Konstruktionen in der Interaktion 9783110190151, 311019015X

Highlights possible systematic interconnections between the approaches of "construction grammar" and interacti

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Konstruktionen in der Interaktion
 9783110190151, 311019015X

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Konstruktionen in der Interaktion

W DE G

Linguistik — Impulse & Tendenzen Herausgegeben von

Susanne Günthner Klaus-Peter Konerding Wolf-Andreas Liebert Thorsten Roelcke

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Walter de Gruyter · Berlin · New York

Konstruktionen in der Interaktion Herausgegeben von

Susanne Günthner Wolfgang Imo

Walter de Gruyter · Berlin · New York

©

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-019015-1 ISBN-10: 3-11-019015-X ISSN 1612-8702 Bibliografische

Information

der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Dcutschc Nationalbibliothck vcrzcichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Copyright 2 0 0 6 by Walter de Gruyter G m b H & Co. K G , D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgcstaltung: Christopher Schncidcr, Berlin

Danksagung

Der Sammelband geht auf einen im November 2004 an der Westfälischen Wilhelms-Universität durchgeführten Workshop mit dem Titel „Konstruktionen in der Interaktion" zurück. An der Organisation des Workshops wie auch an der Fertigstellung des Bandes haben zahlreiche Personen mitgeholfen. Besonderer Dank geht an Lars Wegner für seine kompetente Mithilfe und seinen engagierten Einsatz bei der redaktionellen Arbeit. Für Kommentare zu den Manuskripten danken wir Klaus-Peter Konerding, Wolf-Andreas Liebert und Thorsten Roelcke (LIT-Reihe). Heiko Hartmann und den anderen Ansprechpartnerinnen von de Gruyter danken wir für die verlegerische Betreuung des Bandes. Der Sammelband steht in Zusammenhang mit dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekt (GU 366/4-1): „Grammatik in der Interaktion: Zur Realisierung fragmentarischer und komplexer Konstruktionen im gesprochenen Deutsch". Wir danken der DFG für ihre Unterstützung.

Münster, im Juli 2006

Susanne Günthner & Wolfgang Imo

Inhalt Danksagung

V

Susanne Günthner & Wolf gang Imo Konstruktionen in der Interaktion

1

Elizabeth Couper-Kuhlen & Sandra A. Thompson You know, it's funny: Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen

23

Susanne Günthner „Was ihn trieb, war vor allem Wanderlust": Pseudocleft-Konstruktionen im Deutschen

59

Clemens Knobloch „Item-based constructions" und paradigmatisierende Interaktion Konstruktionsgrammatik in der Spracherwerbsforschung

91

Johannes Schwitalla Kommunikative Funktionen von tun als Hilfsverb

127

Dagmar Barth-Weingarten Parallel-opposition-Konstruktionen: Zur Realisierung eines spezifischen Ausdrucks der Kontrastrelation

153

Christine Göhl Dass-Konstruktionen als Praktiken des Begründens

181

Karin Birkner (Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung: „ich bin n=mensch der... "

205

Arnulf Deppermann Deontische Infinitivkonstruktionen: Syntax, Semantik, Pragmatik und interaktionale Verwendung

239

VIII

Inhalt

Wolfgang Imo „Da hat des kleine glaub irgendwas angestellt" ein construct ohne construction?

263

Peter Auer Construction Grammar meets Conversation: Einige Überlegungen am Beispiel von „so"-Konstruktionen

291

Helmut Spiekermann & Benjamin Stoltenburg „lecker Pilsken trinken" Konstruktionen unflektierter Adjektive

315

Kerstin Fischer Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

343

Transkriptionskonventionen nach GAT

365

Personenregister

369

Sachregister

371

Susanne Günthner & Wolf gang Imo Konstruktionen in der Interaktion 1. Einleitung

Seit den 1980er Jahren ist ein gewisses Umdenken in der Sprachwissenschaft zu beobachten. Es zeichnet sich eine zunehmende Tendenz ab, Analysen syntaktischer Verfahren nicht länger auf isolierten, monologischen Sätzen zu gründen, sondern tatsächliche Sprachdaten heranzuziehen. Folglich werden immer häufiger grammatische Phänomene im kontextbezogenen Gebrauch, d.h. innerhalb „der lebendigen Praxis der sozialen Kommunikation" ( V O L O S I N O V 1929/86: 127-128) untersucht. Statt der Hypostasierung einer „reinen Sprache" (verstanden als grammatisches Regelsystem) hinter dem eigentlichen Sprechen und statt der Erforschung eines biologisch und universalistisch gedachten Sprachorgans, der Universal Grammar, geht ein praxisbezogener, „realistischer"1 Ansatz davon aus, dass sprachliche Formen und Funktionen sich in der Kommunikation herausbilden, sedimentieren und transformieren, und folglich auch in der Interaktion selbst zu analysieren sind. Die Begriffe „Grammatik" und „Interaktion" sind daher nicht länger als unverbundene Forschungsprogramme zweier gegensätzlicher linguistischer Traditionen zu betrachten; vielmehr widmen sich interaktional ausgerichtete Untersuchungen der Analyse des konkreten Zusammenhangs zwischen sprachlichen Formen und ihren Funktionen in der Sprach Wirklichkeit (SELTING/COUPER-KUHLEN 2001; AUER 2005; GÜNTHNER 2000, 2004, i.Dr. a,b). Dies wirft zugleich die Frage nach einer der gesprochenen Sprache angemessenen Sprachtheorie auf, die die spezifischen Produktions- und Rezeptionsbedingungen mündlicher Sprache wie Flüchtigkeit, Prozesshaftigkeit, Dialogizität, Konstruktionshaftigkeit und Aktivitäts- bzw. Gattungsorientierung nicht etwa ausblendet (wie die meisten Grammatiktheorien dies bisweilen tun), sondern in eine modalitätsangemessene Beschreibung integriert.

1

Mit der Bezeichnung „realistisch" beziehen wir uns auf eine von PETER HARTMANN bereits in den 70er Jahren erhobene Forderung bzgl. einer Sprachwissenschaft, die sprachliche Phänomene so aufnimmt, wie sie in der konkreten Sprachverwendung vorkommen und so viel wie nötig an kontextuellem Umfeld mit in die Analyse einbezieht, um ihr Vorkommen zu erklären (HARTMANN 1979, 1984; AUER/GÜNTHNER 2003; GÜNTHNER 2003, i.Dr. a).

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So verdeutlichen empirische Analysen gesprochener Sprache, dass Interagierende sich nur bedingt den Regeln der Standardgrammatik bedienen (daher CHOMSKYS Unterscheidung in Kompetenz und Performanz). Dennoch verlaufen selbst die informellsten Alltagsgespräche nicht ungeordnet und chaotisch („there's order at all points"; SACKS 1984: 22). Mündliche Kommunikation, die unter erheblichem Zeit- und Handlungsdruck abläuft, stützt sich in großen Teilen auf rekurrente, verfestigte Muster, 2 von denen einige standardgrammatischen Regeln entsprechen, andere jedoch mehr oder weniger davon abweichen. Diese Abweichungen sind nicht einfach als „Performanzentgleisungen" abzutun, sondern es handelt sich häufig um verfestigte, „normativ diskriminierte, genuin mündliche" Muster (SANDIG 1973), die den Interagierenden als Teil ihres sprachlichen Wissens zur Verfügung stehen und die sie als Ressourcen zur Ausführung verschiedenster kommunikativer Aufgaben verwenden (GÜNTHNER 2005). Sollte man diese Formen im Sinne einer „Randgrammatik" (FRIES 1987) der „Kerngrammatik" gegenüberstellen? Sollte man sie ins Lexikon einer Sprache verbannen und damit in eine vom sprachlichen Regelapparat separierte Einheit? Wie kann eine Sprachtheorie, die den Anspruch erhebt, eine realistische Beschreibung syntaktischer Strukturen im Gebrauch zu liefern, mit solchen (mehr oder weniger) musterhaft festgelegten Formen verfahren? Inwiefern kann die Construction Grammar

(FILLMORE/

KAY/O'CONNOR

1988;

GOLDBERG

1995;

MICHAELIS/LAMBRECHT 1996; CROFT 2001) mit ihrer nicht-modula-

ren, verwendungsbasierten Ausrichtung ein Modell für eine Grammatik der gesprochenen Sprache liefern? Mit dem vorliegenden Sammelband sollen erste systematische Vernetzungsmöglichkeiten zwischen Ansätzen der Construction Grammar und interaktional ausgerichteten Studien zur Grammatik der gesprochenen Sprache aufgezeigt werden. Die hier versammelten, empirisch orientierten Studien widmen sich verfestigten Konstruktionen unterschiedlicher Komplexität in deutschen und englischen Kommunikationssituationen.

2

Vgl. auch FEILKE (1998) und STEIN (1995) zu „formelhafter Sprache".

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2. Zur Construction Grammar Ihren Ursprung hat die Construction Grammar in der Beobachtung, dass der Bereich sprachlichen Wissens, der - zumindest ansatzweise idiosynkratisch ist, eigentlich den Hauptteil der Sprache ausmacht. Diese These wurde von FLLLMORE/KAY/0' CONNOR (1988) im Rahmen ihrer Analyse der englischen „let alone"-Konstruktion aufgestellt. Bei „let alone" handelt es sich um einen Ausdruck, der weder vollständig frei ist, also nicht durch komponentielle Syntaxmodelle erklärt werden kann, der aber andererseits wiederum so produktiv ist, dass man ihn nicht als Idiom oder Phraseologismus in ein Wörterbuch auslagern kann. Die Autorinnen kritisierten, dass in gängigen Grammatiktheorien ein arbiträrer Schnitt zwischen dem Bereich des Lexikons und dem der Syntax angenommen wird, so dass Phraseologismen und Idiome in einen so genannten „Appendix to the Grammar" (FILLMORE/KAY/ O'CONNOR 1988: 504) verschoben werden, während sich die Grammatik der Beschreibung des vermeintlichen Kernbereichs, den grammatischen Regeln, widmet. Diese Auslagerung geht aber von einer Fehleinschätzung sowohl der Menge als auch der kognitiven und interaktionalen Relevanz von Verfestigungen in einer Sprache aus: „This ,Appendix to the Grammar' can be thought of as the repository of what is IDIOMATIC in the language. One of our purposes is to suggest that this repository is very large." (FlLLMORE/KAY/0'CONNOR 1988: 504) Während man also lange Zeit von einer relativ klaren Trennung ausging zwischen stark verfestigten, dem Lexikon zugeordneten sprachlichen Ausdrücken wie den Phraseologismen und spontanen Äußerungen, die sich an abstrakten Syntaxregeln orientieren, und man ferner zwischen kerngrammatischen Formen und randgrammatischen Erscheinungen unterschied, so steht nun die Beobachtung im Zentrum, dass im tatsächlichen Sprachgebrauch verschiedene Grade an Verfestigungen existieren. Eine Trennung zwischen Kern- und Randgrammatik wird dadurch fragwürdig. Folglich beabsichtigt die Construction Grammar, ein Grammatikmodell zu liefern, mit dem alle sprachlichen Konstruktionen einer Sprache beschrieben und generiert werden können. Die Construction Grammar fasst daher alle Einheiten einer Sprache als Konstruktionen auf, die sich lediglich durch den Grad an Verfestigung und Produktivität voneinander unterscheiden. Manche Konstruktionen sind somit vollständig - auch lexikalisch - spezifiziert, andere enthalten Leerstellen und sind folglich abstrakter. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie aus einer Kombination nicht nur rein

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syntaktischer Parameter bestehen, sondern dass mindestens auch semantische, meist aber auch funktionale, prosodische und kontextbezogene Parameter zur Beschreibung herangezogen werden müssen. Zudem bestehen auf allen Ebenen der Sprache idiosynkratische Anteile, die mit in die Beschreibung der Konstruktionen aufgenommen werden müssen. Die Lösung für die Forderung, der Idiosynkrasie sprachlicher Elemente Rechnung zu tragen, liegt in der Entwicklung eines Analyseinstruments, das in der Lage ist, die unterschiedlichen linguistischen Beschreibungsebenen zusammenzuführen. Dieses Analyseinstrument wird durch die Annahme von „Konstruktionen" zur Verfügung gestellt: A construction is defined to be a pairing of form with meaning/use such that some aspect of the form or some aspect of the meaning/use is not strictly predictable from the component parts or from other constructions already established to exist in the language. (GOLDBERG 1996: 68)

Form und Funktion sprachlicher Einheiten werden als untrennbar angesehen, was die Construction Grammar zu einem zeichenbasierten Grammatikmodell macht, das Wörter, Phrasen, Sätze und sogar Textund Diskurssequenzen als Symbole behandelt.3 An dieser Stelle werden Parallelen zwischen der Construction Grammar und einer ihr verwandten Theorie, der „Cognitive Grammar" (LANGACKER 1987), erkenntlich. Auch LANGACKER plädiert für eine Aufhebung der Trennung zwischen Lexikon und Syntax und für die Annahme eines Kontinuums an gestalthaft wahrgenommenen Symbolen: „Lexicon and grammar are thus conceived as forming a continuum whose full and proper characterization reduces to assemblies of symbolic structures." (LANGACKER 1995:153) Um diese symbolischen Strukturen adäquat beschreiben zu können, mit anderen Worten, um ihrer Zeichenhaftigkeit gerecht zu werden, enthalten Konstruktionen typischerweise Einträge zu morphosyntaktischen Eigenschaften (interne Abfolge der syntaktischen Einheiten innerhalb der Konstruktion, Stellungsbeschränkungen in den Satzfeldern, strukturelle Beziehungen untereinander, Kasusmarkierungen, enklitische Strukturen etc.), zu prosodischen und phonologischen Ausprägungen (Intonationsverlauf, prosodische Einbettung oder Selbstständigkeit in Bezug auf den umgebenden Diskurs etc.), zur Semantik und Funktion (semantische Rollen, Rahmen oder Szenen, die zur Interpretation herangezogen werden müssen, textuelle oder inter-

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So weist beispielsweise GOLDBERG (1998: 383) nach, dass Satzbaupläne und semantische Interpretation miteinander verknüpft sind: „Simple sentence types in English are directly correlated with one or more semantic structures."

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personelle Funktionen) und schließlich zum Kontext (Register, Textsorten/Gattungen, sequenzielle Platzierung im Diskurs etc.). Nicht alle diese Ebenen sind für die Beschreibung einzelner Konstruktionen gleichermaßen relevant. Manche Konstruktionen sind eher abstrakt und können mit syntaktischen Regeln beschrieben werden (wie zum Beispiel die „Subjekt-Prädikat-Konstruktion"), für die meisten im tatsächlichen Sprachgebrauch vorkommenden Einheiten gilt aber, dass sie weitaus komplexer sind und ohne das Einbeziehen mehrerer Beschreibungsebenen nicht angemessen erfasst werden können. Die unterschiedliche Komplexität von Konstruktionen hat jedoch nichts mit einer Wertung im Sinne von „Kernbereich" und „Randbereich" zu tun. Alle Konstruktionen bilden gleichermaßen den Kern der Sprache, sie unterscheiden sich nur in der Zahl und Kombination der Ressourcen, die zu ihrem Verständnis notwendig sind. Entscheidend ist die Tatsache, dass in der oberflächenorientierten Theorie der Construction Grammar für sie alle das gestaltpsychologische Konzept der Übersummativität gilt, das dafür sorgt, dass Konstruktionen trotz interner Komplexität als Einheiten wahrgenommen und somit als elementare sprachliche Grundbausteine verwendet werden können: A nonreductionist theory differs from a reductionist theory in that it hypothesizes that the whole is greater than the sum of its parts. The parts take their significance - that is, are categorized - by virtue of the role they play in the construction as a whole. (CROFT 2001: 48)

Die innerhalb einer Sprache vorhandenen Konstruktionen können dann in einem Netzwerk des sprachlichen Wissens von Sprecherinnen über die Konventionen ihrer Sprache repräsentiert werden. Dies wird von CROFT (2001: 25) auch als „structured inventory of a speaker's knowledge of the conventions of their language" bezeichnet. So werden Generalisierungen über einzelne Konstruktionen hinweg ermöglicht und unterschiedliche Arten von Beziehungen zwischen Konstruktionen können durch Verbindungen im Netzwerk dargestellt werden. Der Construction Grammar (die mittlerweile in verschiedenen Ausprägungen existiert) liegen folgende Annahmen zugrunde: (1) Die Struktur einer Sprache lässt sich durch Form-Bedeutungs-Paare („constructions") beschreiben, die systematisch miteinander verwoben sind und ein strukturiertes Inventar („construct-i-con" GOLDBERG 2003: 3) bilden. (2) Sprache stellt ein nicht-autonomes, kognitives Symbolsystem dar: „Grammar (or syntax) does not constitute an autonomous formal level of representation. Instead, grammar is symbolic in nature, consisting in

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the conventionalized symbolization of semantic structure." (LANGACKER 1987: 2)

(3) Grammatik ist nicht-modular und nicht-derivational: Die Construction Grammar stellt dabei für die Analyse eine „single-level representation of complex syntactic objects as opposed to multi-level or derivational representations" (FILLMORE 1 9 8 5 : 7 4 ) zur Verfügung. (4) Grammatik ist nicht angeboren, sondern wird erlernt. Dabei liefern kognitive Mechanismen sowie interaktionale Anforderungen den Rahmen, innerhalb dessen sich sprachspezifische Systeme von Konstruktionen herausbilden. (5) Alle Ebenen der Sprachbeschreibung sind gleichwertig und können/ müssen potentiell für die Beschreibung von Konstruktionen herangezogen werden. Die Construction Grammar wendet sich somit entschieden gegen die „atomistische Position" formaler Grammatiken und beabsichtigt, semantische und pragmatische Prinzipien zur Erklärung syntaktischer Konfigurationen heranzuziehen (FILLMORE/ΚΑY/O'CONNOR 1988: 5 0 1 ) .

In den letzten Jahren haben sich unterschiedliche Ausprägungen der Construction Grammar herausgebildet. So haben sich FILLMORE und KAY zunehmend der Frage zugewandt, wie die Annahmen der Construction Grammar in einen mit monostratalen generativen Grammatiken kompatiblen Formalismus übertragen werden können. Fragen der Unifikation oder der Darstellung der Grammatik in Wert-AttributKästen sowie Überlegungen zur Übersetzbarkeit der Construction Grammar in Theorien wie die HPSG, die LFG oder die Categorial Grammar sind die Themen neuerer Arbeiten von FILLMORE/KAY (1995), KAY/FILLMORE (1997) u n d KAY (2000). LAKOFFS (1987)

Hinwendung zu kognitiven Fragestellungen führt dagegen zur Entwicklung einer neuronal ausgerichteten Perspektive, die Konstruktionen als Teil einer „Embodied Construction Grammar" betrachtet (BERGEN/CHANG 2 0 0 5 ) . In den A n s ä t z e n von CROFT (2001, 2005),

dessen „Radical Construction Grammar" sich stark an die „Cognitive Grammar" LANGACKERS (1987) anlehnt, steht wiederum die Frage im Zentrum, wie die Construction Grammar sprachübergreifend zur Bestimmung typologischer Universalien eingesetzt werden kann. Wieder andere Ansätze stellen den Aspekt der Gebrauchsbasiertheit in den Vordergrund: „In a usage-based model, substantial importance is given to the actual use of the linguistic system and a speaker's knowledge of this use." (LANGACKER 1999: 91) Auch GOLDBERG (1996: 69) hält datengestütztes Arbeiten für einen zentralen Stützpfeiler

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der Construction Grammar, da Aussagen über die Sprachrealität nur auf der Grundlage der Untersuchung empirischen Materials getroffen werden können: „Research in Construction Grammar has emphasized the importance of attested data, gathered from discourse or corpora." ÖSTMAN (2005) geht noch einen Schritt weiter und plädiert für die Etablierung eines „Construction Discourse" mit dem Ziel einer Ausweitung der in der Grammatik behandelten Einheiten über die Satzgrenze hinaus. Der Begriff des „Construction Discourse" wird hier als Aufforderung an die Construction Grammar gesehen, ihre eigenen Annahmen der realistischen Sprachbeschreibung ernst zu nehmen: I would submit that the main factor which keeps Construction Grammar within the bonds of the sentence is tradition. (...) There is no ontological, methodological, nor cognitive basis for accepting morphemes and words as having constructions associated with them - as indeed, being licensed by constructions - but not accept combinations of sentences, paragraphs, and whole texts/discourses. Size does not matter. (ÖSTMAN 2005: 126)

Das korpusorientierte Vorgehen neuerer gebrauchsbasierter Ansätze der Construction Grammar macht diese insofern für die Erforschung gesprochener Sprache relevant, als die kognitive Realität der Grammatik sich notwendigerweise auch in der Realität der Sprachverwendung zeigen muss. Denn wenn tatsächlich, wie u.a. BYBEE (1998) und CROFT (2005) postulieren, diejenigen sedimentierten syntaktischen Muster, die hochfrequent in der Interaktion vorkommen, auch die Einheiten sind, die als Konstruktionen im Gedächtnis abgelegt werden, so liegt der Nutzen einer empirisch orientierten Konversations- und Gesprächsanalyse für kognitionslinguistische Fragestellungen auf der Hand.

3. „Konstruktionen in der Interaktion" - Construction Grammar und Interaktionale Linguistik

Für die Beschreibung sprachlicher Formen und ihrer Funktionen in der „kommunikativen Praxis" stellt sich nun die Frage, inwiefern der Ansatz der Construction Grammar Impulse für die Modellierung einer Grammatik der gesprochenen Sprache bieten kann. Arbeiten zur Syntax gesprochener Sprache verdeutlichen, dass Interagierende über Wissen von Konstruktionsschemata verfügen, das sowohl bei der Produktion als auch der Rezeption von Äußerungen Anwendung findet (ONO/ THOMPSON 1995; AUER 2005; GÜNTHNER 2005, i.Dr. b; DEPPERMANN

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i. Dr.). Im Gesprächsverlauf orientieren sich Interagierende an diesen verfestigten Schemata, die wiederum aufgrund ihrer gestalthaften Qualität Projektionen bezüglich des weiteren Äußerungsverlaufs erlauben (AUER 2005). Folglich bietet sich zur Beschreibung der Syntax gesprochener Sprache eine Grammatiktheorie an, die sich mit solchen Formen grammatischen Wissens systematisch befasst. Gerade ihre nicht-modulare, holistische Ausrichtung, ihr verwendungsbasierter Rahmen, die Aufwertung von (teil)verfestigten Formaten, die Verbindung von Form- und Funktionsanalysen, der Einbezug pragmatischer, prosodischer, diskursfunktionaler und kognitiver Aspekte bei der Analyse sprachlicher Konstruktionen sowie das Postulat, dass sich grammatische Strukturen für kommunikative Zwecke herausgebildet haben und eng mit konkreten Gebrauchsbedingungen wie auch mit Aspekten menschlicher Kognition verwoben sind, machen die Construction Grammar attraktiv für eine praxisorientierte Perspektive auf sprachliche Phänomene. Statt jedoch Konstruktionen im tatsächlichen Verwendungskontext zu betrachten, gründen bisherige Untersuchungen der Construction Grammar unterschiedlicher Ausprägungen primär auf (an der Schriftsprache orientierten) Beispielsätzen, die aus dem Kontext losgelöst beschrieben werden. Aspekte der sequenziellen, kontextuellen und gattungsspezifischen Gebrauchsweisen der entsprechenden Konstruktionen werden ebenso vernachlässigt wie die Beschreibung ihres prosodischen Designs. Da die Construction Grammar postuliert, dass Konstruktionen als FormBedeutungs-Einheiten in der kommunikativen Praxis entstehen und eine psychologische und kommunikative Realität haben, drängt sich eine gesprächsanalytische Herangehensweise an die Analyse von Konstruktionen im tatsächlichen Gebrauch geradezu auf. Eine methodologische Verknüpfung zwischen der Interaktionalen Linguistik4 und der Construction Grammar bietet sich für eine Theorie der Syntax gesprochener Sprache somit an, da auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet wird, Konstruktionen über rein syntaktische Aspekte hinaus zu untersuchen und den dialogischen und prozessualen Charakter mündlicher Interaktion sowie Aspekte der aktivitäts- bzw. gattungsbezogenen Einbettung in die Analyse mit einzubeziehen. Erste Möglichkeiten einer Vernetzung von Annahmen der Construction Grammar mit interaktional orientierten, empirischen Studien

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Zum Forschungsprogramm der Interaktionalen Linguistik siehe u.a. SELTING/COUPERKUHLEN (2001).

Konstruktionen in der Interaktion

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repräsentieren u.a. die Arbeiten ONO/THOMPSONS (1995), THOMPSONS (2002), HOPPERS (2002, 2004), AUERS (2005), GÜNTHNERS (2005, i. Dr. b) und DEPPERMANNs (i. Dr., i. V.). Diese veranschaulichen, dass kognitive und strukturelle Aspekte der Syntax nicht ohne, sondern im Gegenteil erst durch einen Rückgriff auf das Verständnis der Funktionsweisen des Diskurses, in den sie eingebettet sind, erklärt werden können. So argumentieren THOMPSON (2002) und HOPPER (2004), dass Konstruktionen - wenn man sie in der tatsächlichen dialogischen Verwendung analysiert - oft andere Eigenschaften aufweisen, als in den Studien behauptet, die auf Methoden der Introspektion basieren. HOPPER (2004) stellt gar die Frage, ob „Konstruktionen" im Sinne der Construction Grammar im alltäglichen Sprachgebrauch überhaupt verwendet werden oder eher nur „fragments of constructions". Zugleich verdeutlichen diese Arbeiten, dass Sprecherinnen über relativ detaillierte, oberflächennahe und redundante Konstruktionsschemata verfügen, die interaktionale Ressourcen für die Bewältigung kommunikativer Aufgaben darstellen.

4. Zentrale Fragestellungen für die Analyse von Konstruktionen in der Interaktion - die Positionierung der vorliegenden Beiträge

Die in diesem Sammelband vorliegenden Studien zur Verwendung unterschiedlicher Konstruktionen in konkreten Kommunikationssituationen zielen auf eine Verbindung zwischen interaktionalen Arbeiten zur Grammatik gesprochener Sprache und der Construction Grammar ab. Sie gehen auf einige zentrale Fragen und Aspekte ein, die sich bei der Analyse konkreter Konstruktionen in der alltäglichen kommunikativen Praxis zeigen. (1) Inwiefern haben Konstruktionen eine Realität für die Interagierenden? Was zählt im Diskurs als Konstruktion und wie lassen sich Syntagmen im Diskurs als Konstruktionen identifizieren? ELIZABETH COUPER-KUHLEN u n d SANDRA A . THOMPSON gehen der

Frage nach, inwieweit sich Extrapositionen im gesprochenen Englisch an dem in den Grammatiken beschriebenen Muster orientieren. Ihre Daten veranschaulichen, dass es sich bei dem Phänomen der Extraposition nicht etwa um einen einheitlichen Konstruktionstyp handelt, sondern dass die Interagierenden auf unterschiedliche Weise von

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projizierenden Phrasen mit it und einem Prädikat Gebrauch machen können, um Bewertungen, Erzählungen oder andere sprachliche Aktivitäten zu rahmen. Besonders auffällig ist dabei, dass Extrapositionsstrukturen im Prozess der Interaktion emergent gebildet und durch die Interagierenden uminterpretiert werden können. So ist es beispielsweise möglich, dass ein zunächst rückwärtsgerichteter Gesprächsteil durch eine Gesprächspartnerin als projizierender erster Teil einer Extraposition umgedeutet wird und die Sprecherin dann den zweiten Teil der auf diese Weise interaktiv erzeugten Extrapositionsstruktur nachliefert. Die prosodische Realisierung spielt dabei eine wichtige Rolle, da durch sie markiert werden kann, ob ein Äußerungsteil als vorwärts- oder rückwärtsgerichtet zu verstehen ist. Zudem veranschaulichen COUPERKUHLEN und THOMPSON, dass der zweite Teil einer ExtrapositionsKonstruktion sich über mehrere Äußerungen bis hin zu ganzen Erzählsequenzen erstrecken kann. Die Tatsachen, dass Interagierende diese stark projizierenden Extrapositionsgestalten wahrnehmen und sich daran orientieren und dass die Konstruktion kollaborativ erzeugt werden kann, liefern klare Belege für die psychologische Existenz einer solchen Konstruktion in der Interaktion. SUSANNE GÜNTHNER untersucht anhand von Gesprächs- und E-MailDaten die Verwendung von Pseudocleft-Konstruktionen im Deutschen. Auch hier wird ersichtlich, dass in alltäglichen, informellen Interaktionen zwar auch kanonische, in Grammatiken beschriebene Pseudocleft-Konstruktionen realisiert werden, doch finden sich zugleich zahlreiche Formen, die von den vorgegebenen abweichen. Ferner treten Mischformen und „Amalgamisierungen" von Pseudoclefts mit anderen Konstruktionen auf. Folglich ist von einer Prototypikalitätsskala für Pseudocleft-Konstruktionen auszugehen. Trotz der Realisierung unterschiedlicher Pseudocleft-Typen verfügen die Gesprächsteilnehmerinnen über ein Wissen bezüglich der Gestalt und Funktion einer Pseudocleft-Konstruktion. So fungiert der W-Teilsatz als Projektionsrahmen, der die Aufmerksamkeit der Rezipientlnnen auf die noch ausstehende Konstituente lenkt. Diese kann jedoch - je nach interaktionalen Bedürfnissen - unterschiedlich (in Form einer NP, eines subordinierten Komplementsatzes oder aber in Form eines syntaktisch unabhängigen Hauptsatzgefüges) aktualisiert werden. Die Tatsache, dass Pseudocleft-Konstruktionen gelegentlich kollaborativ erzeugt werden, weist darauf hin, dass es sich um ein stabiles Muster handelt,

Konstruktionen in der Interaktion

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das Interagierenden als Ressource zur Ausführung spezifischer kommunikativer Aufgaben vorliegt. Zu Aspekten der Identifizierbarkeit von Konstruktionen in der Interaktion siehe darüber hinaus die Beiträge von PETER AUER, DAGMAR BARTH-WEINGARTEN, ARNULF DEPPERMANN, CHRISTINE GÖHL, WOLFGANG IMO u n d CLEMENS KNOBLOCH.

(2) Welche Einsichten ermöglicht eine interaktional ausgerichtete, praxisbezogene Perspektive auf Konstruktionen? Konstruktionen werden in der traditionellen Phraseologie und in der Construction Grammar häufig als fertiges Produkt eines Sprechers betrachtet. Die emergent-prozessuale, dialogische Instantiierung von Konstruktionen in realen Interaktionen wird dagegen vernachlässigt. CLEMENS KNOBLOCH befasst sich in seinem Beitrag mit der Aneignung des Systems der Modalverben im kindlichen Erstspracherwerb. Auffällig ist hierbei die Relevanz, die interaktionale, dialogische Verfahren für den Erwerb der Modalverben bei Kindern haben. So weist KNOBLOCH in diesem Zusammenhang besonders auf die Funktion des „paradigmatisiernden Echos" in Interaktionen zwischen Kindern und Bezugspersonen hin. Hierbei werden die Äußerungen des Kindes als Grundlage für die Folgeäußerungen der Bezugspersonen genommen und teilweise wörtlich, teilweise mit deiktischen Veränderungen und teilweise eingebettet in andere Konstruktionen wiederholt. Diese Daten liefern Hinweise darauf, dass es sich beim Grammatikerwerb nicht um ein Phänomen handelt, das „nur im Alleingang bewältigt werden kann", sondern dass Grammatik eine interaktive Kompetenz darstellt, die durch Prozesse der „interaktiven Paradigmatisierung" aufgebaut wird. Konstruktionen spielen hierbei eine zentrale Rolle, da Modalverben erst nur formelhaft - also als spezifische Konstruktionen - verwendet werden. Erst mit Hilfe interaktionaler Prozesse, die die Bezugspersonen durchführen (beispielsweise die Wiederholung bei gleichzeitiger Abwandlung der ursprünglichen Konstruktion), werden die Gestaltmerkmale der Modalverben als schematische Konstruktion schließlich von den Kindern erworben. In dem Beitrag von JOHANNES SCHWITALLA werden die Funktionen von tun als Hilfsverb im gesprochenen Deutsch untersucht. Dieses

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Hilfsverb wird als Fokussierungskonstruktion verwendet, mit deren Hilfe das Vollverb profiliert und so „die Aufmerksamkeit auf das Verb als kausale, hervorgebrachte oder begleitende Handlung" gelenkt wird. Ein auffälliges Merkmal der Fokussierungskonstruktion mit tun besteht darin, dass sich eine interaktionale Steuerung der Verwendung im Sinne einer Adressatenanpassung nachweisen lässt. So wird tun nicht nur häufig im Babytalk sondern auch in Gesprächen mit älteren Menschen und Haustieren verwendet, was durch die Funktion der Fokusmarkierung begründet sein kann. Ferner ist zu beobachten, dass Sprecherinnen, die normalerweise die als umgangssprachlich bzw. dialektal markierte /««-Konstruktion nicht verwenden, diese dann aufgreifen, wenn sie mit Personen interagieren, die die Konstruktion häufig verwenden: „Ähnlich wie sich Standardsprecher zumindest stellenweise phonetisch an Dialektsprecher anpassen, tun dies manche Standardsprecher auch mit tun". Der emergente, erst in der Interaktion relevant werdende Status von Konstruktionen wird in diesen Fällen ersichtlich. Mit der Frage der inkrementellen und emergenten Entstehung von Konstruktionen in der Interaktion befassen sich auch die Beiträge von PETER AUER, DAGMAR BARTH-WEINGARTEN, ELIZABETH COUPER-KUHLEN & SANDRA A . THOMPSON, KERSTIN FISCHER, SUSANNE GÜNTHNER u n d WOLFGANG IMO.

(3) Die Analysen der Construction Grammar basieren in der Regel auf durch Introspektion gewonnenen Beispielen, die sich an der traditionellen Satzgrenze orientieren und über diese nicht hinausgehen. Betrachtet man gesprochene Sprache, so zeigt sich, dass Konstruktionen die traditionelle Satzgrenze sowohl unter- als auch überschreiten und dass sie kollaborativ erzeugt und inkrementell produziert werden können. Das Phänomen, dass sich scheinbar integrierte, d.h. satzwertige Konstruktionen bei näherer Betrachtung als „biclausal constructions" (HOPPER 2004) herausstellen, zeigt sich in vielen der in diesem Band versammelten Beiträgen: Dieses Merkmal trifft auf die ExtrapositionsKonstruktionen (COUPER-KUHLEN/THOMPSON) ebenso zu wie auf die Pseudocleft-Konstruktionen (GÜNTHNER), auf Konstruktionen zur Personenattribuierung (BIRKNER) genauso wie auf die von DAGMAR

BARTH-WEINGARTEN für das Englische untersuchten „parallel-oppos-

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ition-Konstruktionen". Während „parallel-opposition-Konstruktionen" in ihrer prototypischen Ausprägung häufig eine projizierende Struktur haben, so dass eine Gestaltfortführung erwartbar ist, gibt es auch Fälle mit einer final fallenden Tonhöhenbewegung auf dem ersten Teil der Konstruktion, die dadurch zunächst nicht als „parallel-opposition-Konstruktion" erkennbar ist. Dass der nachfolgende zweite Teil dann überhaupt als Fortführung der Konstruktion interpretiert werden kann, liegt daran, dass „die beiden Teile der Konstruktion auch erst retrospektiv, d.h. durch die sequenziell geordnete Abfolge und das Zusammenspiel der Konstruktionseigenschaften ihren Status als ,Κοηjunkt' erhalten können". Solche Beispiele zeigen, dass die Satzgrenze für die Entstehung einer konstruktionalen Gestalt nicht unbedingt relevant ist und dass der Blick auf Konstruktionen nicht durch traditionelle Kategorien verstellt werden darf. Konstruktionen, die über die Satzgrenze hinausgehen, werden außerd e m von ELIZABETH COUPER-KUHLEN & SANDRA A . THOMPSON, ARNULF DEPPERMANN und SUSANNE GÜNTHNER behandelt.

(4) Die Construction Grammar plädiert zwar daflir, die sprachanalytischen Ebenen Morphologie, Syntax, (lexikalische) Semantik und Pragmatik im Begriff der Konstruktion nicht von einander zu trennen, doch werden kaum prosodische Merkmale in die Analyse mit einbezogen (wenn dies geschieht, dann häufig auf der Basis des introspektiven Beispielsatzverfahrens). Eine wichtige Frage lautet also, welche Rolle die Prosodie bei der Analyse von Konstruktionen in konkreten Interaktionszusammenhängen spielt und wie prosodische Phänomene mit den anderen Ebenen bei der Aktualisierung von Konstruktionen interagieren. Der Beitrag von CHRISTINE GÖHL veranschaulicht, wie Interagierende ^«-Konstruktionen in Zusammenhang mit Begründungsaktivitäten verwenden. Da der Konjunktor dass sowohl final als auch konsekutiv oder neutral begründend eingesetzt werden kann, stellt sich die Frage, wie sich die entsprechende Lesart im jeweiligen Kontext herausbildet. G Ö H L S Daten zeigen, dass hierbei unter anderem prosodische Kriterien mit sequenziellen Rahmenbedingungen sowie Kontextwissen eine Rolle spielen. Ob eine ί/ass-Konstruktion final, kausal oder neutral zu interpretieren ist, hängt davon ab, „welche Lesart im gegebenen Ko(n)text mit den jeweils bestehenden Wissenshintergründen am bes-

14

Susanne Günthner & Wolfgang Imo

ten zu vereinbaren ist". So kann ein Kriterium wie das der sequenziellen Erwartbarkeit einer Begründung beispielsweise eine finalbegründende Lesart präferieren, die prosodische Integration dagegen die neutral-begründende. G Ö H L S Analyse verdeutlicht, dass es nahezu unmöglich ist, für c/a.v.v-Konstruktioncn eine allgemeingültige, von der jeweiligen Realisierung unabhängige Beschreibung zu liefern: Auch wenn sich bestimmte Merkmale, v.a. die Verwendung der Konjunktion dass und die damit einhergehende syntaktische Subordination in allen Verwendungsweisen finden und sich die begründenden Konstruktionen bzgl. ihrer Funktion ähneln, wird die Konstruktion erst im aktuellen Gebrauchskontext auf eine spezifische Lesart fixiert. Auf prosodische Aspekte gehen auch PETER AUER, KARIN BIRKNER, ELIZABETH COUPER-KUHLEN & SANDRA A. THOMPSON WOLFGANG IMO ein.

sowie

(5) Auch wenn sich einige Ansätze der Construction Grammar dezidiert pragmatischen Fragen der Informations strukturierung, wie der Organisation von Topik und Fokus, zuwenden (LAMBRECHT 1994; 2001), bleiben Aspekte der sequenziellen Einbettung, des diskursiven Kontextes, der Präferenzstruktur etc. dennoch unterbelichtet. KARIN BIRKNER untersucht die formalen und funktionalen Verwendungsweisen einer Konstruktion der Personenattribuierung: „ich bin ein Mensch, der". Diese Konstruktion steht jedoch nicht für sich alleine, sondern bildet als prototypische Ausprägung das Zentrum für zahlreiche verwandte Muster. Dabei ist zu beobachten, dass die Grundstruktur dieser Konstruktion aus einem Attribuierungssyntagma aufgebaut ist, das eine Projektion eröffnet, die dann entweder durch einen subordinierten Satz oder durch ein unabhängiges zweites Syntagma eingelöst werden kann. Die Funktion besteht darin, „dass durch das erste Syntagma eine Typisierung des Topic-Referenten angekündigt wird, die im zweiten Syntagma erfolgt". Die Konstruktion der Personenattribuierung steht damit in engem Bezug zu anderen Konstruktionen, die der Topikorganisation dienen, wie beispielsweise den „biclausal presentational constructions", und ist für die Lösung spezifischer interaktiver Aufgaben hoch relevant: Die Interagierenden führen hiermit eine „diskursive personale Positionierung" durch, die der Legi-

Konstruktionen in der Interaktion

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timierung eigener Positionen sowie der Zugehörigkeitsassertion zu einem Typus dient. ARNULF DEPPERMANN untersucht in Zusammenhang mit deontischen Infinitivkonstruktionen die Aufgaben, die diese Infinitive in der Interaktion erfüllen. Seine Daten verdeutlichen, dass deontische Infinitivkonstruktionen „durch ihre Profilierungsleistungen (...) ein besonderes Potenzial der Aufmerksamkeitssteuerung" haben und somit eine aus interaktionaler Perspektive wichtige Funktion ausüben. Eine zentrale Rolle bei der Verwendung deontischer Infinitivkonstruktionen spielen jedoch sequenzielle und kontextuelle Faktoren. So erzeugen Sachverhalts- und Aktivitäts-/raraes überhaupt erst die nötigen Erwartungsund Wissensstrukturen, die die kontextsensitive Interpretation dieser Konstruktionen zulassen. Des Weiteren verhilft auch die Struktur der konditioneilen Relevanz „zu einer Fixierung der Interpretation der DIK, da in der Regel durch die ersten Teile der Paarsequenz der personale Bezug (Agens) und die deontische Modalität für den konditionell relevanten zweiten Teil festgelegt sind". Ebenso wichtig ist auch die von den Interagierenden geteilte Annahme, dass Sprecherinnen ihre Äußerungen kohärent und kohäsiv produzieren: „Diese Sprecherkonsistenzannahme kann zusammen mit den deontischen Positionen, die von Sprecherinnen bekannt sind, zur Restriktion der Interpretation von DIK eingesetzt werden." Zu Fragen von der Informationsstrukturierung und Fokussierungskonstruktionen siehe darüber hinaus ELIZABETH COUPER-KUHLEN & SANDRA A. THOMPSON, SCHWITALLA.

SUSANNE GÜNTHNER

und

JOHANNES

(6) Äußerungen stehen nicht alleine, sondern sind immer in Bezug zu setzen sowohl zu bereits geäußerten Wörtern, Phrasen und Sätzen,5

5

Vgl. HOPPER (2005: 37): „Emergent grammar is understood as epiphenomenal and derived from usage. Because the goals of speech are interactive ones, speech proceeds not by translating mental ideas into physical language, but by adapting previous utterances to the current needs of speakers and interlocuters, including anticipated responses. Its sources are not mental structures but previous utterances, which serve as rough models for current utterances. Repetitions of previous utterances cannot be identical to their source. They are not - indeed, cannot be - exact replicas, but only approximations, and so the models for subsequent utterances are always changed versions of the previous ones."

16

Susanne Günthner & Wolfgang Imo

als auch zu gestaltähnlichen Ausdrücken, mit denen sie in einem Netzwerk von Konstruktionen verbunden sind. Wie lassen sich solche Netzwerkverknüpfungen in der Sprachrealität zeigen? Mit seiner Untersuchung der reduzierten Formen glaub(e) ich und glaub zeigt WOLFGANG IMO, dass diese den Hauptanteil aller „constructs" darstellen, die mit dem Verb glauben im gesprochenen Deutsch überhaupt realisiert werden. Trotz der hohen Rekurrenz können diese Phrasen allerdings nicht als einheitliche Konstruktionen interpretiert werden, sondern lediglich als Fragmente. Deren Interpretation ist nur möglich, wenn mehrere benachbarte Konstruktionen hinzugezogen werden, an deren Gestalt sich glaub(e) ich und glaub jeweils anlehnen. Solche benachbarten Konstruktionen stellen in diesem Fall Modalpartikeln, Modalwörter und parenthetisch eingeschobene Matrixsätze zur Verfügung. Keines dieser konstruktionalen Schemata reicht jedoch alleine aus, um die „constructs" glaub(e) ich und glaub beschreiben zu können: Je nach Kontext, prosodischer Realisierung und morphosyntaktischer Reduktion sind alle drei schematischen Konstruktionen in unterschiedlich starker Weise beteiligt. Es handelt sich also bei glaub(e) ich und glaub insofern um emergente Einheiten, als sie erst durch die Einbeziehung kontextueller und sequenzieller Informationen in der Interaktion ihre Bedeutung und Funktion erhalten. Dennoch stellt die Interpretation von glaub(e) ich und glaub für die Interagierenden aber keine Probleme dar, da durch die drei Konstruktionen Modalwort, Modalpartikel und parenthetisch realisierter Matrixsatz der Rahmen abgesteckt wird, innerhalb dessen die jeweilige Bedeutung und Funktion von glaub(e) ich und glaub kontextspezifisch entstehen kann. Die möglichen Lesarten werden dabei durch diesen Rahmen reduziert. PETER AUER geht in seinem Beitrag anhand der Verwendungsweisen des Wortes so der Frage nach, „wie konversationelles/interaktionales Wissen für die Konstruktionsgrammatik relevant wird". Gerade die Konstruktionen mit so weisen deutliche Gestaltähnlichkeiten untereinander auf, können aber dennoch voneinander unterschieden werden, sobald man konversationeile Faktoren wie die Einbindung in bestimmte sequenzielle Muster oder die Koppelung an bestimmte Handlungen berücksichtigt. Besonders deutlich wird dies bei der „Grad-Konsekutivkonstruktion" mit so und der „emphatischen SO-Konstruktion". Beide teilen viele Gestaltmerkmale und könnten kontextfrei (d.h. nur über ihre

Konstruktionen in der Interaktion

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Semantik und Syntax) kaum als zwei unterschiedliche Konstruktionen beschrieben werden. Wenn dagegen sequenzielle Merkmale mit in die Beschreibung integriert werden, die für die Interpretation beider Konstruktionen zentral sind, wird eine Abgrenzung möglich: „Die Semantik der Modificata und die Prosodie sind allerdings nicht ausreichend, um zweigliedrige von eingliedrigen Konstruktionen zu unterscheiden. (...) Für die Entscheidung zwischen einer projektiven Lesart (...) und einer nicht-projektiven (...) muss vielmehr zusätzlich die sequenzielle Position im Gesprächszusammenhang herangezogen werden." Construction Grammar und Konversationsanalyse können sich bei einer Beschreibung von Gesprächsdaten insofern ideal ergänzen, als erstere die „sprachlich-strukturellen Wissensbestände" betont, die für die Produktion von Äußerungen vorauszusetzen sind und letztere durch ihre Ausrichtung auf interaktionale und kontextuelle Faktoren das Herausfinden aller relevanten Wissensbestände überhaupt erst ermöglicht. Mit der Rolle von Netzwerken bei der Beschreibung von Konstruktionen befassen sich auch die Beiträge von ARNULF DEPPERMANN, CHRISTINE GÖHL, SUSANNE GÜNTHNER, JOHANNES SCHWITALLA u n d HELMUT SPIEKERMANN & BENJAMIN STOLTENBURG.

(7) Die bisherigen Untersuchungen der Construction Grammar thematisieren Konstruktionen jenseits aktivitäts- und gattungs- bzw. textsortentheoretischer Fragestellungen. Empirische Arbeiten zeigen jedoch, dass eine große Anzahl von Konstruktionen aktivitäts- und gattungsspezifische Merkmale aufweist, bzw. Aktivitäten und Gattungen wiederum durch die Verwendung bestimmter Konstruktionen erzeugt werden. Somit stellt sich die Frage, durch welche gattungsspezifischen Vorgaben die strukturellen und inhaltlichen Merkmale von Konstruktionen auf der einen Seite beeinflusst werden, und wie der Gebrauch von Konstruktionen auf der anderen Seite eine spezifische Gattung als Interaktionsrahmen kontextualisiert. In ihrem Beitrag zu der unflektierten Form des Adjektivs lecker („Lecker Lachs!") gehen HELMUT SPIEKERMANN u n d BENJAMIN

STOLTENBURG der Frage nach, wie die unflektierte Verwendungsweise von lecker in Bezug zu den flektierten Verwendungsweisen dieses Adjektivs steht. Auf der Basis von Daten gesprochener Sprache sowie Internet-Chats und E-Mails untersuchen sie, welche konstruk-

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Susanne Günthner & Wolfgang Imo

tionalen Merkmale die unterschiedlichen Verwendungsweisen von lecker haben. Hierbei wird deutlich, dass der funktionale Unterschied, den unflektiertes lecker im Vergleich zur flektierten Form hat, darin besteht, „als Marker für informellen Sprachgebrauch oder vielleicht sogar für Jugendsprache" zu fungieren. Unterstützt wird diese Beobachtung dadurch, dass sich die unflektierte Form von lecker besonders häufig in Werbetexten finden lässt. Wie der Fall lecker zeigt, bedeutet eine umfassende Beschreibung im Sinne der Construction Grammar, dass auch Informationen über gattungsspezifische Verwendungsweisen in die Darstellung von Konstruktionen aufgenommen werden müssen, wenn eine Konstruktion bestimmten Verteilungsmustern unterliegt. KERSTIN FISCHER untersucht anhand der Floskeln get well, rather und okay, inwieweit situationales Wissen für die Einordnung und Interpretation von Konstruktionen notwendig ist. Dabei kommt sie zu dem Schluss, dass Konstruktionen zwar eine äußerst umfangreiche Liste an Merkmalen auf den unterschiedlichsten Beschreibungsebenen haben können, aber die Auflistung zahlreicher Parameter keinesfalls immer auch notwendig ist. So ist die Phrase get well nur im Kontext von Genesungswünschen bei einer Krankheit zu verstehen, Ersetzungen durch semantisch gleiche oder ähnliche Wörter sind nicht zulässig. Das Antwortsignal okay dagegen kommt zwar in zahlreichen hoch spezialisierten Kontexten und mit vielen Sonderfunktionen vor, die aber auf einen allgemeinen Konstruktionseintrag hin reduziert werden können: „Während für okay vieles gegen eine direkte Situationsanbindung spricht, ist eine situationeile Beschreibung von get well durchaus angemessen. Das heißt, als Semantik von get well kommt eine komplexe Szenenbeschreibung im Stil von Frame-Semantik in Frage. (...) Für die Vewendung von rather als Kontextualisierungshinweis dagegen sollte eine schematische, situationsunabhängige Repräsentation gewählt werden." Der Frage besonderer gattungs- und aktivitätsspezifischer Verwendungskontexte gehen z u d e m PETER AUER, ARNULF DEPPERMANN und ELIZABETH COUPER-KUHLEN & SANDRA A . THOMPSON nach.

Konstruktionen in der Interaktion

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Elizabeth Couper-Kuhlen

& Sandra A. Thompson

You know, it's funny: Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen 1. Einleitung

In dieser Arbeit gehen wir der Frage nach, wie die Untersuchung von Sprache und die Untersuchung von Interaktion einander befruchten können. Im Mittelpunkt steht die Fragestellung, was eine Untersuchung der Interaktion zu unserem Verständnis von „Sprachstruktur" beitragen kann — als Beitrag zu einer Forschungsrichtung, die in letzter Zeit als Interaktionale Linguistik bekannt wurde.1 Statt die „Sprachstruktur" als gegeben zu betrachten, möchten wir sie problematisieren, um ein besseres Verständnis davon zu bekommen, wie die von Sprachwissenschaftlerinnen als „Struktur" bezeichnete Geordnetheit in der Sprache beschaffen ist. Wir möchten zeigen, dass insbesondere eine Untersuchung sprachlichen Handelns in der Interaktion dazu geeignet ist, diese Frage zu beantworten. Im Zentrum der „Sprachstruktur" steht die so genannte „Grammatik", womit regelmäßige Muster auf der Laut- und Wortebene und größere Einheiten wie Phrasen, Teilsätze und Sätze gemeint sind. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass viele der Forschungsergebnisse in der Interaktionalen Linguistik zu einem radikal neuen Verständnis von ,Grammatik' beigetragen haben. Wie SCHEGLOFF (1996b) gezeigt hat, können wir vor allem in interaktionalen Situationen sehen, wie Grammatik arbeitet und infolgedessen konzipiert werden muss. Auf der interaktionalen Analyse von Grammatik beruhen drei bedeutende Erkenntnisse, die zu einem neuen Verständnis von Grammatik geführt haben. Die erste Erkenntnis ist die, dass die schablonenartigen, als „Grammatik" bezeichneten Muster deswegen existieren, weil Sprecherinnen routinemäßige Verfahren einsetzen, um damit soziale Handlungen zu

*

1

Die grundlegende Idee für diese Arbeit geht auf KLOCKE (2002) zurück, der wir für die Anregung Dank schulden. Wir möchten auch folgenden Kolleginnen für die wertvolle Diskussion über die in der vorliegenden Arbeit aufgeworfenen Fragestellungen danken: Peter Auer, Joan Bybee, Susanne Günthner und Paul Hopper. Elisabeth Reber und Dagmar Barth-Weingarten sind wir für die deutsche Übersetzung der englischen Vorlage verpflichtet. Hierzu die Thompson bibliography in der Literaturangabe.

