, bzw. das »ursprüngliche Wissen«, weiß nicht schon von sich aus, welches die geeigneten praktischen Mittel zur Verwirklichung seiner guten Absichten sind. In früheren Gesprächen verglich Wáng Yángmíng das ethische Lernen mit dem Reinigen eines Spiegels : Wenn der Spiegel gereinigt ist, spiegelt er von selbst die jeweils vorliegenden Dinge. In analoger Weise nimmt das von egoistischen Wünschen gereinigte Herz von selbst die jeweilige Situation richtig wahr und entspricht ihr angemessen. Ein Schüler fragte ihn : »Die heiligen Menschen entsprechen jeweils den veränderten Zeiten ; müssen sie da nicht vorerst Untersuchungen anstellen ?« Wáng Yángmíng antwortete ihm : »Wieso sollten sie da zahlreiche Untersuchungen anstellen müssen ! Das Herz der heiligen Menschen ist wie ein Spiegel. Es ist völlig klar. So entspricht er den jeweiligen Anforderungen und spiegelt alle [gegenwärtigen] Dinge. Die vergangenen Gestalten bleiben nicht an ihm haften, und die noch nicht gespiegelten Gestalten nimmt es nicht vorweg84.« 83

Chuánxí lù I, Nr. 4, WYMQ J, S. 3. Anspielung auf das Buch Zhuāngzǐ, 7. Stück, Kap. 6 : »Der vollkommene Mensch gebraucht sein Herz wie einen Spiegel. Er läuft den Dingen nicht nach [wenn sie weggehen] und läuft ihnen nicht entgegen [bevor sie ankommen] ; er entspricht ihnen und hortet sie nicht.« (Vgl. Dschuang Dsi – Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, übers. Richard Wilhelm [Jena : Eugen Diederichs, 1923], S. 99).

84



Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern 55

「聖人應變不窮,莫亦是預先講求否」?先生曰: 「如何講求得 許多?聖人之心如明鏡。只是一個明,則隨感而應,無物不照。 未有已往之形尚在,未照之形先具者。85 Auch in dieser Antwort legt Wáng Yángmíng alles Gewicht auf die richtige ethische Einstellung zu den Dingen (den vergehenden Dingen nicht nachhängen und nicht zu viel vorauskalkulieren) und nimmt das Untersuchen der Dinge leicht. Xú Ài kennzeichnet den Unterschied in der Auffassung des gé wù 格物 im ersten Kapitel des Dàxué zwischen seinem Lehrer Wáng Yángmíng und Zhū Xī mit diesem Spiegelgleichnis : Nach der Auffassung der neueren Zeit (d. h. der Schule Zhū Xīs) muss die ethische Anstrengung auf die Spiegelung (Erkenntnis) der Dinge gerichtet werden. Aber diese Leute verstehen nicht, dass ein trüber Spiegel die Dinge nicht wiederzugeben vermag. In der Sicht unseres Lehrers [Wáng Yángmíng] besteht die Aufgabe des gé wù in der Reinigung des Spiegels, um ihn dadurch klar zu machen. Die ethische Anstrengung ist auf das Reinigen gerichtet. Wenn der Spiegel klar geworden ist, wird er auch das Spiegeln [der Dinge] nicht verfehlen.

近世格物之說,如以鏡照物,照上用功。不知鏡尚昏在,何能照? 先生之格物,如磨鏡而使之明。磨上用功。明了後亦未嘗廢照。86 In diesem Gleichnis kommt die Notwendigkeit einer besonderen empirischen Untersuchung der Dinge zwar nicht zur Geltung, aber Wáng Yángmíng bestreitet auch im Zusammenhang dieses Gleichnisses nur, dass der heilige Mensch »zahlreiche Untersuchungen« der Dinge anstellen und so seine ganze Energie dafür gebrauchen müsse ; von »Untersuchungen von ein bis zwei Tagen« würde er ihn wohl auch hier nicht dispensieren wollen.

Chuánxí lù I, Nr. 21, WYMQ J, S. 12. Chuánxí lù I, Nr. 62, WYMQ J, S. 20.

85 86

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Einleitung

Ein anderes Verhältnis zwischen »ursprünglichem Wissen« und der empirischen Erkenntnis der faktischen Umstände und der technischen Mittel des Handelns ergibt sich, wenn wir Wáng Yángmíngs spätere Texte heranziehen, die den Begriff des immer vollkommenen »eigentlichen Wesens des ursprünglichen Wissens« (von uns unterschieden als dritter Begriff des »ursprünglichen Wissens«) enthalten. Wie wir oben in der Einführung zu Wáng Yángmíng sahen, sind »Sehen und Hören« nach diesem dritten Begriff »Funktionen des ursprünglichen Wissens«. 1524 schrieb Wáng Yángmíng in einem Brief an seinen Schüler Gù Lín 顧璘 (Beiname : Dōngqiáo 東橋, 1476–1545) : Im Sorgen um die Wärme und Abkühlung für die Eltern muss man vollständig ausführen, was das ›ursprüngliche Wissen‹ über die notwendigen Einzelheiten der Erwärmung und Abkühlung weiß, und bei der Unterstützung der Eltern in ihrem Alter muss man vollständig ausführen, was das ›ursprüngliche Wissen‹ über das Geeignete dieser Unterstützung weiß, erst dann kann man von der ›Berichtigung der Handlungen‹ (gé wù) sprechen. Wenn die Handlungen des Erwärmens und Abkühlens berichtigt sind, erst dann ist das um das Erwärmen und Abkühlen wissende ›ursprüngliche Wissen‹ ›verwirklicht‹ ; und wenn die Handlungen der Unterstützung berichtigt sind, erst dann ist das um die Unterstützung der Eltern wissende ›ursprüngliche Wissen‹ verwirklicht.

必其於溫清之事也,一如其良知之所知當如何為溫清之節者而 為之,無一毫之不盡,於奉養之事也,一如其良知之所知當如何 為奉養之宜者而為之,無一毫之不盡,然後謂之「格物」。溫清 之物格,然後知溫清之良知始致:奉養之物格,然後知奉養之良 知始致。87

87

Brief an Gù Dōngqiáo, Chuánxí lù II, Nr.138, WYMQ J, S. 49.



Kurzer Abriss der späten Lehre Wáng Yángmíngs 57

Und im selben Brief heißt es etwas später : Wie könnte der heilige Mensch nicht um die technischen Einzelheiten [des Handelns] und die wechselnden Zeitumstände wissen ? Aber er betrachtet nicht solche Dinge für sich allein als Gegenstand seines Lernens, sondern das, was er sein Lernen nennt, ist nichts anderes als die ›Verwirklichung des ursprünglichen Wissens‹.

節目時變,聖人夫豈不知,但不專以此為學:而其所謂學者, 正惟致其真知。88 Das »ursprüngliche Wissen« weiß also nach diesem Brief von 1524 selbst um die empirischen faktischen Umstände und die einzelnen Mittel des Handelns ; im »Lernen« geht es nicht darum, in besonderen empirischen Untersuchungen solche Umstände zu erkennen und solche Mittel herauszufinden, sondern nur darum, »das ursprüngliche Wissen zu verwirklichen«. Wáng Yángmíngs Antwort auf die Frage seiner Schüler über die Hinlänglichkeit des »ursprünglichen Wissens« für das ethisch richtige Handeln fällt also verschieden aus, je nachdem, ob er seiner Antwort seinen älteren, auf Mèngzǐ basierenden, oder aber seinen späteren Begriff zugrunde legt, wonach das »eigentliche Wissen« in seinem Wesen immer vollkommen ist und alle mentalen Funktionen einschließt.

4. Kurzer Abriss der späten Lehre Wáng Yángmíngs (seit 1521) in seiner »Lehre in vier Sätzen« von 1527

Bevor Wáng Yángmíng im Oktober 1527 seine Heimatstadt Shàoxīng in der Provinz Zhèjiāng für seine vom Kaiser verordnete politische und militärische Mission in der weit entfernten Provinz Guǎngxī verließ, formulierte er eine konzentrierte Zusammenfassung seiner eigenen Lehre in vier Sätzen. Diese Zusammenfassung war ursprünglich kein geschriebener Text, 88

Chuánxí lù II, Nr. 139, WYMQ J, S. 49.

58

Einleitung

sondern ein Merkvers zum Auswendiglernen, ähnlich den Doppelversen buddhistischer Lehrtexte, den sogenannten gāthas. Wáng Yángmíng zögerte sehr, seine Lehre für ein allgemeines Publikum zu formulieren. Er zog den mündlichen Dialog oder Brief mit einzelnen Personen vor, denn er betrachtete seine Lehre als eine Art geistiger Medizin, die jedem Individuum anzupassen ist und schädlich sein konnte, wenn sie allgemein angewandt wurde. Aber bevor er 1527 aus Shàoxīng abreiste, wo er zurückgezogen von aller offiziellen Tätigkeit während sechs Jahren privat gelehrt hatte, erlaubte er die Fixierung seiner jüngsten Lehre als einen Ersatz während seiner Abwesenheit. Doch er kehrte nicht mehr von seiner Mission in Guǎngxī zurück. Die »Lehre in vier Sätzen« lautet wie folgt : 1) 無善無惡是心之體 wú shàn wú è shì xīn zhī tǐ (die Abwesenheit von Gut und Schlecht ist die Substanz des Herzens). 2) 有善有惡是意之動 yǒu shàn yǒu è shì yì zhī dòng (die Anwesenheit von Gut und von Schlecht sind die Bewegungen der Intentionen). 3) 知善知惡是良知 zhī shàn zhī è shì liáng zhī (das Wissen um Gut und Schlecht ist das ursprüngliche Wissen). 4) 為善去惡是格物 wéi shàn qù è shì gé wù (das Gute Tun und das Schlechte Verjagen ist die Berichtigung der Handlungen). Ich denke, dass diese Lehre Wáng Yángmíngs nicht richtig ist. In den Bewegungen der Intentionen sind Gut und Schlecht noch nicht vorhanden. Denn die Intentionen gehören zum Inneren des Herzens. Erst in unserem Handeln in der Welt unserer Mitmenschen und in unserem Handeln in Beziehung auf die Natur treten Gut und Schlecht hervor. Und erst in diesem verschiedenartigen Handeln tritt das ursprüngliche Wissen im Sinne des Gewissens auf. Über unsere Intentionen sollen wir uns weder ein gutes noch ein schlechtes Gewissen machen, denn sie schaden bzw. nützen niemandem und fördern niemanden und schaden und fördern auch nicht die Natur. So sage ich denn in Bezug auf Wáng Yángmíng, was dieser in Bezug auf Konfuzius sagte. In seinem Brief vom Herbst 1520 an Luó Qīnshùn schreibt er : »Nun besteht der Wert des [ethischen] Lernens im Erlangen durch das



Zum Charakter der vorgestellten philosophischen Briefe und Debatten 59

Herz. Wenn ich etwas im Herzen prüfe und es als falsch erkenne, dann wage ich es nicht als richtig zu betrachten, selbst wenn es Konfuzius ­sagte.«89

5. Zum Charakter der vorgestellten philosophischen Briefe und Debatten

Die Philosophie der Schule Wáng Yángmíngs steht wie der gesamte Neokonfuzianismus in einer exegetischen Tradition. Fragen der Lebensführung und Weltdeutung werden in Auseinandersetzung mit dem konfuzianischen Kanon, den »Fünf Klassikern« und »Vier Büchern« erörtert. Diese Texte kannten gebildete Chinesen in der Míng-Zeit auswendig, so dass ihre anspielungs- und voraussetzungsreichen Schriften für ein deutschsprachiges Lesepublikum im 21. Jahrhundert nur schwer zugänglich sind. Ein anderes Genre, aufgezeichnete Lehrgespräche, zu denen etwa der erste und dritte Teil des Chuánxí lù gehören, hat wiederum den Nachteil, dass diese Gespräche nicht nur aus der Hand Dritter stammen, sondern dass in der Regel auch wenig über die Kontexte bekannt ist, in denen die Unterhaltungen ursprünglich stattfanden. Wenn im vorliegenden Übersetzungsband vornehmlich Briefe enthalten sind, so hat dies zwei Vorteile. Erstens ist hier das Problem der Autorschaft in der Regel nicht virulent. Was geschrieben steht, kann tatsächlich als Beitrag der Verfasser selbst gelten und gibt so vermutlich deren Position verlässlicher wieder, als dies etwa Lehrgespräche tun. Zudem werden in diesen Schreiben sachliche Probleme ausführlich erörtert und debattiert, oft über mehrere Briefwechsel hinweg. In der direkten Auseinandersetzung mit der Gegenposition sind die Kontrahenten hier gezwungen, ihren Argumenten die größtmögliche Klarheit und Schlagkraft zu geben. Die Klassikerbezüge werden zwar auch hier als autoritative Begründungen für die eigene Position beigezogen, doch wird die Exegese hier zu einem Ort des Dialogs über konkrete ethische und sachliche Probleme. Die ursprüngliche Bedeutung der kanonischen Schriften, soweit überhaupt rekonstruierbar, spielt keine große Rolle : Was zählt, ist die Frage, ob es den Kontrahenten gelingt, ihre eigenen Positionen mit Hilfe des Klassikerbezugs plausibel zu vermitteln. 89

Vgl. S. 10, 97.

60

Einleitung

6. Grundbegriffe, die in den vorgestellten philosophischen Kontroversen vorkommen a)  Bemerkung zum Begriffspaar tǐ 體 (Substanz) und yòng 用 (Funktionen)

»Substanz«, das vom lateinischen Wort substantia (»Bestand, Wesen«, abgeleitet vom Verb substo, ›darunterstehen‹) abstammt, ist das in westeuropäischen Sprachen am häufigsten benutzte Wort, um das in philosophischen Zusammenhängen der Sòng- und Míng-Zeit benutzte chinesische Wort tǐ 體 zu übersetzen. Gemäß der aristotelischen Kategorienlehre (Kategorienschrift : Lehre von den verschiedenen Gesichtspunkten, unter denen über etwas gesprochen wird) sind die Korrelate zur Kategorie der Sub­ stanz (griechisch : οὐσία, »Wesen«) die neun Kategorien der Akzidenzien (accidentia ; griechisch : τὰ συμβεβηκότα, »die zusammen [mit der οὐσία] Gekommenen). Dies sind die der Substanz »zufallenden« (von der Substanz ausgesagten) Kategorien der Qualität, der Quantität, der Relation, des Ortes, der Zeit, der Lage, des Habens, des Wirkens (Tuns), des Erleidens (insgesamt zehn Kategorien). Zum chinesischen philosophischen Begriff tǐ gibt es in der Sòng- und Míng-Zeit nur einen einzigen Korrelatbegriff, nämlich den Begriff yòng 用, der im Allgemeinen mit »Funktionen« übersetzt werden kann. Man könnte ihn auch mit »Wirkungen« oder »Tätigkeiten« übersetzen. Tǐ kann auch mit »Grundwirklichkeit« übersetzt werden. Bei Wáng Yángmíng und seinem Schüler Ōuyáng Dé ist tǐ manchmal auch wie běn tǐ 本體 als »eigentliches Wesen« zu übersetzen und schließt in dieser Bedeutung auch die aus der Substanz hervorgehenden Funktionen ein.90 Eine gründliche Diskussion der Beziehung zwischen dem Verhältnis von substantia und den accidentia einerseits und dem Verhältnis von tǐ und yòng andererseits würde sehr weit führen. Es handelt sich um die wichtigsten ontologischen Begriffe sowohl der von Griechenland ausgehenden europä­ ischen wie der chinesischen Philosophie. Ich halte die übliche Übersetzung von tǐ und yòng durch »Substanz« und »Funktionen« für gerechtfertigt, wenn sie auch nicht die einzig mögliche ist. Zur Rechtfertigung möchte ich nur auf Leibnizens Definition der Substanz verweisen : »Une substance est 90

Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 189–194.



In den Kontroversen vorkommende Grundbegriffe 61

un être capable d’action« (Principes de la Nature et de la Grâce fondés en raison, 1714).91 In den Begriffen tǐ und yòng gesprochen : »Tǐ ist etwas, das der yòng (Funktionen, Tätigkeiten) fähig ist«. Soweit ich sehe, geht das Begriffspaar tǐ und yòng 用 auf den Einfluss des Buddhismus zurück.92 In der alltäglichen chinesischen Sprache bedeutet tǐ einen Körper, auch den Leibkörper, und yòng bedeutet ›gebrauchen‹ oder ›anwenden‹. Als philosophisches Begriffspaar meint es in allgemeinster Bedeutung den Unterschied zwischen einem »Ding« (im weitesten Sinn) und seinen Funktionen, Wirkungen, Tätigkeiten. Im Sanskrit, das durch den Einfluss des Buddhismus wohl im Hintergrund dieses chinesischen Begriffspaares steht, soll es mit der grammatikalischen Unterscheidung zwischen Substantiv und Verb zusammenhängen. In einfachen Erklärungen wird in der chinesischen Literatur der Unterschied von tǐ und yòng manchmal mit Beispielen aus dem Alltag wie mit dem Unterschied zwischen dem Ding Messer und seinen Funktionen des Schneidens, Stechens, Schabens etc. illustriert. In einer besonderen philosophischen Bedeutung meint der Unterschied von tǐ und yòng die Differenz zwischen dem eigenen beständigen Charakter eines »Dinges« und seinen verschiedenen, zeitlich sich verändernden Wirkungen, Auswirkungen, Äußerungen, Manifestationen, Erscheinungen.

Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la nature et de la grâce fondés en raison (L’Europe savante, nov., art. VI), Œuvres philosophiques de Leibniz, Texte établi par Paul Janet (Paris : F. Alcan, 1900), Bd. 1, S. 723–731, S. 723. 92 Das ist umstritten. Wing-tsit Chan ist der Auffassung, dass dieses Begriffspaar, das in der sog. klassischen chinesischen Philosophie noch nicht auftritt, vom »Neodaoisten« Wáng Bì 王弼 (226–249) in die chinesische Philosophie eingeführt wurde. (Siehe sein Vorwort zu Ariane Rumps Übersetzung des Wáng-Bì-Kommentars zum Lǎozǐ (Wang Pi, Commentary on the Lao Tzu, übers. Ariane Rump (Honolulu : University of Hawai’i Press, 1979, S. xvii). Das halte ich nicht für richtig. Siehe dazu Iso Kern, »Wang Bis daoistische Begründung der konfuzianischen Ethik«, in: Asia­ tische Studien 44.1 (1990), S. 77–106. 91

62

Einleitung

b) Ōuyáng Dés Unterscheidung zwischen Herz/Geist als »wahr­nehmendes Wissen« (zhī jué 知覺) und Herz/Geist als »Wissen des ursprünglichen Wissens« (liáng zhī 良知)

In seinem Brief an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534 schreibt Ōuyáng Dé : Sie zitieren auch aus [Wáng Yángmíngs] Chuánxí lù den Satz, dass »das ›ursprüngliche Wissen‹ unseres Herzens‹ das ist, was ›Ordnungsprinzip des Himmels‹ genannt wird«, und meinen, dass diese Aussage auch das »wahrnehmende Wissen« (wahrnehmende Bewusstsein/Wissen des Wahrnehmens : zhī jué 知覺) zur »Natur« des Menschen erklärt. Demgegenüber hörte ich einst [von Wáng Yángmíng], dass das »wahrnehmende Wissen« und das »ursprüngliche Wissen« (liáng zhī 良知) den Wörtern nach gleich, der Sache nach aber verschieden sind. Alles Wissen (Bewusstsein) des Sehens (zhī shì 知視), Wissen des Hörens (zhī tīng 知聽), Wissen des Sprechens (zhī yán 知言), Wissen des Tätigseins (zhī dòng 知動) ist wahrnehmendes Wissen und ist nicht notwendig vollständig gut. Das »ursprüngliche Wissen« hingegen, [d. h.] das Wissen (Bewusstsein) des Mitleids (cèyǐn zhī zhī 惻隱之知), das Wissen der Scham und Entrüstung [gegenüber Unrecht], das Wissen der Ehrfurcht und Verehrung, das Wissen des Bejahens [des Richtigen] und Verneinens [des Falschen] (shì fēi zhī zhī 是非之知), ist das, was das »eigentlich Gute« (běnrán zhī shàn 本然之善) genannt wird. Das »eigentlich Gute« hat das Wissen (Bewusstsein) zu seiner Substanz (seinem Wesen) ; es kann sich nicht vom Wissen (Bewusstsein) trennen und eine davon verschiedene Substanz (ein davon verschiedenes Wesen) haben. Denn das Wahre der [dem Menschen einwohnenden] »Natur« des Himmels nimmt von selbst klar wahr (míng jué zìrán 明覺 自然) ; wenn es [von der Situation] angeregt wird, versteht es (suí gǎn ér tōng 隨感而通) und hat aus sich selbst eine Ordnung (zì yǒu tiáolǐ 自有條理). Deshalb heißt es »ursprüngliches Wissen« und heißt auch »Ordnungsprinzip des Himmels«. Das »Ordnungsprinzip des Himmels« ist die Ordnung des »ursprünglichen Wissens« (liáng zhī zhī tiáolǐ 良知之條理), und das »ursprüngliche Wissen« ist die



In den Kontroversen vorkommende Grundbegriffe 63

geisteskräftige Klarheit des »Ordnungsprinzips des Himmels« (tiān lǐ zhī língmíng 天理之靈明). Vom »wahrnehmenden Wissen« (zhī jué 知覺) kann man das nicht sagen.«

又舉《傳習錄》中云 : 「吾心之良知, 即所謂天理也。」謂此言亦 以知覺為性者。某嘗聞知覺與良知, 名同而實異。凡知視、知 廳、知言、知動皆知覺也, 而未必其皆善。良知者, 知惻隱、知羞 惡、知恭敬、知是非, 所謂本然之善也。本然之善, 以知為體, 不 能離知而別有體。蓋天性之真, 明覺自然, 隨感而通, 自有條理 者也。是以謂之良知, 亦謂之天理。天理者, 良知之條理 ; 良知 者, 天理之靈明。知覺不足以言之也。93 Ōuyáng Dé unterscheidet hier klar zwischen einem Bewusstsein, das auf sinnlich übermittelte Gehalte bezogen ist, und einem davon verschiedenen Wissen, das sich aufgrund der genannten Beispiele als ein in sich selbst verwurzelter moralischer Sinn für das Gute verstehen lässt. Nicht in den wahrnehmenden Sinnen, nur im moralischen Sinn drückt sich die Ordnung des Himmels aus. Er ist unser direkter Zugang zum moralischen Kern der Wirklichkeit. Das Verhältnis zwischen »ursprünglichem Wissen« und empirischem Wissen (»durch Sehen und Hören«) ist bis in die chinesische Philosophie des 20. Jahrhunderts diskutiert worden. Der konfuzianische Erneuerer ­X ióng Shílì 熊十力 (1885–1968), der sich grundsätzlich auf Wáng Yángmíng beruft, folgt diesem in der Interpretation der »Verwirklichung des Wissens« (zhì zhī 致知) im ersten Kapitel des Dàxué ; das gé wù 格物 dieses Kapitels will er aber im Sinne von Zhū Xī als »Untersuchung der Dinge« verstanden wissen. Nach Xióng müssen die Verwirklichung des »ursprünglichen Wissens« und die empirische Forschung gleichzeitig ( jiān 兼) erfolgen. Die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« ohne empirische Erkenntnis hängt im Leeren, aber das »ursprüngliche Wissen« muss die Grundlage der empirischen Forschung bilden, so dass Xióng die empiri93

OYDJ, S. 12.

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Einleitung

sche Forschung als »Funktion« (yòng 用) des ursprünglichen Wissens bezeichnen kann.94 Móu Zōngsān 牟宗三 (1909–1995) widmet das ganze dritte Kapitel seiner Schrift Wáng Yángmíngs Lehre von der Verwirklichung des ursprünglichen Wissens (»Probleme der Verwirklichung des Wissens«, »Zhì zhī yí nàn« 致知疑難) dem Problem des Verhältnisses zwischen dem »ursprünglichen« und dem sich Gegenstände gegenüberstellenden »empirischen Wissen« (zhī shí 知識).95 Er wirft Wáng Yángmíng vor, dass er in der »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« das dabei notwendige empirische gegenständliche Erkennen (ebenfalls : zhī shí 知識) übergehe. Móu selbst interpretiert Wáng Yángmíngs »ursprüngliches Wissen« als metaphysischen (xíng ér shàng 形而上), nicht individuellen, sondern universalen (kosmischen) Willen (yì zhì 意志). Er spricht auch vom »Herz des Himmels« (tiān xīn 天心), dessen eigenes Gesetz das »Ordnungsprinzip des Himmels« ist, und das »apriorisch« (xiān tiān 先天) das Gute und das Schlechte erkennt, wobei es sich für das Gute und gegen das Schlechte entscheidet. Indem dieser Wille sich »verwirklicht«, muss er sich notwendig in die individuellen, den faktischen Gegenständen gegenüberstehen Bewusstseine begeben, welche sowohl die praktischen Geschäfte (shì 事), z. B. den Dienst an den Eltern oder das Herstellen eines Stuhles, als auch die Ordnungsprinzipien der bloß gegenständlichen »Dinge« (wù 物), z. B. der Eltern oder des Stuhles, erkennen (zhī shí 知識). Der kosmische Wille sei die »Formursache« (xíngshì yīn 形式因), die Gesetze (Ordnungsprinzipien) der »Geschäfte« und »Dinge« seien die »Materialursache« (cáizhì yīn 材質因) der »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens«. Die individuellen empirisch-gegenständlichen Erkenntnisse dieser »Geschäfte« und »Dinge« sind aber letztlich in den metaphysischen apriorischen Willen (»ursprüngliches Wissen«) integriert, da dieser seinen ganzen Verwirklichungsprozess auslöst und dominiert.

Siehe Táng Jūnyì 唐君毅, Zhōngguó zhéxué yuánlùn 中國哲學原論, Dàolùn piān 道論篇, 2., veränderte Auflage (Hongkong : Xīnyà shūyuàn yánjiūsuǒ 新亞書院研 究所 [New Asia College], 1974), S. 337. 95 Móu Zōngsān, Wáng Yángmíng zhì liángzhī jiào 王陽明致良知教 (Táiběi : Zhōng­ yāng wénwù gòngyìngshè 中央文物供應社, 1954), S. 23–38. 94



Kurze Notiz zur Nachwirkung von Wáng Yángmíng 65

7.  Kurze Notiz zur Nachwirkung von Wáng Yángmíngs philosophischer Schule

Wáng Yángmíngs Schule blühte bis zum Ende der von chinesischen Kaisern und Beamten beherrschten Míng-Dynastie (1368–1644). Dann aber geriet das Land der Mitte bis 1911 unter die Herrschaft des Fremdvolkes der Mandschus, die nördlich von China siedelten und während ihrer Dynastie die Kaiser Chinas und viele hohe Beamte stellten. Dadurch wuchs China bis in die Mandschurei hinein und vergrößerte sich auch um andere Gebiete, über welche die Mandschus mehr oder weniger die Macht ausübten, so etwa die Innere Mongolei, Chinesisch-Turkestan (Xīnjiāng 新疆) und in geringerem Maße Tibet. Diese Fremddynastie nannte sich Qīng 清 (die »Reine«). Wáng Yángmíngs Schule wurde nach dem Fall der Míng-Dynastie von chinesischer Seite der Vorwurf gemacht, dass sie durch ihre immer wieder einberufenen Mitgliederversammlungen zum Thema des ethischen Verhaltens von der militärischen Gefahr der Mandschus abgelenkt habe. Seine Schule hatte während der Fremddynastie der Qīng keinen Einfluss mehr. Die chinesischen Gelehrten wandten sich historischen Studien vor allem über die »Fünf Klassiker« zu, die auch unter dieser Fremddynastie Maßstab der kaiserlichen Regierung blieben. Erst als 1911 diese Dynastie durch die Ausrufung der Republik fiel, kam langsam wieder Interesse an Wáng Yángmíng und seiner Schule auf. Hochgeschätzt wurde Wáng Yángmíng von Tschiang Kai-schek (Jiǎng Jièshí 蔣介石, 1887–1975), dem General der nationalistischen Truppen der Guómíndǎng (國民黨) und Präsidenten des republikanischen Chinas. Nach seiner Flucht vor den siegreichen kommunistischen Truppen unter Führung Máo Zédōngs 毛澤東 (1949) zusammen mit einem Rest seiner Armee und den Schätzen des Kaiserplalastes nach Taiwan benannte er einen Berg im Norden der Hauptstadt Taipeh offiziell als »Yángmíng shān« (陽明山), also »Berg von [Wáng] Yángmíng«. Anlässlich des 550. Geburtstages von Wáng Yángmíng (1472–1529) widmete das chinesische Zentralfernsehen eine ganze Sendung der Frage der fortwährenden Bedeutung des Philosophen für die heutige Zeit. Auch in offiziellen Verlautbarungen rät Xí Jìnpíng 習近平 jüngst in offener Anlehnung an die entsprechende Strömung im kaiserzeitlichen

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Einleitung

Konfuzianismus selbst den Parteikadern zu einem »Lernen des Herzens«. Und in einem Leitartikel der online-Ausgabe der Rénmín rìbào 人民日報 vom 9. August 2022 warnt er in Wáng Yángmíngs Worten vor »dem Dieb im Herzen« und ruft die Parteimitglieder zu einer Einheit von Wort und Tat auf.96 Inwieweit diese Bezugnahme auf Wáng und seine Schule Rückschlüsse über eine neue Wertschätzung seiner Philosophie zulässt, sei dahingestellt. Unabhängig davon ist Wáng Yángmíng heute sowohl in der Volksrepublik China als auch in Taiwan unter denen, die sich für chinesische Philosophie interessieren, vermutlich der am meisten studierte und diskutierte Philosoph des kaiserzeitlichen China.

96

»Die Parteikader müssen stets ›den Dieb im Herzen‹ zerschlagen« (黨員幹部要 常破“心中賊”) Rénmínwǎng 人民網, 9. Aug. 2022, http ://cpc.people.com.cn/ n1/2022/0809/c64387-32497842.html (Zugriff am 13.12.2022).

TE X TE UND ÜBERSE TZUNGEN

TEIL I Die Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

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! 朱子晚年定論序

[  W YMQJ, Bd. 1, S. 127 f. ]

陽明子序曰 洙、泗之傳,至孟氏而息。千五百餘年,濂溪、明 道始復追尋其緒;自後辨析日詳,然亦日就支離 決裂,旋復湮晦。吾嘗深求其故,大抵皆世儒之 多言有以亂之。 守仁早歲業舉,溺志詞章之習,既乃稍知從事正 學,而苦於眾說之紛撓疲𤻞,茫無可入,因求諸老、 釋,欣然有會於心,以為聖人之學在此矣。然於孔 子之教間相出入,而措之日用,往往缺漏無歸; 依違往返,且信且疑。

其後謫官龍場,居夷處困,動心忍性之餘,恍 若有悟,體驗探求,再更寒暑,登諸五經、四子,

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1 Wáng Yángmíngs Vorwort (1515) zu seiner Schrift Meister Zhū Xīs endgültige Lehre in seinen späten Jahren (publiziert 1518)1

Die wahre Tradition der konfuzianischen Lehre endete mit Mèngzǐ [ ca. 371 – 289 v. Chr. ].2 Erst 1500 Jahre später begannen Liánxī (Beiname von Zhōu Dūnyí 周敦頤, 1017 – 1073) und Míngdào (Beiname von Chéng Hào), wieder nach ihren großen Leitfäden zu suchen. Danach ist es zu immer weiter vereinzelten Unterscheidungen und damit auch immer mehr Verästelungen und Aufspaltungen gekommen, so dass ihre großen Leitfäden sich wiederum im Dunkel verloren. Ich habe gründlich nach den Ursachen gesucht und bin zum Schluss gekommen, dass das viele Gerede der Konfuzianer unserer Zeit diese [ Lehre ] verwirrt hat. Seit meiner Jugend hatte ich mich auf die Prüfungen für den Beamtendienst vorbereitet und war dabei in meinem Willen blind dem Schreiben schöner Aufsätze ergeben ; erst später erhielt ich eine Ahnung vom echten [ ethischen ] Lernen. Da ich also wenig von der Beschäftigung mit dem echten Lernen wusste, litt ich am verstörenden Durcheinander und der ermüdenden Weitläufigkeit der vielen [ konfuzianischen ] Lehren und fand keinen festen Ansatzpunkt. Deshalb wandte ich mich dem Daoismus und Buddhismus zu. Ich war glücklich, etwas zu finden, das meinem Herzen entsprach, und glaubte, dass sich das Lernen der heiligen Menschen bei diesen finde. Doch wichen sie von der Lehre des Konfuzius ab, und wenn ich sie im täglichen Leben anzuwenden versuchte, waren sie oft ungenügend und boten nichts, woran ich mich halten konnte. Bald stützte ich mich auf sie, bald setzte ich mich ihnen entgegen ; bald glaubte ich sie, bald zweifelte ich an ihnen. Später, als ich nach Lóngchǎng verbannt wurde und in Schwierigkeiten unter Nichtchinesen lebte3, wurde mein Herz zum Äußersten erschüttert, und ich übte mich zum Äußersten, das alles ertragen zu können. Ich erhielt

72 Die Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

沛然若決江河而放諸海也。然後嘆聖人之道坦 如大路,而世之儒者妄開竇逕,蹈荊棘,墮坑塹, 究其爲說,反出二氏之下。宜乎世之高明之士厭 128

此而趣彼也!此 | 豈二氏之罪哉? 間嘗以語同志,而聞者競相非議,自以為立異 好奇,雖每痛反深抑,務自搜剔斑瑕,而愈益精 明的確,洞然無復可疑;獨於朱子之說有相抵牾, 恆疚於心,切疑朱子之賢,而豈其於此尚有未察? 及官留都,復取朱子之書而檢求之,然後知其 晚歲固已大悟舊說之非,痛悔極艾,至以為自誑 誑人之罪,不可勝贖。世之所傳《集註》、 《或問》 之類,乃其中年未定之說,自咎以為舊本之誤, 思改正而未及,而其諸《語類》之屬,又其門人 挾勝心以附己見,固於朱子平日之說猶有大相 謬戾者,而世之學者局於見聞,不過持循講習

Wáng Yángmíngs Vorwort zu »Meister Zhū Xīs endgültige Lehre …«

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plötzlich so etwas wie eine tiefe Einsicht, bestätigte [ sie ] in meinen inners­ ten Erfahrungen und forschte ihr nach. Während des nächsten Winters und Sommers (1508/09) suchte ich dafür nach Bestätigungen in den »Fünf Klassikern« und in den »Vier Büchern«, und es war, wie wenn überaus zahlreich Flüsse und Ströme sich ins eine Meer ergießen. Darauf seufzte ich : Das Dao, der Weg der heiligen Menschen, ist eben und breit wie eine große Straße ; doch die Konfuzianer unserer Zeit öffneten Abwege und Seitenwege, gelangten ins Gestrüpp und fielen in Gruben, so dass ihre Lehren denjenigen der Daoisten und Buddhisten unterlagen ! Kein Wunder, dass die hellsten Geister unserer Zeit jener überdrüssig geworden und zu diesen übergelaufen sind. Ist das der Fehler der Daoisten und Bud­d histen ?! 4 Ich habe darüber mit Gleichgesinnten gesprochen. Doch diejenigen, die mir zuhörten, überboten sich darin, mir zu widersprechen und dagegen zu argumentieren, sie hielten es für etwas Ungewohntes und Neues, welches nur die Neugier wecken soll. Obschon ich jedes Mal den Schmerz zu unterdrücken versuchte und in Selbstprüfung meine Mängel auszumerzen strebte, wurde ich mir jedoch immer klarer und sicherer und verstand, dass kein Zweifel mehr möglich war. Nur mit der Lehre von Meister Zhū Xī gab es Widerstände, was mich im Herzen schmerzte ; ich fragte mich, wie die Weisheit von Meister Zhū Xī diese Wahrheit noch nicht hatte einsehen können. Als ich (1514 – 1516) in der ehemaligen Hauptstadt [ Nánjīng ] Beamter war, 5 nahm ich erneut die Werke von Meister Zhū [ X ī ] in die Hand. Nachdem ich sie erforscht hatte, erkannte ich, dass er sich in seinen späten Jahren mit Sicherheit der Falschheit seiner früheren Lehre bewusst wurde und dies so bedauerte, dass er schreiben konnte : »Der Fehler der Selbsttäuschung und der Täuschung anderer kann nicht gesühnt werden.«6 Seine überlieferten Gesammelten Erklärungen7 und Antworten auf Fragen8 enthalten die Lehren seiner mittleren, nicht seiner letzten Schaffensperiode. Er beschuldigte sich selbst, indem er meinte, dass er die Fehler der alten Fassung [ des Lernens der Großen ] nicht so weit korrigieren konnte, wie er es wünschte. Was aber zu den Aufgezeichneten, nach Themen angeordneten Gesprächen Meister Zhūs gehört, so haben seine Schüler darin eigenmächtig ihre eigenen Meinungen einfließen lassen, so dass Widersprüche zu Zhū Xīs üblichen Meinungen entstanden. Die Lernenden unserer Zeit aber

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Die Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

於此。其於悟後之論,概乎其未有聞,則亦何怪 乎予言之不信、而朱子之心無以自暴於後世 也乎? 予既自幸其說之不謬於朱子,又喜朱子之先得 我心之同,然且慨夫世之學者徒守朱子中年未 定之說,而不復知求其晚歲既悟之論,競相呶呶, 以亂正學,不自知其已入於異端;輒採錄而裒 集之,私以示夫同志,庶幾無疑於吾說,而聖學 之明可冀矣! 正德乙亥冬事一月朔,後學餘姚 王守仁序

Wáng Yángmíngs Vorwort zu »Meister Zhū Xīs endgültige Lehre …«

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beschränken sich auf das, was sie gelesen und gehört hatten, und repetieren und lernen nur dieses. Da sie das, was Meister Zhū nach seiner Einsicht lehrte, offensichtlich nicht vernommen haben, ist es nicht verwunderlich, dass sie meinen Worten nicht glauben. Hat sich damit das Herz von Meister Zhū durch die späteren Generationen nicht selbst Gewalt angetan ? Weil ich glücklich bin, dass meine Lehre nicht mit derjenigen von Meister Zhū widerstreitet, mich darüber freue, dass er das, worin unsere Herzen übereinstimmen, als Erster erlangte, weil die Gelehrten unserer Zeit zugleich leider nur an Meister Zhūs noch nicht endgültiger Lehre seiner mittleren Jahre festhalten und nicht nach seinen später, aufgrund seiner tiefen Einsicht geschriebenen Ausführungen zu suchen vermögen, sondern miteinander lärmend wetteifern, die richtige Lehre zu verwirren, und sich nicht bewusst sind, dass sie damit der Irrlehre anheimfallen, aus diesen Gründen habe ich Aufzeichnungen ausgewählt und zusammengestellt, in der Hoffnung, Gleichgesinnten zu zeigen, dass sie an meiner Lehre nicht zu zweifeln brauchen. So besteht für die Lehre der Heiligen (von Konfuzius und seinen echten Nachfolgern) Hoffnung ! Am ersten Tag des elften Mondes des Jahres yǐ hài der zhèngdé-Ära) als Vorwort geschrieben vom Schüler Wáng Shǒurén 9 aus Yúyáo.

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@ 大學古本原序

[ W YMQJ, Bd. 2, S. 1197 ]

《大學》之要,誠意而已矣。誠意之功,格物而已 矣。誠意之極,止至善而已矣。 正心,復其體也;修身,著其用也。以言乎己, 謂之明德;以言乎人,謂之親民;以言乎天地之間, 則備矣!是故至善也者,心之本體也;[。] 動而後有不善。意者,其動也;物者,其事也。 格物以誠意,復其不之動而已矣!不善復而體正, 體正而無不善之動矣!是之謂止至善。 聖人懼人之求之於外也,而反覆其辭。舊本析 而聖人之意亡矣!是故不本於誠意,而徒以格物 者,謂之支;不事於格物,而徒以誠意者,謂之虛;

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2 Wáng Yángmíngs erstes Vorwort (1518)10 zur alten Fassung des Lernens der Großen (Dàxué)

Die Hauptsache des Lernens der Großen besteht in nichts anderem als im »Aufrichtigmachen der Intentionen«11. Die Arbeit des »Aufrichtigmachens der Intentionen« besteht im »Berichtigen der Handlungen« (gé wù12). Der höchste Punkt des »Aufrichtigmachens der Intentionen« ist nichts anderes als das »Anhalten beim höchsten Guten«. Das »Gerademachen des Herzens« besteht in der Rückkehr zu seiner Substanz13 ; »das Kultivieren des eigenen Selbst« besteht im Manifestieren seiner Funktionen (scil. der Funktionen der Substanz des Herzens). In Beziehung auf sich selbst gesprochen meint dies das »[ Erhellen ] der hellen Tugendkraft« ; in Beziehung auf die anderen Menschen gesprochen meint dies das »Lieben des Volkes« ; in Beziehung auf alles zwischen Himmel und Erde gesprochen, ist dies vollständig. Daher ist das »Anhalten beim höchsten Guten« das eigentliche Wesen des Herzens. Erst durch das Auftreten von Tätigkeiten ist Nicht-Gutes vorhanden ; die Intentionen sind diese Tätigkeiten ; die »Dinge« sind die Angelegenheiten dieser Intentionen. Durch das Berichtigen der Dinge (Handlungen : gé wù) werden die Intentionen berichtigt, und dies ist nichts anderes als die Rückkehr zu seiner (= des Herzens) nicht [ von Äußerem ] bewegten [ Substanz ]. Wenn das Nicht-Gute rückgängig gemacht wurde, ist die Substanz gerade. Wenn die Substanz gerade ist, dann gibt es keine Tätigkeiten, die nicht gut wären. Dies bedeutet das Anhalten beim höchsten Guten. Da der heilige Mensch [ Konfuzius ] befürchtete, dass die Menschen [ das ethische Lernen ] im Äußeren suchen würden, hat er dasselbe mehrmals und in verschiedenen Worten gesagt.14 Doch die alte Fassung [ des Dàxué ] wurde [ von Zhū Xī ] zersplittert, und das Denken des heiligen Menschen [ Konfuzius ] ging dabei verloren. Deshalb muss das bloße »Untersuchen der Dinge« (gé wù) ohne seine Verwurzelung im »Aufrichtigmachen

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Die Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

支與虛與妄,其於至善也遠矣!合之以敬而益綴, 補之以傳而益離。吾懼學之日遠於至善也,去分 章而復舊本,傍為之什,以引其義,庶幾復見聖人 之心,而求之者有其要。噫!罪我者其亦以是 矣夫!