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Elizabeth Couper-Kuhlen & Sandra A. Thompson

vollziehen. In der Tat scheint es so zu sein, dass die Art der gerade zu vollziehenden Handlungen in enger Beziehung mit der grammatischen Form von Turnkonstruktionseinheiten steht. Ein Beispiel hierfür ist die Tatsache, dass bestimmte Arten von Fragehandlungen eine nichtinterrogative Syntax motivieren (HERITAGE/ROTH 1995; siehe dazu auch WEBER 1993, SCHEGLOFF 1996b und HERITAGE 2002). Die mit der Grammatik realisierten Handlungen sind auch deshalb in hohem Maße interaktional, weil sie in sequenziell organisierte Handlungsabläufe eingebettet sind (SCHEGLOFF 1995, 1996a, b). Diese interaktionalen Dimensionen haben auch ihrerseits subtile Konsequenzen für die Wahl der grammatischen Mittel. Zum Beispiel haben die Arbeiten von FOX (1986, 1987) gezeigt, dass die Verwendung einer vollen Nominalphrase oder eines Pronomens in englischen Gesprächen in enger Verbindung mit der Struktur von Gesprächssequenzen steht. Eine zweite Erkenntnis, die aus der Analyse von Grammatik in der Interaktion stammt, besteht darin, dass grammatisches Wissen heißt: Wissen, wie sprachliche Handlungen miteinander auszuführen sind (CLARK 1992, 1996). Grammatisches Wissen stellt im buchstäblichen Sinne des Wortes geteiltes Wissen dar. Und da Äußerungen in Interaktionssituationen produziert und prozessiert werden, die im hohen Maße der Kontingenz unterworfen sind, wird die Grammatik andauernd gestaltet und umgestaltet. Mit anderen Worten, sie unterzieht sich ständig der „Neugestaltung, wenn sie in Alltagsgesprächen angewendet wird (HOPPER 1987, 1988, 1998). Die Arbeiten von GOODWIN (1979, 1980, 1981, 1989, 1995) haben gezeigt, dass grammatische Konstruktionen während des Entstehungsprozesses sehr sensibel auf die sich im Augenblick vollziehende verbale und nonverbale Rezipienz reagieren. Die Grammatik kann daher keine feststehende Eigenschaft von einzelnen menschlichen Gehirnen sein. Stattdessen muss sie als sozial distribuiert (Fox 1994, OCHS et al. 1996, SCHEGLOFF 1991), emergent (HELASVUO 2001a,b, HOPPER 1987, 1988, 1990, 1998), kontingent (FORD 2004) und durch und durch zeitlich (GOODWIN 2002, HOPPER 1992, SCHEGLOFF 1996a, b) angesehen werden. Ein dritter, auf interaktionalen Analysen basierender Beitrag für unser Verständnis von Grammatik ist die Erkenntnis, dass eine linguistische Perspektive sowohl interaktional als auch kognitiv realistisch sein muss, wenn sie den tatsächlichen Gebrauch von Sprache erklären will. Viele Forscherinnen haben das Konzept der Schemata als zentral für die Untersuchung sprachlichen Handelns in der Interaktion erkannt. Untersuchungen von Gesprächsdaten erhärten in beeindru-

You know, it's fanny: Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen

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ckender Weise die These, dass Sprecherinnen nicht nur auf lexikalisches Material, sondern auch auf Schemata zurückgreifen, die sie in rekurrenter Weise benutzen. Wie LANGACKER (1987) feststellt, können diese Formate auf allen Ebenen der sprachlichen Organisation auftreten, ζ. B. auf der phonologischen, der morphologischen und/oder der syntaktischen. Gerade solche Schemata werden aus der Perspektive der Interaktionalen Linguistik als Ressourcen oder Werkzeuge betrachtet, um Gesprächsbeiträge zu konstruieren und Handlungen zu vollziehen. 2 Das menschliche Gehirn ist - nach EDELMAN (1992) - an Funktionen des Erinnerns, Speicherns, Kategorisierens und Benutzens von Routinen, die sich für alltägliche Problemlösungen als nützlich erwiesen haben, hervorragend angepasst. Bei häufiger, die Synapsen stärkender Wiederholung kristallisieren sich Gewohnheiten aus diesen Routinen heraus, die wir ,Formate' nennen. Somit ist es am fruchtbarsten, Grammatik als eine Sammlung von formalen Konkretisierungen von sprachlichen Routinen (BYBEE 2001a,b, 2002a,b, BYBEE ET AL. 1994, Haiman 1994, 1998, Hopper 1987, 1988, 1998) zu betrachten. Was die Faszination dieser grammatischen Formate ausmacht, ist die Art und Weise, wie sie an bestimmte Arten von sozialen Handlungen und spezifischen interaktionalen Sequenzen gebunden sind. Über sprachliche Handlungen in der Interaktion zu sprechen heißt also, zu erschließen, wie eine Grammatik beschaffen ist, die als soziale Handlung und Interaktion verstanden wird. Es geht darum, grammatische Formate als interaktionale Praktikeri3 — d.h. als sedimentierte Verfahren zur Lösung rekurrenter kommunikativer Probleme - zu erfassen. Aus linguistischer Perspektive geht es aber auch darum, interaktionale Grammatiken anhand einer möglichst weiten Bandbreite von Sprachen zu untersuchen. Denn die Ressourcen, die jede Sprache ihren Sprecherinnen zur Verfügung stellt, unterscheiden sich. Folglich

2

3

Zu neueren Forschungsarbeiten, die Konstruktionen als Formate f ü r soziale Handlungen in Alltagsinteraktionen betrachten, siehe BYBEE (1998, 2001a, b, c, 2002 a, b), COUPER-KUHLEN (1996), COUPER-KUHLEN/THOMPSON (2005), FORD (2004), GOODWIN/GOODWIN (1987), HOPPER (2000, 2001, 2004), TAO (1996), TAO/MCCARTHY (2001), THOMPSON/HOPPER (2001), THOMPSON (2002) und die Beiträge in diesem Sammelband. Wir sind SCHEGLOFF f ü r den Hinweis zu Dank verpflichtet (Ζ. B. 1996a, 2001), dass grammatikalische Einheiten als aus den Notwendigkeiten im Gespräch entwickelte Einheiten verstanden werden müssen: „units such as the clause, sentence, turn, utterance,... all are in principle interactional units" (2001: 235).

Elizabeth Couper-Kuhlen & Sandra A. Thompson

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müssen wir fragen, wie dieselben Kommunikationsprobleme — vorausgesetzt, sie sind mehr oder weniger universell — in verschiedenen Formen grammatisch gelöst werden. Wir fragen dies, weil wir verstehen wollen, wie die Grammatiken unterschiedlicher Sprachen durch die Interaktion geformt werden. Wie viel Variabilität ist möglich? Wo sind die Grenzen der Variabilität? Umgekehrt fragen wir, in welchem Maße die unterschiedlichen, in den Sprachen der Welt identifizierten Grammatiken selbst interaktionale Praktiken formen. Auch hier lautet die grundlegende Frage: Wie wird die Interaktion durch die Grammatik geformt? Im Folgenden betrachten wir soziale Praktiken, die mit einem Format verbunden sind, das gemeinhin als „Extraposition" bekannt ist.

2. Die „Extraposition": Bisherige Beschreibungen Der Begriff „Extraposition" geht vermutlich auf OTTO JESPERSEN (1965) zurück, der zur Erläuterung Beispiele wie das folgende gibt: (1)

It really hurts me to be going away

JESPERSEN schreibt d a z u : When for some reason or another it is not convenient to put a content-clause in the ordinary place of the subject, object, etc., the clause is placed at the end in extraposition and is represented in the body of the sentence itself by it. (1965: 25)

Hierbei wird deutlich, dass JESPERSENs Beschreibung eine syntaktische ist. In Anbetracht der Tatsache, dass seine Daten aus einer großen Sammlung von geschriebenen Texten stammen, liegt dies freilich nahe. Zudem verwendet er einen offenkundig „transformativen" Ansatz für die Beschreibung der Konstruktion. Unseres Wissens basieren alle weiteren Diskussionen dieses Phänomens auf diesem Ansatz. ROSENBAUM ( 1 9 6 7 ) beispielsweise, d e r JESPERSEN f o l g t e u n d der,

wie es zu seiner Zeit üblich war, „simplicity" in der sprachwissenschaftlichen Beschreibung anstrebte, führte eine so genannte Extrapositionstransformation ein, welche ein Satzsubjekt so verschiebt, dass es seinem Verb folgt und durch ein it ersetzt wird.

(2)a. That John quit his job surprised me

"^Extraposition

You know, it's funny: Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen

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b. It surprised me that John quit his job

In dieser Bewegungsmetaphorik verharren auch QUIRK/GREENBAUM (1973:423):4 There are several devices that have the effect of removing an element from its normal position, and placing it towards or at the end of the sentence. ... We use the term EXTRAPOSITION for postponement which involves the replacement of the postponed element (especially a nominal clause) by a substitute form, subject + predicate —> it + predicate + subject (3)

It's a pity to make a fool of yourself (vgl.: To make a fool of yourself Is a pity)

Wir halten also fest, dass alle gängigen Beschreibungen — mit JESPERSEN angefangen — davon ausgehen, dass erstens Einheiten wie (2) a and b zueinander in Beziehung stehen; zweitens, dass die Version, die den Teilsatz in Subjektposition enthält, die „ursprüngliche" ist und dass die „extraponierte" Variante von der „nicht-extraponierten" Version „stammt". Unseren Erkentnissen nach aber ist keine dieser beiden Vorannahmen berechtigt, noch helfen sie uns zu verstehen, wie Sprecherinnen grammatische Strukturen als eine Ressource in der sozialen Interaktion gebrauchen.

3. Die „Extraposition": Korpusbeschreibungen

In letzter Zeit wurden Extrapositionen auch in größeren Textkorpora untersucht. So betrachtet ζ. B. ERDMANN (1990) Konstruktionen der Extraposition in einem Korpus aus vorwiegend britischem und amerikanischem geschriebenen Englisch. In Bezug auf Beispiele, die „sowohl extraponierte als auch nicht-extraponierte Konstruktionen erlauben", schreibt er: Analysis ... reveals a principle dominating the distribution between extraposition and non-extraposition - that of the weight of constituents and their sequence in the text. ... The heavier the predicate, the greater the

4

Zu weiteren funktionsgrammatischen Beschreibungen der Struktur als „Bewegung" s i e h e a u c h BERK ( 1 9 9 9 ) , CELCE-MURCIA/LARSEN-FREEMAN 1 9 9 9 , ( 1 9 7 6 ) , HUDSON ( 1 9 7 1 ) , MCCAWLEY ( 1 9 9 8 ) u n d QUIRK ET AL. ( 1 9 8 5 ) .

HUDDLESTON

Elizabeth Couper-Kuhlen & Sandra A. Thompson

28

probability that non-extraposition will be used; the lighter the predicate, the greater the probability that extraposition will be used (1990:137). (4)a.

It is obvious that the huge proportion of the population work because they have to ... (Daily Telegraph) b. That Wyatt had architecture in his blood is proved by the thirteen members of his family who were architects.(Sitwell, Architects)

Indem ERDMANN bei der Beschreibung der Konstruktion die Bewegungsmetapher und die damit verbundenen Annahmen übernimmt, geht er nicht nur davon aus, dass Äußerungen wie (2) a und b zueinander in Beziehung stehen, sondern dass Schreiberinnen eine Wahl zwischen einer „nicht-extraponierten" und einer „extraponierten" Version eines Satzes haben, je nachdem wie schwer das relative Gewicht der Konstituenten ist. In (4) a ζ. Β. wird das leichte Prädikat is obvious durch den schwereren Komplementsatz that the huge proportion of the population work because they have to, der danach kommt, ausgeglichen. In Beispiel (4) b andererseits ist das Prädikat des Hauptsatzes selbst schwer sowohl in Hinblick auf die Komplexität als auch die Anzahl der Wörter: is proved by the thirteen members of his family who were architects. In diesem Fall gleicht sich das Gewicht der Konstituenten im Satz aus, indem der Komplementsatz vor dem schweren Prädikat kommt. Auch wenn ERDMANN mit seiner These in Bezug auf schriftliche Texte Recht haben mag, ist für uns nicht schlüssig, was man daraus für den Gebrauch von Alltagssprache folgern kann. In unseren Gesprächsdaten haben wir nur sehr wenige Beispiele wie in (4) a und keine Beispiele wie in (4) b gefunden; Erdmanns Beschreibung hilft uns daher wenig für ein Verständnis von Konstruktionen der „Extraposition" in englischen Gesprächen. COLLINS (1994:7), der mit einem Korpus von heutigem schriftlichen und gesprochenen australischen Englisch arbeitet und ebenfalls davon ausgeht, dass es die Aufgabe des Forschers ist, die Wahl zwischen der „extraponierten" und der „nicht-extraponierten" Version „desselben" Satzes zu erklären, findet drei Kommunikationsfaktoren heraus, die die „Extraposition" beeinflussen: Gewicht, Information und Thema. In HOPPERs Grammatik des Englischen (HOPPER 1999:233), die zum größten Teil auf schriftlichen englischen Texten basiert, wird eine ähnliche These aufgestellt.

You know, it's funny: Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen

29

BIBER ET AL. (1999) liefern eine ausführliche Beschreibung der Konstruktion der „Extraposition" und ihrer Frequenz im Longman Spoken and Written Corpus, indem sie vier Genres vergleichen (Prosa-Literatur, Nachrichten, wissenschaftliche Texte und Gespräche). Zusätzlich setzen sie voraus, dass „extraponierte" Teilsätze „zur Informationsbündelung verwendet" werden (1999:42), und legen damit eine Wahl zwischen „extraponierten" und „nicht-extraponierten" Konstruktionen nahe. Ihre Beschreibung konzentriert sich aber in erster Linie auf die „extraponierte" Konstruktion selbst. Wir nehmen weiter unten Bezug auf spezifische Ergebnisse dieses Beitrags. Es muss mit Verwunderung festgestellt werden, dass keiner dieser Forscher an der Einheitlichkeit der „Extraposition" gezweifelt hat. Wir wenden uns nun unserer Untersuchung und den Belegen zu, die uns veranlasst haben, die traditionelle Beschreibungsweise in Frage zu stellen.

4. Auf der Suche nach der „Extraposition" in Gesprächsdaten

Unsere Untersuchung basiert auf Audioaufnahmen von 15 Gesprächen im amerikanischen Englisch, inklusive einer Auswahl aus dem Santa Barbara Corpus of Spoken American English. Diese Gespräche enthalten 94 Belege, die nach traditionellen Beschreibungen als Konstruktionen der „Extraposition" zu bezeichnen wären.5 Die Gespräche, aus denen die Belege stammen, wurden mehrfach angehört, um die Beispiele von „Extrapositionen" in ihren natürlichen Kontexten zu erfassen. Aus unseren Untersuchungen lassen sich drei wichtige Ergebnisse ableiten. Bei der folgenden Besprechung übernehmen wir den Begriff „Extrapositionskonstruktion" oder einfach „Extraposition" als Bezeichnung für Konstruktionen der Form: (5) (6)

5

I t h i n k it's v e r y p l e a s a n t to run (MC 2 5 ) It's p o s s i b l e s e e that I w o u l d change (MC 2 9 b )

Die Belege aus dem Corpus of Spoken American English sind nach Du BOIS ET AL. 1993 transkribiert (siehe Aufstellung der wichtigsten Konventionen im Anhang). Alle andere Belege sind so weit wie möglich an das Transkriptionssystem GAT (SELTING ET AL. 1998) angepasst.

Elizabeth Couper-Kuhlen & Sandra A. Thompson

30

Ergebnis #1: Die Gesprächsdaten liefern keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen Äußerungen mit extraponierten Konstruktionen und Äußerungen mit Satzsubjekten. Wir sehen daher keine Veranlassung, eine Analyse zu konstruieren, die zwei Äußerungen in der Form von ROSENBAUMS ( 2 ) a and b zueinander in Beziehung setzt: (2)a. b.

That John quit his job surprised me -»Extraposition It surprised me that John quit his job

Ergebnis #2: Konstruktionen, die unter dem Namen „Extraposition" laufen, schließen immer eine evaluative, epistemische oder evidenzielle Rahmung eines Äußerungsabschnitts durch einen anderen ein. BIBER ET AL. (1999) beschreiben diese Rahmung als das Einnehmen eines Standpunkts oder einer Einstellung. Unter (7) zeigen wir den Fall einer evidenziellen Rahmung aus unserem Material: (7)

It turns out

X

as a spouse, I get in free.

Y

(LB 12 9.40)

Die Gesprächsdaten zeigen, dass die beiden Teile, in Beispiel (7) als X und Y bezeichnet, scharf getrennt werden müssen, wie unter (8) schematisiert: (8)

X = der rahmende Teil = it + Prädikat Y = der gerahmte Äußerungsabschnitt

Die mit X bezeichneten Teile, also die evaluativen, epistemischen und evidenziellen Ausdrücke, sind im Allgemeinen formelhaft. Sie stellen nach BIBER ET AL. (1999: 989ff) „Wortbündel" dar und projizieren weitere Rede, d.h. das Material, das sie rahmen.6 Ergebnis #3: Nach den Gesprächsdaten zu urteilen, ist die „Extraposition" keine einheitliche Konstruktion. Um zu erfassen, was Sprecherinnen tun, halten wir es für nützlich, zwischen (wenigstens)

6

Zu Projektion siehe u.a. folgende Literaturangaben: AUER (2005), FORD (2001 a, b), FORD/THOMPSON ( 1 9 9 6 ) , GOODWIN ( 1 9 7 9 , 1 9 8 1 , 1 9 8 6 , 1 9 8 9 , 1 9 9 5 , 2 0 0 2 ) , HAYASHI ( 2 0 0 4 ) , LERNER ( 2 0 0 2 ) , LOCAL/KELLY ( 1 9 8 6 ) , STREECK ( 1 9 9 5 ) , STREECK/KNAPP ( 1 9 9 2 ) , SZATROWSKI ( 2 0 0 2 ) , TANAKA ( 1 9 9 9 , 2 0 0 0 ) , THOMPSON/COUPER-KUHLEN

(2005) sowie GÖHL, BIRKNER und DEPPERMANN in d i e s e m Band.

You know, it's funny: Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen

31

zwei Typen von Konstruktionspraktiken zu unterscheiden: jenen, die finite Ys enthalten und jenen, die nicht-finite Ys enthalten. In beiden Fällen stellen wir die These auf, dass der X-Teil einen folgenden Y-Teil projiziert. Jedoch ist das Verfahren der Projektion in den beiden Typen verschieden. Wir betrachten zunächst den nicht-finiten Typus. Typ 1: [X + nicht-finites Y] Zur Gruppe der [X + nicht-finites Y] — Konstruktionen, die ca. 40% unseres Datenmaterials ausmachen, gehören folgende Fälle: (9) (10) (11) (12)

I think it's very pleasant to run (MC 25) So I guess it's time for me to become a priest (LB 13b) It's easy for me to pop down (cs 6:19) I said, you know, it's a little difficult having three in the same bedroom (cuz 996.92)

Wie diese Beispiele veranschaulichen, ist der Y-Teil, wenn er nichtfinit ist, für gewöhnlich ein einziger Teilsatz und in 80% der Fälle nicht von X separiert. Das heißt, dass die Daten auf der prosodischen und grammatischen Ebene darauf hindeuten, dass [X + nicht-finites Y] eine lexikalisch offene Konstruktion ist, die in hohem Maße grammatikalisiert ist (vgl. BYBEE 1998, FLLLMORE 1989, 1996, FILLMORE ET AL. 1988). Dieser Typus kommt sowohl im schriftlichen als auch im gesprochenen Englisch vor (siehe BIBER ET AL. 1999 und MAIR 1990). Wir stellen daher die Hypothese auf, dass Äußerungen wie jene in (9)(12) Beispielfälle für eine Konstruktion sind, die als ein einheitliches Format gelernt und gebraucht wird. Wir halten darüber hinaus fest, dass die Projektion, die durch den X-Teil geleistet wird, als syntaktische Projektion bezeichnet werden kann; das heißt, dass die Syntax von Y typischerweise insofern durch X festgelegt wird, als das Prädikat von X eine daran anschließende nichtfinite Form „fordert". Typ 2: [X + finites Y] Ungefähr 60% unserer Sammlung wird durch Fälle gebildet, in welchen der Y-Teil finit ist. Zusätzlich zu Beispiel (7) oben, das als (13) wiedergegeben wird, folgen hier zwei weitere Beispiele, die eine Extraposition mit finitem Y illustrieren:

Elizabeth Couper-Kuhlen & Sandra A. Thompson

32 (13) (14) (15)

It turns out as a spouse, I get in free (LB 129.40) It seems weird, that that's like that (AB 22) So it turns out, that she wouldn't get out of the car with Arnold and Lisabeth (cuz 368.49)

Im Gegensatz zu jenen Äußerungen, in welchen das Y der Extrapositionskonstruktion nicht-finit ist, finden wir in diesen Fällen Hinweise darauf, dass für Sprecherinnen die X- und Y-Komponenten eher als zwei separate „Teile" charakterisiert werden können, die kognitiv getrennt voneinander gespeichert und interaktional gebraucht werden. 89% unserer Beispiele mit [X + finites Y] (51/57) haben Eigenschaften, die in hohem Maße nahe legen, dass sie für Sprecherinnen keine einheitliche Konstruktion bilden. Wir erhärten diese Thesen unten. In Fällen mit einem finiten Y-Teil ist also festzustellen, dass der XTeil nichts in seiner Form Festgefügtes projiziert. Der X-Teil schafft zwar einen Raum für Y und sorgt für eine Einstellung gegenüber Y, aber Y kann von X getrennt werden, Y kann viele unterschiedliche Formen annehmen, Y kann eine oder keine „satz"einleitende Konjunktion haben und kann eher bloß inferiert als ausgedrückt werden, wenn es stark genug projiziert wird.7

5. Finite Fälle im Datenmaterial Im Folgenden möchten wir uns auf die finiten Fälle von „Extrapositionen" im Datenmaterial konzentrieren, d.h. auf die 57 von 94 Fällen (61%) mit dem Format [X + finites Y].8 Es zeigt sich, dass sie grammatische, prosodische, interaktionale und kognitive Eigenschaften aufweisen, welche unseres Wissens bislang nicht in der Literatur diskutiert worden sind. Wir legen u.a. Belege für die These vor, dass X und Y eher als zwei separate „Teile" zu charakterisieren sind, die ge-

7 8

Vgl. COUPER-KUHLEN/THOMPSON (2000) und (2005) zum Ausbleiben von projiziertem Material in einem anderen grammatischen und interaktionalen Muster. Wir haben keine Fälle mitgerechnet, in denen it eindeutig als referenziell verstanden wird, wie in (i): (i) I think it'll be real interesting, (DD 15.6) (it = Diavorführung) Wir erörtern unten die Implikationen der Beispiele, in denen dafür argumentiert werden kann, dass it sowohl referenziell als auch nicht-referenziell ist. ,ί'ί-clefts' (wo X = it + NP) wurden ebenfalls nicht mitberücksichtigt, wie in (ii): (ii) it's Daniel calling for our order (gnl)

33

You know, it's funny: Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen

trennt voneinander kognitiv gespeichert und interaktional gebraucht werden. 5.1. X schafft einen evaluativen, epistemischen bzw. evidenziellen Rahmen für die Handlungen, die Y durchführt 9

Die folgenden Beispiele veranschaulichen je einen dieser Rahmentypen: evaluativ (16)

I mean it's really nice; you would sit on the floor (MC 10b)

epistemisch (17)

It's possible see that I would change

(MC 29b)

evidenziell (18)

It is patently obvious, active principle (CP 13a)

that

man

is

the

highest

5.2. Der X-Teil kann von dem finiten Y-Teil prosodisch und lexikalisch getrennt sein

Die Tatsache, dass X und Y getrennt auftreten, kann als Beleg für die Hypothese betrachtet werden, dass die bisher als einheitlich interpretierte „Konstruktion" sich aus zwei verschiedenen Mustern zusammenfügt. In der Tat besteht der Y-Teil in [X + finites Y] oft aus mehreren syntaktischen bzw. prosodischen Einheiten. Prosodischer Bruch Ausschnitt (19) veranschaulicht einen prosodischen Bruch zwischen X und Υ; X und Y werden in zwei separaten Intonationseinheiten realisiert. Überdies endet in diesem Fall die erste Einheit mit einer als „final" bezeichneten Intonation: Ihr Tonhöhenverlauf fällt in einen tiefen Bereich des Stimmumfangs des Sprechers ab. (19) din 16 it's amazing to me. how many people stayed on.

9

Siehe

auch

BIBER ET AL. ( 1 9 9 9 :

673),

KÄRKKÄINEN ( 2 0 0 4 ) ,

THOMPSON ( 2 0 0 2 )

Erörterung einer ähnlichen Funktion bei „complement-taking predicates".

zur

34

Elizabeth Couper-Kuhlen & Sandra A. Thompson

Der folgende Ausschnitt veranschaulicht ebenfalls einen prosodischen Bruch zwischen X und Y. Sprecherin Mi, die eigentlich nie Minigolf spielt, erzählt von ihrem Glückstreffer: (20) MC 32 1

5

10

15

20

Mi:

and so i was just batting this thing up there, it fell in the hole, and rolled out, and lo and behold i get this hole -in one. and i started jumping around saying, look at this, i thought it was so funny, (.) that i got this hole in one. and my boyfriend, (.) looked at me:, and: i'm sure he must have believed me. (.) but the two people, the other cousins, (.) did not believe me, and they: they didn't say it directly, but they inferred through conversation that, i was to play it again. they would not give me credit for the hole in one.

Der X-Teil / thought it was so funny (Z. 8) ist durch das Ende der Intonationseinheit und durch eine Mikropause von dem Y-Teil (Z. 9) getrennt. Die finale Tonhöhe von X ist hier nicht tief fallend, sondern sie fällt nur in einen mittleren Bereich im Stimmumfang des Sprechers ab. Das heißt, dass zusätzlich zu der lexiko-syntaktischen Projektion von I thought it was sofimny die Prosodie weitere Rede projiziert. Ausschnitt (21) zeigt nicht nur einen prosodischen Bruch zwischen X und Y, sondern illustriert eine Eigenschaft, die die meisten unserer Fälle mit [X + finites Y] besitzen: Der Y-Teil besteht oft aus mehr als einem Teilsatz. Y ist in diesem Fall sogar eine kleine Erzählung, welche wiederum einen Teil einer längeren Erzählsequenz bildet:

You know, it's funny. Eine Neubetrachtung der „Extraposition" im Englischen

35

(21) CSAE, cuz 368.4910 (Alina und Lenore unterhalten sich über Alinas kleine Nichte, Cassandra.) 1

ALI:

5

10

15

20

LEN: ALI:

(H) And c a b r i o noch den zylindertescht>, (—) « a l l > d a n n du mer=n kurz (-) nach de schaldung kucke>, un dann geh mer awwer also wirklich an den audi achzik. (BAßLER 316,5ff.; einziges tun eines Ausbilders) 3.3.2. Versprechen Wie Futur 1 kann tun ein Versprechen ausdrücken. Beispiele: Kunde an einem Kiosk: ich du=s no:her mitbezahle wenn ich vum arzt kumnv, (MAURER/SCHMITT 63,167ff.); Klient in einem Sozialamt: wer[de] ich auch: (-) klarkommen, da (-) «all>ich werd kucken wie ich machen tu.> (IDS 38); Professor in einem Gremium: DES du ich NACHträglich kennzeichnen (HB 25). 3.3.3. Drohung27 Eine Grazer Mutter sagt zu ihrem ungefähr anderthalb Jahre alten Sohn Edi, der im Sandkasten spielt: edi häar auf zum sauntschmeißen i hau di aufi (—) [...] edi (-) woat owa hait tua=ma koupfwaschen auf d=nocht (PENZINGER 192)

3.3.4. Fester Vorsatz Eine Mutter sagt in einer schulischen Beratung: und sie [die Tochter] weiß auch? (-) dass ich sie jetzt schon öfter kontrolliert hab. und tu auch doch (-) hin und wieder mal kontrollieren. OB es stimmt, gell? (IDS 34).

27

ERBEN (1969, 50) zitiert die (spaßhafte?) Drohung aus OCHS (1925, 595): ward i due di glebfe = ,ich knalle mit der Geißel nach dir'. Drohung mit tun auch ironisch: Ein Mann kommt zu einer SPD-Frauengruppe und sagt: isch bin von der ce de U und du eusch beOBachde (42/6,1).

Kommunikative Funktionen von tun als Hilfsverb

145

3.3.5. Vorschlag für gemeinsames Handeln

In der 1. P. PI. kommt tun oft bei Planungen gemeinsamer Unternehmungen, bei Überlegungen zu einer Lösung eines Problems und bei Vorschlägen vor, oft schon mit implizit unterstellter Zustimmung: A: es soll ja erst wieder am MONtag schön werden. B: ja dann tun wer des verSCHIEben, (HB 4); dann tun wer des vom Wetter abhängig machen (HB 7); dann tun wir einfach kurzfristig entscheiden (HERRMANN 106); Prof: dann lass ich mir=ne Quittung geben. Sekr: und DIE tun wer dann WEItergeben. (HB 31); auch als negierter Vorschlag: jetzt tun wir aber die kirche DOCH nicht mehr besichtigen (HB 22). 3.4. Adressatenanpassung, Babytalk

Ähnlich wie sich Standardsprachesprecher zumindest stellenweise phonetisch an Dialektsprecher anpassen, tun dies manche Standardsprecher auch mit tun. Das auffallendste Beispiel kommt aus einem ArztPatienten-Gespräch in einer Münchner Klinik ( R E D D E R / E H L I C H 278297). Die aus dem Banat stammende, nicht-akademische Patientin verwendet ziemlich häufig in unterschiedlichen Satzarten tun', im Ganzen sechsmal auf sieben Druckseiten: tun=s halt mei tochter [fragen], schwer haben tu ich nicht, etc. Während dieser Zeit vermeidet die Ärztin Tun-Umschreibungen. Nach dem sechsten Mal der Patientin sagt die Ärztin zunächst im Konjunktiv: aber hören tät=s [das Ohr] gut wenn=s frei wäre (ebd., 285,125f.).28 Danach verwendet sie immer wieder tun: sechsmal als Imperativ (tun se=s bitte verräumen, tun=s mal bitte husten, tun=s mal grinsen etc.) und einmal als Handlungsankündigung {da tun mer morgen blut abnehmen', ebd., 295).29 Ein spezieller Fall der Adressatenanpassung ist tun im Babytalk. In mehreren Dialektwörterbüchern wird angenommen, tun werde oft von Kindern gebraucht. Die Überprüfung von 100 Seiten im Textband Kindersprache von R A T H u.a. (1987) ergab Fehlanzeige sowohl bei den Betreuern wie bei den sechs- bis zehnjährigen deutschen Kindern. In den Gesprächen zweier Eltern mit ihrem einjährigen Sohn sagen die Eltern achtmal tun, der Sohn nur einmal ( B U C H H O L Z ) . In den Gesprächen von Eltern mit ihren Kindern bei P E N Z I N G E R sagen die Kinder

28 29

Ein ähnliches Beispiel des Konjunktivs täte eines Arztes in München (REDDER/EHLICH 315,1 Iff.). Ein ähnliches Beispiel bei SACHWEH (87,455).

Johannes Schwitalla

146

kein einziges Mal tun, die Eltern und Verwandten jedoch 25mal, davon 17mal als Imperativ. 30 Es scheint, dass Tun-Konstruktionen eher zum Babytalk gehören. Dafür spricht, dass das einzige Kleinkind, das zum Kiosk der Aufnahmen von MAURER/SCHMITT kommt, prompt gefragt wird: tuschd dein bruder unterstütze hä? (MAURER/ SCHMITT 127,268). Auch einige Fälle von tun als Handlungsankündigungen, welche Pflegerinnen an alte Personen richten, können wohl als Secondary Babytalk interpretiert werden: tu mer HIER noch waschen ?; dann tu ich de POpo wasche; ich tu ihne noch e bissle de RÜcke abreibe (SACHWEH 134, 159, 216). Vom Babytalk wird tun auch auf das Sprechen mit Hunden übertragen (mit kindlicher Stimme: du=du [= tust du] des gern fresse ja:; do mu=du [= musst du] des fresse man (MAURER/SCHMITT 74,235ff.; vgl. 171,57)). 3.5. Themenfokussierung Tun-Konstruktionen kommen an Bruchstellen von Dialogen vor, wenn man zu einer neuen Tätigkeit (s. 3.3.1.) oder zu einem neuen Thema übergeht. Bei einem Themenwechsel wird aber nicht das neue Thema, sondern das Rhema mit tun formuliert (vgl. das Beispiel in 2.6.: ja und DU, des ZEUCH für die juliAne; ne? tust ihr des Alles SCHENken?). Eine Mutter spricht lange von ihrer Tochter; dann wechselt sie das Thema zu deren Lehrern: un wenn man aber jetzt mit den lehrern spricht, dann (-) is es gar nicht so; gell? dann tun die das richtig erklären (IDS 2) Tun-Umschreibungen markieren auch die Rückkehr zu einem früheren Thema. Bei einer Dialekterhebung kommt der Interviewer auf ein zuvor besprochenes Thema zurück: das „Gluppen" (= mit einer Maschine einen Baumstamm ergreifen). Vor dem Ausschnitt wurde vom Sägen gesprochen. Der Interviewer sagt: was i sie fraga wollt, glubba. also en

30

Beispiele mit Seitenzahlen aus PENZINGER: tu schön sitzi bleim (38); tu sand spü:n (41); tue net so vü re(d)n tue essn (173); tue jo net neidig sein (192); tue net immer saontschmeißn (193); tue schön aufstehn (234). Einmal (144) in einem Fragesatz und 5mal in einem Aussagesatz in 2.P.Sg. mit Aufforderungsfunktion, 7mal in einem Aussagesatz mit der Funktion Information. Eine Folge von Aufforderungen lautet: und du wartest dann auf den vati, tust spieln, gehst gleich in dein zimmer hinauf, und tu nix anstelin (42).

Kommunikative Funktionen von tun als Hilfsverb

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dr midde vom stamm dut mr glubba. was isch des? (RUOFF 203,173ff.; einziges tun des Interviewers in zehn Texten). Wieder wird zuerst mit einem freien Thema das Gluppen thematisiert, dann erst das Rhema mit tun weitergeführt.

4. Schluss: Tun als grammatische Konstruktion des gesprochenen Deutsch Die allgemeine Funktion von tun als Hilfsverb liegt darin, die Semantik des Verbs hervorzuheben und dadurch verschiedene monologische und dialogische Handlungen zu ermöglichen. Ob tun eine bestimmte semantische Funktion hat (ζ. Β. ,iterativ' im Beispiel des Weinbauern in 2.5.), müsste für bestimmte Dialektregionen nachgewiesen werden. Oft enthalten Adverbien die Aspektbedeutung. Tun hat eher eine Ermöglichungsfunktion: Es ermöglicht eine stärkere, im Vorfeld sogar eine sehr starke Betonung des Verbs, und es lässt auch in Nebensätzen das Verb in seiner infiniten Form erscheinen. Aus den Belegen ergibt sich, dass tun oft in einer Äußerung steht, die eine besondere Sprechereinstellung hat, sei sie die Tatsächlichkeit der Proposition, eine emphatische eigene Meinung, die intensivierte Wiederholung oder Fortführung einer Aussage, eine feste Absicht (wie Futur 1), ein Vorschlag, von dem man annimmt, dass er akzeptiert wird, die Präferenz bei einer Alternative oder die stärkere Gewichtung einer Seite eines Gegensatzes. Dabei wird tun oft von phonetischen Hervorhebungen (Codeswitching) oder rhetorischen Formulierungsverfahren begleitet (syntaktischer Parallelismus, Wiederholung, Paraphrase, Chiasmus, Antithese). Prinzipiell wird mit der Tun-Umschreibung mehr Aufmerksamkeit vom Hörer erfordert. Sie eignet sich deshalb für die Prädikation zu einem neuen Thema. Die Tun-Konstruktion erweist sich damit als ein gutes Beispiel für eine geläufige Konstruktion im gesprochenen Deutsch. Süddeutsche Sprecher (und solche aus Österreich und der Schweiz) bedienen sich ihrer fast automatisch, um das, was es mit dem Vollverb auf sich hat, stärker zu betonen. Wie bei anderen Fokussierungskonstruktionen - z. B. Pseudospaltsätze (was ich jetzt noch brauche, ist ...; siehe G Ü N T H N E R in diesem Band), im Englischen take als Thematisierungsausdruck ( H O P P E R 2004); nominale Extrapositionen (it's amazing things children say, M I C H A E L I S / L A M B R E C H T 1996; siehe C O U P E R K U H L E N / T H O M P S O N in diesem Band) - besteht die Tun-Konstruktion aus einer relativ festen syntaktischen Grundstruktur, die in einer

148

Johannes Schwitalla

Position mit Wörtern „gefüllt" werden kann, die von der Funktion der ganzen Konstruktion her semantisch beschränkt sind (hier: agentive Verben).31 Die Tun-Konstruktion hat prosodische Folgen: Sie lenkt den Akzent auf das Verb. Sie steht wie andere Konstruktionen in einem Netz alternativer Möglichkeiten: Verumakzent; Wiederholung des Verbs nach Abschluss des Satzes (STRAfen sollte man dich. STRAfen, ERBEN 1972, 270); die Verwendung eines Verbs in einem Rahmen von Ergänzungen, die nicht zum Verb passen (Pat sneezed the foam off the cappuccino) und dadurch die Aufmerksamkeit auf das Verb als kausale, hervorgebrachte oder begleitende Handlung lenken (GOLDBERG 1995, 10f.; GOLDBERG 1997); Ergänzungsweglassung zur Fokussierung des Verbs als aktuelles Tun, als prinzipielle Eigenschaft bzw. Fähigkeit oder als Kontrast (er wohnt nicht, er haust, PASCH 1977); VerbErststellung, um die Handlungen in einer Erzählung hervorzuheben (GÜNTHNER 2000, 13f.). Selbst wenn mit einer Tun-Konstruktion nicht das Verb fokussiert wird, kann die schnelle Besetzung der zweiten Satzposition mit tun dem Sprecher Zeit verschaffen zu überlegen, welches Verb er/sie wählen soll, den Hörer aber darauf gespannt machen (vgl. das Beispiel in 2.7.). Dies hat tun mit anderen Techniken des „Hinausschiebens" der eigentlichen Aussage gemein (Pseudospaltsätze: HOPPER 2001, 122f.; GÜNTHNER in diesem Band). Schließlich erweist die relativ häufige Verwendung von tun in Süddeutschland auch bei akademischen Sprechern, wie sehr die Construction Grammar Recht hat, nicht einen zentralen Kern der Grammatik von weniger wichtigen Randphänomenen zu unterscheiden.

31

Außer bei Sprechern, die tun idiolektal sehr häufig verwenden; vgl. die Beispiele in Anm. 13. Auch im Süden wird tun mit nicht-agentivem Verb kritisch gesehen. ERNST OCHS berichtet von einem Lehrer in Euenheim, „der so stark zu solch schlapper Fügung [neigte], daß ihm eines Tages ein Schüler Pflanzen überreichte mit den Worten: ,Was tut das sein?' worauf eine Ohrfeige kam mit der Antwort: ,Das tut Cardamine pratensis sein'" (OCHS 1925,593).

149

Kommunikative Funktionen von tun als Hilfsverb

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Dagmar

Barth-Weingarten

Parallel-opposition-Konstruktionen: Zur Realisierung eines spezifischen Ausdrucks der Kontrastrelation 1. E i n l e i t u n g 1

In der Construction Grammar werden Konstruktionen gesehen als „holistic entities which embody varying degrees of lexical and syntactic , i d i o m a t i c i t y " ' ( C O U P E R - K U H L E N 1 9 9 6 : 4 0 4 , F I L L M O R E 1 9 8 8 , FLLLMORE/KAY/O'CONNOR 1988, FILLMORE/KAY 1995). D a s heißt, sie

sind nicht durch Grammatik, Lexikon und die Prinzipien der kompositionalen Semantik abgedeckt. Damit benötigen die Gesprächspartnerinnen spezifisches Wissen, um sie bilden und verstehen zu können (FLLLMORE/KAY/O'CONNOR 1988: 504). Konstruktionen zeichnen sich aus durch grammatische, d.h. syntaktische, ebenso wie semantische und pragmatische

Eigenschaften

(FILLMORE

1988)

und,

wie

COUPER-

KUHLEN ergänzt, „schematic prosodic configurations" (1996: 404), und sie dienen als abstrakte Schablonen für den Ausdruck semantischpragmatischer Relationen (COUPER-KUHLEN 1996: 407). Als eine solche Ressource, und zwar zum Ausdruck von Kontrast, können die Konstruktionen gesehen werden, die ich im Folgenden parallel-opposition-Konstruktionen nenne. Sie sind zwar weniger idiomatisch als beispielsweise Zei-a/one-Konstruktionen (FILLMORE/KAY/ O'CONNOR 1988), haben aber eine grammatische Struktur, die als Schablone genutzt werden kann: Diese Struktur unterstützt die spezifische semantische Interpretation lexikalischer Einheiten, nämlich die Interpretation kompatibler Einheiten als im Kontrast stehend. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, hat sie außerdem eine Reihe spezifischer semantisch-pragmatischer, syntaktischer, lexikalischer, prosodischer und sequentieller Eigenschaften, die sie von anderen Konstruktionstypen unterscheiden. Parallel-opposition-Konstruktionen sind kein in der Grammatik etablierter Konstruktionstyp. Sie finden sich jedoch in auffällig einheitlicher Form in zwei Kontexten: zum einen in der Konnektorenfor-

1

Dieser Beitrag ist Günter Rohdenburg zu seinem 65. Geburtstag gewidmet. Er entstand im Rahmen eines Forschungsstipendiums zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Land Sachsen-Anhalt. Ich danke den Herausgeberinnen für ihre Kommentare zu einer früheren Version des Beitrags.

Dagmar Barth-Weingarten

154

schung, und zwar im Zusammenhang mit der Beschreibung von semantic-opposition but. Hier finden sich Beispielsätze der Art (1) (2)

John is rich but Bill is poor. (LAKOFF 1 9 7 1 : 1 3 3 ) Susan is tall but Mary is short. (BLAKEMORE 1 9 8 7 : 1 2 5 )

Zum anderen lassen sich solche Konstruktionen in der Rhetorical Structure Theory (RST) beobachten, und zwar beim Ausdruck der Neutral Contrast-Relation: (3)

Animals heal, but trees

compartmentalize.

(MANN/THOMPSON 1 9 9 2 : 3 8 )

Allerdings beschäftigte sich die etablierte Konnektorenforschung bisher weitestgehend mit introspektiven Beispielen, und die Beschreibung der Neutral Contrast-Relation der RST beruht vornehmlich auf geschriebener Sprache. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sich diese Art von Konstruktion im Sinne eines Konstruktionstyps auch im tatsächlichen Diskurs, und zwar insbesondere in gesprochener Sprache, finden lässt. Nach der Beschreibung ihrer Realisierungsformen, d.h. ihrer syntaktischen, semantisch-pragmatischen, prosodischen, lexikalischen und sequentiellen Eigenschaften, wird argumentiert, dass es sich dabei um eine Konstruktion im Sinne der Construction Grammar handelt.

2. Die Eigenschaften von parallel-opposition-Konstraktionen Forschungsliteratur

in der

2.1. Konnektorenforschung Seit LAKOFFS ( 1 9 7 1 ) Artikel hat kaum eine Diskussion zur Bedeutung von but die von ihr als symmetrisches but bezeichnete Variante ausgelassen. Dabei wurde die Mehrzahl der LAKOFFschen Kriterien für semantic-opposition but übernommen (vgl. zum Beispiel ABRAHAM 1 9 7 9 , LANG 1 9 8 4 , RUDOLPH 1 9 9 6 , SPOOREN 1 9 8 9 , FOOLEN 1 9 9 1 , OVERSTEEGEN 1 9 9 7 , Β RAUBE 1 9 9 8 , s . a . SPILLNER 1 9 7 1 : 2 5 1 ) . S o e r fordert symmetric but nach LAKOFF ( 1 9 7 1 : 13 Iff) ein gemeinsames

Thema der Konjunkte, die Subjekte der beiden Sätze werden in einer Eigenschaft kontrastiert, wobei der erste Teil keine Schlussfolgerung über den zweiten Teil zulässt. Deshalb, so behauptet sie, sind die Konjunkte ohne Bedeutungsänderung vertauschbar. Bezüglich der syntakti-

Parallel-opposition-Konstruktionen

155

sehen Eigenschaften bemerkt LAKOFF eine Parallelität der Verbformen der Konjunkte in Zeitform, Aspekt etc. Dies lässt sich an LAKOFFs Beispielen beobachten: (4) (5) (6) (7)

John is tall but Bill is short, (ibid.: 133) John hates ice cream but I like it. (ibid.) Fords can go fast, but Oldsmobiles are safe, (ibid.: 135) George likes Peking duck, but all linguists are fond of curry. (ibid.: 139)

Diese Beispiele sind auch insofern interessant, als dass sich hier bestimmte Konstruktionsmuster andeuten, die sich in der Konnektorenforschung der LAKOFFschen Tradition wiederfinden lassen. So bilden die Subjekte und ihre Eigenschaften auch in den folgenden Beispielen Kontrastpaare: (8) (9) (10)

He is a boy, but his name is Maria. (ABRAHAM 1979: 102) John is tall, but Bill is short, (ibid.: 104) Susan is tall but Mary is short. (BLAKEMORE 1 9 8 7 : 1 2 5 )

Ebenso für das Deutsche: Hans ist groß, und/aber Fritz ist klein. ( B R A U ß E 1 9 9 8 : 1 4 3 ) (12) Hans ist groß, aber Fritz ist klein. (LANG 1991: 617) (13) Hans ist groß, aber Fritz ist nicht groß, (ibid.) (14) Während Hans gut war, war Grete schlecht. (SPILLNER 1 9 7 1 : (11)

253)

(15) Anton hat eingekauft, aber Bruno hat nicht eingekauft. (UMBACH/STEDE in Vorb.: 8)

Eine zweite Gruppe bilden Beispiele, bei denen nur die unterschiedlichen Eigenschaften eines Subjektes kontrastiert werden. (16) John is rich but dumb. (LAKOFF 1971: 133) (17) Anna ist klug, aber häßlich. (LANG 1991: 618, BRAUßE 1998: 143)

(18) He is a small guy, but very famous. (ABRAHAM 1979: 102)

Dagmar Barth-Weingarten

156

Anhand dieser Beispielgruppen lassen sich folgende zwei Konstruktionsmuster herausarbeiten: I)

AΧΒΥ

mit zwei Kontrastpaaren, wobei jeweils die Subjekte und ihre Eigenschaften kontrastiert werden, und II)

ΖXY

mit einem Kontrastpaar, wobei zwei Eigenschaften eines Subjektes kontrastiert werden (vgl. auch SPILLNER 1971). OVERSTEEGEN (1997) weist noch auf eine dritte Variante hin: zwei2 kontrastierende Paare in Nicht-Subjektspositionen, wie in (19) On Mondays Mat plays volleyball but on Thursdays he plays hockey. (OVERSTEEGEN 1997: 61)

(20) Maybe Mat is telling the truth but it is also possible that he is lying, (ibid.: 61) Dies kann als Konstruktionsvariante III formalisiert werden, mit Ζ als gleichbleibendem Subjekt: III)

ZAXZ'BY

In der übergroßen Mehrheit der angegebenen Beispiele werden die Konjunkte mit but verbunden. LAKOFF (1971: 142) hebt allerdings hervor, dass but in der Umgangssprache durch while ersetzt werden kann. Außerdem weist BLAKEMORE (1987: 13Iff) darauf hin, dass der Kontrast auch implizit bleiben oder durch Koordination ausgedrückt werden kann. (21) Susan is tall. Mary is short. (22) Susan is tall and Mary is short.

2

OVERSTEEGEN hebt in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Anzahl der kontrastierenden Paare - eines bzw. drei - hervor. Ich sehe allerdings in ihren Beispielen nur jeweils zwei Paare, lediglich die Satzgliedfunktion ihrer Trägerposition unterscheidet sich.

Parallel-opposition-KonstTaktionen

157

Hier würden dann andere sprachliche Signale wie etwa ein paralleles Intonationsmuster (fallend-steigend und fallend) zum Tragen kommen. SPILLNER (1971) hebt außerdem die Bedeutung des Kontrastakzents hervor. Bezüglich der lexikalischen Füllung der variablen Elemente der Konstruktion vermitteln die Beispiele den Eindruck, dass prototypische antonymische Adjektive und Eigennamen die größte Rolle spielen (vgl. auch SPILLNER 1971). Nach LAKOFF (1971: 133f) gehört es sogar zu den Grundeigenschaften der Konstruktion, dass die Leerstellen der Konstruktionsmuster mit Paaren von Antonymen gefüllt sind. Sie räumt allerdings ein, dass „the notion of antonymy must be extended considerably in applying it to the semantic opposition use of b u t (ibid.). LAKOFF erweitert das Antonymiekonzept dann bis hin zu solch allumfassenden Kategorien wie positive und negative Eigenschaften (ibid.: 135). Dies trifft etwa in Bsp. (16) (rich - dumb) zu. Daneben finden sich Hinweise auf Füllungen mit sprachlichen Einheiten, die nur sehr schwer oder gar nicht als lexikalische Antonyme klassifizierbar sind. (23)

Während er in Geographie alles wußte, war er in Geschichte eine Null. (SPILLNER 1971: 253)

Weiterhin führt BLAKEMORE (1987) die Füllung mit Eigenschaften an, die als Teil eines Systems von inkompatiblen Einheiten (Kohyponyme) gesehen werden können (24) The onions are fried. The cabbage is steamed. (BLAKEMORE 1987: 132) sowie mit Einheiten, die keine semantische Inkompatibilität aufweisen (25) Mary likes skiing. Anne plays chess, (ibid.: 132)3 (vgl. auch METTINGER 1994). Die Variablen der parallel-oppositionKonstruktion können also mit Sprachmaterial gefüllt sein, das deutlich über den Rahmen der Antonymie hinausgeht.

3

Ich würde diese Einheiten allerdings ebenfalls als Kohyponyme einstufen.

Dagmar Barth-Weingarten

158

2.2. Konstruktionseigenschaften in der Rhetorical Structure Theory

Die Rhetorical Structure Theory (RST) beschäftigt sich mit dem Ausdruck von Diskursrelationen. Hier gleichen insbesondere Konstruktionen zum Ausdruck von Neutral Contrast dem untersuchten Konstruktionstyp. Auf der semantisch-pragmatischen Ebene fokussiert Neutral Contrast nach MANN/THOMPSON (1992) den Unterschied zwischen den

beiden Entitäten, beide sind gleichgewichtet. Das für Neutral Contrast gegebene Bsp. (3) lässt sich dem syntaktischen Konstruktionsmuster I) zuordnen. Bei einem Vorläufer der RST, LONGACRE (1983), findet sich ein Beispiel für das Konstruktionsmuster III): (26) Bill works outdoors during the day and indoors during the night. (LONGACRE 1983: 85)

Bezüglich der Konnektoren verweisen MANN/THOMPSON (1986, 1992, THOMPSON 1987) - wie auch im Zusammenhang mit anderen Diskursrelationen - auf die Vielfältigkeit der Ausdrucksmöglichkeiten. Auf der lexikalischen Ebene wird - wiederum von Vorläufern der RST - hervorgehoben, dass Kontrastrelationen im Allgemeinen von Paaren kontrastierender lexikalischer Einheiten ausgedrückt werden (vgl. LONGACRE 1983). Diese müssen allerdings nicht unbedingt Antonyme im engen Sinn sein. So nennt LONGACRE (1983: 84f) beispielsweise den positiven und negativen Gebrauch desselben Prädikats (vgl. auch BEEKMAN/CALLOW 1974), wie in Bsp. (27), den Gebrauch von Synonymen mit positivem und negativem Wert, wie in Bsp. (28), und den Gebrauch eines universellen Sets minus eines seiner Mitglieder im Kontrast mit diesem Mitglied, wie in Bsp. (29). (27)

I don't like hamburgers but my wife does. (LONGACRE 1983: 84)

(28) I don't like hamburgers but my wife loves them, (ibid.) (29) John spoke up but nobody else did. (LONGACRE 1983: 86)

3. Die parallel-opposition-Konstruktion

in gesprochenen englischen Daten

3.1. Korpus und Methode

Um Entsprechungen dieses Konstruktionstyps in tatsächlicher gesprochener Sprache zu finden und seine Eigenschaften zu beschreiben, wurden relevante syntaktische Strukturen manuell gesucht, und zwar in

Parallel-opposition-Konstmktiomn

159

einem Korpus privater britisch-englischer (BE) Konversation mit einem Umfang von 3h 10min4. Die Daten wurden einem größeren Korpus privater und institutioneller Gespräche entnommen. 5 Im Einzelnen umfasst das untersuchte Korpus mehrere Tischgespräche von jeweils mindestens drei mehr oder weniger eng miteinander verwandten Sprecherinnen. Auf der Grundlage der in der Forschungsliteratur als typisch für den Konstruktionstyp angegebenen Eigenschaften (s. 2.) wurden die Beispiele zunächst „generously" ( S C H E G L O F F 1996) gesammelt, d.h. es wurden auch sämtliche ähnliche Fälle einbezogen. In einem zweiten Schritt wurden darin - auf der Basis der Ergebnisse der Datensichtung - insgesamt 83 Beispiele für parallel-opposition-Konstruktionen identifiziert und von anderen Konstruktionstypen abgegrenzt. 3.2. Formvarianten der parallel-opposition-Konstruktion Bei der Analyse zeigte sich, dass es in natürlicher gesprochener Sprache tatsächlich Beispiele für Konstruktionen gibt, die die in der Forschungsliteratur benannten Eigenschaften aufweisen, allerdings tun sie dies nur mehr oder weniger vollständig. Auf dieser Basis wurde zwischen (proto-)typischen 6 Realisierungsmustern und formal abweichenden Konstruktionsvarianten unterschieden. Ihr Verhältnis beträgt etwa 1:2 (n=29 : n=54). 3.2.1. Die (proto-)typische Realisierung von parallel-opposition-Konstruktionen Kurz zusammengefasst drücken (proto-)typische Fälle der parallelopposition-Konstruktion den Kontrast 7 zweier Sachverhalte durch zwei Turnkonstruktionseinheiten (TCUs) oder deren Konstituenten in relativ unmittelbarer Nachbarschaft aus, wie im folgenden Beispiel.

4 5 6

7

Dies entspricht ca. 28.000 Worten; wobei dieses Konzept auf gesprochene Sprache nur bedingt anwendbar ist. Für die Möglichkeit, ihr Korpus zu nutzen, danke ich ELIZABETH COUPER-KUHLEN, Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Potsdam. Auf das Konzept der Prototypizität kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Gesagt sei lediglich, dass sich die Verwendung des Begriffs hier weniger an der Frequenz als an der Erfüllung bestimmter formaler Kriterien orientiert. Diese werden im Folgenden ausgeführt. Für das Konzept KONTRAST verweise ich auf die einschlägige Literatur, wie etwa RUDOLPH (1996), s.a. BARTH-WEINGARTEN (2003).

Dagmar Barth-Weingarten

160 (30) kiss (28.01, DAT: 505)

BE Tischkonversation zwischen zwei älteren Ehepaaren, Betsy und Dave sowie Mora und Wally. Betsy und Mora sind Schwestern. Die Hunde der beiden Paare sind ebenfalls anwesend, und Betsy drückt ihre Tierliebe sehr deutlich aus, indem sie ihren Hund küsst. Das wird von Mora explizit abgelehnt, Betsy lässt sich jedoch davon nicht beircen.

01 BE : [muffled, to dog] (he's a) beautiful boy. DA: he's quite well behAved, but he's- [he's- (0.9) [(chuckles) must make a speech. WA: 05 DA: he's- he's over to (.) ultrafrIEndly you [see? > MA: [you'll [kiss mE:, (.) WA: [but what about that ki[ss; [but i wOn > MA: 10 kiss yOU. (DA: laughter) BE: give auntie mora a kiss.

Ein Beispiel für die (proto-)typische Realisierung des Konstruktionstyps findet sich in den Zeilen 07 und 09-10: you II kiss mE:, but i wOn't kissyOU. Es weist eine Reihe semantisch-pragmatischer, syntaktischer, prosodischer sowie sequentieller Merkmale auf, die m.E. typisch für parallel-opposition-Konstraktionen sind, d.h. die diesen Konstruktionstyp am besten von anderen Konstruktionstypen unterscheiden. 3.2.1.1. Semantisch-pragmatische Eigenschaften Auf der semantisch-pragmatischen Ebene lassen sich die beiden Konjunkte dem gleichen Thema (quaestio) zuordnen (semantische Parallelität). Im Beispiel wäre dies „kissing the dog". Außerdem gilt, dass die beschriebenen Sachverhalte zur gleichen Zeit gültig sind. Dies kann sowohl der beschriebene Zeitpunkt als auch der Sprechzeitpunkt sein im Bsp. (30) fallen diese zusammen; at the same time lässt sich ohne Bedeutungsänderung hinzufügen; es handelt sich in keinem Fall um alternative Welten. 8 Die beiden Teile der Konstruktion weisen eine im weitesten Sinne unterschiedliche argumentative Richtung auf (KONTRAST). So impliziert im Beispiel you'll kiss mE, dass die Handlung tatsächlich stattfinden wird, während i wOnt kiss yOU das Gegenteil impliziert. Der Ausdruck des Kontrastes hat Priorität in der Gesprächsführung, d.h. die

8

Dies ist beispielsweise ein entscheidendes Abgrenzungskriterium konstruktionen der Art Will you kiss me or will I kiss you?.

zu

Alternativ-

Parallel-opposition-Konstiaktionen

161

Sachverhalte werden kontrastiert, nicht etwa um einen anderen Punkt vorzubereiten, sondern um der Darstellung des Kontrastes willen. Im Beispiel heißt es you'll kiss mE but i wOnt kiss yOU und nicht etwa you'll kiss mE and i wOn't kiss you but we're still goodfrlEnds. Da es sich um die Darstellung des Kontrastes handelt, finden wir bezüglich der Satzart deklarative, nicht etwa interrogative oder Imperativische Formen. Die Konjunkte sind nicht vertauschbar, dem steht die Informationsgewichtung (vgl. principle of end-focus, QUIRK et al 1985) entgegen. Im Gegensatz zu you'll kiss mE but i wOn't kiss yOU würde i wOn't kiss yOU but you'll kiss mE die Durchführung der Handlung implizieren. Außerdem wird die gesamte Konstruktion von einer einzigen Sprecherin realisiert. 3.2.1.2. Syntaktische Eigenschaften

Grundlegend ist hier das Merkmal der syntaktischen Parallelität: Die relevanten TCUs bzw. ihre Konstituenten sind syntaktisch parallel, d.h. ähnlich aufgebaut. Dabei kann eine der TCUs mehr Elemente haben als die andere, grundsätzlich jedoch müssen die relevanten Konstituenten in beiden TCUs explizit realisiert werden. Die Konstituenten bilden jeweils zwei kontrastive Paare. Dabei findet jedes Element der beiden Teile sein Gegenstück in einem lexikalischen Ausdruck des anderen Teils, der dieselbe Wortart und Satzgliedfunktion hat. Diese Konstruktionsvariante bezeichne ich als „NormaP'form. Sie macht die Mehrzahl der (proto-)typischen Fälle aus (n=23 von 29 (80%)). Dabei lassen sich zwei Ausprägungen der Normalform unterscheiden: AXBYproper und ZAXZ'BY. ΑΧΒΥρΓ0ρ6Γ weist zwei Kontrastpaare auf, eines davon in Subjektsposition. Dies entspricht dem aus der bisherigen Literatur ableitbaren Konstruktionsmuster I), AXBY. Im Bsp. (30) wären A you, Χ 'II kiss; Β i und Y wOn't kiss, wobei Α und Β sowie X und Y jeweils ein kontrastives Paar bilden.9 Die zweite Ausprägung der Normalform entspricht dem dritten Konstruktionsmuster ZAXZ'BY, bei der Ζ das gleich bleibende Subjekt der beiden Teile bezeichnet. Dies ist der Fall im folgenden Beispiel aus der gleichen Tischkonversation.

9

Durch die Reflexivpronomen findet sich in diesem Beispiel noch ein drittes Paar: mE yOU.

Dagmar Barth-Weingarten

162

(31) vocal music (28.01, DAT: 026) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Hier erzählt Mora von einer australischen Verwandten, die Musik macht. 01 MA: oh yes she she a[muses herself v:astly on that BE: [hmm MA: and - (0.8) and (if) she has had a/ 05 she's going to have a song .hh published they've started making the pre-recordings (0.6)

-> -> ->

10 WA: MA: BE: 15 MA: WA:

they didn't have thee/ the sh/ we hEArd t h e MUsic of i : t , . h h h b u t we h A v e n ' t h e a r d t h e t h i n g w i t h t h e VOcal o n i t [ y e t . [yeah [so you'll hear that [what does she write she's gonna send us a copy when it comes ο [ut [yeah

Z: we A: heard B: haven't heard

X: the music Y: the thing with the vocal on it

Diese Formvariante wird in der bisherigen Forschungsliteratur als Sonderfall betrachtet. Interessanterweise lässt sie sich im untersuchten Korpus allerdings bei % der Beispiele für die Normalform beobachten (AXBY: n=5 von 23 (22%), ZAXZ'BY: n=18 von 23 (78%)). Sie ist damit im Unterschied zur bisherigen Annahme in der Literatur eher die Regel als die Ausnahme. Die bisher ebenfalls als Sonderfall betrachtete Variante der parallel-opposition-Konstruktion, ZXY, macht auch im untersuchten Korpus nur einen kleinen Teil der Beispiele aus (n=6 von 29 (21%)); sie ist also auch für die Alltags spräche eine Ausnahme. Ein Beleg dafür findet sich ebenfalls in Bsp. (30), Zeilen 02-03 und 05-06. (30*) ultrafriendly (28.01, DAT: 506) 01 BE: [muffled, to dog] (he's a) beautiful boy. -> DA: h e ' s q u i t e w e l l b e h A : v e d , = =but h e ' s - [ h e ' s - (0.9) WA: [(chuckles) must make a speech. - > 05 DA: h e ' s - h e ' s o v e r t o ( . ) u l t r a f r I E n d l y y o u [see? MA: [you'll [kiss mE:, (.) WA: [but what about that ki[ss;

Parallel-opposition-Konstruktionen

163

MA: 10

[but i wOn't

kiss yOU. (DA: laughter) BE: give auntie mora a kiss.

Z: he

X: quite well behaved

Y: over to ultrafriendly

Weitere syntaktische Eigenschaften sind die Parallelität der Verbformen und die Verbindung der beiden Konjunkte mit but10. Daneben finden sich einige Beispiele, die andere kontrastive Konnektive aufweisen, wie etwa whereas, although etc. 3.2.1.3. Prosodische Eigenschaften Die Konstruktion weist insbesondere am Ende der ersten TCU, d.h. am potentiellen Turnübergabepunkt (transition relevance place, SACKS/ SCHEGLOFF/JEFFERSON 1974), eine relativ feste prosodische Gestaltung auf. In ca. 80% der Beispiele wird Kontrastakzent mit den Markierungen für Turnfortsetzung - Kommaintonation, Vermeidung finaler Längung, Vermeidung von Pausen und Vermeidung von Brüchen in Rhythmus und Tempo - kombiniert. Oft finden sich alle projektierenden Mittel gemeinsam, wie im folgenden Beispiel. (32) thirty dollars (28.01, DAT: 245) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Hier geht es um einen Besuch in einem chinesischen Restaurant in Australien und dessen überraschend günstige Preise. MA: w/ when we called for the bill it was sEventeen TdOllarsWA: yeah. 105 BE: whAt'S thAt. WA: and [the headwAIter/ MA: [uhm WA: sEventeen dollars is about twElve pOUnds. MA: for the thrEE of [us; 110 BE: [(thAt'S) not dEAr? WA: [and i/ [it was vEry nice, MA: [for TAII th[at; -> we thought it'd be tTHIRty dollars,= -> [1=we nEver thought it'd be sevenTEEN115 WA: Lyeah; BE: [2yeah, WA: [2and the hEAdwaiter brought it Over,

10 Dies entspricht dem von LAKOFF (1971) beschriebenen semantic-opposition but.

Dagmar Barth-Weingarten

164 Z: we A: thought Β: never thought

X: thirty dollars Y: seventeen (dollars)

Das Fehlen von Weiterverweisungssignalen ist häufig mit der Anlehnung der Formulierung an den Konstruktionstyp „im Nachhinein" begründbar. Damit werden beispielsweise Rederechtsprobleme kaschiert (vgl. auch BARTH-WEINGARTEN 2005). 3.2.1.4. Sequentielle Eigenschaften Die Sequenzanalyse betrachtete die Positionierung der Konstruktionsteile im Gesprächsverlauf. Im (proto-)typischen Fall werden die beiden Teile der Konstruktion direkt nacheinander produziert (vgl. Bsp. (31) und (32)). Festzuhalten ist, dass die Konstruktion in ihrer (proto-)typischen Realisierungsvariante auf allen bisher beschriebenen sprachlichen Ebenen spezifische Eigenschaften aufweist. Darunter sind einige, wie etwa semantische und syntaktische Parallelität, sequentiell ununterbrochene Abfolge sowie prosodische Weiterverweisung am Ende der ersten TCU, die die Konjunkte als Konstruktionsbausteine im Sinne der Construction Grammar charakterisieren. Dies wird dadurch gestützt, dass die Realisierung der beiden Konjunkte Voraussetzung für die semantisch-pragmatische Funktion der Konstruktion ist - die Kontextualisierung von Kontrast. Die Merkmale identifizieren die Konstruktion insbesondere in ihrem Zusammenspiel als Gestalt und erlauben somit die Unterscheidung der (proto)-typischen Beispiele von Konstruktionsvarianten bzw. anderen Konstruktionstypen. 3.2.2. Konstruktionsvarianten Von den (proto-)typischen Fällen wurden diejenigen unterschieden, die in den eben beschriebenen Merkmalen Abweichungen aufweisen. Sequentiell unterscheiden sich die Konstruktionsvarianten beispielsweise dahingehend, dass unterbrechende Redezüge eingeschoben werden können, und zwar nicht nur überlappende Zwischen„rufe" anderer Sprecherinnen, wie in Bsp. (30), Z. 08, sondern auch solche, die von der Sprecherin des ersten Teils der Konstruktion aufgegriffen und in einer insert sequence (SCHEGLOFF 1995) behandelt werden, wie in Bsp. (33) n .

11

Bemerkenswert ist hier auch der resumptive Anschluss mit dem Konnektor but an den ersten Teil der Konstruktion (MAZELAND/HUISKES 2001, JEFFERSON 1972),

zusätzliche Evidenz für die Zusammengehörigkeit der beiden Teile liefert.

der

Parallel-opposition-KonstTuktionen

165

(33) egg tart (28.01, DAT: 232) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Hier geht es um das Nachtischangebot des chinesischen Restaurants in Australien. 55 MA: [ithis yum chOw me-means brUnch (.) really. BE: [χ(no) there wEren't desserts, DA: [2((clears throat)) MA: [2it's a brEAkfast cum lUn[ch. BE: [yeah, 60 yeah, MA: so he's A:h dessErt ah; uhm (0.9) Oh i can give you Extah/ ext/ Extra; -> it sOUnded like[Extra:. 65 WA: [i thought he was saying [Extra.= MA: [.hhhhhh =i was just about [to refuse it. BE: [((laughing)) -> 70 MA: [but it (turns ou/) -> MA: i/ In the End it was Egg TART. (0.7) MA: so he brought the b/ well the girl [brought us these egg tArt, Z: it

A: sounded like B: was

X: extra Y: egg tart

Bei Beispielen dieser Art, insbesondere bei solchen mit final fallender Tonhöhenbewegung am Ende des ersten Teils, wird deutlich, dass die beiden Teile der Konstruktion auch erst retrospektiv, d.h. durch die sequentiell geordnete Abfolge und das Zusammenspiel der Konstruktionseigenschaften ihren Status als „Konjunkt" erhalten können. Bei diesen Konstruktionsvarianten muss also der erste Teil nicht notwendigerweise den zweiten projizieren (AUER 2005: 3). Auf der syntaktischen Ebene werden die Teile der Konstruktion häufig ohne kontrastives Konnektiv verbunden (n=32 von 54 (60%)). Stattdessen finden sich oft (n=17 von 32 (53%)) asyndetische Realisierungen wie in Bsp. (34). (34) Silk Cut (28.01, DAT: 338) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Betsy plant, demnächst nach Australien zu fahren und Zigaretten der Marke Silk Cut als Gastgeschenk mitzubringen. Sie überlegt nun, wo sie sie kaufen sollte. Mora und Wally, die bereits häufiger dort waren, beraten sie. 01 BE:

can you get (0.9) ((clatter of dishes)) silk cut on the pla [ne?

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166

MA: 05 WA: -

>

-

>

10

MA:

WA: MA:

[yes- most duty-free [shops have silk cut [(well) (0.9): you cErtainly can get it in England, we had trouble in austrAlia;= =coming back from australia uh we got them in bahrain wasn't [it [yes we got them in bahrain eventually Singapore you'll be able to get them yes (0.5) you're stopping off at Singapore

Z: you A: can get it Z': we (impl.: you) B: trouble (impl.: cannot get it)

X: England Y: Australia

Diese lexikalisch weniger markierte Formvariante findet sich vorwiegend in Beispielen, die prosodisch mit Kontrastintonation12 realisiert werden (Bsp. (34)) oder auch bei solchen, die sehr auffällige syntaktische Parallelen aufweisen. Das verdeutlichende Konnektiv but scheint ebenso überflüssig, wenn die Konstruktion von mehr als einem Sprecher realisiert wird (n=5 von 54 (10%)), es sich also um die dialogische Realisierung der parallel-opposition-Konstruktion handelt (vgl. Bsp. (33)). Hier könnte der Sprecherwechsel an sich den Kontrast bereits genügend verdeutlichen. Die größte Gruppe der Konstruktionsvarianten ist allerdings die, die Abweichungen in der syntaktischen Parallelität aufweisen, d.h. wenigstens ein kontrastives Element wird entweder nur teilweise realisiert (n=4 von 54 (7%)) oder paraphrasiert (n=30 von 54 (56%)). Bsp. (35) zeigt eine teilweise Realisierung. (35) sabotage (28.01, DAT: 050) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). In diesem Ausschnitt geht es um eine australische Verwandte, die Stücke im Stil der in Australien populären Countrymusik schreibt. 01 BE: well actually (-) uhm (1.0) : that goes down a great bundle in australia doesn't it 0 5 MA: mmm ((sounds of people eating)) (3.6) MA: oh yes (1.4) ((clears throat))

12

Vgl. dazu COUPER-KUHLEN (1986) oder auch BLAKEMORE (1987).

167

Parallel-opposition-Konstmktionen

BE: ->10 ->

15

and uh (.) so she she's i knEw she'd but i dldn't she wrote me (.) somebody had (4.8) Ζ: I

written a (1.0) / had it accEpted, know (0.8) / a letter once saying that uhm sabotaged the tape or/

A: knew B: didn't know

X: she had it accepted Y: ?

Hier bleibt unausgesprochen, was genau das zweite Gegenstück der Konstruktion ist. Der bis zum Abbruch typische Aufbau und die Kontrastintonation identifizieren das Beispiel jedoch als zur Sammlung gehörig. Eine Paraphrasierung liegt beispielsweise vor bei der detaillierteren Umschreibung eines Sachverhalts, der im vorhergehenden Teil mit einer einzigen lexikalischen Einheit ausgedrückt wurde, oder auch umgekehrt bei der Zusammenfassung einer längeren Phrase in einem Wort. Das ist der Fall in Bsp. (36). (36) breast pocket (28.01, DAT: 127) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Betsy überlegt, wo sie beim Flug nach Australien ihr Ticket aufbewahren sollte, und Mora berichtet ihre Erfahrungen. -> 01 MA: hopefully if (.) wAlly's got a pOcket, -> .hh uh a breast pOcket in his shirt, -> s'you slip the bOArding cards into, then they're easily pulled out 05 WA: y e a h -> MA: Otherwise i just have to hold them in my hA:nd. (1.1) b e c a u s e uh ( 0 . 8 ) you d o n ' t want t o go f u m b l i n g f o r t h o s e when y o u ' r e g o i n g 10 through (0.9) BE: n [ o MA: [but anyway y o u ' l l f i n d i t a s e a s y a s p i e A: if Wally's got a breast pocket B: otherwise

X: you(=I) slip the boarding cards into Y: i have to hold them in my hand

(Re-)Formulierungen wie diese sind in gesprochener Sprache relativ häufig. Dies wirkt sich auch auf die Realisierungsform der Konstruktion aus, insbesondere die syntaktische Parallelität. So bleibt oft nur noch eine der syntaktischen Parallelen zur Identifizierung des Beispiels

168

Dagmar Barth-Weingarten

als Instantiierung der Konstruktion bestehen. Erhalten bleiben aber auch bei den Konstruktionsvarianten die Merkmale „semantische Parallelität", „unterschiedliche argumentative Richtung" sowie die prosodischen Merkmale. Diese Eigenschaften spielen auch bei der Abgrenzung der Beispielkollektion gegenüber anderen Konstruktionstypen eine entscheidende Rolle. 3.2.3. Andere Konstruktionstypen Hier erwies sich die unterschiedliche argumentative Richtung der Konjunktkandidaten, d.h. der Kontrast, als Hauptkriterium, während die formalen Kriterien noch vollständig oder zumindest teilweise erfüllt waren. Demnach lassen sich die auszuschließenden Fälle in drei Gruppen von Konstruktionstypen einteilen: a) Konstruktionen, bei denen die Konjunktkandidaten die gleiche argumentative Richtung aufweisen, wie z.B. antithetische Korrekturen. Hier werden Negation bzw. Zurückweisung eines Standpunktes und Paraphrase des statt dessen zu vertretenden kombiniert, wie in Bsp. (37). (37) strand (28.01, DAT: 513) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Betsy fragt sich, ob sie bei ihrem Besuch in Australien auch baden gehen kann. Mora und Wally berichten von ihren Erfahrungen. 01 BE: i have the book that uh (.) lily sent me years ago about y/ all about townsville and district and it had uh (0.6) p/ some pictures of 05 some lovely beaches now (.) are there (.) anywhere uh (1.2) MA: yes (.) there are [some beaches off the strand WA: [i think there are some 10 beaches they're[xthey're- they BE: [iOff the strand (.) [2yes WA: [2they're/they are reclaiming a whole lot of 15 land MA: yes.= -> =but thAt's not where the strAnd is; -> that's dea/ nEArer where the hArbour is,= =where we went out with the boat (.) that 20 time WA: [that's where the strand is my dear

169

Parallel-opposition-Konstruktionen

BE:

MA 25 BE

MA

3 0 WA:

[the strand yes it has the- [th/ the strand [yeah but the str [and/ the/ [mm i'm talking about where rose used to go and swim (.) is-[is right- (0.8) right the way along (0.8) hhh [oh yeah at the end of the strand yeah

Hier sind zwar ebenfalls kontrastive Paare zu erkennen (that's not that's; strand - harbour), von den relevanten TCUs wird jedoch kein Kontrast ausgedrückt, denn die Negation der ersten Aussage, that's not where the strand is, steht nicht im Kontrast mit der zweiten, that's nearer where the harbour is. Es handelt sich also nicht um unterschiedliche argumentative Richtungen.13 Zu dieser Gruppe gehören auch Konstruktionen mit Negation eines Standpunktes im zweiten Konjunkt sowie additive und konsekutive Konstruktionen. b) Konstruktionstypen, die den Kontrast in Frage stellen: Hierzu gehören Interrogative, d.h. polare Fragen und darauf folgende Antworten, die mit der Polarität der Frage kontrastieren. Dabei drücken die relevanten TCUs zwar unterschiedliche argumentative Richtungen aus, davon wird die erste jedoch nicht deklarativ vertreten, sondern bereits in Frage gestellt, wie etwa in Moras Frage in Bsp. (38): (38) Australian-born (28.01, DAT: 275) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Die Unterhaltung dreht sich hier um die australischen Verwandten.

01 BE: MA: BE: MA: 05 -

>

WA: - >

10 MA: WA:

[australian of course oh yes i mean australian-born y-yes but i think (1.2) / wAs d a v i d ( . ) a u s t r a l i a n - b O r n w a l l y i d o n 1 1 knOw i don/ i dOn1t t h i n k so (0.6)

or

did/

[don't think so [he (.) comes from english parents though [does[n't he [mm

13 Diese Argumentation steht z.B. im Gegensatz zu LANG (1991), der Korrekturen als Spezialfall der parallel-opposition-Kon&tiuktion sieht.

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170 BE:

[yeah (1.1)

MA:

anyway [(

)

Aus dem gleichen Grund werden Alternativfragen und tag questions (vgl. Bsp. (38), Z. 11) ausgeschlossen. Ähnliches gilt auch für backing down im Rahmen konzessiver Konstruktionen (vgl. partitioning, COUPER-KUHLEN/THOMPSON 1999, BARTH-WEINGARTEN 2 0 0 3 ) .

c) Konstruktionstypen, die alternative Welten darstellen: Obgleich sich auch hier lexikalische Paare finden lassen, handelt es sich dabei um Sachverhalte, die nicht zur gleichen Zeit gültig sind. Genau genommen fehlt also auch hier der Kontrast. Zu diesen Konstruktionstypen gehört die Darstellung von alternativen Welten im engen Sinne, wie in Bsp. (39): (39) choking (DAT: 28.01 162) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Dave hat sich verschluckt, und er und Betsy erzählen, dass das häufiger vorkommt. 01 DA: betsy always reckons it's gonna be the death of me BE: well i do sometimes he chokes [and chokes DA: [(she reckons/ she reckons i 1 m gonna 05 [iChoke to death) ( (clears throat)) BE: [ii said/ [2yeah that's gonna be the death [of you dear ΜΑ: [2do eat the vegetables up won't you i've done [too many DA [mhm (0.7) i wo/ i [thought i'd done too many 10 ΜΑ [ i wOn't d i e of o l d age o r ; DA (1.7) BE: (do eat the) sprouts [( ) DA: [i s h a l l ( . ) dIE of CHOking. ΜΑ: i/ oh i must tell you (0.6) 15 ruth had made a Christmas pudding from my recipe

Hierzu gehört auch die folgende Imperativkonstruktion aus einer weiteren Tischkonversation, da die Sachverhalte hier ebenfalls nicht zur gleichen Zeit gültig sind.

Parallel-opposition-Konstruktionen

171

(40) compere (29.01, DAT: 056) BE Tischkonversation. Richard erzählt Betsy, Dave, Mora und Wally von seiner Arbeit als Linguist, bei der er Radioaufnahmen verwendet. Hier geht es darum, wie Anrufer letztendlich „auf Sendung" gelangen. 01 RI: because he's had it sort of filtered through a woman (0.8) who's checking out the possible callers and weeding out some and saying well no 05 thank you very much -> o r d O n ' t r i n g u s w E ' l l r i n g yOU ( . ) and then they'll ring them and they hold them on the line and when the compere is ready 10 he takes the next caller so he always knows who/ who it is ??: right RI: cos he's/ he's had

Allen diesen Konstruktionstypen ist gemeinsam, dass die formalen, syntaktischen Eigenschaften, wie etwa die Existenz lexikalischer Paare, weitgehend erhalten bleiben, nicht aber die semantisch-pragmatischen. Das heißt beispielsweise, dass kein Kontrast mehr gegeben ist. Umgekehrt ist die Konstellation bei einigen Fällen, die zwischen den Konstruktionsvarianten und Beispielen für andere Konstruktionstypen stehen. 3.2.4. Diskutable Fälle Neben den klar auszuschließenden Konstruktionstypen finden sich einige Beispiele, die einer weiteren Diskussion bezüglich ihrer Einbeziehbarkeit im Rahmen einer Untersuchung von parallel-oppositionKonstruktionen bedürfen. Dazu gehört z.B. der Ausdruck von Präferenz mit raf/ier-f/ian-Konstruktionen. Hier finden sich ebenfalls einige formale Kriterien der parallel-opposition-YsJonstrvktion, wie etwa die kontrastiven Paare. Auf ihrer Grundlage ließe sich auch für verschiedene argumentative Richtungen argumentieren, wie etwa in Bsp. (41) aus der bekannten Tischkonversation. (41) Magnetic Island (28.01, DAT: 490) BE Tischkonversation aus Bsp. (30). Mora und Wally berichten von Ausflugszielen, zu denen sie von ihren australischen Verwandten mitgenommen wurden. 01 MA that bobby and bill will @ DA (to dog) sit suggest (0.6) @ (1.6) taking you over to magnetic island

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172 05 BE MA

aa[a :h [which if they do you'll [be very lucky BE [((sighing)) WA which if [sally wants to go s-swimming [i'd rather go (1.3)/ 10 MA WA and [uh (on a Sunday)/ [yeah BE MA [i'd rAther go to magnEtic island th" go out to cAIrns. 15 DA?: [(clears throat) WA [me too (.) me [too [because magn/ MA it's a beautiful place Ζ: I

A?: rather go (impl.: would go) Β?: than go (impl.: wouldn't go)

X?: Magnetic Island Y?: Cairns

Die kontrastiven Paare wären hier (rather go (=would go) - than go (=wouldn't go); Magnetic Island - Cairns). Allerdings ist die Syntax der beiden Konjunkte hier regulär verschieden. Aus diesem Grund wurden diese Beispiele aus der Kollektion ausgeschlossen. Die Abgrenzung der Beispielkollektion anhand der semantischpragmatischen und syntaktischen Eigenschaften ermöglicht nun die Untersuchung der lexikalischen Füllungen der Leerstellen der Konstruktionsmuster. 3.3. Lexikalische Eigenschaften

In der Sekundärliteratur war die Füllung mit kontrastierenden, wenn nicht sogar in Antonymie stehenden, lexikalischen Einheiten ein Grundmerkmal des Konstruktionstyps. Hingegen stellte DEPPERMANN (2005) bei seinen interaktionallinguistischen Untersuchungen zur Realisierung von Kontrast im Diskurs fest, dass die kontrastierten Wortformen, die die Hauptlast der semantischen Beschreibung der zwei kontrastierten Sachverhalte tragen, nur sehr selten in einem lexikalischen Kontrast stehen. Um sich dieser Frage zu nähern, wurden auf der Grundlage der Formanalyse alle zum Konstruktionstyp zählbaren Varianten, d.h. die (proto-)typischen ebenso wie die Konstruktionsvarianten analysiert. Dabei ließ sich feststellen, dass lexical-semantic opposition, wie dead alive, long - short, like - dislike etc., wie von DEPPERMANN behauptet,

Parallel-opposition-Konstruktionen

173

tatsächlich nur selten14 bei der Realisierung von parallel-oppositionKonstruktionen im gesprochenen Diskurs verwendet wird. Legt man ein Antonymwörterbuch zugrunde, so sind die angeblich (proto-) typischen Füllungen noch seltener zu finden. Statt dessen finden sich in den Belegen neben einfacher Negation (Bsp. (30)), Numerale (Bsp. (32)) und Hyperonyme (Bsp. (42)). (42) Uly and Rosie (29.01, DAT: 839) BE Privatkonversation zwischen Betsy und Dave sowie Richard, deren Sohn. Betsy erzählt Richard aus ihrer Kindheit, u.a. von den Zwillingen Lily und Rosie, die Kinder eines Ehepaares, das kurz vor seiner Überfahrt nach Australien für längere Zeit bei ihren Eltern gewohnt hat. 01 BE: -> -> 05

Z: they

lily and rosie they were twins but they wEren't identical twins at All they were entirely different (to look at) ((clears throat twice)) 'n'i imagine (th')grew (-) differently A: were B: weren't

X: twins Y: identical twins

Am häufigsten (ca. 2/3 der Fälle) sind jedoch Füllungen mit Kohyponymen. Diese wurden bisher von der lexikalischen Semantik, wenn überhaupt, nur vereinzelt als mögliche Kontrastpartner angeführt (vgl. aber taxonomic sisters, SAEED 1997, BLAKEMORE 1987). Hier ist zwischen prototypischen und kontextuellen Kohyponymen zu unterscheiden. Prototypische Kohyponyme sind z.B. England - Australia im Bsp. (34). Kontextuelle hingegen sind erst durch den aktuellen Ko(n)-text als Kohyponyme zu interpretieren, wie extra - egg tart in Bsp. (33). Insgesamt sind die Füllungen mit kontextuellen Kohyponymen die eindeutig häufigeren. Kohyponyme könnten sich für den Ausdruck von Kontrast besonders deshalb anbieten, weil auf etwas zu Benennendes jeweils nur mit einem aus einer Reihe von Kohyponymen referiert werden kann (vgl. taxonomic sisters, SAEED 1997); mit anderen Worten, die Identifizierung von etwas als rot schließt aus, dass es gleichzeitig blau sein kann. Der Kontrast ist somit bereits in der Eigenschaft der Kohyponymie angelegt. Die Verwendung könnte außerdem dadurch unterstützt wer-

14

Je nach Leerstellenposition zwischen 4% und 20%. Bei den Füllungen der Konstruktionsvarianten mit nur einem lexikalischen Paar sind sie noch am häufigsten (ca. 30%).

Dagmar Barth-Weingarten

174

den, dass Kohyponyme, ebenso wie Antonyme, alle Merkmale bis auf eines gemeinsam haben. 15 Ich argumentiere, dass die Kontrastinterpretation dieser „ungewöhnlichen" Füllungen entscheidend von der Art der Konstruktion gestützt wird, in der sie auftauchen. Dies lässt sich unter anderem damit belegen, dass die prototypischen, antonymischen Füllungen bei der ZXY-Variante, dem wenig frequenten Sonderfall der Konstruktion, wesentlich häufiger auftreten, als bei den prototypisch aufgebauten, frequenteren Varianten. Deren relativ durchschaubares syntaktisches Muster trägt entscheidend zur Identifizierung und (kontrastiven) Interpretation der Füllungen der Variablen bei. Aus Sicht der Construction Grammar handelt es sich demnach also bei der parallel-oppositionKonstruktion in gewissem Sinne um ein grammatical, formal idiom, d.h., „a syntactic pattern dedicated to semantic and pragmatic purposes not knowable from [its] form alone" (FILLMORE/ΚΑΥ/Ο' CONNOR 1988: 505).

4. Zusammenfassung In privaten, britisch-englischen Alltagsgesprächen finden sich Beispiele, die einem aus der Literatur ableitbaren Konstruktionstyp „parallel-opposition-Konstruktion" entsprechen. Allerdings sind einige der bisher beschriebenen Eigenschaften zu revidieren. 16 So ist nicht die AXBY-Variante, sondern die ZAXZ'BY-Variante, d.h. die, bei der die kontrastierenden Paare in anderen als den Subjektpositionen zu finden sind, die häufigere. Mit anderen Worten, Beispiele der Art John is rich but Bill is poor und John is rich but dumb sind seltener als On Mondays Mat plays volleyball but on Thursdays he plays hockey. Des Weiteren lassen sich zu den bisher beschriebenen Eigenschaften einige hinzufügen, darunter die gleichzeitige Gültigkeit der Sachverhalte, die Priorität des Ausdrucks des Kontrastes in der Argumentationslinie, die Realisierung durch einen oder mehrere Sprecherinnen, eine relativ feste prosodische Realisierungsform und die sequentielle Abfolge der Konjunkte. Je nach Ausprägung der Eigenschaften muss zwischen (proto-)typischen Realisierungsarten und Konstruktionsvari-

15 16

Diesen Hinweis verdanke ich Ulrich Busse. Ähnliches beobachtet beispielsweise auch GÜNTHNER (in diesem Band) bei ihrer empirischen Untersuchung von Pseudocleft-Konstruktionen im Deutschen.

Parallel-opposition-Konstmktionen

175

anten unterschieden werden. Bei Letzteren findet sich z.B. eine Abweichung in der Art der Realisierung der Satzverbindung, nämlich ohne but, eine Einschränkung der syntaktischen Parallelität, der Einschub anderer Redezüge zwischen den Konjunkten und die Realisierung der Konstruktion durch mehr als eine Sprecherin. Grundlegende Eigenschaften, wie semantische Parallelität, die Beschreibung eines Kontrastes, die Parallelität der Verbformen sowie die prosodischen Merkmale Kontrastakzent und/oder weiterverweisende Intonation am Ende der ersten TCU bleiben jedoch erhalten und charakterisieren die Gestalt der Konstruktion. Die parallel-opposition-Konstruktion weist damit insgesamt relativ einheitliche semantisch-pragmatische, syntaktische und prosodische Eigenschaften auf, die sie von anderen Konstruktionstypen unterscheiden. Im Gegensatz dazu muss die Offenheit der variablen Elemente der Konstruktion für nicht-antonymische lexikalische Füllungen hervorgehoben werden. Diese Beobachtungen können als Argumente für einen Konstruktionstyp „parallel opposition" im Sinne der Construction Grammar dienen: Die Idiomatizität der parallel-opposition-Konstruktion ist zwar weniger ausgeprägt als bei let-alone- oder ähnlichen Konstruktionen, die syntaktischen, semantisch-pragmatischen, prosodischen und sequentiellen Eigenschaften der Konstruktion sind jedoch spezifisch genug, um zur Kontextualisierung von Kontrast zu dienen, insbesondere bei der lexikalischen Füllung der variablen Stellen der Konstruktion mit kontextuellen Kohyponymen. Vor dem Hintergrund der Beschreibung der parallel-oppositionKonstruktion lässt sich feststellen, dass für den Konstruktionscharakter dieser, wie auch anderer Konstruktionen (vgl. z.B. GÖHL in diesem Band) grundlegend ist, dass sie als ganzheitliche Gestalt mit einer spezifischen Funktion - im vorliegenden Fall Kontextualisierung von Kontrast - auftritt. Das bedeutet, dass eben gerade nicht eine einzelne Beschreibungsebene ausschlaggebend für die Definition einer Konstruktion ist, sondern dass eine spezifische syntaktische Struktur auch spezifische Eigenschaften auf einer Reihe anderer sprachlicher Ebenen aufweisen muss. Deren gemeinschaftliches Auftreten zeichnet die Konstruktion aus und hebt sie von anderen Konstruktionstypen ab. Der Idiomatizitätsgrad hingegen kann relativ gering sein (vgl. auch AUER 2005: 16), gerade bei solch relativ umfangreichen Konstruktionen wie der hier beschriebenen parallel-opposition-Konstruktion mit normalerweise zwei TCUs. Hier legen der Kontext sowie prosodische (z.B. Kontrastakzent) und syntaktische Eigenschaften (z.B. kontrastives Kon-

176

Dagmar Barth-Weingarten

nektiv) die Kontrastinterpretation ebenso nahe wie die syntaktische Parallelität.17 Geht man von CROFT/CRUSES These aus, dass ,,[a]ny construction with unique idiosyncratic morphological, syntactic, lexical, semantic, pragmatic or discourse-functional properties must be represented as an independent node in the constructional network..." (CROFT/CRUSE 2004: 263), kann die parallel-opposition-Konstruktion mit ihren spezifischen Eigenschaften also als Konstruktion im Sinne der Construction Grammar bezeichnet werden. Wie jedoch die hier vorgeschlagene Unterteilung der Konstruktionsmuster in (proto-)typische und verwandte Varianten andeutet, scheint es mir auf der anderen Seite nicht sinnvoll, dass bei der Abgrenzung von Konstruktionstypen untereinander any quirk of a construction (CROFT 2002: 25) ausschlaggebend ist. Dadurch würde eine Reihe der (die Konstruktion identifizierenden) Gemeinsamkeiten der Konstruktionsvarianten unbeachtet bleiben.18 Vielmehr müssen signifikante Unterschiede in den Eigenschaften der Konstruktionsmuster auszumachen sein, damit von einem neuen Konstruktionstyp gesprochen werden kann. Dass diese „Unterscheidungen" skalar zu verstehen sind, ergibt sich aus der Natur der Sache. Gerade hier bietet sich die Anwendung der Prototypentheorie in der Construction Grammar an, d.h. das Netzwerk der Konstruktionen (z.B. CROFT/CRUSE 2004: 262ff) sollte nicht nur in vertikaler Richtung (parent-child-constructions) gedacht werden, sondern auch in horizontaler Richtung (vgl. etwa LAKOFF 1987, GOLDBERG 1995) im Sinne von Prototypen- und Familienähnlichkeitsbeziehungen zwischen Konstruktionen. Der SCHEGLOFFsche (1996) Ansatz zur Erstellung einer Beispielkollektion bietet hier ein ideales Handwerkszeug für die Anwendung der Construction Grammar auf alltägliche, gesprochensprachliche Daten (vgl. BARTH-WEINGARTEN 2006). Er lenkt den Fokus von den prototypischen Fällen auf die Konstruktionsvarianten und hilft gleichzeitig, die Konstruktion von anderen Konstruktionstypen abzugrenzen.

17 18

Vergleichbares gilt für die begründenden dass-Konstruktionen (vgl. GÖHL in diesem Band). Einen ähnlichen Schluss legen auch die Ergebnisse von BIRKNER (in diesem Band) zu (Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung sowie von GÜNTHNER (in diesem Band) zu deutschen Pseudocleft-Konstruktionen nahe.

Para//e/-o/?/70S(i(on-Konstruktionen

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(in Vorbereitung): Kohärenzrelationen: Ein Vergleich von Kontrast und Konzession. In: Beiträge aus dem DFG-Schwerpunktprogramm Sprachproduktion (Arbeitstitel), (Manuskript). Hrsg. von CHRISTOPHER UMBACH, CARLA/MANFRED STEDE

HABEL.

Christine Göhl /Jaw-Konstruktionen als Praktiken des Begründens1 1. Einleitung

Begründungen gehören zum festen Bestand alltäglichen, gesellschaftlichen Handelns. Sie weisen ein mehr oder weniger gefestigtes Repertoire an sprachlichen Praktiken auf, die sie als solche erkennbar und damit in der sozialen Interaktion inter subjektiv verständlich machen.2 Neben konventionell kausal markierten Begründungen, wie sie beispielsweise durch Konjunktionen wie weil und denn oder auch Präpositionen wie wegen markiert werden, verwenden Sprecherinnen in Alltagsinteraktionen zahlreiche andere Konstruktionen, denen ein konventionell kausales Element fehlt. Diese Konstruktionen können sich bezüglich ihrer Interpretierbarkeit als begründende und damit im weitesten Sinne kausal basierte Verknüpfungen nicht auf eine kausale Semantik ihres Konnektors verlassen, sondern sind wesentlich auf andere - konstruktionale und ko(n)textuelle - Parameter angewiesen. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit einer Variante solcher Konstruktionen, den begründenden dass-Konstruktionen. Die Konjunktion dass, der jegliche lexikalische Bedeutung fehlt ( E I S E N B E R G 1 9 9 9 : 201) und die so die durch sie verknüpften Einheiten semantisch nicht spezifiziert, übernimmt in diesen Konstruktionen die Funktion, die Begründung als syntaktisch untergeordnete Einheit an ihre Bezugseinheit anzubinden. Neben diesen „begründend-kausalen" Verwendungen von dass (PASCH et al. 2 0 0 3 : 6 3 7 ) werden auch finale c/a.s.s-Konstruktionen betrachtet. Ihre Spezifität liegt in ihrer Funktion, nichtfaktische, intentionale Begründungen einzuleiten, vergleichbar konventionell final markierten Konstruktionen, wie sie beispielsweise mit der Konjunktion damit realisiert werden.

1

2

Dieser Beitrag steht in engem Zusammenhang mit dem Projekt „Kausale, konditionale und konzessive Verknüpfungen: Variation und Entwicklung im englischen und deutschen Lexikon" des Sonderforschungsbereichs 471 „Variation und Entwicklung im Lexikon" der Universität Konstanz. Für hilfreiche Kommentare und Anregungen danke ich Susanne Günthner und Wolfgang Imo. Zur wechselseitigen Beziehung zwischen Sprachstruktur und gesellschaftlichem Handeln vgl. SCHÜTZ/LUCKMANN (1984).

182

Christine Göhl

Folgende Fragen ergeben sich in Zusammenhang mit den begründenden ^«'-Konstruktionen: • Wie kommt die begründende Interpretation in diesen Fällen zustande? • Welche Rolle spielen Beschränkungen der Konjunktion bzw. - im Falle von Korrelatkonstruktionen wie beispielsweise deswegen ... dass - Beschränkungen der Konjunktion-Korrelat-Einheit? • Welche Rolle spielen konstruktionale Parameter der verknüpften Einheiten, also der Einheit, die begründet wird und der begründenden Einheit? • Welche Wissensbestände sind darüber hinaus relevant? Wann spielen z.B. Situations- und Weltwissen eine Rolle für die begründende Interpretation einer dass-Konstruktion? Einer Prämisse der construction grammar' (u.a. GOLDBERG 2 0 0 3 ; CROFT 2 0 0 1 ) folgend, werden die zu untersuchenden dass-Konstruktionen zwar durchaus als aus mehreren bedeutungsbildenden Einheiten bestehend betrachtet, die Gesamtbedeutung der Konstruktion - d.h. ihre funktionale Leistung im aktuellen Kontext - jedoch nicht als bloße Summe der Bedeutungsanteile der einzelnen Komponenten. Vielmehr wird angenommen, dass die Teile ihre Bedeutung durch die Rolle, die sie in der Konstruktion als Ganze spielen, erhalten. Es wird also vorausgesetzt, dass es innerhalb der begründenden Konstruktion zu einer Interaktion verschiedener bedeutungstragender Anteile - syntaktischer, semantischer, prosodischer und handlungsbezogener Art - kommt, so dass die Gesamtbedeutung im Ko- und Kontext als Begründungsbeziehung interpretierbar wird. Mit GOLDBERG (u.a. 1 9 9 6 : 6 8 f.) wird außerdem angenommen, dass auch über die Konstruktion hinausgehende kound kontextuelle Parameter für eine realistische Interpretation der Funktion einer Konstruktion bedeutsam sein können. Diese Punkte werden im abschließenden 4. Abschnitt noch einmal aufgegriffen.

2. Begründende

Auch des Demonstrativpronomen die-/derjenige kann Bezugsnomen sein, wie im folgenden Beispiel: (8)

unter der woch (0.6) bin i a nit dErjenige der dann sich groß mit LEUT irgendwie trifft.

Es handelt sich um sprachliche Formen, die als unspezifische Personenbezeichnungen dienen können. Die semantische Gemeinsamkeit der Bezugsnomen der Mensch-Konstruktion liegt darin, dass ein HyponymHyperonym-Verhältnis aufgebaut wird: das Agens erklärt sich zum Hyponym einer Bezugsmenge mit größerer Extension. Diese Bezugsmenge ist durch das semantische Merkmal „menschlich" gekennzeichnet. In der folgenden Tabelle sind die verwendeten Bezugsnomen aufgeführt: mensch typ typ mensch leute der/diejenige jemand einer gesamt

18 17 1 3 3 10 1 53

Substantive

39

73%

Pronomen

14

27%

53

100%

Tabelle 4

Während leute eher selten vorkommt, ähnelt sich die Verwendungsfrequenz der beiden Substantive mensch und typ. Auch semantisch ist

Karin Birkner

212

kaum eine Differenz zu erkennen. Typ rückt durch die explizite Verbalisierung etwas mehr den Aspekt des Typischen in den Vordergrund; es ist z.B. möglich, dass typ und mensch gleichzeitig vorkommen, wie in dem folgenden Einzelbeispiel: (9)

ich mein= ich bin WIRklich kei typ mEnsch der JAMmert;

Sucht man nach Gründen für die Variation, lässt sich z.B. keine regionale Verteilung erkennen. Es handelt sich meistens um Einzelvorkommen; nur zwei Sprecher/innen verwenden die Konstruktion mehrmals. Der Sprecher John aus dem Big-Brother-Korpus zeigt deutliche idiosynkratische Vorlieben. Er verwendet in fünf Belegen das Substantiv typ. Bei einer Sprecherin aus den Schmerzinterviews verteilen sich dagegen von vier Verwendungen zwei auf mensch und zwei auf typ. Von Mensch-Konstruktionen mit dem Demonstrativpronomen die/derjenige müssen Fälle unterschieden werden, in denen nicht wie in Beispiel (8) typisiert wird: (10)

du bist (.) diejEnige die ANweisen tut

Das Beispiel stammt aus einer Spielerklärung, in deren Verlauf Aufgaben verteilt werden, u.a. das Anweisen. Das Bezugsnomen referiert nicht indefinit oder generisch, sondern spezifisch, und im Relativsatz wird keine Handlungsdisposition benannt, mit der die Zuordnung zu einem Typus verbunden wäre. Diejenige hat hier die Funktion eines kataphorischen Demonstrativpronomens, während es in einer MenschKonstruktion eher als Indefinitpronomen wirkt (vgl. Beispiel 5). 3.6. Determination Indefinite Determination ist am häufigsten. Insbesondere kommen Substantive mit Indefinitartikel ein mensch, ein typ (20 Belege) oder auch mit indefinitem Negationsartikel kein mensch, kein typ (4 Belege) vor. In 7 Fällen wird das kataphorische so (s.u.) in Klitisierung mit dem Indefinitartikel verwendet: so=n (vgl. Beispiel 6). Von diesen sind 3 Belege mit Negationspartikel nicht negiert. In den Fällen, in denen der Definitartikel verwendet wird, liegt generischer Gebrauch vor (vgl. a. HAUSENDORF 2000:238f zur Rolle generischer Referenz im Zusammenhang mit Typisierungen). Das ist vor allem in Verbindung mit typ der Fall, wie im folgenden Beispiel: (11)

Ick bin Eher der typ der sich denn (1) ehm zuSAMM(.)LAtschen lässt,

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

213

Ein Drittel aller Belege (17 von 53; 32%) ist negiert (vgl. Beispiel 5 und 6). Die Mensch-Konstruktion wird also nicht nur für die positive Zuschreibung, sondern ebenfalls - wenn auch seltener - zur negativen Abgrenzung verwendet. Dabei wird zum einen der Negationsartikel kein und auch die Negationspartikel nicht verwendet; einmal wird mit noch nie negiert. Die folgende Tabelle stellt die Ergebnisse zusammen. indefinit

Subst. Pron. gesamt

Negationsartikel 4 0 4

Negationspartikel 5 1 6

positiv 23 10 33

definit (generisch oder unspezifisch) Negations- positiv partikel 2 5 1 2 3 7

Tabelle 5

3.7. Modalisierung des Bezugsnomens Sehr häufig weisen die Matrixsätze Modalisierungen der Bezugsnomen auf; nur 16 Belege haben die nackte Struktur: Pronomen + Kopula + Prädikatsnomen (vgl. Beispiel 1). Modalisierende Mittel kommen häufig in Kookkurrenz miteinander vor. Es handelt sich um modalisierende Partikeln (Abtönungs-, Intensivierungs- und Fokuspartikeln), Modalwörter und Adverbien. Folgende Formen finden sich (Kombinationen sind möglich): auch so(=n) halt ja da wirklich; eigentlich; jetzt einfach; überhaupt (kein); eher; dann; aber; trotzdem; an und für sich; sowieso; solche; normalerweise; vielleicht; schon; eben; schon immer; also

12 Vorkommen 8 Vorkommen 5 Vorkommen 4 Vorkommen 3 Vorkommen je 2 Vorkommen je 1 Vorkommen

Tabelle 6

Unschärfemarkierung und Intensivierung lassen sich als die Hauptfunktionen unter den Modalisierungen ausmachen. Unscharfemarker schwä-

214

Karin Birkner

chen den Geltungsanspruch ab, wie im folgenden Beispiel das Adverb eigentlich: (12)

ich bin eigentlich net der tYp der wo mEnschen für BLEED verkaufe wui.

Mit acht Vorkommen ist so relativ häufig. Nach HAUSENDORF liegt die Funktion von so ein bzw. so=n bei Voranstellung vor Personengruppenbezeichnungen darin, dass es auf einen „in der Vorstellung präsenten sozialen Typus v zeigt\ an dem sich die Darstellung orientiert" (HAUSENDORF 2000:242f). Dass es sich um eine „Orientierung" und nicht um eine exakte Entsprechung handelt, entspricht einer Unschärfemarkierung. Daneben hat so hier aber auch kataphorische Funktion (vgl. AUER, in diesem Band) und ist maßgeblich am Aufbau einer Projektion im ersten Syntagma beteiligt, die im zweiten Syntagma eingelöst wird. Intensivierende Modalisierungen verstärken den Geltungsanspruch des Gesagten. Hierbei spielen u.a. Adverbien wie trotzdem, wirklich oder schon immer eine große Rolle: (13)

ich war (.) ich war schon IMmer d' (.) schon IMmer der TYP der eigentlich (--) nicht GROßartig (--) daheim RUMsitzen konnte.