Wáng Yángmíngs erstes Vorwort zur alten Fassung des Lernens der Großen 79

der Intentionen« als etwas Zersplittertes bezeichnet werden und das bloße »Aufrichtigmachen der Intentionen« ohne das »Berichtigen der Handlungen« (gé wù) als etwas, das im Leeren hängt. Was aber zersplittert ist und im Leeren hängt, ist vom »höchsten Guten« weit entfernt. Wenn man dann [ w ie Zhū Xī15 ] die Sache mit der Ehrfurcht zusammenhalten will, fördert man nur noch das Flickwerk ; wenn man noch Kommentare hinzufügt16 , gerät die Sache nur noch mehr durcheinander. In der Befürchtung, dass das [ ethische ] Lernen sich täglich weiter vom »höchsten Guten« entfernt, habe ich die Kapiteleinteilungen weggelassen und bin zur alten Fassung zurückgekehrt ; ich habe einige Kleinigkeiten neben sie gestellt, um ihre Bedeutung hervorzuheben. So habe ich hoffentlich den Geist des heiligen Menschen [ Konfuzius ] sichtbar gemacht, damit diejenigen, die ihn suchen, das Wichtige davon erfassen. Diejenigen, die mich deshalb anschuldigen, müssen es eben damit (= mit diesem Geist) tun.

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# 與王陽明書(庚辰夏 [ 1.]

[ K ZJ, 108  – 112 ]

昨拜書,後一日始獲奉領所惠《大學古本》、

《朱子晚年定論》二編。珍感,珍感。 某無似,徃在南都,嘗蒙誨益。第苦多病,怯於 話言,未克傾吐所懐,以求歸于一是,恆用為歉。 去年夏,士友有以《傳習録》見示者。亟讀一過, 則凡向日所聞,徃徃具在,而他所未聞者尚多。 乃今又獲並讀二書,何其幸也!顧惟不敏,再 三尋繹,終未能得其旨歸,而向日有疑,嘗以面請 而未決者,復叢集而不可解。深惟執事所以惠教 之意,將不徒然。輙敢一二條陳,仰煩開示。率爾 之罪,度弘度之能容也。

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3  Brief von Luó Qīnshùn an Wáng Yángmíng vom Sommer 152017

[ 1. Dank für den Brief und die erhaltenen Schriften Wáng Yángmíngs, Bitte um Aufklärung darüber ]

Gestern beugte ich mich ehrfurchtsvoll über Ihren Brief18 und heute habe ich Ihre beiden Schriften Die alte Fassung des ›Lernens der Großen‹ und Festlegung der späten Lehre Zhū Xīs19 erhalten, mit denen Sie mich beehren. Welche Kostbarkeiten ! Ich unwürdiger Mensch hatte einst in der Südlichen Hauptstadt Ihre gütige Unterweisung empfangen. Weil ich darauf die Bitterkeiten des Krank­seins erfuhr, wurde ich zu ängstlich, um mit Ihnen zu sprechen. Schließlich habe ich mich nicht überwinden können, alles herauszusagen, was mir auf dem Herzen lag, um zu versuchen, zur einen Wahrheit zu gelangen. Dafür bitte ich Sie noch immer um Entschuldigung ! Im Sommer des vergangenen Jahres zeigten mir Freunde die Aufzeichnungen zum Üben des [ vom Lehrer ] Übermittelten20. Nachdem ich sie genau studiert hatte, erkannte ich, dass das, was ich bisher gehört hatte, darin häufig und dass solches, was ich bisher noch nie hörte, darin noch häufiger ist. Nun habe ich heute nochmals Ihre beiden gestern erhaltenen Schriften genommen und gelesen. Welche Freude ! Da ich schwer von Begriff bin, musste ich sie mehrmals zu entschlüsseln versuchen, aber verstand doch schließlich ihren Grundsinn nicht und hatte den ganzen Tag Zweifel. Auch wenn man von Angesicht zu Angesicht um Erklärung bittet, kann es sein, dass sich kein Verständnis einstellt ; auch wenn man viele andere Bücher zum Verständnis heranzieht, kann dieses ausbleiben. Nur dadurch, dass Sie, geehrter Herr, mir Ihre gütige Aufmerksamkeit zuwenden, wird es nicht vergeblich sein. So wage ich, Sie mit einigen Abschnitten zu belästigen, mit der Bitte, mir Klarheit zu verschaffen. Ihre Großzügigkeit wird meinen Leichtsinn ertragen können.

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[ 2.]

Die Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

切詳《大學古本》之復,蓋以人之為學,但當求 之於內,而程朱格物之說,不免求之於外,聖人 之意,殆不其然。於是遂去朱子之分章,而削其 所補之《傳》,直以支離目之,曽無所用。夫當仁 *讓,可謂勇矣。 竊惟聖門設教,文行兼資, 「博學於文〣」,厥 有明訓。顏淵稱夫子之善誘,亦曰「博我以文」。 文果內耶,外耶?是固無難辨者。凡程朱之所為 說,有戾於此者乎?如必以學不資於外求,但當

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反觀內省以為 | 務,則『正心』 『誠意』四字,亦 何不盡之有?何必於入門之際,便困以格物一段 工夫也?顧經旣有此文,理當尊信,又不容不有 以處之,則從而為之訓曰: 「物者,意之用也。

* SKQS liest 不, vgl. Yán Tāo, 1990, S. 108, Fn. 1.

Brief von Luó Qīnshùn an Wáng Yángmíng vom Sommer 1520

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[ 2. Kritik von Wáng Yángmíngs Verständnis des Anfangs des Lernens der Großen ]

Sie führen [ in Ihrem Vorwort ] zur Wiederherstellung der Alten Fassung des ›Lernens der Großen‹ im Einzelnen aus, dass der Mensch sein [ ethisches ] Lernen nur im Inneren suchen müsse, während er es nach Zhū [ Xī ] s und Chéng [ Yí ] s Lehre von der »Untersuchung der [ Ordnungsprinzipien der ] Dinge« (gé wù) unvermeidlich im Äußeren zu suchen habe. Doch die Absicht des heiligen Menschen [Konfuzius] sei, wie Sie vermuten, nicht so. Deshalb haben Sie Zhū [ Xī ] s Kapiteleinteilung [ des Dàxué ] und die von ihm beigefügten überlieferten Kommentare weggelassen und betrachten solches als Abweichungen ohne jeden Nutzen. Ihre Unnachgiebigkeit in der Menschlichkeit kann als Tapferkeit bezeichnet werden. Ich denke, dass nach der in der heiligen [ konfuzianischen ] Schule aufgestellten Lehre das Studium der Schriften und das Handeln beide zusammen [ das ethische Lernen ] unterstützen. Erst wenn man »weit in den Schriften lernt«21, erhält man eine klare Belehrung. [ Der Lieblingsschüler von Konfuzius ] Yán Yuān sprach von der guten Ermunterung des Meisters [ Konfuzius ] und sagte auch : »Er erweiterte mich durch die Schriften.«22 Sind die Schriften im Innern oder sind sie im Äußern ? Diese Frage lässt sich ohne Schwierigkeiten beantworten. Macht sich all das, womit Meister Chéng [ Yí ] und Zhū [ X ī ] ihre Lehre aufstellten, hier schuldig ? Wenn man beim Lernen nicht mit Hilfe von Äußerem suchen darf, sondern sich nur der reflexiven Schau und inneren Prüfung widmen soll, warum reichen dann die vier Wörter »[ das ] Herz begradigen, [ die ] Intentionen wahrhaftigmachen« nicht vollständig [ f ür das ethische Lernen ] aus, und warum ist es dann noch notwendig, die in die [ konfuzianische ] Schule Eintretenden mit der Anstrengung der »Untersuchung der Dinge« (gé wù) zu belästigen ? Wenn es im [ konfuzianischen ] Kanon diese Worte gibt, muss man sie selbstverständlich glauben und befolgen. Es geht nicht an, dass man nichts hat, um sie zu behandeln, um dann von diesem Punkt ausgehend zu erklären : »Die Angelegenheiten sind die Funktionen der Intentionen. Gé [ im Ausdruck »gé wù« ] bedeutet ›berichtigen‹, nämlich das Nicht-Richtige berichtigen, so dass es zum Richtigen zurückgeführt wird.« Mit einer solchen Belehrung wollen Sie [ das ethische Lernen ] veranlassen, sich auf das

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格者,正也,正其不正,以歸于正也。」其為訓如 此,要使之內而不外,以會歸一處。 亦嘗就以此訓推之,如曰: 「意用於事親,即 事親之事而格之,正其事親之事之不正者,以歸 于正,而必盡夫天理。」蓋猶未及知字,已見其繳 繞迂曲而難明矣。審如所訓,茲惟《大學》之始, 茍能即事即物,正其不正以歸於正,而皆盡夫天 理,則心亦既正矣,意亦既誠矣。繼此,誠意、 正心之目,無乃重復堆疊而無用乎? [ 3.]   「大哉乾元,萬物資始」, 「至哉坤元,萬物資生」。

凡吾之有此身,與夫萬物之為萬物,孰非出於乾 坤?其理固皆乾坤之理也。自我而觀,物固物也, 以理觀之,我亦物也,渾然一致而已,夫何分於 內外乎!所貴乎格物者,正欲即其分之殊,而有 見乎理之一,無彼無此,無欠無餘,而實有所統會,

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Innere und nicht auf das Äußere zu richten, um es zur Einheit zurückzu­ führen. Aufgrund dieser Belehrung haben Sie einmal den Schluss gezogen : »Wenn die Intentionen im Dienst an den Eltern fungieren, das heißt, wenn man die Sache des Dienstes an den Eltern berichtigt (gé) und so das Unrichtige in dieser Sache berichtigt, um es zum Richtigen zurückzuführen, dann schöpft man dabei notwendigerweise das Ordnungsprinzip des Himmels aus.« Da hier das Erkennen [ des Ordnungsprinzips ] mit keinem Wort erwähnt ist, wird die Verwirrung [ d ieses Schlusses ] deutlich und verständlich. Wenn man Ihre Belehrung untersucht, so ist dies nur der Beginn des Lernens der Großen. Wenn man bei jeder Angelegenheit und Sache fähig ist, das Unrichtige zu berichtigen, um es dadurch zum Richtigen zurückzuführen, und dabei überall das Ordnungsprinzip des Himmels auszuschöpfen, dann ist das Herz auch schon richtig und die Intentionen sind auch schon wahrhaftig. Wenn man auf diese Weise fortfährt, sind dann die Themen des Berichtigens des Herzens und des Wahrhaftigmachens der Intentionen nicht einfach ein Haufen von Wiederholungen ohne Nutzen ? [ 3. Darstellung des eigenen Verständnisses des Anfangs des Lernens der Großen ]

»Groß ist der Ursprung des zeugenden Qián, aus ihm speist sich der Anfang aller Dinge.«23 »Vollkommen ist der Ursprung des empfangenden Kūn, aus ihm speist sich das Leben aller Wesen.«24 Mein ganzer Leib und mein ganzes Leben ist eines unter allen Wesen ; wie könnte es nicht aus dem Qián und dem Kūn hervorgehen ? ! Die Ordnungsprinzipien aller Wesen sind sicher allesamt das Ordnungsprinzip von Qián und von Kūn. Von meinem Gesichtspunkt aus betrachtet ist ein Wesen sicher ein [ von den anderen unterschiedenes ] Wesen ; vom Gesichtspunkt des Ordnungsprinzips aus betrachtet, bin auch ich ein Wesen [ w ie die anderen ] ; es ist nichts anderes als eine ungeschiedene Einheit, wie könnte man zwischen Innerem und Äußerem scheiden ? Das Wertvolle des gé wù – des Untersuchens der Dinge – besteht gerade im gleichzeitigen Streben nach dem Differenzieren der Unterschiede und Sehen der Einheit des Ordnungsprinzips25 [ in allen verschiedenen Wesen ], ohne Dieses und Jenes, ohne Zuwenig oder

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夫然後謂之知至,亦即所謂知止,而大本於是乎 可立,達道於是乎可行,自誠、正以至於治、平, 庶乎可以一以貫之而無遺矣。然學者之資稟不齊, 工夫不等,其能格與否,或淺或深,或遲或速, 詎容以一言盡哉? 惟是聖門《大學》之教,其道則無以易,此學 者所當由之以入,不可誣也。外此或誇多而鬬靡, 則溺於外而遺其內;或厭繁而喜徑,則局於內而 遺其外。溺於外而遺其內,俗學是已;局於內而 遺其外,禪學是已。凡為禪學之至者,必自以為 明心見性,然於天人物我,未有不二之者,是可 謂之有真見乎?使其見之果真,則極天下之至賾 而不可惡,一毛一髮皆吾體也,又安肯叛君父, 捐妻子,以自陷於禽獸之域哉!今欲援俗學之溺,

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Zuviel, sondern in wirklicher Verbindung und Vereinigung. Erst dann kann von der »Vollendung des Erkennens« gesprochen werden. Es ist auch das, was [ im Dàxué ] das »Wissen um das Anhalten [ beim höchsten Guten ]« genannt wird. Damit ist die große Grundlage errichtet. Das Erlangen des Dao kann dadurch (d. h. durch diese grundlegende Erkenntnis) praktiziert werden, vom »Wahrhaftigmachen [ der Intentionen ]« und dem »Gerademachen [ des Herzens ]« bis zum »Regieren des Landes« [ im Dàxué ] kann alles vereinigt und in einen Zusammenhang gebracht werden, ohne dass dabei etwas vernachlässigt würde. Doch die Veranlagungen der Lernenden sind nicht gleich, ihre Anstrengungen sind unterschiedlich, ihre Fähigkeiten oder Unfähigkeiten im Untersuchen (gé) [ des Ordnungsprinzips in den Dingen ] sind oberflächlich oder tief, sie sind [ im Verstehen ] langsam oder schnell. Wie könnte dies in ein Wort gefasst werden ! Nur das ist die Lehre des Lernens der Großen der heiligen Schule [ des Konfuzius ]. Ihr Dao hat nichts, das abgeändert (oder : ausgetauscht) werden könnte ; von hier muss der Lernende ausgehen, um [ in sie ] einzudringen. Man darf es nicht fälschlicherweise anklagen. Wenn man außerhalb davon mit dem Vielen prahlt und über Übermäßiges streitet, dann verliert man sich im Äußeren und vernachlässigt das Innere ; oder wenn man der vielen Mühen überdrüssig ist und sich am Leichten erfreut, dann beschränkt man sich auf das Innere und vernachlässigt das Äußere. Wenn man sich im Äußeren verliert und das Innere vernachlässigt, dann ist dies die gewöhnliche, gemeine Lehre ; wenn man sich auf das Innere beschränkt und das Äußere vernachlässigt, dann ist dies die Lehre des ChánBuddhismus. Nun meint jeder, der zur Vollendung des Chán-Buddhismus gelangt ist, dass er sicherlich »durch die Erleuchtung des Herzens zur Sicht der [ Buddha ]-Natur« gekommen sei. Doch kann man dies angesichts des Umstandes, dass es in Bezug auf [ das Verhältnis von ] Himmel und Mensch, von Dingen und Ich unmöglich keine Dualität gibt, als wahre Sicht bezeichnen ? Falls diese Sicht wahr sein sollte, dann ließe sich nicht einmal die größte Absurdität der ganzen Welt als ein Übel bezeichnen, und jedes einzelne Bart- oder Nackenhaar wäre gleich meinem Körper. Darüber hinaus würde man ruhigen Mutes einwilligen, sich gegen Herrscher und Vater aufzulehnen und Frau und Kinder zu verwerfen, und damit auf die Stufe eines Tieres fallen. Will man nun das Abgleiten in vulgäre Gelehrsamkeit

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而未有以深杜禪學之萌,使夫有志於學聖賢者, 將或昧於所從,恐不可不過為之 | 慮也。

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[ 4.] […]

是則見道固難,而體道尤難。道誠未易明,而學 誠不可不講,恐未可安於所見,而遂以為極則 也。 [ 5.]

某非知道者,然黽勉以求之,亦有年矣。駸尋衰 晚,茫無所得,乃欲與一代之英論學,多見其不 知量也。雖然,執事平日相與之意,良不薄矣,

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beheben, ohne zuvor gründlich die Keime zu unterbinden ? Wenn man bei den Heiligen und Weisen lernen will, aber blind gegenüber dem ist, was zu befolgen ist, dann vermute ich, dass man hierüber kaum zu viel überlegen kann. [ 4. K  ritik an Wáng Yángmíngs Schrift Meister Zhū Xīs endgültige Lehre in seinen späten Jahren* ]

Wenn es so ist, dann ist es gewiss schwierig, das Dao zu sehen. Das Dao persönlich zu erfahren aber ist noch schwieriger ; das Dao ist wahrlich nicht leicht klar zu machen, aber [ sein ] Lernen muss wahrhaft erläutert werden. Ich befürchte, bei dem, was [ ich ] sehe, noch nicht sicher sein zu können, und dieses danach gleichwohl für die oberste Regel zu halten. [ 5. Schlusswort des Briefes. Hoffnung auf die Belehrung durch einen Antwortbrief ]

Ich kenne das Dao nicht, aber ich bemühe mich seit Jahren, es zu suchen. Ich suche eilend herum, bin geschwächt und ermattet und erlange doch in der großen Weite nichts. Aber freilich sehe ich mehr und mehr, dass der Wunsch, durch die Tapferkeit eines Menschenalters das [ ethische ] Lernen darlegen zu können, die eigenen Grenzen nicht sieht. Dennoch, mein edler Herr, ist Ihre stete Absicht, gegenseitige Beziehungen zu pflegen, von nicht * Anm. des Übersetzers: Eine Übersetzung dieser Kritik, die auf einzelne von Wáng Yáng-

míng in seiner Textzusammenstellung zitierte Stellen aus Zhū Xīs Briefen und aus einem Text eines anderen Autors seiner Schule eingeht, wird hier nicht vorgelegt. Eine solche führte in sehr viele Einzelheiten von Zhū Xīs Lehre und deren Interpretation, die den Rahmen dieses Bandes sprengen würden. Historisch gesehen hat Luó Qīnshùn in seiner Kritik völlig recht: Texte Zhū Xīs, die Wáng Yángmíng als Texte aus dessen späten Jahren präsentiert, stammen aus seinen mittleren Jahren, und es gibt keinen Gegensatz zwischen Zhū Xīs Lehre seiner mittleren und seiner späten Jahre. In seinem Antwortbrief gibt Wáng Yángmíng dies auch zu (siehe Punkt 7 dieses Briefes). Besonders von den Anhängern Zhū Xīs ist Wáng Yángmíngs missglückter Versuch, Zhū Xī auf seine Seite zu ziehen, als ein Betrugsversuch scharf kritisiert worden; dabei stellten sie auch Wáng Yángmíngs moralische Integrität in Frage. Luó Qīnshùn schließt seine Kritik an der erwähnten Schrift Wáng Yángmíngs mit den hier folgenden Worten, die Wáng Yángmíng in seinem Antwortbrief gleich zu Beginn aufgreifen wird.

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雖則駑鈍,心誠感慕而樂求教焉。一得之愚, 112

用悉陳之而 | 不敢隱。其他節目,所欲言者頗多, 筆硯久疏,收拾不上。然其大要亦略可睹矣。 伏惟經略之暇,試一觀焉,還賜一言,以決其可 否。幸甚。

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geringer Güte ; selbst wenn ich geistig schwerfällig bin, sehnt sich mein Herz doch wahrhaft danach und sucht darin mit Freude Belehrung. Es ist wohl von Nutzen, Ihnen das eine, das ich Dummkopf erfasst habe, vorzulegen. Ich wage nicht, es zu verbergen. Über andere Fragen möchte ich vieles sagen, aber schreibe seit langem nichts darüber ; ich behalte es zurück und lege es Ihnen nicht vor. Aber die Hauptpunkte davon sind doch [ durch meinen Brief ] ersichtlich. Auch wenn Sie nur ein bisschen Muße finden, so schauen Sie es doch an ! Und schenken Sie mir alsdann ein Wort darüber, damit ich über seine Richtigkeit entscheiden kann. Das wird für mich ein großes Glück sein !

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$ 答羅整庵少宰書 [ 1.]

[ W YMQJ, Bd. 1, S. 75 – 78 ]

某頓首啟:昨承教及《大學》,發舟匆匆,未能奉 答。曉來江行稍暇,復取手教而讀之。恐至贛後 人事復紛沓,先具其略以請。

[ 2.]

來教云: 「見道固難,而體道尤難。道誠未易明, 而學誠不可不講。恐未可安於所見而遂以為極 則也。」幸甚幸甚!何以得聞斯言乎?其敢自以為 極則而安之乎?正思就天下之有道以講明之耳。 而數年以來,聞其說而非笑之者有矣,詬訾之者 有矣,置不足較量辨議之者有矣,其肯遂以教

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4  Antwortbrief Wáng Yángmíngs an Luó Qīnshùn vom Herbst 152026

[ 1. Über die Umstände des Empfangs und der Lektüre des Briefes von Luó Qīnshùn ]

Ich verneige mich und teile Ihnen folgendes mit : Gestern habe ich Ihren Brief über das Lernen der Großen empfangen, aber da das Boot alsbald in Eile seine Fahrt fortsetzte, konnte ich Ihnen nicht antworten.27 Diesen Morgen, während der Fahrt auf dem [ Gàn- ] Fluss, hatte ich etwas Muße, nahm erneut Ihren Brief in meine Hände und las ihn. Da ich befürchte, nach der Ankunft in Gànzhōu von den dortigen Angelegenheiten ganz in Anspruch genommen zu werden, antworte ich Ihnen nun kurz gefasst. [ 2. D  as Dao muss zuerst in der eigenen Erfahrung verkörpert (praktiziert) werden (tǐ dào 體道), erst danach kann es gesehen werden ; es ist nicht so, dass man erst nach dem Sehen des Dao noch die Anstrengung des ­Praktizierens des Dao hinzufügen muss. ]

In Ihrem Brief schreiben Sie : »Das Dao zu sehen ist gewiss schwierig. Das Dao persönlich zu erfahren aber ist noch schwieriger ; das Dao ist wahrlich nicht leicht klar zu machen, aber [ sein ] Lernen muss wahrhaft erläutert werden. Ich befürchte, bei dem, was [ ich ] sehe, noch nicht sicher sein zu können und dieses danach gleichwohl für die oberste Regel zu halten.« Welch ein Glück, ein solches Wort zu vernehmen ! Wie könnte ich es wagen, etwas für die oberste Regel zu halten und dabei sicher zu sein ? Ich denke gerade daran, mich an diejenigen in der Welt zu halten, welche am Dao teilhaben, und dieses klar zu machen. Aber seit einigen Jahren gibt es Leute, die [ meine ] Reden hören, sie ablehnen und darüber lachen ; Leute, die sie beschimpfen und verleumden ; Leute, die sie zur Seite legen, da sie sie für eine Diskussion für zu wenig wichtig halten. Sind Sie denn gewillt, mich zu

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我乎?其肯遂以教我,而反覆曉諭,惻然惟恐不 及救正之乎?然則天下之愛我者,固莫有如執事 之心深且至矣!感激當何如哉! 夫德之不修,學之不講,孔子以為憂。而世之 學者稍能傳習訓詁,即皆自以為知學,不復有所 謂講學之求,可悲矣!夫道必體而後見,非已見 道而後加體道之功也;道必學而後明,非外講學 而復有所謂明道之事也。然世之講學者有二: 有講之以身心者;有講之以口耳者。講之以口耳, 揣摸測度,求之影響者也;講之以身心,行著 習察,實有諸己者也,知此則知孔門之學矣。 [ 3.]

來教謂某「《大學》古本之復,以人之為學但當 求之於內,而程、朱格物之說不免求之於外,

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belehren ? Sind Sie gewillt, mich zu belehren und mir immer neue Erklärungen zu geben, und fürchten Sie denn in Ihrer Barmherzigkeit (wirklich) nur, mir nicht zu meiner Berichtigung helfen zu können ? Wenn dem so ist, dann gibt es in der Welt nichts, das mir so zugeneigt ist, wie Ihr tiefes und vollkommenes Herz, mein edler Herr. Wie dankbar muss ich Ihnen sein ! Konfuzius hielt es für seinen Kummer, dass er die Tugendkraft nicht pflege und das [ ethische ] Lernen nicht erörtere.28 Doch die Gelehrten der Welt glauben, dass sie selbst um das [ ethische ] Lernen wissen, sobald sie sich fähig nennen können, das Gelernte weiterzugeben und Erläuterungen [ der kanonischen Texte ] abzugeben ; sie suchen nicht mehr danach, was das Erörtern des Lernens genannt wird. Wie sind sie zu bedauern ! Nun muss aber das Dao zuerst mit dem eigenen Leib erfahren werden, erst danach kann es gesehen werden ; es ist nicht so, dass man, nachdem man das Dao gesehen hat, erst noch die Anstrengung der Praktizierung des Dao hinzufügen muss.29 Das Dao muss [ praktisch ] gelernt werden, erst danach wird es hell ; es ist nicht so, dass man erst an die sogenannte Aufgabe der Erhellung des Dao herangehen muss, nachdem man im Äußeren das Lernen erörtert hat. In der Welt gibt es zwei Arten, das Lernen zu erörtern : Es gibt solche, die das Lernen mit Leib und Seele (ihrem Leib und ihrem Herzen) erörtern, und solche, die das Lernen mit ihrem Mund und ihren Ohren erörtern. Diejenigen, die das Lernen mit ihrem Mund und mit ihren Ohren erörtern, mutmaßen und raten ; es sind diejenigen, die bloß nach Schatten und Widerhall jagen. Diejenigen, die mit ihrem Leib und ihrem Herzen das Lernen erörtern, handeln, indem sie sich ans Üben und Überprüfen halten. Es sind in Wahrheit diejenigen, die es in sich selbst haben. Wenn man um dieses weiß, dann weiß man um das Lernen des Konfuzius. [ 3. Das ethische Lernen besteht nicht im Suchen im Äußeren, sondern im »Erlangen durch das Herz (den Geist)«. Die alte Fassung des Lernens der Großen ]

Ihr Brief äußert die Meinung, dass gemäß meiner Wiederherstellung der Alten Fassung des ›Lernens der Großen‹ der Mensch sein [ ethisches ] Lernen nur im Inneren suchen müsse, während er es nach Zhū [ Xī ] s und Chéng [ Yí ] s Lehre von der »Untersuchung der Dinge« (gé wù) unvermeidlich im

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遂去朱子之分章而削其所補之傳」。非敢然也。 學豈有內外乎? 《大學》古本乃孔門相傳舊本耳。 朱子疑其有所脫誤,而改正補緝之。在某則謂其 本無脫誤,悉從其舊而已矣。失在於過信孔子則 76

有之,非故 | 去朱子之分章而削其傳也。 夫學貴得之心。求之於心而非也,雖其言之出 於孔子,不敢以為是也,而況其未及孔子者乎! 求之於心而是也,雖其言之出於庸常,不敢以為 非也,而況其出於孔子乎! 且舊本之傳數千載矣,今讀其文詞,既明白而 可通;論其工夫,又易簡而可入,亦何所按據而 斷其此段之必在於彼,彼段之必在於此,與此 之如何而缺,彼之如何而補?而遂改正補緝之, 無乃重於背朱而輕於叛孔已乎?

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Äußeren zu suchen habe. Deshalb hätte ich Zhū Xīs Kapiteleinteilung [ des ­Dàxué ] und die von ihm beigefügten überlieferten Kommentare weggelassen. Dies wage ich nicht zu bestätigen. Wie hätte das Lernen ein Inneres und ein Äußeres ! Die alte Fassung des Lernens der Großen ist der überlieferte Text der Schule des Konfuzius. Meister Zhū [ X ī ] hatte den Verdacht, dass darin Stücke verloren gegangen waren und sich Fehler eingeschlichen hatten, und hat daher Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen. Nach meiner Auffassung sind in diesem [ überlieferten ] Text keine Stücke verloren gegangen und es haben sich keine Fehler eingeschlichen, und ich mache nichts anderes, als seinem alten Zustand zu folgen. Wenn darin der Fehler bestünde, zu sehr Konfuzius zu glauben, dann wäre er [ bei mir ] vorhanden. Aber er (= mein Fehler) besteht nicht darin, dass ich die Kapiteleinteilung und die Kommentare weggelassen habe. Nun besteht der Wert des Lernens im Erlangen durch das Herz. 30 Wenn ich etwas im Herzen prüfe und es als falsch erkenne, dann wage ich es nicht als richtig zu betrachten, selbst wenn es Konfuzius so sagte, umso weniger, wenn es von jemandem stammt, der das Niveau von Konfuzius nicht erreichte. Wenn ich etwas im Herzen prüfe und als richtig erkenne, dann wage ich es nicht als falsch zu betrachten, selbst wenn es aus dem Mund eines Gewöhnlichen stammt, umso weniger, wenn es von Konfuzius gesagt wurde. Weiter ist die alte Fassung des Lernens der Großen durch einige tausend Jahre überliefert worden. Wenn wir heute seinen Text lesen, so ist er klar und ist innerlich zusammenhängend ; in Hinsicht auf die ethische Anstrengung ist er einfach, und man weiß, womit man bei ihr zu beginnen hat. Auf welcher Grundlage wurde denn entschieden, dass dieser Abschnitt dorthin und jener Abschnitt hierhin gehört, wie bei diesem etwas lückenhaft ist, und wie jenes zu ergänzen ist, und so Korrekturen und Ergänzungen angebracht ? Nehmen Sie nicht die Abwendung von Meister Zhū (Xī) für wichtiger als die Auflehnung gegen Konfuzius ? !31

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[ 4.]

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來教謂: 「如必以學不資於外求,但當反觀內省 以為務,則正心誠意四字亦何不盡之有?何必於 入門之際,便困以格物一段工夫也?」誠然誠然。 若語其要,則修身二字亦足矣,何必又言正心?正 心二字亦足矣,何必又言誠意?誠意二字亦足矣, 何必又言致知,又言格物?惟其工夫之詳密,而 要之只是一事,此所以為精一之學,此正不可不 思者也。 夫理無內外,性無內外,故學無內外;講習討論, 未嘗非內也;反觀內省,未嘗遺外也。 夫謂學必資於外求,是以己性為有外也,是義 外也,用智者也;謂反觀內省為求之於內,是以 己性為有內也,是有我也,自私者也:是皆不知

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[ 4. D  ie Einheit des ethischen Lernens. Es besteht weder im Suchen im Äußeren noch im Suchen im Inneren ]

In Ihrem Brief steht : »Wenn man beim Lernen nicht mit Hilfe von Äußerem suchen darf, sondern sich nur der reflexiven Schau und inneren Prüfung widmen soll, warum reichen dann die vier Wörter ›[ das ] Herz begradigen, [ die ] Intentionen wahrhaftigmachen‹ nicht vollständig [ f ür das ethische Lernen ] aus, und warum ist es dann noch notwendig, in der Schule die Lernenden mit der Anstrengung des gé wù (nach Zhū Xīs Interpretation zu übersetzen als ›Untersuchung der Ordnungsprinzipien der Dinge‹) zu belästigen ?« Wahrhaft, so [ w ie Sie schreiben ] ist es, wahrhaft, so ist es : Wenn man nur die Hauptsache sagen will, dann genügen auch die beiden Wörter, »[ die eigene ] Person kultivieren« [ aus dem Grundkapitel des Dàxué ] ; was braucht man da noch vom »Gerademachen des Herzens« zu sprechen ? Auch mit den zwei Wörtern »[ das ] Herz begradigen« ist es so. Was braucht man da noch vom »Wahrhaftigmachen der Intentionen« zu sprechen ? ! Die zwei Wörter »[ die ] Intentionen wahrhaftigmachen« reichen auch aus. Was braucht man noch vom »Ausweiten (in Wáng Yángmíngs Interpretation : »Verwirklichen«) des Wissens« und vom gé wù (in der Interpretation Wáng Yángmíngs zu übersetzen als »Berichtigen der Handlungen«) zu sprechen ? Nur zur Verdeutlichung der ethischen Anstrengung braucht es dies, aber es ist nur eine einzige Sache. Es ist das, was das »Lernen des Feinen und Einheitlichen«32 genannt wird. Dies ist zu bedenken. Nun unterscheidet sich das Ordnungsprinzip nicht in ein Inneres und ein Äußeres, die Wesensnatur hat kein Inneres und Äußeres ; deshalb hat auch das Lernen kein Inneres und Äußeres. Erläutern, Üben, miteinander Diskutieren sind auch innerlich ; sich [ auf sein Herz ] Zurückwenden und im Inneren Prüfen verlieren das Äußere nicht. Wenn man nun sagt, dass das [ ethische ] Lernen sich vom Suchen im Äußeren nähren muss, so heißt dies, dass man die eigene Wesensnatur zu etwas Äußerem macht, dass Gerechtigkeit etwas Äußeres ist, dass sie etwas ist, das sich die Schlauheit zu Diensten macht. Wenn man sagt, dass das auf sich selbst Zurückschauen und innere Prüfen ein Suchen im Inneren ist, so heißt dies, dass man die eigene Wesensnatur zu etwas im Inne­ren macht ; dass sie etwas ist, das ein Ich hat, das egoistisch ist. Beide

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性之無內外也。故曰:精義 入神,以致用也; 利用安身,以崇德也;性之德也,合內外之道也。 此可以知格物之學矣。格物者, 《大學》之實下手 處,徹首徹尾,自始學至聖人,只此工夫而已。 非但入門之際有此一段也。 夫正心誠意、致知格物,皆所以修身而格物者, 其所用力,日可見之地。故格物者,格其心之物 也,格其意之物也,格其知之物也;正心者,正其 物之心也;誠意者,誠 其物之意也;致知者, 致其物之知也:此豈有內外彼此之分哉! 理一而已。以其理之凝聚而言,則謂之性; 77

以其凝聚之主宰 | 而言,則謂之心;以其主宰之 發動而言,則謂之意;以其發動之明覺而言,則 謂之知;以其明覺之感應而言,則謂之物。故就 物而言謂之格;就知而言謂之致;就意而言謂之

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Meinungen verkennen, dass die Natur weder ein Inneres noch ein Äußeres hat. Deshalb heißt es [ im Klassiker der Wandlungen und im Buch der Mitte (Zhōngyōng) ] : »Der feine Sinn für Gerechtigkeit dringt in das Geistige ein, um dessen Auswirkungen zu verwirklichen ; das Fördern der Auswirkungen sichert das leibliche Leben, um die Tugendkraft zu erhöhen.«33 »Die Kraft der Wesensnatur vereinigt den Weg des Inneren und des Äußeren.«34 Aus diesem Grund können wir um das Lernen des »Berichtigens der Handlungen« (gé wù) wissen. Das »Berichtigen der Handlungen« ist im Lernen der Großen der Ort, wo wir im [ ethischen Lernen ] die Hand anlegen. Vom Anfang bis zum Ende, vom Anfänger bis zum heiligen Menschen, gibt es nur diese [ ethische ] Anstrengung ; es gibt diesen Bestandteil nicht nur an der Schwelle des Eintretens in die Schule. Nun sind das Berichtigen des Herzens und das Wahrhaftigmachen der Intentionen, das Ausdehnen des Wissens und das Berichtigen der Handlungen (gé wù) das, wodurch die eigene Person kultiviert wird. Doch das Berichtigen der Handlungen (gé wù) ist die Stelle, an der täglich die Kraftanwendung sichtbar wird. Daher ist das gé wù das Berichtigen der Handlungen des Herzens, das Berichtigen der Handlungen der Intentionen, das Berichtigen der Handlungen des Wissens ; das Richtigmachen des Herzens ist das Richtigmachen des Herzens der Handlungen ; das Wahrhaftig­ machen der Intentionen ist das Wahrhaftigmachen der Intentionen der Handlungen ; das Ausdehnen des Wissens ist das Ausdehnen des Wissens der Handlungen. Wie könnte es hier eine Trennung zwischen Innerem und Äußerem, zwischen diesem und jenem geben ? ! Das [ kosmische ] Ordnungsprinzip ist eines. Wenn man von der Kondensation des Ordnungsprinzips spricht, redet man von der Wesens­natur [ des Menschen ] ; wenn man vom Herrschenden dieser Kondensation spricht, redet man vom Herzen ; wenn man von den sich äußernden Tätigkeiten dieses Herrschenden spricht, redet man von den Intentionen, wenn man vom klaren Bewusstsein dieser sich äußernden Tätigkeiten spricht, redet man von Wissen ; wenn man vom Erregtwerden und Antworten dieses klaren Bewusstseins spricht, redet man von Handlungen (wù). Deshalb redet man von Berichtigen (gé), wenn man von den Handlungen spricht ; redet man vom Ausdehnen, wenn man von Wissen spricht ; redet man von Wahrhaftigmachen, wenn man von den Intentionen spricht ; ­redet von

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Die Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

誠;就心而言謂之正:正者,正此也;誠者,誠此 也;致者,致此也;格者,格此也。皆所謂窮理以 盡性也。天下無性外之理,無性外之物。學之不明, 皆由世之儒者認理為外,認物為外,而不知義外 之說,孟子蓋嘗闢之,乃至襲陷其內而不覺, 豈非亦有似是而難明者歟?不可以不察也。 [ 5.]

凡執事所以致疑於格物之說者,必謂其是內而 非外也;必謂其專事於反觀內省之為,而遺棄其 講習討論之功也;必謂其一意於綱領本原之約, 而脫略於支條節目之詳也;必謂其沈溺於枯槁 虛寂之偏,而不盡於物理人事之變也。審如是, 豈但獲罪於聖門,獲罪於朱子,是邪說誣民,叛 道亂正,人得而誅之也,而況於執事之正直哉?

Antwortbrief Wáng Yángmíngs an Luó Qīnshùn vom Herbst 1520

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Begra­d igen, wenn man vom Herzen spricht. Das Begradigen redet vom Begradigen von diesem [ dem Herzen ] ; das Wahrhaftigmachen redet vom Wahrhaftigmachen von diesem [ den Intentionen ] ; das Ausdehnen redet vom Ausdehnen von diesem [ dem Wissen ] ; das Berichtigen redet vom Berichtigen von diesem [ den Handlungen ]. Alles dies ist das, was als »den Ordnungsprinzipen auf den Grund gehen, um die Wesensnatur [ des Menschen ] auszuschöpfen«35, bezeichnet wird. Auf der Welt gibt es außerhalb der Wesensnatur keine Ordnungsprinzipien und außerhalb der Wesens­ natur keine Handlungen (wù). Die Unklarheit des Lernens kommt daher, dass die weltlichen Konfuzianer meinen, dass die Ordnungsprinzipien etwas Äußerliches seien und dass die wù (praktischen Angelegenheiten) etwas Äußerliches seien ; sie wissen nicht, dass Mèngzǐ die Lehre von der Äußerlichkeit der Gerechtigkeit kritisierte und sie fallen in unrichtiger Nachfolge in sie hinein, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ist es denn schwer zu verstehen, dass dies trotz des Anscheins von Richtigkeit falsch ist ? Dies gilt es zu prüfen ! [ 5. Luó Qīnshùns Kritik an der Lehre des »gé wù« als Berichtigen der ­Handlungen beruht auf dem Missverständnis, dass sich diese Lehre nur mit »reflexiver Schau und innerer Prüfung« beschäftigt ]

All Ihr Zweifel, geehrter Herr, hinsichtlich meiner Lehre vom Berichtigen der Handlungen (gé wù) gründet in Ihrer Meinung, dass sie als innerlich und nicht als äußerlich bezeichnet werden müsse, dass sie sich nur mit reflexiver Schau und innerer Prüfung beschäftige, dass sie die Leistung der Erklärung, Übung und Diskussion vernachlässige und fallen lasse ; dass ihre Absicht nur auf Leitsätze und Prinzipien gehe, jedoch die Einzelheiten und Bestandteile nicht berücksichtige ; dass zu sagen sei, dass sie einseitig in die dürre Leere und Stille (der Meditation) versinken lasse und sich nicht in die Ordnungsprinzipen der Dinge und die Veränderungen der menschlichen Angelegenheiten vertiefe. Wenn sie so zu beurteilen wäre, dann würde sie sich nicht nur gegen die Schule des Heiligen [ Konfuzius ] und gegen Zhū Xī schuldig machen, sondern sie wäre eine Irrlehre, eine lügenhafte Belästigung des Volkes, eine Rebellion gegen das Dao, eine Verwirrung des Richtigen. Die Menschen müssten sie tadeln, und erst recht

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審如是,世之稍明訓詁,聞先哲之緒論者,皆知 其非也,而況執事之高明哉?凡某之所謂格物, 其於朱子「九條」之說,皆包羅統括於其中; 但為之有要,作用不同,正所謂毫釐之差耳。 然毫釐之差而千里之謬實起於此,不可不辨。 [ 6.]