Ferner kommen Modalisierungen mit temporal- oder lokaldeiktischen Mitteln vor, wie dann, jetzt, da. Das folgende Beispiel exemplifiziert den Gebrauch des Temporaladverbs jetzt in modalisierender Funktion: (14)

ich bin jetzt auch nlch so=n (.) tYp der dann (.) immer irgendwie SCHMERZmittel nimmt;

Diese Mittel haben keine konkreten deiktischen Funktionen, ihre Referenz bleibt vage. Sie fungieren als Abtönungspartikeln. Auffällig ist ferner die hohe Frequenz von auch. Es ist die häufigste Partikel (12 Vorkommen), die meistens zur Intensivierung verwendet wird: (15)

wobei der WALter is ja scho au wirklich jemand der sehr (.) konTAKT(.) äh freudig is. find ICH jetzt.

Auch wird hier nicht koordinativ gebraucht; es ist nicht die Rede davon, dass es neben Walter noch eine weitere kontaktfreudige Person gibt, sondern mit auch wird die Gültigkeit der Assertion modalisiert. Auch als intensivierende Gradpartikel ist unbetont und häufig stark reduziert. Insbesondere in der Kookkurrenz mit anderen Modalisierungen wie in Beispiel (15) ja scho au wirklich entfaltet sich das rhetorische Potenzial. Während ja auf gemeinsames Wissen verweist, hat schon eher einen

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

215

einräumenden Charakter; au(ch) und wirklich wiederum verstärken den Geltungsanspruch. In den Mischungen entstehen Modalisierungen mit vagen Bedeutungsnuancen, deren Gemeinsamkeit wohl in der Markierung eines argumentativen Zuges besteht. Dessen Geltungsanspruch wird dann im Einzelfall als stärker bzw. schwächer präsentiert. 3.8. Semantik

Relativsätze mit prädikativen Nominalphrasen gelten als restriktiv; so nennt MÖTSCH (1965:116) z.B. Günter ist ein Mensch, der seine Pflichten kennt (vgl. a. BECKER 1978:4, 11; FRITSCH 1990:100; BRANDT

1990:40; HOLLER 2005:34). Unter restriktiv versteht man die extensionale Einschränkung des Referenzumfangs hin zu größerer Intension. Im obigen Satz beispielsweise wird unter Menschen ein pflichtbewusster abgegrenzt. Es geht nicht um Aussagen über die Zugehörigkeit zur Gattung „Mensch" wie in: „Vulkanier haben spitze Ohren. Ich bin ein Mensch, der runde Ohren hat". Hier würde der Relativsatz zusätzliche, charakterisierende Eigenschaften benennen (=appositiv), nicht aber eine Teilmenge aus dem Referenzumfang des Prädikatsnomens eingrenzen. Betrachten wir nun die Attribute, die die Relativsätze liefern, genauer. Sie betreffen in erster Linie typische Handlungen, was sich in einer reichhaltigen Palette von Vollverben niederschlägt: jemandem etwas erzählen (Beispiel 1), sich kein Stück nachgeben (Beispiel 2), gern analytisch tätig sein (Beispiel 3) usw. Oft handelt es sich um mehrstellige Verben oder Funktionsverbgefüge mit mehreren Ergänzungen. Es kommen auch 21 Belege mit intransitiven Verben vor, z.B. jammern, kränkeln. Die meisten sind allerdings attributiv erweitert, wie z.B. in: schnell genießen, sehr sehr gerne laufen. Relativsätze, in denen Eigenschaften genannt werden, kommen fast gar nicht vor; der einzige Beleg ist kontaktfreudig sein (vgl. Beispiel 15). Sehr aufschlussreich ist ein Vergleich mit einer Konstruktionsvariante, bei der das restriktive Attribut nicht als Relativsatz, sondern als Adjektiv erscheint. Einfache Existenzaussagen wie „Ich bin ein Mensch" ohne Relativsatz kommen nicht vor, wohl aber Aussagen wie ich bin wohl auch so=n empfindlicher mensch. Hier einige Beispiele für diese Konstruktion: (16)

ich bin wohl auch so=n emPFINDlicher mensch

(17)

ich bin nicht so der sentimentale TYP

(18)

weil ich n=ganz peNIbler typ bin

(19)

ich bin eh nicht der DÜnne typ

Karin Birkner

216 (20)

ich glaub SCHON dass ich=n SEHR toleranter MENSCH bin

(21)

Steffi du bist aber n=superSTARker mensch

(22)

du bist ja n=sehr GUter mensch; n=HERzensguter mensch

(23) der frank ist auch n=attraktlver TYP

Die Matrixsätze sind in vieler Hinsicht mit denen der MenschKonstruktion vergleichbar: Es wird eine Personenattribuierung vorgenommen, es handelt sich um Kopulakonstruktionen, deren Subjekte meistens Personalpronomen sind (häufig 1. Pers.), die Prädikatsnomen werden aus mensch oder typ gebildet und weisen häufig Modalisierungen auf. Anstatt eines attributiven Relativsatzes enthalten sie jedoch pränominale, adjektivische Attribute: Während die Relativsätze vorrangig Handlungen attribuieren, handelt es sich bei den pränominalen Attributen um Eigenschaften: empfindlich, sentimental, penibel, dünn, tolerant, superstark, herzensgut, attraktiv etc. Diese pränominalen Attribute lassen sich in Relativsätze umwandeln. Man erhält dann doppelte Prädikatsnomenkonstruktionen: ich bin eh nicht der typ der DÜnn ist vs. ich bin eh nicht der DÜnne typ. Die Tatsache, dass solche Belege vereinzelt auch unter den MenschKonstruktionen zu finden sind (vgl. Beispiel 15), zeigt die Durchlässigkeit und Verwandtschaft der beiden Konstruktionen. Häufig ist diese Umwandlung bei den Mensch-Konstruktionen mit Relativsatz jedoch nicht möglich. Viele der Relativsätze lassen sich gar nicht oder nur mit starken stilistischen Konnotationen in pränominale Attribute umformen. Je komplexer das Verb und je höher die Anzahl der Ergänzungen und Erweiterungen, desto sperriger wird die Konstruktion. (24)

aber (-) auf lAnge sieht gesehen .h (-) eh: (.) bin ich: auch NICHT der typ der jedem künden die DOPpelkarte;=damit er sein AUto anmelden kann; eh (--) kilometerweise hinterHERträgt.

versus der jedem künden die DOPpelkarte;=damit er sein AUto anmelden kann; eh (--) kilometerweise hinterHERtragende typ.

3.9. Pragmatik Propositionssemantisch gesehen haben die Konstruktionen etwas „Fragmentiertes", ähnlich den Spaltsätzen (vgl. a. LEHMANN 1984: 357). Dieser Aspekt wurde von LAMBRECHT (1994:180) für das Engli-

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

217

sehe im Zusammenhang mit den sog. „bi-clausal presentational constructions" beschrieben. „Presentational" sind die Konstruktionen, weil der Matrixsatz einen Referenten in die Diskurswelt einführt: The basic communicative function of such sentences is not to predicate a property of an argument but to introduce a referent into a discourse, often (but not always) to make it available for predication in subsequent discourse. (LAMBRECHT 1994:177)

Die Matrixsätze dieser Konstruktionen sind im Englischen durch typische Verben gekennzeichnet: be, be at, live, arrive, have, see (1994:180). Sie bilden einen präsentativen Matrixsatz; die anschließende Prädikation kann durch einen nachgestellten Relativsatz vorgenommen werden (diese Konstruktionen werden auch „presentational relative construction" genannt, vgl. LAMBRECHT 1994:177ff; 2002; 1988a; 1988b). So z.B. die typischen Märchenanfänge Once there was a wizard who was very wise and rich: Die grammatische Relation zwischen den Syntagmen ist dadurch gekennzeichnet, dass der gerade eingeführte Referent wizard im Relativpronomen who als ein unakzentuierter pronominaler Topic-Ausdruck in einem abhängigen, subordinierten Satz erscheint. Präsentative Relativkonstruktionen vollziehen eine syntaktische Aufspaltung mit einer spezifischen Arbeitsteilung: Syntagma 1 (die „presentational clause", LAMBRECHT 1988b:322) führt den Referenten ein, Syntagma 2 (der Relativsatz) enthält in diesen Konstruktionen nicht die präsupponierte, sondern die assertierte Information und damit die Hauptprädikation (LAMBRECHT 1988a: 158; vgl. a. 1988b:325; 1994:180). Während „normale" restriktive Relativsätze als Nomenmodifikatoren einer komplexen NP subordiniert werden, sind die informationsstrukturellen Abhängigkeiten bei den „biclausal presentational constructions" verkehrt. 5 Auch wenn ausdrucksseitig syntaktische Subordination markiert ist (im Englischen durch das Relativpronomen; LAMBRECHT 1994:177), weisen die Relativsätze semantische und pragmatische Merkmale auf, die es rechtfertigen, sie als „dependent main clauses" (abhängige Hauptsätze, LAMBRECHT 1994:180) zu bezeichnen. Diese informationsstrukturellen Besonderheiten teilen die Mensch-Konstruktionen mit den für das Englische beschriebenen „presentational relative constructions". So nimmt das erste Syntagma eine

5

Interessant ist auch, dass für LAMBRECHT (1994:23) „presentational relative constructions" keine restriktiven Relativkonstruktionen sind; er geht davon aus, dass sie einen eigenen semantischen Typ darstellen.

Karin Birkner

218

thematische Projektion vor; es ist nicht getrennt assertierbar, sondern eröffnet einen Skopus, der das zweite Syntagma umfasst. LAMBRECHT bestimmt die „topic promotion" als eine wesentliche Funktion der „biclausal presentational construction": aus nicht-aktiven (brandnew/unused) Topics werden aktive Topics und er stellt fest: „active referents may not occur in presentational constructions" (LAMBRECHT 1994:184). Die Märchenanfänge sind hier besonders einschlägig, da sie ja sogar den Beginn des Textes bilden. Für die MenschKonstruktionen trifft die Beschreibung „Einführung eines neuen TopicReferenten" nicht zu; sie stehen oft in einem etablierten thematischen Kontext des Sprechens darüber, „wie man (nicht) ist und was man (nicht) tut". Der Topic-Referent erscheint als Agens und ist bereits eingeführt, was sich in der Pronominalisierung widerspiegelt. Die thematische Projektion besteht vielmehr darin, dass durch das erste Syntagma eine Typisierung des Topic-Referenten angekündigt wird, die im zweiten Syntagma erfolgt. Das spiegelt sich u.a. oft in kataphorischen Verweisen mit so: ich bin so—η mensch der... Aber lässt sich sagen, dass diese Doppelstruktur „übermäßig aufgebläht", d.h. inhaltsleer wäre, wie es Goldt in seiner sprachkritischen Anmerkung postuliert? Das lässt sich überprüfen, indem man die Mensch-Konstruktion „defragmentiert". Dazu soll zunächst ein Beispiel mit Mensch-Konstruktionen in seinem diskursiven Kontext vorgestellt werden. (25) ((Patientin mit chronischen Kiefergelenkschmerzen im Interview)) 1

I:

ham sie sonst FREUnde irgendwie mit denen sie' (-)

2 3 4 5

RF:

6 7 8 9

I: RF:

10 11 12 13

=>

denen sie das erZÄHlen, oder; (.) oder mit denen sie sich auch Austauschen [(könn=n) [ah JA::, im' im' (.) im geSCHÄFT kann ich des SCHON mAchen. = (2.2) ja:, aber ich mein- (3.6) ich (0.9) bin dann eben WIRKlich nlch der typ der da jeden tag sagt OH:; jetz tut mir wieder WEH: und; (--) also=pfff. (-) ich find das; (.) ich mein, .h (-)

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

14 => 15 => 16 17 18 19 20 21

I: RF: I:

219

ich (.) ich bin ein MENSCH, =der (.) der eigentlich (--) jemand=n was erZÄHLT, (-) um vielLElCHT auch die möglichkeit zu HAben; (.) dass der mir nen RATschlag [geben] kann oder so; [mhm ] also nUr SAgen AH:: des' des' (.) damit (.) kann ja niemand was ANfangen. na j a KLAR.

Die Sprecherin produziert hier zwei Mensch-Konstruktionen kurz hintereinander. Die Frage des Interviewers, ob sie mit anderen Menschen über ihre chronischen Schmerzen sprechen könne (Z. 1-3), bejaht sie und führt die Kolleg/innen am Arbeitsplatz an (Z. 4-5). Mit einem adversativen aber und einem Heckenausdruck ich mein (Z. 8) kündigt sie dann allerdings eine Einschränkung an. Diese wird in Form einer Mensch-Konstruktion realisiert, in der sie betont, dass sie nicht der Typ sei, der täglich sage, dass er Schmerzen habe. Nach dieser Abgrenzung liefert die Sprecherin eine positive Zuordnung, auch wieder eingeleitet durch einen Heckenausdruck (Z. 13): Sie ist ein Mensch, der erzählt, um Ratschläge zu erhalten (Z. 14-17). Die Sequenz schließt ab mit der Begründung dieses Verhaltens: damit (.) kann ja niemand was ANfangen (Z. 20). Eliminieren wir die Matrixsätze der Mensch-Konstruktion und formen die Relativsätze in Hauptsätze um, ergibt sich Folgendes: (25") ((Konstruierte Version zu 25)) 1

I:

ham sie sonst FREUnde irgendwie mit denen sie' (-)

2 3 4 5

RF:

6 I: 7 RF: 8 9 => 10 11 12 13 14 =>

denen sie das erZÄHlen, oder; (.) oder mit denen sie sich auch Austauschen [ (könn=n) [ah JA::, im' im' (.) im geSCHÄFT kann ich des SCHON mAchen. = (2.2) ja:, aber ich mein- (3.6) ich (0.9) sag nicht jeden tag OH:; jetz tut mir wieder WEH: und; (--) also=pfff. (-) ich find das; (.) ich mein, .h (-) ich (.) ich erzähl eigentlich (--) jemand=n was, (-)

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220 15 16 17

I:

um vielLEICHT auch die möglichkeit zu HAben,- (.) dass der mir nen RATschlag [geben] kann oder so; [mhm ]

Zunächst einmal wird deutlich, dass der Wegfall des präsentativen Matrixsatzes nicht zu unsemantischen oder agrammatischen Strukturen führt. Umgekehrt wäre die Eliminierung des Relativsatzes nicht möglich: die rhematische Hauptprädikation in der Mensch-Konstruktion liegt also tatsächlich im Relativsatz. In der veränderten Version werden Handlungen oder Handlungsweisen assertiert, während sich im Unterschied dazu das Agens in der Mensch-Konstruktion als zu einer Gruppe ebenso Handelnder zugehörig typisiert. Damit wird die Handlung nicht als spezifische und vielleicht gar singulare, lokal und temporal genau situierbare präsentiert, sondern das Ausführen (oder Nicht-Ausführen) der Handlung wird zur Charaktereigenschaft des Agens erklärt. Statt um faktische Handlungen geht es in den Mensch-Konstruktionen um eine gültig bleibende, wiederkehrende Handlungsdisposition. Diese konstituiert die Zugehörigkeit zu einer durch diese Handlungen typisierten Gruppe. Die Fragmentierung, die die Mensch-Konstruktion aufweist, ist mit einer spezifischen Arbeitsteilung verbunden. Das erste Syntagma projiziert einen Deutungsrahmen für die Attribuierung im 2. Syntagma, in dem der Deutungsrahmen propositional gefüllt wird. Zwar ist der Matrixsatz thematisch nachgeordnet, erscheint aber syntaktisch nichtsubordiniert. Der Relativsatz hingegen, der wesentliche rhematische Informationen enthält, ist syntaktisch subordiniert. Die Funktion der Mensch-Konstruktion lässt sich mit L U C I U S H O E H N E / D E P P E R M Ä N N (2004:196) als diskursive personale Positionierung fassen. Dabei werden der eigenen oder anderen Personen explizit oder implizit Bestimmungsstücke zugeschrieben; Positionierungsakte können demnach der Selbst- oder auch der Fremdpositionierung dienen (2002:197). Die Mensch-Konstruktion stellt einen expliziten Positionierungsakt dar. Wie die Analyse der Personalpronomina im Matrixsatz gezeigt hat, ist zwar die Selbstpositionierung der/des Sprechenden aus der ich-Perspektive die häufigste, aber auch die Fremdpositionierung Dritter sowie des Gegenübers ist möglich. Die Positionierung besteht aus der Zugehörigkeitsassertion zu einem Typus, der im 2. Syntagma mit Attributen konstituiert wird. Mit einer Attribuierung sind immer auch Bewertungen verbunden und sowohl die Selbstbewertung als auch die anderer birgt gewisse Risiken: Der Gesprächspartner kann die Bewertung nicht teilen, sie kann als

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

221

Selbstlob oder auch als Kritik ausgelegt werden. Die Erklärung individueller zu kollektiv typisierten Handlungen hat in diesem Zusammenhang eine Entlastungsfunktion („Andere sind auch so...")» da das Individuum hinter einer Gruppe zurücktritt. Daneben ist oft auch eine Legitimierungsfunktion zu erkennen („So bin ich nun mal..."), insofern ein bestimmtes Verhalten aus dieser Zugehörigkeit quasi zwangsläufig folgt. Nicht „ein Mensch" oder „Typ" wird als Thema eingeführt, vielmehr leistet die Mensch-Konstruktion die Etablierung eines Offenbarungsszenarios der personalen Attribuierung und Positionierung. Bei den Zugehörigkeitskategorien, auf die die Mensch-Konstruktion rekurriert, handelt es sich häufig nicht um alltagsweltlich etablierte „Typen gesellschaftlicher Interaktion" (BERGER/LUCKMANN 1980:33), sondern sie werden ad hoc konstituiert. Sie werden mittels der MenschKonstruktion lokal und diskursiv hergestellt und sind damit auch potenziell vage und maximal offen. 6 Die häufigen Unschärfemarkierungen sowohl im Matrixsatz als auch im Relativsatz unterstützen diesen Aspekt. Daneben wird allerdings der Geltungsanspruch der Zugehörigkeitserklärung häufig durch intensivierende Elemente verstärkt. So wird es möglich, dass zwei sich scheinbar widersprechende Modalisierungen, nämlich abschwächende und verstärkende, gleichzeitig vorkommen.

4. Die Mensch-Konstruktion ohne V-L im zweiten Syntagma Eine Stütze für die These der Eigenständigkeit des Relativsatzes in präsentativen Relativkonstruktionen liefert auch die deutsche Übersetzung des Märchenanfangs: Es war einmal ein Zauberer, der war sehr weise und reich. Anders als im Englischen handelt es sich hier nicht um ein hypotaktisches Satzgefüge, da auch das zweite Syntagma V-26

BERGER/LUCKMANN (1980) richten das Augenmerk hauptsächlich auf vorgängig vorhandene, in der Wirklichkeit der Alltagswelt verfügbare Typisierungen mit als bekannt voraussetzbaren Eigenschaften und Verhaltensweisen (S. 33ff). Auch in HAUSENDORFS (2000) empirischer Untersuchung der sprachlichen Darstellung von Zugehörigkeit im Kontext der deutschen Wiedervereinigung spielt vor allem die Bezugnahme auf musterhaft ausgeprägte soziale Typen eine große Rolle. Die Mensch-Konstruktion hingegen rekurriert selten auf im gesellschaftlichen Wissensvorrat sedimentierte und klar konturierte soziale Typen; sie schafft sie vielmehr ad hoc und passgenau für den jeweiligen Argumentationszusammenhang. Die an der Typisierung beteiligten sprachlichen Mittel ähneln sich dennoch; so beschreibt HAUSENDORF u.a. generische Referenz, die Wendung so ein und Wortbildungen mit typ (vgl. HAUSENDORF 2000:23 Iff).

222

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Stellung aufweist. Die relativische Struktur im Deutschen unterscheidet sich vom Englischen in zwei Merkmalen: Im Englischen gilt der Junktor who als das typische ausdrucksseitige Merkmal für den subordinierten Relativsatz, während im Deutschen die V-L-Stellung als Merkmal für syntaktische Subordination gilt. Im Deutschen ist der anders als das englische who nicht eindeutig ein Relativjunktor. Das Relativpronomen der/die/das ist zum einen mit den Demonstrativa formgleich und zum zweiten sogar mit dem Personalpronomen der 3. Pers. Im gesprochenen Deutsch ersetzen die Formen der/die häufig die standardsprachlichen Personalpronomen der 3. Pers. er/sie (LAMBRECHT 1994:204). Aus dieser Perspektive muss die deutsche Version des Märchenanfangs als nicht-subordiniert gelten; wir haben es mit einem Hauptsatz zu tun. Dass diese Stellungsvariation nicht nur in den idiomatisierten, stark verfestigten Formeln der gattungsindizierenden Märchenanfänge ein relevantes Phänomen ist, zeigen Belege, die bei der Suche nach den Bezugsnomen der Mensch-Konstruktion ins Netz gehen. Es finden sich Beispiele, in denen auf die typische Matrixkonstruktion kein Relativsatz, sondern ein V-2-Satz folgt.7 Die folgenden Beispiele illustrieren den Typ: (26)

also das Is einfach n=mensch äh der gehört auch zu MIR;

(27)

ja dat sin MENschen;=die ham so:' (.) die=die sin so verANlagt.

(28)

< < a l l > i c h b i n j a s o n m e n s c h i c h ver>GEß j a NICHTS; ne,

(29)

also: (.) ich bin auch so=n tYp?=wenn ich KRANK bin; also dann will ich immer alles drüber Wissen;

Über die Frage, ob das Deutsche auch über V-2-Relativsätze verfügt, gibt es vereinzelte Diskussionen (vgl. GÄRTNER 1998; a. BRANDT 1990:49f, HOLLER 2 0 0 5 : 3 1 f , LAMBRECHT 1994, LEHMANN 1995:1215, SANDIG 1973, SCHUETZE-COBURN 1984; WEINERT 2 0 0 4 : 2 0 ; 4 2 f , ZL-

FONUN 2001:78). Gemeinhin fassen Grammatiken diese Strukturen als Koordinationen auf; so z.B. EISENBERG (1999:263), der jedoch unter Bezug auf GÄRTNER (1998) einräumt, dass es sich um einen Übergangstyp handelt. Das pronominale Element im Vorfeld des zweiten

7

Mensch-Konstruktionen, deren zweite Syntagmen nur eine einzelne Verbform enthalten, sind in dieser Hinsicht ambig: ich mein= ich bin WTRKlich kei typ mEnsch der JAMmert. Sie wurden als V-L-Struktur behandelt.

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

223

Syntagmas wird als Demonstrativpronomen (und nicht als Relativpronomen) interpretiert. MAURER (1926:176) hingegen zählt sie zu den Relativsätzen, und auch BAUMGÄRTNER (1959:96, 103) spricht von „attributivischen Relativsätzen in Parataxe". Nach SANDIG handelt es sich um ein normativ diskriminiertes syntaktisches Muster, das aus syntaktischer Perspektive nicht als Relativsatz bezeichnet werden kann und dessen Status formalsyntaktisch nicht zu entscheiden ist (1973:41f). Sie räumt jedoch ein, dass zwei Merkmale gegen die Annahme von Parataxe sprechen: 1. dass mit der eingeleitete V-2Strukturen häufig „in einer Betonungskurve" artikuliert werden und 2. „die Bedeutung des zweiten Satzes, die jeweils ein Syntagma des ersten einschränkt" (1973:42). GÄRTNER (1998) legt die einzige Arbeit vor, die sich ausführlicher mit dieser Konstruktion beschäftigt; er verneint die Frage nach der Zugehörigkeit zu den Relativsätzen aus syntaktischer Perspektive, wenngleich er aus semantischer Perspektive aufzeigt, dass „integrated verb second"-Sätze wie restriktive Relativsätze interpretiert werden. GÄRTNER beschreibt in seiner Analyse die semantischen, pragmatischen, prosodischen Bedingungen, unter denen diese spezifische syntaktische Struktur wie ein Relativsatz interpretiert werden kann, und kommt zu dem Schluss, dass es sich um einen „Hybrid zwischen Hypotaxe und Parataxe" (1998:37) handelt. Bei genauerer Betrachtung seiner Beispiele (deren empirischer Status leider unklar bleibt) wird deutlich, dass sich tatsächlich auch Mensch-Konstruktionen im Korpus befinden: Maria ist ein Mensch, den solltet ihr nicht unterschätzen (1998:14). Im Korpus kommen 16 Belege von Mensch-Konstruktionen vor, deren zweites Syntagma kein V-L-Nebensatz ist, sondern ein V-2-Satz mit engem semanto-pragmatischen Bezug. Vergleicht man Konstruktionen mit V-L und V-2-Stellung (bzw. Vorvorfeldposition), so stellt man fest, dass sie sich nicht grundlegend unterscheiden. Insbesondere bei den Konstruktionen, in denen die 3. Pers. Sing, das Agens des Matrixsatzes darstellt, ist die syntaktische Stellung des Verbs die einzige Differenz zwischen den beiden Varianten: (30)

V - L - S t e l l u n g : dEr is=n mensch der zwischendurch ma n=bissen REden will;

(31)

V - 2 - S t e l l u n g : das Is einfach n=mensch äh der gehört auch zu MIR;

Die Genuskongruenz zwischen Relativpronomen und dem Bezugsnomen Mensch verlangt der. Bei einem Agens in der 3. Pers. Sing, ist aber auch ein potenzielles Demonstrativpronomen in einer V-2-Struktur mit

Karin Birkner

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der formgleich. Agens, Bezugsnomen und das phorische Element stimmen überein. Anders verhält es sich jedoch, wenn das Agens der Matrixkonstruktion in der 1. oder 2. Pers. steht. In der hypotaktischen Relativkonstruktion gibt es einen Wechsel aus der ic/i-Perspektive in die Perspektive der 3. Person, wie z.B. in (25): ich bin ein MENSCH,=der (.) der eigentlich jemand-n was erZÄHLT. Bei den V2-Konstruktionen wird der Perspektivwechsel hingegen nicht vollzogen und die Kongruenz zwischen Bezugsnomen und phorischem Element zugunsten der Kongruenz mit dem Agens aufgegeben: (32) aber ich bin auch n=mensch ich kann in JEANS rumlaufen,

Nicht belegt und kontraintuitiv ist *aber ich bin auch n=mensch der kann in JEANS rumlaufen. Ebenfalls weder belegt noch vorstellbar ist die Mensch-Konstruktion mit negiertem Matrixsatz und V-2-Stellung im zweiten Syntagma: *aber ich bin auch kein=mensch der kann in JEANS rumlaufen. Betrachten wir das Beispiel in seinem Kontext: (32') ((Big-Brother-Korpus; Diskussion zum Thema: Machen Kleider Leute?)) 1 2

Adr: nee ich mUss schon SAGN; ich trag GERne äh äh äh (-) schöne KLEIdung. .h (-)

3 4 5 6

Jrg: Adr:

7 Jrg: 8 => Adr: 9 10 11

Jrg:

aber oftmals ist mir dAs was mir [geFÄLLT, einfach zu äh] [warum MACHSt=es dann ] nich. es=is mir einfach zu TEUer. (0.75) also=das kann ich mir dann nich' (.) das kann ich mir nich [LEIsten. [hm=hm, aber ich bin auch n=mensch ich kann in JEANS rumlaufen, mit sweatshirt, oder (-) .h ich kann mich [auch AUFstylen. ] [aber schöne klei]dung hat doch nicht immer was mit=n PREIS zu tun.

Die semantischen und pragmatischen Merkmale dieser nicht subordinativen Mensch-Konstruktion aber ich bin auch n=mensch ich kann in JEANS rumlaufen decken sich mit dem, was im Vorangegangenen für Relativkonstruktionen beschrieben wurde: Die Sprecherin assertiert keine konkrete Handlung, sondern eine Handlungsdisposition, die sie sich als Charaktereigenschaft selbstattribuiert. Lediglich syntaktisch unterscheidet sich die relativische Konstruktion durch die Verbstellung.

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

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Hinzu kommt, dass nicht das Prädikatsnomen wieder aufgenommen wird, sondern das Subjekt des Matrixsatzes. Bei Subjekten der 1. Pers. unterscheiden sich die V-2 und V-L-Varianten auf der sprachlichen Oberfläche also nicht nur über die Verbstellung, sondern werden zusätzlich auch über den Agenswechsel markiert. Damit fällt ein weiteres konstitutives Merkmal des Relativsatzes weg, und die syntaktische Desintegration ist noch weiter fortgeschritten. Allerdings kommt es auch unter den Mensch-Konstruktionen mit V-L-Stellung vereinzelt zu Kongruenz-„Turbulenzen". Im folgenden Beispiel richtet sich das Relativpronomen nach dem natürlichen Geschlecht des Subjekts des Matrixsatzes und nicht nach dem Genus des Bezugsnomens: (33)

durch des dass [...] die STEffi halt is (.) die sowas nich SEHN kann,

.h

(.) a m E n s c h

Im nächsten Beispiel kongruieren zwar Bezugsnomen und Relativpronomen, aber das Verb im Relativsatz nicht mit diesen. Es erscheint nicht in der 3. Pers., sondern kongruiert mit dem Subjekt des Matrixsatzes, das 1. Pers. Sing. ist. (34) ((Dialekt-Korpus; Interview)) 1

D:

2 3 4 I: 5 => D:

also ich ich bin=e m E n s c h der ((räuspern, husten)) zum b e T R A C H t e n einer architekTUR, oder oder eines DOmes, =n=er Kirche; mhm, och η bissl U m f e l d m ä s s i g e bissl was vorAUSsetze.

Es scheint, dass die Eigenständigkeit des zweiten Syntagmas in den Mensch-Konstruktionen und die Rückstufung des Matrixsatzes zu einer Lockerung der Kongruenzverhältnisse führen. In dem Maße, wie die syntaktische und semantische Unabhängigkeit des 2. Syntagmas gesteigert ist, sinkt die Regenz der Matrixsätze. In den V-2-MenschKonstruktionen mit 1. Pers. ist die syntaktische Abhängigkeit fast vollständig aufgehoben, syntaktisch gesehen handelt es sich um zwei Hauptsätze, die sich zu einer parataktischen Satzfolge koordinieren. Semantisch jedoch kann die Aussage „Ich bin ein Mensch" nicht separat assertiert werden. Und auch das zweite Syntagma bezieht einen großen Teil seiner Bedeutung aus der Tatsache, dass ihm das 1. Syntagma vorausgeht. Es besteht ein ähnliches Abhängigkeitsverhältnis, wie es AUER (1998) bei den „abhängigen Hauptsätzen" beschrieben hat (vgl. auch LAMBRECHT 1994:180). Die Bedeutung der Mensch-

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Karin Birkner

Konstruktion basiert auf dem gemeinsamen Auftreten der beiden Syntagmen: Die Matrixkonstruktion projiziert den zweiten Teil, der die Hauptprädikation liefert, und bestimmt deren semantische und pragmatische Bedeutung. Durch die „mangelnde Entsprechung zwischen pragmatischem Gewicht und syntaktischem Status der Matrixsätze bzw. der abhängigen Sätze" (AUER 1998:304) wird der Weg frei für das Auftreten „syntaktischer Zwischenformen" und eben auch Variation. So ist es nicht nur möglich, V-2-Hauptsätze anzuschließen, sondern auch komplexere Strukturen, wie im obigen Beispiel (29): (29) ((Schmerz-Korpus; Interview) 1 2 3

CH:

also: (.) ich BIN auch so=n tYp? =wenn ich KRANK bin; also dann will ich immer alles drüber Wissen;

Auf die Matrixkonstruktion folgt syntaktisch desintegriert ein Konditionalgefüge. Die syntaktisch integrierte Version würde lauten: ich BIN auch so=n tYp? der wenn er KRANK ist; also dann immer alles drüber WISsen will. Im Beispiel (30) jedoch steht die Matrixkonstruktion im Vorvorfeld der wenn-dann-Konstruktion, sie wirkt als Freies Thema, das syntaktisch noch loser angebunden ist als die bisher behandelten V2-Strukturen.8 Auch wenn das informationsstrukturelle Gewicht der MenschKonstruktion gegenüber herkömmlichen Relativkonstruktionen in das 2. Syntagma verschoben ist, was eine Variation zwischen syntaktischer Integration und Desintegration ermöglicht, so steht die Konstruktion doch in einem engen semantischen und pragmatischen Abhängigkeitsverhältnis. SCHUETZE-COBURN (1984:657) kommt bei seiner Beschäftigung mit V-2-Relativsätzen zu dem Ergebnis: „Syntactically coordinate, arguably subordinate in function and intonation, verb-second relative clauses fall on the border of subordination (...)". SCHUETZECOBURN schlägt vor, V-2-Relativsätze von selbstständigen V-2-Sätzen mit Demonstrativpronomen via Intonation zu unterscheiden. Er stellt fest, dass V-2-Relativsätze „signal their dependency by means of a linking intonational pattern" (1984:657).9 Dabei hat er allerdings nur 8

9

Ähnliche Phänomene gibt es z.B. unter den Pseudocleft-Konstruktionen: was mir ebent se:hr viel SPASS (.) bereitet hat, (.) ich durfte auch vor Ort bei (.) .h ganz konkreten (-) kreDITgesprächen (-) daBEI sein. Die Funktion des W-Syntagmas liegt hier jedoch eher in der Diskursstrukturierung; es wird ein neues Thema eingeführt. Vgl. hierzu auch GÜNTHNER in diesem Band. Die prosodischen Analysen von SCHUETZE-COBURN (1984) sind nicht sehr ausgebaut. Als Parameter für prosodische Anbindung gelten Phrasengrenzen signalisierende Mittel

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

227

die ambigen Fälle in der 3. Pers. im Blick, in denen das potenzielle Relativpronomen mit dem Demonstrativpronomen formgleich ist. Die Frage, wie sich die prosodische Gestaltung der Mensch-Konstruktion zu den syntaktischen und semanto-pragmatischen Abhängigkeiten verhält, soll im Folgenden überprüft werden. 5. Prosodie In Bezug auf die prosodische Gestaltung der Mensch-Konstruktion interessiert vor allem die Frage, ob die beiden Syntagmen integriert oder desintegriert gestaltet sind. Man geht davon ausgehen, dass maximale prosodische Desintegration vorliegt, wenn die zwei Syntagmen der Mensch-Konstruktion als zwei Intonationsphrasen gestaltet sind. Intonationsphrasen werden durch spezielle Bündel von Diskontinuitätsmerkmalen konstituiert und gegeneinander abgegrenzt. 10 Eine Intonationsphrase ist ein als zusammengehörig wahrgenommener Äußerungsabschnitt, der durch das Vorliegen mindestens einer primärakzenttragenden Silbe und durch verschiedene grenzmarkierende Phänomene gekennzeichnet ist, zu denen finale Tonhöhenbewegungen, Grenztöne, aber auch Pausen, Tonhöhen-, Sprechgeschwindigkeits- und Rhythmikveränderungen zählen. Diese Merkmale können in unterschiedlichen Kombinationen gebündelt vorkommen; je mehr von ihnen dabei gemeinsam auftreten, desto prägnanter erscheint eine Intonationsphrasenbegrenzung. Grenztöne, die häufig von merklichen Tonhöhenveränderungen und Neuansatz der nachfolgenden Intonationsphrase gefolgt werden und auditiv relativ salient sind, können als primäre, konstitutive Merkmale gelten, während Pausen sekundäre Merkmale sind. Da jede Intonationsphrase mindestens einen Primärakzent haben muss, folgt daraus, dass auch das Vorhandensein oder Nicht-Vorhandensein eines Akzents sowie eine ausgeprägte nukleare Kontur eine Phrasierung vereindeutigen kann. Maximale prosodische Integration liegt vor, wenn die beiden Syntagmen an der Junktionsnaht keinerlei Phrasierungsmerkmale aufwei-

10

wie Pausen und „pretonic falling change in pitch". Prosodische Anbindung wird mit „pretonic rising" (steigende, weiterweisende Kontur) signalisiert. SCHÖNHERR (1997) bestimmt die prosodischen Kernsignale für Kontinuität bzw. Diskontinuität folgendermaßen: Während das Vorhandensein einer intonatorischen Phrasengrenze und Pausen zu den Merkmalen für Diskontinuität zählt, markiert das Fehlen von Phrasengrenzen, Pausen und die Reduzierung der Akzentstärke im Vergleich zur Nachbarphrase Kontinuität.

Karin Birkner

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sen, sondern „in einem Zug" produziert werden. Der Matrixsatz ist nicht akzentuiert. Dieser Eindruck wird häufig verstärkt durch prosodische Merkmale wie Rhythmik, Lautstärke-, Tonhöhen- und Sprechgeschwindigkeitsphänomene, die über die Junktionsnaht hinweg die beiden Syntagmen verbinden. Dazwischen gibt es verschiedene Übergangsformen. So kann die Phrasierung wenig prägnant sein, weil sie z.B. nicht durch Pausen und weitere Diskontinuitätsmerkmale begleitet wird. Oder das Diskontinuitätsmerkmal Pause wird durch die Wiederaufnahme der Tonhöhe davor und danach neutralisiert. Ebenso kann die Diskontinuität zweier Intonationsphrasen durch einen schnellen Anschluss teilweise reduziert werden. Die Gründe für diese Zwischenformen liegen in einer doppelten Orientierung der prosodischen Markierung komplexer Syntax. So handelt es sich bei einem Relativsatz auf der einen Seite um eine syntaktische (Sub-)Einheit mit einer internen Zusammengehörigkeit. Diese steht jedoch mit ihrem Matrixsatz, der ebenfalls eine syntaktische (Sub-)Einheit bildet, in dem übergeordneten Zusammenhang einer komplexen Struktur. Daran schließen sich weitere Strukturen an, die wiederum interne und externe Abhängigkeiten aufweisen. Die prosodische Markierung von Abhängigkeit und Unabhängigkeit steht also immer in einem relationalen Spannungsfeld, wodurch das gleichzeitige Auftreten von Kontinuität und Diskontinuität signalisierender Mittel motiviert sein kann. Die Belege der Mensch-Konstruktion wurden einer auditiven prosodischen Analyse unterzogen. Bei prosodischer (Des-)Integration handelt es sich um ein Kontinuum; aus analytischen Gründen wurden vier Grade prosodischer Integration unterschieden, die sich durch folgende Merkmale auszeichnen (eingeklammerte Merkmale sind fakultativ):

2 Intonationsphrasen 2 Primärakzente Pause an Junktionsn. Wechsel an Junktionsn. Tabelle 7

starke Desintegrat. ja

schwache Desintegrat. ja

schwache Integral nein

starke Integrat. nein

ja

ja

nein

nein

ja

nein

(nein)

nein

ja

(nein)

(ja)

nein

(Relativ-)Konstruktionen zur Personenattribuierung

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Die folgenden Beispiele illustrieren die vier Grade von prosodischer Integration. (35) Starke prosodische Desintegration 1 2 3

B:

ick bin an=un=für=sich n=MENSCH, (0.7) .h äh herr HEISCH, äh (.) der s:ehr schnell AUFbrausend is?

Der Matrixsatz (Ζ. 1) und der Relativsatz (Z. 3) bilden je eigene Intonationsphrasen mit Primärakzenten und phrasenfinal steigender Intonation. Parenthetisch dazwischen geschoben ist eine Adressierung des Interviewers via Namensnennung, die von Pausen gerahmt ist, was die prosodische Desintegration noch verstärkt. (36) Schwache prosodische Desintegration 14 RF: 15 => 16

ich (.) ich bin ein MENSCH, =der (.) der eigentlich (--) jemand=n was erZÄHLT, (-) um vielLEICHT auch die möglichkeit zu HAben; [. . .]

Auch hier bilden Matrixsatz und Relativsatz eigene Intonationsphrasen: Die Bezugsnomen tragen einen Primärakzent und enden mit steigender Intonation. Jedoch befinden sich an der Junktionsnaht keine Pausen oder Einschübe, die die Desintegration verstärken würden; stattdessen wird sie durch einen schnellen Anschluss des zweiten Syntagmas reduziert. Allerdings kommt es zu einer kleinen Turbulenz nach dem Relativjunktor, es entsteht eine Mikropause und das Relativpronomen der wird wiederholt. (37) Schwache prosodische Integration 1

Jhn: (0.58) der sich da ooch kEin stück NACHgeben will.

Bei der schwachen Integration bilden die beiden Syntagmen der Mensch-Konstruktion eine Intonationsphrase, die in der Regel nur einen Primärakzent aufweist. Im obigen Beispiel findet sich eine Pause direkt an der Junktionsnaht; deren Diskontinuität signalisierendes Potenzial wird jedoch durch die Wiederaufnahme der Tonhöhe neutralisiert. Auch in einigen Belegen dieser Kategorie kommt es wie in Beispiel (36) zu Turbulenzen an der Junktionsnaht. In 4 Belegen werden Matrixkonstruktion und Relativpronomen prosodisch integriert produziert, dann kommt es zu einer kleinen Pause und der Wiederholung des Relativjunktors. Hierbei handelt es sich nicht um Selbstreparaturen, bei denen eine Struktur modifiziert wird, sondern eher um Planungsverzö-

Karin Birkner

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gerungen. Pausen kommen grundsätzlich häufig nach dem Relativjunktor vor, auch ohne dessen Wiederholung. In 9 Belegen steht eine Mikropause direkt nach dem Relativjunktor, in weiteren 9 Fällen erscheint sie entweder ein oder zwei Silben nach dem Junktor (jedoch vor dem Verb) oder auch direkt vor dem Bezugsnomen. Zusammen mit den 5 Fällen mit Junktorwiederholung (4 aus der Kategorie „schwache Integration" und 1 aus „schwache Desintegration") ergeben sich 25 Fälle (=36% des Gesamtkorpus) mit Pausen im unmittelbaren Kontext der Junktionsnaht. 31 Belege haben keine Pause, weder auf der Junktionsnaht noch in der unmittelbaren Umgebung. Es entsteht der Eindruck, als würden Pausen auf der Junktionsnaht vermieden. In nur 11 Belegen (=15%) überhaupt kommt eine Pause auf der Junktionsnaht vor. Treten Planungsverzögerungen auf, wird die Pause entweder nach oder vor der syntaktischen Grenze gemacht. (38) Starke prosodische Integration 1

Sbr: aber ich muss natürlich> auf j E d e n fall sEhn- (-) ähm dass man den lehrstuhl behÄlt und unter Umständen sAgen wir bringen den irgendwie Unter. (-)

Nicht nur syntaktische, auch semantische Gründe sprechen dafür, dass freie Infinitivkonstruktionen eine Grammatikalisierung elliptischer Modalkonstruktionen sind. Sie haben nämlich immer eine deontische Bedeutung und werden deshalb im Folgenden , deontische Infinitivkon-

4

In den Transkripten verweisen zwei Additionszeichen , + + ' auf Bezugsstrukturen, die für die Interpretation einer freien IK maßgeblich sind; der Pfeil verweist auf die freie IK selbst.

Deontische Infinitivkonstruktionen

243

struktionen' (DIK) genannt. Deontische Aussagen nehmen zu einer Handlungsweise normativ Stellung. Sie kategorisieren sie als geboten, verboten, erlaubt oder normativ indifferent (vgl. VON WRIGHT 1976). Deontische Aussagen sind essentiell für den Prozess der Handlungsorientierung, da mit ihnen die kognitive Bewertung und die praktische Verbindlichkeit von Handlungsoptionen festgelegt werden. Die Kategorie der ,(deontischen) Modalität' ist eine semantischpragmatische Kategorie. Sie ist nicht mit dem grammatischen Modus zu verwechseln. ,Modus' bezieht sich auf grammatische Kategorien wie Verbmodus, Satzmodus, Modalverben und -adverbien. Eine wesentliche Pointe der Verwendung freier IK liegt gerade darin, dass sie hinsichtlich des grammatischen Modus unbestimmt sind. Das verleiht ihnen erst das Potenzial, für unterschiedliche Modalitäten verwendet zu werden, dabei aber oft vage zu bleiben. Grammatiken vermitteln den Eindruck, dass freie IK ausschließlich als Imperativäquivalente und (höfliche) Instruktionen benutzt werden. Diese Verwendung ist auch in mündlichen Interaktionen zu finden, sie ist aber nicht die einzige. DIK sind vielmehr eine radiale Kategorie im Sinne von LAKOFF (1987). Mit ihnen können sehr unterschiedliche deontische Handlungen vollzogen werden. Die pragmatische Basisbedeutung der Konstruktion ist dabei die normative Stellungnahme zu einer künftigen Handlung. Sie wird in verschiedenen Weisen kontextuell spezifiziert. Figur 1 ordnet die unterschiedlichen durch DIK realisierten Handlungstypen in einem semantischen Raum, der durch die Dimensionen ,Verpflichtungsgrad der Handlung' und ,Agens der auszuführenden Handlung' gebildet wird, an. Die „Klage" ist in Kapitälchen gesetzt, da sie sich von den übrigen Handlungstypen dadurch unterscheidet, dass die deontische Norm nicht von den Sprecherinnen gesetzt wird. Für Klagen ist dagegen gerade charakteristisch, dass sie sich gegen einen extrasubjektiv gesetzten Zwang richten.

Arnulf Deppermann

244 Verpflichtungsgrad

Aufforderung/Gebot

KLAGE Verpflichtung Absicht

Empfehlung

Wunsch

Erlaubnis Vorschlag

Agens Adressatin

Unpersönlich

Sprecherin

Figur 1: Semantischer Raum der Handlungstypen von DIK a) Vorschlag Die DIK denotiert hier eine Handlungsoption, die in Erwägung zu ziehen ist. (2) leute grüßen (Planungsbesprechung, Radioprojekt/JuK 4) ++ 71 Al: was könnt ma da NOCH? (—) 72 für thE:men geschmack- (.) oder was? 73 Na: stArs und Sternchen, ((lacht)) 74 XX: ((kurzes Lachen)) 75 Mi: ja; (.) dass mer auch musikWÜNsche und so; (-) 76 wünsche: und lEUte grüßen;

Der Grad an Verbindlichkeit des Vorschlags ist oft nicht klar einzuschätzen. Er kann von unverbindlich, über subjektive Präferenz gegenüber anderen Alternativen bis hin zum Gebot reichen. b) Erlaubnis Eine Autorität erlaubt die Ausführung einer Handlung, deren Legitimität fraglich ist (d. h., in anderen Kontexten, von/bei anderen Personen nicht erlaubt).

Deontische Infinitivkonstruktionen

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(3) fernsehen (Familieninteraktion) 5 Ol Ki: der abwasch ist « l e n > ffirtig> hh. (-) ++ 02 darf ich jetzt fErnsehen? 03 Mu: =Erst hausaufgaben dAnn fernsehen.

Erlaubnisse sind - wenn schon nicht unmittelbar sequenziell, dann doch hinsichtlich ihrer Glückensbedingungen - konditioneil relevante, reaktive Handlungen, da sie eine vorgängige Bitte bzw. einen Wunsch des Agens voraussetzen. Sie werden wie in Beispiel (3) oft in einem konditionalen Konstruktionsformat realisiert: ,erst Erfüllung der Aufforderung - dann Erlaubnis'. c) Empfehlung Empfehlungen drücken eine Präferenz für die Ausführung einer Handlung (gegenüber anderen Alternativen) aus. Empfehlungen sind typisch für ungebundene Diskussionen (wie Beratungsgespräche, TVDiskussionen) und Instruktionen (wie Wegauskünfte, Reparaturanleitungen), in denen die Handlungen der Adressatinnen die Empfehlenden nicht betreffen und in denen folglich kein Konsens hinsichtlich einer für beide Seiten konsequenzenreichen Regelung nötig ist. Beispiel (4) stammt aus einem Phone-In-Gespräch, in dem Radiohörerinnen zum Bau einer Diskothek in einem früheren Arbeitslager für KZ-Häftlinge Stellung nehmen sollen. Der Hörer gibt zum Abschluss seiner Argumentation eine Empfehlung, wie seiner Meinung nach mit dem Gedenken an die Vernichtungslager umzugehen ist:

5

Dieses Beispiel zeigt ein bei DIK häufiger anzutreffendes Problem der kategorialen grammatischen Analyse: Manche Formen (wie hier fernsehen) können rein morphologisch sowohl als infinite Verbform als auch als Nominal analysiert werden. Im vorliegenden Fall spricht für die Analyse als DIK die Tatsache, dass die antwortende Mutter den Ausdruck „fernsehen" in Zeile 03 aus dem vorangegangenen Beitrag des Kindes kopiert. Die enge pragmatische Verwandtschaft von DIK und freien Nominalen zeigt sich auch darin, dass beide außerordentlich häufig (in ca. 1/3 der untersuchten Fälle) koordiniert bzw. in einer Beitragskonstruktionseinheit realisiert werden.

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(4) dran erinnern (Phone-In-Gespräch Radio „Sunshine live") 01 An: die SAche an sich 02 dass daran erinnert wird ist korrekt (.) 03 auf jeden fAll das soll dabei sein 04 darf NIEmals vergessen wer=n was pasSIErt ist (—) 05 .h aber es ist AUch vorbEI und deswegen (.) 06 dran erinnern « f > |JA> (--) 07 aber danach das !LE Iben Ausrichten ist verkehrt. 08 Mo: alles klar ich dank dir fiir=n Anruf(.) 09 Mo: [gUte FAhrt noch ja] 10 An: [bitte ]

d) Aufforderung oder Gebot Dies sind die Verwendungen der DIK mit einer bindenden und direktiven Kraft. Eine Aufforderung bezieht sich auf zu vollziehendes bzw. unterlassendes Handeln der Adressatinnen, die zugleich Agens (oder Teil eines Kollektivagens) sind. Die meisten empraktischen DIK, die nicht in eine Gesprächssequenz eingebettet sind, sind Aufforderungen: (5) Zahnarztbehandlung (Zahnarzt an Patienten, Hörbeleg) jetzt den köpf zu mir drehen(6) Gleisansage S-Bahnhof (Aufsicht an Reisende, Hörbeleg) Zu: :RÜCKbleiben; (7) Familie (Vater an Kind) GUten MO:Rgen; (.) !AUF!stehen-

e) Wunsch- oder Absichtsbekundung Im Unterschied zu den bisher dargestellten Handlungsmodalitäten sind hier die Sprecher selbst Agens. Dabei geht es um Ziele in Bezug auf eigenes (zukünftiges) Handeln oder auch um generell handlungsleitende Maximen. In allen Vorkommen im Korpus geht eine Frage nach Handlungsintentionen der Sprecherinnen voraus. Dies deutet darauf hin, dass DIK nur dann zum Ausdruck von Wünschen und Absichten geeignet sind, wenn kontextuell etabliert ist, dass Sprecherin und Agens identisch sind. Dies entspricht der Intuition, dass dies nicht der Default-Fall von DIK ist, bei denen sonst Adressatinnen oder Dritte das Agens sind. Vergleiche dazu den folgenden Ausschnitt, in dem die Identität des Agens der Absichtsbekundung aus Zeile 03 nachträglich in Zeile 05 vereindeutigend korrigiert wird:

Deontische Infinitivkonstruktionen

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(8) backen und staubsaugen (Tischgespräch, IDS-FR187) 01 S1: ja was machen WIR bloß heute02 (1,5) -> 03 S1: ΒAcken für morgen, 04 (2) ++ 05 Sl: was meinst=e was sOll ich backen-(.)

f ) Klage Klagen stellen einen negativ bewerteten Zwang fest. Seine Quelle wird in der Regel außerhalb des Subjekts angesiedelt, manchmal aber auch im Subjekt selbst (kausal: z.B. Krankheit; intentional: z.B. Zielsetzungen). Mit DIK können nur gegenwärtige oder zukünftige Zwänge beklagt werden, nicht aber vergangene Zwangslagen, wie überhaupt nur auf Zukünftiges oder Allgemeingültiges Bezug genommen werden kann. Solche Klagen folgen oft unmittelbar der Setzung des Zwangs: (9) immer aufräumen (Familieninteraktion) 01 Va: jetz machste- (-) hh erst mA:l dein zflmmer, 02 Ki: =Immer AUf[räumen03 Va: [un dann schAUn wer mal.

2.2. Agens DIK haben nur ganz selten ein grammatisches Subjekt. Sie sind insofern eine typische randgrammatische Konstruktion im Sinne von FRIES (1987). DIK denotieren jedoch immer Handlungen, die von einem ,Subjekt' im handlungstheoretischen Sinne, d. h., einer mit Intentionalität, Bewusstsein und (begrenzter) Autonomie begabten Person zu vollziehen sind. Jede DIK impliziert deshalb semantisch ein Agens. Mit Abstand am häufigsten sind im Korpus die Fälle ,NormsetzerIn = Sprecherin; Agens = Adressatin bzw. unpersönlich'. Dies ist so bei den vorrangigen Handlungsklassen ,Empfehlung' und Aufforderung'. Meist kann mit mehr oder minder großer Gewissheit das Agens der DIK kontextuell rekonstruiert werden (siehe 3.). Für die DIK ist aber charakteristisch, dass das Agens oft vage bleibt. Diese Indetermination beinhaltet potenzielle rhetorische Vorteile gegenüber Modalkonstruktionen oder Imperativen. Zum Vergleich: • Infinitivkonstruktion: jetzt anrufen • Modalkonstruktion: Du sollst/musst bzw. Ihr sollt/müsst bzw. Sie sollen/müssen jetzt anrufen. • Imperativ: Ruf/ruft/rufen Sie jetzt an!

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Die DIK wirkt in vielen Fällen weniger direktiv, autoritär und unhöflich als eine Konstruktion, bei der Adressatinnen als Agens und der Modus enkodiert werden. DIK erscheinen damit u. U. weniger strikt verbindlich für Adressatinnen. Dies gilt allerdings nur für DIK, die in eine Gesprächssequenz eingebunden sind. Frei stehende und empraktische DIK, die häufig formulaisch sind (zurückbleiben, wegtreten, jetzt den Mund ganz weit aufmachen), sind dagegen Befehle mit hohem Verpflichtungsgrad. Auch für die Sprecherinnen selbst sind DIK oft unverbindlicher hinsichtlich der Verpflichtung auf eigenes Handeln und der Abgrenzung des Geltungsbereichs seiner deontischen Aussage. Besonders bei Zustimmungen mit unklarem Verpflichtungscharakter ist dies so. Einen besonderen Vorteil bringt die Vagheit des Agens der DIK für die Mehrfachadressierung in massenmedialer Kommunikation. Dies sei am Ausschnitt (10) aus einer Radioberatung gezeigt. Als die Ratsuchende (RS) zugibt, dass sie heimlich das Tagebuch ihrer Tochter gelesen hat, kritisiert der Ratgeber (RG) dies und schlägt stattdessen vor, deren Vertrauen zu gewinnen: (10) lieber das vertrauen des kindes so gewinnen (Radioberatung, IDS-DS003) aber es WAR mir so als ob ne stimme sagt, (.) 01 RS: 02 guck mal da REI::N und, ..h (.) 03 RG: =nein diese stim[me (.) 04 RS: [(doch) 05 RG: diese stimme war eine schlEchte stimme; (—) 06 RS: ja- (-) 07 RG: ja. ( - ) 08 also llEber- (-) 09 das vertrauen des kindes SjO: gewinnen- (-) 10 dass man Alles von- (.) ihr erfahren kann. (—) 11 RS: ja-

Der Ratgeber formuliert seine Empfehlung als DIK: „llEber- (-) das vertrauen des kindes S | 0 : gewinnen- (-) dass man Alles von- (.) ihr erfahren kann". Damit lässt er nicht nur das Agens offen (kontextuell am ehesten die ratsuchende Anruferin), sondern er referiert auch auf die Tochter nicht individuell, sondern generisch („des kindes"). So wird der Situation der Mehrfachadressierung der Anruferin im inneren Kommunikationskreis und der Radiohörerinnen im äußeren Rechnung getra-

Deontische Infinitivkonstruktionen

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gen:6 Durch ihre Referenzoffenheit ist die DIK von der konkreten Situation auf andere transferierbar, die Empfehlung gewinnt den Charakter einer allgemein gültigen Maxime. Rezipientlnnen können ihr eine allgemeingültige, auf andere Sachverhalte, Situationen, Zeiten etc. anwendbare Interpretation verleihen, also eine Interpretation, die der Sprecher mit seiner Äußerung sehr wohl anregen möchte, doch gar nicht referenziell spezifizieren könnte. DIK sind also für mediale Kommunikationen wie Beratungen, Diskussionen oder biographische Talk-Formate sehr geeignet, da es bei ihnen darum geht, die Kommunikation mit individuellen Adressatinnen über einen speziellen Fall mit einer Kommunikation mit anonymen Medienrezipientlnnen zu verknüpfen und diesen eine vom Fall abstrahierbare und auf ihre Lebenswelt übertragbare Botschaft zu vermitteln. DIK sind aufgrund ihrer Infinitheit grammatikalisierte Lösungen, die die Fähigkeit der Medienrezipientlnnen zur flexibel adaptierenden Interpretation nutzen. Dass sie in der Tat in medialen Genres besonders oft zu finden sind, liegt weiterhin daran, dass sie sich als Kandidaten für zuspitzende Konklusionen und Formulaisierungen (etwa als Slogan oder Maxime) anbieten: Ihre flexible Adaptierbarkeit aufgrund von Interpretationsoffenheit paart sich nämlich oft mit prägnanter Kürze, eine Eigenschaft, die häufig durch argumentstrukturelle Reduktionen unterstützt wird. 2.3. Argumentstruktur Die Mehrheit der untersuchten DIK ist argumentstrukturell reduziert. Nicht nur das Subjekt, auch andere, aufgrund der Verbvalenz obligatorische Ergänzungen werden nicht realisiert.

transitiv intransitiv reflexiv Total: Ν = 1007

Vollständige Valenz-Instantiierung 19 7 3 29

Unvollständige Valenz-Instantiierung 39 7 8 54

Tabelle 1: Nicht-subjekthafte Ergänzungen in freien IK

6 7

Zur Unterscheidung zwischen ,äußerem' und .innerem Kommunikationskreis' bei medialen Gesprächen siehe BURGER (1991). Zusätzlich zu den 29 vollständig und den 54 unvollständig valenz-instantiierten DIK enthält das Korpus 17 DIK mit lexikalisch einstelligen intransitiven Verben, die somit argumentstrukturell (abgesehen von der Subjektposition) nicht reduzierbar sind.

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Tabelle 1 zeigt, dass nur in gut einem Drittel der DIK (n = 29) die geforderten Ergänzungen realisiert werden, in fast zwei Dritteln der DIK (n = 54) nur teilweise oder gar nicht. Fast die Hälfte aller DIK im Korpus wird null-stellig, d. h., ohne jedes Argument realisiert. Es fehlen besonders die direkten Objekte transitiver Verben und die Reflexivpronomina. Insbesondere die Themen- bzw. Patiensrolle ist also zumeist nicht besetzt (vgl. dazu GOLDBERG 2000). In einigen Fällen fehlen auch Ergänzungen intransitiver Verben, v. a. Präpositionalphrasen, die Richtungs-/Ziel-, Orts- oder Instrumentrollen realisieren. Auffällig häufig werden dagegen Zeitrollen realisiert, was der Steigerung der Dringlichkeit und der Verbindlichkeit der deontischen Norm (jetzt, sofort, nie) oder aber des Ausdrucks ihrer Unzumutbarkeit (schon wieder, immer, noch drei wochen) dient. Die Argumentreduktion führt zur Fokussierung und Profilierung (LANGACKER 1987) der Aktivität, die das Verb denotiert.8 Die Argumentreduktion ist damit ein Verfahren der Emphatisierung der Verbbedeutung, während die reduzierten Argumente darauf verweisen, dass die betreffenden Entitäten weder topikalisch noch fokal bzw. überhaupt in ihrer kategorialen Spezifik relevant sind (vgl. GOLDBERG 2000; 2005a und b). Das Fehlen von Argumenten kann soweit führen, dass ein sonst transitives Verb intransitiv interpretiert wird, so im Beispiel (9):9 (9) immer aufräumen (Familieninteraktion) 01 Va: jetz machste- (-) hh erst mA:l dein z | Immer, -> 02 Ki: =Immer AUf[räumen03 Va: [un dann schAUn wer mal.

Die DIK fokussiert hier die beklagte Aktivität .Aufräumen' auf Kosten der Orts- bzw. Objektergänzung. Die Klage richtet sich nicht darauf, dass etwas Bestimmtes („dein zimmer", Zeile 01) aufgeräumt werden

8 9

Vergleiche GÜNTHNER (in diesem Band) zu anderen Verfahren der Fokussierung des Verbs. THOMPSON/HOPPER (2001) zeigen, dass in ihren Gesprächsdaten aus dem American English Argumentstrukturen in ähnlicher Weise generell reduziert sind, wie dies hier für die DIK gefunden wurde. Zu prüfen wäre also, ob es sich hier tatsächlich um einen für die DIK distinktiven Befund handelt. Allerdings ist es m. E. vorschnell, von Argumentreduktionen umstandslos auf Intransitivierung zu schließen, wie dies THOMPSON/ HOPPER tun. Vor diesem Schluss muss nämlich unbedingt berücksichtigt werden, ob die lokale Interpretation nicht doch die Rekonstruktion impliziter Argumente erfordert, was vielfach auch durch die Reaktion von Gesprächspartnerinnen belegt wird.

Deontische Infinitivkonstruktionen

251

soll, sondern dass die Aktivität als solche ausgeführt werden soll. Die Irrelevanz des erwartbaren Lokativ/Patiens wird durch die hyperbolische Zeitangabe „immer" bekräftigt.

3. Interpretationsverfahren und Verwendungsbedingungen DIK erfordern aufgrund ihrer Infinitheit die Rekonstruktion von semantisch-pragmatischer Modalität und Agens, oft zusätzlich auch des Tempus und impliziter Argumente. Wie geschieht das? Auf welche interpretativen Ressourcen können die Gesprächsteilnehmerinnen zurückgreifen, um die nicht kodierten Parameter zu fixieren? Mit Blick auf die Gesprächspraxis entspricht dem die Frage nach den Verwendungsbedingungen der DIK: Welche sequenziellen u. a. pragmatischen Voraussetzungen müssen für die Produktion einer DIK vorliegen? Drei wichtige Produktionsvoraussetzungen und Interpretationsquellen will ich hier kurz vorstellen: Konditionelle Relevanzen, Aktivitäts- und Sachverhalts-frames und eine Sprecherkonsistenzannahme. 3.1. Konditionelle Relevanz Die Interpretation der DIK stützt sich häufig auf semantische oder pragmatische Strukturen, die im vorangehenden Verlauf der Interaktionssequenz etabliert wurden. Sie erzeugen eine Projektion bzw. eine Interpretationsrestriktion, die die DIK betrifft. Stabile Restriktionen für die Interpretation von DIK ergeben sich, wenn sie zum Vollzug konditionell relevanter Aktivitäten mit deontischem Charakter benutzt werden. Solche konditioneilen Relevanzen werden v. a. durch Fragen, Bitten bzw. Aufforderungen etabliert. Erfüllt werden sie durch Vorschläge, Ratschläge, Befehle oder Erlaubnisse, die mit DIK realisiert werden können. Ein Beispiel dafür ist Ausschnitt (11). Hier wird ein Vorschlag (Zeile 16) erst viele Beiträge nach der entsprechenden Aufforderung (Zeile 03) produziert:

Arnulf Deppermann

252 (11) musik auflegen Ol Al: 02 Kn: 03 Al: 04 05 Na: 06 Na: 07 Al: 08 XX: 09 Mi: 10 Al: 11 Mi: 12 Al: 13 14 15 Na: 16 Kn:

(Planungsbesprechung, Radioprojekt/JuK 4) Egal jetzt fang mer ma an. «p>ja.> was wolln wer mAchen? (—) .hhh habt ihr idEE::n [wir können ja erst ma[ hä? (.) wie wärs DAmit? =EIja' ((lachen)) EI: irgendwie: halt- (-) was hAm=mer=n? (.) wie viel zEIt? zwei- (.) äh eine stUnde. eine stUnde ham=mer erst ma. (.) also des sollt=mer bedEnken. (...)

« p p > ο gott;> ich würd ma sagen so halbe stunde musik auflegen-

Die konditioneile Relevanz verhilft zu einer Fixierung der Interpretation der DIK, da in der Regel durch die ersten Teile der Paarsequenz der personale Bezug (Agens) und die deontische Modalität für den konditionell relevanten zweiten Teil festgelegt sind. Im Beispiel (11) sind mit der Frage „was wollen wer machen?" das Kollektivagens wir und die Modalität, Vorschlag' (wollen) festgelegt, die für die Antwort „so halbe stunde musik auflegen" zu kopieren sind. Es handelt sich hierbei nicht um eine einfache Analepse: Zum einen sind die Beiträge nicht zeitlich adjazent, sondern erfordern eine handlungsstrukturelle Analyse, um aufeinander beziehbar zu sein und im Sinne der Erfüllung einer noch in Kraft befindlichen konditionellen Relevanz verstanden zu werden; zum anderen kann das Modalverb wollen nicht einfach als solches kopiert werden (i. S. von wir wollen so halbe stunde musik auflegen), sondern es muss pragmatisch als Etablierung der Relevanz eines Vorschlags interpretiert werden. 3.2. Aktivitäts- und Sachverhalts-/rawes

Die Übergänge zwischen Beiträgen sind oft nicht durch so strikte Projektionen wie bei konditionellen Relevanzen vorstrukturiert. Der Interaktionsvollzug orientiert sich aber fast immer mehr oder weniger an pragmatischen Erwartungsstrukturen, die inter subjektiv vorausgesetzt werden. Solche Erwartungsstrukturen sind als , Aktivitätstypen', .Handlungsschemata' oder .kommunikative Gattungen' beschrieben worden. Sie erstrecken sich nicht nur auf pragmatische Größen, sie betreffen

Deontische Infinitivkonstruktionen

253

auch die handlungs- und beteiligungsstrukturell gebundene Verwendung spezifischer Lexik, formelhafter Wendungen und eben auch spezifischer syntaktischer Konstruktionen. Die DIK ist nun eine solche Konstruktion, die besonders in instruierend-direktiven und in deliberativen Aktivitätstypen eingesetzt wird und zwar präferenziell von den Personen, die eine autoritative, hierarchiehöhere Position einnehmen und aufgrund von Wissen oder Status entscheidungsmächtiger oder zur Instruktion legitimiert sind (Beraterinnen, Lehrerinnen, Chefinnen, Eltern etc.). Instruierend-direktiv sind Trainings- und Unterrichtsgespräche, Eltern-Kind-Interaktionen, Wegauskünfte und Dienstleistungsdialoge, deliberativ sind Planungs- und Entscheidungsbesprechungen, Beratungsgespräche und Diskussionen. Eine zweite erwartungsstrukturelle Ebene sind Sachverhaltsframes. Sie umfassen Erwartungs- und Wissensstrukturen, die die in der Interaktion verhandelten Sachverhalte betreffen. Das Zusammenwirken von Sachverhalts- und Aktivitäts-frames schafft Erwartungen, die zur situierten Interpretation von DIK beitragen. Ausschnitt (12) stammt aus einem Gespräch, in dem Jugendliche unter Moderation eines Jugendpflegers eine Radiosendung planen. Relevant sind hier also zum einen der Aktivitäts-/rarae einer Planungsbesprechung, zum anderen als Sachverhalts -frame die Wissens- und Erwartungsstrukturen, über die die Teilnehmerinnen in Bezug auf Radiosendungen verfügen. Der Ausschnitt folgt eine halbe Minute nach Ausschnitt (11) „musik auflegen". Er setzt die Phase der Vorschlagsentwicklung fort: (12) labern und vorstellen (Planungsbesprechung, Radioprojekt/JuK 4) -> 25 Kn: paar HEder dann=n bisschen labern; (.) 26 dann wieder=n paar llEder; 27 Mi: « f > ja:=aber !WAS! labern wir?> (.) dArum geht=s. 28 Na: = « f > j a genAU;> 29 Mi: =Über was? 30 Kn: ja [(...) 31 Mi: [ 32 Al: also der Ablauf is grob (--) 33 Anmoderation; (.) oder lAbern; 34 Mi: = « f > vOrstellen> auf jeden fall-

Alle Beiträge beinhalten Vorschläge von Aktivitäten, die im Rahmen der geplanten Radiosendung stattfinden können („labern", „lieder (spielen)", „anmoderation", „vorstellen"). Durch den Aktivitäts -frame ,Pla-

254

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nungsbesprechung' und den Sachverhalts -frame , Radiosendung' sind folgende Aspekte festgelegt, die in den DIK selbst nicht enkodiert sind: • ihr Zeitbezug (nicht unmittelbar in der Aktualsituation, sondern zu der für die Planrealisierung bestimmten Zeit), • die deontische Modalität ,Vorschlag' (und bspw. nicht etwa Aufforderung', .endgültige Festlegung'). Dabei werden unterschiedliche Grade der Verbindlichkeit der Vorschläge signalisiert (Optionalität: „oder", Verbindlichkeit: „auf jeden fall"), • das zu rekonstruierende Kollektiv-Agens der Handlungen („wir"), • die Semantik von „vorstellen" und die Ergänzung des Reflexivums zu uns vorstellen (und nicht etwa sich etwas vorstellen bzw. jemand anderen vorstellen). 3.3. Sprecherkonsistenzannahme Haben Sprecherinnen im Verlauf der Interaktion eine deontische Position bezogen (z.B. durch Bewertungen, Normsetzungen), dann kann davon ausgegangen werden, dass sie sie weiterhin vertreten, solange sie sie nicht revidieren bzw. mit ihr unverträgliche Gesprächsbeiträge produzieren. Dies nenne ich die ,Sprecherkonsistenzannahme'. Sie erfordert von Interaktionsbeteiligten eine Art konversationeller Buchführung: Sie müssen die gültigen Sprecherpositionen aufgrund des jeweils letzten Beitrags aktualisieren, und sie müssen in der Lage sein, sich an die für einen Beitrag jeweils einschlägigen Sprecherpositionen zu erinnern. Diese Sprecherkonsistenzannahme kann zusammen mit den deontischen Positionen, die von Sprecherinnen bekannt sind, zur Restriktion der Interpretation von DIK eingesetzt werden. Ein Beispiel dafür zeigt Ausschnitt (13) aus einem Schlichtungsgespräch. In der Verhandlungseröffnung hatte der Schlichter (C) den Parteien mitgeteilt: „wir sind also kein gerischt. (-) wir können- (.) kEIne beweisaufnahme durchführen". Dies beinhaltet unter anderem, dass keine Zeuginnen gehört und keine Schriftstücke als Beweis zugelassen werden. Als nun der Beschuldigte (Bl) in seiner Stellungnahme zum Vorwurf „auszüge" (einen Schriftwechsel) vorlegen will, lehnt dies der Schlichter mit den Worten „net (.) net zun aktn zun aktn net in die tie:fe gehn-" ab.

Deontische Infinitivkonstruktionen

(13) nicht zu 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

255

den akten gehen (Schlichtungsgespräch IDS-SG 3001/01) Bl: um der ganzen- (—) äh (-) sache hier; (-) etwas(1,7) einsischtischer zu werdn für SIE vielleischt- (.) Bl: sch hab hier mal schon, (--) mein wenn sie=s intressiert? (.) ein=[äh auszüge- ] C: [net (.) net zun] aktn zun aktn Bl: net in die t[ie:fe gehn] C: [ne: des wisse mir schon-] aber äh sie sehn Bl:

Dass die negierte Infinitivkonstruktion als Ablehnung der „auszüge" zu verstehen ist, ergibt sich aus der Position von C's Beitrag: B1 ist dabei, ein Angebot zu formulieren, das Annahme oder Ablehnung konditionell relevant macht. B l ' Reaktion („ne: des wisse mir schon", Zeile 09) deutet zudem an, dass er die Ablehnung zurückbezieht auf die Maßgabe, dass keine Beweisaufnahme durchgeführt wird. Die Interpretation der DIK ist somit durch konditioneile Relevanz und durch die deontische Position, die der Schlichter vorher zur Frage der Beweisaufnahme eingenommen hatte, doppelt restringiert. Weitere Verfahren zur Restriktion der Interpretation der Modalität, aber auch von Tempus und Agens der DIK sind anaphorische oder kataphorische Spezifikationen. Beispiele sahen wir etwa in Ausschnitt (11), Zeile 16 („ich würd mal sagen") oder in (12), Zeile 32 („der ablauf is grob"). In die DIK selbst werden v. a. Angaben inkorporiert, die ihre Verbindlichkeit vereindeutigen. Dazu gehören Satzadverbialia (Modalpartikeln: vielleicht; Präpositionalgruppen: auf jeden Fall·, adverbial benutzte Adjektive: unbedingt, wortwörtlich) und Gradpartikeln (nur) oder temporale Angaben (sofort, jetzt gleich, ganz schnell·). Sprecherinnen können also nur dann eine DIK produzieren, wenn Agens, Modalität, Tempus und verstehensnotwendige, aber nicht realisierte Argumente für die Hörerinnen kontextuell erschließbar sind. Diese Voraussetzung ist gegeben, • wenn die DIK das zuletzt produzierte Subjekt als Agens übernehmen kann; • wenn Agens, Modalität und Nullargumente auf Grund der sequenziellen Aktivitätsstruktur zu erschließen sind, insbesondere wenn die DIK eine konditionelle Relevanz erfüllt oder einen Aktivitätstyp erwartbar fortführt. Sie muss dabei mit den semantischen und pragmatischen Bestimmungen vorangegangener Beiträge konsistent sein, insbesondere mit ihren modalen

256

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Bestimmungen. Dabei muss sie eventuell deiktisch angepasst werden, Valenzen müssen transformiert werden aufgrund von Aktiv-Passiv- oder Perspektiven-Konversen etc.; • wenn die DIK eindeutig als Reformulierung von bzw. Schlussfolgerung aus salienten Sprecherpositionen erkennbar ist; • wenn die DIK eine situative Routine ist bzw. die pragmatische Struktur der Interaktionssituation aufgrund eingespielter (empraktischer) Handlungsrollenmuster zwischen Sprecherinnen und Adressatinnen, räumlich-dinglicher Verhältnisse, nonverbaler Verweise (wie Zeigegesten) etc. eine modal und referenziell eindeutige Interpretation zulässt. Ist keine dieser Voraussetzungen gegeben, muss auf eine andere Konstruktion, meist eine Modalkonstruktion oder einen Imperativ zurückgegriffen werden, die Modus und Subjekt eindeutig enkodieren und damit weniger sequenzabhängig einzusetzen sind. Diese sind geeigneter als eine DIK, um Aktivitäten zu vollziehen, die referenziell oder modal eine Zäsur zu sequenziell etablierten Erwartungen und thematischen Gehalten bilden, oder um eindeutig das Agens und den Verpflichtungsgrad einer Handlung zu bestimmen. Der Vorteil der DIK kann dagegen gerade in ihrer Vagheit liegen und durch die Fokussierung der denotierten Aktivität hat sie eine starke deskriptive Mitbedeutung, die der Tendenz nach die Kluft zwischen direktivem und deskriptivem Modus überwindet. Deswegen wird die DIK mündlich wie schriftlich sehr gern in instruierenden Gattungen verwendet, in denen zugleich beschrieben wird, wie eine Handlung auszuführen ist, und in der sie zugleich gefordert oder empfohlen wird. DIK, Modal- und Imperativkonstruktionen bilden also ein Netzwerk modaler Konstruktionen mit jeweils spezifischen semantischen, pragmatischen und interaktionalen Eigenschaften, die zu einem guten Teil direkt durch ihre formalen Eigenschaften und Differenzen untereinander motiviert zu sein scheinen. Die DIK ist dabei eine überaus kontextsensitiv einzusetzende syntaktische Struktur: Sprecherinnen nutzen mit ihr den Interaktionsprozess als bedeutungskonstitutive Ressource; zugleich müssen sie aber die durch ihn (für die Adressatinnen) etablierten Erwartungen und konzeptuellen Geltungen adäquat in Rechnung stellen, um keine IK zu produzieren, die dem Risiko der Fehlinterpretation ausgesetzt ist.10

10

DIK sind also ähnlich wie die von GÖHL (in diesem Band) beschriebenen dass-Konstruktionen in besonders hohem Maße indexikalisch, da ihre Interpretation mehr als bei

Deontische Infmitivkonstruktionen

257

4. Fazit

Die Untersuchung der DIK wurde hier als Beispiel für die Programmatik einer integrierten, holistischen Untersuchung syntaktischer Konstruktionen in der verbalen Interaktion vorgestellt, die methodisch in der Verbindung von detaillierter Sequenzanalyse authentischer Einzelfälle und der Bildung von Kollektionen auf der Basis großer Korpora vorgeht. Dabei wurden folgende Analyse-Ebenen berücksichtigt, deren systematischer Zusammenhang für die Produktion und Rezeption von DIK zu klären versucht wurde (siehe Tabelle 2): SYNTAX

SEMANTIK

PRAGMATIK

Morphosyntax: Modus, Numerus und Person nicht kodiert, Aktiv Präsens, keine Partikel zu Topologie: nur Argumente (meist im Mittelfeld) + (Nach-)Verb Selektionsrestriktionen·. Intentionale Verben Koordination: oft mit anderen DIK oder Nominalen Argumentstruktur: häufig reduziert (v.a. Patiens) Modalität: deontisch, verschiedene pragmatische Subtypen (s.u.), deskriptive Mitbedeutung Referenz'. Agens je nach Kontext und Handlungstyp: Sprecher, Adressat, allgemein (inklusiv), unbestimmt Coercion bei nicht-intentionalen Verben (z.B. Empfindungsverben) Handlung: Vorschlag, Empfehlung, Aufforderung/Gebot, Absichtsbekundung, Vereinbarung/ Selbstverpflichtung, Klage Informationsstatus·. Agens und nicht-realisierte Argumente gegeben/erschließbar oder irrelevant; denotierte Aktivität profiliert Inferenzstrategien: Sprecherkonsistenz- und Themenkonstanzannahmen zur Rekonstruktion nichtrealisierter Argumente

Imperativ- und Modalkonstruktionen von Wissensbeständen und sequenziellem Kontext abhängt.

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Amulf Deppermann

Höflichkeit: höflicher und nähesprachlicher als Imperativ/Modalkonstruktion (außer als formulaische Aufforderung) INTERAKTION

RHETORIK

Sequenzvoraussetzungen: konditionelle Relevanz, Sachverhalts- und Aktivitäts-Zrarags; bekannte Sprecherpositionen Sequenzpositionen: Erfüllung konditioneller Relevanzen, konkludierend-sequenzterminierend oder initial-empraktisch (als formulaische Aufforderung) Sprecherwechsel·, meist turnwertig bzw. turnfinale TCU; Rederecht sichernde Topologie Adressierung: Präferiert für vage, ambige und Mehrfachadressierung (außer bei formulaischen Aufforderungen) Gattung·, deliberativ-argumentative, direktiv-instruierende Beteiligungsstruktur: Sprecherin = Experte, Autorität, Entscheidungsmächtiger, Adressatin = Ratsuchender, hierarchisch subordiniert Akzeptabilitäf. gesteigert durch Interpretationsoffenheit und unklare Verbindlichkeit (außer bei formulaischen Geboten) Kognitiv-mnestische Funktionen·. Slogan-/Formulaizitätspotenzial, pointierend-verdichtend und kontextuell transferierbar Sozialstilistische Kontextualisierung: informell, autoritativ, entscheidungsfreudig

Tabelle 2: Die deontische Infinitivkonstruktion im Überblick Um zu einem vollständigen Verständnis des Einsatzes der DIK in der verbalen Interaktion zu gelangen, müssten zusätzlich die hier nicht betrachteten Ebenen der Phonologie und der Multimodalität der Kommunikation (insbesondere bei empraktischen DIK) berücksichtigt werden. Werfen wir nun von unserer Untersuchung der DIK aus den Blick zurück auf die Leitfragen, die wir eingangs gestellt haben:

Deontische Infinitivkonstruktionen

259

1. Wie bestimmen pragmatische und interaktionale Faktoren die Produktion syntaktischer Strukturen und ihre semantische Interpretation? 2. Welche formal motivierten Ressourcen bringen grammatische Konstruktionen für interaktiv-rhetorische Zwecke mit sich? Als Antwort auf die erste Frage können wir festhalten, dass konversationelle Syntax in hohem Maße als prozessrelative Syntax zu konzeptualisieren ist (vgl. AUER i.Dr.). Die Untersuchung der DIK zeigt, dass Möglichkeit oder Akzeptabilität von syntaktischen Strukturen nicht allgemein zu beurteilen, sondern auf prozessuale Produktionskontexte zu relativieren sind. Im Falle der DIK sind dies die sequenziellen und empraktischen Verwendungsvoraussetzungen für die Konstruktion als solche, für die Rekonstruktion von Agens und Modalität und für Argumentrealisierung und -reduktion. Die Untersuchung zeigt, wie die Produktion und Interpretation syntaktischer Strukturen auf dem Prozess des sukzessiven Aufbaus konzeptueller Strukturen in der Interaktion und ihrer sequenz- und situationsabhängigen Salienz im Moment der Produktion einer Äußerung beruht. Neben den thematisierten und aus vorangegangenen Beiträgen erschließbaren Referenten und der perzeptiv gegebenen Gesprächssituation sind dies Erwartungen in Form von Projektionen und i/e/aw/f-Ergänzungen, die sich aus den momentan in Kraft befindlichen Aktivitäts- und Sachverhalts-/rames ergeben. Diese ständig modifizierte konzeptuelle Basis entlastet zusammen mit Konsistenz- und Kontinuierungsheuristiken die syntaktische Produktion von Vollständigkeitsansprüchen und ermöglicht die lokal sensitive Produktion und Interpretation syntaktischer Strukturen. Mit Blick auf die zweite Frage sahen wir, wie Syntax aufgrund formaler Konstruktionseigenschaften zur interaktiven Ressource wird. Im Falle der DIK sind insbesondere die reduzierte Argumentrealisierung und die Absenz kategorialer Markierungen formale Konstruktionseigenschaften, die semantisch implikativ sind und die dadurch interaktive Verwendungen und den rhetorischen Nutzen einer Konstruktion motivieren. Die DIK ist also ein Beispiel für die Erfülltheit von GOLDBERGS Postulat einer konstruktionsspezifischen Bedeutung, die für nicht-kompositionale Interpretationen und coercion verantwortlich ist (vgl. GOLDBERG 1995; MICHAELIS 2005). Formale Motivationen für ihren Einsatz liefert zum einen die sprachliche Ökonomie der DIK, die informationsstrukturellen Präferenzen entspricht: Die DIK kann benutzt

260

Arnulf Deppermann

werden, um ausschließlich rhematische Informationen zu enkodieren.11 Dies geschieht vor allem in Koordinationen und wenn sie zur Erfüllung konditioneller Relevanzen eingesetzt wird. Wichtiger aber sind ihre rhetorischen Potenziale. In sehr vielen Verwendungen refokussiert die DIK nämlich deontische Positionen, die in der Interaktion bereits früher etabliert wurden. Es geht dann also gar nicht um die Vermittlung neuer Informationen, sondern um rhetorische, selektiv zuspitzende Relevanzsetzungen. Hier hat die DIK durch ihre Profilierungsleistungen (bis hin zur Formelhaftigkeit und Emphatisierung) ein besonderes Potenzial der Aufmerksamkeitssteuerung. Ihre Infinitheit sorgt zudem für Interpretationsoffenheiten, die unmittelbar rhetorisch zu nutzen sind: ζ. B. zur Problemvermeidung und Senkung von Widerspruchsschwellen durch Vagheit, zur Adaptierbarkeit an unbekannte referenzielle Kontexte und mehrfache Adressatinnen, zur Ermöglichung der interpretativen Selbstbestimmung der Adressatinnen, zum Offenhalten von Verbindlichkeit für die Sprecherinnen selbst oder zur Symbolisierung einer hemdsärmligen Macher-Identität, die vielfach mit DIK sozialstilistisch kontextualisiert zu werden scheint.

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11

Die DIK folgt insofern genau dem Postulat D u B o i s ' (2003) einer „preferred argument structure", da sie kein Agens enkodiert und maximal ein direktes Objekt-Argument realisiert.

Deontische Infinitivkonstruktionen

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Wolfgang Imo „Da hat des kleine glaub irgendwas angestellt" - ein construct ohne construction ? 1. Einleitung

Das verbum sentiendi glauben wird in zahlreichen Konstruktionen verwendet: Es kann zusammen mit einer Objektergänzung auftreten („das glaub i NET"), es kann in einem Matrixsatz realisiert einen eingeleiteten Nebensatz („ich glaub SCHON dass sie hilfe brauchen") fordern oder aber einen „abhängigen Hauptsatz"1 („ich glaube es ist unzulässig zu sagen man kann aus aus dem GROßteil der literatur [...] ALles rausholen was man jetzt selber darin sehen möchte.")·2 Alle diese Formen haben gemeinsam, dass sie, um es mit der Terminologie der Construction Grammar auszudrücken, Realisierungen „schematischer Konstruktionen" sind. Da sie sich an standardgrammatischen Regeln orientieren, findet man sie in allen einschlägigen Grammatiken beschrieben. Was man aber dort nicht finden wird, sind die Phrasen, die im Folgenden näher untersucht werden sollen: Inversionen wie glaub(e) ich sowie die Reduktionsform glaub. Diese Ausdrücke stellen allerdings nicht alleine für Standardgrammatiken eine Herausforderung dar, da sie sich in ihrem Stellungsverhalten, ihrer Form und Funktion schlecht in bestehende Regelmuster einordnen lassen. Auch mit der Construction Grammar, die offen für fließende Konstruktionsgrenzen ist und durch ihr Netzwerkmodell leichter mit solchen problematischen Kategorien umgehen kann, ist der Phrase glaub(e) (ich)3 nur schwer beizukommen. Das liegt daran, dass sie sich keiner Konstruktion eindeutig zuordnen lässt, sondern in einem schwer bestimmbaren Feld zwischen mehreren Konstruktionen angesiedelt ist. Die Ursache für dieses Problem beschreibt HOPPER (2004: 1) folgendermaßen: Grammar is an epiphenomenon of frequent combinations of constructions. Because grammar is a result of interactions rather than a prerequisite to them, it is not a fixed code but is caught up in a continual process of local adaption (emergence).

1

Zur Terminologie siehe AUER (1998).

2

Wenn nicht ausdrücklich angegeben, sind die zitierten Beispiele dem in Abschnitt 2.) vorgestellten Datenkorpus entnommen. Die Form glaub(e) (ich) steht hier stellvertretend auch für alle regionalen Varianten. Wenn glaub(e) ich geschrieben wird, ist die Reduktionsform glaub nicht mit gemeint.

3

Wolfgang Imo

264

In diesem Beitrag geht es darum, zu zeigen, dass es sich bei der Phrase glaub(e) (ich) um ein Beispiel für ein solches nur fragmentarisch realisiertes construct handelt. Ihre Interpretation ist kontextabhängig und wird von den Sprecherinnen immer wieder in der Interaktion neu hergestellt.

2. Das Datenkorpus

Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf Aufzeichnungen unterschiedlicher Gesprächsdaten4, die mit gesprächsanalytischen Methoden transkribiert und untersucht wurden: Es handelt sich dabei um Familiengespräche aus verschiedenen Regionen Deutschlands (BadenWürttemberg, Brandenburg und Thüringen), um Gespräche zwischen befreundeten Personen (aus Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen) sowie um Aufzeichnungen von Radio Phone-in Sendungen (Lebensberatungssendungen aus Baden-Württemberg und NordrheinWestfalen sowie Interviewsendungen aus Baden-Württemberg, Österreich und Nordrhein-Westfalen). Die gesamte Zeitdauer des untersuchten Materials beträgt knapp 30 Stunden. In diesem Material wurde nach allen Formen des Verbs glauben (inklusive regionaler Varianten) gesucht. Eine Anordnung nach zeit- und personendeiktischen Gesichtspunkten ergibt folgendes Bild: 1. Person Singular Präsens: 78 1. Person Singular Präsens Inversion: 71 glaub ohne Personalpronomen: 7 2. Person Singular Präsens: 1 3. Person Singular Präsens Inversion: 4 Höflichkeitsform Präsens Inversion: 5 3. Person Präsens Plural: 1 1. Person Singular Perfekt: 1 2. Person Singular Perfekt: 1 Für das Verb glauben ist eine starke Präferenz für die deiktische Verortung im Rahmen der Ich-Jetzt-Hier Origo zu beobachten: Von den in den Daten vorkommenden 169 Fällen sind 149 (bzw., wenn man die 4

Ich bedanke mich bei Susanne Günthner für den Zugang zu dem Datenkorpus.

Construct ohne Construction?

265

subjektlose Form glaub hinzurechnet, 156) in der ersten Person Singular Präsens realisiert. Das entspricht einem Anteil von 92,3 %. Von diesem wiederum wird genau die Hälfte von invertierten (Subjekt folgt dem Prädikat) oder subjektlosen Formen (glaub(e) ich!glaub) gestellt, die zudem fast nie (nur in neun Fällen) mit einer Objektergänzung auftreten. Schon auf Grund der Rekurrenz dieser Formen wird klar, dass die oben erwähnten schematischen Konstruktionen wie Matrixsatz oder Verb mit Objektergänzung nur einen kleinen Ausschnitt der Verwendungsweise des Verbs glauben angeben können. Welche Konstruktionen für die 71 Fälle invertierter objektloser (und siebenmal zudem noch subjektloser) Realisierungen von glaub(e) ich/glaub angenommen werden können, wird die Analyse der Daten zeigen. Dabei sollen mögliche Konstruktionen daraufhin überprüft werden, ob sie für die Beschreibung von glaub(e) (ich) geeignet sind.

3. Konstruktionen mit glaub(e) (ich)

In 78 Fällen ist glauben zeit- und personendeiktisch auf die erste Person Singular Präsens Indikativ fixiert und wird zudem invertiert, d.h. mit nachfolgendem Subjekt, realisiert. In sieben Fällen wird nur das Verb alleine, also ohne Subjekts- oder Objektsergänzung, verwendet. Eine Einordnung der insgesamt 71 Fälle von glaub(e) (ich) in Bezug auf die topologischen Satzpositionen ergibt folgendes Muster: a) Mittelfeld:

62-mal (davon 15-mal direkt nach der linken Satzklammer, 33-mal mitten im Mittelfeld und 14-mal am Ende des Mittelfeldes) b) Nachfeld: viermal c) zwischen Vorfeld und linker Satzklammer: fünfmal Die Mehrzahl der Fälle, nämlich 87,3 %, tritt im Mittelfeld auf, nur neunmal ist ein anderes Feld besetzt. Das Vorfeld selbst wird von glaub(e) (ich) alleine nie ausgefüllt, dort kann es nur nach einer anderen (vollwertigen) Konstituente realisiert werden. Eine ähnliche Verteilung liegt bei den reduzierten Fällen von glaub vor: a) Mittelfeld: sechsmal (einmal davon am Ende des Mittelfeldes) b) Nachfeld: einmal Die reduzierte Form weicht - zumindest was die Stellungsoptionen angeht - nicht von der mit einem Subjekt realisierten Form ab.

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Da Stellungsbeschränkungen ein wichtiges Kriterium für Konstruktionen im Deutschen sind, werden die Beispiele entsprechend ihrer topologischen Positionen in drei Abschnitten analysiert. Dabei stellt sich jeweils die Frage, welcher Konstruktion glaub(e) (ich) zugeordnet werden kann. 3.1. Glaub(e) (ich) im Mittelfeld In den folgenden drei Beispielen wird glaub(e) (ich) an verschiedenen Positionen im Mittelfeld realisiert. Beispiel 1 ist einer Radio Phone-in Sendung zum Thema Ausländer entnommen, Beispiel 2 stammt aus einer Radio-Lebensberatungssendung („Ratgeber Lebensfragen") und das dritte Beispiel ist der Aufzeichnung eines Privatgespräches zwischen befreundeten Studenten während eines gemeinsamen Essens entnommen. Beispiel 1 Ausländer (der Moderator (M) unterbricht einen Anrufer (Α), der über seine Probleme mit Ausländern berichtet) 876 Μ ja entSCHULdigen sie wenn ich sie jetzt unter[BRECH]e; 877 Α [ja. ] 878 Μ ihr problem ist glaub ich ganz GUT bei unsern hörern und bei unserer expertin angekommen, Beispiel 2 Gleichgewicht (die Anruferin (A) schildert dem Psychologen (Ρ), dass sie sich nicht anerkannt fühlt) 321 A und ich möchte auch ein KLElnes bisschen322 ein KLEInes Stückchen DAseinsberechtigung möchte ich SCHON noch haben; 323 Ρ naTÜRlich, (.) 324 A nech; 325 Ρ die sie sich SELBST AUCH geben; (.) 326 diese DAseinsberechtigung; .h 327 A - das KANN man sich glaub ich nicht selbst ageben. Beispiel 3 Brecht 124 S wir reden ja dann zum beispiel (.) von BRECHT- ( .) 125 ja? 126 -> eh man kann einfach bei BRECHT glaub ich127 eh .h der ja ganz dezidiert SACHte wo hinwollte-

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der eh war-

ganz

dezidiert

politisch

132 133

da K A N N m a n einfache i n f a c h einen sehr geRINGen deutungsspielraum.

engaGIERT

In allen drei Beispielen wird glaub ich zum einen morphologisch und phonologisch verkürzt (der Flexionsmarker -e fällt weg) und zum anderen prosodisch weder durch eine besondere Betonung noch durch Pausen markiert, sondern nahtlos in die jeweiligen Äußerungen eingebunden. Nur in Beispiel 3 wird die Tonkontur nach „glaub ich-" (Z.126) beendet und in Z.127 eine neue Tonkontur begonnen. Das hat allerdings nichts damit zu tun, dass die Phrase „glaub ich-" besonders markiert werden soll, sondern hängt mit der Tatsache zusammen, dass der in seinen syntaktischen Projektionen noch nicht eingelöste Satz aus Z.126 „man kann einfach bei BRECHT glaub ich- [...] einfach einen sehr geRINGen deutungsspielraum." in den Zeilen 126 bis 133 um zwei parallele, zusätzliche Informationen gebende Relativsätze erweitert wird („eh .h der ja ganz dezidiert SACHte wo er hinwollte" und „der eh ganz dezidiert politisch engaGIERT war-"). Der Abbruch des Syntagmas findet also erst nach dem „glaub ich-" statt. Das lässt sich auch dadurch belegen, dass in Z.132 durch das „da KANN man einfach-" die unterbrochene Äußerung aus Z.126 zum Teil wörtlich wieder aufgegriffen wird. Nicht „glaub ich-" ist in Beispiel 3 als parenthetischer Einschub markiert, sondern die beiden Relativsätze. In den beiden anderen Beispielen liegt eine vollständige prosodische Integration vor. Obwohl also in allen drei Beispielen auf der prosodischen Ebene nichts auf eine Parentheseintonation hindeutet, stellt sich dennoch die Frage, ob es sich bei glaub(e) ich hier nicht trotzdem um parenthetisch eingeschobene Matrixsätze handelt.5 Auf syntaktischer Ebene ist es nämlich bei allen Beispielen prinzipiell möglich, die zu Grunde liegenden Satzstrukturen so zu verändern, dass die Phrase glaub(e) ich als Matrixsatz mit folgendem „abhängigen Hauptsatz" oder auch zusammen mit der subordinierenden Konjunktion dass vor die Äußerung gestellt wird, in die sie zuvor eingebettet war. Obwohl die Semantik bei allen drei Variationen (eingeschobene Phrase, Matrixsatz mit abhängigem Hauptsatz, Matrixsatz mit eingeleitetem Nebensatz) 5

STOLTENBURG (2003:11) geht beispielsweise von einer rein syntaktischen Parenthesedefinition aus: „Parenthesen sind (...) Unterbrechungen emergenter syntaktischer Strukturen."

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gleich bleibt und mit der Ansicht/Meinung/Überzeugung sein wiedergegeben werden kann, liegen die Varianten, bei denen der Matrixsatz einen mit einem Subordinator markierten Nebensatz einleitet, deutlich weniger nahe an der Originaläußerung als die, bei denen dem Matrixsatz ein abhängiger Hauptsatz folgt. Der Unterschied zwischen Matrixsätzen mit eingeleiteten Nebensätzen im Vergleich zu solchen mit abhängigen Hauptsätzen besteht AUER (1998: 293f) zufolge darin, dass die in einem abhängigen Hauptsatz gelieferte Information im Vergleich zum Matrixsatz nicht relativ präsupponiert, sondern relativ assertiert wird. Das bedeutet, dass die Information im abhängigen Hauptsatz für die Gesprächspartner als neu oder unzugänglich eingestuft wird und somit in den Vordergrund rückt. Der abhängige Hauptsatz wird pragmatisch aufgewertet, der Matrixsatz gleichzeitig herabgestuft. Bei einem Matrixsatz mit eingeleitetem Nebensatz ist die Beziehung genau anders herum: Der Matrixsatz ist hier das relativ assertierte Element und steht pragmatisch im Vordergrund, während die Information im eingeleiteten Nebensatz als bekannt vorausgesetzt wird.6 In den ersten drei Beispielen ist es so, dass die Phrase mit glauben im Vergleich zu der sie umgebenden Äußerung nicht assertiert wird. Ihr pragmatisches Gewicht ist also gering, sie ist sogar noch weniger salient als ein Matrixsatz, dem ein abhängiger Hauptsatz folgt. Daher entsteht der Eindruck, dass die Paraphrasierungen in einen Matrixsatz mit folgendem eingeleiteten Nebensatz oder abhängigen Hauptsatz nicht deckungsgleich mit der Originaläußerung sind. Die Verteilung der Salienz lässt sich durch folgende Skala darstellen, mit von links nach rechts zunehmender Salienz der Verbum-sentiendi-Phrase mit glauben: glaub(e) ich


un na hat des kleine glaub IRgendwas angstellt; 55 Τ wo im KRANkenhaus? Beispiel 6 intensiv (die Mutter (Μ) , der jüngere Sohn (E) und die Tochter (T) besprechen, wo sie jeweils bei einem bevorstehenden Verwandtenbesuch übernachten werden. Der Sohn freut sich nicht auf die Aussicht, bei seiner Oma übernachten zu müssen) Τ 876 wo SCHLAFSCH du? 877 Ε nur unter proTESCHT bei der o:ma. 878 Μ DU die hat sich letscht ganz intensiv nach dir erKUNdigt. 879 Ε

Genau wie bei den ersten drei Beispielen ist eine Umformung in einen Matrixsatz mit folgendem eingeleiteten Nebensatz oder abhängigen Hauptsatz prinzipiell möglich. Ebenso gilt aber für alle drei Beispielsätze auch hier wiederum der Befund, dass die Salienz und die Einbettungsrichtung der Wortkombination (ich) + glaub(e) sich derartig auffällig von den Originaläußerungen unterscheiden, dass die Umformungen nicht als gleichwertig angesehen werden können. Auf der semantischen Ebene kommt jedoch ein teilweise deutlicher Unterschied zum Tragen: Während in den Beispielen 1 bis 3 die Semantik mit der Ansicht/Meinung/Überzeugung sein wiedergegeben werden kann, ist sie bei den Beispielen 4 bis 6 teilweise deutlich zurückgenommen. Vor allem in Beispiel 6 ist der semantische Gehalt stark reduziert, da sich das assertierende „ganz intensiv nach dir erKUNdigt" (Zeile 878f) mit einer Bedeutung wie „der Meinung sein" nur schwer verträgt. Das weist darauf hin, dass die Semantik in diesen Beispielen zu Gunsten einer allgemein modalisierenden Funktion zurückgedrängt wird. Das „glaub" dient hier eher dazu, auf pragmatischer Ebene die Äußerung abzuschwächen und als unsicher zu markieren (im Sinne einer Floskel wie „soweit ich mich erinnere"), um eventuell die Peinlichkeit des Einziehens der Erkundigungen durch die Oma (also dem Eingriff in E's Privatsphäre) zu reduzieren, oder das Wissen der Sprecherin als kolportiertes Wissen darzustellen. Bei den anderen bei-

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den Beispielen ist dieser Effekt nicht ganz so stark, aber auch hier tritt die Semantik der Ansicht/Meinung/Überzeugung sein hinter die Funktion der Äußerungsmodalisierung zurück. Die Sprecherinnen verwenden glaub(e) (ich) tatsächlich so, wie von HOPPER (2004) angedeutet: Im Sinne eines bricolage-Verfahrens wird die Phrase in verschiedenen Kontexten verwendet und ihre syntaktische, semantische und funktionale Deutung erfolgt in einer Rückbindung der Gestalt an den jeweiligen Kontext, in den sie eingebettet ist. Dass die Phrase glaub(e) (ich) dabei ambig bleiben kann, erschwert zwar ihre (durch Sprachwissenschaftlerinnen vorgenommene) Einordnung in Kategorien oder Konstruktionen, nicht aber ihre Verwendbarkeit in der Interaktion. Ganz im Gegenteil bietet der fragmentarische Charakter solcher constructs den Interagierenden den Vorteil, ganz bewusst die Gestaltmerkmale mehrerer Konstruktionen zugleich aktivieren zu können. Auf der prosodischen Ebene weicht Beispiel 6 von allen anderen 67 im Mittelfeld realisierten constructs der Art glaub und glaub(e) ich ab, weil hier glaub stark betont ist, während es sonst nicht betont wird. Da es im Folgenden darum gehen soll, zu überprüfen, ob es sich bei glaub(e) (ich) um einen Vertreter der Konstruktion [Modalpartikel] handelt, ist dieser abweichende Fall hoch relevant: Ein zentrales Gestaltmerkmal von Modalpartikeln ist ihre Unbetonbarkeit. Zerstört dieses Beispiel damit von vornherein die Option der Einordnung in die Konstruktion [Modalpartikel]? Meines Erachtens ist das nicht der Fall. Die Mutter wählt bei der Äußerung in Z.878 einen konspirativ-witzigen Tonfall, um ihren Sohn aufzuziehen, der in Z.877 heftig auf die Aussicht reagiert, bei seiner Oma übernachten zu müssen. Die Äußerung in Z.878 erhält so einen prägnanten Rhythmus mit vier auffälligen Betonungen jeweils auf dem „DU", dem „GLAUB", dem „intenSIV" und dem „erKUNdigt". Da es im unmarkierten Normalfall nicht üblich ist, innerhalb einer einzigen Tonkontur vier (noch dazu so starke) Betonungen anzubringen, stellt sich die Frage, ob Beispiel 6 als Gegenbeispiel für die prinzipielle Unbetonbarkeit von glaub(e) (ich) gewertet werden kann, oder ob hier nicht vielmehr ein übergeordnetes, stark markiertes Stilisierungsverfahren das Grundmerkmal der prinzipiellen Unbetonbarkeit außer Kraft setzt. Die Einbeziehung der reduzierten Fälle mit glaub stützt also die von STOLTENBURG (2003) aufgestellte These, dass „die phonologische und syntaktische Reduktion" zur „Idiomatisierung" beitragen, wie man an dem Rückgang des semantischen Gehaltes und der Stärkung der pragmatischen Funktion beobachten kann. Aus dem Matrixverb wird

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somit - wie STEIN (1995: 204) andeutet - ein „Vagheitsindikator" mit der Funktion, die „Geltung des Gesagten einzuschränken". Wenn man die Konstruktion [Modalpartikel]10 näher betrachtet, so scheinen AUER/GÜNTHNER (2003) in der Tat mit ihrem Befund Recht zu haben, dass glaub(e) (ich) zu dieser Konstruktion zu rechnen ist: schematische Konstruktion [Modalpartikel] Topologie nicht erststellenfähig im Mittelfeld positioniert Syntax in den Satzverband integriert, aber keine selbstständigen Satzglieder: nicht erfragbar, nicht satzwertig, kombinierbar Morphologie unflektierbar Semantik Synsemantika Prosodie tendenziell unbetont/unbetonbar (abhängig von Homonymen) prosodisch in das Syntagma integriert Funktion Modalisierung von Äußerungen: Kodieren der Einstellung der Sprecherinnen zur Äußerung und deren Kontext Schema 1

Für alle Fälle von glaub(e) (ich) im Mittelfeld treffen die meisten Kriterien der schematischen Konstruktion [Modalpartikel] zu: Pro 1.) Sie sind alle unbetont (bis auf den abweichenden Fall). Pro 2.) Sie treten im Mittelfeld auf. Pro 3.) Es gibt keine Fälle von glaub(e) (ich), die alleine im Vorfeld auftreten. Pro 4.) Sie sind syntaktisch in den Satzverband eingebettet. Pro 5.) Sie sind unflektierbar, insofern sie nur in der Form glaub(e) ich bzw. glaub vorkommen (Verfestigung).

10

Für die Darstellung der Konstruktion [Modalpartikel] wurden folgende Arbeiten b e r ü c k s i c h t i g t : DUDEN G r a m m a t i k ( 1 9 9 8 ) , EISENBERG ( 1 9 9 9 ) , HENTSCHEI/WEYDT ( 2 0 0 2 , 2 0 0 3 ) , HELBIG/BUSCHA ( 2 0 0 1 ) , ICKLER ( 1 9 9 4 ) , THURMAIR ( 1 9 8 9 , 1 9 9 1 ) u n d ZLFONUN e t al ( 1 9 9 7 ) .