孟子闢楊、墨至於「無父,無君」。二子亦當時之 賢者,使與孟子並世而生,未必不以之為賢。墨子

「兼愛」,行仁而過耳;楊子「為我」,行義而 過耳。 此其為說,亦豈滅理亂常之甚,而足以眩天下 哉?而其流之弊,孟子至比於禽獸夷狄,所謂「 以學術殺天下後世」也。今世學術之弊,其謂之 學仁而過者乎?謂之學義而過者乎?抑謂之學不 仁不義而過者乎?吾不知其於洪水猛獸何如也! 孟子云: 「予豈好辨哉?予不得已也!」楊、墨之 道塞天下,孟子之時,天下之尊信楊、墨,當不下

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Sie, mein Herr, in Ihrer Gradlinigkeit ! Wenn sie so zu beurteilen wäre, dann würden diejenigen in der Welt, die auch nur ein wenig von Texterklärung verstehen und von den Einleitungen der früheren Weisen gehört haben, um ihre Falschheit wissen, und erst recht Sie, mein Herr, in Ihrer hohen Klugheit ! Immer wenn ich über das Berichtigen der Handlungen (gé wù) spreche, ist die Lehre von den »neun Abschnitten« Zhū Xīs36 darin enthalten. Aber ihre Funktionen sind nicht gleich wichtig. Es ist das, was ein Unterschied um Haaresbreite genannt wird. Doch in Wirklichkeit geht daraus eine Verfehlung von tausend Meilen hervor ; daher muss er klar bestritten werden. [ 6. Wáng Yángmíngs Einsamkeit in seiner Kritik an der Lehre Zhū Xīs ]

Mèngzǐ kritisierte Yáng [ Zhū ] und Mòzǐ (Mò Dí) in solchem Ausmaß, dass er sagte, dass sie keinen Vater und keinen Herrscher hätten 37. Diese zwei Meister waren auch Weise ihrer Zeit. Wenn sie in derselben Generation wie Mèngzǐ geboren worden wären, würde keine Notwendigkeit bestehen, dass er sie nicht als Weise betrachtet hätte. Mòzǐs Lehre von der »gleichen Liebe [ gegenüber allen ]« ließ die Menschlichkeit praktizieren, doch ging sie d­ abei zu weit. Yáng Zhūs Lehre vom »[ Sorgen ] für sich selbst« ließ die Gerechtigkeit praktizieren, doch ging sie dabei zu weit. Wie hätten ihre Lehren den höchsten Punkt der Grundsätze in Unordnung bringen und ausreichen können, die Welt zu täuschen ? Doch das Übel, zu dem sie schließlich führten, war so, dass Mèngzǐ sie mit Tieren und Barbaren verglich. Es ist das, was man »durch Lehren die späteren Generationen der Welt umbringen«38 heißt. Soll man sagen, dass das Übel der Lehren der jetzigen Generation darin bestehe, dass sie übertrieben vom Lernen der Menschlichkeit sprechen, dass sie übertrieben vom Lernen der Gerechtigkeit oder dass sie übertrieben vom Lernen der Unmenschlichkeit und der Ungerechtigkeit sprechen ? Ich weiß nicht, wie das heutige Lernen mit großen Überschwemmungen oder mit wilden Tieren zu vergleichen ist. Mèngzǐ sagte : »Wie könnte ich den Wortstreit lieben, doch ich kann nicht anders.«39 Die Lehren von Yáng Zhū und Mòzǐ erfüllten zu ihrer Zeit die Welt ; zur Zeit von Mèngzǐ waren diejenigen, die Yáng Zhū und Mòzǐ verehrten und ihnen glaubten, sicher nicht weniger als diejenigen, die heute

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於今日之崇尚朱說,而孟子獨以一人呶呶於其間, 噫,可哀矣!韓氏: 「佛、老之害 | 甚於楊、墨。」

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韓愈之賢不及孟子,孟子不能救之於未壤之先, 而韓愈乃欲全之於已壤之後,其亦不量其力,且 見其身之危,莫之救以死也矣!鳴呼!若某者其 尤不量其力,果見其身之危,莫之救以死也矣。 夫眾方嘻嘻之中,而獨出涕嗟,若舉世恬然以趨, 而獨疾首蹙額以為憂,此其非病狂喪心,殆必誠 有大苦者隱於其中,而非天下之至仁,其孰能察 之? [ 7.]

其為《朱子晚年定論》,蓋亦不得已而然。中間 年歲早晚誠有所未考,雖不必盡出於晚年,固多 出於晚年者矣。然大意在委曲調停以明此學為重, 平生於朱子之說如神明蓍龜,一旦與之背馳,心 誠有所未忍,故不得已而為此。 「知我者,謂我 心憂;不知我者,謂我何求」,蓋不忍牴牾朱子者, 其本心也;不得已而與之牴牾者,道固如是,

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die Lehren von Zhū [ X ī ] verehren, und Mèngzǐ war der einzige Mensch, der einsam dagegen aufschrie. Ach, wie ist das erbarmungswürdig ! Hán [ Yù, 768 – 824 ]40 sagte : »Der von Buddha und Lǎozǐ angerichtete Schaden übertrifft denjenigen von Yáng [ Zhū ] und Mò [ Dí ], und meine Weisheit ist derjenigen von Mèngzǐ unterlegen. Mèngzǐ war nicht fähig, seine Zeit zu retten, bevor sie Schaden genommen hatte, und ich will die meine wiederherstellen, nachdem sie schon Schaden erlitten hat. Ich habe mir die Begrenztheit meiner Kräfte nicht bewusst und meine Lebensgefahr nicht klar gemacht ; niemand wird mich retten, so dass ich umkommen werde.«41 Oh weh ! Da ich mir noch weniger die Begrenztheit meiner Kräfte bewusst und meine Lebensgefahr wirklich klar gemacht habe, wird mich niemand retten, so dass ich umkommen werde42. Während alle Leute sich erfreuen, bin ich alleine, weine und klage ; während die ganze Welt ruhig [ den verbreiteten Meinungen ] nachläuft, zerbreche ich mir allein den Kopf, lege meine Stirn in Falten und mache mir Sorgen. Wenn ich nicht verrückt geworden bin und meinen Geist verdorben habe, dann muss darin wahrlich eine große Bitternis verborgen sein, und nur die größte Menschlichkeit der Welt vermag sie zu verstehen. [ 7. Z  ur Schrift Die endgültige Lehre Meister Zhū Xīs in seinen späten Jahren ]

Auch Die endgültige Lehre Meister Zhū Xīs in seinen späten Jahren stellte ich zusammen, weil ich nicht anders konnte. In ihr gibt es wirklich Texte, deren frühe oder späte Zeit ich nicht wahrhaftig geprüft habe. Wenn sie auch nicht alle aus der späten Zeit stammen, stammen doch viele von ihnen sicher aus dieser Zeit. Doch meine Hauptabsicht war es, in allen Windungen eine Aussöhnung [ mit dieser Lehre ] zu erreichen, um die Wichtigkeit dieser Lehre klarzustellen. In meinem ganzen Leben war die Lehre Meister Zhūs wie eine göttliche Erhellung und Weissagung ; sich mit ihr eines Tages im Widerspruch zu finden, hatte für mein Herz wahrhaft etwas Unerträgliches. Deshalb konnte ich nicht anders, als so vorzugehen. »Wer mich kennt, sagt, dass mein Herz trauert ; wer mich nicht kennt, fragt, worauf ich aus bin.«43 Dass ich es nicht ertragen kann, mich Meister Zhū zu widersetzen, das kommt aus dem Grund meines Herzens ; dass ich nicht anders kann, als mich ihm zu widersetzen, das kommt daher, dass das Dao so ist, wie es ist,

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不直則道不見也。執事所謂決與朱子異者,僕敢 自欺其心哉? 夫道,天下之公道也;學,天下之公學也,非朱 子可得而私也,非孔子可得而私也。天下之公也, 公言之而已矣。故言之而是,雖異於己,乃益於 己也;言之而非,雖同於己,適損於己也。益於己 者,己必喜之;損於己者,己必惡之。然則某今日 之論,雖或於朱子異,未必非其所喜也。君子之 過,如日月之食,其更也,人皆仰之,而小人之過 也必文。某雖不肖,固不敢以小人之心事朱子也。 [ 8.]

執事所以教反覆數百言,皆以未悉鄙人格物之說。 若鄙說一明,則此數百言皆可以不待辨說而釋 然無滯。故今不敢縷縷以滋瑣屑之瀆。然鄙說非 面陳口析,斷亦未能了了於紙筆間也。嗟呼!執 事所以開導啟迪於我者,可謂懇到詳切矣!人之

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und »dass das Dao sich nicht zeigen kann, wenn man nicht aufrichtig ist«44. Ich würde mich selbst betrügen, wenn ich mich, wie Sie meinen, absichtlich Meister Zhū widersetzte. Das Dao ist das allgemeine Dao derer, die unter dem Himmel sind ; das Lernen [ des Dao ] ist das allgemeine Lernen derer, die unter dem Himmel sind ; Konfuzius konnte es nicht erlangen und als etwas Privates betrachten. Ebenso wenig konnte Meister Zhū es erlangen und als etwas Privates betrachten. Das Allgemeine – das allen unter dem Himmel Gemeine – ist die allen gemeine Rede. Wenn eine Rede wahr ist, bringt sie mir Nutzen, selbst wenn sie von mir (meiner Meinung) verschieden ist ; wenn eine Rede falsch ist, bringt sie mir Schaden, selbst wenn sie mit mir übereinstimmt. Ich muss mich über das freuen, was mir von Nutzen ist ; ich muss ablehnen, was mir von Schaden ist. Wenn also das, was ich heute sage, auch vielleicht von Meister Zhū verschieden ist, ist es nicht unmöglich, dass er sich darüber freuen würde. »Die Fehler des Edlen sind wie die Sonnen- und Mondfinsternisse ; wenn er sie berichtigt, dann schauen alle Menschen zu ihm empor.«45 »Wenn der kleine Mensch Fehler begeht, dann vertuscht er sie mit Ausschmückungen.«46 Obschon ich meinem Vorbild nicht folge, wage ich es ganz bestimmt nicht, Meister Zhū mit dem Herzen eines kleinen Menschen zu dienen. [ 8. S  chlusswort des Briefes. Hoffnung auf eine Aussprache von Angesicht zu Angesicht ]

Der Grund, warum Sie mich in Wiederholungen mit mehreren hundert Wörtern unterrichtet haben, liegt darin, dass Sie mit meiner Lehre von der Berichtigung der Handlungen (gé wù ; nach Zhū Xīs Interpretation mit »Erforschung der Dinge« zu übersetzen) noch nicht vertraut sind. Sobald meine Lehre klar geworden ist, müssen diese mehreren hundert Wörter nicht mehr diskutiert werden, und alle Schwierigkeiten lösen sich ohne Hindernisse auf. Deshalb wage ich heute nicht, mich in Einzelheiten zu verlieren und Sie damit zu belästigen. In jedem Fall kann meine Lehre in schriftlicher Form nicht klar werden, bevor sie mündlich von Angesicht zu Angesicht erörtert wurde. Ach, edler Herr, die Weise, in der Sie mich anleiten und aufklären, ist von höchster Genauigkeit und Ernsthaftigkeit.

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愛我,寧有如執事者乎?僕雖甚愚下,寧不知所 感刻佩服;然而不敢遽舍其中心之誠然而姑以 聽受云者,正不敢有負於深愛,亦思有以報之耳。 秋盡東還,必求一面,以卒所請,千萬終教!

Die Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

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Wer liebt mich mehr als Sie ? Selbst wenn ich im höchsten Grade einfältig bin, wie könnte ich Ihnen gegenüber undankbar und ohne Verehrung sein ? Doch wenn ich es nicht wage, die Wahrhaftigkeit in der Mitte meines Herzens zu verlieren und einfach dem zu gehorchen, was Sie mir sagen, so ist es gerade, weil ich Ihrer Liebe nicht den Rücken zukehren, sondern sie erwidern möchte. Ende Herbst werde ich nach Osten [ nach Shàoxīng in Zhèjiāng ] zurückkehren ; ich muss Sie unbedingt bitten, Sie treffen zu dürfen, damit alle meine Anliegen an Sie ihre Erfüllung finden. Ich bitte Sie, mich bis zum Ende zu unterrichten !47

TEIL II Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé (zwischen 1523 und 1526)48

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% 答歐陽崇一 [ 1.]

[ W YMQJ, Bd. 1, S. 71 – 74 ]

崇一來書云; 「師云: 『德性之良知,非由於聞見。 若曰多擇其善者而從之,多見而識之,則是專求 之見聞之末,而已落在第二義。』竊意良知雖不 由見聞而有,然學者之知未常不由見聞而發;滯 於見聞固非,而見聞亦良知之用也;今日落在第 二義,恐為專以見聞為學者而言。若致其良知而 求之見聞,似亦知行合一之功矣。如何?」 良 知不由見聞而有,而見聞莫非良知之用, 故良知不滯於見聞,而亦不離於見聞。孔子云:

「吾有知乎哉?無知也。」良知之外,別無知矣。

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5  Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé

[ 1.  A  ußerhalb des »ursprünglichen Wissens« gibt es kein anderes Wissen. Hören und Sehen (empirisches Erkennen) sind Funktion (Auswirkung) des ursprünglichen Wissens. Das »Verwirklichen des ursprünglichen Wissens« und das »Sehen und Hören« sind nur eine einzige Sache. ]

In Ihrem Brief schreiben Sie : »Sie, mein verehrter Lehrer, sagten : ›Das in der ethischen Natur des Menschen liegende ursprüngliche Wissen kommt nicht vom Hören und Sehen. Wenn [ Konfuzius ] sagte : ›Höre viel, bewahre davon das Gute und befolge es ; sehe viel und wisse es‹49, sprach er über die zweiten, niederen Wahrheiten [ u nd nicht über die eigentliche Wahrheit ].‹ Nach meiner Meinung entsteht das Wissen des [ ethisch ] Lernenden immer im Ausgang vom Hören und Sehen, obschon das ursprüngliche Wissen nicht aufgrund von Sehen und Hören vorhanden ist ; wenn man beim Sehen und Hören stehen bleibt, ist das sicher falsch ; doch Sehen und Hören werden vom ursprünglichen Wissen benötigt. Nun aber sagten Sie, dass man damit schon in die zweiten, niederen Wahrheiten geraten sei. Ich vermute, dass Sie damit diejenigen meinen, welche ausschließlich das Sehen und Hören für das [ ethische ] Lernen halten. Wenn man sein ›ursprüngliches Wissen verwirklicht‹ und dabei das Sehen und Hören sucht, scheint auch dies die Anstrengung der Vereinigung von Wissen und Handeln zu sein. Wie kommt das ?« Das »ursprüngliche Wissen« ist nicht aufgrund von Sehen und Hören vorhanden, sondern alles Sehen und Hören ist Funktion des »ursprünglichen Wissens«. Deshalb wird das »ursprüngliche Wissen« nicht durch Sehen und Hören behindert und ist auch nicht vom Sehen und Hören getrennt. [ Konfuzius ] sagte : »Habe ich etwa Fachwissen ? Ich habe kein [ solches ] Wissen.« Außerhalb des »ursprünglichen Wissens« gibt es kein anderes Wissen. Deshalb ist das Verwirklichen des ursprünglichen Wis-

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Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé

故「致良知」是學問大頭腦,是聖人教人第一義。 今云專求之見聞之末,則是失却頭惱,而已落在 第二義矣。近時同志中蓋已莫不知有致良知之說, 然其功夫尚多鶻突者,正是欠此一問。大抵學問 功夫只要主意頭惱是當,若主意頭惱專以致良 知為事,則凡多聞多見,莫非致良知之功。蓋日 用之間,見聞酬酢,雖千頭萬緒,莫非良知之發 用流行,除却見聞酬酢,亦無良知可致矣。故只 是一事。若曰致其良知而求之見聞,則語意之間 未免為二,此與專求之見聞之末者雖稍不同, 其為未得精一之旨,則一而已。 72

「多聞,擇其善者而從之,多見而識之」,| 既云 擇,又云識,其良知亦未嘗不行於其間;但其用 意乃專在多聞多見上去擇識,則已失却頭惱矣。 崇一於此等處見得當已分曉,今日之間,正為發 明此學,於同志中極有益。但語意未瑩,則毫釐 千里,亦不容不精察之也。

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sens die große leitende Absicht des [ ethischen ] Lernens. Das ist die erste (eigentliche) Wahrheit der Lehre der heiligen Menschen [ w ie Konfuzius ]. [ Ich ] nun sage : Wenn man nur in den Verzweigungen [ = sekundären Dingen ] des Sehens und Hörens sucht, dann hat man die leitende Absicht verloren und ist dabei schon in die zweite (niedere) Wahrheit gefallen. Nun wissen seit neuem alle unserer Gleichgesinnten um die Lehre des Verwirklichens des ursprünglichen Wissens ; dass aber ihre Anstrengungen wie ein Habicht [ auf das Hören und Sehen ] hinunterstürzen, ist gerade dieses Problem. In der Anstrengung des Lernens muss man vor allem darauf achten, dass die leitende Absicht richtig ist. Wenn man darauf achtet, dass allein das »Verwirklichen des ursprünglichen Wissens« die leitende Absicht ist, dann wird alles Sehen und Hören die Leistung des »Verwirklichens des ursprünglichen Wissens«. Denn obschon im täglichen Leben das Sehen und Hören und die sozialen Kontakte äußerst vielfältig sind, sind sie doch alle Funktionen und Ausflüsse des »ursprünglichen Wissens«, und außerhalb des Sehens und Hörens und der sozialen Kontakte kann das »ursprüngliche Wissen« auch nicht »verwirklicht« werden. Deshalb sind sie (nämlich das »Verwirklichen des ursprünglichen Wissens« und das »Sehen und Hören«) nur eine einzige Sache. Wenn Sie schreiben, dass man »das ›ursprüngliche Wissen verwirklicht‹ und dabei das Sehen und Hören sucht«, dann machen Sie durch diese Redeweise daraus unweigerlich zwei Dinge. Zwar besteht dann noch ein Unterschied zum unabhängigen Verfolgen der sekundären Dinge des Sehens und Hörens, aber das Verfehlen der Forderung der »Einheit und Feinheit«50 [ der ethischen Praxis ] ist ein und dasselbe. Da [ die von Ihnen in Ihrem Brief zitierte Aussage von Konfuzius : ] »Höre viel, bewahre davon das Gute und befolge es ; sehe viel und wisse es«51 von »bewahren« und »befolgen« spricht, ist in ihr das ursprüngliche Wissen als wirkend mitgemeint. Doch wenn man den Sinn ihrer Anwendung nur im Vielhören von Vielsehen »bewahrt« und »befolgt«, dann hat man schon ihre leitende Absicht verloren. Sie sehen in diesem Punkt schon differenziert und klar. Ihre jetzige Frage dient gerade der Klärung dieses Lernens und ist für unsere Gleichgesinnten von größtem Nutzen. Aber wenn die Bedeutung der Aussagen nicht klar ist, dann haben kleinste Missverständnisse größte Folgen ; auch das muss genau beachtet werden.

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[ 2.]

來書云: 「師云: 『《繫》言「何思何慮」,是言所 思所慮只是天理,更無別思別慮耳,非謂無思無 慮也。心之本體即是天理,有何可思可慮得?學 者用功,雖千思萬慮,只是要復他本體,不是以 私意去安排思索出來。若安排思索,便是自私 用智矣。學者之敝,大率非沈空守寂,則安排 思索。』德辛壬之歲著前一病,近又著後一病。 但思索亦是良知發用,其與私意安排者何所取 別?恐認賊作子,惑而不知也。」 「思曰睿,睿作聖。」 「心之官則思,思則得之。」 思其可少乎?沈空守寂與安排思索,正是自私用 智,其為喪失良知,一也。良知是天理之昭明靈 覺處,故良知即是天理。思是良知之發用。若是

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[ 2. D  as ursprüngliche Wissen ist der Ort des Erhellens und des geisteskräftigen Gewahrens. Deshalb ist das ursprüngliche Wissen dasselbe wie das himm­ lische Ordnungsprinzip (tiān lǐ), und das Denken ist Ausdruck und Funktion des ursprünglichen Wissens. ]

In Ihrem Brief schreiben Sie : »Mein Lehrer, Sie schrieben [ an Gù Dōngqiáo ] : [ Die Frage im Großen Anhang des Klassikers der Wandlungen ] ›Was denken, was überlegen ?‹52 meint, dass das, was gedacht und überlegt wird, nur das himmlische Ordnungsprinzip ist und dass es außerhalb davon kein anderes Denken und Überlegen gibt, und diese Frage meint nicht, dass es [ gar ] kein Denken und Überlegen gibt. Das eigentliche Wesen des Herzens ist dasselbe wie das himmlische Ordnungsprinzip. Was gibt es da zu denken und zu überlegen ? Die Anstrengung des [ ethisch ] Lernenden besteht nur darin, zu seinem eigentlichen Wesen zurückzukehren und nicht dazu überzugehen, sich mit selbstsüchtigen Absichten etwas zurechtzulegen und auszudenken. Wenn man sich etwas zurechtlegt und ausdenkt, dann ist es nichts anderes als Selbstsucht und bloße Schlauheit. – Nach meiner unbedeutenden Meinung bestehen die Fehler der Lernenden, allgemein gesprochen, entweder im Versinken im Leeren und Bewahren der Ruhe [ in meditativen Praktiken ] oder im sich Zurechtlegen und Ausdenken. In den Jahren xīn [ sì ] und rén [ wǔ ] (1521 und 1522) litt ich unter der ersten [ dieser zwei ] Krankheit[en], seit neuem unter der zweiten. Doch das sich Ausdenken ist auch eine Funktion des ursprünglichen Wissens. Wie kann ich es vom selbstsüchtigen sich Zurechtlegen unterscheiden ? Ich befürchte, dass ich einen Dieb für meinen Sohn 53 halte und in die Irre geführt werde, ohne mir dessen bewusst zu sein.« »Denken bedeutet genau zu sehen ; genau zu sehen bedeutet Heiligkeit.«54 »Die Tätigkeit des Herzens ist das Denken ; wenn wir denken, erlangen wir es.«55 Wie könnte man das Denken vermindern wollen ? Gerade das im Leeren Versinken und die Ruhe Bewahren sowie das sich Zurecht­legen und Ausdenken sind nichts anderes als Selbstsucht und bloße Schlauheit ; in ihrem Verlust des ursprünglichen Wissens sind sie gleich. Das ursprüngliche Wissen ist der Ort des Erhellens und des geisteskräftigen Gewahrens. Deshalb ist das ursprüngliche Wissen dasselbe wie das himmlische Ordnungsprinzip, und das Denken ist Ausdruck und Funktion des ur-

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良知發用之思,則所思莫非天理矣。良知發用之 思自然明白簡易,良知亦自能知得。若是私意安 排之思,自是紛紜勞擾,良知亦自會分別得。 蓋思之是非邪正,良知無有不自知者。所以認賊 怍子,正為致知之學不明,不知在良知上體認 之耳。 [ 3.]

來書又云: 『為學終身只是一事,不論有事無事, 只是這一件。』若說『寧不了事,不可不加培養, 卻是分為兩事也。竊意覺精力衰弱,不足以終事 者,良知也。寧不了事,且加休養,致知也。如何 却為兩事?若事變之來,有事勢不容不了,而精

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力雖衰,稍鼓舞亦能支持,則持志 | 以帥氣可矣。

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sprünglichen Wissens. Wenn das Denken der Ort des Ausdrucks und der Funktionen des ursprünglichen Wissens ist, dann ist das Gedachte nichts anderes als das himmlische Ordnungsprinzip. Das Denken als Ausdruck und Funktion des ursprünglichen Wissens ist von selbst klar und einfach ; und das ursprüngliche Wissen ist sich dessen auch bewusst. Wenn das Denken das Denken der eigensüchtigen Absichten und des Zurechtlegens ist, ist es kompliziert und mühsam, und das ursprüngliche Wissen vermag das von selbst zu unterscheiden. Denn ob das Denken richtig oder falsch, schief oder gerade ist, es gibt da nichts, dessen sich das ursprüngliche Wissen nicht bewusst wäre. Wenn man daher den Dieb für seinen eigenen Sohn hält, dann bedeutet dies, dass man im Lernen des Verwirklichens des ursprünglichen Wissens noch nicht zur Klarheit gelangt ist und nicht vermag, es durch sein ursprüngliches Wissen im eigenen Leben selbst zu erfahren. [ 3.  Alles Überlegen, was die eigenen Kräfte nicht erreichen können, und Erzwingen dessen, was man nicht vermag, kann nicht zum Verwirklichen des ursprünglichen Wissens führen. Das Verwirklichen des ursprünglichen Wissens ist eins und nicht gespalten in ein Tun von äußeren Dingen und in ein Nähren und Pflegen eines eigenen Inneren. ]

In Ihrem Brief sagen Sie auch : »Sie, mein Lehrer, schrieben [ a n Zhōu Dàotōng 周道通 ] : ›Während des ganzen Lebens ist das [ ethische ] Lernen nur eine einzige Sache ; ob man nun tätig sei oder nicht, gibt es nur diese Sache.‹« Wenn Sie [ a n Zhōu Dàotōng ] schrieben : »Besser mit einer Tätigkeit aufhören, wenn man [ das Herz ] kräftigen und pflegen muss«, dann machen Sie daraus zweierlei Dinge. – Nach meiner unbedeutenden Meinung ist [ das Bewusstsein der ] geistige[n] Schwäche das Zu-Ende-Führen einer Tätigkeit ; und sind das ursprüngliche Wissen und das besser[e] Aufhören mit einer Tätigkeit sowie das Vertiefen der geistigen Kultivierung eben das Verwirklichen des ursprünglichen Wissens. Wie könnten diese zwei Dinge verschiedene Tätigkeiten sein ? Wenn durch die praktischen Umstände meine aktuelle Tätigkeit vollendet werden muss, und ich mich selbst ansporne, obschon meine geistigen Kräfte schwach sind, und ich dann in dieser Tätigkeit durchhalte, dann ist es richtig, »am Willen festzuhalten und

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然言動終無氣力,畢事則困憊已甚,不幾於暴其 氣已乎?此其輕重緩急,良知固未嘗不知,然或 迫於事勢,安能顧精力?或因於精力,安能顧事 勢?如之何則可?」 「寧不了事,不可不加培養」之意,且與初學 如此說,亦不為無益。但作兩事看了,便有病痛。 在孟子言必有事焉,則君子之學終身只是集義一 事。義者宜也。心得其宜之謂義。能致良知,則 心得其宜矣,故集義亦只是致良知。君子之酬酢 萬變,當行則行,當止則止,當生則生,當死則死, 斟酌調停,無非是致其良知,以求自慊而已。故 君子素其位而行,思不出其位,凡謀其力之所不 及而強其知之所不能者,皆不得為致良知;而凡 勞其筋骨,餓其體膚,空乏其身,行拂亂其所為, 動心忍性以增益其所不能者,皆所以致其良知也。

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[ i hn ] die Lebenskraft führen zu lassen«. 56 Aber wenn man sagen muss, dass nach der Vollendung der Tätigkeit keine Lebenskraft mehr vorhanden ist, dass man nach der Erledigung seiner Aufgabe völlig erschöpft ist, hat man dann nicht seiner »Lebenskraft Gewalt angetan« ?57 Das ursprüngliche Wissen ist sich sicher immer der Wichtigkeit oder Unwichtigkeit, der Dringlichkeit oder Aufschiebbarkeit einer Aufgabe bewusst ; doch wenn man durch die praktische Situation zu einer Tätigkeit gezwungen wird, wie kann man sich da noch um seine geistigen Kräfte kümmern ? Und wenn die eigenen geistigen Kräfte erschöpft sind, wie kann man sich noch um seine praktische Situation kümmern ? Wie soll man sich da verhalten ? Wenn man den Satz »besser mit einer Tätigkeit aufhören, wenn man [ das Herz ] kräftigen und pflegen muss« zu einem Anfänger im [ ethischen ] Lernen sagt, dann ist er nicht nutzlos. Wenn man aber daraus (= aus der Tätigkeit und dem Kräftigen und Pflegen des Herzens) zwei Sachen macht, ist dies ein Symptom seelischer Krankheit. Wenn Mèngzǐ sagt, dass man »[ immer ] etwas tun muss«58, dann meint er damit, dass das Lernen des Edlen während seines ganzen Lebens nur in der einen Sache des »Sammelns von Gerechtigkeit«59 besteht. »Gerechtigkeit meint Vorteil. Wenn das Herz seinen Vorteil erlangt, heißt dies Gerechtigkeit. Wenn man fähig ist, sein ursprüngliches Wissen zu verwirklichen, dann erreicht das Herz seinen Vorteil. Daher ist das Sammeln von Gerechtigkeit auch nur das Verwirklichen des ursprünglichen Wissens. In den unendlich vielen Veränderungen seiner sozialen Aufgaben handelt der Edle, wenn er handeln muss ; hört damit auf, wenn er aufhören muss ; lebt, wenn er leben muss ; stirbt, wenn er sterben muss. Alle Erwägungen und Friedensstiftungen sind nichts anderes als Verwirklichungen des ursprünglichen Wissens und damit ein Suchen, in sich selbst zufrieden zu werden. Deshalb »handelt der Edle, indem er schlicht in seiner Stellung bleibt«60, »er denkt, ohne seine Stellung zu verlassen«61. Alles Überlegen, was die eigenen Kräfte nicht erreichen, und Erzwingen, was man nicht vermag, kann nicht zum Verwirklichen des ursprünglichen Wissens führen ; aber man verwirklicht sein ursprüngliches Wissen, indem man »durch Arbeit seine Sehnen und Knochen stärkt, seinen Bauch hungern und seinen Leib leer lässt, sich dem widersetzt, was das eigene Handeln in Unordnung bringt, und indem man sein Herz durch Übung in Geduld in dem wachsen lässt, was es nicht vermag«62. Auch nach

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Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé

若云「寧不了事,不可不加培養」者,亦是先有 功利之心,較計成敗利鈍而愛憎取舍於其間,是 以將了事自作一事,而培養又別怍一事,此便有 是內非外之意,便是自私用智,便是義外,便有 不得於心勿求於氣之病,便不是致良知以求自慊 之功矣。所云「鼓舞支持,畢事則困憊已甚」, 又云「迫於事勢,困於精力」,皆是把怍兩事做了, 所以有此。凡學問之功,一則誠,二則僞,凡此皆 是致良知之意欠誠一真切之故。 《大學》言誠其 意者,如惡惡臭,如好好色,此之謂自慊。曾見有 惡惡臭,好好色,而須鼓舞支持者乎?曾見畢事 則困憊已甚者乎?曾有迫於事勢,因於精力者乎? 此可以知其受病之所從來矣。

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dem Satz »besser mit einer Tätigkeit aufhören, wenn man [ das Herz ] kräftigen und pflegen muss«, gibt es zuerst eine Absicht auf Erfolg und Nutzen, ein Abwägen von Erfolg und Misserfolg, von Vorteil und Nachteil, ein Lieben und Hassen, ein Aufnehmen und Fallenlassen ; dies macht aus dem Beendigen einer Tätigkeit eine Sache und aus dem Nähren und Pflegen eine andere Sache ; dies bedeutet also, dass etwas Inneres nicht etwas Äußeres ist ; es ist also eine selbstsüchtige Schlauheit, macht damit »die Gerechtigkeit zu etwas Äußerem«63 und ist die geistige Krankheit, welche »in der Lebensenergie sucht, was sie nicht im Herzen findet«64 ; es ist also nicht das Verwirklichen des ursprünglichen Wissens und damit ein Suchen, mit sich selbst zufrieden zu werden. Wenn Sie schreiben, dass Sie, nachdem Sie sich selbst angespornt und in der Tätigkeit durchgehalten hatten, nach der Beendigung der Tätigkeit anschließend große Schwierigkeiten hatten und völlig erschöpft waren, und auch wenn Sie vom Gezwungenwerden durch die äußeren Umstände und von Ihren Schwierigkeiten mit der geistigen Kraft schreiben, so machen Sie wiederum zwei Sachen daraus und deshalb kommen Sie in diese Lage. In der Anstrengung des [ ethischen ] Lernens ist man entweder einheitlich und somit echt oder entzweit und somit unecht. Alle obigen Probleme kommen daher, dass der Wille, das ursprüngliche Wissen zu verwirklichen, der aufrichtigen Einheitlichkeit und der Echtheit entbehrt. Das Lernen der Großen sagt : »Seinen Willen wahrhaftigmachen ist wie das Verabscheuen von widerlichen Gerüchen, ist wie das Lieben von schönen Farben ; das ist das Zufriedensein in sich selbst.«65 Hat man schon jemanden gesehen, der widerliche Gerüche verabscheut oder schöne Farben liebt und sich [ dazu ] selbst anspornen und in der Tätigkeit durchhalten muss ? Hat man schon einen [ so Fühlenden ] gesehen, der nach der Beendigung seiner Tätigkeit große Schwierigkeiten hatte und völlig erschöpft war ? Hat man schon einen [ so Fühlenden ] gesehen, der von den praktischen Umständen gezwungen war und dann Schwierigkeiten mit seiner geistigen Kraft bekam ? Auf diese Weise kann man die Herkunft dieses [ seelischen ] Krankwerdens verstehen.

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Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé

[ 4.]

來書又有云: 「人情機詐百出,御之以不疑,往往 為所欺,覺則自入於逆億。夫逆詐即詐也,億不 信即非信也,為人欺又非覺也。不逆不億而常先

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覺,其惟良知瑩徹乎?然而出入毫忽 | 之間,背覺 合詐者多矣。」 「不逆不億而先覺」,此孔子因當時人專以逆 詐億不信為心,而自陷於詐與不信,又有不逆不 憶者,然不知致良知之功,而往往又為人所欺詐, 故有是言。非教人以是存心而專欲先覺人之詐 與不信也。以是存心,即是後世猜忌險薄者之事, 而只此一念,已不可與入堯、舜之道矣。不逆不 憶而為人所欺者,尚亦不失為善,但不如能致其 良知而自然先覺者之尤為賢耳。

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[ 4. W  enn das ursprüngliche Wissen in höchster Weise wahrhaftig ist, dann ist das im Voraus das Künftige Erkennen seine eigene Funktion. ]

In Ihrem Brief sagen Sie auch : »In den zwischenmenschlichen Beziehungen gibt es manches Irreführen und Täuschen. Wenn man solches im Voraus vermutet, aber nicht misstraut, wird man oft betrogen. Wenn man sich dessen bewusst ist, dann begibt man sich selbst ins Antizipieren [ des Betrogenwerdens ] und ins Überlegen [ der eigenen Gegenmaßnahmen ] ; wenn man [ das Irregeführt- und Getäuschtwerden ] antizipiert, gerät man selbst ins Täuschen ; wenn man im Überlegen des künftigen Verhaltens der anderen kein Vertrauen hat, dann ist man selbst nicht vertrauenswürdig. Auch ist man sich im Getäuschtwerden dessen nicht bewusst. Nur die Durchsichtigkeit des ursprünglichen Wissens vermag ›sich immer im Voraus bewusst zu sein, ohne zu antizipieren und im Voraus zu überlegen‹.66 Doch kommt es oft vor, dass man durch eine sehr kleine Nachlässigkeit diesem Bewusstsein den Rücken zukehrt und getäuscht wird.« Das [ von Ihnen zitierte ] Wort »sich immer im Voraus bewusst sein, ohne zu antizipieren und im Voraus zu überlegen«, ist ein Wort von Konfuzius, weil gewisse seiner Zeitgenossen im Besonderen Antizipationen des Getäuschtwerdens und Überlegungen ohne Vertrauen im Herzen hatten und dabei selbst ins Täuschen und in die Vertrauensunwürdigkeit verfielen ; auch gab es andere, die nicht antizipierten und nicht überlegten, aber die nicht um die Anstrengung des Verwirklichens des ursprünglichen Wissens wussten und so oft von den anderen getäuscht und betrogen wurden. Konfuzius lehrte [ m it jenem Wort ] die Menschen nicht, solches im Herzen zu bewahren und sich so zum Voraus des Getäuschtwerdens durch die anderen bewusst werden zu wollen und ihnen nicht zu vertrauen. Denn solches im Herzen zu bewahren, war erst die Sache späterer argwöhnischer, neidischer, bösartiger und geiziger Generationen. Aber kein einziger solcher Gedanke kann in den Weg von Yáo und Shùn67 eingehen. Diejenigen, die nicht antizipierten und überlegten, aber von den anderen betrogen wurden, verfehlten auch nicht das gute Handeln, aber sie waren nicht weise wie diejenigen, welche fähig sind, das ursprüngliche Wissen zu verwirklichen und dadurch von selbst sich im Voraus [ des von den anderen Getäuscht- und Betrogenwerdens ] bewusst werden können.