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Pro 6.) In Ansätzen zeigt sich eine reduzierte Semantik, vor allem bei den univerbierten Formen. Pro 7.) Sie sind unbetont und prosodisch in die Äußerungen integriert. Pro 8.) Sie modalisieren Äußerungen (Vagheitsindikatoren). Gegen eine Einordnung sprechen die folgenden Kriterien: Contra 1.) Die prinzipielle Möglichkeit, unter Inkaufnahme von Salienz- und Einbettungsverschiebungen glaub(e) (ich) in einen Matrixsatz umzuformen: Eine gewisse Satzwertigkeit besteht also immer noch. Contra 2.) Der in den meisten Fällen starke semantische Gehalt. Obwohl also glaub(e) (ich) ein großes Spektrum an Überschneidungen mit der Konstruktion [Modalpartikel] aufweist, sprechen manche Kriterien gegen eine solche Interpretation. Wenn man nun nicht nur die im Mittelfeld realisierten Phrasen in die Analyse mit einbezieht, sondern auch die übrigen, kommt noch ein drittes Argument hinzu: Contra 3.) Trotz der hohen Rekurrenz von glaub(e) (ich) im Mittelfeld besetzt diese Phrase auch noch Nachfeldpositionen; ferner kann sie in einer doppelten Vorfeldbesetzung verwendet werden. Wenn die im Mittelfeld platzierten Fälle von glaub(e) (ich) problemlos als Vertreter der Konstruktion [Modalpartikel] interpretierbar gewesen wären, hätte man diese als eine eigene Gruppe untersuchen können. So ist aber nun zu überlegen, ob es nicht eine alternative Konstruktion geben kann, die auch die in anderen Feldern auftretenden Formen mit umfasst. 3.2. Glaub(e) (ich) im Nachfeld

Die Fälle, in denen glaub(e) (ich) nicht im Mittelfeld realisiert wird, sind in Bezug auf die prosodischen und topologischen Kriterien weitaus uneinheitlicher als die im Mittelfeld auftretenden Beispiele. In Beispiel 7 erzählt die Sprecherin S einer Freundin während eines gemeinsamen Essens von ihren Schwierigkeiten, ein passendes Hausarbeitsthema zu finden. Beispiel 8 stammt aus der Radio Phone-in Sendung „Domian", Beispiel 9 ist einer Unterhaltung zweier Freundinnen entnommen, Bei-

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spiel 10 einem Interview im Radio mit eingeladenen Gästen und Beispiel 11 stammt aus den schwäbischen Familiengesprächen. Beispiel 7 Textstellen 686 S und da hätt ich aber da hab ich nur zwei textstellen geHABT687 und da wärs das war so SCHWIErig geworden -> glaub ich688 da noch mehr zu FINden; Beispiel 8 gang bang (Moderator Domian (D) unterhält sich mit einem Anrufer (A) über dessen Job als Pornoschauspieler) 91 D also ist der begriff GANG bang schon gut getroffen, 92 ne, 93 wenn vom mir94 Α BITte? 95 D ich SAGte dann ist der begriff gang bang -> SCHON ganz gut getroffen glaub ich. Beispiel 9 Computer (zwei Freundinnen (A und B) erstellen gemeinsam am Computer eine Einladung für eine Grillparty) 3 82 Β hier würd ich IRgendwas noch machen oder ne komma oder irgendsowas. 3 83 Α um (0.9) 384 Β hihi (.) 385 oh. (.) 386 A -> das is η U glaub ich. 387 Β ja. 388 ne: das sieht nur so KOmisch aus. Beispiel 10 Tagesgespräch (der Moderator (M) weist einen der eingeladenen Gäste auf das Klingeln eines Mobiltelefons hin) 18 Ν eh herr KOLLmanntaler, .hh 19 ehm (0.5) die eh20 aber das IS irgendwas; 21 η geRÄUSCH, 22 aus ihrem (.) moBILtelefon; 23 -> glaub ich. Beispiel 11 Brautstrauß (die Familie unterhält sich darüber, was geschieht, wenn bei der Entführung des Bräutigams vor der Hochzeit der Brautstrauß nicht mit gestohlen wird. Der Vater (V) und die Tochter (T) sind der

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Ansicht, dass die Entführer dann die Zeche selbst zahlen müssen und sich von dem Entführten nicht einladen lassen dürfen, die Mutter (M) dagegen meint, dass der Brautstrauß gar nicht mit entführt werden darf, da er für die Einlösung des Entführten durch die Braut benötigt wird) 989 V NEIN. 990 Τ b e i u n s NET. 991 Μ des i s c h b e i jedem ANdersch; 992 -> glaub.

In Beispiel 7 wird „glaub ich-" (Z.687) nach der rechten Satzklammer („geworden", Z.687) realisiert und an die Vorgängeräußerung nahtlos angebunden. Das Nachfeld trägt aber eine eigene Tonkontur, so dass „glaub ich-" nicht vollständig in die Äußerung eingebunden ist. Allerdings ist die Intonation zwischen 687 und 688 gleich bleibend, so dass der Bruch nicht stark markiert ist. In Beispiel 8 ist überhaupt kein Nachfeld mehr neben dem „glaub ich." (Z.95) vorhanden, d.h. es fungiert in diesem Fall selbst als alleinige Nachfeldbesetzung und ist prosodisch wie in Beispiel 7 vollständig an die vorangehende Äußerung angebunden. Die Äußerung ist erst nach dem „glaub ich" (Z.95) zu Ende, das zudem nicht wie ein Inkrement oder nachträglich hinzugefügtes Element wirkt. In Beispiel 9 wird die Analyse - was die Äufteilung der Felder angeht - problematisch, da keine rechte Satzklammer vorhanden ist. Es lassen sich nur Hypothesen aufstellen, ob in einem Satz mit rechter Satzklammer die Varianten Das könnte ein U sein glaub ich. oder Das könnte ein U glaub ich sein, wahrscheinlicher wären. Es handelt sich, genau wie in den Beispielen 10 und 11, um eine topologisch nicht eindeutig bestimmbare Position. Allerdings sind die Paraphrasierungen in Beispiel 10 (Das wird ein Geräusch aus ihrem Mobiltelefon sein; glaub ich. / Das wird ein Geräusch aus ihrem Mobiltelefon glaub ich sein.) und 11 (Das wird bei jedem anders sein; glaub. / Das wird bei jedem anders glaub sein.) nicht so problemlos möglich wie in Beispiel 9; in beiden Fällen ist die Nachfeldposition die wahrscheinlichere. Anders als in den Beispielen 7 bis 9, bei denen „glaub ich" vollständig an die vorangehende Äußerung angebunden ist, werden „glaub ich." (Beispiel 10, Z.23) und „glaub." (Beispiel 11, Z.992) als eigene Tonkontur realisiert. Dadurch erhalten diese Phrasen eher den Charakter eines Inkrements, wirken also der Äußerung nachgeschoben. Nach FORD/FOX/THOMPSON (2002: 16) ist ein Inkrement eine nonmain-clause continuation after a possible point of turn completion. That is, an increment will be defined here as any nonmain-clause continuation of a

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speaker's turn after that speaker has come to what could have been a completion point, or a .transition-relevance place', based on prosody, syntax and sequential action.

Die für nachgestelltes glaub(e) (ich) zutreffende Inkrementvariante wird von FORD/FOX/THOMPSON (2002: 18) als „extension" bezeichnet. Dabei handelt es sich um kurze syntaktische Einheiten, die alle die Funktion gemeinsam haben, eine gerade getätigte Äußerung, die aus irgendeinem Grund problematisch sein könnte (Verständnisprobleme der Gesprächspartner, mögliche Gesichtsbedrohung, Unsicherheit über den Wahrheitsgehalt der Äußerung etc.), im Voraus zu reparieren und genauer zu spezifizieren. Im Fall von glaub(e) (ich) heißt das, dass die Äußerung als unsicher gerahmt wird: In Beispiel 10 dient diese Rahmung dazu, den potentiellen Vorwurfscharakter von Z. 18-22 zu verhindern und in Beispiel 11 versucht die Mutter in Z.992 mit einer als unsicher markierten Äußerung die erhitzte Debatte herunterzukühlen und einen Kompromiss anzubieten. Eine prosodische Gemeinsamkeit, die alle Beispiele teilen, ungeachtet dessen, ob die glaub(e) (ich)-Phrase angebunden oder abgesetzt realisiert wurde, besteht darin, dass glaub(e) (ich) immer unbetont und leise realisiert wird. Semantisch trägt das Verb in allen hier angeführten Beispielen die volle Bedeutung, auch Umformungen in Matrixsätze mit glauben, denen die Äußerungen in den Beispielen 9 bis 11 als Komplementsätze folgen, sind ohne Probleme möglich. Diese beiden Merkmale, und die Tatsache, dass glaub(e) (ich) nicht nur am Ende einer Äußerung, sondern auch zwischen rechter Satzklammer und Nachfeld stehen kann, sprechen in den Fällen der Nachfeldpositionierung von glaub(e) (ich) unter anderem auch dagegen, die Phrase beispielsweise als [Vergewisserungssignal] zu bewerten. Der Schluss, die Konstruktion [Vergewisserungssignal]11 als möglichen Kandidaten zu betrachten, liegt darin begründet, dass man versuchen könnte, die im Nachfeld positionierten Fälle von glaub(e) (ich) in eine andere Konstruktion auszulagern als die im Mittelfeld platzierten. Da manche Phrasen mit verba sentiendi (weißt du bzw. weißte) tatsächlich als Vergewisserungssignale

11

Die Einträge für die Konstruktion [Vergewisserungssignal] beruhen auf der Auswertung f o l g e n d e r A r b e i t e n : DUDEN ( 1 9 9 8 ) , KEHREIN ( 2 0 0 1 ) , QUIRK ( 2 0 0 3 ) , SCHU/STEIN ( 1 9 9 4 ) , SCHW1TALLA ( 2 0 0 2 ) , SWAN ( 1 9 9 7 ) , WEINRICH ( 1 9 9 3 ) , WILLKOP ( 1 9 8 8 ) u n d ZIFONUN e t al ( 1 9 9 7 ) .

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verwendet werden, könnte diese Konstruktion auch für glaub(e) (ich) in Frage kommen: schematische Konstruktion [Vergewisserungssignal] Syntax in allen Feldern im Satz außer Vorfeld; in der Funktion der Bestätigungsanforderung primär am Ende einer Äußerung Morphologie 2. Person Singular und Plural (wenn ein Verb verwendet wird) Prosodie variabel; bei Bestätigungsanforderung steigend (Frageprosodie) Semantik weitgehend entleert, allerdings bei Einsatz zur Anforderung einer Bestätigung/Hörerreaktion stärkerer semantischer Gehalt, weswegen sich verba sentiendi {wissen, verstehen, glauben) besonders eignen Funktion Bestätigung/Ablehnung oder Aufmerksamkeit einfordern; Gliederung für das Ende einer Äußerungseinheit/Sprecherrolle aufgeben; Äußerung abschwächen Schema 2

Das zentrale morphologische Kriterium, die deiktisch notwendige Verfestigung auf die 2. Person, ist bei Phrasen mit glauben nicht gegeben. Von den Funktionen ist lediglich die der Abschwächung der Äußerung vorhanden, was bei Vergewisserungssignalen nur eine zusätzliche, marginale Funktion ist; eine explizite Aufmerksamkeitsaufforderung oder Kommentaraufforderung kann nicht festgestellt werden. Bei den im Nachfeld positionierten glaub(e) (7c/i)-Phrasen handelt es sich also um das gleiche Phänomen wie bei den im Mittelfeld positionierten. Dies wird durch die volle Semantik und die Möglichkeit der Umstellung in einen Matrixsatz gezeigt wie auch durch die Tatsache, dass sich keine eigene Konstruktion annehmen lässt, die nur diese Fälle abdecken kann. 3.3. Glaub(e) (ich) vor der linken Satzklammer

Die letzte Gruppe von glaub(e) (ich) befindet sich topologisch gesehen zwischen dem Vorfeld und der linken Satzklammer. Beispiel 10 ist wieder dem Gespräch der Freundinnen entnommen, die am Computer eine Einladungskarte erstellen; Beispiel 11 stammt aus den Aufzeichnungen einer Unterhaltung zweier Freunde während einer Autofahrt,

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bei der sie über den Grund der Abwesenheit eines gemeinsamen Bekannten spekulieren, den sie gerade besuchen wollten. Beispiel 10 Gespräch am Computer 455 also ich weiß nicht ob η alternaTIV termin dann was bringen würde. 456 [das is ja immer dann der geDANke.] 457 A -> [NE: das glaub ich bringt ] GAR nichts weil dann sind die alle schon in den FErien. Beispiel 11 Autotour 83 5 Η vielleicht isch er auch SNOWboarden; 83 6 ne: LARS macht des nich. 837 W nich? 838 (0.5) 83 9 au mit seiner DINGSbums nicht? 840 Η -> a über WEIHnachten glaub ich [isch er SCHON daheim.] 841 W [JA stimmt ne: ja. ]

Wie in allen vorigen Beispielen ist die Umformung in einen Matrixsatz mit glauben mit folgendem Komplementsatz ebenso möglich wie die Ersetzung durch semantisch ähnlich aufgeladene Verben wie Ich denke/finde/bin der Meinung/bin der Überzeugung, dass.... Die ungewöhnliche Position zwischen Vorfeld und linker Satzklammer (alternativ als doppelte Vorfeldbesetzung zu deuten) scheint keine Probleme zu bereiten, da in allen Fällen glaub(e) (ich) prosodisch vollständig integriert und unbetont ist und so eine sehr geringe Salienz aufweist, die gegen die Einordnung als vollwertige Konstituente spricht. Da sowohl Positionen im Nachfeld, viel mehr aber noch Positionen im Vorfeld für Modalpartikeln nicht vorgesehen sind, wohl aber für Modalwörter, stellt sich die Frage, ob es sich bei glaub(e) (ich) eventuell um einen Vertreter der Konstruktion [Modalwort]12 handeln könnte:

12

Zur herangezogenen Literatur zur Bestimmung von Modalwörtern siehe Fußnote 10.

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schematische Konstruktion [Modalwort] Topologie generell freie Stellung in allen Feldern mehr als Satzglieder: außerhalb des Satzverbandes Syntax unflektierbar Morphologie Semantik Synsemantika Funktion Modalisierung von Äußerungen: Kodieren der Einstellung des Sprechers zur Äußerung und deren Kontext betonbar Prosodie Schema 3

Modalwörter lassen sich in einen übergeordneten Matrixsatz umwandeln (Er kommt wahrscheinlich. - Es ist wahrscheinlich, dass er kommt.), wobei der untergeordnete Satzteil durch die Subjunktion dass eingeleitet wird. Damit können beispielsweise modale Adverbien klar von Modalwörtern abgesondert werden, da erstere den propositionalen Gehalt des Satzes mit der Subjunktion wie einleiten. Mit diesem Test lassen sich auch mehrdeutige Sätze eindeutig machen, wie in dem Beispiel Das Flugzeug ist sicher gelandet. Hier kann sicher entweder Modalwort oder modales Adverb sein. Im ersten Fall lautete die Paraphrase mit Matrixsatz Es ist sicher, dass das Flugzeug gelandet ist, im zweiten Fall Es ist sicher, wie das Flugzeug gelandet ist. Zudem ist es auch möglich, das Modalwort als Schaltsatz zu paraphrasieren: Das Flugzeug ist - da bin ich sicher - gelandet. Neben diesen Kriterien legt noch ein weiteres die Annahme nahe, dass Modalwörter in der Tat „mehr als Satzglieder" sind, nämlich „Kondensate von Sätzen, die Einstellungen ausdrücken." (HELBIG/BUSCHA 2001: 434) Es ist möglich, auf Entscheidungsfragen mit einem Modalwort zu antworten (nicht aber mit einem modalen Adverb) und umgekehrt wiederum kann man auf Ergänzungsfragen nicht mit Modalwörtern antworten. Zudem können Adverbien durch Prowörter wie so ersetzt werden, was mit Modalwörtern nicht möglich ist. All das deutet darauf hin, dass Modalwörter, auch wenn sie wie Adverbien vollständig in den Satzverband integriert sein können (aber nicht müssen), als eigene Wortart zu betrachten sind.13

13

Die DUDEN Grammatik (1998: 371) sieht dieses Problem ebenfalls, ohne aber die Konsequenz zu ziehen, Modalwörter aus der Klasse der Adverbien auszugliedern: „Den Kommentaradverbien kommt in der Klasse der Adverbien eine Sonderstellung zu.

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Übertragen auf die Fälle von glaub(e) (ich) kann man nun die Einträge der Konstruktion [Modalwort] in ihren Einzelmerkmalen überprüfen: a) Die freie Stellung ist für glaub(e) (ich) nicht gegeben, da diese Phrase nie alleine im Vorfeld auftritt. b) Glaub(e) (ich) kann in der Tat als außerhalb des Satzverbandes stehend analysiert werden. Dafür sprechen folgende Kriterien: - Glaub(e) (ich) kann (unter Salienzveränderung) in einen Matrixsatz umgewandelt werden, mit der Restäußerung in einem mit dass eingeleiteten Nebensatz - genau wie Modalwörter. - Auch das Einfügen eines Schaltsatzes ist jederzeit möglich, wie die Paraphrase von Beispiel 11 zeigt: über WEIHnachten - das glaube ich jedenfalls — isch er SCHON daheim. - Das Kriterium der Fähigkeit von Modalwörtern, als Antwort auf Entscheidungsfragen zu fungieren (Kommt er? Vermutlich.), ist allerdings nicht ohne Probleme auf glaub(e) (ich) zu übertragen. In einem solchen Fall würde die Inversion aufgehoben und die Form ich glaub(e) verwendet werden (Kommt er? Ich glaub(e) (es).). Insofern kann hier nicht mehr von einer unveränderlichen Verfestigung der Phrase gesprochen werden. c) Das morphologische Kriterium gilt nur dann, wenn man die nicht invertierte Form ich glaub(e) ausschließt. Bei dieser wäre es nämlich möglich, auch andere Formen zu verwenden: Kommt er? Ich glaube (es)./Wir glauben esJPeter glaubt es etc. Bezogen auf die Inversionsform dagegen kann man von einer so starken Verfestigung sprechen, dass glaub(e) (ich) als unflektierbar bezeichnet werden kann. d) Das semantische Kriterium ist schwer abzuschätzen, da die Semantik von glauben mit der Funktion der Einstellungsmarkierung einer Äußerung zusammenfällt. Von einer semantischen Entleerung kann aus diesem Grund hier nur bedingt gesprochen werden. e) Die Funktion der Einstellungskodierung des Sprechers zur Äußerung und deren Kontext wird von glaub(e) (ich) vollständig erfüllt. f) In den vorliegenden Daten ist glaub(e) (ich) nicht betont. Der Befund ist also auch für die Konstruktion [Modalwort] nicht eindeutig, manche Kriterien treffen zu, andere hingegen nicht. Die prinzipielle Paraphrasierbarkeit und parenthetische Wirkung von Phrasen

Typisch für sie ist, dass sie ohne Bindung zu anderen Wörtern im Satz auftreten, das heißt, außerhalb des Satzverbandes stehen."

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mit glaub(e) (ich) kann durch die Satzwertigkeit von Modalwörtern gut erklärt werden, allerdings macht das Kriterium der Satzwertigkeit bei der Verwendung von Phrasen mit glauben in Antworten auf Entscheidungsfragen wieder Probleme.

4. Ein construct ohne construction? Wie lässt sich die Konstruktion glaub(e) (ich) nun einordnen? Als einzige Erklärung bleibt, dass glaub(e) (ich) als spezifische Konstruktion zwischen verschiedenen schematischen Konstruktionen - nämlich [Modalpartikel], [Modalwort] und [Matrixsatz] - frei im Netzwerk 14 „hängt" und je nach Kontext und Kombination der einzelnen Gestaltmerkmale mal näher an die eine oder andere Konstruktion rückt:

14

Die Annahme der Verortung von Konstruktionen einer Sprache in einem „taxonomic network of constructions" (CROFT 2001: 25) ermöglicht es, gerade für teil- und vollverfestigte Konstruktionen die Beziehungen zu den schematischen Konstruktionen sichtbar zu machen, auf die sie sich stützen. Durch Netzwerkbeziehungen besteht auch die Möglichkeit, das Phänomen der Divergenz im Sinne der Grammatikalisierung (HOPPER/TRAUGOTT 1993: 121) in eine Grammatik einzubeziehen und so Ausdrücke zu beschreiben, die keiner grammatischen Einheit eindeutig zuzuordnen sind.

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Für (+) und gegen (-) die Konstruktion [Modalwort] spricht:

Für (+) und gegen (-) die Konstruktion [Modalpartikel] spricht:

+Verfestigung (glaub(e) (ich)) +Umwandlungsmöglichkeit in einen Matrixsatz +modalisierende Funktion -betonbar +die doppelte Vorfeldbesetzung könnte als Prozess zur alleinigen Vorvorfeldbesetzung gedeutet werden -keine alleinige Vor-Vorfeldbesetzung

+Verfestigung -Umwandlungsmöglichkeit in einen Matrixsatz +modalisierende Funktion -Hinbetonbar -Stellung im Nachfeld und Vorfeld; starke Tendenz zur Mittelfeldposition

-nicht invertiert als Antwort auf Entscheidungsfragen möglich

-Stellung im Vorfeld und Nachfeld -starke Semantik

I

X

glaub(e) (ich)

X Für (+) und gegen (-) die Konstruktion [Matrixsatz] spricht: + Parenthesehaftigkeit - Formelhaftigkeit - mangelnde Salienz: die Phrase glaub(e) (ich) ist weniger salient als ein Matrixsatz Schema 4

Je mehr Gestaltmerkmale glaub(e) (ich) von der Konstruktion [Modalpartikel] erhält (vor allem Mittelfeldstellung, semantische Reduzierung und prosodisch unauffällige Realisierung), desto stärker wird diese schematische Konstruktion als Zielkonstruktion aktiviert. Je weniger

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diese Merkmale vorhanden, oder je schwächer sie sind, desto stärker salient werden die Konstruktionen [Modalwort] bzw. [Matrixsatz]. Die Tatsache, dass die Konstruktion [Matrixsatz] immer noch „im Spiel" bleibt, liegt daran, dass - zumindest, wenn die Inversion aufgehoben wird - aus der Verfestigung glaub(e) (ich) wieder eine normal produktive Phrase mit einem Ergänzungen fordernden Verb werden kann, die in allen personen- und zeitdeiktischen Varianten vorkommt. Zudem werden manche Konstruktionen von der Matrixsatzkonstruktion blockiert. So ist es meines Erachtens unwahrscheinlich, dass glaub(e) (ich) tatsächlich einmal das Vorfeld besetzen kann und somit näher an die Konstruktion [Modalwort] heranrückt. Ein Satz wie Glaub(e) (ich) habe ich ihn gestern beim Einkaufen gesehen (parallel zu Vermutlich habe ich ihn gestern beim Einkaufen gesehen) wird durch die Zugkraft, die die Konstruktion [Matrixsatz] ausübt, verhindert: Ich glaub(e) ich habe ihn gestern beim Einkaufen gesehen. Es ist daher unwahrscheinlich, dass sich die verfestigte Form glaub(e) (ich) vollständig von der schematischen Konstruktion eines Matrixsatzes mit glauben befreien kann. Damit verhält sich glaub(e) (ich) in einer Weise, die bereits von THOMPSON/MULAC (1984) u n d THOMPSON/MULAC (1991) f ü r bestim-

mte Verben („epistemic verbs") im Englischen beschrieben wurde: These epistemic verbs together with their subjects behave very much like unitary epistemic morphemes in other languages, to the point of being transportable' to positions other than that which they could occupy if they were only functioning to introduce a complement [...]. (THOMPSON/MULAC 1984: 315)

Schon alleine durch ihre Positionierung im Kontext einer Äußerung können somit manche Verben unterschiedliche Konstruktionen aktivieren. THOMPSON/MULAC (1991: 239) führen als Beispiel für ein solches Schwanken im Netzwerk die Sätze „I believe it's going to snow" bzw. „It's going to snow, I believe" an. Im ersten Fall wird „I believe" als komplementforderndes Verb eingeordnet, was bedeutet, dass die Konstruktion [Matrixsatz] aktiviert wird, im zweiten Fall dagegen nähert sich „I believe" einem epistemischen Morphem an, tritt also in eine modalisierende Konstruktion über. Manche Verben, zu denen auch glauben gehört, können offensichtlich alleine durch die Repositionierung einen Teil ihrer Valenz einbüßen. Im Deutschen wird dieser Effekt zudem noch durch Prozesse wie die Inversion von Subjekt und Prädikat verstärkt. Dieser Befund lässt sich an die Skala der Salienz anbinden (Abschnitt 3.1.), die die Phrase mit glauben in den verschiedenen Positionen und Konstruk-

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tionen aufweist. Auch wenn eine Umformung in einen Matrixsatz grundsätzlich möglich ist - und trotz der voll aufgeladenen Semantik von glauben - wurde von den Sprecherinnen ja gerade nicht eine der Matrixsatzkonstruktionen gewählt, sondern die modalpartikel- bzw. modalwortähnliche Konstruktion. Und das liegt genau daran, dass das Profil der glauben-Phr&se herabgesetzt und die Wahrnehmung der Einbettung umgekehrt wird und somit eine schwächer modalisierende Wirkung entsteht als bei einer Matrixsatzkonstruktion.15 Glaub(e) ich und glaub befinden sich also momentan in einer Position zwischen drei verschiedenen Konstruktionen. Ob der Weg dahin führt, dass diese Ausdrücke irgendwann als die Konstruktion [Modaipartikel] oder [Modalwort] reanalysiert werden, ist offen. Nachfeldbesetzungen kommen auch bei Modalpartikeln vor, aber die Tatsache, dass glaub(e) (ich) auch fünfmal zwischen Vorfeld und linker Satzklammer erscheint, könnte ein Anzeichen dafür sein, dass eine komplett neue Konstruktion entsteht, oder dass die Konstruktion [Modalwort] als Zielkonstruktion in Frage kommt. Dass die nächstliegende Konstruktion, die des Matrixsatzes, bereits verlassen wurde, ist allerdings unbestreitbar, da sowohl die schwächere Salienz als auch die prosodische Realisierung der glaub(e) (7c/zJ-Phrasen auf einen Bruch mit der Matrixsatzkonstruktion hinweisen. Zudem stellen BYBEE/SCHEIBMANN (1999: 5 7 6 ) fest: „Loss of stress and reduction to a neutral tone are early indicators of reduction". Es ist also zu vermuten, dass sich im Laufe der Zeit die reduzierte Variante glaub weiter ausbreitet, und das führt dann wiederum zu einem stärkeren Druck auf glaub, feste grammatische Formen anzunehmen, also zu einer spezifischen Konstruktion grammatikalisiert (bzw. pragmatikalisiert) zu werden: Die lautliche Reduktion ist eine natürliche Folge der gesteigerten Häufigkeit, und Häufigkeit von Elementen und Schemata führt automatisch zu stärkerer mentaler Einprägung und damit zur Bildung von festen grammatischen Mustern. (HASPELMATH 2002: 274)

Bis dieser Prozess aber so weit fortgeschritten ist, dass man von einem solchen festen Muster sprechen kann, müssen sowohl glaub(e) ich als auch glaub noch in einem „Niemandsland" zwischen verschiedenen Konstruktionen verortet werden. Die Konstruktionen [Modalpartikel] und [Modalwort] bieten sich als mögliche Zielkonstruktionen an, 15

Siehe auch DEPPERMANN (dieser Band) zu Interpretationsverfahren, mit deren Hilfe die Bedeutungen von Konstruktionen rekonstruiert werden können.

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erreicht sind sie aber (noch) nicht und werden es vielleicht auch niemals sein. Im Rahmen ihrer Untersuchung von Grammatikalisierungsprozessen haben HOPPER/TRAUGOTT ( 1 9 9 3 : 1 7 ) festgestellt, dass zahlreiche sprachliche Elemente nicht eindeutig bestimmten Kategorien zugeordnet werden können: Earlier forms may coexist with later ones (...), earlier meanings may constrain later meanings and/or structural characteristics. (...) Ultimately, too, examples such as these suggest more general consequences for linguistic theory and even for our perspective on language itself.

Der Vorteil der Construction Grammar besteht hier darin, dass sie das Instrumentarium für eine umfassende und systematische Analyse bereitstellt. Trotz der Annahme eines Netzwerks, das prinzipiell „Zwischenkonstruktionen" zulassen kann, suggeriert die Construction Grammar aber noch zu sehr das Bild einer Sprache, deren Bestandteile stets eindeutig beschrieben und festen Konstruktionen zugeordnet werden können. Die Untersuchung der glaub(e) ich-Phrasen zeigt jedoch, dass sich die Sprachrealität weitaus komplexer darstellt, als die bisher meist auf Intuitionen basierenden Analysen der Construction Grammar nahe legen. Es ist daher angebracht, dem fragmentarischen16 Charakter vieler sprachlicher Elemente weitaus deutlicher Rechnung zu tragen. So weisen auch COUPER-KUHLEN/THOMPSON (in diesem Band) nach, dass Konstruktionen wie die „Extraposition" keineswegs eine feste und abgeschlossene Gestalt haben, sondern sich im jeweiligen Interaktionszusammenhang ad hoc jeweils unterschiedlich von den Interagierenden anpassen lassen. Konstruktionale Schemata liefern jeweils immer nur Vorlagen, die je nach sequentieller Platzierung und interaktionalem Bedarf unterschiedlich realisiert, umgebaut, ausgebaut oder abgebrochen werden können. Genau wie die Construction Grammar zu Anfang gegen eine willkürliche Trennung in Kern- und Randbereiche der Grammatik vorgegangen ist, muss nun eine interaktional ausgerichtete Construction Grammar gegen die Vorstellung einer aus eindeutig bestimmbaren Konstruktionen bestehenden Sprache angehen. Der Kernbereich der Sprache ist fragmentarisch.

16

Vgl. HOPPER (2004:1) „In casual spoken discourse constructions appear not as neatly bounded sentences or clauses but as unstructured fragments that are habitually combined with other fragments to make utterances." Und über Konstruktionen: „They are open because their structure is emergent, that is to say, their structure never reaches a point of closure and completion as a construction. (...) They are intrinsically indet e r m i n a t e . " (HOPPER 2 0 0 4 : 1 9 )

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Peter Auer Construction Grammar meets Conversation: Einige Überlegungen am Beispiel von „so"-Konstruktionen 1. Warum die Konstruktionsgrammatik (construction grammar) für die Interaktionale Linguistik interessant ist

Die Konstruktionsgrammatik (Construction Grammar, CxG) 1 ist eine deklarative (nicht-derivationelle) und integrative (d.h. alle Ebenen der sprachlichen Strukturierung erfassende) Grammatiktheorie. Die Bezeichnung ,Saussure-Grammatik' ist insofern für sie passend, als sie sich mit Form/Funktionspaaren aller Art beschäftigt. Jede distinkte (idiosynkratische) Eigenschaft eines Form/Funktionspaars rechtfertigt die Annahme eines eigenen solchen Saussureschen Zeichens. Konstruktionen können dementsprechend beliebige Komplexität haben - von Morphemen über Wörter bis zu all jenen Syntagmen, die eigenständige Redebeiträge bilden können (z.B. Sätze). Die kategorische Trennung zwischen Syntax und Lexikon löst sich auf. Konstruktionen können außerdem unterschiedlich abstrakt sein. Manche von ihnen sind weitgehend - u.U. auch lexikalisch - spezifiziert (vgl. idiomatisierte Konstruktionen wie lecker Ν - SPIEKERMANN/STOLTENBURG, in diesem Band), andere sind lexikalisch offen und enthalten zahlreiche Leerstellen (etwa die Passiv-Konstruktion oder die PseudocleftKonstruktion; GÜNTHNER in diesem Band). Per definitionem ist aber entweder die Form (z.B. die Syntax) und/oder die Funktion/Semantik einer Konstruktion nicht kompositionell aus ihren Teilen ableitbar. Die Konstruktionsgrammatik ist nicht-modular, denn Form (Morphologie, Syntax...) und Funktion (Bedeutung, ...) werden immer zusammen analysiert. Sie beansprucht außerdem, psycholinguistisch fundierbar zu sein: insbesondere wird meist angenommen, dass jedes Form-Funktionspaar individuell gespeichert und im Sprachprodukti-

1

Bekanntlich gibt es nicht EINE Konstruktionsgrammatik, sondern viele - ein einheitlicher theoretischer Rahmen ist bisher nicht entwickelt worden. Die meisten im vorliegenden Beitrag vorausgesetzten Annahmen der Konstruktionsgrammatik sind allerdings unumstritten. Eine systematische Einführung in die Konstruktionsgrammatik ist nicht verfügbar; aus verschiedenen Blickwinkeln geben jedoch FRIED/ÖSTMAN 2004, CROFT/ CRUSE 2 0 0 4 , Teil M , PETER AUER (Hrsg.) 2 0 0 5 , GÜNTHNER/IMO (in d i e s e m B a n d )

sowie DEPPERMANN (i.Dr. und in diesem Band) nützliche Überblicke.

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onsprozess nicht aus allgemeineren Strukturprinzipien (,Regeln' oder anderen Generierungsmechanismen) abgeleitet, sondern einzeln .abgerufen' wird. Dies widerspricht der traditionellen generativen Denkweise, derzufolge unter alternativen (sachangemessenen) grammatischen Beschreibungen derjenigen der Vorzug zu geben ist, die die stärksten Generalisierungen erlaubt. Die Struktur von Einzeläußerungen wird dort so weit wie möglich aus der Interaktion allgemeiner Strukturregelmäßigkeiten erklärt. Diese Herangehensweise galt lange Zeit als kompatibel mit psycholinguistischen Annahmen von der Beschränktheit des menschlichen Gedächtnisses. Die Konstruktionsgrammatik gehört hingegen zu den jüngeren Ansätzen in der Sprachtheorie, die die Gedächtnisleistung maximal belasten (und damit in Übereinstimmung mit den heutigen Erkenntnissen der Neurologie stehen) und die grammatische Generierungsarbeit (die kompositionelle oder derivationelle Komponente der Grammatik) minimieren. Zum Beispiel wird es aus konstruktionsgrammatischer Perspektive nicht möglich sein, die Grammatik des ,Relativsatzes' im Deutschen als Ergebnis EINER Regelanwendung zu beschreiben (die z.B. Sätze an Nominalphrasen adjungiert), weil die einzelnen Typen von komplexen Zeichen, die traditionellerweise unter diese Kategorie zusammengefasst werden, nicht nur formal, sondern auch funktional voneinander unterschieden sind (vgl. BIRKNER, in diesem Band; FOX/THOMPSON 1990a, b; im Dr.). Die traditionelle Kategorie .Relativsatz' wird bestenfalls noch als ein Resultat linguistischen Abstrahierens aus einer Gruppe von Konstruktionen akzeptiert, die evtl. durch das Auftreten eines (zumindest vage) koreferenten, nebensatzeinleitenden Pronomens im Sinne einer Familienähnlichkeit zusammengehalten wird, jedoch keine psycholinguistische Realität für sich beanspruchen kann. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vor diesem Hintergrund mit einer Frage, die in der konstruktionsgrammatischen Forschung bisher nur wenig diskutiert worden ist: dem Verhältnis von Konstruktionsgrammatik und Konversationsanalyse bzw. Interaktionaler Linguistik. MIRJAM FRIED und JAN-OLA ÖSTMAN haben jüngst ( 2 0 0 5 ) darauf hingewiesen, dass beide Ansätze bestimmte Grundannahmen teilen: sie sind „non-reductionist and ,maximalist'", d.h. sie arbeiten oberflächennah und holistisch, und sie integrieren in ihre Grundeinheiten (turn constructional units bzw. constructions) Informationen unterschiedlicher Art (syntaktische, prosodische, lexikalische, pragmatische, sequenzielle, teils sogar gestische). Die Weigerung der Konstruktionsgrammatik, periphere von zentralen Syntaxstrukturen zu trennen und

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nur letztere als .eigentlichen' Forschungsgegenstand der Linguistik anzusehen, hat ihre Entsprechung in der konversationsanalytischen Überzeugung, dass jede (sprachliche) Struktur Evidenz für die Organisiertheit menschlicher Interaktion liefern kann. Andererseits verweisen FRIED und OSTMAN ZU Recht darauf, dass sich Konversationsanalyse und Interaktionale Linguistik für die Emergenz syntaktischer Strukturen im Dialog und in der Echtzeit interessieren, während die Konstruktionsgrammatik in den meisten ihrer Varianten auf die Rekonstruktion sprachlichen Wissens abzielt und oft in der aus der Chomsky-Linguistik bekannten Weise mit introspektiv gewonnenen Beispielsätzen arbeitet. Berührungspunkte ergeben sich deshalb im Augenblick m.E. vor allem dort, wo die Konstruktionsgrammatik corpusbezogen arbeitet (etwa in P u b l i k a t i o n e n v o n JOAN BYBEE, RONALD LANGACKER o d e r SANDRA

THOMPSON), und wo sich die Konversationsanalyse für die grammatische Ressourcen, die in der sprachlichen Interaktion funktional sind, interessiert (eben in der ,Interaktionalen Linguistik'). Damit ist allerdings die Frage noch nicht beantwortet, wie sich die Idee des lokalen Managements (,Aushandlung') emergenter - auch grammatischer - Strukturen mit der Auffassung von relativ dekontextualisierten kognitiven Konstruktionen verträgt. Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht (AUER 2005 und im Druck), dass die entscheidende Verbindung im Begriff der Projektion und der inkrementellen Syntaxanalyse zu finden sein könnte. Die Grundannahme ist, dass Hörer im Verstehensprozess fortwährend auf Projektionen über den weiteren Verlauf der emergenten syntaktischen Struktur angewiesen sind. Syntaktische Projektionen basieren auf syntaktischen ,Gestalten', die, sobald sie identifiziert sind, nach dem gestaltpsychologischen Prinzip der ,guten Fortsetzung' durch die Produktion einer mehr oder weniger präzise vorhersagbaren Abschlussstruktur geschlossen werden müssen. Syntaktische Projektionen sind für die Interaktion nicht zuletzt deshalb von großer Wichtigkeit, weil sie die Vorhersage von möglichen Redezug-Abschlusspunkten {possible turn completion points) ermöglichen. Sie kommen aber auch innerhalb von Turnkonstruktionseinheiten zum Tragen. Projektionen sind die Basis der inkrementellen Syntax. Der Wechsel zwischen strukturaufbauenden (Projektionsbögen herstellenden) und strukturabarbeitenden (Projektionen einlösenden, Projektionsbögen abschließenden) Phasen konstituiert einen kognitiven Rhythmus, der die Prozessierung erleichtert, indem er in den strukturabarbeitenden Phasen Entlastungen für andere mentale und interaktive Aktivitäten schafft; zum Beispiel die Vorbereitung des nächsten Turns.

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Es ist nun evident, dass mit der Anzahl der einzeln gespeicherten, oberflächennahen Konstruktionen die Möglichkeiten für den Hörer wachsen, die entstehende Struktur schnell einem kognitiven Muster zuzuordnen und dadurch ihren weiteren Verlauf vorherzusagen. Da die Konstruktionsgrammatik gerade die Speicherung zahlreicher solcher oberflächennaher, einzeln ausdifferenzierter Muster annimmt, ist sie geeignet, die schnelle Prozessierbarkeit mündlicher Sprache besser zu beschreiben als ,kompositionelle' Grammatiktheorien traditionell-generativer Prägung. Die Frage, die mich in der folgenden Diskussion interessieren wird, ist jedoch konkreter: welches ,konversationelle' Wissen müssen Gesprächsteilnehmer mit einer bestimmten Konstruktion gespeichert haben, um sie in der Interaktion für projektive Verfahren nutzen zu können? Diese Frage ist nur sinnvoll, wenn vorausgesetzt wird, dass die Konversationsanalyse/Interaktionale Linguistik eine kognitive Komponente hat: es gibt im Sozialisationsprozess erworbenes Wissen, das unser Gesprächsverhalten steuert, und das weder im engeren Sinn grammatisches, noch allgemeines Weltwissen ist. Es umfasst zum Beispiel Wissen über sequenzielle Ablaufschemata (Formate wie Gruß/Gegengruß, Einladung/Ablehnung, Kompliment/Gegenkompliment, Bewertung/Gegenbewertung, etc.), kommunikatives Gattungswissen (über Gattungen wie Frotzeln, Witze, Beschwerdegeschichten, mündliche und schriftliche Gattungen, etc.) und Wissen über die institutionellen Formen sprachlichen Verhaltens (Frage/Antwort wird im Unterrichtsgespräch zu Frage/Antwort/Bewertung, etc.). Ebenso wird vorausgesetzt, dass die Konstruktionsgrammatik prinzipiell so angelegt ist, dass als Teil von Einzelkonstruktionen Wissen über die Verwendung dieser Konstruktionen in ihrem interaktionalen Kontext gespeichert werden kann. F R I E D / Ö S T M A N (2005) schlagen zum Beispiel im Rahmen ihrer Analyse finnlandschwedischer und tschechischer Partikeln im Rahmen der Konstruktionsgrammatik vor, pragmatische Attribute wie Kohärenz, Höflichkeit und Involviertheit als Teil von Konstruktionen anzunehmen (2005:1774). Nur DEPPERMANNs konstruktionsgrammatische Analysen zu deontischen Infinitiven des Typs nicht hinauslehnen (DEPPERMANN 2005; DEPPERMANN, in diesem Band) knüpfen allerdings explizit an die Konversationsanalyse und Interaktionale Linguistik an.

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2. Zweiteilige Konstruktionen mit projizierendem so Meine Beispiele kommen aus einer Gruppe von Konstruktionen, die das grammatische Wort so enthalten. So gehört zu den hochfrequenten Wörtern des (gesprochenen) Deutsch. In den wenigen einschlägigen Arbeiten wird in der Regel eine Gesamtbedeutung für alle Verwendungsweisen unterstellt. Zum Beispiel bezeichnet T H U R M A I R (2001: 27ff) so als deiktisches Adverb, das auf Eigenschaften oder „Aspekte" ( E H L I C H 1987) verweist. W E I N R I C H versucht in seiner Textgrammatik, die so einen ganzen Abschnitt widmet, dessen verschiedene Verwendungen unter den Begriff der „Bedeutungsrahmung" zu fassen (2003:583ff); damit ist offenbar Hervorhebung gemeint (vgl.: „[...] wird jeweils ein bestimmter Bedeutungsinhalt [...] umrahmt und dadurch emphatisch hervorgehoben", 584). Schaut man sich die Vorkommnisse von so jedoch in einem (hier: mündlichen) Corpus genauer an, so lösen sich solche allgemeinen Beschreibungen alsbald in eine Vielzahl von wesentlich spezifischeren Konstruktionen auf. Der Verweis auf Eigenschaften spielt bei vielen von ihnen keine Rolle; nicht einmal die deiktische Komponente von so bleibt immer erhalten. Auch eine allgemeine Rahmungsfunktion lässt sich nicht nachweisen. So ist vielmehr ein ,grammatisches' Wort, das nicht über eine dekontextualisierte lexikalische Semantik zu fassen ist, sondern in einem Netzwerk von Konstruktionen verschiedene (syntaktische und semantische) Rollen spielt. Davon werde ich hier nur wenige besprechen; insbesondere werde ich mich auf drei zweiteilige Konstruktionen konzentrieren, in denen der erste Teil so enthält und (aufgrund dieses so) einen zweiten projiziert. Es geht also nicht darum, eine vollständige Analyse von so vorzulegen, sondern anhand einiger so-Konstruktionen beispielhaft vorzuführen, wie konversationelles/interaktionales Wissen für die Konstruktionsgrammatik relevant wird. 2.1. Die Quotativ-Konstruktion mit so Eine der häufigsten Verwendungen von so in meinen Daten wird in den Grammatiken des Deutschen bisher noch nicht erwähnt. Es handelt sich um so als Quotativ-Partikel, die eine oder mehrere nachfolgende, asyndetisch angeschlossene Turnkonstruktionseinheiten projiziert, in denen verschobenes Sprechen (displaced speech) reponiert wird. Ein Anschluss des Nachsatzes mit Subjunktionen (Komplementiererphrasen) ist nicht möglich. So ist in dieser Verwendung immer unakzentuiert (der Satzakzent liegt auf dem Pronomen). Der Vorsatz enthält kein

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296

Verbum (dicendi), sondern lediglich ein Personalpronomen der 1. bzw. 3. Ps., meist im Singular2 (vgl. GOLATO 2000, STREECK 2002): 3 AUSSCHNITT l (Big Brother, Erzählungen vom .ersten Mal') 01 02 03 04

Man

05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

2

3

Ker Man Alx Ker Man

LIEGST einfach nur schön;=ja, und dann mEinte er im ERNST, (--) warte mal. ich kann ja mal kurz al(so)=seinen besten FREUND (-) ehm ich ruf den kurz AN,= dass er uns konDOme (h)bringt; ((lacht)) (-) und ICH [so (.) WIE: bitte:] [((lacht)) ] [((lacht))] dann meint ich so= ne. (--) das meinste jetzt nicht ERNST;=ja, .h ja gleich in=ner Straße WEI:ter das geht ja SCHNE:LL .h NEIN; des kannst=e verGESsen. .h dann ist der WIRKlich raus gegangen, (--) zum telefoNIEren, in dEm moment hab ICH mich schon wieder ANgezogen, (1) ja der ist gleich DA; (-)

Das Fehlen von Beispielen mit Pronomina der 2. Ps. und im Plural ist ebenso wie das Fehlen von vollen NPs vor allem pragmatisch motiviert und nicht Teil der Konstruktion selbst: man gibt normalerweise die Rede eines Handelnden in einer Erzählung wieder. Der Angesprochene und Rezipient der Erzählung wird kaum als Protagonist oder Antagonist relevant. Ebenso gilt, dass in der Regel Einzelpersonen sprechen, nicht ganze Gruppen; aus diesem Grund fehlen Pluralbelege. Die Konstruktion scheint jung zu sein, und es ist nicht auszuschließen, dass sie sich an der amerikanischen Quotativkonstruktion mit like orientiert. STREECK (2002) zeigt an Daten aus den 90er Jahren, dass zu dieser Zeit so in dieser Funktion noch mit einer body gesture - einer ikonischen Geste - verbunden war. Alle Beispiele, die im Folgenden zitiert werden, sind authentische Belege und meist der 1.Staffel von « Big Brother », teils auch institutionalisierten Gesprächen (Bewerbungsgespräche und therapeutische Gruppengespräche) entnommen. In diesem Beitrag sind Beispiele, die lediglich als Belege für grammatische Formen angeführt werden, einfach nummeriert. Beispiele, die konversationsanalytischen Transkriptionsanforderungen genügen und für die Diskussion der konversationeilen Einbettung von .TO-Konstruktionen verwendet werden, werden als Ausschnitt (n) bezeichnet. Die Transkriptionskonventionen orientieren sich an GAT (vgl. den Anhang in diesem Band).

Construction Grammar meets Conversation Analysis 22 23

->

297

nee s=kannste ECHT vergEssen. (--)WILL ich nicht.

Die Quotativ-Konstruktion findet sich in den folgenden Transkriptzeilen (Pfeile markieren Projektionen): und ich so (Z. 7) -> „wie bitte" (Z. 7) dann meint ich so (Z. 10) „nee, das meinste jetzt nicht ernst" (Z. 12) ich so (Z. 16) „na das kannste vergessen" (Z. 16, 17) ich so (Z. 22) „nee, das kannst jetzt echt vergessen ..." (Z. 22, 23). In einem Fall wird ein Verbum dicendi (meinen) zusammen mit so verwendet: dann meint ich so (Z. 10) „nee, das meinste jetzt nicht ernst" (Z. 12). Ich vermute hier eine Mischform zwischen einer Quotativ-Konstruktion mit Verbum dicendi und einer Quotativ-Konstruktion mit so, die entweder als Kontamination oder als Spur des Grammatikalisierungsvorgangs von der einen zur anderen Konstruktion zu werten ist (vgl. auch IMO, in diesem Band). Die Sprecherin verwendet die so-Quotativ-Konstruktion ausschließlich, um ihre eigenen Äußerungen in der erzählten Szene wiederzugeben; ihr Antagonist spricht entweder ohne explizite Redeanführung oder in der Verbum-dicendi-Konstruktion (Z. 02). Eine solche Zuordnung bestimmter grammatischer Formate zu Protagonist und Antagonist ist auch für andere Formen der Redewiedergabe wie den Wechsel zwischen direkter und indirekter Rede beobachtet worden (vgl. G Ü N T H N E R 2000: 306ff); sie ist aber vermutlich nicht Teil des Konstruktionswissens. Diese Verwendung von so hat nur wenig mit der postulierten Bedeutung von so als deiktischem Adverb zu tun, das auf Eigenschaften oder „Aspekte" verweist. Dennoch hat die Konstruktion eine sehr präzise konversationelle Bedeutung, nämlich die Markierung der Redewiedergabe in Narrativen. Lose am Formalismus der Berkeley-Variante der Construction Grammar orientiert, lässt sich die Konstruktion wie folgt spezifizieren:4

4

Der Pfeil markiert eine grammatische Projektion, Informationen in Klammern sind fakultativ.

Peter Auer

298

Funktion/Handlungstyp:

Redewiedergabe

Gattung: narrativ sozialer Stil: jugendsprachlich Vorsatz

Nachsatz

Prosodie: Intonationsphrase {und) Pers.Pr.

so

Pros.: Intonationsphrase(n) direkte Rede

Pros: unbetont

2.2. Die Vorlaufkonstruktion mit so Im letzten Abschnitt wurde eine Konstruktion behandelt, die neben ihrer recht restringierten Form auch eine präzise an diese Form gebundene konversationelle Funktion hat. Es ist notwendig, diese Funktion als Teil des Konstruktionswissens zu betrachten. Zu diesem Wissen gehören außerdem die Einbettung der Konstruktion in eine bestimmte Gattung (Narrativ) und seine stilistisch-soziolinguistische Charakterisierung (hier grob als jugendsprachlich' bezeichnet 5 ). Wir wenden uns nun einer so-Konstruktion zu, die ebenfalls eine bestimmte konversationell-sequenzielle Funktion hat, jedoch nicht soziolinguistisch markiert ist. Es handelt sich um eine Vorlaufkonstruktion (pre; vgl. S C H E G L O F F 1980). So verweist hier auf einen folgenden Inhaltssatz, der durch dass eingeführt werden kann, aber nicht muss. Es ist, anders als in der Quotativkonstruktion, immer akzentuiert. Das syntaktische Format des Vor-

5

Es ließe sich vermutlich relativ präzise eine Altersgrenze finden, bis zu der die Quotativ-Konstruktion mit so verwendet wird. Dazu Hegen keine Untersuchungen vor, ich denke aber, dass sie um die 30 liegt.

Construction Grammar meets Conversation Analysis

299

satzes ist stark formelhaft: es kommt nur6 es KOPULA so (mit möglichen Erweiterungen und fakultativer Verlagerung des es ins Mittelfeld) vor. Die projizierten Inhalte sind meist komplex und müssen in mehrere prosodisch-syntaktische Einheiten zerlegt werden. Zunächst zwei Beispiele ohne dass-Anschluss: AUSSCHNITT 2 (Telefonat) Ol

A:

02 03 04

B: A:

05 06 07 08 09 10 11

B:

A: B:

(2.5) weiß ers NEDde?= =der theo meint er glaubt es NICHT bei dem wetter. bei dem WETter weil bei UNS isches SO: (-) wir harn doch η SCHIFFSnachbar.( und der hat uns jetzt beSTIMMT schon das ZEHNtemal zum ESsen eingeladen; [und IMmer hatten wir was ANdres vor [mHM jetz ham mir gsa(gd) mir gehn heut Abend mit DEM ä: (-) nach BEburg.

AUSSCHNITT 3 (Telefonberatung in einer Radiosendung, A = Anrufe-

rin, Β = Therapeutin; die Anruferin hat sich darüber beklagt, von ihrer Umwelt nicht ausreichend wahrgenommen und gewürdigt zu werden) 01 02 03 04 05 06

B:

A: B:

07 08 09 10

A:

11

A:

6

Β:

unserem geSPRÄCH jetzt hier= des dauert vielleicht jetzt so fünf miNUten ungefähr [hh ham sie ] doch AUCH das gefühl [ja wir (wa)] h dass ich sie nicht Ausreichend zu KENNTnis genommen habe; (-) ich ahm:: (1.5) wis[sen sie] [dass: ] zwischen uns das GLEIChe passiert ist;= =ja:( ja:, schon: auch weil ich

Es gibt allerdings einige eng verwandte Vorlaufelemente wie ich sag mal SO oder ich seh das SO, die ebenfalls komplexe Redebeiträge und Gesichtsbedrohungen ankündigen können. Ob diese Konstruktionen mit dem hier besprochenen einfachen es ist SO... zusammen behandelt werden sollten, müsste eine ausführlichere konversationelle Untersuchung zeigen.

Peter Auer

300

12 13 14 15 16

17 18

B:

A: ->

19 20 21

ahm des äh' na des kann ich ihnen jetzt nicht sagen was ich jetzt denke= des möcht ich auch nicht unbedingt aussprechen- [.hh [mhm,= =aber es könnte genAu das GLEIChe sein was ihnen sonst h mit der Umwelt AUCH passiert; ja: wissen sie es ist einfach SO:, ich hab diese GRUNDsätzliche erFAHrung hier gemacht (-) ä:hm: tut mir leid wenn ich jetzt dieses wort HIER sagen muss= =also damit meine ich diese geSELlschaft hier .hhh dass äh: die pluralität MEHR gilt als: der EINzelne mensch; ((etc.))

Nun einige Beispiele für dieselbe Konstruktion mit dass-Anschluss im Nachsatz: AUSSCHNITT 4 (Rollenspiel/Bewerbungsgespräch; der Bewerber ist nach seinen Erfahrungen im Zertifizierungswesen gefragt worden) 01 02

IF: B:

03 04 05 06 07 08

IF: B:

09 10 11

12

->

Isosystem

(-) [isch ihnen ein beGRIFF. [des Isosystem is mir auf jeden fall ein beGRIFF, un ich hAb ja auch in meim ABschreiben geschrieben, .h dass es für mich η NAheliegendes ziel is,= =diesen de ge quu quu EM schein zu machen, [hh ehm [ja, es is SO dass ich über meinen VAter der jahrelang (-) bei der i: be EM, als qualitätsSICherungsbeauftragter geARbeitet hat h , jetzt mittlerweile (-) .h selber Auditor is (-) von der dee quu ES, =also er (-) .h zErtifiziert als Externer (-) ehm mittelständische u' unterNEHmen, hh hAb ich also (.) über mein vAter

Construction Grammar meets Conversation Analysis

301

(-) Einige Informationen über dieses (.) äh über diese Iso neunTAUsend eben AUCH erhalten, ((etc.))

AUSSCHNITT 5 (psychotherapeutische Gruppensitzung) 01 02 03 04 05

M:

06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

TM: ->

M: TM:

->

M:

un dann DENK ich mir wie' wie SOLL ich denn JEmals LEben, wenn sich DES bei mir nich ändert; .h wie SOLLn des SEIN; (0.5) dann kann ich ja überhaupt nich mehr FRÖHlich sein;= =wenn=ch wenn ich SOwas nich mal mehr schAFF, .h wenn ich nich mal normAl LEben kann; ((schnieft)) (8.5) t .h dann is=es SO dass diese SCHEISSwOche, (1.0) ((schneuz [t)) [AU zu ihnen gehört;=mh? (2.0) so wie diese ANdere.(1.5) (worin sie:) (0.5) und des war ja η erschter SchRITT, sich sagn können des ghört au[ch zu mir. (1.5) [ ((schluchzt)) aber warum? ((schluchzt))

Es fällt auf, dass auch bei Einleitung des Nachsatzes durch dass die Nebensatzsyntax nicht durchgehalten wird, sondern im weiteren Verlauf der Produktion des Objektsatzes ein ,Rückfair in die Hauptsatzsyntax erfolgt. Er ist sicherlich nicht Teil der Konstruktion, sondern durch die Komplexität des Nachsatzes dieser Konstruktion bedingt. Es scheint zunächst, als handele es sich hier nicht um eine eigene Konstruktion, sondern lediglich um einen lexikalisch restringierten Sonderfall der katadeiktischen SO-Konstruktion, die in den folgenden Ausschnitten verwendet wird: A u s s c h n i t t 6 (Job-Interview, B= Bewerberin, 12 = Interviewer) 01 02

B:

03 04

12: Β:

.h ach SO. jetz' (.) ja ich hab ihre FRAge jetz ganz falsch verstanden. mhm, (1) ich hab sie jetzt SO verstanden,

Peter Auer

302 05 06 07

12:

08

Β:

A U S S C H N I T T (7)

01 02 03 04 05 06 07

B:

12:

II:

also j' eh s' sie ham fünf stunden zur verFÜgung [frau kohlhauser, sie ham vier KUNden, die müs]sen=se [jo. (-) sie KOMmen, ham=n normalen ARbeitstach,] erREIchen,

(Job-Interview, Β = Bewerberin, 12 = Interviewer) wir ham ALle mal n=schlechten tag, und wir ham ALle mal schlecht geSCHLAfen, .h (.) aber=s kann=s nich SEIN; dass man [sich] dann: (-) SO gibt; [] dass die ANdern davon angesteckt werden.

Tatsächlich hat so sicherlich auch in den Ausschnitten 2-5 eine katadeiktische Funktion. Gegen eine Subsumption der Vorlaufkonstruktion unter die allgemeine katadeiktische SO-Konstruktion spricht aber schon, dass die es ist so-Konstruktion wesentlich häufiger vorkommt als die Konstruktion, aus der sie in dieser Sicht ,abgeleitet' würde. Dies legt nahe, dass sie als Ganze gespeichert und prozessiert wird. Darüber hinaus gibt es auch semantische und sequenziell-konversationelle Gründe, die beiden Konstruktionen nicht zusammenzufassen. Semantisch gesehen ist der Vorsatz in der es ist .vo-Konstruktion (anders als die Vorsätze in den Ausschnitten 6 und 7) leer: expletives es und Kopula tragen keine denotative Bedeutung. Der semantische Unterschied lässt sich auch daran erkennen, dass nur in der allgemein-kataphorischen Konstruktion (Ausschnitte 6 und 7) so durch ein explizit kataphorisches modales Adverb wie auf diese Weise, dergestalt o.ä. ersetzt werden kann. Während also die Semantik der Konstruktion es ist so, (dass) völlig entleert ist, hat sie doch andererseits eine einheitliche interaktive Funktion. Diese interaktive Funktion betrifft einerseits die Strukturierung des Redebeitrags: oft führt die Konstruktion komplexe Argumente ein (big packages), die nicht in einer Turnkonstruktionseinheit verpackt werden können und für die sich der Sprecher oder die Sprecherin projektiv das Rederecht sichert. Entsprechend ist die Turnkonstruktionseinheit, die dem es ist so unmittelbar folgt, nicht kohärent mit der dieser vorausgehenden Turnkonstruktionseinheit. Die Einleitung signalisiert, dass erst im weiteren Verlauf des Redebeitrags eine solche Kohärenz zu

Construction Grammar meets Conversation Analysis

303

erwarten ist. Andererseits hat die Konstraktion oft die Funktion, gesichtsbedrohende Äußerungen zu markieren. Im Ausschnitt 2 besteht die Gesichtsbedrohung z.B. darin, dass die Anruferin ein schon arrangiertes Treffen für den Abend zugunsten eines Restaurantbesuchs mit ihrem Schiffsnachbarn absagen möchte. Das Radiotherapiegespräch (Ausschnitt 3) hat vor dem durch die so-Konstruktion eingeleiteten Redebeitrag der Anruferin seinen kritischen Punkt erreicht: die Therapeutin zwingt die Anruferin zu einer situierten Stellungnahme, indem sie deren allgemeine Klage über die Verständnislosigkeit der Welt auf die Therapiesituation selbst bezieht. Die Anruferin sucht dieser Stellungnahme auszuweichen, weil die offenbar zutreffende Antwort (nämlich dass sie auch das gerade laufende Gespräch als Evidenz für ihre Grundthese sieht) der Therapeutin gegenüber massiv gesichtsbedrohend wäre. Im Ausschnitt (4) aus dem Rollenspiel eines Bewerbungsgesprächs führt der Bewerber die einschlägigen Kompetenzen seines Vaters im Zertifizierungswesen als Argument ein - ein äußerst riskantes Manöver. Schließlich ist in der Bulimie-Therapiesituation (Ausschnitt 5) der Therapeut in der kritischen Situation, der Klientin erklären zu müssen, dass ihre psychischen Probleme Teil ihres Lebens bleiben werden. Damit hat die weitgehend ,gefrorene' Konstruktion die spezifische sequenzielle Funktion eines Vorlaufelements, das komplexe, oft gesichtsbedrohende Folgeaktivitäten ankündigt und einleitet.7 Es lässt sich folgende Gesamtstruktur skizzieren:

7

Eine ausführliche Analyse dieses sequenziellen Formats findet sich bei SCHEGLOFF 1980.

304

Peter Auer

Sequenzstruktur: Vorlauf für komplexe Redebeiträge Funktion/Handlungstyp: oft Ankündigung gesichtsbedrohender Beiträge Gattung: mündliche sozialer Stil: — Vorsatz

Nachsatz

2.3. Die Grad-Konsekutivkonstruktion und die emphatische SOKonstruktion In den beiden bisher diskutierten Beispielen ließ sich eine klare Korrelation zwischen konversationeller Funktion und sprachlicher Form herstellen, die Teil des Konstruktionswissens sein muss. Mein drittes Beispiel ist komplexer. Es handelt sich hier um zwei konkurrierende, abstraktere Konstruktionen, die mehr Spielraum für lexikalische, syntaktische, prosodische und auch semantische Varianten lassen. Unter den weniger spezifizierten (weniger idiomatischen) .so-Konstruktionen ist in der Gesprochenen Sprache die gradal-konsekutive relativ häufig: Ein Prädikat trifft in einem solchen Maß (so) auf ein Argument zu, dass daraus q folgt. Dieses so ist immer betonbar (wenn man von anderweitig zu erklärenden Ausnahmen wie der Negation mit nicht absieht, die den Akzent auf sich zieht), allerdings MUSS der Satzakzent nicht auf ihm liegen; vgl. Abb. (1) und (2). Die Konstruktion besteht

Construction Grammar meets Conversation Analysis

305

aus einem Vor- und einem Nachsatz, die meist in eigenen Intonationsphrasen geäußert werden. Der Nachsatz wird durch das ihn projizierende so an den Vorsatz gebunden (vgl. die Ausschnitte 8 und 9); seine Einleitung durch den Subjunktor dass ist fakultativ (vgl. Ausschnitt 10).8

AUSSCHNITT 8 (Big Brother) 01 02 03 04 05

Adr:

06 07

=dann WUSST=ich nich;= d a n n hat er m i r G E S T t e r n e r z ä h l t d a : n n hat er s o = n F R Ü C H t e t e e : : , .h ((schluckt))der is SO i n t e n s i v u n d stark, d e n k a n n er s i c h a u c h D R E I m a l sogar AUFgieSen? .h u n d in s e i n M Ü S l i .

300'

200·

150

\

r

—·

V

100'

70,

(

50, der=s

30, 0

SO

in

ten

0.5

SIV

1

und

STARK

1.51.61625

Time (s)

Abb. (1): fo-Extraktion für Ausschnitt (8): die Gradpartikel SO ist betont.

8

Die in meinem Corpus nicht belegte, idiomatisierte Konstruktion mit Infinitiv (sind Sie so freundlich mich am Bahnhof abzuholen?) bzw. mit Koordination (sind Sie so freundlich und holen mich am Bahnhof ab?) hat mit der gradal-konsekutiven Konstruktion trotz semantischer Nähe wohl nichts zu tun, wie neben der gänzlich anderen, sehr spezifischen Funktion schon die Tatsache zeigt, dass in diesem Fall so nicht betonbar ist.

Peter Auer

306

AUSSCHNITT 9 (psychotherapeutische Gruppensitzung) 01 02 03 04 05 06 07 08

U:

->

bei MIR ischs jetzt (-) etwa en jAhr HER oder des jährt sich jetzt äh (1.0) ja in' in der KLInik wa:r und beim: psychiAter war: und was weiss ICH wo war .hh un:d dA GMERKT hab, =ich bin:- ich bin SO weit UNtn; ich KANN einfach gar nimmer weiter runter,

Ausschnitt 10 (psychotherapeutische Gruppensitzung) 01 02 03 04 05 06 07

TM:

P: TW:

P:

und (1.0) es KANN sein dass sie HILfestellung dafür BRAUch(en) dass sie sich dem loch STELLN. (2.0) wenn der zweifei SO stark isch dass=se denken des bringt mich UM; wenn ich des tue. (1.5) (15.5)

Bisher wurden nur Beispiele besprochen, in denen das von so modifizierte Prädikat ein Adjektiv nach einer Kopula ist. Wir finden aber auch so-modifizierte Adverbien: AUSSCHNITT 11 (Big Brother, Tratsch am Feuer über die Stimmungsschwankungen einer Mitbewohnerin) 01 02 03 04 05 06 07 08

John:

nee det SCHLIMme is, ( ) wenn et geneRELL so war; (-) is=et ja ne ANdre sache. aber mal SO mal S0;= weeßte, (--) mal kannst=e mit ihr JUT? (-) also die DREHT sich so SCHNELL; dass de jar nicht druff (.) druff EINjehen kannst; (--) in welcher äh äh verFASsung sie gerade IS; (---)

Construction Grammar meets Conversation Analysis

307

Abb. (2): fo-Extraktion zu Beispiel (11): die Gradpartikel ist nicht betont, Akzente liegen auf dreht und schnell.

Modifiziert so hingegen ein Verb, ist die gradal-konsekutive Lesart eher selten und wird meist durch eine modal-konsekutive ersetzt (eine Konstruktion, auf die ich hier nicht weiter eingehe). Im folgenden Ausschnitt sind beide Lesarten möglich: AUSSCHNITT 12 (Big Brother 158, Diskussion über Umweltfragen, vereinfacht = Parallelgespräch getilgt) 01

Adr:

02

03 04

->

aber wAs sie schon mittlerweile ganz gut HINgekriegt haben =ist während der konZERte die (.) prEIse der getrÄnke so Anzuschrauben- .h dass du halt d- für den PAPPbecher gleich MITbezahlen musst.= und dass du den zuRÜCKgibst. .h

Die Partikel so ist sowohl durch ,bis zu einem solchen Grad' als auch durch ,auf eine solche Weise' ersetzbar.

308

Peter Auer

Die gradal-konsekutive so-Konstruktion kann nun zusammenfassend wie folgt beschrieben werden:

Sequenzstruktur/Handlungstyp: Gattung: — Vorsatz

Nachsatz

Es stellt sich allerdings sofort die Frage, ob die Konstruktion notwendigerweise zweigliedrig ist. Lässt man deiktische Verwendungen des betonten so beiseite, weil in ihrem Fall die notwendige, meist dem so vorangehende Geste bereits klar macht, dass eine andere Konstruktion als die gradal-konsekutive vorliegen muss, so scheinen gegen die notwendige Zweigliedrigkeit der Konstruktion vor allem Beispiele wie das folgende zu sprechen. Hier modifiziert ebenfalls ein betontes SO ein Prädikat (Adjektiv), jedoch ohne dass eine Fortsetzungserwartung entstünde:

Construction Grammar meets Conversation Analysis

309

AUSSCHNITT 13 (Big Brother 0 1 5 4 6 4 ) ((Thema: Kerstin und Manu überlegen sich, den Container spontan zu verlassen, was bedeuten würde, dass sie niemand in der Außenwelt in Empfang nehmen und feiern würde)) 01 Man: =du: aber jetzt im ERNST;=ne. ( - ) 02 des hab ich AUCH schon überle :gt. 03 weißtdu ob ich die jetzt 04 ob die mich jetzt zu HAUse: ( -) [begrüßen Ker: 05 [ja 06 Ker: s=ist mir [SO WURSCHT] 07 Man: [oder HIER. ] 08 Ker: ((Sequenzende))

Kann der Hörer/die Hörerin bei der inkrementellen Analyse des emergenten Satzes dennoch entscheiden, ob am Ende des so-Syntagmas ein Nachsatz folgen wird oder die Turnkonstruktionseinheit abgeschlossen ist? Einen ersten Hinweis ergeben die lexikalischen Elemente, die in nicht-projizierenden so-Konstruktionen von so modifiziert werden. Neben wurscht in Ausschnitt 12 finden wir zum Beispiel: (1) (2) (3) (4)

die sind SO GÖTTlich ich war SO wütend auf mich selbst in in real life bin ich ja S000 äh (-) SO anspruchsvoll was manner angeht s=war SO geil

Die modifizierten Elemente im Vorsatz der gradal-konsekutiven Beispiele sind hingegen (neben intensiv und stark, weit unten, stark, schnell aus den zitierten Bespielen) etwa: (5)

meine beziehung zum essen; dass die SO profunde is; und so tiefgehend, .hh dass ich mh (-) dass ich mir gar nicht vorstellen kann da jemals davon loszukommen;

Tendenziell stehen in der gradal-konsekutiven Konstruktion eher deskriptiv-neutrale Lexeme, in den eingliedrigen so-Konstruktionen hingegen eher stark evaluative. Es fällt außerdem auf, dass so in den eingliedrigen Konstruktionen keineswegs immer gradal zu interpretieren ist. Während sich in den zweigliedrigen Konstruktionen immer eine Paraphrase des so durch bis zu dem Grad... oder in einem Ausmaß... geben lässt, ist dies bei den evaluativen Prädikaten der eingliedrigen Beispiele meist nicht möglich. Dies deutet darauf hin, dass so in diesen Fällen als Emphasepartikel (etwa wie total, unglaublich, super) verwendet wird.

Peter Auer

310

Dazu passt, dass in dieser Verwendung so in jedem Fall akzentuiert ist; oft ergibt sich ein Doppelakzent (Akzentzusammenstoß), weil auch das Modifikatum betont wird. Mangelnde Betonung des so - wie bei manchen gradal-konsekutiven Beispielen, vgl. Abb (2) - würde die Konstruktion inakzeptabel machen. Vgl. als Beispiel für Akzentzusammenstoß die fo-Extraktion für (2):

Λ war

so



>f tn

auf

0

mich

selbst

1.03087 Time (s)

Abb. (3): fo-Extraktion für Beispiel (2). Sowohl SO als auch WÜ- sind akzentuiert.

Die Semantik der Modificata und die Prosodie sind allerdings nicht ausreichend, um zweigliedrige von eingliedrigen Konstruktionen zu unterscheiden; in Fällen wie Ausschnitt 13 wäre ja durchaus auch eine gradale Lesart denkbar, und in Abb. (1) ist die prosodische Struktur der in Abb. (3) recht ähnlich. Für die Entscheidung zwischen einer projektiven Lesart (gradal-konsekutiv, Nachsatz erwartbar) und einer nichtprojektiven (emphatisch, kein Nachsatz erwartbar) muss vielmehr zusätzlich die sequenzielle Position im Gesprächszusammenhang herangezogen werden. Emphatische Verwendungen müssen in sequenziellen Positionen stehen, in denen Bewertungen möglich und erwartbar sind. Dazu gehören vor allem abschließende sequenzielle Positionen nach Erzählungen von Erlebnissen, aber auch Meinungsäußerungen zu vergangenen oder zukünftigen Sachverhalten oder Ankündigungen von

Construction Grammar meets Conversation Analysis

311

Erzählungen.9 Der konversationell-sequenzielle Kontext von (4) ist zum Beispiel der folgende: AUSSCHNITT 14 (Big BrotherKl-1, Gruppendiskussion über Schule; im Folgenden ist von einem Lehrer die Rede) 01 02 03

Man:

04 05 06 07

->

und der hatte wirklich' und vor allen dingen das geile war jeder wusste mit wem er grad ne affÄre hatte; ja? ( } aber keiner hat irgendwie darüber geSPROchen also .h auch keiner jetz irgendwie vorm SCHULleiter oder so NIEmand .h s=war SO geil.

Die Erzählerin leitet ihren Redebeitrag, in dem sie über einen ihrer Lehrer berichtet, mit der Ankündigung das geile war ein (Z.02); es folgt die erzählenswerte Tatsache selbst (keiner nahm am Verhalten des Lehrers Anstoß). In Z. 07 schließt die Sprecherin die Erzählung mit einer ähnlichen Bewertungsformel ab (s=war SO geil). Beide Male wird das bewertende Adjektiv geil verwendet. Im Gegensatz dazu wird in den Ausschnitten mit projizierendem SO der Vorsatz nicht in der sequenziellen Position einer Bewertung formuliert, wie die Ausschnitte 8-12 deutlich machen; hier wird die gesamte Konstruktion dazu eingesetzt, die relevante Information zu vermitteln, nicht aber, um sie zu bewerten. Die eingliedrige, nicht-projizierende Konstruktion hat also eine bestimmte konversationeile Funktion, nämlich Bewertungen mit Emphase zu versehen. Sie kann folgendermaßen dargestellt werden:

9

Zum Beispiel leitet ein BB-Teilnehmer seine Erzählung mit musste gestern SO lachen ein.

Peter Auer

312

Sequenzstruktur/Handlungstyp:

meist reaktiv, terminierend,

v.a. in Bewertungen Gattung: mündliche Gattungen Prosodie: IP .... KOPULA

SO

ADJ

pros: betont sem: Intensivierer

sem: bewertend

Vergleicht man die gradal-konsekutive mit der emphatischen SOKonstruktion, so ist offensichtlich, dass die zweite wesentlich stärkeren konversationellen Beschränkungen unterworfen ist: sie erfordert einen bewertenden Kontext. Die gradal-konsekutive Konstruktion ist hingegen eher durch die Abwesenheit solcher Beschränkungen gekennzeichnet. Um entscheiden zu können, ob eine emergente syntaktische Struktur dem einen oder anderen Konstruktionsmuster genügt, muss der Rezipient die konversationeilen Kontextinformationen der einen Konstruktion berücksichtigen, um unter Umständen zu dem Schluss zu kommen, dass die andere entsteht.

3. Abschließende Bemerkungen

Ich habe versucht zu zeigen, dass Konstruktionswissen pragmatisches, und im spezifischen Fall: konversationelles Wissen umfassen muss. Bestimmte Konstruktionen mit so eignen sich besonders für bestimmte Handlungen in bestimmten sequenziellen Kontexten; dieses Wissen über den Zusammenhang von Form und Funktion ist konstruktionsspezifisch und muss als solches gespeichert sein. Genauso wie bestimmte Konstruktionen grammatisch und lexikalisch stärker determiniert sind als andere, ist auch die konversationeile Einbettung und der mit der Struktur präferentiell gekoppelte Handlungstyp unterschiedlich ausdifferenziert. Bestimmte Konstruktionen (wie etwa in unserem Fall die

Construction Grammar meets Conversation Analysis

313

gradal-konsekutive, zweigliedrige so-Konstruktion) sind relativ wenig spezifiziert, andere, wie die Vorlaufkonstruktion es ist so.., die Emphase-Konstruktion sowie die Quotativ-Konstruktion sind eng an bestimmte Handlungen gekoppelt und daher in bestimmte Sequenzabläufe bzw. Gattungen eingebunden. Möglicherweise sind hochidiomatisierte Konstruktionen stärker mit bestimmten konversationellen Funktionen verknüpft als solche mit zahlreichen lexikalischen und grammatischen Variationsmöglichkeiten. Die Konstruktionsgrammatik würde einen wesentlichen Teil konstruktionsgebundenen Wissens ignorieren, wenn sie diese Zusammenhänge vernachlässigen würde; umgekehrt wäre es naiv, wenn Konversationsanalyse und Interaktionale Linguistik die sprachlich-strukturellen Wissensbestände außer Acht lassen würde, die in die Emergenz von Redebeiträgen im Gespräch als deren Voraussetzung einfließen.

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WEINRICH, HARALD ( 2 0 0 3 ) :

desheim.

Textgrammatik der deutschen Sprache,

2.

Aufl., Hil-

Helmut Spiekermann & Benjamin Stoltenburg „lecker Pilsken trinken" Konstruktionen unflektierter Adjektive1 1. Einleitung In ganz Deutschland ist man in jüngster Zeit nicht mehr davor gewappnet, von einem Freund oder Kollegen mit folgenden Worten eingeladen zu werden: „Ach, lass uns doch mal lecker Kaffee trinken gehen" oder - je nach Uhrzeit - „Hast du Lust auf ein lecker Bierchen?". Obwohl sich einige Muttersprachler, solcherart eingeladen, vielleicht eher wundern, ist diese Verwendung des Wortes lecker eindeutig auf dem Vormarsch. Und das ungeachtet der Tatsache, dass lecker in anderen Zusammenhängen starken regionalen Verteilungsrestriktionen unterliegt.2 So ist zumindest in den oberdeutschen Gebieten die Akzeptanz gegenüber lecker als eher gering einzuschätzen, wie folgende Aussage zeigt. E s handelt sich bei „ l e c k e r " zweifellos u m das nervtötendste aller nervtötenden Modewörter - ein Wort, gegen das der übliche Teenieslang (voll super, endkrass) geradezu originell wirkt. „ L e c k e r " , das klingt so militant fröhlich, so aufdringlich, dass es nicht nur der süddeutschen Sprachmentalität widerspricht, sondern jeglicher allgemein menschlichen E m p f i n d u n g . (MAKOWSKY 2 0 0 2 : 5 )

Nichtsdestotrotz deutet die Wahrnehmung von lecker als Modeerscheinung auch hier darauf hin, dass die Verwendungshäufigkeit von lecker in diesen Gebieten zugenommen hat. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Verwendungsweisen von lecker es typischerweise in der Alltagssprache gibt und in welchem Verhältnis diese Verwendungsweisen zu Konstruktionen stehen wie z.B. „lass uns mal lecker Pilsken trinken". Es 1

2

Susanne Günthner und Wolfgang Imo danken wir ganz herzlich für Kommentare und Anregungen zu einer früheren Version dieses Beitrags. Vielen Dank an Lars Wegner für das Korrekturlesen und Formatieren. Allen Teilnehmerinnen des Workshops möchten wir für ihre Anregungen und Kritik danken. Vgl. die Stichprobenuntersuchung von ELSPAB und MÖLLER, deren Internet-Umfrage, die außer lecker noch weitere 19 Problemfälle betrifft, zeigt, wie sich der jeweils standardnahe örtliche Sprachgebrauch im deutschsprachigen Raum regional unterscheidet. Von Juni 2003 bis Januar 2004 gingen insgesamt 1.814 Antworten aus 441 Orten bei ihnen ein - die Ergebnisse sind nun im Internet zu sehen unter: http://www.igl.unibonn.de/umfrage/.

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soll versucht werden zu klären, wie diese Konstruktionen formal zu interpretieren sind und was sie funktional für eine Relevanz haben. Zur Klärung dieser Fragen wird auf das Beschreibungsinstrumentarium der Construction Grammar zurückgegriffen, da sie in besonderer Weise geeignet ist, zwischen diesen idiomatisch anmutenden Wendungen und regulären Konstruktionen zu vermitteln. Durch die Rückbindung der Construction Grammar an den tatsächlichen Sprachgebrauch müssen solche Konstruktionen nicht länger als Normverstöße oder als dialektaler Endungsabfall wahrgenommen werden, sondern es kann der Versuch einer Antwort darauf unternommen werden, wieso sich ein Sprecher oder eine Sprecherin in einer ganz bestimmten Gesprächssituation für eine ganz bestimmte Konstruktion entscheidet und welche semanto-pragmatische Aufladung die Konstruktion auszeichnet.

2. Theoretische Vorbemerkungen Erste Verwendungsbeispiele des Adjektivs lecker in einem sehr speziellen Konstruktionstyp aus unflektiertem Attribut und Bezugssubstantiv, der zumindest synchron in dieser Form einmalig zu sein scheint, deuten auf eine Erweiterung des Funktionsbereichs des Lexems hin. Angefangen von stereotypen Formeln hat dieser Konstruktionstyp inzwischen neue semantische Felder erobert und Konstruktionsvarianten gebildet. An eben dieser Schnittstelle zwischen Idiomatizität und regelbasierten Äußerungen kommt die Erklärungskraft der Construction Grammar ins Spiel: The major motivation for Construction Grammar (CG) is the need to develop a system of grammatical description in which the marked constructions (more or less >idiolike< forms of expressions) are represented in the same formal system as the regular, >core< patterns of rules. (KAY 2002:1)

Sowohl die kategoriale Trennung zwischen Phraseologie und Syntax als auch zwischen Syntax und Pragmatik wird aufgehoben und durch eine monostratale, unifizierende Theorie ersetzt.

"lecker Pilsken trinken" - unflektierte Adjektive

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2.1. Formalismen in der Construction Grammar (CG)

In der Darstellung der Konstruktionen richten wir uns nach dem Formalismus von CHARLES J. FILLMORE (et al.),3 dessen auffälligstes äußeres Kennzeichen die Abbildung grammatischer Strukturen durch Kastenmodelle (,box notation') ist, die eine Visualisierung generativer X-barModelle darstellen. Grammatische Konstruktionen werden in dem Ansatz FlLLMOREs definiert als „any syntactic pattern which is assigned one or more conventional functions in a language, together with whatever is linguistically conventionalized about its contribution to the meaning or the use of structures containing it" (FILLMORE 1988:36). Diese sehr weitgefasste Definition wird von FILLMORE genauer spezifiziert. Grammatische Konstruktionen haben demnach zunächst einmal eine bestimmte (interne und externe) Syntax, die durch die Kastenmodelle anschaulich dargestellt werden kann. Sowohl die Konstruktion als Ganze (,externe Syntax') als auch einzelne Bestandteile einer Konstruktion (,interne Syntax') werden dann semantisch und pragmatisch in ihrer konstruktionsspezifischen Bedeutung und Verwendungsweise beschrieben. Die Verbindung zwischen der formalen (syntaktischen) und der funktionalen (semantischen, pragmatischen) Ebene grammatischer Konstruktionen lässt sich dabei anhand einiger zentraler Fragen bestimmen:4 a. Handelt es sich um verschlüsselnde (,encoding') oder entschlüsselnde (.decoding') Konstruktionen? Während die Bedeutung Letzterer von einem Sprachbenutzer allein auf der Basis seines Sprachwissens hergeleitet werden kann, sind verschlüsselnde Konstruktionen nur verständlich, wenn sie als Ganzes erlernt wurden. b. Kann von grammatischen oder extragrammatischen Konstruktionen gesprochen werden? Erste folgen allgemeinen grammatischen Regeln einer Sprache, während Letzte einen grammatischen Sonderfall darstellen. c. Handelt es sich um substantielle oder formale Konstruktionen? Formale Konstruktionen stellen syntaktische Muster dar, die durch unterschiedliche Lexeme gefüllt werden können und deren pragmatische Verwendungsweise nicht schon durch die Form an sich bestimmt wird. Substantielle Konstruktionen auf der anderen Seite sind lexikalisch gefüllt (feststehende idiomatische Ausdrücke) und in ihrer Prag-

3 4

FILLMORE ( 1 9 8 8 ) ; R L L M O R E / K A Y / O ' CONNOR ( 1 9 8 8 ) . N a c h FILLMORE/KAY/O'CONNOR ( 1 9 8 8 : 5 0 4 - 5 0 6 ) .

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matik stark eingeschränkt. Substantielle Konstruktionen können eine Teilkonstruktion einer allgemeineren formalen Konstruktion sein. d. Ist die Konstruktion pragmatisch funktional oder pragmatisch neutral? FILLMORE et al. machen hier einen Unterschied zwischen Konstruktionen, die bestimmten pragmatischen Zielen dienen bzw. in bestimmte Situationen eingebettet sind (z.B. Guten Morgen, Es war einmal), während andere Konstruktionen pragmatisch neutral (oder besser gesagt: multipragmatisch) sind. In Kapitel 3.2. werden unterschiedliche Konstruktionstypen mit lecker nach dem FILLMORE'sehen Formalismus beschrieben. 2.2. Unflektierte Adjektivattribute aus traditionell-grammatischer Sicht

Grundsätzlich gilt, dass adjektivische Attribute im modernen Standarddeutschen flektiert werden. Sie markieren ihre Zugehörigkeit zu einem Kernnominal, indem sie mit diesem in den nominalen Flexionskategorien kongruieren. Dies gilt sowohl für die adnominale Position (Er kauft nur gelbe Autos) als auch für die Distanzstellung (Autos kauft er nur gelbe). Zu dieser Regel gibt es jedoch einige Ausnahmen, die sich in Abhängigkeit von der Distribution der Adjektive wie folgt beschreiben lassen: Postnominale Position: Dieser Distributionstyp ist der in grammatischen Beschreibungen zur Syntax deutscher Adjektive am häufigsten diskutierte. HEINLE (2004: 190) benennt ihn als einzigen Fall flexionsloser Adjektive. EISENBERG (2004:237) bestimmt die mögliche Distribution unflektierter Adjektivattribute wie folgt: „Nicht flektiert ist das adjektivische Attribut, wenn es dem Kernsubstantiv unmittelbar folgt (Röslein rot, Jesulein zart [...]; Hervorhebungen von uns geändert, H.Sp., B.S.)". Mit DÜRSCHEID (2002) argumentiert er, dass sich die postnominalen unflektierten Adjektivattribute vor allem in zwei Typen manifestieren, (a) als idiomatisierte Ausdrücke (z.B. Forelle blau) und (b) als Produktbezeichnungen (z.B. Henke II trocken). Nach EISENBERG gibt es einige formale Bedingungen, die bei den meisten idiomatisierten postnominalen Adjektivattributen erfüllt sind: - Das Kernnominal hat keine weiteren Attribute. - Es ist selbst nicht von einem anderen Kernnominal abhängig. - Es wird als Massennomen gebraucht.

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Postnominale Adjektivattribute als Produktbezeichnungen folgen diesen Bedingungen weniger strikt, sie lassen z.B. eine Modifikation des Adjektivs (Schnitzel paniert vs. Schnitzel gekonnt paniert)5 zu. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der postnominale Gebrauch unflektierter Adjektivattribute im modernen Standarddeutschen weitestgehend auf idiomatisierte Wendungen und Produktbezeichnungen beschränkt ist. Der D U D E N (2005:350) weist allerdings darauf hin, dass die Verwendung dieser Formen insbesondere in den Printmedien in den letzten Jahren zunimmt. Pränominale Position: Dem Kernnominal vorausgehende Adjektive sind im Standarddeutschen grundsätzlich flektiert. Auch hier gibt es jedoch einige Fälle idiomatisierter, fester Ausdrücke (z.B. gut Ding will Weile haben) oder poetischer, volkstümlicher Sprache (z.B. Ein garstig Lied! Pfiii! Ein politisch Lied! Ein leidig Lied! (Goethe)), in denen pränominale Adjektive unflektiert gebraucht werden. Der D U D E N nennt einige Bedingungen für Adjektive, nach denen diese häufiger in unflektierter Form erscheinen:6 - Die unflektierten Adjektive stehen in festen Verbindungen (z.B. auf gut Glück, lieb Kind, ruhig Blut) - meist Atavismen eines früher weit verbreiteten Sprachgebrauchs. - Sie stehen (in poetischer Verwendung) vor Eigennamen (z.B. Jung Siegfried). - Sie stehen vor Ortsbezeichnungen (z.B. ganz England) - auch diese Formen sind häufig idiomatisiert, wie die Schreibung zeigt (z.B. Alt-Wien, Hannoversch-Münden, Groß-Gerau). - Es handelt sich um Länder- oder Ortsnamen auf -isch vor neutralen Bezeichnungen (z.B. holländisch Bütten). Häufig sind diese Formen idiomatisiert (z.B. Kölnisch Wasser, Preußischblau). Zu diesen Formen kommen solche Adjektive hinzu, die sich nur schwer flektieren lassen, wie z.B. die denominalen Farbadjektive lila und rosa, deren umgangssprachliche Flexionsformen lilanes (Kleid) oder rosanes (Kleid) lediglich Behelfsformen sind und die deshalb oft in unflektierter Variante (also: ein lila Kleid) erscheinen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen unflektierten Adjektiven zu beobachten, die prinzipiell über Flexionsformen verfügen, und unflektierbaren Adjektiven, die - zu-

5 6

Vgl. EISENBERG (2004:237). [DUDEN] (2005:349f.), Beispiele nach [DUDEN] (2005).

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mindest normsprachlich - nur über eine (synkretistische) Form verfügen. Darüber hinaus widersprechen diese Adjektive der Vermutung, dass es sich bei lecker in unflektierter Form bloß um ein Symptom des allgemeinen Flexionsabbaus im Deutschen handelt.7 Vielmehr zeigen diese Adjektive die gegenläufige Tendenz zu teilweise unorthodoxen Flexionsformen: ein ο rangenes Kleid, das lilane Trikot, ein rosanes Wildschwein, bzw. normsprachlich korrekt ein rosafarbiges Kleid, ein olivgrüner Rock. HENN-MEMMESHEIMER (1986:263f.) stellt bei ihrer Untersuchung von Nonstandardmustern8 fest: „substantivdependente Adverbialphrasen [...] werden in Standardgrammatiken nicht beschrieben." Ihre Beispiele umfassen Nominalphrasen mit substantivdependenten, unmittelbar präponierten Adverbien, wie z.B. viel, wenig, furchtbar, allerhand, unheimlich, ganz, sehr, so, bisschen u.s.w. halb Europa, ganz Deutschland Der Fürst, der hat unheimlich Besitz hier9 Das sind so Sachen allerhand Schwierigkeiten ganz wenig Ausnahmen mit ein bisschen Glück vs. mit einem bisschen

Glück

Dass es sich dabei um Adverbien handelt, ergibt sich für sie aus der Tatsache der Nichtflektiertheit und der Möglichkeit dieser Wörter, auch verbdependent vorzukommen. Sie weist aber darauf hin, dass es hier ein Kategorien- (bzw. Kategorisierungs-) Problem gibt. In einigen dialektologischen Arbeiten finden sich Hinweise auf den Gebrauch unflektierter pränominaler Adjektive. So beschreibt BONNER (1986:116f.) sehr ausführlich Bedingungen, nach denen in der Umgangssprache von Neunkirchen Adjektive in der genannten Position unflektiert gebraucht werden können: (a) bei vorausgehendem betonten Demonstrativpronomen (dEm arm kerl ,dem armen Kerl'), (b) wenn das Folgesubstantiv betont ist {dem aid hAUs sai dach ,das Dach des alten Hauses (nicht der Scheune)') und (c) wenn Adjektiv und Substantiv in einer festen Wendung stehen (e aldfra is kae dedsuuch ,eine alte

7

SCHMITZ ( 1 9 9 9 : 1 3 5 - 1 8 2 ) .

8

Unter „Nonstandardmustern" sind sprachliche (vor allem grammatische) Ausdrücke zu verstehen, die Abweichungen vom kodifizierten Normstandard darstellen.

9

Beispiel nach HENN-MEMMESHEIMER (1986:263).

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Frau ist keine D-Zug')· In den von B O N N E R untersuchten Daten aus Neunkirchen sind unflektierte Adjektive nicht möglich, (a) wenn das Adjektiv substantiviert ist und mit unbestimmtem Artikel gebraucht wird (du bisch aver e großes ,Du bist aber ein Großes'), (b) das Adjektiv betont (auch Konstrastbetonung) ist (e grossi sdadt kae glaeni ,eine große Stadt, keine kleine') oder (c) dem Adjektiv ein Adverb vorausgeht (dem arisch arme kerl ,dem sehr armen Kerl').10 Nach S T E I T Z (1981:186f.) werden im Dialekt von Saarbrücken, der dem von Neunkirchen sehr ähnlich ist, unflektierte Adjektivattribute dann verwendet, wenn sie eine typische oder charakteristische Eigenschaft des Folgesubstantivs angeben. Flektierte Formen seien dagegen individualisierend. Auch in Südbaden sind endungslose Adjektivattribute in den örtlichen Dialekten zu finden. S E I D E L M A N N (1983) bespricht deren Verbreitung über die Sprachlandschaft am Bodensee. Hier sind die mhd. endungslosen Formen in Beispielen wie ein gutes Jahr, ein gesundes Kind in Konstanz zwar zugunsten der Formen mit dem Flexionsmorphem —s geschwunden, nach Westen hin lässt sich aber in einem Gebiet südlich von Rottweil, der Kinzig und am südlichen Oberrhein bis in den Nordrand der Schweiz die endungslose Form (also ein gut Jahr) nachweisen. Bei diesen Belegen handelt es sich eindeutig um Relikte früherer Sprachstufen. Zusammenfassend lässt sich für die pränominale Position festhalten, dass unflektierte Attribute im Standarddeutschen nur in idiomatisierten Wendungen oder (in der Literatursprache als einer Variante der Standardsprache) in poetischer Verwendung vorkommen. Produktiv ist keine dieser beiden Verwendungsweisen.

3. Das Vorkommen von lecker in den Daten

Den Anstoß zu diesem Artikel gab der Eindruck, dass in jüngerer und jüngster Zeit die unflektierte Variante von attributivem lecker in zunehmendem Maße und in zunehmend vielen Textsorten festzustellen ist. Allerdings ist diese Entwicklung in erster Linie in der Umgangssprache, bzw. gesprochener Alltagssprache zu beobachten. Auch wenn unflektierte Adjektivformen vielen deutschen Dialekten nicht fremd sind, ist für den Fall von lecker ein Eindringen in die überregionale

10

Beispiele nach BONNER (1986:116f.). Die Umschrift wurde von uns geändert.

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Standardsprache zu beobachten. Möglicherweise ist die Verwendung dieser Formen auch abhängig vom Alter der Sprecher. Zur Überprüfung dieser Hypothesen müssten wir auf ein breites Datenkorpus zugreifen können, das auch den gesamten deutschen Sprachraum erfasst und auch die Variablen Herkunft, Alter, Medialität etc. berücksichtigt. Die von uns genutzten Korpora konnten diesen Ansprüchen leider nicht immer gerecht werden. 3.1. Quellen und Belege Wir haben uns bei der Untersuchung in erster Linie an zwei Datengrundlagen gehalten: die Korpora des IDS, insbesondere die „Gesprochene Sprache"-Datenbank," und - das größte Korpus der Welt - das Internet. In den von uns ausgewerteten IDS-Korpora aus den 1950er und 1960er Jahren konnten nur vergleichsweise wenige Samples belegt werden, in denen lecker als unflektiertes Adjektiv gebraucht wird. Dieser Befund lässt sich mit der These erklären, dass es sich dabei um eine jüngere Entwicklung handelt. Im Internet ließen sich gerade im Bereich konzeptioneller Mündlichkeit (Foren, Chat-Rooms, E-Mails) relativ viele Belege finden, die jedoch den Nachteil haben, dass man über die Sprecher, deren Herkunft und Alter, nur Mutmaßungen anstellen kann. Auch wenn sich keine verbindlichen Aussagen über die Sozialdaten der Internetnutzer machen lassen, erlaubt der Standort der Server Rückschlüsse auf die Herkunft der Sprecher.12 3.2. CG-Analysen Die Auswertungen der /ec&er-Konstruktionen orientieren sich an dem Analyseschema von FILLMORE et al." und gehen damit auf sehr formale

11

Im Internet verfügbar unter www.ids-mannheim.de. Ausgewertet wurden vor allem die großen Korpora zur gesprochenen Sprache, d.h. das Zwirner-Korpus (erhoben vor allem in den 50er Jahren), das Pfeffer-Korpus (erhoben 1961) und das Korpus „ehemalige deutsche Ostgebiete" (erhoben zwischen 1962 und 1965). 12 Vgl. z.B. die Angaben von Infratest in deren 8. Faktenbericht Juni 2005 „Monitoring Informationswirtschaft":„Die jüngste der in die Erhebung einbezogene Altersgruppe ist am häufigsten online: Neun von zehn der 15- bis 21-Jährigen (90 Prozent) und 92 Prozent aller 22-24-Jährigen surfen im Internet [...]. Bei den ab 65-Jährigen ist dagegen erst jeder fünfte dieser Altersgruppe online (22 Prozent)" (TNS INFRATEST 2005:241). Weitere demographische Daten zu Online-Nutzern finden sich auch in der ARD/ZDF OnIine-Studie2004 (http://www.br-online.de/brintern/medienforschung/onlinenutzung/pdf/ 0ehmichen2004.pdi). 13 Vgl. Abschnitt 2.1.

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Art und Weise auf die Syntax der behandelten Beispiele sowie auf deren Semantik und Pragmatik ein. Das Adjektiv lecker ist in den von uns analysierten Daten in insgesamt fünf unterschiedlichen Konstruktionstypen belegt. Dabei nimmt die Konstruktion mit lecker als unflektiertem Attribut eine Sonderposition ein. 3.2.1. Konstruktionstyp 1: lecker als unflektiertes Attribut Das Besondere des Konstruktionstyps ist seine Extragrammatikalität. Nach FlLLMORE liegt diese dann vor, wenn die grammatische Kodierung (oder Nicht-Kodierung) innerhalb einer Konstruktion einen Sonderfall im allgemeinen Regelsystem einer Sprache darstellt. Adjektivische Attribute werden im Standarddeutschen im Normalfall flektiert, fehlende Flexion ist also in diesem Sinne ein (extragrammatischer) Sonderfall. Die Konstruktion ist außerdem deshalb eine besondere, weil sie zum Teil substantiell, zum Teil aber auch formal ist. Sie besteht aus (mindestens) zwei Teilen, dem (substantiellen) unflektierten Adjektiv lecker und einem (formalen) lexikalischen freien Nomen. In der formalen Notation FlLLMOREs lässt sich die Konstruktion wie folgt beschreiben: F. Folgender Beleg zeigt ein Beispiel für die Verwendung eines unflektierten Adjektivattributs. Beleg 1: Einfach lecker Kaffee! Die Technik und Bedienung der Maschine hat mich überzeugt! Die Maschine ist nach ca. einer Minute zur Kaffeezubereitung oder zum Aufschäumen von Milch startklar. Auch der Wechsel von Kaffee zu Dampf erfordert keine Wartezeit. Sie ist drehbar, so daß man leicht an den abnehmbaren Wassertank rankommt. Nur eine beheizbare Tassenabstellfläche (lt. Beschreibung) hat dieses Modell nicht, welche ich aber auch noch nicht vermisst habe. Auch normaler Pulverkaffe kann durch die Einzelbefüllung (für eine Tasse)genutzt werden. Ansonsten hat die Maschine alles was man braucht und macht —> einfach lecker Kaffee! (Quelle: Saenco Espresso Vollautomat, Rezension, http://shop.testberichte.de/).

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Dass es sich um ein Attribut und nicht um eine adverbiale Bestimmung handelt, die das Prädikat näher beschreiben würde, lässt sich anhand einiger Argumente belegen: - Das Adjektiv steht in der (pränominalen) Position eines Attributs. - Es lässt sich durch andere (flektierte) Attribute ersetzen, z.B. [Sie] macht einfach guten Kaffee. - Auch semantisch ist der Bezug des Adjektivs zum folgenden Nomen (der Kaffee ist lecker) klar erkennbar. Eine adverbiale Verwendung des Adjektivs (im Sinne von ?etwas lecker machen) scheint sehr unwahrscheinlich. - Die Nominalphrase (einfach) lecker Kaffee mit dem adjektivischen Attribut lecker ist auch durch Verschiebeprobe erkennbar: Lecker Kaffee macht [die Maschine]. Der Konstruktionstyp F wird nach dem Formalismus von FILLMORE wie folgt dargestellt: Infi, max+, sbj+ (= "S") N, max+ Det, lex-

A, max+, lex+ inflec-

N, max-, lex+ sem [essbar]

lecker

Kaffee

Abb. 1: Konstruktion unflektierter Adjektivattribute

Die Kernkonstituente der Konstruktion ist eine NP (N, max+), deren charakteristisches Merkmal die Unflektiertheit des Adjektivs ist (A, inflec-). Das Nomen ist semantisch auf die Bezeichnung von Ess- bzw. Trinkbarem eingeschränkt, wobei es jedoch zu einer Ausweitung der Semantik auf verwandte Bereiche kommen kann, z.B. bei übertragener Verwendung zur Benennung von Personen (Sie ist ein lecker Mädchen). Die Position des Artikels (Det) innerhalb der NP ist typischerweise (aber nicht notwendigerweise, s.u.) frei. Die gesamte Konstruktion ist in eine nicht näher zu bestimmende Syntax F eingebunden. Beleg 2 ist ein Beispiel für die Belegung der Det-Position innerhalb der NP. Diese kann durch unbestimmten oder bestimmten Artikel aber auch durch adjektivische Pronomen (z.B. viele lecker Bierchen) besetzt sein.

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Beleg 2: Adler035: RE:Guten Morgen du kannst auch net mehr schlafen? komm, wir fahren jetzt schon zum hbf, und trinken —> ein lecker kaffee (Quelle: Forum Eintracht Frankfurt, http://www.eintracht.de/forum/)

Interessanterweise ist in Beleg 2 auch der unbestimmte Artikel nicht flektiert, dies ist jedoch in dem besprochenen Konstruktionstyp nicht notwendigerweise so. Auch wir trinken einen lecker kaffee ist denkbar. Es besteht eine Tendenz zu einer regionalen Einschränkung des Gebrauchs der Konstruktion. Die repräsentativen gesprochensprachlichen Korpora des IDS Mannheim (u.a. Zwirner-Korpus aus den Jahren 1955ff., Pfeffer-Korpus aus dem Jahr 1961) geben nur wenige Belege der Konstruktion, alle sind im Mitteldeutschen (Schwerpunkt Rheinland/Ruhrgebiet) anzusiedeln. Beleg 3: Feiertage - Sprecher (53 Jahre) aus Breyell - Kreis Kempten/Krefeld S3 : [. . .] es könnte ein Weihnachten weniger sein, dafür Fastnachten, da wäre ich auch schon zufrieden. S2 : Ich habe lieber Weihnachten, dann kriegst du einen Teller voll Lecker, Nüsse,14 Pfeffernüsse, Spitzkuchen. S3: Das wird mir als Familienvater viel zu teuer, das Weihnachtsfest mit all den Kindern (Quelle: IDS Mannheim - Zwirner-Korpus, Aufnahme ZW9B4). Beleg 4: Kirmes - Sprecher (56 Jahre) aus Krummöls - Kreis Löwenberg S2 : Und zur Kirmis, da gab es bloß Streuselkuchen und Quarkkuchen mit noch einer Mohn—> semmel dazu da gab es nicht so viel lecker Fettiges. Am Nachmittag um vier da ging in dem Gasthaus und in der Schenke das der Tanz los. (Quelle: IDS Mannheim - Zwirner-Korpus, Aufnahme ZWQ64).

14

Das IDS stellt zur Aufnahme ZW9B4 im Internet leider keine Tondaten zur Verfügung. Es ist deshalb nicht eindeutig zu klären, ob Lecker tatsächlich als Nomen zu verstehen ist, wie die Transliteration (s. Beleg 3) suggeriert. Ein Substantiv Lecker ist in den Dialekten der Region im Sinne von Leckereien durchaus gebräuchlich. Es ist dennoch durchaus denkbar, dass lecker Nüsse, Pfeffernüsse [...] gemeint ist.

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Beleg 5: Kirmes - Sprecher (17) aus Sonsbeck - Kreis Moers S2 : Mittags zogen wir dann nett so wie die Alten durch die Stadt, mit dem König voran, und bei dem König zuhause wird dann lecker Kaffee getrunken. (Quelle: IDS Mannheim - Zwirner-Korpus, Aufnahme ZW7B0).

Auch in neueren Daten gibt es Belege für den Gebrauch der Konstruktion bei Sprechern aus Westdeutschland, wie Beleg 6 zeigt (Sprecher HS stammt aus Mülheim an der Ruhr). Beleg 6: Interview mit Helge Schneider in der Süddeutschen Zeitung SZ: Was ist das Komischste am Reisen? HS: Die Menschen. Die teilweise merkwürdig anmutenden Menschen, die überall gleich sind. —> Es soll sauber sein und lecker Essen geben. In manchen Gegenden ist allerdings die Religion sehr mächtig. (Quelle: Süddeutsche Zeitung 126, 4./5. luni 2005, Vm.)

Die Belege 3 bis 6 weisen auf bestimmte pragmatische Verwendungsweisen der Konstruktion hin: Sie dient zur Kontextualisierung von Informalität, sie wird zur Beschreibung privater, familiärer und persönlicher Interaktionskontexte verwendet. Es gibt weitere pragmatische Kontexte, in denen die Konstruktion auffallend häufig Verwendung findet, u.a. in der Werbung (Belege 7 und 8).15 Zum Teil unterstützen diese Verwendungsweisen auch die These der regionalen Verbreitung der Konstruktion, nämlich genau dann, wenn Unternehmen, die ihren Kundenstamm vor allem in einer bestimmten Region haben (wie Gaffel), die Konstruktion als identitätsstiftendes Merkmal verwenden. Beleg 7: Werbung 1 - IKEA Lecker Lachs! (Quelle: IKEA-Katalog 2005)

15

Zu der pragmatischen Verwendung unflektierter Adjektive im Sprachgebrauch von Jugendlichen gibt es an unterschiedlichen Stellen in der Forschungsliteratur einige interessante Thesen. SCHWITALLA (2005:3) nimmt als Beispiel für den relativ sorglosen Umgang von Jugendlichen mit Wortarten das Adjektiv echt, das z.B. in der Verbindung echt geil als Adverb (d.h. unflektiert) verwendet wird.