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崇一謂其惟良知瑩徹者,蓋已得其旨矣。然亦 穎悟斫及,恐未實際也。蓋良知之在人心,亙萬古, 塞宇宙,而無不同,不慮而知,恆易以知險,不學 而能,恆簡以知阻,先天而天不違,天且不違,而 況於人乎?況於鬼神乎?夫謂背覺合詐者,是雖 不逆人而或未能無自欺也,雖不憶人而或未能果 自信也,是或常有求先覺之心,而未能常自覺也。 常有求先覺之心,即已流於逆億而足以自蔽其良 知矣;此背覺合詐之所以未免也。 君子學以為己,未嘗虞人之欺己也,恆不自欺其 良知而已。是故不欺則良知無所偽而誠,誠則明矣; 自信則良知無所惑而明,明則誠矣。明誠相生,是

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Was Sie, Chóngyī 68 , über die Durchsichtigkeit des ursprünglichen Wissens schreiben, erreicht bereits den wesentlichen Punkt. Aber ich befürchte, dass das, was Sie so scharfsinnig einsehen, noch nicht konkret und wirklich ist. Das Innesein des ursprünglichen Wissens im menschlichen Herzen gilt für alle Zeiten und für das ganze Universum und ist immer dasselbe. Das »Wissen, ohne zu überlegen«69 »weiß immer mit Leichtigkeit um die Gefahren«70, indem »es kann, ohne zu lernen«71, »weiß es immer mit Einfachheit um die Hindernisse«72 ; »es geht dem Himmel voran, und der Himmel widersetzt sich ihm nicht […], und wenn sich der Himmel ihm nicht widersetzt, wie könnten es die Menschen oder die Geister tun ?«73 . Das »diesem Bewusstsein [ des ursprünglichen Wissens ] den Rücken zukehren und betrogen werden«74, von dem Sie schreiben, vermag vielleicht nicht einen Selbstbetrug zu vermeiden, auch wenn es [ das Betrügen ] der anderen Menschen nicht antizipiert. Obschon es nicht zum Voraus [ das Betrügen ] der anderen Menschen überlegt, vermag es [ dem ursprünglichen Wissen ] vielleicht nicht wirklich zu vertrauen. Das bedeutet wohl, dass man beständig nach einem Herz des zum Voraus Gewahrens strebt und noch nicht fähig ist, beständig ein Herz des Selbstgewahrens zu haben. Wenn man beständig nach einem Herz des zum Voraus Gewahrens strebt, ist man schon in das Antizipieren und Vorausüberlegen geraten, und dies genügt, um das eigene ursprüngliche Wissen zu verdecken. Das ist der Grund, warum noch nicht zu vermeiden ist, dass man »diesem Bewusstsein [ des ursprünglichen Wissens ] den Rücken zukehrt und betrogen wird«. »Der Edle lernt für sich selbst«75 und überlegt nie das Betrogenwerden durch die anderen Menschen ; nur sein eigenes ursprüngliches Wissen betrügt er nie ; er überlegt nie, dass andere Menschen ihm nicht vertrauen könnten, sondern vertraut nur immer seinem eigenen ursprünglichen Wissen ; er strebt nie nach dem zuvor Bewusstwerden des Getäuschtwerdens durch die anderen Menschen und ihres Nichtvertrauens, sondern bemüht sich immer nur darum, sich selbst des eigenen ursprünglichen Wissens bewusst zu werden. Wenn man daher [ das ursprüngliche Wissen ] nicht betrügt, dann hat das ursprüngliche Wissen nichts Unechtes und ist wahrhaftig ; »ist es wahrhaftig, dann ist es hell«76 . Wenn es (= das ursprüngliche Wissen) sich selbst vertraut, dann hat das ursprüngliche Wissen keine

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Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé

故良知常覺常照。常覺常照,則如明鏡之懸,而物 之來者自不能遁其妍媸矣。何者?不欺而誠則無所 容其欺,荀有欺焉,而覺矣;自信而明則無所容其不 信,茍不信焉,而覺矣。是謂易以知險,簡以知阻, 子思所謂『至誠如神,可以前知』者也。然子思謂『 如神』,謂『可以前知』,猶二而言之。是蓋推言思 誠者之功效,是猶為不能先覺者說也。若就至誠 而言,則至誠之妙用即謂之神,不必言「如神」, 至誠則無知而無不知,不必言「可以前知」矣。

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Zweifel und ist hell ; »wenn hell, dann wahrhaftig«.77 »Helligkeit und Wahrhaftigkeit bringen sich gegenseitig hervor«78 ; deshalb ist das ursprüngliche Wissen immer bewusst, leuchtet immer. Wenn es immer bewusst ist und leuchtet, dann ist es, wie wenn man einen Spiegel aufhängt : Die [ in ihm ] auftretenden Dinge vermögen ihre Schönheit oder Hässlichkeit nicht zu verbergen. Das ist deshalb so, weil nichts es (= das ursprüngliche Wissen) betrügen kann, wenn es sich selbst nicht betrügt und wahrhaftig ist ; falls es etwas Betrügerisches gibt, ist [ das ursprüngliche Wissen ] sich dessen bewusst. Wenn es (= das ursprüngliche Wissen) sich selbst vertraut und hell ist, dann kann nichts ihm misstrauen ; falls es ein Misstrauen gibt, ist [ das ursprüngliche Wissen ] sich dessen bewusst. Dies bedeutet, dass es (= das ursprüngliche Wissen) mit Leichtigkeit Gefahren und mit Einfachheit Hindernisse erkennt. Dies ist es, was Zǐsī79 mit dem Satz meint : »Wenn man in höchster Weise wahrhaftig ist, ist man wie ein Geist ; man kann [ das Künftige ] im Voraus wissen.« Doch wenn Zǐsī von »wie ein Geist sein« und von »im Voraus wissen« spricht, dann spricht er davon wie von zwei verschiedenen Dingen. Denn es ist wie ein logisches Erschließen der Wirkungen der Wahrhaftigkeit, es ist wie von jemandem gesprochen, der [ a ls solcher ] nicht fähig ist, zum Voraus sich [ einer Sache ] bewusst zu sein. Wenn man aber vom höchsten Wahrhaftigsein spricht, dann ist dessen wunderbare Funktion dasselbe wie die Bedeutung von »ein Geist sein« ; man soll also nicht sagen : »wie ein Geist sein«. Wenn man in höchster Weise wahrhaftig ist, dann hat man kein Wissen und weiß doch alles ; man soll daher nicht sagen : »man kann dann zum Voraus wissen«.

TEIL III Die Kontroverse von 1534/35 zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

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^ 答羅整庵先生寄《困知記》

[ 1.]

[  OYDJ, S. 12 – 15  ]

披讀大篇,明暢痛快,溫潤精密,使人起敬起慕, 昏聵警發,鄙吝消融。有道者之言,其感人如此, 而況於親炙之者乎? 承翰教,拳拳引誘,使盡其所欲言,以求歸於 是。某無似先生長者,不鄙其愚,俯就曲成,感幸 何可云喻!顧常聞學不躐等,故古之學者有聽而 佛問。某罔所知識,何足以承先生長者之教? 然隱之於中,有未能渙然而無疑者,謹 誦述 所聞,惟執事裁教焉。

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6 Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli (15. Tag des sechsten Mondes) 1534

[ 1. E  inleitung des Briefes. Gesamteindruck von Luó Qīnshùns Hauptwerk. Dank für den erhaltenen Begleitbrief  80 ]

Ich habe einzeln die großen Stücke (das Stück von 1528 und dasjenige von 1533 Ihrer Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not) gelesen. Ich fühlte mich durch sie erhellt und glücklich, sie sind sanft und angenehm, fein und tiefsinnig ; sie bewegen den Menschen zu Verehrung und Bewunderung. Die Verworrenen und Tauben machen sie wachsam ; Gemeinheit und Knausrigkeit schmelzen dahin. Wenn die Worte von jemandem, der das Dao besitzt, schon in dieser Weise die anderen zu erregen vermögen, wie dann erst einen Vertrauten und Befreundeten. Ich danke für die Belehrung Ihres Briefes. Sie führt mich aufrichtig, drückt ganz aus, was Sie sagen wollen, damit ich zum Wahren gelange. Ich kann mich mit Ihnen in Ihrer Vortrefflichkeit nicht vergleichen ; doch Sie verachten meine Dummheit nicht. Sie »lassen sich zu mir herab«81 und »führen mich in meiner Wenigkeit zur Vollendung«82. Wie ist ein solches Glück in Worte zu fassen ! Doch hörte ich einst, dass das Lernen Stufen nicht überspringen soll. Deshalb hörten die Lernenden des Altertums zu und fragten nicht. Nun weiß ich kaum etwas, wie sollte ich also genügen, die Belehrung von Ihnen in Ihrer Vortrefflichkeit aufzunehmen ? Aber im Verborgenen vermag ich meine Zweifel nicht dahinschmelzen zu lassen. Ich lege Ihnen nur vor, was ich vernahm, und es ist dabei an Ehrwürden, über die [ R ichtigkeit der ] Lehre zu urteilen.

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

[ 2.]

竊觀《記》中反復於心性之辨,謂: 「佛氏有見於 心,無見於性,故以知覺爲性。」又舉《傳習錄》 中云:「吾心之良知,即所謂天理也。」謂此言亦 以知覺爲性者。某嘗聞知覺俞良知,名同而實異。 凡知視、知聽、知言、知動,皆知覺也,而未必其 皆善。良知者,知惻隱、知羞惡、知恭敬、知是非, 所謂本然之善也。本然之善,以知為體,不能離 知而別有體。蓋天性之真,明覺自然,隨感而通, 自有條理者也。是以謂之良知,亦謂之天理。

Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534

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[ 2. D  er Hauptpunkt von Ōuyáng Dés Kritik an den Ausführungen von Luó Qīnshùn in den Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not (Kùnzhī jì 困知記) : dessen Unterscheidung zwischen Herz/Geist (xīn 心) und Natur (Wesen : xìng 性) und dessen Vorwurf an Wáng Yángmíng, dem Buddhismus zu verfallen. Ōuyáng Dés Unterscheidung zwischen Herz/Geist als W ­ issen des »Wahrnehmens« und Herz/Geist als Wissen des »ursprüng­ lichen Wissens«, welches die von selbst klar wahrnehmende Natur (Wesen : xìng 性) ist 83 ]

In Ihren Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not diskutieren Sie wiederholt den Unterschied zwischen unserem »Herzen« und der »Natur des Menschen« und schreiben, dass die Buddhisten zwar Einsicht in unser »Herz«, aber keine Einsicht in die »Natur« des Menschen haben und deshalb das »wahrnehmende Wissen« (das wahrnehmende Bewusstsein) zur »Natur« des Menschen machen. Sie zitieren aus [ Wáng Yángmíngs ] C ­ huánxí lù auch den Satz, dass »das ›ursprüngliche Wissen‹ unseres Herzens das ist, was ›Ordnungsprinzip des Himmels‹ genannt wird«84, und meinen, dass auch diese Aussage das »wahrnehmende Wissen« zur »Natur« des Menschen erklärt. 85 Demgegenüber hörte ich einst [ von Wáng Yángmíng ], dass das »wahrnehmende Wissen« und das »ursprüngliche Wissen« den Wörtern nach gleich, der Sache nach aber verschieden sind. Alles Wissen (Bewusstsein) des Sehens, Wissen des Hörens, Wissen des Sprechens, Wissen des Tätigseins ist wahrnehmendes Wissen und nicht notwendig vollständig gut. 86 Das »ursprüngliche Wissen« hingegen, d. h. das Wissen des Mitleids, das Wissen der Scham und Entrüstung [ gegenüber Unrecht ], das Wissen der Ehrfurcht und Verehrung, das Wissen des Bejahens [ des Richtigen ] und Verneinens [ des Falschen ]87, ist das, was das »eigentlich Gute« genannt wird. 88 Das »eigentlich Gute« hat das Wissen zu seiner Substanz ; es kann sich nicht vom Wissen trennen und eine davon verschiedene Sub­ stanz haben. Denn das Wahre der [ dem Menschen einwohnenden ] »Natur« des Himmels nimmt von selbst klar wahr ; wenn es [ von der Situation ] angeregt wird, versteht es und hat aus sich selbst eine Ordnung. Deshalb heißt es »ursprüngliches Wissen« und es heißt auch »Ordnungsprinzip des Himmels«. Das »Ordnungsprinzip des Himmels« ist die Ordnung des »ursprünglichen Wissens« und das »ursprüngliche Wissen« ist die geisteskräf-

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

天理者,良知之條理;良知者,天理之靈明。知覺 不足以言之也。 [ 3.] 13

致知云者,非增廣其見聞覺識之謂也。循其惻隱、 羞惡、恭敬、是非之知,而擴充之以極其至,不 | 使其蔽昧虧歉,有一念之不實者,所謂致曲以求 誠,故知至則意誠矣。此與佛氏所謂「圓覺」, 所謂「含藏識」者,既已不同,而其功在於格物, 益於佛氏異矣。 物 者,事也,思慮、覺識、視聽、言動、感應、 酬酢之跡者也。上而天子之用人理財, 下而農商 之耕鑿貿易,近而家之事親事長,遠而天下之正 民育物,小而童子灑掃應對,大而成人之變化云

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tige Klarheit des »Ordnungsprinzips des Himmels«. Vom »wahrnehmenden Wissen« kann man das nicht sagen. 89 [ 3. Die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« meint keine Vermehrung und Erweiterung des Sehens und Hörens (des Erfahrens : jiàn wén 見聞), des Wahrnehmens und Erkennens (jué shí 覺識), sondern geschieht im »Berichtigen der Handlungen« (gé wù 格物). Der Unterschied zum Buddhismus 90 ]

Die Rede vom »Verwirklichen des [ u rsprünglichen ] Wissens« meint keine Vermehrung und Erweiterung des Sehens und Hörens, des Wahrnehmens und Erkennens. Wenn man es (= dieses Wissen) im Wissen des Mitleids, der Scham und Entrüstung, der Ehrfurcht und Verehrung, des Bejahens und Verneinens erweitert und erfüllt, indem man es in höchster Weise zur Anwesenheit bringt, und nicht zulässt, dass [ dieses Wissen ] durch seine Verhüllungen und Verdunkelungen, seine Unzulänglichkeiten und Mängel auch nur einen Augenblick der Unwirklichkeit hat, dann haben wir das, was das »Erweitern des Einseitigen im Streben nach Ganzheit und Wahrhaftigkeit«91 genannt wird. Deshalb ist der »Wille ganz und wahrhaftig«92, wenn dieses Wissen ganz angekommen (ganz anwesend geworden) ist. Da nun schon dies nicht mit dem übereinstimmt, was die Buddhisten »vollkommene Erleuchtung«93 oder »Enthalten des Speicherbewusstseins«94 nennen, und die [ ethische ] Anstrengung im »Berichtigen der Handlungen« (gé wù 格物) besteht, so haben wir einen weiteren Unterschied zum Buddhismus.95 Die »wù 物« [ im Ausdruck gé wù 格物 ] sind die »praktischen Angelegenheiten«, sind »Spuren« (Äußerungen) des Denkens und Überlegens, des Wahrnehmens und Erkennens, des Sehens und Hörens, des Sprechens und Tätigseins, des Angeregtwerdens und Antwortens und des gesellschaftlichen Umgangs. Wenn an der Spitze des Staates der Kaiser die Menschen zum Ordnen der Reichtümer verwendet und wenn in den unteren Schichten der Gesellschaft die Bauern ackern und harken und die Händler Geschäfte treiben ; wenn in der Nähe der Dienst an den Eltern und älteren Brüdern geleistet wird und wenn in der Weite im ganzen Reich das Volk berichtigt wird und die Dinge gepflegt werden ; wenn die Kinder folgsam

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爲,莫非思慮、覺識、視聽、言動、感應、酬酢之 跡,皆其日履之固然而不可易者。然而有善有惡, 有正有邪。格物者,爲善而不爲惡,從正而不從 邪,隨其位分,休其日履,循其良知之天理,而無 所蔽昧虧歉者也。 物無方體,知無方體,格致之功亦無方體。物 無窮盡,知無窮盡,格致之功亦無窮盡。日積月 累,日就月將,而自有弗能已者。不如是,則旦晝 所爲,梏其良心,而其違禽獸不遠矣。故格物者, 聖門篤實真切用力之地,沒身而已者也。彼佛氏 以事爲障,既不知所爲「格物」,而其徑超頓悟, 又焉有積累就將之實哉?某之所聞如此。竊考之 於孔、曾、思、孟、濂溪’明道之言,質之《楞伽》、 《楞嚴》、 《圓覺》、 《涅槃》諸經,其宗旨異同,

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sind, indem sie den Boden besprengen und wischen, und die Heranwachsenden sich verändern, sprechen und wirken – dann sind alle diese Tätigkeiten nichts anderes als die Spuren des Denkens und des Wahrnehmens und Erkennens, des Sehens und Hörens, des Sprechens und Tätigseins, des Angeregtwerdens und Antwortens und des gesellschaftlichen Umgangs. Dies hat die Festigkeit des alltäglichen Verhaltens und etwas Unveränderliches. Doch hier gibt es Gutes und Schlechtes, Gerades und Schiefes. Das »Berichtigen der Handlungen« (gé wù) besteht im Tun des Guten und im Nichttun des Schlechten, im Befolgen des Geraden und Nichtbefolgen des Schiefen, im Verbessern seines täglichen Verhaltens gemäß seiner sozialen Stellung, [ besteht darin, ] im Befolgen des himmlischen Ordnungsprinzips des eigenen »ursprünglichen Wissens« Verdeckungen und Verdunkelungen, Unzulänglichkeiten und Mängel zu vermeiden. Handlungen haben keine räumliche Begrenzung, das [ u rsprüngliche ] Wissen hat keine räumliche Begrenzung, die Anstrengung des Berichtigens [ der Handlungen ] und des Verwirklichens [ des ursprünglichen Wissens ] haben keine Begrenzungen. Kontinuierlich [ das Gerechte ] anhäufen und unentwegt fortschreiten, ohne dabei anhalten zu können : Wenn man es nicht so tut, dann stellt man nur sein Tun ins Licht, dann fesselt man sein ursprüngliches Wissen, und sein gesetzeswidriges Verhalten ist nicht weit von demjenigen der wilden Tiere entfernt. Deshalb ist das »Berichtigen der Handlungen« der Bereich der wahrhaften und wirklichen [ ethischen ] Anstrengung der Schule der Heiligen, der erst mit dem Tod ein Ende findet. Die Buddhisten aber betrachten die »Angelegenheiten« als Hindernisse und betrachten die »Ordnungsprinzipen« als Hindernisse. Da sie nicht wissen, was »Berichtigen der Handlungen« bedeutet, wie könnte dann ihr »direktes Hinüberspringen und plötzliches Einsehen« die Wirklichkeit eines kontinuierlichen Anhäufens und Fortschreitens haben ! Was ich [ von Wáng Yángmíng ] hörte, erlaubte ich mir an den Worten von Konfuzius [ im Lúnyǔ ], Zēngzǐ [ im Dàxué ], Zǐsī [ im Zhōngyōng ], Mèngzǐ sowie Liánxī (Zhōu Dūnyí) und Míngdào (Chéng Hào)96 zu überprüfen, und verglich es mit dem Laṅkavatāra-Sūtra, dem Śuraṅgāma-Sūtra, dem Sūtra der vollständigen Erleuchtung97 und dem Nirvāṇa-Sūtra98 . Ich fand, dass die Grundsätze ganz verschieden sind. Doch was Ihre verehrte Unterrichtung sagt, vermochte sie (= meine Zweifel) daher im Inneren nicht zu lösen. Nur

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頗覺判別。然而尊教云云,是以不能渙然於中也。 惟高明幸中誨之。 [ 4.]

又觀《記》中有云: 「厭夫學問之繁,而欲徑達於 易簡之域。」 某嘗聞,學問、思辨皆明善之功。善者,人心天 命之本然,所謂良知者也。良知,至易至簡,非有 二也。 夫學者學其所不能,良知之用至博,皆不學而 能者也。蔽於私而後有不能,則必學而後能。

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是故本能愛親,蔽 | 於私則有所不愛,學愛親而 後能愛矣。本能敬兄,蔽於私則有所不敬,學敬 兄而後能敬矣。 學其事而能之,修其善而去其不善,格物之功 也。然有蔽而後有學,則其真妄錯雜,善惡混淆,

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Sie in Ihrer Weisheit vermögen mich zu meinem Glück bis zum Ende zu ­ermahnen. [ 4. D  as Gute ist das, was »ursprüngliches Wissen« genannt wird. Leichtigkeit und Komplexität des ursprünglichen Wissens. Die Verwirklichung des ursprünglichen Wissens im Berichtigen der Handlungen99 ]

Ich sehe auch, dass in Ihren Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not steht : »Man ist der Komplexität des Studiums müde und wünscht geradewegs in den Bereich des Leichten und des Einfachen zu gelangen.« Ich habe einst [ bei meinem Lehrer Wáng Yángmíng ] gehört, dass alles Denken und Unterscheiden die Anstrengung des Erhellens des Guten ist. Das Gute ist das Ursprüngliche des menschlichen Herzens und der himmlischen Bestimmung, es ist das, was ursprüngliches Wissen genannt wird. Das ursprüngliche Wissen ist äußerst leicht und äußerst einfach, und seine Funktionen sind äußerst weit. Beziehungen wie solche der kindlichen Pietät zu den Eltern, des Ehrens der älteren Brüder, des Liebens der Wesen enthalten tausend Veränderungen und sind nicht auszuschöpfen, doch das [ in ihnen ] wirklich Eine ist das ursprüngliche Wissen. So ist das Einfache immer auch komplex, und der Grund, warum das Komplexe einfach ist, liegt darin, dass dies nicht zweierlei Dinge sind. Nun lernt der Lernende das, was er nicht kann. Die Funktionen des ursprünglichen Wissens sind äußerst weit ; es ist ihrer aller fähig, ohne sie zu lernen100. Wenn es durch Egoismus verdunkelt wird, dann gibt es ein Nichtfähigsein. Dann muss es lernen, bevor es fähig ist. Daher liebt es in seinem ursprünglichen Können die Eltern ; wenn es durch Egoismus verdunkelt wird, werden sie nicht geliebt ; erst nach dem Lernen des Liebens der Eltern ist man [ w ieder ] dieser Liebe fähig. In seinem ursprünglichen Können ehrt es seine älteren Brüder. Wenn es durch den Egoismus verdeckt wird, werden sie nicht geehrt ; erst nach dem Lernen des Ehrens der älteren Brüder ist man [ w ieder ] dieses Ehrens fähig. Seine Aufgabe zu erlernen und ihrer fähig zu werden, sein Gutes zu kultivieren und das Nichtgute auszuschalten, dies ist das »Berichtigen der Handlungen« (gé wù). Doch wenn [ das ursprüngliche Wissen ] verdunkelt und das Lernen notwendig wird, dann gibt es hinsichtlich der Vermengun-

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

必有不知不明者矣。問者問其所不知,思者思其 所不得,辨者辨其所不明,皆就所學之事真妄、 善惡之間,講究、研磨、察識、辨別,求能其事而 後已焉耳,學而能之則善得矣。 「拳拳服膺而弗 失」,所謂篤行之者也。故曰五者廢其一,非學。 果能此道,而後本然之善全體明淨,渣滓渾化而 無有蔽昧虧歉者。離本然之善,則別無可學可問 之事;捨學問之繁,則別無至易至簡之功也。 [ 5.]

讀書,亦問辨之一端。書也者,紀人心善惡是非 之跡者也。古人善惡是非之跡,亦吾心善惡是非 之跡也。從事於學者,或取決於師友,或考正於 詩書,其要去吾之不善,修吾之善,學而能之而 已,故曰「學於古訓」。是故「道積厥躬,而德修

Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534

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gen des Wahren mit dem Falschen und der Verwechslungen des Guten mit dem Schlechten notwendig ein Nichtwissen und eine Unklarheit. Wenn der Fragende nach dem fragt, was er nicht weiß ; wenn der Denkende an das denkt, was er nicht erlangt ; wenn der Unterscheidende das zu unterscheiden sucht, was er nicht unterscheiden kann, dann ist es all dieses, worin die Tätigkeit des Lernens besteht. Wenn man hinsichtlich des Unterschiedes von Gut und Schlecht sich bemüht, verfeinert, prüft, unterscheidet und nach der Fähigkeit in dieser seiner Aufgabe trachtet und dann aufgrund seines Lernens in den Besitz dieser Fähigkeit gelangt, dann ist das Gute erreicht. Der Satz »von ganzem Herzen überzeugt sein und nichts vernachlässigen« meint das ernsthafte Handeln. Im Altertum sagte man : »Wenn eines von den fünfen [ nämlich : Sichbemühen, Verfeinern, Prüfen, Unterscheiden und nach der Fähigkeit in seiner Aufgabe Trachten ] fehlt, dann ist es kein Lernen.« Wenn man dieses Weges fähig ist, dann ist das ursprüngliche Gute in seiner ganzen Wirklichkeit klar. Der Treber ist abgesunken, und es gibt keine Verdeckung und Verdunkelung, keinen Makel und Mangel mehr. Wenn man das ursprüngliche Gute verlässt, dann gibt es außerhalb davon keine Aufgabe des Lernens. Wenn man die Komplexität des Lernens aufgibt, dann gibt es keine Leistung des äußerst Leichten und äußerst Einfachen. [ 5. Einheit von Bücherstudium und Selbstkultivierung101 ]

Das Studieren von [ konfuzianischen ] Büchern ist auch einer der Anfänge des Fragens und Unterscheidens. Die Bücher sind die Aufzeichnungen der Spuren des Guten und Schlechten, des Wahren und Falschen des menschlichen Herzens. Die Spuren des Guten und Schlechten, des Wahren und Falschen der früheren Menschen sind auch die Spuren des Guten und Schlechten, des Wahren und Falschen meines eigenen Herzens. Das Sichbefassen mit dem [ ethischen ] Lernen mag bei den Entscheidungen von Lehrern und Freunden oder beim Nachsehen im Klassiker der Lieder oder im Klassiker der historischen Dokumente102 stattfinden, die Hauptsache dabei besteht aber immer nur darin, mein Nichtgutes zu vertreiben und mein Gutes wiederherzurichten, dies zu lernen und zu können. Daher heißt es im Klassiker der historischen Dokumente : »Das Dao sammelt sich in der eigenen Person ;

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

罔覺」也。故古訓非外,身心非內也;讀書非先, 修身非後也。後世未免歧岐而二之,二則離,離 則遠。其於不遠人以爲道之旨,似覺微有小異耳。 惟高明幸終誨之。 [ 6.]

某竊惟教學之興,蓋聖帝明王憂民之欲動情勝, 喪其良心,五品失序,百行乖錯,相戕相賊,罔所 底極。於是勞民勸相匡直而輔翼之,使之自易其 惡,自盡其性。當其時,教無異學,學無異習。 不但養於庠序者知實用其力,農賈罝兔之微, 亦各安其業而敏於善,君卿大夫各循其職而盡 其心,上下之間皆以實德實行爲學,而不騖於論 說之繁,知見之多。百僚師師,比屋可封,非苟 然也。

Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534

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die Tugendkraft wird kultiviert, ohne dass man darum weiß«103 . Deshalb ist die Belehrung durch die Alten nichts Äußeres, die [ eigene ] Person und der Leib sind nichts Inneres. Das Bücherstudium kommt nicht zuerst und die ethische Selbstkultivierung nicht erst danach. Die späteren Generationen haben es nicht vermieden, sie aufzuspalten und daraus zweierlei Dinge zu machen. Doch wenn sie zweierlei sind, dann sind sie getrennt ; wenn sie getrennt sind, dann sind sie voneinander entfernt. Im Hinblick darauf, dass das, was nicht fern von uns Menschen ist, als die Bedeutung des Dao betrachtet wird, scheinen Sie im Kleinsten noch eine kleine Differenz [ zu dem, was ich von Wáng Yángmíng gehört habe, ] zu gewahren. Nur Sie in Ihrer Weisheit vermögen mich zu meinem Glück bis zum Ende zu er­mahnen. [ 6. Die Geschichte des Lernens von den heiligen Kaisern und aufgeklärten ­Königen bis in die heutige Zeit104 ]

Ich denke heimlich an das Blühen der Lehre, als heilige Kaiser und aufgeklärte Könige besorgt darüber waren, dass die einfachen Leute durch die Bewegung ihrer Wünsche und den Sieg ihrer Neigungen ihr ursprüngliches gutes Herz zerstören, dass sie der Ordnung der fünf Beziehungen105 verlustig gehen, dass sie in ihren Praktiken von Falschem Gebrauch machen, dass sie sich gegenseitig umbringen und einander Schaden zufügen und ohne Grundlagen und Prinzipien sind. In dieser Lage haben sie den sich abmühenden einfachen Leuten zugeredet, sich gegenseitig zu berichtigen, haben sie dabei unterstützt und haben sie veranlasst, ihre Übel zu ändern und ihre eigene gute Natur auszuschöpfen. Zu jener Zeit gab es keine Irrlehren, und das Lernen kannte kein irriges Üben. Nicht nur die Dorfschüler wussten ihre Kräfte zu gebrauchen, auch die Bauern, Händler und Jäger106 waren zufrieden in ihren Berufen und eifrig im Guten. Die Herrscher und ihre Minister hielten sich an ihre Aufgaben und schöpften dabei ihr Herz aus, und unter den Vorgesetzten und den Untergebenen machten alle die wirkliche Tugend und die wirkliche Praxis zum Gegenstand ihres Lernens, und sie vergaloppierten sich auch nicht in eine Unzahl von Diskussionen und Vielheit von Meinungen. Die Beamtenschaft und die Militärs arbeiteten zusammen und waren nicht leichtfertig.

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

世衰道微,諸子百家不知循其天性之真,而各 以其意之所見者爲道、爲我、兼愛’縱橫、術數、 兵刑、名法、寂滅、虛無之習,紛然雜出,然皆力 行深造,斐然成章,足以亂實學而溺人心。 15

聖賢者作而拯人之溺,亦 | 惟示天性之善,而 道一日履之功,慎念慮之微,而決其蔽陷之端, 使之無爲其所不爲,無欲其所不欲,各循其本心 而已,非多爲論說,使人廣其知識於外也。厥後 學諸子者,往往通其說以求獲,演其義以立言, 其流爲訓詁爲詞章,以諸子自名而侵失諸子之宗。 爲聖人之學者,亦復博通道德仁義之意,貫穿諸 子百家之旨,相與並駕其說於天下,以爲講之精,

Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534

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Als das Zeitalter verfiel und das Dao sich verbarg, als die vielen Lehrmeister und ihre zahlreichen Schulen nicht mehr dem Wahren ihrer vom Himmel stammenden Natur zu folgen wussten und jeder das, was er in seiner Absicht sah, zum Dao erhob, als die Übungen und Gewohnheiten des »für mich selbst«107, der »allgemeinen Liebe«108, der taktischen Bündnisse in der Senkrechten [ z wischen Nord und Süd ] und Waagrechten [ z wischen Ost und West ]«, der »Zauberberechnung«, der »Waffenkunst«, der »Namen und der Gesetze«109, des Buddhismus (wörtl. des Nirvāṇa) und des Dao­ismus (wörtl. »der Leere und des Nichts«) in großer Zahl und Mannigfaltigkeit hervortraten, da reichten all die vielen Gewaltanwendungen und verborgenen Praktiken sowie gelehrten und anmutigen Abhandlungen aus, um das wirkliche Lernen zu verwirren und das menschliche Herz zu verführen. Die Rettung der verwirrten Menschen durch das Wirken der Heiligen und Weisen [ des Konfuzianismus ] zeigte auch nur die Güte der vom Himmel stammenden Natur, und das Dao beendete durch sein tägliches Wirken und durch die Feinheit seines aufrichtigen Denkens die Einseitigkeit ihrer Verblendung und ihres Verfalls und veranlasste sie, nicht zu tun, was sie vorher alles getan hatten, nicht zu begehren, was sie vorher alles begehrt hatten, so dass sie alle nichts anderem folgten als ihrem ursprünglichen Herzen, dass sie nicht alle möglichen Reden führten, welche die Menschen veranlassten, sich in ihrem äußerlichen Wissen auszubreiten. Nachdem [ in der Hàn-Dynastie vom 2. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr. und in der Sòng-Dynastie im 11. bis 13. Jh. ] die Nachfolger der verschiedenen [ a lten ] Meister [ des Konfuzianismus ] wiederholt ihre Lehren in Einklang gebracht und deren Bedeutung erläutert hatten, um feste Aussagen aufzustellen, wurden ihre Traditionen zu den maßgebenden Auslegungen und entscheidenden Texten, um im Namen der [ a lten ] Meister das Wesentliche der [ a lten ] Meister zugänglich zu machen. Auch das Lernen der heiligen Menschen [ nämlich von Konfuzius und Mèngzǐ ] durchdrang wieder den Sinn des Dao und der Tugendkraft, der Menschlichkeit und der Rechtlichkeit, es verband die Grundsätze der [ a lten Meister ] und der Hundert Schulen [ der Zeit der Streitenden Reiche, 5. bis 3. Jahrhundert v. Chr. ] und es ließ deren Lehren in Einheit das ganze Reich unter dem Himmel durchlaufen, so dass die Reden substantiell, die Diskussionen umfassend, das

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

辨之悉,知之明,庶乎其學之不差。其設心未爲 不善也。 源遠末離,支盛本披,爲說愈繁,爲道愈難, 農賈罝兔有所不能及,天子諸侯有所不暇爲,雖 學校之俊秀亦往往汩於論說,蕩其知識,依擬形 似,矜飾功能,非復真切篤實,致其良知於日履 之間,以達之天下,是故知德者鮮矣。 [ 7.]

先知覺後知,先覺覺後覺。固當有任其責者,仰 惟先生大人正己一率物,明道以淑人,實德實行, 嵬然後學山斗之瞻。自任之重,宜不可得而辭。 某寡陋無聞,固顧日操几杖親承,無行不與之教, 時勢牽縛,莫之能遂,而徒託之簡札,言不盡意, 尚賴教思無窮,誨迪不倦,庶以成痿不忘起之 志耳。 臨風南向,無任耿耿。

Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534

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Wissen klar und dessen Erlernen beinahe fehlerlos war. Ihr Aufrichten des Herzens hatte noch nichts Ungutes. Doch je weiter man sich von der Wurzel entfernte, umso mehr wurden die Zweige voneinander getrennt ; je üppiger die Verzweigungen wurden, desto mehr wurde [ in ihnen ] die Wurzel zerteilt. Je verwickelter die Lehren wurden, desto schwieriger wurde es, nach dem Dao zu handeln. Die Bauern, Händler und Jäger110 konnten davon manches nicht erreichen, der Himmelssohn und seine Beamten nahmen sich nicht die Muße für das, was zu tun war. Obschon die Gebildeten der Schulen in den Lehren schwammen und ihr Wissen ausdehnten, sich auf Ähnlichkeiten stützten und ihre Fähigkeiten zur Schau stellten, waren sie nicht wahrhaft aufrichtig und echt. Sie verwirklichten in ihrem täglichen Leben nicht ihr ursprüngliches Wissen, um es überall unter dem Himmel sich ausdehnen zu lassen. Deshalb sind [ jetzt ] diejenigen, die um die Tugendkraft wissen, selten geworden. [ 7. S  chluss des Briefes und Aufforderung zu weiterer Belehrung ]

»Jene, die zuerst erkennen, erwecken jene, die [ erst ] später erkennen ; jene, die zuerst erwachen, erwecken jene, die [ erst ] später erwachen.«111 Die Schwere meiner Verpflichtungen lässt sich angemessen nicht in Worte fassen. So grobschlächtig und ungebildet ich auch bin, blicke ich doch voller Zuversicht auf den Tag, da ich Ihnen Schemel und Gelehrtenstock reichen und höchstpersönlich folgen werde. Doch wer keinen guten Wandel führt, mit dem teilt man seine Unterweisung nicht ! Die gegenwärtigen Umstände aber binden und fesseln mich, ohne dass ich ihrer Herr werden könnte. Die hohlen Worte meines Schreibens vermögen meinen Sinn nicht vollständig auszudrücken, so dass ich nach wie vor auf die fortwährende Unterweisung in Ihren Gedanken angewiesen bin. Unterrichten und leiten Sie mich unermüdlich ! Selbst ganz und gar verkümmert, vergesse ich ihren aufrichtenden Sinn nicht ! In Erwartung des Segens Ihrer erhabenen Zuwendung braucht mein Herz sich nicht in Sorge zu zermartern !

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& 歐陽少司成(甲午秋)

[ 1.]

[ K ZJ, S. 117 – 121 ]

得六月望日書,披閱再四。承不以老朽見棄,為之 欣然傾倒,多至累幅,厚意何可當! 夫道之不明久矣,所幸聖賢之遺書尚存。有志 於學者,誦其言而咀其味,探其歸趣,反而驗之 吾心,庶或窺見其一二,以為持循之地。顧有道 之君子,世不多得,是非得失,莫或正之,其所取 證,終亦不出乎聖賢之書而已。僕之從事於此, 蓋亦有年,齒髮既凋,自度無能復進,乃筆其區 區之見,以與朋友講之。然視為老生常談,一覽 而遂置之者多矣,異同之論,邈乎其未有聞。 頃辱貽書,見需拙稿。夙欽高誼,因輙以奉寄,意

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7 Antwortbrief von Luó Qīnshùn an Ōuyáng Dé vom 8. September (1. Tag des achten Mondes) 1534

[ 1. E  inleitung des Briefes 112 ]

Ihren Brief vom 15. Tag des sechsten Mondes (25. Juli) habe ich empfangen und mehrere Male gelesen. Sie betrachteten mich alten Vermodernden nicht als etwas Wegzuwerfendes, sondern Sie verneigten sich anerkennend vor mir und bemühten sich in Ihrem Schreiben an mich. Wie könnte ich da Ihrer großen Güte entsprechen ! Das Dao ist schon seit langem nicht mehr klar. Wir können uns glücklich schätzen, dass die Bücher der Heiligen und Weisen noch erhalten sind. Diejenigen, die den Willen zum Lernen haben, ihre Worte rezitieren und deren Bedeutung kosten, nach ihren Grundlagen suchen, sie reflektierend am eigenen Geist prüfen, erspähen davon auch nur Teile und betrachten sie als das, woran sie sich halten können. Doch da die Edlen, die das Dao in sich tragen, in der Welt selten sind, das Wahre und Falsche, das Erlangen und Verlieren kaum berichtigt wird, können sie auch nicht über die Bücher der Heiligen und Weisen hinausgelangen. Da ich, Ihr Diener, mich damit schon seit Jahren beschäftige, meine Zähne und Haare schon ausgefallen sind und ich mich so einschätze, dass ich jetzt keine weiteren Fortschritte mehr machen kann, schreibe ich Ihnen die von mir eingesehenen Kleinigkeiten, um sie mit einem Freund zu erörtern. Wenn immer wieder um altes Zeug herumgeschrieben wird, dann sind diejenigen zahlreich, die es nach einem ersten Blick gleich wieder zur Seite legen ; wenn über Verschiedenheit und Gleichheit diskutiert wird, dann ist weit entfernt und tief verborgen, was noch nie gehört ward. Es ist nötig, [ meinen ] dummen Entwurf als schwere Beleidigung Ihrer Briefgabe zu sehen. Da ich seit langer Zeit Ihre hochgeschätzte Vertrautheit verehre, schicke ich ihn Ihnen sofort ehrerbietig zu ; die Absicht ist es, dass wir Übereinstimmung finden werden.

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

者將有合焉。誨札遄來,則枘方鑿圓,殊不相入。 高見已定,殆亦無復可言者矣,而書詞丁寧, 不 | 容但己,勉罄所聞以復,請更詳之。

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[ 2.]

來書凡三段,第一段申明良知即天理之說甚悉。 首云: 「知覺與良知,名同而實異。」末云: 「考之 孔、曾、思、孟、濓溪、明道之言,質之楞伽、楞嚴、 圓覺、涅槃諸經,其宗旨異同,頗覺判別。」足知 賢契不肯以襌學自居也。然人之知識,不容有二。 孟子本意,但以不慮而知者名之曰良,非謂別有 一知也。今以知惻隱,知羞惡,知恭敬,知是非為 良知;知視,知聽,知言,知動為知覺。是果有二 知乎?夫人之視聽言動,不待思慮而知者亦多矣, 感通之妙,捷於桴鼓,何以異於惻隱、羞惡、恭

Antwortbrief von Luó Qīnshùn an Ōuyáng Dé vom 8. September 1534

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Wenn Ihr mich belehrender Antwortbrief angekommen sein wird, dann werden der vierkantige Holzgriff und der runde Metallbohrer bestimmt nicht ineinanderpassen (= dann werden die Unterschiede klar sein). Wenn Ihre Ansicht festgelegt sein wird, dann wird vermutlich nichts mehr zu sagen sein, und die wiederholten Ermahnungen in den Sätzen Ihrer Briefe erdulden keine bloß privaten [ Meinungen ]. Ich bitte Sie, noch genauer und wiederholt darzustellen, was Sie unter Aufgebot all Ihrer Kräfte unter größter Anstrengung vernommen haben ! [ 2. E  s gibt nicht zwei verschiedene Arten von »Wissen« (zhī 知). Antwort auf Ōuyáng Dés Unterscheidung zwischen Herz/Geist als Wissen des »Wahr­ nehmens« und Herz/Geist als Wissen (zhī 知) des »ursprünglichen Wissens«, welches die von selbst klar wahrnehmende Natur (Wesen : xìng 性) ist (siehe Stück 2 im vorangehenden Brief von Ōuyáng Dé)113 ]

Ihr Brief enthält insgesamt drei Teile114 . Im ersten Teil erklären Sie, dass die Lehre von der Identität des ursprünglichen Wissens mit dem Ordnungsprinzip des Himmels genau erwiesen sei. Zu Beginn [ dieses Teiles ] schreiben Sie : »›Das wahrnehmende Wissen‹ und das ›ursprüngliche Wissen‹ sind dem Worte nach gleich, der Sache nach aber verschieden« und am Schluss davon : »Ich habe es an den Worten von Konfuzius, Zēngzǐ, Zǐsī, Mèngzǐ, [ Zhōu ] Liánxī, [ Chéng ] Míngdào überprüft und verglich es mit dem Laṅkavatāra-Sūtra, dem Śuraṅgāma-Sūtra, dem Sūtra der vollständi­ gen Erleuchtung und dem Nirvāṇa-Sūtra, und fand, dass die Grundsätze ganz verschieden sind«. Daraus wird ersichtlich, dass Ihr weises Dokument nicht die Lehre des Dhyāna [ = Chán-Buddhismus ] zur eigenen Grundlage macht. Doch beim Wissen und Erkennen des Menschen kann es nicht zweierlei geben. In Mèngzǐs eigentlicher Bedeutung wird nur »ein Wissen ohne zu überlegen« »ursprünglich« genannt 115, es ist damit nicht eine besondere Art von Wissen gemeint. Wenn Sie nun das Wissen des Mitleids, der Scham und der Abscheu, der Verehrung und Ehrfurcht, des Zustimmens und Ablehnens als »ursprüngliches Wissen« und das Wissen des Sehens und Hörens, des Sprechens und Tätigseins als wahrnehmendes Wissen betrachten, gibt es da wirklich zwei verschiedene [ A rten von ] Wissen ? Es gibt beim Sehen und Hören, Sprechen und Tätigsein des Menschen auch Wis-

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

敬、是非之發乎?且四端之發,未有不關於視聽 言動者,是非必自其口出,恭敬必形於容貌,惡 惡臭輙掩其鼻,見孺子將入於井,輒匍匐而徃救 之,果何從而見其異乎?知惟一爾,而強生分別, 吾聖賢之書未嘗有也。 惟楞伽有所謂真識、現識及分別事識三種之 別,必如高論,則良知乃真識,而知覺當為分別 事識無疑矣。夫不以襌學自居,志之正也,而所 以自解者,終不免墮於其說,無乃未之思乎! [ 3.]   「天性之真,明覺自然,隨感而通,自有條理,是

以謂之良知,亦謂之天理。」僕雖耄,固知賢契

Antwortbrief von Luó Qīnshùn an Ōuyáng Dé vom 8. September 1534

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sen, das nicht vom Denken und Überlegen abhängt. Wie wäre das Geheimnisvolle eines sofortigen intuitiven Verständnisses oder die Flinkheit beim Rühren der Trommelstöcke [ in dieser Hinsicht ] verschieden vom Auftreten des Mitleids, der Scham und der Abscheu, der Verehrung und Ehrfurcht, des Zustimmens und Ablehnens ! Und weiter ist das Auftreten der »vier Anfänge« [ der Tugenden, d. h. des Mitleids usw. ] nie ohne Zusammenhang mit dem Sehen und Hören, Sprechen und Tätigsein : Das Zustimmen und Ablehnen muss aus dem Mund hervorkommen ; die Verehrung und die Ehrfurcht muss in Gebärden Form annehmen ; die Abscheu vor üblem Geruch116 verdeckt sich sofort die Nase ; wenn man ein Kind sieht, das im Begriff ist, in einen Brunnenschacht zu fallen, wirft man sich sofort nieder, um es zu retten. Wie soll da wirklich ein Unterschied [ z wischen »ursprünglichem Wissen« und »wahrnehmendem Wissen« ] ersichtlich sein ! Das Wissen ist nur eines, und in den Büchern unserer [ konfuzianischen ] Heiligen und Weisen ist da keine erzwungene Unterscheidung vorhanden.117 Nur im [ buddhistischen ] Laṅkavatāra-Sūtra wird zwischen drei Arten von Erkenntnis, nämlich der »wahren Erkenntnis«, der »perzeptiven Erkenntnis« und der »dinglich unterscheidenden Erkenntnis« unterschieden. Wenn es so sein sollte, wie Sie schreiben, dann müsste ohne Zweifel das »ursprüngliche Wissen« das »wahre Erkennen« sein, und das »wahrnehmende Wissen« müsste das »dinglich unterscheidende Erkennen« sein.118 Ihr Wille, sich nicht dem Dhyāna [ = Chán-Buddhismus ] anzuschließen, ist zwar richtig ; wenn Sie aber in Ihren eigenen Erklärungen es schließlich doch nicht vermeiden, seinen Lehren zu verfallen, ist dies dann nicht Gedankenlosigkeit ? !119 [ 3. Das »ursprüngliche Wissen« kann nicht »Natur« (xìng 性), es kann nicht ­»Substanz« (tǐ 體) sein (siehe das zweite Stück im vorangehenden Brief von Ōuyáng Dé). Gründe dafür aus dem konfuzianischen Kanon und ­aufgrund ­grammatikalischer Erwägungen 120 ]

[ Sie schreiben in Ihrem Brief : ] »Das Wahre der ›Natur des Himmels‹ nimmt von selbst klar wahr ; wenn es von einer Situation angeregt wird, versteht es und hat von selbst eine Ordnung. Deshalb heißt es das ›ursprüngliche Wissen‹, und es heißt auch ›Ordnungsprinzip des Himmels‹«. Obschon ich

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

所得,在此數語,然其誤處亦在此數語。此正是 講學切要處,不得無言。第恐定力難移,言之苦 無益爾。雖然,吾心其可以不盡乎!夫謂良知即 天理,則天性、明覺只是一事。區區之見,要不免 於二之。蓋天性之真,乃其本體,明覺自然,乃其 妙用。天性正於受生之初,明覺發於既生之後。 有體必有用,而用不可以為體也。 此非僕之臆說,其在樂記,則所謂「人生而靜, 天之性」,即天性之真也, 「感物而動,性之欲」, 即明覺之自然也。在易大傳,則所謂「天下之至 精」即天性之真也, 「天下之至神」,即明覺之自 119

然 | 也。在詩大雅,則所謂「有物有則」,即天性 之真也, 「好是懿徳」,即明覺之自然也。諸如此 類,其證甚明,曾有一言謂良知為天理者乎?然 孔、曾、思、孟、濓溪、明道之言,賢契嘗考之矣,

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sehr alt bin, weiß ich doch sicher, dass das, was Sie, mein junger Freund, in Ihrem weisen Schreiben erreicht haben, ebenso in diesen paar Aussagen liegt, wie auch Ihr Irrtum. Das ist nun der entscheidende Punkt der Erörterung und kann nicht übergangen werden. Indessen befürchte ich, dass die Kraft des einmal Festgesetzten schwerlich zu bewegen ist und dass die Mühen meiner Worte keinen Nutzen bringen. Dennoch, wie könnte hier mein Herz nicht alles hergeben ! Wenn Sie meinen, dass das ursprüngliche Wissen dasselbe sei wie das Ordnungsprinzip des Himmels, dann ist die [ dem Menschen einwohnende ] Natur des Himmels und sein klares Wahrnehmen [ Ihnen zufolge ] nur eine einzige Sache. Ich meine, dass man sie notwendig als zwei verschiedene Dinge betrachten muss. Denn das Wahre der Natur des Himmels ist die eigentliche Substanz ; das Natürliche des klaren Wahrnehmens ist deren wunderbare Funktion. Die Natur des Himmels ist am Anfang beim Empfang des Lebens ganz da ; klares Wahrnehmen entwickelt sich, nachdem man geboren wurde. Wenn eine Substanz vorhanden ist, muss es auch Funktionen geben, aber die Funktionen können nicht die Substanz ausmachen. Das ist nicht etwas, was ich, Ihr Diener, aus meinen eigenen Gedanken heraus sage. Es ist das, wovon im »Klassiker der Musik«121 gesagt wird : »Der Mensch ist bei seinem Entstehen ruhig, das ist seine Natur des Himmels«, das ist das Wahre der Natur des Himmels ; »durch die Berührung mit den Dingen gerät er in Bewegung, das sind die Wünsche der Natur«, das ist das Spontane des klaren Wahrnehmens. Es ist das, wovon im Großen Anhang des ›Klassikers der Wandlungen‹ gesagt wird : »das Feinste unter dem Himmel«, das ist das Wahre der Natur des Himmels ; »das Geistigste unter dem Himmel«, das ist das Natürliche des klaren Wahrnehmens.122 Es ist das, von dem es in den »Großen Ritualliedern«123 des Klassikers der Lieder heißt : »Wenn es Wesen gibt, so haben sie auch Gesetze«, dies ist das Wahre der Natur des Himmels ; »das Gutsein ist vollkommene Tugendkraft«, dies ist das Natürliche des klaren Wahrnehmens. Die Beweise all dieser Arten von Aussagen sind sehr klar ; gibt es darunter etwa ein Wort, das sagen würde, dass das ursprüngliche Wissen das Ordnungsprinzip des Himmels sei ? Doch wie Ihr weiser Brief sagt, haben Sie [ Ihre Auffassung ] an den Worten von Konfuzius, Zēngzǐ, Zǐsī, Mèngzǐ, Liánxī und Míngdào überprüft. So vermutete ich, dass es andere Texte gibt, die Ihre hervorragende

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或恐別有可證高論者?惜乎,畧未舉及。僕請再 以所聞於數子者證之。 孔子嘗言「知道」 「知徳」矣;曾子嘗言「知止」 矣,子思嘗言「知天」 「知人」矣,孟子嘗言「知性」 「知天」矣。凡知字皆虛, 下一字皆實。虛實既別, 體用自明,以用為體,未之前聞也。況明道先生 嘗釋知覺二字之義云: 「知是知此事,覺是覺此 理。」尤為明白易見。上下千數百年,其言如出一 口,吾輩但當篤信而固守之,豈容立異!若前無 所受,而欲自我作古,徒滋後學之惑而已,非惟 不足以明道,且將獲罪於聖門,可不慎乎! [ 4.]

且僕又嘗聞之,伊川之道與明道無異,晦庵之學 以二程為宗。來書所舉竟不及二先生,何也?

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Lehre beweisen. Doch leider tut es keiner von ihnen. Ihr Diener bittet Sie deshalb, bei all diesen Meistern nochmals zu überprüfen, was Sie [ von Wáng Yángmíng ] vernahmen. In seinen Gesprächen (Lúnyǔ) redet Konfuzius davon, »um das Dao zu wissen«, »um die Tugendkraft zu wissen« ; im Lernen der Großen spricht Zēngzǐ davon, »anhalten zu wissen« ; im Buch der Mitte (Zhōngyōng) spricht Zǐsī davon, »um den Himmel zu wissen« und »um den Menschen zu wissen« ; und Mèngzǐ spricht davon, »um die [ menschliche ] Natur zu wissen«, »um den Himmel zu wissen«. »Wissen« ist hier überall ein leeres Wort und das darauffolgende Wortzeichen überall ein volles Wort.124 Da der Unterschied zwischen »leeren« und »vollen« [ Wörtern ] besteht, wird dadurch der Unterschied von Substanz und Funktionen von selbst klar. Dass eine Funktion eine Substanz sein soll, hat man zuvor noch nie gehört. Überdies erklärte Míngdào (Chéng Hào) die Bedeutung der beiden Wörter zhī 知 (»wissen«) und jué 覺 (»wahrnehmen«) folgendermaßen : »Wissen« ist Wissen dieser Sache, »Wahrnehmen« ist Wahrnehmen dieses Ordnungsprinzips. Das ist noch klarer und noch leichter einzusehen. Im Laufe von hunderten und tausenden von Jahren wurden diese Worte wie aus einem Mund gesprochen ; unsere Generation muss sie nur aufrichtig glauben und sich fest daran halten. Wie könnte man da etwas Verschiedenartiges aufstellen ! Wenn etwas zuvor nicht festgehalten worden war, und man nun das Eigene zur alten [ Tradition ] machen will, dann vermehrt man damit nur die Verirrungen seiner Nachfolger. Nicht nur kann man damit das Dao nicht klar machen, sondern man macht sich auch noch an der Schule des Heiligen [ Konfuzius ] schuldig. Wie kann das noch Sorgfalt sein !125 [ 4. D  ie Lehre der beiden Chéng-Brüder und von Zhū Xī über das gé wù 格物 (»Untersuchen [der Ordnungsprinzipien] der Dinge«) darf in der konfuzia­ nischen Schule nicht umgestoßen werden. Die Lehre vom ursprünglichen Wissen ignoriert völlig alle Ordnungsprinzipien von Himmel und Erde sowie von allen Wesen.126 ]

Überdies habe ich, Ihr Diener, einst gehört, dass das Dao von Yīchuān (Chéng Yí) und Míngdào127 sich nicht unterscheiden und dass Huì’ān (Zhū Xī) die beiden Chéng-Brüder als seine Vorgänger betrachtet. Wie kommt

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

得無以其格物之訓,於良知之說有礙乎?夫天人 物我,其理無二。來書「格物工夫惟是隨其位分, 修其日履」,雖云與佛氏異,然於天地萬物之理, 一切置之度外,更不復講,則無以達夫一貫之妙, 又安能盡己之性,以盡人物之性,贊化育而參天 地哉!此無他,只緣誤認良知為天理,於天地萬 物上,良知二字自是安着不得,不容不置之度外 爾。聖人本天,釋氏本心。天地萬物之理既皆置 之度外,其所本從可知矣。若非「隨其位分,修其 日履」,則自頂至踵,寧復少有分別乎!二先生所 見之理,洞徹無間,凡其格物之訓,誠有所謂 「百世以俟聖人而不惑者」,其孰能易之!世儒妄

Antwortbrief von Luó Qīnshùn an Ōuyáng Dé vom 8. September 1534

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es, dass Ihr Brief nicht beide diese Brüder hervorhebt ? Könnte es sein, dass Ihre Lehre vom gé wù (nach Zhū Xī und Chéng Yí zu übersetzen als »Untersuchen [ der Ordnungsprinzipien ] der Dinge« ; nach Wáng Yángmíng und Ōuyáng Dé zu übersetzen als »Berichtigen der Handlungen«) der Lehre vom ursprünglichen Wissen widerspricht ? Nun ist das Ordnungsprinzip des Himmels und der Menschen, der Dinge und von mir ohne Zweiheit (nämlich eines). Obschon Sie in Ihrem Brief schreiben, dass »die Leistung des gé wù 格物 (des Berichtigens der Handlungen) im Verbessern seines täglichen Verhaltens gemäß seiner sozialen Stellung« bestehe und dies vom Buddhismus verschieden sei, so ignorieren Sie doch völlig die »Ordnungsprinzipien« von Himmel und Erde und allen Wesen. Wenn man nicht über sie spricht, dann hat man nichts, um das Wunderbare des »einheitlichen Verständnisses von allem« zu erreichen128 . Wie könnte man da die »eigene Natur und auch die Natur der anderen Menschen voll zur Auswirkung kommen lassen«, »der Entfaltung der Wesen beistehen und mit Himmel und Erde eine Dreiheit bilden«129 ? Das hat seinen Grund nur darin, dass Sie das »ursprüngliche Wissen« als »himmlisches Ordnungsprinzip« missverstehen. Man kann nicht oberhalb von Himmel und Erde und allen Wesen die zwei Wörter »ursprüngliches Wissen« ansetzen ; vielmehr muss man diese völlig auf der Seite lassen. Der heilige Mensch [ Konfuzius ] macht den Himmel zur Grundlage ; Buddha macht das Herz (Bewusstsein) zur Grundlage. Da Sie die Ordnungsprinzipien von Himmel und Erde völlig beiseite lassen, wird deutlich, was Sie zur Grundlage machen und wem Sie folgen. Wenn Sie [ von den Buddhisten ] verneinen, dass sie »gemäß ihrer sozialen Stellung ihr tägliches Verhalten verbessern« und dann vom Kopf bis zur Ferse sich selbst [ Ihrer eigenen konfuzianischen Schule ] entgegenstellen, kann dann darin etwa ein auch noch so kleiner Unterschied [ zum Buddhismus ] bestehen ? ! Das von den beiden Chéng-Brüdern gesehene Ordnungsprinzip ist gründlich und lückenlos verstanden. Von Ihrer Lehre des gé wù 格物 (Untersuchen der Ordnungsprinzipen der Dinge) kann man wahrhaft sagen : »Wie könnte der heilige Mensch [ Konfuzius ] sie auch nach hundert Generationen nicht beeinflusst haben !« Wer kann sie da verändern wollen ! Die weltlichen Konfuzianer beschimpfen und verleumden [ die Lehre des gé wù 格物, Untersuchen der Ordnungsprinzipen der Dinge ] als irrig

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

加詆訾,以自陷於浮薄,諒賢契之所不取。然於 二先生之學,似宜更加之意,不以所見偶未之合 而遂置之,斯文之幸也。|

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[ 5.]

第二段所論學、問、思、辨工夫,與僕所聞亦無 甚異。但本領既別,則雖同此進為之方,先後緩 急自有不可得而同者。蓋以良知為天理,則易簡 在先,工夫居後,後則可緩,陳白沙所謂「得此 把柄入手,更有何事!自茲以徃,但有分殊處合要 理會」是也。謂天理非良知,則易簡居後,工夫在 先,先則當急,中庸所謂「果能此道矣,雖愚必明, 雖柔必強」是也。 此說頗長,姑舉其概,以賢契之明悟,宜亦不 待餘詞之畢也。聖賢經書,人心善惡是非之迹, 固無不紀,然其大要,無非發明天理,以垂訓萬

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und geraten dadurch selbst ins Seichte und Unbeständige. Ich vertraue darauf, dass dies etwas ist, was Ihre weise Schrift sich nicht zu eigen gemacht hat. Es ist jedoch das Glück dieser [ Ihrer ] Schrift, dass sie die Lehre der beiden Chéng-Brüder passend zu ergänzen scheint und [ diese Lehre ] nicht aufgrund der zufällig in ihr noch nicht gesehenen Einstimmigkeit auf der Seite lässt. [ 5. Die Anstrengung (Arbeit) und das »Leichte und Einfache« in der ethischen Methode (zum 4. Stück von Ōuyáng Dés voranstehendem Brief)130 ]

Auch der zweite Teil Ihres Briefes über die ethische Arbeit des Fragens, des Denkens und des Unterscheidens131 ist von dem, was ich, Ihr Diener, hörte, nicht sehr verschieden. Aber da unsere wesentlichen Grundlagen verschieden sind, kann eine Übereinstimmung in dem, was früher und was später kommt, und in dem, was eilig ist, und dem, wozu man sich Zeit lassen kann, nicht erreicht werden, obschon wir in jener Methode [ des Fragens, Denkens und Unterscheidens ] einig sind. Wenn nunmehr das ursprüngliche Wissen zum Ordnungsprinzip des Himmels erklärt wird, dann kommt das Leichte zuerst und die Anstrengung danach ; es ist das, von dem Chén Báishā (1428 – 1500)132 sagte : »Wenn man diesen Griff in die Hand bekommen hat, was gibt es dann noch zu tun ? Von hier an gibt es weiter nur noch das Unterscheiden, das Zusammenbringen und die Notwendigkeit zu verstehen.« Wenn man sagt, dass das ursprüngliche Wissen nicht das Ordnungsprinzip des Himmels sei, dann ist das Leichte das Nachfolgende und die Anstrengung das Vorangehende, und wenn es das Vorangehende ist, ist es das Dringende. Es ist das, wovon das Buch der Mitte sagt : »Wenn man dieses Daos fähig ist, muss es auch ein Dummkopf verstehen können, muss selbst ein Schwacher sich seiner bemächtigen können.«133 Diese Rede ist allzu lang ; indem ich ihr Großes und Ganzes hervorhebe, ist es aufgrund Ihres weisen Schreibens passend, wenn ich mich nicht auf die Vollständigkeit der Worte abstütze. Die Klassiker und Bücher der Heiligen und Weisen sind der Niederschlag des Guten und Schlechten, des Richtigen und Unrichtigen des menschlichen Herzens. Alles ist in ihnen festgehalten ; aber ihr Wichtigstes ist nichts anderes als das Erhellen des

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

世。世之學者,既不得聖賢以為之師,始之開發 聰明,終之磨礲入細,所賴者經書而已。舍是, 則貿貿焉莫知所之,若師心自用,有能免於千里 之謬者,鮮矣!善讀書者,莫非切已。工深力到, 內外自然合一,易簡之妙於是乎存。岐而二之, 不善讀書者也。夫天下之士亦多矣,豈可謂凡讀 書者皆遠人以為道,惟尊奉其良知以從事於易簡 者,乃為不遠人以為道乎? [ 6.]

第三段所論教學本原與夫後世學術之弊,亦可 謂句句合矣。但微意所在,乃專以尊奉良知,從 事於易簡者為是;窮究物理,博通於典訓者為非。 只緣本領不同,故其去取若是。夫孔、孟之絕學,

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Ordnungsprinzips des Himmels, um es allen Generationen zu überliefern und sie zu belehren. Da die Lernenden der Welt die Heiligen und Weisen nicht zu ihren Lehrern zu machen vermögen, nehmen sie anfänglich ihre eigene Klugheit hervor und malen und schleifen sie schließlich bis ins Detail ; aber das, worauf sie sich [ letztlich ] stützen, sind nichts anderes als die Klassiker und Bücher [ der Heiligen und Weisen ]. Wenn man diese aufgibt, dann wird man blind und erkennt nichts ; wenn man das eigene Herz zum Lehrer macht, dann werden diejenigen selten, welche die tausend Meilen abweichenden Irrtümer vermeiden. Das gute Bücherstudium liegt nur bei einem selbst. Wenn die Arbeit gründlich ist und Energie aufgewendet wird, dann vereinigen sich von selbst das Äußere und das [ eigene ] Innere. Das Wunderbare des Leichten und Einfachen liegt gerade hierin. Wenn man davon abweicht und daraus (= dem Äußeren und den Inneren) zweierlei Dinge macht, dann ist dies kein gutes Bücherstudium. Die Gelehrten unter dem Himmel sind auch zahlreich ; wie könnte man meinen, dass alle, welche die [ k anonischen ] Bücher studieren und daraus den Weg machen, fremde (sich selbst entfremdete) Menschen seien und dass nur diejenigen, welche verehrend ihr ursprüngliches Wissen entgegennehmen, um sich damit mit dem Leichten und Einfachen zu beschäftigen, nicht sich selbst entfremdete Menschen seien und dies [ Letztere ] als den Weg betrachten ! [ 6. Das Richtige im Lernen ist das Ergründen der Ordnungsprinzipien der Dinge, das weite Durchdringen der Lehre der klassischen Bücher und nicht das verehrende Entgegennehmen des ursprünglichen Wissens (siehe oben Stück 6 des voranstehenden Briefes von Ōuyáng Dé)134 ]

Auch in dem, was der dritte Teil Ihres Briefes darüber sagt, dass die [ heutige ] Lehre über das Lernen ihren Ursprung in den Missständen der Gelehrsamkeit der [ den Heiligen und Weisen ] nachfolgenden Generationen hat, stimmt jeder Satz. Doch Ihre verborgene Meinung liegt ausschließlich darin, dass das verehrende Entgegennehmen des ursprünglichen Wissens, um sich damit mit dem Leichten und Einfachen zu beschäftigen, das Richtige und dass das Ergründen der Ordnungsprinzipien der Dinge, das weite Durchdringen der Lehre der klassischen Bücher, das Falsche sei. Die Lehre von Konfuzius und Menzius wurde abgebrochen und erst durch die

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至二程兄弟始明。二程未嘗認良知為天理也, 以謂有物必有則,故學必先於格物。今以良知為 天理,乃欲「致吾心之良知於事事物物」, (此語 見《傳習錄》,來書亦云, 「致其良知於日履之間, 以達之天下」。)則是道理全在人安排出,事物 無復本然之則矣,無乃不得於言乎! (雍語亦云: 「天理只是吾心本體,豈可於事物上尋討?」總是 此見) 「不得於言而勿求諸心」,此是告子大病。 凡為孔、孟之學者,或偶霑斯疾,不早進瞑眩之 藥以除其根,是無勇也。| 古者,大學之教,非秀 民不預。農、賈、罝兔,誠有所不能及者,故曰 「民可使由之,不可使知之」。公侯腹心,天資之 忠厚者亦云可矣,豈真見而知之,與太公望、散 宜生等乎?古人自幼而學,至四十始仕,三十年 間無非為學之日,既專且久,道明而徳立,及為 公卿大夫,直行其所學而已,不暇為學又奚病焉? 來書不能及不暇為之說,殆以廣招徠之路,使 人競趨於易簡爾,豈通論乎!格致與博物洽聞不

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beiden Chéng-Brüder (Chéng Hào und Chéng Yí) wieder klar gemacht. Die beiden Chéng-Brüder haben nie anerkannt, dass das ursprüngliche Wissen das Ordnungsprinzip des Himmels sei, sondern sie hielten dafür, dass jedes Ding eine Regel habe und dass das Lernen zuerst im gé wù (Erforschen [ der Ordnungsprinzipien ] der Dinge) bestehe. Wenn man nun [ w ie Wáng Yángmíng ] das ursprüngliche Wissen zum Ordnungsprinzip des Himmels macht, nämlich wünscht, das ursprüngliche Wissen des eigenen Herzens in allen Geschäften und Dingen zu verwirklichen, dann bedeutet dies, dass die Grundsätze der Lehre gänzlich aus dem Menschen heraus angeordnet werden und dass die Dinge und Geschäfte keine eigentlichen Regeln haben. Ist dies nicht etwas, was man in den Worten [ der Heiligen und Weisen ] nicht findet ? »Dass er es in den Worten nicht erfasste und im Herzen nicht suchte«, das war die Krankheit von Gàozǐ.135 Jeder von Konfuzius und Menzius Lernende, der unerwartet von dieser Krankheit befallen wird und, um deren Wurzel zu entfernen, nicht sofort die Medizin gegen die unklare Sicht zu sich nimmt, dem fehlt es an Tapferkeit. Die Lehre des Lernens der Großen im Altertum hat das gewöhnliche Volk nicht ohne Vorbereitung kultiviert. Die Bauern, Händler und Jäger136 konnten wahrlich einiges davon nicht erreichen. Deshalb heißt es : »Man kann das gewöhnliche Volk veranlassen, etwas zu tun, aber man kann es nicht veranlassen, etwas zu erkennen.« Man kann dies auch sagen von den aufrichtigen adligen Herren (wörtlich übersetzt : »die Herren des ersten und des zweiten Adelsranges«) und von den talentierten Treuen ; wie könnten sie, zusammen mit Tàigōng Wàng (12./11. Jh. v. Chr.)137 und Sàn Yíshēng138 in Wahrheit etwas sehen und es erkennen ! Die Menschen des Altertums haben seit der Jugend gelernt und sind erst mit vierzig Jahren Beamte geworden ; während dreißig Jahren also verbrachten sie die Zeit mit nichts anderem als mit Lernen. Da sie es ausschließlich und lange betrieben, wurde ihnen das Dao klar und die Tugendkraft wurde aufgebaut ; als hohe und niederere Beamte haben sie nichts anderes gemacht als aufgrund von dem zu handeln, was sie gelernt hatten. Sie hatten keine Muße mehr, um zu lernen und krank zu werden. Ihr Brief vermag der Lehre von der Muße und dem Handeln nicht genüge zu tun, er läuft Gefahr, mit dem Weg des weiten Herbeirufens die Leute zu veranlassen, schnell in die Richtung des Leichten und Einfachen

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

同,先儒已自說破。彼徒博而不知反諸約者,望 其入道,誠亦難矣。若夫講之精,辯之悉,知之 明,而學之果不差焉,斯固吾夫子之所謂好學者, 豈易得哉?學既不差,安有源遠本披之患!本披 源遠,皆差之毫釐而不自覺者也。嗟乎!安得先 覺之君子,特起於今之世,以盡覺夫未覺者哉! [ 7.]

累幅之書,中間儘有合商量處,第年老,精神短, 照管不及,又恐亂却正意,是以但即其切要者論 之。然體用兩字果明,則凡未經商量者,雖欲不 歸於一,不可得也。未審高見畢竟以為何如? 言有盡而意無窮,千萬詳察。

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zu eilen ; wie könnte das eine gründliche und umfassende Lehre sein ! Dies stimmt nicht überein mit dem Verbinden des »Erforschens [ der Ordnungsprinzipien der Dinge ]« und dem »Verwirklichen [ des Wissens ]« einerseits und dem weiten In-Erfahrung-Bringen der Dinge andererseits ; das haben die früheren Konfuzianer schon durch die eigenen Lehren klargemacht. Für jene, welche [ nur ] ins Weite schweifen und nicht auf das Knappe zurückzugehen vermögen, ist es auch wahrhaft schwierig, das Dao des Menschen zu erspähen. Klar zu erörtern, umfassend zu unterscheiden, klar zu erkennen und darin beim Lernen wirklich nichts zu verfehlen, das, was unser Konfuzius das gute Lernen nennt, wie könnte das leicht zu erlangen sein ! Wenn dem Lernen nichts fehlt, wie könnte es dem Übel des sich Entfernens von der Quelle und des Zerstörens der Wurzel verfallen ! Stets liegt es daran, dass ein winzig kleiner Fehler unbemerkt bleibt, dass die Wurzel zerstört wird und die Quelle in die Ferne rückt. Ach, wie könnte ich nur einen Edlen mit vorausschauendem Bewusstsein finden, der eigens für die heutige Zeit erstünde, um all jene zu Bewusstsein zu bringen, die noch ohne Bewusstsein sind ? ! [ 7. S  chluss des Briefes139 ]

Die [ Sie ] belästigenden Seiten meines Briefes enthalten Punkte, die [ nochmals ] gänzlich erwogen werden können. Da ich ein hohes Alter und einen kurzen Verstand habe, die Dinge nicht mehr in Ordnung bringen kann und auch befürchte, die richtigen Gedanken zu verwirren, habe ich nur das Wichtigste erörtert. Doch wenn [ das Verhältnis ] der Substanz und ihrer Funktionen wirklich klar ist, dann kann alles, was noch nicht erörtert wurde, erlangt werden, obschon ich wünsche, dass es (= jenes Verhältnis) nicht eingeebnet werde. Ich habe noch nicht untersucht, wie es Ihre Ansicht letztlich hält. Die Worte kommen an ein Ende, doch die Gedanken sind unerschöpflich. Dies gilt es unbedingt genau zu prüfen !

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* 答羅整庵先生寄《困知記》(2) [ 1.]

[ OYDJ, S. 15 – 19 ]

今月十九日,拜領八月朔日教札,反復傾竭, 惟恐後生小子學失其道,以陷於邪僻,誨之詳,

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愛之真。佩服感激何有窮已!| 某嘗莊誦前後書記,心性理氣之辨,其要欲學 者識取本性,體認天理,而知所用力。此子思原 天命、孟子道性善之意, 《大學》 「止至善」之教 也。每祇奉致言,以為聖人所以正三鋼而叙九疇, 其精神命脈,端在於此。顧恐頑鈍蹇劣,未能服 膺而弗失耳。 又嘗自念孟子論性善,以惻隱、羞惡、恭敬、

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8 Antwortbrief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 4. Dezember (30. Tag des zehnten Mondes) 1534

[ 1. E  inleitung des Briefes140 ]

Am 19. Tag des jetzigen [ zehnten ] Mondes (24. November 1534) empfing ich Ihren am ersten Tag des achten Mondes (8. September) an Ihren Untergeordneten gerichteten Brief. Ich habe ihn mehrmals ganz studiert, aus der Befürchtung, dass ich, Ihr Schüler und Jünger, seine Wahrheit verfehle und dadurch in irrige Lehren verfalle und der Genauigkeit Ihrer Belehrung und der Echtheit Ihrer Güte verlustig gehe. Meine Bewunderung und Dankbarkeit sind unendlich ! Ich habe einst in den früheren und späteren [ konfuzianischen ] Büchern und Aufzeichnungen gelesen, dass die Hauptsache der Unterscheidung zwischen Herz und [ menschlicher ] Natur, zwischen Ordnungsprinzip und Lebensenergie, im Wunsch besteht, den Lernenden seine ursprüngliche [ menschliche ] Natur erkennen zu lassen, des himmlischen Ordnungsprinzips in der eigenen Erfahrung innewerden und wissen zu lassen, worauf er seine seelische Kraft anwenden muss. Es ist dies der Sinn von Zǐsīs »Zurückerlangen des Befehls des Himmels« [ im Zhōngyōng ], von Mèngzǐs Lehre vom »Gutsein der [ menschlichen ] Natur« ; und es ist die Lehre vom »Anhalten beim höchsten Guten« im [ Grundkapitel des ] Lernens der Großen. Jedesmal, wenn ich ehrfurchtsvoll das höchste Wort empfange, denke ich, dass die Heiligen deshalb die »drei Grundsätze«141 und die »neun Klassen«142 zum Richtigen erklärten, weil deren Geist und Lebensader gerade in jener [ »Hauptsache« ] besteht. Aber ich befürchte, dass ich zu blöde, unzureichend und noch nicht fähig bin, [ die Aussagen der Heiligen ] in meine Brust aufzunehmen. Überdies betrachteten die Lernenden aus der Schule der [ beiden Brüder ] Chéng143 einst ausgehend von der Lektüre von Mèngzǐs Aussage, dass die [ menschliche ] Natur gut sei, und aufgrund ihrer Begründung

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

是非為言,程門學者亦以乍見入井,其心怵惕, 為天理之自然,所謂良知者也。故竊意「良知」二 字,正指示本性,而使人知所用其力者。 其為繁詞,以瀆高聽,非如尊教所謂「柄鑿不 入」。蓋恐千里之外,詞不達意,使長者無所施其 裁成,則非請益之道。故意之所及,不懼瑣瑣, 惟懼不盡耳。 [ 2.]

伏讀教札謂「人之知識,不容有二。孟子但以不 慮而知者,名之曰良,非謂別有一知也。今以知 惻隱、羞惡、恭敬、是非為良知,知視聽言動為

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durch das Mitfühlen144, das Verabscheuen145, das Verehren146 und das Zustimmen und Verneinen147 (d. h. der »vier Ansätze« der Tugenden im menschlichen Herzen) auch das Betroffensein des eigenen Herzens durch das plötzliche Sehen eines in einen Brunnen fallenden [ K indes ]148 als das Natürliche des Ordnungsprinzips des Himmels und als das, was als das »ursprüngliche Wissen« bezeichnet wird. So denke ich, dass die beiden Wörter »ursprüngliches Wissen« gerade auf die ursprüngliche Natur [ des Menschen ] hinweisen und den Menschen wissen lassen, wo er seine [ geistige ] Kraft anzusetzen hat. Auch wenn ich viele Worte machte und damit Ihr Gehör belästigte, komme ich mit ihnen nicht an das heran, was Sie in Ihrem verehrten Brief [ u nter »1. Einleitung« ] das »Nichtineinanderpassen des vierkantigen Holzgriffes und des runden Metallbohrers« genannt haben. Vielmehr fürchte ich, dass wir tausend Meilen auseinander liegen und dass meine Wörter ihre Absicht nicht erreichen, so dass Sie, verehrter Herr, gar keinen Anhaltspunkt haben, um mit Ihren Weisungen anzusetzen, so dass dies kein Weg ist, Sie um weitere Erklärungen zu bitten. Ich fürchte nicht, dass das, worauf ich hinaus will, nicht klar durchdacht ist, sondern einzig, dass ich es nicht erschöpfend darlegen kann. [ 2. E  s gibt nicht zweierlei Wissen ; aber das wahrnehmende Wissen erreicht nicht immer sein eigentliches Wesen oder sein Ursprüngliches, welches das Wahre der [ menschlichen ] Natur des Himmels ist. Die Wörter können sowohl in einer leeren oder funktionellen als auch einer vollen oder ­substanziellen Bedeutung gebraucht werden. (Antwort auf die Stücke 2 und 3 des voranstehenden Briefes von Luó Qīnshùn)149, 150) ]

Demütig las ich in den Blättern Ihres Briefes : »Beim Wissen und Erkennen des Menschen kann es nicht zweierlei geben. In Mèngzǐs eigentlicher Bedeutung wird nur ›ein Wissen ohne zu überlegen‹ ›ursprünglich‹ genannt151, 152. Es ist damit nicht eine besondere Art von Wissen gemeint. Wenn Sie nun das Wissen des Mitgefühls, der Scham und der Abscheu, der Verehrung und Ehrfurcht, des Zustimmens und Ablehnens als ›ursprüngliches Wissen‹ und das Wissen des Sehens und Hörens, des Sprechens und Tätigseins als wahrnehmendes Wissen betrachten, dann kommt dies ver-

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

知覺,殆如《欏伽》所謂『真識』及『分別事識』 者。」 某之所聞,非謂知、識有二也。惻隱、羞惡、恭 敬、是非之知,不離乎視、聽、言、動。而視、聽、 言、動,未必皆得其惻隱羞惡之本然者。故就視、 聽、言、動而言,統謂之知覺;就其惻隱羞惡而言, 乃見其所謂良者。知覺未可謂之性,未可謂之理。 知之良者,蓋天性之真,明覺自然,隨感而通, 自有條理,乃所謂天之理也。猶之道心、人心, 非有二心;天命、氣質,非有二性;源頭、支流, 非有二水。先儒所謂視聽、思慮、動作、皆天也, 人但於其中要識得真與妄耳。良字之義,竊意晦 菴所謂「本然之善」者,正孟子性善之旨。人生而 靜以上不容說,纔說性時,便有知覺運動。性非 知,則無以為體;知非良,則無以見性。性本善, 17

非由外爍。故知本良,不待安 | 排。曰「不慮而知」

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mutlich dem gleich, was das Laṅkavatāra-Sūtra [ einerseits ] das ›wahre ­Erkennen‹ und [ a ndererseits ] das ›unterscheidende Erkennen‹ nennt.« Was ich [ von Wáng Yángmíng ] hörte, ist nicht, dass es zweierlei Wissen gibt. Das Wissen des Mitleids, der Scham und der Abscheu, der Verehrung und Ehrfurcht, des Zustimmens und Ablehnens [ d. h. das ursprüngliche Wissen ] ist nicht getrennt vom Sehen und Hören, Sprechen und Tätigsein.153 Doch Sehen und Hören, Sprechen und Tätigsein gelangen nicht notwendig alle zum eigentlichen Sosein des Mitgefühls, der Scham und der Abscheu. Man spricht daher im Hinblick auf das Sehen und Hören, Sprechen und Tätigsein insgesamt von »wahrnehmendem Wissen« ; und wenn man im Hinblick auf ihr Mitgefühl, ihre Scham und ihre Abscheu spricht, macht man das an ihnen sichtbar, was »ursprünglich« heißt. Das wahrnehmende Wissen kann man nicht als »Natur« und nicht als »Ordnungsprinzip« bezeichnen. Das »Ursprüngliche« des Wissens ist nämlich das Wahre der »Natur des Himmels«, das von selbst klar wahrnimmt ; wenn es erregt wird, versteht es und hat aus sich selbst eine Ordnung, und so wird es als »Ordnungsprinzip des Himmels« bezeichnet‹.154 Es ist so wie beim »Herzen des Dao« und dem »Herzen des Menschen«155, die nicht zwei [ t rennbare ] Herzen sind ; es verhält sich so wie bei der »vom Himmel bestimmten Natur« und der »Natur der Energie und des Stoffes« (physischen Natur) :156 , die nicht zwei [ t rennbare ] Naturen sind. Die Quelle und die daraus entspringenden Bächlein sind nicht zwei Gewässer. Was die alten Konfuzianer Sehen und Hören, Denken und Überlegen, Tun und Handeln nannten, ist alles natürlich, aber der Mensch muss darin das Wahre und das Irrige erkennen. – Ich denke, dass die Bedeutung des Zeichens ­liáng 良, die Huì’ān (Zhū Xī) als das »eigentlich Gute« bestimmt, gerade der Sinn von Mèngzǐs »Güte der menschlichen Natur« ist. Von einem Zustand, welcher der »Ruhe des Menschen vor der Geburt«157 vorangeht, kann man nicht sprechen ; erst wenn man von der menschlichen »Natur« spricht, sind die Tätigkeiten des Wahrnehmens vorhanden. Wenn die menschliche Natur nicht Wissen wäre, dann hätte sie nichts, worin sie Wirklichkeit wäre ; wenn das »Wissen« nicht »ursprünglich gut« wäre, dann hätte es nichts, wodurch es die menschliche Natur erscheinen lassen könnte. Die menschliche Natur ist an sich gut, sie hat ihren Glanz nicht von außen. Dadurch wird ersichtlich, dass das eigentliche ursprünglich Gute nicht von mensch-

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者,其良知;猶之曰「不待安排」者,其良心。 擴而充之,以達之天下,則仁義不可勝用。若《 欏伽》所謂「真識」,則非孟子所謂「良」者。其 於惻隱、羞惡、恭敬、是非乎何有?宜不得比而 同之矣。 教札引「知性」、 「知天」等語,謂「凡知字皆虛, 下一字皆實。虛實既判,體用自明,不可以用 為體」。 某竊意字義固有兼虛實體用言者,如「止善知」 之止為虛為用, 「知止」、 「敬止」之止字為實為 體。知字以虛言者,如教札所引「知性」、 「知天」、 「知此事」、 「知此理」,皆言其用者也。若良知之 知,明道嘗言「良知良能,原不喪失,以舊日習心 未除,故須存習此心,久則可奪舊習」。上云良知, 下云此心,似指其識體言之。 《大學》致知之知,

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lichem Anordnen abhängt. Die Aussage [ von Mèngzǐ ] : »Was man weiß, ohne zu überlegen, ist das ›ursprüngliche Wissen‹«158 ist gleichbedeutend mit der Aussage : »Was nicht vom menschlichen Anordnen abhängt«159, ist das ursprüngliche Herz. Wenn es erweitert und zur Fülle gebracht wird, um es alles unter dem Himmel erreichen zu lassen, dann sind [ die Tugenden ] der Menschlichkeit und Rechtlichkeit in ihren Funktionen unbesiegbar. Was das Laṅkavatāra-Sūtra »wahres Erkennen« nennt, ist nicht das, was Mèngzǐ mit dem »ursprünglich Guten« meint ; es hat keinen Bezug zu Mitgefühl, zu Scham und Abscheu, zu Verehrung und Ehrfurcht, zu Zustimmen [ zum Richtigen ] und Ablehnen [ des Unrichtigen ]. Es ist nicht passend, sie gleichzusetzen.160, 161 Ihr Brief zitiert die Ausdrücke »um die [ menschliche ] Natur wissen«, »um den Himmel wissen« und sagt : »›Wissen‹ ist hier überall ein leeres Wort, und das darauffolgende Wortzeichen überall ein volles Wort. Da der Unterschied zwischen ›leeren‹ und ›vollen‹ [ Wörtern ] besteht, wird dadurch der Unterschied von Substanz und Funktionen von selbst klar. Man kann nicht eine Funktion zur Substanz machen.« Ich denke, dass die Bedeutung der Wörter in der Rede sowohl eine leere oder funktionelle als auch eine volle oder substanzielle sein kann. Zum Beispiel »Anhalten« im [ Ausdruck ] »Anhalten beim höchsten Guten« [ im Grundkapitel des Dàxué ] ist ein leeres Wort und bedeutet eine Funktion ; »Anhalten« in [ den Ausdrücken ] »um das Anhalten wissen«, »das Anhalten verehren« ist ein volles Wort und bedeutet die Substanz. Wenn man von »Wissen« in leerer Bedeutung spricht, wie in den von Ihnen angeführten Beispielen : »um die Natur [ des Menschen ] wissen«, »um den Himmel wissen«, »diese Sache wissen«, »dieses Ordnungsprinzip wahrnehmen«, dann redet man darüber als Funktion. Was das »Wissen« des »ursprünglichen Wissens« anbetrifft, sagte Míngdào (Chéng Hào) einmal : »Das ursprüngliche Wissen und ursprüngliche Können kann nicht verloren gehen. Da die alten Gewohnheiten noch nicht beseitigt sind, muss man dieses »ursprüngliche Herz durch Übung bewahren, und mit der Zeit kann man sich von den alten Gewohnheiten befreien«. Die Wörter »das ursprüngliche Wissen« und »dieses [ u rsprüngliche Herz ]« scheinen in diesem Satz mit der Bedeutung des Vollen und der Substanz gesprochen zu sein. Das »Wissen« im Ausdruck »das Wissen verwirklichen« im [ Grundkapitel

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Die Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

與身心意物為類,似不得為虛字,而與「知性」、 「知天」之知同為用也。然體用一原,體之知即用 之知,則亦本無二知,殆立言各有所當耳。 [ 3.]

教札謂,某前書「『隨其位分,修其日履』,雖與 佛氏異,然於天地萬物之理,一切置之度外,更 不復講,則無以達夫一貫之妙。祇緣誤認良知為 天理,天地萬物上,良知二字安着不得,不容不 置之度外耳。」 以某所聞,實異乎是。凡所謂日履者,吾心良 知之發於視聽思慮,與天地人物相感應酬酢者 也。夫人所以為天地之心、萬物之靈者,以其良

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des ] Lernens der Großen scheint gleich wie das dortige »Person« [ im Ausdruck »die eigene Person kultivieren« ]› »Herz« im Ausdruck »das Herz gerade machen«], »Wille« [ im Ausdruck »den Willen wahrhaftigmachen« ], »Handlungen« [ im Ausdruck »die Handlungen berichtigen« ] kein leeres Wort sein zu können und nicht wie das »Wissen« in »um die Natur [ des Menschen ] wissen«, »um den Himmel wissen« eine Funktion zu bedeuten. Doch »Substanz und Funktionen machen eine Einheit aus«162, das Wissen als Substanz ist dasselbe wie das Wissen als Funktionen, so dass es eigentlich nicht zwei [ A rten von ] Wissen gibt, denn vermutlich hat die Aufstellung jedes Wortes ihr Richtiges.163,164 [ 3.  Alles, was »tägliches Verhalten« genannt wird, ist die Äußerung des »ursprünglichen Wissens« unseres Herzens (Geistes) im Sehen und Hören, Denken und Überlegen, im Entsprechen und im sozialen Verkehr. Das Erwägen der Ordnungsprinzipien von Himmel und Erde sowie von allen Wesen ist eigentlich ganz Funktion des ursprünglichen Wissens (Antwort auf Punkt 4 des voranstehenden Briefes von Luó Qīnshùn)165 ]

In Ihren Lehrblättern schreiben Sie : »Obschon Sie in Ihrem vorigen Brief schreiben, dass ›die Leistung des gé wù 格物 [ des Berichtigens der Handlungen ] im Verbessern seines täglichen Verhaltens gemäß seiner sozialen Stellung besteht‹, und dies vom Buddhismus verschieden ist, so lassen Sie doch die Ordnungsprinzipien von Himmel und Erde und allen Wesen völlig beiseite. Wenn man nicht über sie spricht, dann hat man nichts, um das Wunderbare des ›einheitlichen Verständnisses von allem‹ zu erreichen. Das hat seinen Grund nur darin, dass Sie das ›ursprüngliche Wissen‹ als ›himmlisches Ordnungsprinzip‹ missverstehen. Man kann nicht oberhalb von Himmel und Erde und allen Wesen die zwei Wörter ›ursprüngliches Wissen‹ ansetzen ; vielmehr muss man diese völlig beiseite lassen.«166 Was ich [ von Wáng Yángmíng ] hörte, ist [ von einer solchen Konsequenz ] wirklich verschieden. Alles, was »tägliches Verhalten« genannt wird, ist die Äußerung des »ursprünglichen Wissens« unseres Herzens im Sehen und Hören, Denken und Überlegen, im Entsprechen und im sozialen Verkehr mit Himmel und Erde, den anderen Menschen und den Dingen. Das nun, wodurch »der Mensch das Herz von Himmel und Erde«167 und

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知也。故隨其位分日履,大之而觀天察地,通神 明,育萬物;小之而用天、因地、制節、謹度、以 養父母,莫非良知之用。離卻天地人物,則無所 謂視聽、思慮、感應、酬酢之日履,亦無所謂良 知者矣。若於天地萬物之理,一切不講,豈所謂 「隨其位分、修其日履,以致其良知者」哉?惟是 講天地萬物之理,本皆良知之用,然人或動於私, 18

而良知有蔽昧焉。權度既差,輕重長短 | 皆失其 理矣,必也。一切致其良知而不蔽以私,然後為 窮理盡性、一以貫之之學。良知必發於視聽思慮, 視聽思慮必交於天地人物。天地人物無窮,視聽 思慮亦無窮,故良知亦無窮。其所以用力者,惟 在其有私無私、良與不良、致與不致之間,而實 周乎天地人物,無有一處安著不得,而置之度外 者也。

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das »Geisteskräftige unter allen Wesen« ist, ist sein »ursprüngliches Wissen«. Deshalb ist das tägliche Verhalten gemäß seiner sozialen Stellung – bei den Hochgestellten das Beobachten des Himmels und das Prüfen der Erde, das Verstehen des Göttlichen und das Nähren aller Wesen, bei den Niedrigen das Anwenden des Himmels und das Befolgen der Erde, das Beachten der Regeln, um Vater und Mutter zu pflegen – nichts anderes als Funktion des ursprünglichen Wissens. Getrennt von Himmel und Erde, Menschen und Dingen gibt es kein tägliches Verhalten des Sehens und Hörens, des Denkens und Überlegens, des Entsprechens und des sozialen Verkehrs, und es gibt auch das nicht, was »ursprüngliches Wissen« genannt würde. Wenn man nicht die »Ordnungsprinzipien« von Himmel und Erde und aller Wesen erwägt, wie wäre dann das möglich, was »gemäß seiner sozialen Stellung sein tägliches Verhalten verbessern, um sein ursprüngliches Wissen zu verwirklichen«, genannt wird ! Nur ist das Erwägen der »Ordnungsprinzipien« von Himmel und Erde und aller Wesen eigentlich ganz Funktion des »ursprünglichen Wissens«. Der Mensch wird aber durch seine Eigensucht bewegt, und das »ursprüngliche Wissen« wird dadurch verdeckt und verdunkelt ; da das Maß mangelhaft ist, verlieren Gewichte und Längen ihre Ordnung. Das Notwendige besteht also immer darin, das »ursprüngliche Wissen zu verwirklichen« und nicht durch die Eigensucht zu verdecken ; danach haben wir das Lernen des »Ergründens der Ordnungsprinzipien und des Ausschöpfens der Natur«168 und der »Verbindung von allem durch ein Einziges«169. Das »ursprüngliche Wissen« muss sich im Sehen und Hören, Denken und Überlegen äußern, und das Sehen und Hören, das Denken und Überlegen sind notwendig im Kontakt mit Himmel und Erde, den Mitmenschen und den Dingen. Himmel und Erde, die Mitmenschen und die Dinge sind unerschöpflich ; Sehen und Hören, Denken und Überlegen sind auch unerschöpflich ; deshalb ist auch das »ursprüngliche Wissen« unerschöpflich. Der Grund, warum man sich anstrengen muss, besteht darin, dass es den Unterschied zwischen Eigensucht und Freiheit von Eigensucht, zwischen Ursprünglichem und NichtUrsprünglichem, zwischen Verwirklichen und Nicht-Verwirklichen gibt, und in Wirklichkeit gibt es im Himmel und auf Erden, bei den Menschen und den Dingen, keinen Ort, den man nicht in Ordnung bringen müsste und den man beiseite lassen könnte.170

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[  Einschub zu einem Brief Ōuyáng Dés an Hú Yǎngzhāi, Fortsetzung auf Seite 190 ]

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[  Einschub zu einem Brief Ōuyáng Dés an Hú Yǎngzhāi über das Verhältnis zwischen ursprünglichem Wissen und wahrnehmendem Wissen (bzw. Wissen des [ empirischen ] Erkennens) ]

In einem wohl nur kurz nach diesem Brief an Luó Qīnshùn vom 4. Dezember 1534 geschriebenen Brief an Hú Yáoshí 胡堯時 (Rufname Yǎngzhāi 仰齋, 1499 – 1558) drückt Ōuyáng Dé seine Sicht des Verhältnisses zwischen »ursprünglichem Wissen« und »wahrnehmendem Wissen« noch mit einem anderen Begriff aus. Allerdings spricht er hier anstatt von »wahrnehmendem Wissen« (zhī jué 知覺) von »Wissen des [ empirischen ] Erkennens« (zhī shí 知識). Dieser zweite Ausdruck war in der Schule Wáng Yángmíngs der übliche Gegenbegriff zum »ursprünglichen Wissen«. Da das »ursprüngliche Wissen« nach Mèngzǐ »nicht auf Lernen und Überlegen« beruht, ist das »Wissen des [ empirischen ] Erkennens« ein Wissen aufgrund von Lernen und Überlegen. Da das »ursprüngliche Wissen« von Wáng Yángmíng mit dem »Wissen der Tugend-Natur« (dé xìng zhī zhī 德性之知) Zhāng Zàis (1020 – 1077) identifiziert wurde und dieses dem »Wissen durch Sehen und Hören« (jiàn wén zhī zhī 見聞之知) entgegengesetzt ist, ist das »Wissen des [ empirischen ] Erkennens« ein Wissen aufgrund von Sehen und Hören.171 Demgegenüber hat der Begriff »wahrnehmendes Wissen« oder »gewahrendes Bewusstsein« (zhī jué 知覺) eine weitere Bedeutung und kann alles aktuelle Bewusstsein abdecken. Auch das »ursprüngliche Wissen« in Mèngzǐs Sinn der spontanen guten Gefühle wird als eine besondere Art »gewahrenden Bewusstseins« (zhī jué 知覺) bezeichnet, nämlich als ein natürliches (d. h. in der guten menschlichen Natur wurzelndes) Gewahren (zì rán zhī jué 自然知覺).172 Ōuyáng Dé übernimmt in seinem Brief an Hú Yǎngzhāi Wáng Yángmíngs Bestimmung des »ursprünglichen Wissens« als »wahres Mitgefühl« (zhēn chéng cè dá 真誠惻怛), die dieser in seinem letzten großen philosophischen Brief Ende 1528 an Niè Bào vorgenommen hatte. Ōuyáng Dé muss diesen Brief gekannt haben, denn Wáng Yángmíng hatte Niè Bào darin gebeten, Ōuyáng Dé davon eine Kopie zukommen zu lassen.173 Ōuyáng Dé schreibt :

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[  Fortsetzung auf Seite 190 ]

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Das »ursprüngliche Wissen« und das »Wissen des [ empirischen ] Erkennens« sind zu unterscheiden. Das »Wissen des [ empirischen ] Erkennens« ist die Anwendung des »ursprünglichen Wissens« ; man kann nicht das »Wissen des [ empirischen ] Erkennens« dem »ursprünglichen Wissen« gleichsetzen, so wie Hören und Sehen Anwendungen der Hellhörigkeit und der Scharfsichtigkeit sind und nicht diesen gleichgesetzt werden können. […] [D]as »Wissen des [ empirischen ] Erkennens« ist ein Können aufgrund von Lernen, ein Wissen aufgrund von Überlegen. Das »ursprüngliche Wissen« ist das wahre Mitgefühl des eigentlichen Herzens, es »kann, ohne zu lernen, und weiß, ohne zu überlegen«174 . Die Menschen werden von eigensüchtigen (egoistischen) Absichten verunreinigt und vermögen nicht zu veranlassen, dass alle ihre Gedanken ganz dieses wahre Mitgefühl des »ursprünglichen Wissens« sind. Deshalb bedarf es der Anstrengung der »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens«. Diese besteht darin, die Einmischung der eigensüchtigen Absichten zu entfernen und zu bewirken, dass alle Gedanken ganz wahres Mitgefühl sind und keine Mängel haben. Wenn Mèngzǐ davon spricht, dass das Kleinkind zu lieben und zu verehren weiß175, dann meint auch er die natürliche Manifestation des wahren Mitgefühls des eigentlichen Herzens und veranlasst die Menschen, dieses »überall unter dem Himmel auszudehnen«176 . Wenn man das wahre Mitgefühl des »ursprünglichen Wissens« »verwirklicht«, dann sind alle Gedanken wahres Mitgefühl ; wenn alle Gedanken wahres Mitgefühl sind, dann bedeutet dies, dass alle Gedanken ihr »ursprüngliches Wissen verwirklichen«. Deshalb sagte ich einmal, dass aller Umgang mit anderen Wesen und alles Handeln nur dieses »ursprüngliche Wissen« sein muss. Denn wenn ein einziger Gedanke nicht »ursprüngliches Wissen« ist, dann ist er nicht »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens«.

良知與知識有辨。知識是良知之用,而不可以知識為良知。猶 聞見者聰明之用,而不可以聞見為聰明。… 夫知識必待學而能, 必待慮而知。良知乃本心之真誠惻怛,不學而能、不慮而知者。

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[  Fortsetzung auf Seite 190 ]

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而人為私意所雜,不能念念皆此良知之真誠惻怛,故須用格物 之功。致知云者,去其私意之雜,使念念皆真誠惻怛,而無有虧 欠云耳。孟子言孩提知愛、知敬,亦是指本心真誠惻怛自然發現 者,使人達此於天下。夫致知其良知之真誠惻怛,則念念真誠 惻怛矣。念念真誠惻怛,即是念念致其良知矣。故某嘗言,一切 應物處事,祇要是良知。蓋一念不是良知,即不是致知矣。177 Ōuyáng Dé schreibt im zitierten Text, dass das »Wissen des empirischen Erkennens« (das empirische Bewusstsein) yòng 用 des »ursprünglichen Wissens« sei, analog wie Hören und Sehen yòng von Hellhörigkeit und Scharfsichtigkeit (cōng míng 聰明) seien. Man könnte dies aufgrund der bloß lexikalischen Wortbedeutungen so verstehen, dass das »empirische Bewusstsein« Funktion des »ursprünglichen Wissens« sei, so wie Hören und Sehen Funktionen oder Aktualisierungen des Hör- und Sehvermögens seien. Doch wäre diese Interpretation bzw. Übersetzung wohl falsch. Denn eine solche Analogie würde nur dann bestehen, wenn das »ursprüngliche Wissen« bloß als ein Vermögen des Mitgefühls und seine »Funktionen« bloß als aktuelle Emotionen des Mitfühlens gedacht wären, so wie Hören und Sehen aktuelle »Funktionen« des Hörund Sehvermögens sind. Doch Ōuyáng Dé geht es hier in seiner Rede von yòng um die Anwendung des »ursprünglichen Wissens« in »allen Gedanken«, d. h. um die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« in allem empirischen Bewusstsein, in allem Wahrnehmen, Denken und Handeln, so dass das empirische Bewusstsein dadurch selbst zum »ursprünglichen Wissen«, d. h. zur »Funktion« des wahren Mitfühlens wird. Diese »Funktion« meint aber keine bloße Aktualisierung eines emotionalen Vermögens durch aktuelles Fühlen. Das »empirische Bewusstsein« meint hier vielmehr den »Ort der Anwendung« (yòng 用), den Ort der »Verwirklichung« (zhì 致) des »ursprünglichen Wissens«. In dieser Beziehung bestehen die Verschiedenheit und die Einheit von »ursprünglichem Wissen« und »empirischem W ­ issen«.

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[ 4.*] 教札又謂,某所論學問思辨,但本領既別,則雖

同此進為之方,先後緩急,自有不可得而同者。 蓋以良知為天理,則易簡再先,功夫居後,後則 可緩。謂天理非良知則易簡居後,功夫在先,先 則當急。又云,始之開發聰明,終之磨礱入細。所 賴者,經書而已。善讀書者,莫非切己。易簡之妙, 於是乎存,豈可謂凡讀書者皆遠人以為道乎? 然某非以學問思辨為後而可緩,但謂學問思 辨者,學問思辨其良知耳。善讀書者,開發良知 之聰明,而磨礱之日精日密,不以一毫私意自蔽, 不以一毫私欲自累,則大訓古典,莫非切己;

* Ōuyáng Dé jí, 2007, juàn 1, S. 18, Z. 5–12.

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[ 4. E  inheit des Studiums der Bücher der Heiligen und Weisen und der ­Erschließung des eigenen ursprünglichen Wissens (zum Stück 5 von Luó Qīnshùns vorstehendem Brief)178 ]

In Ihren lehrenden Blättern schreiben Sie auch, dass in dem, was ich über das Lernen »des Fragens, des Denkens und des Unterscheidens« [ gemäß dem Zhōngyōng ] sagte, in dem, was früher und was später kommt, und in dem, was dringend ist, nicht übereinstimmen können, obschon wir bezüglich der Methode [ gemäß diesen drei Punkten ] übereinstimmen. Dies sei deshalb nicht möglich, weil unsere wesentlichen Grundlagen verschieden seien. Wenn nämlich das ursprüngliche Wissen zum Ordnungsprinzip des Himmels erklärt werde, dann komme das Leichte und Einfache zuerst und die Anstrengung danach, und wenn diese danach komme, dann könne man sich dazu Zeit lassen. Wenn man aber der Auffassung sei, dass das himmlische Ordnungsprinzip nicht das ursprüngliche Wissen sei, dann komme das Leichte und Einfache erst danach, die ethische Anstrengung aber zuerst, und wenn diese zuerst komme, dann müsse sie dringend sein. Weiter schreiben Sie, dass [ die Lernenden der Welt ] anfänglich ihre eigene Klugheit hervornehmen und sie schließlich bis ins Detail schleifen und mahlen ; aber dass das, worauf sie sich [ letztlich ] stützen, nichts anderes sei als die Klassiker und Bücher [ der Heiligen und Weisen ]. Das gute Bücherstudium aber liege nur bei einem selbst. Hierin liege das Wunderbare des Leichten und Einfachen. Wie könne man meinen, dass alle, welche die [ k anonischen ] Bücher studieren, sich von ihrem Menschsein entfernen und dies [ Leichte und Einfache ] zum Dao machen ! Ich aber bin nicht der Auffassung, dass »das Fragen, das Denken und das Unterscheiden« erst danach kommt und dass man sich dazu Zeit lassen kann, sondern ich denke vielmehr, dass diejenigen, welche »das Fragen, das Denken und das Unterscheiden« lernen, das ursprüngliche Wissen befragen, bedenken und [ gemäß ihm ] unterscheiden und dass diejenigen, welche die Bücher [ der Heiligen und Weisen ] gut studieren, die Intelligenz des ursprünglichen Wissens erschließen, dieses täglich verfeinern und vertiefen, ohne es selber auch nur um ein Härchen durch egoistische Absichten zu verdunkeln oder durch egoistische Wünsche zu behindern. Dann sind die großen Lehren und Sprüche [ der Heiligen und Weisen ] nur bei

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博識泛觀,莫非易簡。非外讀書,而別有尊奉其 良知,以從事於易簡之道。然必真能於讀書之際, 念念無自欺而求自慊,無為其所不為,無欲其所 不欲,乃可謂之開發磨礱、不遠人以為道者, 而無先後緩急之可言也。 [ 5.]

教札謂,有物必有則,故學必先於格物。今以良 知為天理,乃欲致吾心之良知於事物,則道理全 是人安排出,事物無復有本然之則矣。 某竊意有耳目則有聰明之德,有父子則有慈孝 之心。聰明之德,慈孝之心,所謂良知也,天然自 有之則也。視聽而不以私意蔽其聰明,是謂致良

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einem selbst und alles weite Wissen und reichliche Betrachten wird leicht und einfach. Es ist nicht so, dass man das Studium der Bücher [ der Heiligen und Weisen ] beiseite lassen und zusätzlich dazu sein ursprüngliches Wissen verehrend aufnehmen würde, um sich so mit dem Dao des Leichten und Einfachen zu beschäftigen. Doch muss man in Wahrheit fähig sein, die Bücher [ der Heiligen und Weisen ] zu studieren, in jedem Augenblick sich selbst nicht zu täuschen und mit sich selbst in Frieden zu sein, nicht zu tun, was man eigentlich nicht tun will, nicht zu wünschen, was man eigentlich nicht wünscht. Dies kann man als »Erschließen, Schleifen und Mahlen« benennen, als »das Dao nicht für etwas von den Menschen Fernes Halten«, und man kann dann nicht mehr von einem Früher und Später sprechen, von etwas, wozu man sich Zeit nimmt, und von etwas, das dringend ist. [ 5. Das ursprüngliche Wissen ist die von selbst vorhandene Regel (zum Stück 6 von Luó Qīnshùns vorstehendem Brief).179 ]

In Ihren Lehrblättern schreiben Sie : »Alle Dinge haben ihre Regeln. Deshalb muss das Lernen beim gé wù (Erforschen der Ordnungsprinzipien der Dinge) beginnen.« »Wenn man nun das ursprüngliche Wissen zum Ordnungsprinzip des Himmels macht, nämlich wünscht, das ursprüngliche Wissen meines Herzens in allen Geschäften und Dingen zu verwirklichen, dann bedeutet dies, dass die Grundsätze der Lehre gänzlich aus dem Menschen heraus angeordnet werden und dass die Dinge und Geschäfte keine ursprünglichen Regeln haben.« Ich bin der Auffassung, dass, wenn Augen und Ohren vorhanden sind, es die Kraft des [ verstehenden ] Hörens und des klaren Sehens gibt, dass, wenn [ die Beziehungen von ] Vater und Sohn vorhanden sind, es das Herz der kindlichen Pietät und der [ väterlichen ] Gutherzigkeit gibt. Die Kraft des [ verstehenden ] Hörens und des klaren Sehens ist das Herz der kind­ lichen Pietät und der [ väterlichen ] Gutherzigkeit. Das Herz der kindlichen Pietät und der [ väterlichen ] Gutherzigkeit ist das ursprüngliche Wissen, ist die natürliche, von selbst vorhandene Regel. Wenn Sehen und Hören in ihrem [ verstehenden ] Hören und klaren Sehen nicht durch egoistische Absichten verdeckt werden, dann heißt dies, dass das ursprüngliche Wis-

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知於耳目之間;父子而不以私意奪其慈孝,是謂 致良知於父子之間。是乃循其天然之則,所謂格 物致知也。天理之則,民之秉彝,故不待安排而 錙銖 | 不爽。即凡多聞多見、其闕疑闕殆、擇善而

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從者,秉彝之知,其則不遠,猶輕重長短之於尺 度權衡,捨此則無所據,而不免於安排佈置, 非所謂不遠人以為道者矣。 [ 6.]

教札謂,某前書所舉,不及伊川、晦菴二先生, 疑因其格物之訓於良知之說有礙,而然非敢然 也。昔人謂天下萬世事,當以天下萬世之心處之。 一言不合,遽分彼此,是誠何心?況晦菴百世之師, 後學之稟承聽受宜如何也。

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sen in den Ohren und Augen wirkt ; wenn [ die Beziehungen von ] Vater und Sohn vorhanden sind und die [ väterliche ] Gutherzigkeit und die kindliche Pietät uns nicht von egoistischen Absichten enteignet werden, dann heißt dies, dass das ursprüngliche Wissen in den Beziehungen zwischen Vater und Sohn verwirklicht wird. Das ist das Befolgen der natürlichen Regel, das ist das gé wù (das Berichtigen der Handlungen) und das »Verwirklichen des Wissens« [ wovon das Grundkapitel des Dàxué spricht ]. Deshalb ist die Regel des himmlischen Ordnungsprinzips und »das Gesetz, an das sich das Volk hält«180, nicht auf künstliches Zurechtlegen angewiesen und ist in seinem Maß ohne Fehl. So ist in allen Mängeln des Zweifelns und allen Gefahren des Vielsehens und Vielhörens das Wissen um die »Regel« [ u m welche das Volk weiß ] nicht weit, wenn man nur das Gute wählt und es befolgt. Es ist so wie beim Wägen und Messen hinsichtlich des Maßstabes und der Waage. Wenn man diese aufgibt, hat man nichts mehr, an das man sich halten kann, und das künstliche Zurechtlegen und Herrichten ist unvermeidlich. Es ist nicht mehr das Dao, von dem es heißt, man betrachte es als etwas dem Menschen nicht Fernes. [ 6. Wenn keine Übereinstimmung zwischen den konfuzianischen Lehren besteht, was gibt es da Wertvolleres, als den eigenen Lehrer zum Freund zu machen ? (zu Stück 4 von Luó Qīnshùns vorstehendem Brief)181 ]

Ihre belehrenden Blätter sagen, dass Sie vermuten, dass ich in meinem vorigen Brief die beiden Lehrer Yīchuān (Chéng Yí) und Huì’ān (Zhū Xī) nur deshalb nicht auch hervorhebe, weil ihre Lehre vom gé wù (»Erforschen [ der Ordnungsprinzipien ] der Dinge«) der Lehre vom ursprünglichen Wissen widerspreche, und dass ich nicht wage, dies anzuerkennen, obschon es so sei. Leute früherer Zeiten waren der Meinung, dass die tausend welt­ lichen Geschäfte unter dem Himmel mit dem Herz der tausend weltlichen Geschäfte unter dem Himmel zu ordnen sind. Was für ein Herz würde da bei einem einzigen unpassenden Wort, bei einem übereiligen Unterscheiden zwischen diesem und jenem »wahrhaftig gemacht« [ Grundkapitel des Dàxué ] ! Und um wie viel weniger passt dies zu Huì’ān, dem Lehrer der hundert Generationen, und zur Übernahme und Befolgung [ seiner Lehre durch ] seine Nachfolger !

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以某所聞於晦菴所論格致之功,未嘗少有遺 闕。其曰事事物物廣充其良知、無自欺求自慊, 無為其所不為,物欲其所不欲者,雖非晦菴格致 正訓,然皆古聖緒論,而晦菴所祖述焉者,則亦 未至於有礙也。惟是濂溪《通書》首數章及聖學 章、明道《定性書》及「學者須先識仁」諸語,諄 諄懇懇,指出本原,無異於《大學》知本之教。明 道表章《大學》,雖頗有更定,未嘗補格致之傳。 竊意其或以獨知為知,以無自欺而求自慊為致知, 而別無可補之說者。故因論格物致知,而以濂溪、 明道為言,非以伊川、晦菴為可外也。使二先生 如在,上恐受教無地,不足以從弟子之列。然而 異同之論,則雖面承教授,親為弟子,亦豈可不

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Nach dem, was ich [ von Wáng Yángmíng ] hörte, gab es [ bei ihm ] gegenüber dem, was Huì’ān über die Anstrengung des gé [ wù ] (der Erforschung [ der Ordnungsprinzipien ] der Dinge) und des zhì [ zhī ] (Verwirklichen [ des Wissens ]) lehrte, nicht die geringste Vernachlässigung und nicht den geringsten Mangel. Obschon seine (= Wáng Yángmíngs) Aussage, dass man in allen Geschäften und Angelegenheiten sein ursprüngliches Wissen ausweiten und zur Fülle bringen muss, dass man sich nicht selbst täuschen darf und seinen Frieden mit sich selbst suchen soll, dass man nicht tun soll, was man nicht tut, und nicht wünschen soll, was man nicht wünscht, nicht der orthodoxen Lehre von Huì’ān über das gé [ wù ] und das zhì [ zhī ] entspricht, so steht sie doch nicht im Gegensatz zu den Lehren der alten Heiligen und zu dem, was Huì’ān daraus als Erbe übernahm. Nur ist es so, dass das erste Kapitel und das [ z wanzigste ] Kapitel über »die Lehre der Heiligen« von Liánxīs (Zhōu Dūnyí) Buch zur Ergründung der Wandlungen182 und Míngdàos (Chéng Hào) Brief über die Festigung der Natur [ des Menschen ]183 sowie seine Abhandlung, [ die mit dem Satz ] »Der Lernende muss zuerst die Menschlichkeit erkennen« [ beginnt ]184, in wiederholter und inständiger Weise den radikalen Ursprung hervorheben und von der Lehre des Lernens der Großen über das »Wissen um die Wurzel« nicht verschieden sind. Míngdàos Mitteilung über das Lernen der Großen fügt der Überlieferung des gé wù (»Berichtigen der Handlungen«) und des zhì zhī (»Verwirklichen des Wissens«) nichts hinzu, obschon sie noch bestimmter spricht. Ich denke, dass Sie wahrscheinlich das »allein Wissen«185 als das »Wissen« [ im Ausdruck »Verwirklichen des Wissens« im Dàxué ] und das »nicht sich selbst Täuschen« und dass Sie das »Suchen der Zufriedenheit in sich selbst« als das »Verwirklichen des Wissens« betrachten und dass es nichts anderes zu sagen gibt, womit man sie ergänzen könnte. Wenn man daher das gé wù (»Berichtigen der Handlungen«) und das »Verwirklichen des [ u rsprünglichen ] Wissens« mit Liánxī und Míngdào erklärt, betrachtet man [ die Ansicht von ] Yīchuān (Chéng Yí) und Huì’ān nicht als etwas, das man außerhalb davon stellen kann. Doch wenn man diese beiden Lehrer so lässt, wie sie sind, befürchte ich, dass man dennoch zum Übernehmen ihrer Lehre keine Grundlage findet, die ausreichen würde, um der Reihe ihrer Schüler zu folgen. Wie kann man im Hinblick auf [ deren ] Diskussionen um [ i hre ] Differenzen und Gemeinsamkeiten denn anders,

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盡其愚!蓋二程亦時異於濂溪,而游,楊諸子亦 時異於二程。古之聖人亦未嘗有都俞,而無吁咈, 不如是則何取於講學?何貴於親師取友?此某之 志也。 銘感厚德,極欲勉承鐫諭,庶或寸進,誠知無 已之愛,不倦之教,必不以其愚而遂棄之。顧塵 鞅驅馳,又文詞蕪穢,不能宜悉。萬惟推見至隱, 啟蔀發蒙,不勝幸甚。

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als seine eigene Dummheit auszuschöpfen, selbst wenn man die Lehre direkt von ihnen übernimmt und sich selbst zu ihren Schülern macht ! Denn die beiden Chéng [-Brüder ] hatten auch zeitweise Differenzen zu Liánxī, und auch die Meister Yóu [ Zuò ]186 und Yáng [ Shí ]187 hatten zeitweise Differenzen mit [ihren Lehrern,] den beiden Chéng [-Brüdern ]. Die heiligen Menschen des Altertums stimmten auch nicht alle ohne Seufzer miteinander überein. Und wie soll man dann eine Lehre übernehmen, wenn keine Übereinstimmung herrscht ? Was gibt es da Wertvolleres, als den eigenen Lehrer zum Freund zu machen ?188 Und genau dies ist mein Wille. [ Schluss des Briefes189 ]

Tief beeindruckt von Ihrer großen Tugend möchte ich mit all meinen Kräften nichts mehr, als Ihre Ausführungen von dauerndem Wert in mich aufnehmen, um ein wenig fortzuschreiten in der Erkenntnis Ihrer grenzenlosen Liebe und Ihrer mich nie ermüdenden Belehrung und sie nicht aufgrund meiner Dummheit aufzugeben. Wegen des Staubes der Welt eile ich dahin, auch mit verworrenen und schmutzigen Worten und unvermögend, [ Ihnen ] Gründliches zu vermitteln. In meinem Innersten denke ich daran, bis ins Verborgenste sehen zu können, mich zu öffnen und Einsicht zu gewinnen ; dann wäre mein großes Glück unübertrefflich.

A N M ER KU N G EN

Teil I  ·  Kontroverse zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng

S. 3 – 45

Der chinesische Text dieses Vorwortes findet sich in WYMQ J, S. 127 – 1 28. Der vollständige Text der von den Anhängern Zhū Xīs stark kritisierten Schrift Zhū Xīs endgültige Lehre seiner späten Jahre (publiziert 1518) ebd. auf den Seiten 128 – 1 43. Diese enthält Auszüge aus 34 Briefen Zhū Xīs an 24 Adressaten sowie einen Text von Wú Chéng 吳澄 (1249 – 1335). Wú Chéng war der bedeutendste Konfuzianer der Yuán-Dynastie (1271 – 1368). In der Yuán-­D ynastie (Dynastie der Mongolen) wurde Zhū Xīs Interpretation des Konfuzianismus zur offiziellen Staatsdoktrin, d. h. als maßgebend für die Staatsprüfungen erklärt. 2 Wörtlich : »Die Überlieferung von [Konfuzius’ Schule in Qūfù] zwischen [den Flüssen] Zhū (im Norden) und Sì (im Süden) ist nach Menzius zum Erliegen gekommen.« Referenz auf das Klassiker der Sitten (Lǐjì), Kap. 3, »Tángōng I 檀弓上«, siehe Legge, übers., Li Chi, S. 135. 3 Lóngchǎng (»Drachenfeld«) liegt in der damals sehr abgelegenen und noch kaum von Hàn-Chinesen besiedelten Provinz Guìzhōu im Südwesten Chinas, etwa 30 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Guìyáng. Wáng Yángmíng traf dort im Frühjahr 1508 ein und hatte die Poststation zu betreuen, in der die Postpferde gewechselt wurden. 4 Zu Wáng Yángmíngs Biographie von seinen Studien bis zur Zeit seiner Verbannung in Lóngchǎng siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 57 – 74. 5 Im Frühsommer 1514 wurde Wáng Yángmíng zum »Minister des HónglúHofes« in Nánjīng ernannt und war als solcher für die Staatszeremonien in der Südlichen Hauptstadt (Nánjīng) verantwortlich. Für Genaueres zu Wáng Yángmíngs Aufenthalt in Nánjīng siehe Kern, Das Wichtigste im ­Leben, S. 85 – 88. 6 Das Zitat stammt aus einem Brief Zhū Xīs an Hé Shūjīng 何叔京, den er im Alter von 39 Jahren verfasst haben soll, also vor den Werken aus seinen mittleren Jahren. Vgl. Cài Lóngjiǔ 蔡龍九, »Lùn Chén Jiàn ›Xuébù tōngbiàn‹ zhī gōngxiàn yǔ shīwù« 論陳建“學蔀通辨”之貢獻與失誤, Guólì Táiwān Dàxué Zhéxué Pínglùn 國立台灣大學哲學評論 36 (Okt. 2008), S. 129 – 172,

1

202

Anmerkungen

S. 169. Der Brief ist im Huì’ān xiānshēng Zhū Wéngōng wénjí 晦庵先生朱 文公文集 von 1872 (tóngzhì 12) enthalten (fotomechanischer Nachdruck Táiběi : Guāngfù shūjú 光復書局, 1960), Bd. 9, juàn 21, S. 38a–39b. 7 Es handelt sich um Zhū Xīs Erklärungen zu jedem einzelnen der »Vier Bücher«. Zu den »Vier Büchern« des konfuzianischen Kanons seit der SòngZeit siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, 12 – 15. 8 Es handelt sich um Zhū Xīs Antworten und Fragen zu jedem einzelnen der »Vier Bücher«. 9 Shǒurén ist der Eigenname von Wáng Yángmíng ; Yángmíng ist sein von Leuten außerhalb seiner Familie benutzter Beiname. 10 Wáng Yángmíngs Vorwort zu seiner Ausgabe der Alten Fassung des ›Lernens der Großen‹ ist in zwei Fassungen erhalten : Die erste Fassung von 1518 liegt in WYMQ J auf S. 1197 vor, die zweite von 1523 auf S. 242. Luó Qīnshùn bezieht sich in seinem Schreiben vom Sommer 1520 (s. unten in I, 2) selbstverständlich auf die erste. 11 Die im Folgenden zwischen Anführungszeichen gesetzten deutschen und in Klammern mit den entsprechenden chinesischen Wörtern versehenen Ausdrücke stammen aus der alten Fassung des Dàxué. Wáng Yángmíng erklärt also diese Ausdrücke in seiner eigenen Weise, die mit derjenigen Zhū Xīs nicht übereinstimmt. 12 Wáng Yángmíng verstand den Ausdruck »gé wù« im Dàxué als »Berichtigung der Handlungen«, während Zhū Xī ihn als »Erforschung der Dinge« verstanden hatte. Beide Interpretationen sind sprachlich möglich. 13 Zu »Substanz« (tǐ) siehe oben in der Einleitung Abschnitt 5. »Substanz«, das vom lateinischen Wort substantia abstammt, ist das in westeuropä­ ischen Sprachen am meisten benutzte Wort, um das in philosophischen Zusammenhängen der Sòng- und Míng-Zeit benutzte chinesische Wort tǐ 體 zu übersetzen. 14 Gemäß der zu Wáng Yángmíngs Zeiten gültigen Tradition handelt es sich beim Anfangsteil des Dàxué, der in den oben übersetzten Sätzen von Wáng Yángmíng interpretiert wird, um Aussagen von Konfuzius, die von dessen Schüler Zēngzǐ festgehalten wurden. Diese Tradition wird heute allgemein in Frage gestellt. 15 In seiner Ausgabe und Kommentierung des Dàxué sowie in seiner Schrift Dàxué huò wèn 大學或問 versucht Zhū Xī das ethische Lernen durch den Begriff der »Ehrfurcht« ( jìng 敬) zu vereinheitlichen.



Teil I

203

Gemeint sind Zhū Xīs Sì shù zhāng jú jí zhù (»Gesammelte Kommentare zu den Kapiteln und Sätzen der Vier Bücher«). 17 Übersetzt aufgrund des chinesischen Textes in der von Yán Tāo besorgten Ausgabe von Luó Qīnshùns Kùnzhī jì (»Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not«), S. 108 – 1 12 (2. Auflage 2013, S. 141 – 1 46). Er findet sich in englischer Übersetzung Bloom, übers., Knowledge Painfully Acquired, S. 175 – 185. 18 Dieser Brief Wáng Yángmíngs an Luó Qīnshùn ist in den WYMQ J nicht enthalten. 19 Veröffentlicht in WYMQ J, S. 127. Diese Schrift Wáng Yángmíngs ist datiert auf den »Neumond des elften Mondes im Winter des Jahres yǐ hài der zhèngdé-Ära«, was dem 11. Dezember 1515 entspricht. 20 Bei diesem Text handelt es sich um Aufzeichnungen von Gesprächen, die drei Schüler Wáng Yángmíngs seit dem Winter 1512/13 mit diesem geführt hatten und die 1518 veröffentlicht wurden. Es handelt sich um den ersten der drei Teile des heutigen Chuánxí lù, das 1535 zum ersten Mal gedruckt wurde. 21 Lúnyǔ (»Gespräche des Konfuzius«), 6. 27. 22 Lúnyǔ, 9.11. 23 Tuàn 彖-Kommentar zum Hexagramm Qián, dem ersten Hexagramm des Buches der Wandlungen (Yìjīng). Vgl. James Legge, übers., Book of Changes (New York : Bantam Books, 1964), S. 213. Dieses Hexagramm besteht aus sechs ungebrochenen Strichen. 24 Tuàn-Kommentar zum Hexagramm Kūn, dem zweiten Hexagramm des Buches der Wandlungen (Yìjīng) (Legge, Book of Changes, S. 214). Dieses Hexagramm besteht aus sechs gebrochenen Strichen. 25 Vgl. Zhū Xīs Betonung des Grundsatzes : »Das Ordnungsprinzip ist eines und differenziert sich in Unterschiede« (Lǐ yī fēn shū 理一分殊, z. B. ZZYL, S. 2), eventuell besser zu übersetzen als : »Das Ordnungsprinzip (oder einfach : »die Ordnung«) ist eins, doch es unterteilt sich in geschiedene Einzelne.« Shū sind m. E. weniger die Unterschiede selber als die durch Unterscheidungsmerkmale hervorgehobenen und damit vereinzelten (isolierten) Einzeldinge  – die dadurch vom Ganzen geschieden scheinen, aber eben : nur scheinen. Betont wird, dass sich das eine Ordnungsprinzip in verschiedene Ordnungsprinzipien differenziert, je nach den einzelnen Dingen bzw. ihrem qì 氣 (Lebensenergie). 26 Übersetzung der chinesischen Texte dieses Briefes im zweiten Teil des Chuán xí lù, WYMQ J, S. 75 – 78. 16

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Anmerkungen

Im Sommer 1520 fuhr Wáng Yángmíng mit dem Boot auf dem Gàn-Fluss von Nánchāng Richtung Süden nach Gànzhōu, um seine dort vor zwei Jahren durchgeführten politischen Reformen zu kontrollieren und sich vor der ihm feindlich gesinnten Umgebung des Kaisers, der sich damals in Nánjīng aufhielt, in Sicherheit zu bringen (sie dazu Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 90 – 93). Als er an der Schiffstation von Tàihé Halt machte, überreichte ihm Luó Qīnshùn, der im Gebiet der Präfektur von Tàihé zu Hause war, sein oben wiedergegebenes Schreiben. 28 Lúnyǔ 7.3. Ich übersetze nach der Interpretation von Arthur Waley, übers., The Analects of Confucius (London : G. Allen & Unwin, 1971), S. 123. 29 Betonung des Übersetzers. 30 Hervorhebung des Übersetzers. 31 Nach der traditionellen chinesischen Auffassung stammt das Grundkapitel des Dàxué von Konfuzius. 32 Das »Eine und Feine« geht auf einen Satz im Klassiker der historischen ­Dokumente (Shūjīng) zurück. Dieser Satz lautet : »Das Herz (der Geist) des Menschen ist in Gefahr (oder : gefährlich) ; das Herz des Dao (Weges) ist unsichtbar. Sei fein ( jīng 精) und einheitlich (yī 一) und halte dich an die Mitte.« »Mahnungen von Yǔ dem Großen«, siehe Legge, James, übers., The Shoo King (Hongkong : Hong Kong University Press, 1985), S. 61. 33 Yìjīng (»Klassiker der Wandlungen«), Xìcí 繫辭 (»Großer Anhang), Teil II, Kap. 5 ; vgl. Richard Wilhelm, I Ging. Das Buch der Wandlungen (Düsseldorf/ Köln : Diederich, 1980), S. 312. 34 Zhōngyōng, Kap. 25 (Anordnung nach Zhū Xī) ; vgl. Peter Weber-Schäfer, Der Edle und der Weise (München : C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 1963), S. 57. 35 Eine der wichtigsten Formeln der Schule von Chéng Yí und Zhū Xī. 36 Wing-tsit Chan präzisiert in seinem Übersetzungswerk Instructions for Practical Living and other Neoconfucian Writings by Wang Yang-ming (New York : Columbia University Press, 1963) S. 162, diese »neun Abschnitte« folgendermaßen (ich übersetze aus dem Englischen), indem er sich auf Zhū Xīs Dàxué huò wèn beruft : 27

1. Bücher lesen, Lehren diskutieren, Prinzipien erhellen, Überlegungen über vergangene und gegenwärtige Leute und Ereignisse anstellen und ihre Richtigkeit und Falschheit unterscheiden, sich mit Aufgaben befas-



Teil I

205

sen und sie auf richtige Weise lösen und eine Sache heute und am nächsten Tag untersuchen. 2. Die [Ordnungs-]Prinzipien in allen Dingen untersuchen, von demjenigen der eigenen Person bis zu denjenigen aller Dinge. 3. Weder umfassend die [Ordnungs-]Prinzipien aller Dinge noch ausschließlich dasjenige eines einzelnen Dinges untersuchen, sondern schrittweise mehr und mehr, und so die Erkenntnis zu vermehren. 4. Sowohl das Leichte als auch das Schwierige untersuchen, stets gemäß den eigenen Fähigkeiten. 5. Sich bewusst sein, dass jedes Ding sein [Ordnungs-]Prinzip hat und ­u ntersucht werden sollte. 6. Wissen, dass die Untersuchung des Prinzips der kindlichen Pietät ­bedeu­tet, es zu praktizieren. 7. Sich bewusst sein, dass jeder Grashalm und jeder Baum ein Prinzip h ­ aben. 8. Erkennen, wo das höchste Gute zu finden ist. 9. Das [Ordnungs-]Prinzip in der eigenen Person untersuchen. Die Lehre von Yáng Zhū 楊朱, der um 400 v. Chr. gelebt haben soll, ist nur durch Fragmente bekannt. Mèngzǐ nimmt an drei Stellen seines Werkes auf ihn Bezug : Mèngzǐ, 3A.9 ; 7A.26 und 7B.26. Die Lehre von Mò Dí, der im 5. und wohl auch noch am Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. gelebt haben soll und eine einflussreiche, sich später verzweigende Schule gegründet hat, ist durch die Texte dieser Schulen bekannt. Zwei Bände mit Texten dieser Schule sind in der Übersetzung Helwig Schmidt-Glintzers erschienen : Mo Ti, Solidarität und allgemeine Menschenliebe und Gegen den Krieg (Düsseldorf/Köln : Eugen Diederichs Verlag, 1975). Im gleichnamigen Buch 7A.26 sagt Mèngzǐ über Yáng Zhū und Mò Dí, die er als Verteter gegensätzlicher Positionen sieht, das Folgende : »Meister Yáng erhob das ›für sich selbst‹ (wèi wǒ 為我) zum Prinzip ; sich auch nur ein Härchen auszureißen, um der ganzen Welt zu nützen, selbst das hätte er nicht getan. Meister Mò erhob die »gleiche Liebe für alle« ( jiān ài 兼愛) zum obersten Prinzip. Sich von Kopf bis Fuß kahl zu scheuern (gegen seine eigene Natur vorzugehen), um der Welt zu nützen, auch dazu war er bereit.« (Vgl. Richard Wilhelm, übers., Mong Dsi (Mong Ko) [Jena : Eugen Diederichs, 1921], S. 164). 38 Aussage von Lù Jiǔyuān 陸九淵 (Beiname : Xiàngshān 象山, 1138 – 1 193), Zeitgenosse, zugleich Freund und philosophischer Gegner von Zhū Xī. 37

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Anmerkungen

Mèngzǐ, 3B.9. Hán Yù 韓愈 (Beiname Tuìzhī 退之) betrachtete die blühenden Lehren des Buddhismus und Daoismus als Ursache des Zerfalls des Táng-Reiches. Er verlangte daher eine Rückkehr zum Konfuzianismus. Er war ein Vorläufer der Renaissance des Konfuzianismus im 11. Jahrhundert. 41 Hán Chānglí quán jí 韓昌黎全集 (»Gesammelte Schiften von Hán Yù«) (Táiběi : Xīn Wénfēng chūbǎn gōngsī 新文豐出版公司, 1977), juàn 18, S. 9 a/b. 42 Wáng Yángmíng war im Herst 1520, als er diesen Brief schrieb, in großer Lebensgefahr, da er damals im Umfeld des Kaisers große Feinde hatte. Siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 92 f. 43 Shījīng 詩經 (»Klassiker der Lieder«). Siehe Bernhard Karlgren, The Book of Odes (Stockholm : Museum of Eastern Antiquities, Nr. 65, 1950), S. 44. 44 Mèngzǐ, 3A.5, S. 59. 45 Lúnyǔ, 19.21. 46 Lúnyǔ, 19.8. 47 In der Zeit des letzten Herbstmondes des Jahres 1520, d. h. zwischen dem 11. Oktober und 9. November, kehrte Wáng Yángmíng von Gànzhōu zuerst in nördlicher Richtung auf dem Gàn-Fluss nach Nánchāng, der Hauptstadt der Provinz Jiāngxī, und im Jahre 1521 von dort über einen Pass in die Provinz Zhèjiāng zurück (siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 94). Ein Treffen mit Luó Qīnshùn ist in jener Zeit aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zustande gekommen. Nichts ist meines Wissens darüber dokumentiert, und Luó Qīnshùn schrieb in seinem zweiten Brief an Wáng Yángmíng vom Winter1528/29, nachdem er von dessen bevorstehender Heimkehr aus den Provinzen Guǎngxī und Guǎngdōng ganz im Süden Chinas über die Provinz Jiāngxī erfahren hatte, dass er ihn bei dieser Gelegenheit »seit vielen Jahren« zu treffen wünschte, dass er dies aber nicht vermöge, da er wegen Knochenkrankheiten sein Haus nicht verlassen könne. Wáng Yángmíng hat diesen Brief wahrscheinlich nie erhalten, denn er starb auf dieser Heimreise am 9. Januar 1529, nachdem er nach der Überquerung des Xiǎoméi 小梅-Passes zwischen der Provinz Guǎngdōng und der Provinz Jiāngxī das Schiff bestiegen hatte und bevor er die Präfekturhauptstadt Tàihé erreichte, in deren Nähe Luó Qīnshùn zu Hause war. 39

40



Teil II

Teil II  ·  Antwortbrief Wáng Yángmíngs an Ōuyáng Dé

207

S. 47 – 65

Der Brief von Ōuyáng Dé, auf den Wáng Yángmíng antwortet, ist nur teilweise, nämlich in den aus ihm zitierten Stellen in dem im Folgenden wiedergegebenen Antwortbrief Wáng Yángmíngs, erhalten ; wohl fehlen bei ihm nur die Einleitung und der Schluss. In dem im Folgenden in deutscher Sprache wiedergegebenen Umfang stammt er aus dem zum ersten Mal 1526 veröffentlichten zweiten Buch des Chuánxí lù, WYMQ J, S. 71 – 74. 49 Lúnyǔ, 7.27. 50 Zitat aus dem Shūjīng (»Klassiker der historischen Dokumente«), »Mahnungen von Yǔ dem Großen«, s. James Legge, The Book of Historical Documents, S. 61. 51 Lúnyǔ, 7.27. 52 Yìjīng, Xìcí, Dàzhuàn, 2. Teil, Kap. 5, erster Abschnitt. Vgl. Wilhelm, I Ging, S. 311 ; Legge, I Ching, S. 389. 53 Von Wáng Yángmíng und seinen Schülern mehrmals gebrauchtes Gleichnis : Jemand hört in einem anderen Raum seines Hauses ein Geräusch, das von einem eingedrungenen Dieb verursacht wird, hält es aber für dasjenige seines Sohnes oder seines Vaters. 54 Shūjīng (»Klassiker der historischen Dokumente«, »Zhōushū 周書« [Dokumente der Zhōu[Dynastie]), 4. Buch), Legge, The Shoo King, S. 327. 55 Mèngzǐ, 6A.15. 56 Mèngzǐ, 2A.2. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd. 60 Zhōngyōng, Kap. 14 (in Zhū Xīs Kapiteleinteilung). 61 Lúnyǔ, 14.28. 62 Paraphrase eines Textes von Ōuyáng Xiū 歐陽修 (1007 – 1072) aus Ōuyáng Wénzhōng gōng wénjí 歐陽文忠公文集 (»Gesammelte Schriften von Ōuyáng Xiū«), (Shànghǎi : Shāngwù yìnshūguǎn, 1936), juàn 15, S. 4a. 63 Vgl. Mèngzǐ, 6A.4 : Mèngzǐ kritisiert hier seinen Zeitgenossen Gào Bùhài 告不害, der die Menschlichkeit als etwas Inneres, die Gerechtigkeit (Rechtlichkeit) als etwas Äußeres betrachtete. 64 Vgl. Mèngzǐ, 2A.2. Eine Negation des oben als Zitat wiedergegebenen Satzes legt Mèngzǐ in den Mund seines soeben erwähnten Zeitgenossen Gào Bùhài. 48

208

Anmerkungen

Dàxué, Kap. 6 (nach der Einteilung von Zhū Xī). Lúnyǔ, 14.31. 67 Yáo und Shùn sind vorhistorische, legendäre und idealisierte Herrscher. 68 Chóngyī ist der Beiname von Ōuyáng Dé 69 Erster Teil der Definition von liáng zhī (»ursprüngliches Wissen«) in Mèngzǐ, 7.A.15. 70 Vgl. Yìjīng, Xìcí (»Großer Anhang«), Teil II, Kap. 12 ; Übersetzungen : Legge, I Ching, S. 404 ; Wilhelm, I Ging, S. 325 f. 71 Zweiter Teil der Definition von liáng zhī (»ursprüngliches Wissen«) in Mèngzǐ, a.a.O. 72 Vgl. Yìjīng, a. a. O. 73 Vgl. Yìjīng, Kommentar zum ersten Hexagramm Qián. Übersetzungen : Legge, I Ching, S. 417 ; Wilhelm, I Ging, S. 353. 74 Siehe den Schluss des obigen Zitates aus dem Brief von Ōuyáng Dé. 75 Lúnyǔ, 14.25. 76 Zhōngyōng, Kap. 20 (Einteilung von Zhū Xī). 77 Ebd. 78 Ebd. 79 Zǐsī gilt als Enkel und Schülersschüler von Konfuzius, als Lehrer des Mèngzǐ und Autor des Zhōngyōng. 65 66



Teil III

Teil III  ·  Kontroverse zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn

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S. 67 – 133

OYDJ, S. 12, Z 4 – 7. Aus dem Klassiker der Sitten (Lǐjì), Kap. 3, »Tángōng I«. S. Legge, übers., Li Chi, S. 133. 82 Aus dem Zhōngyōng. S. Wilhelm, Richard, übers., Li Gi – Das Buch der Sitten und Gebräuche [Jena : Eugen Diederichs, 1930], S. 14. Vgl. Legge, übers., Li Gi, Bd. 2, S. 319. 83 OYDJ, S. 12, Z. 9 ; S. 13, Z. 12. 84 Dieser Satz stammt aus Wáng Yángmíngs Brief an Lù Yuánjìng 陸原靜 ( jìnshì 1505), der in den zweiten Teil des Chuánxí lù aufgenommen wurde. 85 OYDJ, S. 12. 86 Bei seinem Begriff des zhī jué 知覺 stützt sich Ōuyáng Dé wohl u. a. auf folgende Aussage Wáng Yángmíngs : »Das Herz (der Geist : xīn 心) ist kein Stück Fleisch und Blut, sondern alles wahrnehmende Wissen (wahrnehmende Bewusstsein : fán zhī jué chù 凡知覺處) ist Herz. Z.B. das Wissen des Auges im Sehen (mù zhī zhī shì 目之知視 [man könnte auch übersetzen : die Fähigkeit des Auges zu sehen]), das Wissen des Ohres im Hören (ěr zhī zhī tīng 耳之知聽), das Wissen der Hände und Füße im Empfinden von Schmerzen und Reizen, dieses wahrnehmende Wissen ist Herz.« (Chuánxí lù III, Nr. 323, WYMQ J, S. 121). Zhī jué hat hier also eine sehr breite Bedeutung und meint alles Empfinden, Wahrnehmen, Fühlen. 87 Um Luó Qīnshùns Vorwurf zurückzuweisen, dass Wáng Yángmíng das »Ordnungsprinzip des Himmels« als die »Natur« des Menschen einfach ins menschliche »Herz« oder Bewusstsein aufgehen lasse, bestimmt Ōuyáng Dé das »ursprüngliche Wissen« durch Mèngzǐs Charakterisierung der »Ansätze« (duān 端) der vier Tugenden im menschlichen Herzen, durch das Mitgefühl usw. Siehe Mèngzǐ, 1A.7 ; 2A. 6 und 7. 88 Anspielung auf Zhū Xīs Erklärung des Wortes liáng 良 in seinem Kommentar zu Mèngzǐ, 7A.15, siehe Zhū Xī, Sì shū zhāng jù jí zhù, S. 353. 89 OYDJ, S. 2. 90 OYDJ, S. 12, Z. 14–S. 13, Z. 13. 91 Anspielung auf das Zhōngyōng, Kapitel 23 (Einteilung von Zhū Xī). 92 Hinweis auf das Grundkapitel des Dàxué. 93 Die »vollkommene Erleuchtung« ist nach gewissen buddhistischen Texten 80 81

210

Anmerkungen

dasselbe wie die »ursprüngliche Erleuchtung« (běn jué 本覺), d. h. die im Menschen vorhandene vollkommene Buddhanatur. 94 Das »Speicherbewusstsein« ist das »achte Bewusstsein«, das die Sedimente und »Samen« der guten und schlechten Handlungen, aber auch die »Samen« der Erlösung, welche die »Buddhanatur« ausmachen, enthalten soll. Ōuyáng Dé bezieht sich hier wohl auf diese Art von »Samen«. 95 OYDJ, S. 12 f. 96 Das heißt an den »Vier Büchern« und an zwei der hervorragendsten Konfuzianer der Nördlichen Sòng-Dynastie (960 – 1 125). 97 Taishō Shinshū Daizōkyō 大正新修大藏經, hg. Takakusu Junichirō 高楠 順次郎 / Watanabe Kaigyoku 渡邊海旭 (Tokyo : Taishō Issaikyō Kankōkai 大正一切經刊行會, 1924 – 1932, fortan : Taishō), Bd. 17, Nr. 842. 98 Das sind alles Sūtren des Großen Fahrzeuges, z.T. chinesischen Ursprungs, die bei den Chán 禪-Buddhisten besonders beliebt waren. 99 OYDJ, S. 13, Z. 14–S. 14, Z. 6. 100 Zitat aus Mèngzǐ, 7A.15. 101 OYDJ, S. 14, Z. 7 – 1 1. 102 Es sind dies zwei der »Fünf Klassiker« des konfuzianischen Kanons. Zu diesen Klassikern siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 16 – 20. 103 Shūjīng, »Shāngshū 商書« (Dokumente der Shāng[-Dynastie]), »Der Auftrag an Yuè« (Yuè mìng xià 說命下), 8 : James Legge übersetzt »[He who sincerely cherishes these things] will find all truth accumulating in his person. […] [when a man’s thoughts from first to last are constantly fixed on learning,] his virtuous cultivation comes unperceived.« Legge, Shoo King, S. 261. 104 OYDJ, S. 14, Z. 12 bis S. 15, Z. 7. 105 Die »fünf Beziehungen«, wǔ pǐn 五品, bekannter unter dem Ausdruck wǔ lún 五倫, bezeichnen das Verhältnis zwischen Vater und Sohn, Herrscher und Untertan, jüngerem Bruder und älterem Bruder, Gatte und Gattin sowie zwischen Freunden. 106 Wörtlich : »die mit Netzen Hasen Fangenden«, jū tù 罝兔. 107 Lehre des Yáng Zhū, der eine Art von Egoismus lehrte und von Mèngzǐ kritisiert wurde. 108 Lehre des Mò Dí (Mòzǐ). 109 Wohl sind dies die Schule der sog. Dialektiker, die sich für das Verhältnis zwischen Namen (Begriffen) und Wirklichkeit interessierten, und die Schule der Legalisten eines Hán Fēizǐ 韓非子 (3. Jh. v. Chr.), welche der ge-



Teil III

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walttätige Vereiniger Chinas, »der erste erhabene Kaiser der Qín« (Qín shǐ huáng dì 秦始皇帝), zur Grundlage seiner Herrschaft machte. 110 Wörtlich : »die mit Netzen Hasen Fangenden« : jū tù. 111 Mèngzǐ, 5A.7. 112 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 117, Z. 10 – S. 118, Z. 1 ; 2. Auflage, S. 153, Z. 4 –11. 113 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 118, Z. 2 – 10 ; 2. Auflage, S. 153, Z. 12 – S. 154, Z. 8. 114 Dem ersten Teil entsprechen unten in unserer Gliederung der Antwort Luó Qīnshùns die Punkte 2 und 3, dem zweiten Teil der Punkt 5 und dem dritten Teil der Punkt 6. 115 Gemäß Mèngzǐ, 7A.15. 116 Vielleicht in übertragenem Sinn als Abscheu vor einem ungerechten Verhalten gemeint oder als Anspielung auf das 6. Kapitel des Dàxué, in dem die Wahrhaftigkeit des Willens mit der Abscheu vor einem üblen Geruch verglichen wird. 117 Luó Qīnshùns Behauptung, dass bei Mèngzǐ das »ursprüngliche Wissen« jedes beliebige nicht überlegende Erkennen und Können bedeutet, ist sicher sehr problematisch, denn dieser hat damit ein ursprüngliches, nicht erlerntes moralisches Vermögen im Auge und kaum etwa eine durch Übung erworbene Kunstfertigkeit im Trommeln, die des Überlegens nicht mehr bedarf. Auch seine Behauptung, dass in der konfuzianischen Tradition nicht zwischen verschiedenen Arten des Wissens unterschieden werde, erstaunt angesichts der von Zhāng Zài (1020 – 1078) aufgestellten und letztlich wohl auch im Buch Mèngzǐ wurzelnden Unterscheidung zwischen dem »Wissen durch Sehen und Hören« ( jiàn wén zhī zhī 見聞之知), das durch äußeren Kontakt mit den Dingen entsteht, und dem »Wissen der Tugend-Natur« (dé xìng zhī zhī 德性之知), das in der eigenen »Natur« des Menschen gründet (Zhāng Zài, Zhèngméng, »Dà xīn« (Kap. 7) ; deutsche Übersetzung : Chang Tsai, Rechtes Auflichten, S. 40) Diese Unterscheidung hatte in der konfuzianischen Tradition großen Einfluss. Doch Luós Asso­ ziation von Wáng Yángmíngs Lehre des »ursprünglichen Wissens« mit dem »wahren Erkennen« (zhēn shí 真識) des Laṅkavatāra-Sūtra ist nicht ohne Grund, denn dieses »wahre Erkennen« wurde im Huāyán 華嚴- und Chán 禪-Buddhismus als »ursprüngliche Erleuchtung« (běn jué 本覺) verstanden, auf deren Affinität mit Wáng Yángmíngs drittem Begriff des »ursprünglichen Wissens« ich andernorts hingewiesen habe. Siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 203 – 208.

212

Anmerkungen

Die von Luó Qīnshùn angeführte Unterscheidung von drei Arten des Erkennens findet sich nur in einer der drei chinesischen Fassungen des Laṅkavatāra-Sūtra (Taishō, Bd. 16, Nr. 670, 671, 672), nämlich in derjenigen in vier Faszikeln von Guṇabhadra aus dem 6. Jahrhundert (Nr. 670, S. 483a). Die Fassung von Śikṣānanda in sieben Faszikeln (entstanden zwischen 700 und 704) kennt keine »wahre Erkenntnis« (zhēn shí 真識), sondern nur die »perzeptive Erkenntnis« (xiàn shí 現識) und die »dinglich unterscheidende Erkenntnis«, wörtlich »Sachen unterscheidende Erkenntnis« ( fēn bié shì shí 分別事識)« (Nr. 672, S. 593b). Doch die Fassung von Guṇabhadra war in China die bekannteste und am meisten kommentierte, da sie nach der Tradition vom legendenumworbenen ersten Chán-Patriarchen Chinas, Bodhidharma, seinem Nachfolger, Huìkě 慧可 (487 ?–593), übergeben worden sein soll. Die dieser Fassung des Laṅkavatāra-Sūtra eigene »wahre Erkenntnis« wurde im Huāyán- und im Chán-Buddhismus mit dem »reinen Geist« (qīngjìng xīn 清淨心) des Menschen identifiziert und als gleichbedeutend mit dem betrachtet, was die »Abhandlung der Erweckung des Glaubens im Großen Fahrzeug« (Dàchéng qǐ xìn lùn 大乘 啟信論) die »ursprüngliche Erleuchtung« (běn jué 本覺) nennt (vgl. Dīng Fúbǎo 丁福保, Fóxué dà cídiǎn 佛學大辭典 [Běijīng : Wénwù chūbǎnshè 文物出版社, etc., 1984], S. 1431d). Im chinesischen Buddhismus war die Idee einer »ursprünglichen Erleuchtung«, einer in jedem Menschen ursprünglich vorhandenen »wahren Erkenntnis«, umstritten. Die WéishíSchule (Schule des »bloßen Bewusstseins«), deren bekanntester Vertreter in China Xuánzàng 玄奘 (600 ? – 664) war, lehnte diesen Gedanken mit der Begründung ab, dass die »Erleuchtung«, die »wahre Erkenntnis«, nicht schon zum Vornherein vorhanden, sondern nur das Ziel, die »Frucht« des buddhistischen Heilsweges sein kann. Doch für die Huāyán- und ChánSchule war die immer schon vorhandene »ursprüngliche Erleuchtung« die »Hauptbedingung« für die Befreiung von aller Verblendung. 119 Im Anhang von Yán Tāos Ausgabe des Kùnzhī jì, S. 118, Z. 2 – 10. 120 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 118, Z. 11–S. 119, Z. 7 ; 2. Auflage, S. 154, Z. 9 – S. 155, Z. 9. 121 Dieses »Buch der Musik« (»Yuèjì 樂記«) ist das 19. Kapitel des Buches der Sitten (Lǐjì). Nach der chinesischen Tradition soll es einmal sechs Klassiker gegeben haben, wobei der sechste das »Buch der Musik« gewesen sei. 122 »Großer Anhang« Teil I, Kapitel 10. 118



Teil III

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Vgl. hierzu James Legges Übersetzung, The She King or The Book of Poetry, Bd. 4 von The Chinese Classics (Hong Kong : Hong Kong University Press, 1960), Part III »Greater Odes of the Kingdom«, S. 427 – 567. 124 Die in der Sòng-Zeit auftretende grammatikalische Unterscheidung zwischen »vollen Wörtern« (shí zì 實字) und »leeren Wörtern« (xū zì 虛字) wurde in der Míng-Zeit auch verstanden als Unterscheidung, die wir mit grammatikalischen Begriffen westlicher Sprachen am besten wiedergeben als Unterscheidung zwischen nominalen, vor allem substantivischen, und verbalen Ausdrücken. Interessanterweise erweist sich der bloß verbale und nicht substantivische Charakter von »Wissen« nach Luó Qīnshùn nicht dadurch, dass »Wissen« von einem grammatikalischen Subjekt ausgesagt, sondern dass es transitiv auf ein grammatikalisches Objekt bezogen wird. Dies hat wohl damit zu tun, dass in chinesischen Sätzen oft kein grammatikalisches Subjekt vorkommt. Luó Qīnshùn glaubt also in dieser Unterscheidung zwischen »vollen« und »leeren Wörtern« über ein grammatikalisches Kriterium zu verfügen, um das »ursprüngliche Wissen« als bloße Funktion, im Gegensatz zur »menschlichen Natur« als zugehöriger »Substanz«, bestimmen zu können. 125 Auch Zhū Xī gebraucht die Unterscheidung zwischen »vollen« und »lee­ ren« Kategorien : »Die Natur [des Menschen] ist voll (xìng shì shí 性是實), Wahrhaftigkeit (wahrhaftig sein) ist leer (chéng shì xū 誠是虛) : ›Natur‹ ist ein Name für das Ordnungsprinzip (lǐ di míng 理底名), ›Wahrhaftigkeit‹ (›wahrhaftig sein‹) ist eine Name für eine Güte (hǎo chù di míng 好處 底名). Wenn man die Natur mit diesem Fächer vergleicht, dann besteht im Gleichnis die Wahrhaftigkeit darin, dass dieser Fächer gut gemacht ist (chéng pì zé zhè shānzi zuò de hǎo 誠譬則這扇子做得好).« (ZZYL, S. 102 f.). »›Mitte‹ (Ausgeglichenheit) ist ein leeres Wort ; ›Ordnungsprinzip‹ ist ein volles Wort (zhōng shì xūzì, lǐ shì shízì 中是虛字理是實字) :« (ZZYL, S. 1512). Beide Zitate finden sich bei A. C. Graham, Two Chinese Philosophers. Ch’êng Ming-tao and Ch’êng I-ch’uan (London : Lund Humpries, 1967 [1958]), S. 41, 67. Zur Unterscheidung zwischen »vollen« und »leeren Wörtern« s. Christoph Harbsmeier, Language and Logic, vol. 7, part I of Joseph Needham, Science and Civilisaton in China (Cambridge : Cambridge University Press, 1998), S. 89 – 91. In den heutigen Ausgaben der großen chinesischen Wörterbücher Cíyuán 辭源 (Běijīng : Shāngwù yìnshūguǎn, 1983) und Cíhǎi 辭海 (Shànghǎi : Shànghǎi císhū chūbǎnshè, 1979) wird 123

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Anmerkungen

diese traditionalle Unterscheidung zwischen »vollen« und »leeren Wörtern« mit der Unterscheidung zwischen »leeren« und »vollen Worten« (xū cí 虛詞 und shí cí 實詞) identifiziert. »Leere Worte« werden hier mit Begriffen der europäischen Sprachlehre als »Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen, Hilfswörter, Interjektionen und Onomatopoetika« erklärt. Die Verben werden in diesen heutigen Wörterbüchern zu den »vollen Worten« gerechnet, während sie nach Luó Qīnshùn, wie auch sonst in der Míng-Zeit, zu den »leeren Wörtern« gehören. Nach Harbsmeier spielte diese Zuordnung in Diskussionen der míng-zeitlichen Poetik über Parallelismen zwischen Versen eine große Rolle (Harbsmeiner, Language and Logic, S. 90). Die oben erwähnte Gleichsetzung zwischen »vollen und leeren Wörtern« einerseits und den »vollen und leeren Worten« hat aber auch eine historische Grundlage in sòng-zeitlichen Unterscheidungen (ebd.). 126 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 119, Z. 8 – 16 ; 2. Auflage, S. 155, Z. 10 – S. 156, Z. 5. 127 Der ältere Bruder von Chéng Yí, 1038 – 1 107. 128 Anspielung auf Lúnyǔ, 4.15 und 15.3. 129 Der vorangehende Satz ist ein ungefähres Zitat aus dem Zhōngyōng (»Buch der Mitte«), Kap. 22 (in der Anordnung von Zhū Xī). 130 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 120, Z. 1 – 9 ; 2. Auflage, S. 156, Z. 6 – S. 157, Z. 2. 131 Diese didaktische Stufung in Fragen, Denken und Unterscheiden stammt aus dem Zhōngyōng, Kapitel 20 (Anordnung von Zhū Xī). 132 Chén Xiànzhāng 陳憲章 (1428 – 1500) (Báishā 白沙 ist sein Beiname) richtete sein philosophisches Denken und Handeln wie Wáng Yángmíng nicht nach Zhū Xī aus, sondern ging seinen eigenen Weg ; seine Grundlage der Ethik war das »von selbst« (zì rán 自然) (»das Natürliche«). Er war der Lehrer von Zhàn Ruòshuǐ 湛若水 (1466 – 1560), Wáng Yángmíngs bestem Freund, der mit ihm aber auch nicht in allem einig war. – Zu Chén Xiànzhāng siehe DMB, S. 153 – 156 (Artikel verfasst von Huang Pei und Julia Ching) ; Alfred Forke, Geschichte der neueren chinesischen Philosophie (Hamburg : Cram/de Gruyter, 1964), S. 355 – 360 ; Jen Yu-wen, »Ch’en Hsienchang’s Philosophy of the Natural« in : Self and Society in Ming Thought, ed. by Wm. Theodore de Bary (New York/London : Columbia University Press, 1970), S. 53 – 92. 133 Zhōngyōng, Schlusssatz des 20. Kapitels (Anordnung von Zhū Xī). 134 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 120, Z. 10 – S. 121, Z. 7 ; 2. Auflage, S. 157, Z. 2 – S. 158, Z. 3.



Teil III

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Gàozǐ war ein Zeitgenosse von Mèngzǐ, in dessen Werk er mehrmals zitiert und kritisiert wird. Er lehrte, dass die menschliche Natur weder gut noch schlecht sei. Mèngzǐ dagegen lehrte, dass die menschliche »Natur« (das, was den Menschen zum Menschen macht), d. h. das menschliche Herz/ Geist, ursprünglich gut sei. Wenn das menschliche Herz/Geist weder gut noch schlecht ist, kann es auch nicht Quelle der ethischen Tugenden sein, wie dies Mèngzǐ lehrte. 136 Wörtlich : »die mit Netzen Hasen Fangenden« : jū tù. 137 Tàigōng Wàng 太公望 (Jiāng Shàng 姜尚) war ein hoher militärischer Staatsdiener, der 1122 v. Chr. sein Schwert zerbrach und in die Einsamkeit zog, um dem Tyrannen Zhòu Xīn 紂辛 zu entgehen. Jahre später begegnete König Wén 文, der Vater des Begründers der Zhōu-Dynastie (seit dem 11. Jh. v. Chr.), Tàigōng Wàng, als dieser achtzigjährig am Wèi 渭-Fluss fischte, und nahm ihn mit sich, um ihn zu seinem militärischen Hauptratgeber (tàishī 太師) zu machen. Er behielt diesen Posten unter König Wéns Sohn, König Wǔ 武, und half diesem, den Tyrannen Zhòu Xīn zu stürzen und die Zhōu-Dynastie zu begründen. Die erste Hälfte dieser Dynastie galt später den Konfuzianern als ideales Zeitalter (cf. Giles, Herbert A., A Chinese Biographical Dictionnary, ([London] : Quaritch, 1898), S. 708 f.). 138 Einer der vier Freunde des in der voranstehenden Fußnote genannten Königs Wén, der ihm geholfen haben soll, die Zhōu-Dynastie zu errichten. 139 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 121, Z. 8 – 10 ; 2. Auflage, S. 158, Z. 5 – 6 . 140 OYDJ, S. 15, Z. 15 – 16. 141 Es sind dies die Bestimmungen über die folgenden drei Beziehungen : ­z wischen Herrscher und seinem Minister, zwischen Vater und Sohn und ­z wischen Ehegatten. Es sind die ersten drei Beziehungen der »Fünf R ­ egeln«, welche nach den drei eben genannten Beziehungen noch diejenigen z­ wi­schen ä­ lterem und jüngerem Bruder sowie zwischen Freunden bestimmen (Cíyuán, S. 22). 142 Angeblich von Yǔ dem Großen (ungefähr 2000 v. Chr.) aufgestellte neun Regeln (Cíyuán, S. 59). 143 Einer dieser Nachfolger war Zhū Xī, der sich aber in seiner Lehre von den Ordnungsprinzipien (lǐ) und ihrer Erforschung nur auf den Jüngeren der beiden Brüder Chéng berufen konnte. 144 Mèngzǐ, 1A.7 ; 2A.6. u. 7. 145 Mèngzǐ, 6A.6. 135

216

Anmerkungen

Ebd. Mèngzǐ, 2A.6 ; 6A.6. 148 Mèngzǐ, 2A.6. 149 OYDJ, S. 16, Z. 1 – 2 . 150 Ōuyáng Dé beantwortet diese zwei Punkte von Luó Qīnshùns Kritik zusammen, denn für das Verhältnis zwischen »ursprünglichem Wissen« und »wahrnehmendem Wissen« ist für Ōuyáng grundlegend, dass die »Natur des Menschen« (xìng) ihre Wirklichkeit (»Substanz« : tǐ) nur im »Wissen« besitzt, d. h., dass sie nur im »Bewusstsein« real vorhanden ist. 151 Gemäß Mèngzǐ, 7A.15. 152 Gemäß ebd. 153 Das entspricht Wáng Yángmíngs Brief an Ōuyáng Dé von 1526, den wir oben im Teil II, übersetzt haben : »Das ›ursprüngliche Wissen‹ existiert nicht aufgrund von Sehen und Hören ( jiàn wén 見聞), sondern Sehen und Hören sind Funktionen des ›ursprünglichen Wissens‹. Deshalb wird das ›ursprüngliche Wissen‹ nicht durch Sehen und Hören gehemmt und ist auch nicht vom Sehen und Hören getrennt (bù lí 不離).« (Chuánxí lù, II, Nr. 168, WYMQ J, S. 71). 154 Fast wörtliche Wiederholung des von Luó Qīnshùn im zweiten Punkt besonders kritisierten Satzes aus Ōuyáng Dés erstem Brief. 155 Anspielung auf das Shūjīng (»Klassiker der historischen Dokumente«), »Mahnungen von Yǔ dem Großen«, 15. Abschniit : »Das Herz des Menschen ist gefährlich ; das Herz des Dao ist fein« (Legge, Shoo King, S. 61). 156 Anspielung auf Zhū Xīs Unterscheidung zwischen der absolut guten »vom Himmel bestimmten Natur«, die mit dem »Ordnungsprinzip« (lǐ 理) identisch sein soll, und der Gutes und Schlechtes enthaltenden »Natur«, in der mehr oder weniger »reine oder verschmutzte« »Energie« (qì 氣) verkörpert ist. 157 Zitat aus dem Klassiker der Sitten (Lǐjì), Kap. 19, »Yuèjì«. S. Legge, Li Chi, Bd. 2, S. 96. 158 Mèngzǐ, 7A.15. 159 Kommentar der Gebrüder Chéng, den Zhū Xī in seinen Kommentar zu Mèngzǐ 7A.26 aufnimmt. Die »Mitte«, heißt es dort, könne man nicht »herrichten« oder »anordnen« ; sie erweise sich vielmehr in jeder Sache ganz von selbst : »Was sich anordnen lässt, ist schon nicht mehr die Mitte« (Zhū Xī, Sì shū zhāng jù jí zhù, Mèngzǐ zhāng jù 孟子章句, S. 357.) 146 147



Teil III

217

OYDJ, S. 16/17 ; Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 171 f. Ōuyáng Dé sieht hier das Verhältnis zwischen der immer guten »menschlichen Natur«, dem »ursprünglichen Wissen« und dem »Wissen des Wahrnehmens«, welches das »Hören und Sehen, Sprechen und Handeln« umfasst, wie folgt : Die »menschliche Natur« hat nur im »Wissen« ihre Wirklichkeit, sie ist nur im »Bewusstsein« etwas Reales. Das »ursprüngliche Wissen« ist vom »wahrnehmenden Wissen«, d. h. vom »Bewusstsein des Sehens und Hörens, Sprechens und Handelns« nicht trennbar ; dieses muss vom »ursprünglichen Wissen« nur dann unterschieden werden, wenn in ihm die das »ursprüngliche Wissen« ausmachenden ethischen Gefühle wie Mitleid, Scham und Abscheu gegenüber Ungerechtigkeit, Verehrung und Ehrfurcht, und auch der Sinn für Richtig und Unrichtig, nicht voll zur Erscheinung kommen. Sofern das »ursprüngliche Wissen« in ihm voll zur Erscheinung kommt, d. h. sich in ihm »verwirklicht«, ist auch das »Wissen des Wahrnehmens« »ursprüngliches Wissen«. Die ursprüng­ lichen ethischen Gefühle des Menschen stehen also nicht als eine besondere, selbständige Bewusstseinsart neben den verschiedenen Arten des »Wissens des Wahrnehmens«, wie »Sehen und Hören, Sprechen und Tätigsein« und anderen Arten des »Wissens des Wahrnehmens«, sondern sie können nur in diesen auftreten, und diese besonderen Arten »erreichen ihr eigentliches Sosein« (ihr eigentliches Wesen : dé qí běn rán 得其本然) nur, wenn das »ursprüngliche Wissen« in ihnen zur vollen »Verwirklichung« kommt. 162 Oft zitierter Satz aus Chéng Yís Vorwort zu seinem Kommentar zum Klassiker der Wandlungen. Dieser Satz geht wohl auf einen Kommentar von Chéngguān 澄觀 (738 – 839) zurück, dem Fünften Patriarchen des HuāyánBuddhismus. 163 OYDJ, S. 17 ; Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 172. 164 Ōuyáng Dé hält Luó Qīnshùn also entgegen, dass das Wort »Wissen« je nach Kontext sowohl »voll« als auch »leer«, sowohl ein Nomen bzw. Sub­ stantiv als auch ein Verb sein und daher sowohl eine »Substanz« (tǐ) als auch »Funktionen« (yòng) bedeuten kann. Das Wort zhī shí (»wissen«) hat wie die anderen chinesischen Wörter und Wortzeichen selbst keine grammatikalische Form, die es losgelöst vom Kontext als ein Nomen oder als ein Verb bestimmen würde. Auch andere Denker in der Geistesgeschichte Chinas, die über ihre Sprache reflektierten, haben auf diese Kontext­ 160 161

218

Anmerkungen

abhängigkeit hingewiesen, und, soweit ich es beurteilen kann, ist Ōuyáng Dé mit dieser grammatikalischen Bemerkung gegenüber Luó Qīnshùn im Recht. Auch »ursprüngliches Wissen« kann nach Ōuyáng Dé sowohl eine Substanz als auch Funktionen bedeuten. Die Substanz und ihre Funktionen machen aber eine Einheit aus, sie sind untrennbar. Man kann wohl im Sinne Ōuyáng Dés sagen : Wenn man von »ursprünglichem Wissen« als Substanz spricht, ist es die »menschliche Natur« (xìng) oder das »Ordnungsprinzip« (lǐ), insofern es sich im menschlichen Bewusstsein manifestiert, ist es die »Funktionen« des »ursprünglichen Wissens«, also die ethischen Gefühle des Mitgefühls, der Scham usw. In der »Verwirk­lichung« dieser ethischen Gefühle im »wahrnehmenden Wissen« des ­»Sehens und Hörens«, des »Sprechens und Handelns« besteht sowohl das »eigentliche Wesen« (běn rán 本然) des »ursprünglichen Wissens« als auch dieses »Wissen des Wahrnehmens«, d. h. ihre vollkommene Wirklichkeit. 165 OYDJ, S. 17, Z. 10 – S. 18 Z. 4. 166 Luó Qīnshùn, Kùnzhī jì, S. 172 f. 167 Zitat aus dem Klassiker der Sitten (Lǐjì), Kap. »Lǐyùn 禮運« (Übersetzung von Wilhelm, Li Gi, S. 38). 168 Anspielung auf Zhū Xīs Auffassung vom gé wù als Ergründen der Ordnungsprinzipien der Dinge. 169 Anspielung auf den oben von Luó Qīnshùn zitierten Text aus Lúnyǔ, 4.15 und 15.3. 170 Sowohl nach Luó Qīnshùn als auch nach Ōuyáng Dé gibt es letztlich nur ein einziges »Wissen«. Während aber für Luó das »ursprüngliche Wissen« nichts anderes als ein intuitives, nicht auf Überlegung beruhendes »Wissen des Wahrnehmens« ist, ist nach Ōuyáng Dé das »Wissen des Wahrnehmens« nur eine Funktion des »ursprünglichen Wissens«, sofern dieses nicht »verdeckt und verdunkelt« ist. Dies bedeutet, dass nach Luó die »Ordnungsprinzipien« nicht aus dem Wissen selbst stammen können, sondern forschend und suchend aus den Dingen bzw. aus den »Schriften der Heiligen« bezogen werden müssen, während nach Ōuyáng Dé das »Erwägen der Ordnungsprinzipien eigentlich ganz Funktion des ›ursprünglichen Wissens‹ ist«, d. h., dass diese Prinzipien in diesem »Wissen« selbst enthalten und aus ihm zu explizieren sind. Dies heißt aber nicht, dass das »ursprüngliche Wissen« in seiner Erwägung der »Ordnungsprinzipien der Dinge« sich von »Himmel und Erde sowie allen Wesen« abtrennen und



Teil III

219

diese ignorieren könnte, denn diese sind notwendige gegenständliche Korrelate des »Sehens und Hörens, des Denkens und Überlegens« als der Funktionen des »ursprünglichen Wissens«. 171 Zu Zhāng Zàis Unterscheidung dieser beiden Arten von Wissen s. Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 250 – 253. 172 Siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 295 – 3 12. 173 Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 172. 174 Mèngzǐ, 7A.15. 175 Ebd. 176 Ebd. 177 OYDJ, S. 28 ; teilweise zitiert im MRXA, S. 417 f. Die einschlägige Stelle ist in Julia Ching und Fang Chaoyings Übersetzung nicht enthalten. 178 OYDJ, S. 18, Z. 5 – 1 2. 179 OYDJ, S. 18, Z. 13–S. 19, Z. 2. 180 Zitat aus dem Shījīng (»Dàyá 大雅«, Lied Nr. 260, »Zhēngmín 烝民«). S. Legge, übers., The She King, S. 541. 181 OYDJ, S. 19, Z. 3 – 1 4. 182 Yì Tōngshū 易通書. Dieser Text in der Kommentierung Zhū Xīs gehört seit der Míng-Zeit zum neokonfuzianischen Kanon. 1880 von Wilhelm Grube ins Deutsche übersetzt : Ein Beitrag zur Kenntniss der chinesischen Philosophie. T’ūng-šū der Čeū-tsï, mit Čū-Hī’s Commentare nach dem Síng-lī Tsīng-í, chinesisch, mit mandschurischer und deutscher Übersetzung (Wien : A. Holzhausen, 1880). Teilübersetzung ins Englische in Wing-tsit Chan, A Source Book in Chinese Philosophy (Princeton : Princeton University Press, 1969), S. 465 – 480. 183 Dìng xìng shū 定性書. Diesen Brief, den Chéng Hào in seinen frühen Zwanzigern geschrieben haben soll, hat Wing-tsit Chan auf Englisch übersetzt, s. Chan, A Source Book, S. 525 f. 184 Diese kurze, aber sehr einflussreiche Schrift ist bekannt unter dem Titel Shí rén 識仁 (»Erkennen der Menschlichkeit«). 185 Wáng Yángmíng identifizierte die Bedeutung von »allein wissen« (dú zhī 獨知) nach 1520 mit derjenigen des »ursprünglichen Wissens« (liáng zhī 良知). Dú zhī wurde als fester Ausdruck durch Zhū Xī in den konfuzianischen Diskurs eingeführt, indem er ihn in seinen seit dem 14. Jahrhundert zur staatlich autorisierten »Sammlung von Kommentaren zu den Abschnitten und Sätzen der Vier Bücher« (Sì shū zhāng jù jí zhù) sowohl in seiner Er-

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Anmerkungen

klärung einer Zhōngyōng-Stelle als auch in seiner Erklärung einer DàxuéStelle verwendete. Diese zwei Stellen aus den »Vier Büchern« sowie ihre Erklärungen durch Zhū Xī waren für Wáng Yángmíng sehr wichtig. Doch in seinem Verständnis der Zhōngyōng-Stelle stimmt er mit Zhū Xī nicht überein, und sein Begriff des »allein Wissens« deckt sich nicht mit demjenigen Zhū Xīs. Dies weist auf einen wichtigen Unterschied in der Ausrichtung dieser beiden Konfuzianer. Zu einer genaueren Analyse von Zhū Xīs und Wáng Yángmíngs Verständnis dieser beiden Stellen siehe Kern, Das Wichtigste im Leben, S. 136 – 1 44. 186 Yóu Zuò 游酢 (1053 – 1 123), Beiname Dìngfū 定夫. 187 Yáng Shí (1053 – 1 135), Rufname Guīshān 龜山. 188 Für folgende Bemerkung möchte ich mich entschuldigen, da der Leser ihren Inhalt schon weiß : Ōuyáng Dé beruft sich nur scheinbar auf die Autorität seines Lehrers Wáng Yángmíng, so wie sich Luó Qīnshùn auf die ­Autorität der konfuzianischen Bücher beruft. Denn Wáng Yángmíng verwies seine Schüler auf ihr eigenes ursprüngliches Wissen. Nur dieses ist die Autorität oder die Grundlage des ethischen Handelns. In diesem Sinne will Ōuyáng Dé seinen Lehrer zu »seinem Freund machen«. 189 OYDJ, S. 19, Z. 15 – 16.

AUS FÜ H R LI CH E S IN H A LT S V ER ZEI CH N IS

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einleitung. Von Iso Kern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1. Zu den Verfassern der Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

a) Wáng Yángmíng . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 b) Luó Qīnshùn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 c) Ōuyáng Dé . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Kurze Zusammenfassung der praktischen (ethischen) Philosophie von Zhū Xī (1130–1200) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3. Diskussion Wáng Yángmíngs mit seinen Schülern, ob ethisch gutes Handeln nicht doch Erkenntnis der Ordnung der Welt voraussetzt, wie es Zhū Xī verlangt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 4. Kurzer Abriss der späten Lehre Wáng Yángmíngs (seit 1521) in seiner »Lehre in vier Sätzen« von 1527 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5. Zum Charakter der vorgestellten philosophischen Briefe und ­Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 6. Grundbegriffe, die in den vorgestellten ­philo­sophischen ­Kontroversen vorkommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

a) Bemerkung zum Begriffspaar tǐ 體 (Substanz) und yòng 用 (Funktionen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 b) Ōuyáng Dés Unterscheidung zwischen Herz/Geist als wahr­ nehmendes Wissen (zhī jué 知覺) und Herz/Geist als Wissen des ursprünglichen Wissens (liáng zhī 良知) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

7. Kurze Notiz zur Nachwirkung von Wáng Yángmíngs philosophischer Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

222

Anhang

T E X T E UND ÜB ER S E T ZUN G EN

Teil I Die Kontroverse zwischen dem Vertreter der Schule Zhū Xīs (1130–1200), Luó Qīnshùn (1465–1547), und Wáng Yángmíng (1472–1529) . . . . . . . . . . . .

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A.  Zwei Texte Wáng Yángmíngs, auf die diese Kontroverse Bezug nimmt   Wáng Yángmíngs Vorwort (1515) zu seiner Schrift Meister Zhū Xīs 1 ­endgültige Lehre in seinen späten Jahren (publiziert 1518) . . . . . . . . . . . . 71   Wáng Yángmíngs erstes Vorwort (1518) zur alten Fassung des 2 Lernens der Großen (Dàxué) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

B.  Zwei Briefe zwischen Luó Qīnshùn und Wáng Yángmíng   3 Brief von Luó Qīnshùn an Wáng Yángmíng vom Sommer 1520 . . . . . . . . 81

1. Dank für den Brief und die erhaltenen Schriften Wáng Yángmíngs, Bitte um Aufklärung darüber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2. Kritik von Wáng Yángmíngs Verständnis des Anfangs des Lernens der Großen (Dàxué) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Darstellung des eigenen Verständnisses des Anfangs des Lernens der Großen (Dàxué) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Kritik an Wáng Yángmíngs Schrift Die endgültige Lehre Meister Zhū Xīs aus dessen späten Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 5. Schlusswort des Briefes. Hoffnung auf die Belehrung durch einen Antwortbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89   Antwortbrief von Wáng Yángmíng an Luó Qīnshùn vom 4 Herbst 1520 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

1. Über die Umstände des Empfangs und der Lektüre des Briefes von Luó Qīnshùn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Das Dao muss zuerst in der eigenen Erfahrung verkörpert (praktiziert) werden (tǐ dào 體道), erst danach kann es gesehen werden; es ist nicht so, dass man erst nach dem Sehen des Dao noch die ­A nstrengung des Praktizierens des Dao hinzufügen muss . . . . . . . . . . . . 93



Ausführliches Inhaltsverzeichnis

223

3. Das ethische Lernen besteht nicht im Suchen im Äußeren, sondern im »Erlangen durch das Herz (den Geist)«. Die alte Fassung des ­Lernens der Großen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 4. Die Einheit des ethischen Lernens. Es besteht weder im Suchen im Äußeren noch im Suchen im Inneren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5. Luó Qīnshùns Kritik an der Lehre des »gé wù« als Berichtigen der Handlungen beruht auf dem Missverständnis, dass sich diese Lehre nur mit »reflexiver Schau und innerer Prüfung« beschäftige . . . . . . . . . 03 6. Wáng Yángmíngs Einsamkeit in seiner Kritik an der Lehre Zhū Xīs . . . 105 7. Zur Schrift Die endgültige Lehre Meister Zhū Xīs in seinen späten Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 8. Schlusswort des Briefes. Hoffnung auf eine Aussprache von Angesicht zu Angesicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109

Teil II 5 Antwortbrief Wáng Yángmíngs an seinen Schüler Ōuyáng Dé (zwischen 1523 und 1526) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Außerhalb des »ursprünglichen Wissens« gibt es kein anderes ­Wissen. Hören und Sehen (empirisches Erkennen) sind Funktionen (­Auswirkungen) des ursprünglichen Wissens. Das »Verwirklichen des ursprünglichen Wissens« und das »Sehen und Hören« sind nur eine einzige Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 2. Das ursprüngliche Wissen ist der Ort des Erhellens und des geisteskräftigen Gewahrens. Deshalb ist das ursprüngliche Wissen dasselbe wie das himmlische Ordnungsprinzip (tiān lǐ), und das Denken ist Ausdruck und Funktion des ursprünglichen Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3. Alles Überlegen, was die eigenen Kräfte nicht erreichen können, und Erzwingen dessen, was man nicht vermag, kann nicht zum Verwirklichen des ursprünglichen Wissens führen. Das Verwirklichen des ­ursprünglichen Wissens ist eins und nicht gespalten in ein Tun von äußeren Dingen und in ein Nähren und Pflegen eines eigenen ­Inneren 121 4. Wenn das ursprüngliche Wissen in höchster Weise wahrhaftig ist, dann ist das im voraus das Künftige Erkennen seine Funktion . . . . . . . 127

224

Anhang

Teil III Die Kontroverse von 1534/35 zwischen Ōuyáng Dé und Luó Qīnshùn . . 133   Brief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 25. Juli 1534 . . . . . . . . . . . . . . . 135 6

1. Einleitung des Briefes. Gesamteindruck von Luó Qīnshùns ­Hauptwerk. Dank für den erhaltenen Begleitbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Der Hauptpunkt von Ōuyáng Dés Kritik an den Ausführungen von Luó Qīnshùn in den Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not (Kùnzhī jì 困知記)]: dessen Unterscheidung zwischen Herz/Geist (xīn 心) und Natur (xìng 性) und dessen Vorwurf an Wáng Yángmíng, dem Buddhismus zu verfallen. Ōuyáng Dés Unterscheidung zwischen Herz/Geist als Wissen des »Wahrnehmens« und Herz/Geist als Wissen des »ursprünglichen Wissen«, welches die von selbst klar wahrnehmende Natur (Wesen: xìng 性) ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 3. Die »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens« meint keine Vermehrung und Erweiterung des Sehens und Hörens (des Erfahrens: jiàn wén 見聞), des Wahrnehmens und Erkennens ( jué shí 覺識), sondern geschieht im Berichtigen der Handlungen (gé wù 格物). Der Unterschied zum Buddhismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4. Das Gute ist das, was »ursprüngliches Wissen« genannt wird. ­Leichtigkeit und Komplexität des ursprünglichen Wissens. Die Verwirklichung des ursprünglichen Wissens im Berichtigen der Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 5. Einheit von Bücherstudium und Selbstkultivierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 6. Die Geschichte des Lernens von den heiligen Kaisern und ­aufgeklärten Königen bis in die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 7. Schluss des Briefes und Aufforderung zu weiterer Belehrung . . . . . . . . . 151   Antwortbrief von Luó Qīnshùn an Ōuyáng Dé vom 8. September 1534 153 7

1. Einleitung des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

2. Es gibt nicht zwei verschiedene Arten von »Wissen« (zhī 知). ­A ntwort auf Ōuyáng Dés Unterscheidung zwischen Herz/Geist als Wissen des »Wahrnehmens« und Herz/Geist als Wissen des ­»ursprünglichen Wissen«, welches die von selbst klar wahr­ nehmende Natur (xìng 性) ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155



Ausführliches Inhaltsverzeichnis

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3. Das »ursprüngliche Wissen« kann nicht »Natur« (xìng 性), es kann nicht »Substanz« (tǐ 體) sein (siehe das zweite Stück im vorangehenden Brief von Ōuyáng Dé). Gründe dafür aus dem konfuzianischen Kanon und aufgrund grammatikalischer Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . 157 4. Die Lehre der beiden Chéng-Brüder und von Zhū Xī über das gé wù 格物 (»Untersuchen [der Ordnungsprinzipien] der Dinge«) darf in der konfuzianischen Schule nicht umgestoßen werden. Die Lehre vom ursprünglichen Wissen ignoriert völlig alle Ordnungsprinzipien von Himmel und Erde und aller Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 5. Die Anstrengung (Arbeit) und das »Leichte und Einfache« in der ethischen Methode (zum 4. Stück von Ōuyáng Dés voranstehendem Brief) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 6. Das Richtige im Lernen ist das Ergründen der Ordnungsprinzipien der Dinge, das weite Durchdringen der Lehre der klassischen Bücher und nicht das verehrende Entgegennehmen des ursprünglichen Wissens (siehe oben Stück 6 des voranstehenden Briefes von Ōuyáng Dé) . 167 7. Schluss des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171   Antwortbrief von Ōuyáng Dé an Luó Qīnshùn vom 4. Dezember 1534 . 173 8

1. Einleitung des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 2. Es gibt nicht zweierlei Wissen; aber das wahrnehmende Wissen ­erreicht nicht immer sein eigentliches Wesen oder sein Ursprüngliches, welches das Wahre der [menschlichen] Natur des Himmels ist. Die Wörter können sowohl in einer leeren oder funktionellen als auch einer vollen oder substanziellen Bedeutung gebraucht werden (Antwort auf die Stücke 2 und 3 des voranstehenden Briefes von Luó Qīnshùn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Alles, was »tägliches Verhalten« genannt wird, ist die Äußerung des »ursprünglichen Wissens« unseres Herzens (Geistes) im Sehen und Hören, Denken und Überlegen, im Entsprechen und im sozialen ­Verkehr. Das Erwägen der Ordnungsprinzipien von Himmel und Erde und aller Wesen ist eigentlich ganz Funktion des ursprünglichen Wissens (Antwort auf Stück 4 des voranstehenden Briefes von Luó Qīnshùn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

226

Anhang

Einschub zu einem Brief Ōuyáng Dés an Hú Yǎngzhāi über das ­Verhältnis zwischen ursprünglichem Wissen und wahrnehmendem Wissen (bzw. Wissen des [empirischen] Erkennens) . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4. Einheit des Studiums der Bücher der Heiligen und Weisen und der Erschließung des eigenen ursprünglichen Wissens (zum Stück 5 von Luó Qīnshùns vorstehendem Brief) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 5. Das ursprüngliche Wissen ist die von selbst vorhandene Regel (zum Stück 6 von Luó Qīnshùns vorstehendem Brief) . . . . . . . . . . . . . . . . 193 6. Wenn keine Übereinstimmung zwischen den konfuzianischen ­Lehren besteht, was gibt es da Wertvolleres, als den eigenen ­ Lehrer zum Freund zu machen? (zum Stück 4 von Luó Qīnshùns ­vor­stehen­dem Brief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 7. Schluss des Briefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

N A M EN R EG IS TER

Seitenangaben in eckigen Klammern verweisen auf den Anmerkungsteil. Seitenangaben in runden Klammern verweisen auf die chinesische Schreibweise eines Namens oder Beinamens. Seitenangaben in geschweiften Klammern verweisen auf die Nennung in ergänzenden Erläuterungen des Übersetzers. Kursive Seitenangaben kennzeichnen wichtige Einträge mit Sachinformationen. Aufzeichnungen von Erkenntnissen in der Not: (Kùnzhī jì 困知記) von Luó Qīnshùn, erster und zweiter Band veröffentlicht 1528, dritter und vierter Band veröffentlicht 1533: 27, 28, 135, 137, 143 (sowohl chin. Titel als auch dt. Übers.), [203, 211, 212, 214, 215, 217, 218] Aufzeichnungen zum Üben des [vom Lehrer] Übermittelten: Chuánxí lù 傳習錄: 20 f., 27 f., 33, 52, 59, 62, 81, 137, [203, 207, 216] Buch der Mitte (Zhōngyōng 中庸), eines der »Vier Bücher«: 41, (42), 101, (141), 161, 165, (173), (191), [(204, 207, 208, 209, 214, 220)] Buddhismus: 29, 61, 71, 139, 149, 163, 181, [206, 212] Chán-Buddhismus, Zen-Buddhismus: chán 禪: 87, 155, 157, [212] Chén Báishā 陳白沙 (Beiname: Xiànzhāng 憲章), 1428–1500: 165, [214] Chéng Hào 程顥 (Beiname: Míngdào 明道), 1032–1085: 37, 71, 141, (155, 159), 161, 169, 197, [219] Chéng Yí 程頤 (Beiname: Yīchuān 伊川),1038–1107: 20, 37, 38, 161, 163, 169, 195, 197, [204, 214] Daoismus: 71, 149, [206] Fünf Klassiker: 59, 65, 73, [210] Gàozǐ 告子 (Gào Bùhài 告不害, Zeitgenosse von Mèngzǐ): 169, [207, 215] Gù Lín 顧麟 (Beiname: Dōngqiáo:東橋), 16. Jh.): 56, 119 Hán Yù 韓愈 (Beiname: Tuìzhī 退之), 768–824: 107, [206]

228

Anhang

Hú Yáoshí 胡堯時 (Beiname: Yǎngzhāi仰齋), 1499–1558: 32, 185 Huáng Wǎn 黃綰 (Beiname: Zōngxián 宗賢), 1480–1554: 26 Klassiker der historischen Dokumente (Shūjīng 書經): 145, [204, 207, 210, 216] Klassiker der Lieder (Shījīng 詩經): 145, 159, [206] Klassiker der Musik (Yuèjì 樂記): 159, [212] Klassiker der Sitten (Lǐji 禮記): [201, 209, 212, 216, 218] Klassiker der Wandlungen (Yìjīng 易經): 101, 119, 159, 197, [203, 204, 217] Kǒngzi 孔子, Konfuzius: 10, 22, 37, 44, 58 f., 71, {75}, {77}, {79}, {83}, {87}, 95, 97, {103}, 109, {115}, {117}, 127, 141, {149}, 155, 159, 161, {163}, 167, 169, 171, [201, 202, 203, 204, 208] Lernen der Großen (Dàxué 大學), eines der »Vier Bücher«: 22, 40, {73}, 77, 81, 83, 85, 87, 93, 97, 101, 125, 161, 169, 173, 181, 197, [202] (55, 63, {99}, {141}, {179}, {195}, 201, 202, 204, 208, 209, 211, 220) Liú Jǐn (Eunuche): 劉瑾, gestorben 1510: 27 Lóngchǎng 龍場 (»Drachenfeld«), Guìzhōu 貴州: 24, 27, 44, 71, [201] Lóu Liàng婁諒 (Rufname: Yīzhāi 一齋), 1422–1491: 19 f. Lù Jiǔyuān 陸九淵 (Beiname: Xiàngshān 象山), 1139–1193: 29, [205] Mèngzǐ 孟子 (Menzius), ca. 371–289 v. Chr.: 10, 48, 51 f., 167, 169, [201]; (chin. Schreibweise: 25, 44, 47, 57, 71, 103, 105, 107, 123, 141, 149, 155, 159, 161, 179, 185, 187, [205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 215, 216, 219]) Mòzǐ 墨子 (Mò Dí 墨翟), 5. Jh. v. Chr.: 105, [205, 210] Niè Bào 聶豹 (Rufname: Shuāngjiāng 雙江), 1487–1563: 30, 185 Tàigōng Wàng 太公望 (Jiāng Shàng 姜尚), 12./11. Jh. v. Chr.: 169, [215] »Vier Bücher« (sì shū 四書): 22, 41, 44, 59, 73, [202, 203, 210, 219, 220] Xióng Shílì 熊十力 (1885–1968): 63 Yáng Zhū 楊朱, 4. Jh. v. Chr.: 105, [205, 210] Yángmíng-Höhle (daoistische »Höhle der Klarheit des Yáng (des Hellen)« in der Präfektur Shàoxīng der Provinz Zhèjiāng): Yángmíng dòng 陽明洞: 24 Yáo 瑶 (nichtchinesisches Volk in der chinesischen Provinz Guǎngxī): 25



Namenregister 229

Zhāng Zài 張載 (Rufname: Héngqú 橫渠) 1020–1077: 27, 46, [211] Zhōu Héng 周衡 (Beiname: Dàotōng 道通), 16. Jh.: 121 Zhōu Dūnyí 周敦頤 (Beiname: Liánxī 濂溪) 1017–1073: 71, 141, (159), 197, (199) Zhū Xī 朱熹 (Rufname: Huì’ān 晦庵) 1130–1200: 15, 19, 20, 22 f., 27, 29, 36–44, 48 f., 55, 63, {71}, 73, 77, 103, 105, 107, 161, 163, {177}, {195}, [201 f., 204 f., 208 f., 213–16, 219 f.]; Meister Zhu(s): 75, {97}, 107, 109

B EG R IFFS R EG IS TER

Seitenzahlen sind nur im chinesisch-deutschen Begriffsregister angegeben, da die chinesischen Begriffe im Gegensatz zu den deutschen Übersetzungen eindeutig aufzufinden sind. Bei Verweisen auf die Einleitung dagegen wird der chinesische Begriff nicht zwingend im Original genannt.

1. Deutsch–Chinesisch

Anhalten beim höchsten Guten : zhǐ zhì shàn 止至善 Anordnen ([sich] Zurechtlegen) : ān pái 安排 Berichtigung der Handlungen (Wáng Yángmíng) : gé wù 格物 Dao (ursprüngliche Bedeutung : Weg) : dào 道 drei Grundsätze : sān gāng 三鋼 Erforschung der [Ordnungsprinzipien] der Dinge (Zhū Xī) : gé wù 格物 Erhellen der hellen Tugendkraft : míng míng dé 明明德 drei Arten der Erkenntnis im Laṅkavatāra-Sūtra, nämlich : »wahre Erkenntnis« (zhēn shí 真識), »perzeptive Erkenntnis« (xiàn shí 現識) und »dinglich unterscheidende Erkenntnis« ( fēn bié shì shí 分別事識) Erlernen des [eigentlichen] Herzens : xīn xué 心學 Erregtwerden und Antworten : gǎn yìng 感應 Festigung (innere) : dìng 定 Freude : lè 樂 Friede : »mit sich selbst in Frieden sein« : zì qiè 自慊 Fünf Beziehungen : wǔ pǐn 五品 Gerademachen des Herzens : zhèng xīn 正心 Gerechtigkeit (Rechtlichkeit) : yì 義 das Gute als das Ursprüngliche des menschlichen Herzens und der himm­ lischen Bestimmung, als das, was ursprüngliches Wissen genannt wird :  rén xīn tiān mìng zhī běn rán, liáng zhī 人心天命之本然, 良知



Begriffsregister 231

das Gute (liáng 良), als das eigentlich (an sich) Gute : běn rán zhī shàn 本然之善 (nach Zhū Xī) Heiliger Mensch : shèng rén 聖人 Heiliger und Weiser : shèng xián 聖賢 Herz/Geist : xīn 心 Herz/Geist (xīn 心) als wahrnehmendes Wissen zhī jué 知覺 und Herz/Geist als Wissen des ursprünglichen Wissens liáng zhī 良知 Herz/Geist des Dao : dào xīn 道心 Herz/Geist, ursprünglich gutes Herz : liáng xīn 良心 Grundsubstanz des Herzens/des Geistes : xīn zhī běn tǐ 心之本體, dasselbe wie das himmlische Ordnungsprinzip : tiān lǐ 天理 ursprüngliches Herz : běn xīn 本心 Inneres und Äußeres : nèi wài 內外 Kultivierung der [eigenen] Person : xiū shēn 修身 Kūn 坤 (das Empfangende) im Klassiker der Wandlungen (Yìjīng) Lebensenergie : qì 氣 »Lehre in vier Sätzen« (von Wáng Yángmíng aus dem Jahre 1527) : sì jù (zhī) jiào 四句之教 das Lernen soll Stufen nicht überspringen : xué bù liè děng 學不躐等 der Mensch, das ›Geisteskräftige‹ unter allen Wesen : líng 靈 Menschlichkeit : rén 仁 Mitfühlen (spontanes und wahres) des eigentlichen Herzens : běn xīn cè dá zì rán fā xiàn zhě 本心真誠惻怛自然發見者 Natur (Wesensnatur) des Menschen : xìng 性 Natur des Menschen (vom Himmel bestimmt) : tiān mìng zhī xìng 天命之性 Natur des Menschen voll zur Auswirkung kommen lassen : jìn xìng 盡性 Natur der Energie und des Stoffes : qì zhì zhī xìng 氣質之性 das Natürliche (Spontane) : zì rán 自然 oberhalb der Formen (metaphysisch) – unterhalb/innerhalb der Formen (­physisch) : xíng ér shàng 形而上 – xíng ér xià 形而下 Ordnungsprinzipien der Dinge : lǐ 理

232

Anhang

Ordnungsprinzip eines Dinges als Ursache, warum etwas so ist, wie es ist, und als Norm, wie etwas sein soll (Zhū Xī) : suǒ yǐ rán zhī gù, suǒ dāng rán zhī zé : 所以然之故, 所當然之則 den Ordnungsprinzipen auf den Grund gehen, um die Wesensnatur [des Menschen] auszuschöpfen : qióng lǐ yǐ jìn xìng 窮理以盡性 Ordnungsprinzip des Himmels : tiān lǐ 天理 das Ordnungsprinzip des Himmels ist die Ordnung des ›ursprünglichen ­Wissens‹ : tiān lǐ liáng zhī zhī tiáo lǐ 天理良知之條理 Befolgen des himmlischen Ordnungsprinzips des eigenen ursprünglichen Wissens : xún qí liáng zhī zhī tiān lǐ 循其良知之天理 Person : shēn 身 persönlich erfahren (verkörpern) : tǐ 體 persönlich erfahren (verkörpern) das Dao : tǐ dào 體道 Qián 乾 (das Zeugende) im Klassiker der Wandlungen (Yìjīng) reflexive Schau und innere Prüfung : fǎn guān nèi xǐng 反觀內省 Regieren des Landes : zhì guó 治國 Rückkehr zu seiner Substanz : fù qí tǐ 復其體 Ruhe (innere) : jìng 靜 Sehen und Hören (empirische Erkenntnis) : jiàn wén 見聞 Speicherbewusstsein (buddhistischer Ausdruck) : háncáng shí 含藏識 Substanz und Funktionen : tǐ yòng 體用 Substanz und Funktionen machen eine Einheit aus : tǐ yòng yī yuán

體用一原

Tugendkraft : dào dé 道德 unerschöpfliche schöpferische Lebendigkeit : shēng shēng bù yǐ 生生不已 ursprüngliches Wissen (drei verschiedene Begriffe) : liáng zhī 良知 ursprüngliches Wissen als wahrhaftiges Mitgefühl : zhēn chéng cè dá 真誠

惻怛

ursprüngliches Wissen vs. Sehen und Hören (empirische Erkentnis) :  liáng zhī 良知 und jiàn wén 見聞 ursprüngliches Wissen : liáng zhī 良知 vs. himmlisches Ordnungsprinzip : tiān lǐ 天理



Begriffsregister 233

Verbindung von allem durch ein Einziges : yī yǐ guàn zhī 一以貫之 (Lúnyǔ 4.15, 15.3) Verwirklichen des ursprünglichen Wissens (drei verschiedene Begriffe) :  zhì liáng zhī 致良知 Verwirklichen des Wissens : zhì zhī 致知 Wahrhaftigmachen (Aufrichtigmachen) der Intentionen (Absichten) :  chéng yì 誠意 Wahrnehmen (auch durch Lernen, Erfahren, Überlegen »von außen« ­erworbenes Wissen) : zhī jué 知覺 Weltachse (ursprüngliche Bedeutung : oberster Firstbalken eines Hauses) : tài jí 太極 Weltliche Konfuzianer : shì rú 世儒 Wissen um das Anhalten beim höchsten Guten : zhī zhǐ yú zhì shàn 知止於

至善

Wissen (Bewusstsein) des Bejahens [des Richtigen] und Verneinens [des Falschen] : shì fēi zhī zhī 是非之知 Wissen (Bewusstsein) des Mitleids : cèyǐn zhī zhī 惻隱之知 Wissen der Tugend-Natur : dé xìng zhī zhī 德性之知 Nichtwissen und nichts nicht wissen : wú zhī ér wú bù zhī 無知而無不知 zwei Arten von Wörtern : leeres Wort (xū zì 虛字) und volles Wort (shí zì 實字) Bedeutung der Wörter einerseits eine leere oder funktionelle, andererseits eine volle oder substantielle : zì yì gù yǒu jiān xū shí tǐ yòng yán zhě

字義固有兼虛實體用言者

Yin (das Dunkle) und Yang (das Helle) : yīn yáng 陰陽

234

Anhang

2. Chinesisch–Deutsch

ān pái 安排 120, 168, 178, 192, 194 Anordnen (Arrangieren) chéng yì 誠意 76, 82, 84, 98, 100

dào 道 20–23, 28, 38, 40, 48, 55, 56, 58, 63, [72], 86, 88, 92, 94, [100], 102, [104], 106, 108, [126], 134, [144], 146, 148, 150, 152, 160, 164, 166, [168], 170, [172], 190, 192, [194]

– dào dé 道德 148 dìng 定 196

fǎn guān nèi xǐng 反觀內省 82, 98, 102 gǎn yìng 感應 100, 138, 140, 180, 182

gé wù 格物 76, 82, 84, 94, 98, 100, 102, 104, 108, 138, 140, 142, 162, 168, 181, 189, 192, 194, 196

Wahrhaftigmachen (Aufrichtigmachen) der Intentionen (Absichten) Dao (ursprüngliche Bedeutung: Weg)

– Tugendkraft Festigung (innere) reflexive Schau und innere Prüfung Erregtwerden und Antworten 1.  B  erichtigung der Handlungen (Wáng Yángmíng) 2.  Erforschung der [Ordnungsprinzipien] der Dinge (Zhū Xī)

jiàn wén 見聞 45, 47 f., 51, 52, 56, 63, 72, 114, 116, 138, 185

Sehen und Hören (empirische Erkenntnis)

jìng 靜 158, 176

kūn 坤 84

Ruhe (innere)

lè 樂 25

Kūn, das Empfangende im Klassiker der Wandlungen, Yìjīng Freude

lǐ 理 20, 21, 38–41, 45, 84, 102, 162, Ordnungsprinzip der Dinge 166, 180, 182 – suǒ yǐ rán zhī gù, suǒ dāng rán – Ordnungsprinzip eines Dinges, als zhī zé  所以然之故, 所當然 Ursache, warum etwas so ist, wie es 之則 36 ist und als Norm, wie etwas sein soll (Zhū Xī)



Begriffsregister 235

– qióng lǐ yǐ jìn xìng 窮理以盡 性 102, 182 – tiān lǐ 天理 – liáng 良 176, 178 – běn rán zhī shàn 本然之善 62, 63, 136, 174, 176 – rén xīn tiān mìng zhī běn rán, liáng zhī 人心天命之本然 142 liáng zhī 良知 11, 24, 33, 35, 45, 46, 47, 56, 58, 62, 63, 64, passim – zhēn chéng cè dá 真誠惻怛 185, 187, 189 – zhì liáng zhī 致良知 45, 64, 116, 122, 124, 126, 194 líng 靈 180 míng míng dé 明明德 23, [76] – zhǐ zhì shàn 止至善 76, 172 nèi wài 內外 84, 96, 98, 100, 166; [82, 86, 94, 102, 124, 146] qì 氣 26, 27, 34, 36, 37, 120, 122, 124, 172, 176, 203, 216 qián 乾 84 rén 仁 25, 37, 49, 82, 104, 106, 148, 178, 196, 219 sān gāng 三鋼 172

shēn 身 22, 23, 84, 94, 100, 106, 120, 122, 140, 146, 180 – xiū shēn 修身 76, 98, 100, 146

– den Ordnungsprinzipen auf den Grund gehen, um die Wesensnatur [des Menschen] auszuschöpfen – siehe S. 237 unter tiān lǐ 天理 – das Gute, d. i. – das eigentlich (an sich) Gute (nach Zhū Xī) – a ls das Ursprüngliche des mensch­ lichen Herzens und der himmlischen Bestimmung, das ­u rsprüngliche ­Wissen, 良知 (siehe dort) ursprüngliches Wissen – a ls wahrhaftiges Mitgefühl – Verwirklichen des ursprünglichen ­Wissens, a. zhì zhī 致知 geisteskräftig; das Geisteskräftige von ­a llen Wesen: der Mensch Erhellen der hellen Tugendkraft – A nhalten beim höchsten Guten Inneres und Äußeres Lebensenergie Qián, das Zeugende im Yìjīng Menschlichkeit Drei Grundsätze, d. s. der Fürst steht über dem Minister, der Vater über dem Sohn, der Mann über der Frau (Lǐ jì, Klassiker der Sitten, Musik-Kapitel (»Yuè jì«) Person – Kultivierung der [eigenen] Person

236

Anhang

shēng shēng bù yǐ 生生不已 37

Unerschöpfliche schöpferische Lebendigkeit Heiliger Mensch

shèng rén 聖人 18, 20, 22, 55, 57, 70, 72, 76, 78, 82, 100, 116, 148, 162, 172, 198 shèng xián 聖賢 18, 21, 22, 40, 88, 148, 152, 156, 164, 166 shí 識 31, 35, 43, 46, 64, 114, 116, 134, 138, 139, 140, 144, 148, 150, 154, 156, 172, 174, 176, 178, 185, 187, 192, 196, 211, 212 – f ēn bié shì shí 分別事識 156, 176, 212 – háncáng shí 含藏識 138 – xiàn shí 現識 156, 212 – zhēn shí 真識 156, 176, 178, 211 f. shí zì 實字 160, 178–179, 213 shì rú 世儒 70, 162 sì jù zhī jiào 四句之教 15 tài jí 太極 36 tǐ 體 45, 70, 88, 92, 94, 120, 172 – tǐ dào 體道 88, 92, 94 – tǐ yòng 體用 76, 158, 160, 176, 178, 180 – tǐ yòng yī yuán 體用一原 180 – f ù qí tǐ  復其體 76, 118

Heiliger und Weiser Erkenntnis

– d inglich unterscheidende Erkenntnis (Laṅkavatāra-Sūtra) – Speicherbewusstsein (buddhistischer Ausdruck) – perzeptive Erkenntnis (LaṅkavatāraSūtra) – wahre Erkenntnis (Laṅkavatāra-Sūtra) volles Wort (für Gegenständliches): volle (shí 實) oder substantielle (tǐ 體) Wort­ bedeutung (zì yì 字義) Weltliche Konfuzianer »Lehre in vier Sätzen« (von Wáng Yángmíng aus dem Jahre 1527) Weltachse (ursprüngliche Bedeutung: oberster Firstbalken eines Hauses) Persönlich erfahren (verkörpern) – Persönlich erfahren (verkörpern), das Dao – Substanz und Funktionen – Substanz und Funktionen machen eine Einheit aus – Rückkehr zu seiner Substanz



Begriffsregister 237

tiān lǐ  天理 36, 45, 46, 50, 51, 53, 63, 84, 118, 120, 136, 138, 140, 154, 156, 158, 162, 164, 168, 172, 174, 180, 190, 192, 194 – xīn zhī běn tǐ 心之本體 – xún qí liáng zhī zhī tiān lǐ 循其良知之天理 140 wǔ pǐn 五品 146, 210

yì 義 98, 100, 102, 104, 122, 124, 148, 178 xīn 心 22, 27, 29, 42, passim

Ordnungsprinzip des Himmels, ­h imm­lisches Ordnungsprinzip, dasselbe wie – Grundsubstanz des Herzens/Geistes – Befolgen des himmlischen Ordnungs­

prinzips des eigenen ursprünglichen ­Wissens fünf Beziehungen, zu Vater, Mutter, ­ä lterem Bruder, jüngerem Bruder, Söhnen (Shūjīng, Klassiker der historischen Dokumente, »Shùn diǎn 舜典«) Gerechtigkeit (Rechtlichkeit)

Herz/Geist 1.  a ls wahrnehmendes Wissen/Wissen des Wahrnehmens (zhī jué 知覺) 2.  a ls Wissen des ursprünglichen Wis­ sens (liáng zhī 良知) –  Erlernen des [eigentlichen] Herzens – xīn xué 心學 34 – xīn zhī běn tǐ 心之本體 76, 118 – Grundsubstanz des Herzens /des Geis­ tes (dasselbe wie das himmlische Ord­ nungsprinzip, tiān lǐ 天理) –  u rsprüngliches/eigentliches Herz – běn xīn 本心 106, 148, 187, 189 – běn xīn cè dá zì rán fā xiàn zhě – Mitfühlen (spontanes und wahres) des 本心真誠惻怛自然發見者 eigentlichen Herzens – Herz/Geist des Dao – dào xīn 道心 176 – Herz/Geist, ursprünglich gutes – liáng xīn 良心 140, 146, 178 – zhèng xīn 正心 76, 82, 84, 98, – Gerademachen des Herzens 100 oberhalb der Formen (metaphysisch) xíng ér shàng 形而上 37, 64 unterhalb/innerhalb der Formen xíng ér xià 形而下 37 (­physisch) Natur (Wesensnatur) des Menschen xìng 性 27, 29, 37, 41, 42, 46, 63, 76, 86, passim

238

– jìn xìng 盡性 102, 146, 162, 182

Anhang

– Natur des Menschen voll zur Aus­ wirkung kommen lassen – qì zhì zhī xìng 氣質之性 37 – Natur der Energie und des Stoffes – tiān mìng zhī xìng 天命之性 – Natur des Menschen (vom Himmel 37, 42 b­ estimmt) xū zì 虛字 160, 178, 180, 213 f. leeres Wort (für Nichtgegenständliches): leere (xū 虛) oder funktionelle (yòng 用) Wortbedeutung (zì yì 字義) xué bù liè děng 學不躐等 134 das Lernen soll Stufen nicht überspringen yī yǐ guàn zhī 一以貫之 86, 182 Verbindung von allem durch ein Einziges (Konfuzius, Lúnyǔ 4.15, 15.3) yīn yáng 陰陽 36 Yin (das Dunkle) und Yang (das Helle) zhī 知 11, 24, 25, 29, 35, 38, 40, 42, Wissen, Bewusstsein 46–47, 62 f., passim – dé xìng zhī zhī 德性之知 46, – Wissen der Tugend-Natur 185, 211 – cèyǐn zhī zhī 惻隱之知 62, 63, – Wissen (Bewusstsein) des Mitleids 136, 138, 154, 172, 174, 176, 178 – shì fēi zhī zhī 是非之知 62, – Wissen (Bewusstsein) des Bejahens 63, 136, 138, 154, 156, 164, 174, [des Richtigen] und Verneinens [des 176, 178 Falschen] –  – wú zhī ér wú bù zhī 無知而無 Nichtwissen und nichts nicht wissen   不知 130 – zhī zhǐ yú zhì shàn 知止於 – Wissen um das Anhalten beim höchs­   至善 86, 160, 178 ten Guten (siehe dort) – zhī jué 知覺 29, 35, 62 f., 136, – Wahrnehmen 138, 150, 154, 156, 160, 176, 185, – durch Lernen, Erfahren, Überlegen; 209 »von außen« erworbenes Wissen zhì guó 治國 Regieren des Landes 23 zhì zhī 致知 23, 24, 33, 40, 43, Verwirklichen des Wissens, a. zhì liáng 63, 64, 98, 100, 120, 138, 178, 189, zhī 致良知 194, 196 zì rán 自然 51, 62, 63, 120, 126, Das Natürliche (Spontane)  136, 156, 158, 174, 176, 185, 189, 214 zì qiè 自慊 122, 124, 192, 196 Friede, »mit sich selbst in Frieden sein«