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Beleg 8: W e r b u n g 2 - Gaffel Kölsch Lecker Gaffel. (Quelle: Plakatwerbung der Firma Gaffel)

Die Belege 7 und 8 sind außerdem eindeutige Beispiele dafür, dass die Konstruktion tatsächlich als NP anzusehen ist. In Beleg 5 ist dies allerdings nicht eindeutig entscheidbar, da lecker hier auch als Adverbial (mit Bezug auf trinken, also etwas lecker trinken) analysiert werden kann. Uneindeutige Fälle wie in Beleg 5 sind in unseren Daten häufig zu finden. Die Existenz der Konstruktion F wird jedoch durch eine ganze Reihe eindeutiger Fälle gewährleistet (zu diesen gehören isolierte NPs wie in 7 und 8, NPs mit belegter Det-Position wie 2, sowie Belege mit semantisch relativ leeren Prädikaten wie bei machen und geben in 1 bzw. 4), bei denen ein Bezug von lecker auf das Prädikat wenig logisch erscheint. Auf die adverbiale Nutzung von lecker kommen wir im folgenden Abschnitt noch zurück. 3.2.2. Andere Konstruktionstypen Grundsätzlich gilt für alle im Folgenden behandelten Konstruktionstypen mit lecker, dass es sich jeweils um grammatische Konstruktionen handelt. In dieser Eigenschaft unterscheiden sie sich ganz prinzipiell von der Konstruktion mit lecker als unflektiertem adjektivischen Attribut. Folgende vier Konstruktionstypen ergeben sich nach einfachen funktionalen Bestimmungen von lecker entsprechend der Terminologie der traditionellen Grammatik. Konstruktionstyp 2: lecker als flektiertes Attribut, F, Ν = Nahrungsmittel Dieser Konstruktionstyp kommt in den von uns untersuchten Daten am weitaus häufigsten vor, was auch der typischen Funktion von lecker als Adjektiv entspricht: Adjektive werden üblicherweise als Attribute verwendet. In diesem Sinne handelt es sich bei der Konstruktion um eine relativ triviale, die als eine Unterkonstruktion einer sehr viel allgemeineren (F) anzusehen ist. Die Konstruktion ist formal und grammatisch im Sinne FlLLMOREs (S.O. Abschnitt 2.1). Der semantische Bereich von Ν ist grundsätzlich auf Nahrungsmittel (oder ver-

16

Durch die Großschreibung von LECKER soll angedeutet werden, dass es hier als Platzhalter für eine Reihe von Wortformen steht, nämlich für die unterschiedlichen Flexionsformen von lecker.

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wandte Lexikonbereiche wie im Fall von Wein Rezepte, Beleg 9) eingeschränkt. Bei Beleg 9 handelt es sich um ein Beispiel der Konstruktion, bei der die Det-Position durch ein adjektivisches Pronomen {viele) besetzt ist. In Beleg 10 ist die Det-Position frei. Beleg 9: Wein Rezepte —> In der Rubrik finden Sie viele leckere Rezepte rund um den Wein! Wir werden diese Rubrik weiterhin ausbauen ... es lohnt sich also, des öfteren einmal einen Blick auf unsere Seite zu werfen! (Quelle: Weinhandel, http://www.ps-wein.de/wein_info/rezepte/ rezepte.html) Beleg 10: Harry in der Kamerakabine Hry: was soll ich sonst noch sag=n zum tach essen war heute gut hat mir geschmeckt ma richtig fisch zu essen wieder (-) ihr zu hause könnt mir das vielleicht nachfühl=n ne ihr esst —• bestimmt gerade leckeren dorsch in senfsoße (.) ja=un(d) wir knabbern hier eckigen fisch aber das war ja auch ganz lustich (.) (Quelle: Big-Brother, RTL - RTL Π)

Die Konstruktion lässt sich formal wie folgt darstellen: Infi, max+, sbj+ (= "S")

N, max+ [...]finden

Sie

Det, lex-

A, max+, lex+ inflec+

N, max-, lex+ sem [essbar]

viele

leckere

Rezepte [...]

Abb. 2: Konstruktion flektierter Adjektivattribute

Die Ähnlichkeit zur Konstruktion mit unflektiertem Adjektivattribut wird auf den ersten Blick deutlich, Unterschiede bestehen in der Flektiertheit der Konstituente Α innerhalb der Nominalphrase. Dieser Unterschied ist letztlich aber der entscheidende, da er zwischen der gram-

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matischen Konstruktion F und der extragrammatischen F differenziert. Konstruktionstyp 3: lecker als (unflektiertes) Prädikativ, F, mit Ν = Nahrungsmittel Aufgrund der Einfachheit der Konstruktion ebenfalls trivial aus Sicht der Construction Grammar ist die Verwendung von lecker als Prädikativ. Diese Konstruktion ist wie Typ 2 lediglich eine Unterform einer allgemeineren (F), die als formal" und grammatisch beschrieben werden kann. Die Konstruktion ist im Vergleich zu Typ 2 allerdings eine syntaktisch komplexere: Bei Typ 2 haben wir es mit einer NP zu tun, bei Typ 3 mit einem S. Das Prädikat wird durch ein Kopulaverb (sein oder werden bzw. bleiben, in finiter Form) oder bei Objektsprädikativen durch nennen u.ä. gebildet.18 Kopulasätze sind Nominalphrasen semantisch sehr ähnlich und grammatisch leicht in solche umformbar, z.B. Beleg 11 als der leckere Löwensenf. B e l e g 11: L ö w e n s e n f L ö w e n s e n f ist l e c k e r ! (Quelle: B e S o n i c , h t t p : / / w w w . b e s o n i c . c o m / B e S o n i c / U s e r / L y r i c s / )

Die grundsätzliche Einfachheit der Konstruktion wird auch im Kastenmodell (Abb. 3) auf den ersten Blick deutlich. Infi, max+, sbj+ (= "S")

F Löwensenf

V, max+ V., max-, lex+ SEIN; WERDEN; BLEIBEN

A, max+, lex+ inflec-

ist

lecker

Abb. 3: Konstruktion unflektierter Prädikative

17

18

Obwohl die Konstruktion mit der Verwendung der Kopulaverben lexikalisch eingeschränkt ist, würde man nicht von einer substantiellen Konstruktion sprechen, da die Kopulaverben semantisch leer sind. Der Einfachheit halber beschränken wir uns im Folgenden auf Subjektsprädikative.

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Konstruktionstyp 4: lecker in attributiv-prädikativer Funktion, F, mit V = „Emissionsverb" Der Konstruktionstyp 4 ist in der Hinsicht besonders, als er zumindest in Teilen substantiell ist. Das V der Konstruktion ist eingeschränkt auf so genannte Emissionsverben19 wie schmecken, riechen, evtl. auch aussehen. Lecker hat in diesen Konstruktionen zwar nicht den Status eines reinen Attributs, da es alleine ein Satzglied bildet, es bezieht sich jedoch auf das Subjekt des Satzes, wie Beleg 12 zeigt. Lecker ist hier das Subjekt Paprika-Nuss. Beleg 12: Vegetarischer Brotaufstrich Manche vegetarischen Brotaufstriche schmecken so ähnlich wie Hausmacher-Leberwurst. Daher stellen sie nicht wirklich eine Abwechslung dar. Aber Paprika-Nuss (gibt es von verschiedenen Herstellern) auf frisch geröstetem Vollkorntoast —> schmeckt lecker und hat auch auf einer Platte mit belegten Brötchen eine Daseinsberechtigung. Eignet sich auch gut für den Vorrat! Abgesehen davon: Probieren! nata (Quelle: Forum chefkoch.de, http://www.chefkoch.de/forum/)

Im Kastenmodell FlLLMOREs lässt sich die Konstruktion wie in Abb. 4 darstellen. Die lexikalische Einschränkung der Verben wird im Modell durch die semantische Spezifizierung auf Emissionsverben markiert. Infi, max+, sbj+ (= "S") V, raax+ Paprika-Nuss [...]

V, max-, lex+ sem [emittieren]

A, max+, lex+ inflec-

schmeckt

lecker

Abb. 4: Konstruktion unflektierter Attribut-Prädikative

19

Das Besondere bei diesen Verben ist die Möglichkeit der Subjekt- bzw. Objektprädikation. Es handelt sich also nicht einfach nur um Wahrnehmungsverben, vgl. den Unterschied zwischen Sie sieht gut vs. Sie (die Suppe) riecht gut.

"lecker Pilsken trinken" - unflektierte Adjektive

331

In einigen Belegen wird die Konstruktion kooperativ von zwei Gesprächsteilnehmern gebildet, wie Beleg 13 zeigt. Die elliptische Konstruktion (lecker ohne V) der Sprecherin Sbr greift auf das Emissionsverb der vorausgehenden Äußerung zurück und ersetzt dort das Fragepronomen wie. Beleg 13: Frühstück Adr: und, wie SCHMECKT der zopf. Sbr: [lecker; Adr: [gut Sbr: mhm, aber nich wie hefezopf, sondern wieAdr: graubrot mit nutella (Quelle: Big Brother, RTL - RTL Π)

Obschon selbstständiges Satzglied und darin mit Konstruktionstyp 5 (,lecker als adverbiale Bestimmung) im Gegensatz zu den drei vorausgehenden Konstruktionstypen vergleichbar, ist Typ 4 doch mit diesem keinesfalls identisch. Entscheidend ist die Semantik des Adjektivs und dessen Bezug auf das Subjekt (Konstruktionstyp 4) des Satzes bzw. auf das Prädikat (Typ 5). Konstruktionstyp 5: lecker als (unflektierte) adverbiale Bestimmung, Fclecker V> Die Konstruktion ist eine Unterkonstruktion einer allgemeineren formalen und grammatischen Konstruktion F. Semantisch ist eindeutig ein Bezug auf das durch Vollverben gebildete Prädikat gegeben. In dieser Verwendungsweise ist das Adjektiv unflektiert (d.h. jedenfalls nicht dekliniert), wie in Beleg 14 mit dem Bezugswort/Vollverb esst zu erkennen ist. Hier ist das Adjektiv durch die Partikel so zur AP erweitert.

>

Beleg 14: Food'n more. Musik in der Abendmensa Für das leibliche Wohl sorgt das Mensa-Team des Studentenwerkes. So lecker esst Ihr nicht mal zuhause . . . (Quelle: Mensa Uni Würzburg, http://www.wuewowas.de/evt/)

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Infi, max+, sbj+ (= "S") V, max+ ... Ihr

nicht...

Adv, lex+

V, max-, lexV, max-, lex+ sem [essen]

Adv, lex+

esst

(so) lecker

zuhause

Abb. 5: Konstruktion unflektierter adverbialer Bestimmungen

Aufgrund der adverbialen Verwendung wird das Adjektiv lecker im Modell nach FILLMORE als Adverb (Adv) klassifiziert. Im vorliegenden Beispiel ist die Konstruktion durch das Adverb zuhause zusätzlich erweitert und bildet mit diesem die maximale Projektion von V. Die Belegung der V-Position ist lediglich an die Bedingung gebunden, dass V kein Kopulaverb und kein Emissionsverb (im Sinne von Konstruktionstyp 4) sein darf. Ansonsten ist die Position frei belegbar, woran der formale Charakter der Konstruktion erkennbar ist.

4. Diskussion Nicht alle oben aufgezählten Konstruktionen mit lecker sind gleichermaßen besonders. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich in der überregionalen Umgangssprache in Opposition zu den grammatisch regelhaften Typen 2 bis 5 eine extragrammatische Konstruktion nach Typ 1 herausbilden konnte. Sicherlich handelt es sich bei Typ-1-Konstruktionen um „verschlüsselnde" Konstruktionen im Sinne FlLLMOREs, die also z.B. von einem Sprachlerner aufgrund seines Systemwissens so nicht vorhergesagt werden können, aber problemlos verstanden werden (also nicht „entschlüsselt" werden muss). Dies gilt zumindest für die (morpho)syntaktische Komponente der Konstruktion. Bezüglich der semanto-pragmatischen Seite ist einzuwenden, dass möglicherweise einige Interpretationsarbeit geleistet werden muss, um von hier sind leckere Kekse zu hier sind lecker Mädels zu kommen. Diese semantische Erweiterung ist nicht nur bei unflektiert attributivem lecker festzustellen, sondern lässt sich auch für die anderen Typen beobachten (z.B.

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lecker poppen). Ein Blick in das Grimmsche Wörterbuch zeigt, dass lecker schon in älteren Texten im übertragenen Sinn verwendet wurde, nämlich in Bezug auf „geistige Nahrung"20: Belege 15: Goethe-Zitate21 —> etwas vorbringen, so die leckere und verwöhnte weit vor läppisch hält. —> dasz alle bemühung, den beifall unserer leckern gelehrten zu erhalten, vergeblich sei. in ansehung der Schriften, die heraus kommen, bin —> ich überdem von natur so wenig lecker, als jemand in der weit. ich glaube, er meint, gott sei in Verfertigung —> der ersten menschen eben so lecker gewesen, als unsere fürsten in ihren Werbungen, welche wollen, dasz alle ihre Soldaten von gleicher länge sein sollen. der wunderliche geruch, den so mancherlei spezereien durcheinander aushauchten, hatte so eine —> leckere Wirkung auf mich, dasz ich niemals versäumte, so oft ich in der nähe war, mich wenigstens an der eröffneten atmosphäre zu weiden

Inwieweit Lexika oder Wörterbücher geeignet sind, auch informellen Sprachgebrauch zu dokumentieren, sei jedoch dahingestellt. In den von uns untersuchten gesprochensprachlichen Daten und besonders im Internet findet sich eine starke Ausweitung des Verwendungsbereichs von lecker auf den sexuellen Bereich, die sich nicht in Wörterbüchern niederschlägt. Das Gleiche gilt in noch höherem Maße für das Niederländische (s.u.). 4.1. Neubildung oder Wiederbelebung einer alten Bildungsweise?

HERMANN PAUL unterscheidet beim germanischen Adjektiv zwischen

starker und schwacher Flexion. Für das Deutsche nimmt er außerdem eine „sogenannte flexionslose Form" (PAUL 1951:142) an, die nach seiner Analyse (nach der alten substantivischen Deklination) mit dem Nominativ Singular aller Genera und dem Akkusativ Singular des Neutrums übereinstimmt und von daher nicht als flexionslos bestimmt

20

[DEUTSCHES WÖRTERBUCH] ( 1 9 8 4 ;

21

Die Belege sind zitiert nach dem Grimmschen Wörterbuch BUCH] ( 1 9 8 4 ;

12:483).

12:483) [DEUTSCHES

WÖRTER-

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werden sollte. Diese Form kommt vorzugsweise in prädikativer Funktion vor und hat dort die „pronominal gebildeten" (PAUL 1951:142) Formen, d.h. die erkennbar flektierten Formen, verdrängt. Historisch sind flexionslose Formen auch in attributiver Funktion belegt, diese werden sprachhistorisch aber mehr und mehr durch flektierte ersetzt. AMANDA POUNDER (2001:313) stellt fest, dass bis zum 19. Jahrhundert dieser Umbauprozess hin zum flektierten Adjektivattribut allerdings noch nicht abgeschlossen war (vgl. Beleg (15) nach POUNDER (2001:313)). Beleg 16: Frau Rath Goethe (Briefe - 1.5.1791 bzw. 16.10.1795)22 a. [...] und jede hätte gern so ein schön Möbel in ihr Prunckzimmer gehabt b. Auch ich habe dir ein Theatralisch Donnerwetter bestellt

Begünstigt wird dieser Umstand durch die Tatsache, dass lange Zeit die postnominale Stellung attributiver Adjektive, in der auch heute noch die unflektierte Form des Adjektivs verwendet wird, gepflegt wurde (so auch V. POLENZ (1978:58)). POUNDER sieht einen stetig zunehmenden Gebrauch flektierter Adjektivattribute im Zeitraum zwischen 1600 und 1800, dessen Ursache ihrer Meinung nach vor allem in normativpräskriptiven Anstrengungen dieser Zeit zu suchen ist. Letztendlich ist im modernen Standarddeutschen die Flexion der Adjektivattribute eine sehr formale Möglichkeit, Ambiguitäten in Bezug auf den Kategorienstatus pränominaler Adjektive bzw. Adverbien zu vermeiden (s.o. Abschnitt 4.3).23 Unflektierte Attribute kommen in seltenen Fällen auch bei anderen Adjektiven als lecker vor. Folgende Belege von Sprechern aus dem

22 23

KÖSTER (1968). HEINLE (2004) beschreibt auf der Basis einer umfangreichen empirischen Untersuchung das Vorkommen sog. Adjektivadverbien (d.h. deadjektivischer Adverbien) im Deutschen vom Althochdeutschen bis heute. Das Althochdeutsche war noch in der Lage, deadjektivische Adverbien zu flektieren. Zum Neuhochdeutschen ging die morphologische Markierung von deadjektivischen Adverbien durch Wortbildungsmittel jedoch verloren (vgl. HEINLE 2004:99). Adjektive und von diesen abgeleitete Adverbien lassen sich zu diesem Zeitpunkt also formal-morphologisch nicht mehr unterscheiden. Letztlich hat diese sich entwickelnde Gefahr der nach formalen Kriterien nicht mehr möglichen Differenzierung von Adverb- und Adjektivkategorien die Ausbildung flexivischer Adjektivmarkierungen (bei attributiver Funktion) entscheidend begünstigt. HEINLE erklärt, dass bis zur Herausbildung flexivischer Adjektivmarkierungen syntaktische Kriterien (Funktion und Stellungsmöglichkeiten, vgl. HEINLE 2004:19) zur Unterscheidung der beiden Wortarten herangezogen werden mussten.

"lecker Pilsken trinken" — unflektierte Adjektive

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Rheinland bzw. dem Ruhrgebiet zeigen, dass auch stark und bar unflektiert als Attribute gebraucht werden können. Beleg 17: Ein stark mädchen (Jrg = Kölner) Jrg: ((trommelt andrea mit den Handkanten auf dem rücken)) Adr: aua oah (-) [äh (--) oh ] Jrg: [ ( (lacht leise))] —> du bist doch=n stark mädchen Adr: du kannst mir doch nicht so auf=n rücken boxen= (Quelle: Big Brother, RTL - RTL Π) Beleg 18: Bar Geld - Heinrich Kwiatkowski (aus Gelsenkirchen) über Fotoreporter während des WM-Vorrundenspiels Deutschland - Ungarn (1954) Kwi: sO und ich hab manchmal auch gesacht geht doch mal da bei dem Andern hinter die bude der freut sich auch mal wenn er son häufen (. ) fotoreporter hat dann immer gesacht nEIn kwiat (. 1.5) wenn wir hier hinter ihrem tor sind kriegen wir die schönsten aufnahmen —• und das war für die bar gEld (Quelle: „Das Wunder von Bern. Die wahre Geschichte" - ZDFDokumentation 2004)

Gerade der Gebrauch von bar als unflektiertes Attribut zu Geld wirkt antiquiert. Die NP bar Geld (im Beispiel durch die Akzentsetzung auf Geld als solche erkennbar) ist heute kaum noch gebräuchlich und wird i.d.R. durch das Kompositum Bargeld ersetzt. HENN-MEMMESHEIMER (1986:263) gibt einen Beleg aus Beuren (Ost-

schwaben) mit unflektiertem Attribut unheimlich, der zeigt, dass der Gebrauch unflektierter Adjektivattribute keine ausschließlich westdeutsche Angelegenheit ist, auch wenn sich die Belege tatsächlich im westlichen Mitteldeutschen zu häufen scheinen. Beleg 19: Fürstenbesitz (Sp aus Beuren) Sp: Der Fürst, der hat unheimlich Besitz hier (Quelle: Lautbibliothek der deutschen Mundarten 12/13)

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HENN-MEMMESHEIMER klassifiziert unheimlich (aufgrund der fehlenden Flexion) als substantivdependentes Verb und stellt es in eine Reihe mit unflektierbaren Adverbien wie allerhand und so. Unserer Ansicht nach handelt es sich jedoch eindeutig um ein unflektiertes Adjektivattribut, das entsprechend des hier für lecker besprochenen Konstruktionstyps 1 gebraucht wird. 4.2. Unflektierte Adjektive - ein niederländischer Import? Die Ausbreitung der unflektierten Formen von lecker, mit ihrem Zentrum im Rheinland, d.h. im Grenzgebiet zum Niederländischen, deutet darauf hin, dass es sich möglicherweise um ein Sprachkontaktphänomen handeln könnte. Vieles spricht für diese Hypothese, da es sich bei der semantischen Erweiterung und der Unflektiertheit um parallele Entwicklungen handelt. Ein genaueres Hinschauen entkräftet jedoch diese scheinbar offensichtlichen Parallelen. Zuerst einmal besteht das Problem, dass für die Annahme eines kontaktbedingten Sprachwandels dieser Kontakt auch tatsächlich stattfinden muss. Das trifft für viele Sprecher dieser Region jedoch nicht unbedingt zu. Zudem betrifft der Abbau der Nominalflexion alle niederländischen Adjektive und erklärt nicht, warum sich die unflektierte Form im Deutschen nur für lecker aufweisen lässt und nicht auch für andere Adjektive. Auch die Verbreitungsgeschwindigkeit und Akzeptanz grenzferner Regionen steht im Widerspruch zu einem angenommenen Kontaktphänomen, das für den Rest des deutschen Sprachraums ausgeschlossen werden kann. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass es sich im Niederländischen mitnichten um vollständige Flexionslosigkeit handelt. As in many Germanic languages, prenominal modifiers (adjectives and quantifiers) in Dutch exhibit agreement with the head of the NP. These modifiers agree with the head noun with respect to number and gender. Moreover, the form of the pronominal modifier also depends on the (in)definiteness of the NP. [...] The basic generalization concerning the inflection of pronominal adjectives is that they have the form ,stem + schwa' unless the NP bears the features [indefinite, singular, neuter]: in that case, the adjectival ending is 0 . (BOOIJ 2002:43)

Auch wenn Numerus und Genus von Adjektiven in attributiver Verwendung im Niederländischen nicht eigentlich morphologische Katego-

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rien sind, da es sich nur um „kontextuelle Flektion"24 handelt, also nur in Pronominalisierungen und Artikelwahl sichtbar wird, gehen diese Kategorien doch indirekt in die oben genannten Schwa-Regel ein. So besteht auch für lekker die Distinktion zwischen den folgenden Konstruktionen: een lekkere geur vs. een lekker weer , ein schöner D u f t ' , (ein) schönes Wetter' (indef. Sg. mask./fem.) (indef. Sg. neutr.)

Ahnlich wie im Deutschen können durch Konversion auch adverbiale Konstruktionen wie lekker eten ,gut/lecker essen' gebildet werden (vgl. Typ 5). Eine Parallele zwischen dem Gebrauch von lecker im Deutschen und dem von lekker im Niederländischen jedoch ist mit Sicherheit festzustellen: die der semantischen Erweiterung. Dabei ist diese Entwicklung im Niederländischen schon wesentlich weiter fortgeschritten als im Deutschen, wie folgende Beispiele zeigen. een lekker bad, ,ein angenehmes B a d ' het is lekker weer, ,Das ist ein schönes Wetter' lekker in zijn vel zitten, ,sich prächtig fühlen' zieh lekker maken, ,es sich bequem machen' een lekkere meid, ,ein hübsches Mädchen' 2 5

Auch hier ist jedoch einzuwenden, dass es sich dabei nicht um ein rein niederländisches Phänomen handelt. Abgesehen von Wörtern wie süß, scharf, heiß etc. im Deutschen, lässt sich auch in anderen Sprachen beobachten, wie Attribute für Geschmacksempfindungen vom Nahrungsmittelbereich ins Sexuelle driften. So bedeutet z.B. auch im Spanischen rico nicht bloß ,gehaltvoll'„lecker' sondern kann auch in Zusammenhang mit Personen benutzt werden (una nina rica - „Apetecible desde el punto de vista sexual"26). 4.3. Unflektierte Adjektive oder Adverbien?

Es stellt sich an dieser Stelle auch die Frage, ob man von unflektierten Adjektiven oder von (endungslosen) Adjektivformen sprechen kann. 24

Vgl. BOOU (2002:20).

25

Vgl. VAN DALE (1999).

26

SECO/ANDRES/RAMOS ( 1 9 9 9 : 3 9 5 3 ) .

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HERMANN PAUL hat mit seiner Anmerkung bzgl. der „sog. flektionslosen Form" (s.o.) diese Frage bereits angesprochen. In der alten substantivischen Deklination ist der Nominativ Singular aller Genera und der Akkusativ des Neutrums endunglos. Nom. Mask.: ein guot tag ,ein guter Tag' Nom. Fem.: ein guot buoz ,eine gute Besserung' Nom. Neutr.: ein guot wort ,ein gutes Wort'

Dies spricht dafür, die alten Formen als endungslose Adjektivformen (Grundformen) zu betrachten. Problematisch ist der Umstand, dass die endungslosen Adjektive rein formal mit homonymen Adverbien identisch sind und sich somit eine Ambiguität in Bezug auf die Kategorienzugehörigkeit und der Funktion der entsprechenden Wortformen auftut (s.o. Kap. 4.1). POUNDER (2001:314f.) bespricht diese insbesondere im Zusammenhang von mehreren aufeinander folgenden Adjektiven/Adverbien, von denen z.T. nur das letzte durch Rexionsendungen eindeutig als Adjektiv markiert wurde.27 Beleg 19: Endungslose Adjektivattribute in Listen d i e s e s Huhn, d a s b l a u l i c h t d u n k e l a s c h g r a u e s f i e d e r [ . . .] h a t

Ge-

5. Ausblick

Im Zentrum des vorliegenden Aufsatzes stand das Adjektiv lecker in seinen grammatischen, semantischen und pragmatischen Vorkommenskontexten in natürlicher Alltagssprache. Ein wesentliches Ziel war dabei die Darstellung unterschiedlicher Konstruktionen nach den Formalismen FlLLMOREs und FlLLMOREs et al.28 In diesem Sinne versteht sich der vorliegende Aufsatz als Beitrag zur formalistisch orientierten Richtung innerhalb der Construction Grammar, die sich u.a. zum Ziel gesetzt hat, einzelne Konstruktionen in ihren grammatischen, semantischen und pragmatischen Eigenschaften zu beschreiben. Dabei haben

27 Vgl. Beleg 18 aus POUNDER (2001:315) - es ist unklar, ob sich die unflektierten Formen blaulicht (,bläulich') und dunkel als Adverbien auf aschgrau oder als Adjektive auf Gefieder beziehen. 28

FILLMORE ( 1 9 8 8 ) , FILLMORE/KAY/O'CONNOR ( 1 9 8 8 ) .

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wir die Lexik zum Ausgangspunkt unserer Analyse genommen und unterschiedliche Konstruktionstypen mit dem Adjektiv lecker isolieren und nach FILLMORE zunächst grammatisch, anschließend auch semantisch/pragmatisch fassen können. Als besonders interessant hat sich dabei die Konstruktion mit lecker als unflektiertem Adjektivattribut erwiesen. Diese stellt als extragrammatische Konstruktion eine Sonderform im heutigen Deutsch dar. Über den Ursprung der Konstruktion kann spekuliert werden. Handelt es sich um ein Relikt einer in älteren Sprachstufen des Deutschen durchaus verbreiteten Bildungsweise, die im Laufe der Zeit durch eine grammatische Konkurrenzform (nämlich durch das flektierte Adjektivattribut) ersetzt wurde oder sind unflektierte Adjektivattribute Neubildungen und lecker nur das erste produktive Beispiel dieser sich zunehmend ausbreitenden Bildungsweise? Liegt dialektaler bzw. fremdsprachlicher Einfluss durch die Kontaktsprache Niederländisch vor, in der das Lexem lekker unflektiert in sehr unterschiedlichen pragmatischen und semantischen Kontexten gebraucht werden kann? Eine weitere interessante Forschungsaufgabe liegt in der Analyse der Beziehungen unterschiedlicher Konstruktionstypen zueinander. In welchem Verhältnis stehen die funktional sehr ähnlichen Konstruktionen mit lecker als flektiertem und lecker als unflektiertem Adjektivattribut? Vom pragmatischen Standpunkt aus machen die Doppelformen Hier gibt's heute lecker Käse und Hier gibt's heute leckeren Käse aus sprachökonomischen Gründen nur dann Sinn, wenn sie nicht nur formal, sondern auch funktional verschieden wären. Was aber ist das Surplus der ersteren Konstruktion? Aus den untersuchten Daten ergibt sich Evidenz für die These, dass das unflektiert attribuierte lecker als Marker für informellen Sprachgebrauch verwendet wird. Es lässt sich insbesondere in der Sprache von Jugendlichen nachweisen. Dieser Umstand erklärt das häufige Auftreten der Konstruktion in der Werbung, die sich häufig jugendsprachlicher Komponenten bedient. Möglicherweise ist auch das Zusammenspiel mehrerer Faktoren ausschlaggebend, so dass Regionalität, Informalität, Jugendsprachlichkeit etc. in dieser Konstruktion relevant sind. Inwieweit dieses randgrammatische Phänomen die Kerngrammatik beeinflusst und ob es sich überhaupt über längere Zeit durchsetzen kann, wird die Zukunft zeigen.

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GEERTS, GUIDO/TON DEN BOON

woordenboek der Nederlandse taal, Utrecht, Antwerpen.

(Hg.): Van Dale Groot

Kerstin Fischer Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen 1. Einleitung Die Konstruktionsgrammatik hat den Anspruch, eine vollständige Repräsentation sprachlichen Wissens liefern zu können. Dies schließt syntaktisches, phonologisch-prosodisches, semantisches und pragmatisches Wissen mit ein. Eine konstruktionsgrammatische Repräsentation sollte daher auch den Einbezug von Wissen über die situationalen Verwendungskontexte von sprachlichen Strukturen erlauben. In diesem Aufsatz werde ich versuchen zu klären, wie die Konstruktionsgrammatik in besonderer Weise die Einbindung situationsbedingter Informationen unterstützt, welche Art situationalen Wissens in der Konstruktionsgrammatik einen Raum finden sollte und schließlich wie eine solche Repräsentation aussehen könnte. Die Konstruktionsgrammatik ist noch keine einheitliche Theorie sprachlicher Strukturen, sondern vielmehr eine durch einige zentrale Hypothesen gekennzeichnete Familie von Ansätzen, in der verschiedene Sichtweisen nebeneinander existieren (für einen detaillierten Überblick siehe FISCHER/STEFANOWITSCH 2 0 0 6 ) . Die Konstruktionsgrammatik geht davon aus, dass die Struktur einer Sprache vollständig beschrieben werden kann mit Hilfe von Konstruktionen, d.h. als FormBedeutungspaare. Alle Versionen der Konstruktionsgrammatik stimmen darin überein, dass Grammatik umfassend und ausschließlich als Inventar linguistischer Zeichen verstanden werden kann, d.h. als konventionalisierte Kombinationen aus Form- und Bedeutungskomponenten, die auch Verwendungsbedingungen mit einschließen (LAKOFF 1 9 8 7 : 4 6 7 , FILLMORE 1 9 8 8 : 3 6 , GOLDBERG 1 9 9 5 : 4 , KAY 1 9 9 7 : 1 2 3 ) .

Eine Konstruktion ist damit jedes konventionalisierte Form-Bedeutungspaar, unabhängig davon, wie schematisch oder konkret die jeweilige Form- oder Bedeutungsseite sein mag. Diese Definition beschränkt den Konstruktionsbegriff nicht auf die syntaktische Ebene. Stattdessen kann er auf allen linguistischen Beschreibungsebenen genutzt werden, um einheitliche Beschreibungen zu ermöglichen. Lexikon und Grammatik werden daher in der Konstruktionsgrammatik als ein Kontinuum angesehen. Die Konstruktionsgrammatik geht außerdem davon aus, dass die Bedeutung der Form-Bedeutungspaare sehr weit definiert werden muss (z.B. GOLDBERG 1 9 9 5 : 4 , KAY 1 9 9 7 : 1 2 3 ) . Der semantische Beschrei-

344

Kerstin Fischer

bungsansatz, der gewöhnlich zur Beschreibung der Bedeutungsseite von lexikalischen Konstruktionen herangezogen wird, ist die so genannte Frame-Semantik (FILLMORE 1982, FLLLMORE/ATKINS 1992). ÖSTMAN (2005) spricht sogar von der ,Schwestertheorie' der Konstruktionsgrammatik. Die Idee, die der Frame-Semantik zugrunde liegt, ist, dass beispielsweise ganze Szenen mit den typischen Partizipanten die Bedeutung eines Verbs ausmachen. Dabei wird auch enzyklopädische Information mit in die sprachliche Repräsentation aufgenommen, so dass auch die Grenze zwischen sprachlichem und Weltwissen verschwimmt. Die Arbeitsteilung zwischen Konstruktionsgrammatik und Frame-Semantik besteht in Bezug auf die Argumentstruktur beispielsweise darin, dass die Verben selbst mit einer detaillierten Frame-Semantik ausgestattet sind, während die Argumentstrukturkonstruktionen abstrakte Konstellationen kodieren (GOLDBERG 1995: 28-29). Allerdings bezieht sich dieses situationale Wissen nur auf ganz bestimmtes schematisches Wissen (FILLMORE/ ATKINS 1992) und schließt pragmatisches Verwendungswissen nicht unbedingt mit ein. Tatsächlich integrieren nur wenige Studien pragmatische Bedeutungen systematisch, und wenn, dann konzentrieren sie sich meist auf wenige, wiederkehrende Dimensionen. Zum Beispiel schließt LAKOFF (1987: 474) die illokutionäre Funktion und KAY metalinguistische Kommentare, skalare Modelle und Sprechereinstellungen (KAY 2003, siehe auch FILLMORE/KAY/O'CONNOR 1988 und KAY/ FILLMORE 1999) mit ein, während GOLDBERG (1995: 92ff.) informationsstrukturelles Wissen mit repräsentiert. Interaktional relevante Bedeutungsarten, obwohl prinzipiell eingeschlossen (KAY 1997: 123), werden typischerweise ignoriert in der tatsächlichen Beschreibungspraxis. Dagegen gibt es zunehmend Studien aus dem Bereich der Interaktionalen Linguistik, die zeigen, dass die Verwendungsbedingungen von Konstruktionen sowie ihre Bedeutungsanteile in hohem Maße interaktiv definiert sind und dieses interaktionale Verwendungswissen Teil des grammatischen Wissens ist (siehe THOMPSON 2002, DEPPERMANN 2004, GÜNTHNER 2005, FISCHER 2006a und die Beiträge in diesem Band). Welche Anforderungen die Aufnahme von situationalem Verwendungswissen an eine grammatische Repräsentation stellt und wie das Verhältnis von Konstruktionsgrammatik und Situation gefasst werden kann, ist Gegenstand dieses Aufsatzes.

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

345

2. Problemaufriss: Situationsbezug in der Sprache Die Beziehung zwischen Grammatik und Situation ist extrem vielfältig und hängt ab von den verschiedenen Aspekten situationaler Kontexte. Je nach Definition von Kontext und Situation fallen hierunter lokaler und globaler sprachlicher Kontext (z.B. GlVON 2 0 0 5 ) , die Sprechsituation mit ihren besonderen Erfordernissen und Partizipanten (z.B. H E W I N G S / H E W I N G S 2 0 0 5 ) sowie der soziokulturelle Kontext, in dem das Gespräch stattfindet (z.B. MARTIN 1 9 9 2 ) . Möglichkeiten des Kontextbezugs in der Grammatik reichen dementsprechend von anaund kataphorischen Verweisen auf Aspekte innerhalb des Textes, auf Aspekte der Kommunikationssituation und auf soziokulturelle Wissensbestände über Sprecher- und adressatenspezifischen Sprachgebrauch zu Registern und konventionalisierten sprachlichen Ritualen. Im Folgenden möchte ich drei verschiedene Arten der Beziehung von Sprache und Situation diskutieren, die beispielhaft für das Spektrum der Möglichkeiten der Interaktion zwischen sprachlicher Struktur und Situation stehen können. • A m Beispiel der situationsbedingten Idiome möchte ich eine Beziehung zwischen Sprache und Situation beleuchten, in denen sprachliche Strukturen direkt an bestimmte Situationstypen gebunden sind. • A m Beispiel der Kontextualisierungshinweise möchte ich die Art der Beziehung zwischen Sprache und Situation diskutieren, in denen auf abstrakte Situationstypen verwiesen wird, u m einen interpretativen Rahmen für die gegenwärtige Äußerung herzustellen. • Schließlich möchte ich die situationsbedingte Verwendung einiger sprachlicher Strukturen diskutieren. 2.1. Direkter Situationsbezug Zunächst gibt es konventionalisierte Ausdrücke, die an ganz bestimmte Verwendungskontexte gebunden sind. Betrachten wir die englische Formel get well, mit der man Kranken gute Besserung wünschen kann. Dass es sich u m einen konventionalisierten Ausdruck handelt, wird beispielsweise durch das Kompositum get well card, deutlich, in dem get well in paradigmatischer Opposition zu Situationstypen wie christmas und birthday steht. Die Phrase ist eine konventionalisierte Möglichkeit, sich sozialen Erwartungen entsprechend einer kranken Person gegenüber mitfühlend

Kerstin Fischer

346

zu äußern. In DAVID CRYSTAL'S Worten (2001: 7): „all language-using situations present us with constraints which we must be aware of and must obey if our contribution is to be judged acceptable." Form und Bedeutung der Phrase get well sind aus ihren Bestandteilen erschließbar. Ungeachtet der Vieldeutigkeit ihrer Teile bezieht sich die Phrase allerdings ausschließlich auf well im Sinne von gesund. (1) He had noticed there were no flowers in the room and only one get well card on the table by the chair where the policeman sat. (2) Posthumous birthday and get well cards are therefore understandable if you take this view.

Trotz seiner Transparenz ist der Ausdruck in seiner Flexibilität beschränkt. Während get well semantisch und syntaktisch transparent und nur auf eine bestimmte Lesart von well beschränkt ist, ist ein Austausch gegen das bedeutungsgleiche Adjektiv healthy nicht möglich. Im British National Corpus mit seinen 100 Millionen Wörtern kommt es in Kombination mit get nicht einmal vor. (3) ist das einzige Beispiel im British National Corpus (BNC) für eine Kombination von become und healthy: (3) Brush more gently become healthy again.

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few

days

until

the

gums

Gleiches gilt für Kombinationen von become, das grundsätzlich bedeutungsgleich mit get ist, mit well, die ausschließlich in modifizierender Funktion, z.B. von Partizipien vorkommen: (4) It is important to wait until the plants have had time to become well established before introducing the fish

Trotz seiner Transparenz kann get well daher nicht gegen become well ausgetauscht werden. Es besteht ein Entrenchment der ganzen Phrase, d.h. die Phrase ist als stabiles Pattern gespeichert. Wir können zusammenfassen, dass die Bedeutung des Ausdrucks in Bezug auf eine

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

347

Situation besteht, die als Szene im Sinne der Frame-Semantik aufgefasst werden kann, in der eine Akteurin (PI), die Sprecherin, 1 der kranken Adressatin (P2) eine Verbesserung ihrer Gesundheit wünscht. Das Idiom selbst unterliegt speziellen syntaktisch-semantischen Flexibilitätsbeschränkungen, die in einer grammatischen Repräsentation beachtet werden müssten. Dabei ergibt sich die Bedeutung kompositionell, und die einzelnen sprachlichen Entscheidungen, die diese Phrase ausmachen, sind funktional motiviert. Gründe für den Konstruktionsstatus des Ausdrucks lägen damit in seiner Stabilität und in seiner konventionellen Bindung an eine bestimmte Situation. 2.2. Kontextualisierungshinweise Eine weitere Möglichkeit des Bezugs sprachlicher Einheiten auf situationale Kontexte sind Signale, mit denen Sprecherinnen anzeigen, wie ihre Äußerungen verstanden werden sollen. G U M P E R Z (1982) spricht hier von Kontextualisierungshinweisen. Viele Kontextualisierungshinweise stellen allerdings keine eigenen Konstruktionen dar. G U M P E R Z selbst konzentriert sich auf paralinguistische Signale, besonders auf Prosodie. Die Funktion dieser Kontextualisierungshinweise besteht vor allem in Interpretationshinweisen für die Äußerung, z.B. als ironisch oder familiär. Es gibt allerdings auch lexikalische Kontextualisierungshinweise, die anzeigen, was die Sprecherin als den jeweiligen Common Ground, den unhinterfragten Hintergrund der Argumentation, betrachtet (FETZ E R / F L S C H E R erscheint). Ein Beispiel dafür ist das englische Adverb rather, das häufig als Übersetzungsäquivalent für deutsche Modalpartikeln verwendet wird ( F I S C H E R erscheint). In geschriebener Sprache, z.B. in Texten, die im Internet veröffentlicht werden, 2 zeigt rather einen Gegensatz an, der meist direkt im gleichen Satz expliziert wird: (5)

to dance, jump and clap rather than just sit still

(6)

pregnancy would end in adoption rather than

abortion. (7)

sites are built for internal rather than external

interests.

1 2

Der Einfachheit halber beziehe ich mich in diesem Aufsatz auf Sprecherinnen und Sprecher ausschließlich mit der weiblichen Form. http://www.webcorp.org.uk/

Kerstin Fischer

348

(8) entries should be "idea-driven" r a t h e r than "peopledriven" .

In Interaktionen verweist rather dagegen meist auf einen möglicherweise außersprachlichen Kontext, der mit rather als gemeinsam bekannt vorausgesetzt oder postuliert wird. Das heißt, dass das Element, mit dem die Äußerung, die rather enthält, kontrastiert, nicht unbedingt expliziert und mit than eingeleitet, sondern als in der Interaktion etabliert präsentiert wird. Der evozierte Kontext kann als pragmatischer Prätext aufgefasst werden, der eine logische Variante (FOOLEN 1989) der jeweiligen Äußerung darstellt. (9) A: No, from what I said this morning I meant not being there, without realising that B: What's that? The A: I'll explain it to you later ..I'll explain it to you later. B: But, er, don't, I'd r a t h e r not know why. ( B N C - K D L )

Der Situationsbezug kann hier folgendermaßen beschrieben werden: Die Äußerung, die rather enthält, bezieht sich auf eine im pragmatischen Prätext als für beide Interaktanten verfügbare Proposition, als Teil des Common Ground (CLARK 1996). Ob diese Proposition tatsächlich geteilt wird oder ob sie nur als solche präsentiert wird, kann nicht a priori entschieden werden. Tatsächlich können Kontextualisierungshinweise wie das englische rather auch gebraucht werden, um Common Ground erst zu konstituieren. Die Proposition, auf die sich rather bezieht, ist eine logische Variante der Äußerung, die rather enthält, im Fall von rather eine Verneinung dieser Äußerung. Die Äußerung I'd rather not know why verweist damit auf einen Prätext, der lautet: I'd like to know why. Dieser pragmatische Prätext ist nur impliziter Bestandteil der von den Interaktanten geteilten Situation, in der Sprecherin Β gerade gefragt hat (what's that? The), was es mit dem betreffenden Objekt auf sich hat. Dass sie eine Erklärung haben möchte, konnte Α daher aus ihrer Frage erschließen. Auf diese mögliche Schlussfolgerung bezieht sich Β mit Hilfe von rather. In dieser Funktion ist rather ähnlich den deutschen Modalpartikeln, und die Analyse hier beruht auch auf einem Modell für Modalpartikelbedeutungen

(DIEWALD/FISCHER

1998,

DIEWALD

2006,

FISCHER

2000a, 2006b, erscheint). Auch die Modalpartikeln präsentieren eine

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

349

Proposition als Teil des Common Ground (siehe auch REITER 1980, der diese Funktion als ,perfide' bezeichnet, wenn die evozierte Proposition nicht tatsächlich Teil des Common Ground gewesen ist). Dementsprechend wird rather auch als Übersetzungsäquivalent für deutsche Modalpartikeln verwendet (siehe FISCHER erscheint): (10) ich denke wir sollten das Ganze dann doch auf die nächste Woche verschieben. 'I think we should rather postpone the whole matter until next week. ' (11) Völlig ausgeschlossen. Dann doch eher in der zehnten Woche, eventuell am neunten. 'That doesn't suit me at all, rather the 10th week, maybe on the 9th?'

Hier liegt also eine andere Art des Situationsbezugs vor. Der Ausdruck, der Gegenstand unserer Analyse ist, bezieht sich nicht auf einen Situationstyp mit Akteuren und besonderen Umständen, sondern evoziert eine Proposition, die als Teil der gemeinsamen Situation, genauer: des argumentativen Kontexts, präsentiert wird. 2.3. Situationsabhängige Verwendung sprachlicher Strukturen

Ein weiteres Problemfeld ergibt sich durch die situationsabhängige Interpretation von sprachlichen Strukturen. Das heißt, abhängig von der Verwendungssituation sind bestimmte sprachliche Entscheidungen der Gesprächspartner wahrscheinlicher als andere (siehe auch HALLIDAY/ MATTHIESSEN 2004: 28). In der Gesprächsforschung wird dies deutlich durch die Benennung der untersuchten Sprechsituation im Titel von Studien. Sehen wir uns zum Beispiel Analysen der englischen Partikel okay an: MERRITT'S ( 1 9 8 0 ) S t u d i e t r ä g t d e n Titel

, O n t h e U s e of O K in

Service Encounters', während GROSZ' (1982) Studie von okay in Instruktionsdialogen in einem Band erscheint, der Sublanguage. Studies on Language in Restricted Semantic Domains' heißt. BANGERTER ET AL. (2003) betiteln ihre Studie .Navigating Joint Projects in Telephone Conversations'. Daneben gibt es weitere Studien, die okay in v e r s c h i e d e n e n V e r w e n d u n g s S i t u a t i o n e n b e l e u c h t e n : CONDON

(1986)

analysiert okay in Entscheidungen in Familieninteraktionen, und CONDON (2001) vergleicht diese Ergebnisse mit computer-vermittelter K o m m u n i k a t i o n . BANGERTER/ CLARK ( 2 0 0 3 ) v e r g l e i c h e n die V e r t e i -

350

Kerstin Fischer

lungen von okay in einer ganzen Reihe verschiedener Korpora. FISCHER (2006b) schließlich untersucht okay in Terminvereinbarungen in der Mensch-Mensch- und in der Mensch-Maschine-Kommunikation. Diese Titel und die gewählten Korpora legen nahe, dass die Partikel okay verschiedene Verwendungsbedingungen haben kann, abhängig von der Situation, in der sie vorkommt. Tatsächlich ist dies nicht immer der Fall. Ein Vergleich der Ergebnisse der oben genannten Studien zeigt, dass sich die funktionalen Spektren der Partikel in den verschiedenen Situationen überlappen. •

STENSTRÖM (1994: 67) identifiziert in englischen Konversationen vier Funktionen: Neben der turn-finalen Verwendung als appealer, als checking-Signal, mit dem die Sprecherin Zustimmung beim Kommunikationspartner einholt, findet sie okay als Zustimmungssignal und als Feedbacksignal, sowie als framing-Signal in der Funktion, Themen wieder zu eröffnen (1994: 124) oder zu schließen (1994: 154, siehe auch SCHEGLOFF/SACKS 1973).



CONDON (1986: 80) untersucht aufgabenorientierte Dialoge, nämlich Entscheidungsfindungssituationen innerhalb von Familien. Zum einen identifiziert sie auch die checking-¥\xaktion, zum zweiten findet sie es als Zustimmungssignal, z.B. nach Vorschlägen (1986: 87). Die dritte Funktion, die sie identifiziert, ist die als Einleitungssignal zu Beginn von neuen Entscheidungsfindungssequenzen. In einer späteren Studie (2001: 492) argumentiert sie, dass Vorkommen von okay „transitions to some expected sequence of talk" markieren.



BANGERTER/CLARK/KATZ (2003) analysieren Telefongespräche, und zwar Konversationen zu vorgegebenen Themen (das Switchboard Corpus) und Anrufe bei der Telefonauskunft. Sie argumentieren, dass okay hauptsächlich verwendet wird, um innerhalb der Dialoge zwischen verschiedenen Themen, den gemeinsamen Projekten (CLARK 1996) zu navigieren. Diese Funktion unterscheidet okay von Feedbacksignalen, die nach Meinung der Autoren Funktionen in Hinblick auf die horizontale Struktur erfüllen, d.h. eher innerhalb von gemeinsamen Projekten wirken, z.B. als Zustimmungssignal. In BANGERTER/CLARK (2003) zeigen die Autoren ähnliche Verteilungen in verschiedenen Korpora auf: okay kommt

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

351

diesen Daten zufolge hauptsächlich an Projektgrenzen vor und erfüllt damit eine/raramg-Funktion. 3 •

GROSZ (1982: 153) identifiziert vier Funktionen von okay in aufgabenorientierten Instruktionsdialogen, die allerdings die framingFunktion nicht mit einschließen. Stattdessen umfassen die Funktionen, die sie identifiziert: ,Ich habe Deine Äußerung gehört,' ,Ich habe Deine Äußerung gehört und verstanden,' ,Ich habe Deine Äußerung gehört und verstanden und ich mache, was Du sagst,' und ,Ich bin fertig, was kommt als nächstes?'.



MERRITT (1980) zeigt, dass okay in Verkaufsgesprächen vor allem in Reaktion auf Aufforderungen zu non-verbaler Handlung verwendet wird. Sie schlägt daher vor, dass okay eine Brückenfunktion einnimmt zwischen verbaler und nonverbaler Handlung. Allerdings folgen auf okay nicht immer non-verbale Aktionen. Stattdessen kann es auch verwendet werden, um anzuzeigen, dass die Sprecherin die Verantwortung für die nächste Handlung übernimmt und die Partnerin aus der Verantwortung entlässt. Das ist nach MERRITT (1980: 166) der Grund, warum okay auch nach Ablehnungen vorkommen kann.



FISCHER (2006b) identifiziert die appealing/checking-Funktion (Beispiel (12)), die Funktion als Feedback- (Beispiel (13a)) und als Zustimmungssignal (Beispiel (13b)) sowie als framing-Signal (Beispiel (14)) zur Eröffnung von Gesprächsphasen in Terminabsprachen:4 (12) jay_6_01: I

think we

#paper_rustle# should

schedule

hi A r t h u r , a meeting

b e f o r e we sometime

in

go, the

next two w e e k s , for at least two h o u r s , o/ okay? maem_6_02: have

sounds good.

something

from one

um

let's

to four,

see,

on, M o n d a y

can you meet

in

I

the

morning?

3

4

Es muss jedoch erwähnt werden, dass das Ziel dieser beiden Studien nicht auf die Identifikation des funktionalen Spektrums der Partikel ausgerichtet ist, sondern auf die Feststellung besonders eindeutiger Korrelationen mit der Diskursstruktur. Die Beispiele stammen aus dem Verbmobil-Korpus (WAHLSTER 2000). Transkriptionskonventionen: = Atmen, = Zögern,

= Pause, / = Abbruch.

352

Kerstin Fischer

(13) menm_7_05: well, could you come in at eight o'clock on Tuesday, then we could do it from, eight to ten on, Tuesday. ffmw_7_06: okay, (a) uh do you mean Tuesday the twenty third? menm_7_07: yes I do, Tuesday. November, twenty third, eight to, ten AM. how's that sound to you. ffmw_7_08: okay, (b) that's fine, I'll see you Tuesday November twenty third then. #paper_rustle# thanks. (14) mjm_3_01: okay Danny, now that this meeting's over, we need to schedule another one so we continue, to get our work done on this project, and, the times that, I would have free, coming up, would be on the twenty fifth, in the morning,

twenty seventh in the afternoon, eh February third, in the afternoon, and that's about it, do you have any of those times free?

Allerdings zeigt sich für okay ein anderes funktionales Spektrum, wenn es in Terminvereinbarungen zwischen Mensch und Maschine verwendet wird. Beispielsweise finden wir okay in der Mensch-MaschineKommunikation auch als Reparaturmarker, bzw. re-framer (Beispiel (15b)): (15)e4072302:

I have time on Thursday the twenty first of January

at two pm. S4072303: the weekend is already occupied. e4072303: okay, (a)

let's try

okay, (b) I have a another suggestion, how 'bout Monday,

the eighteenth of January

at twelve pm?

Das erste Vorkommen von okay in Beispiel (15a) ist dagegen ähnlich der Verwendung von okay in MERRITT'S Verkaufsgesprächen (1980: 166), insofern als es nach einer ablehnenden Sprechhandlung erfolgt und den Gesprächspartner aus der Verantwortung entlässt: (16) C: Do you have two dimes and a nickel for a quarter? S: (rings cash register, opens drawer) We don't have

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

353

any dimes l e f t . C: OK. T h a n k y o u .

MERRITT GROSZ

(1980)

(1982)

CONDON

(1986,2001)

STENSTRÖM

(1994)

BANGERTER ET AL.

Verkaufsgespräche

X Χ Χ Χ

Instruktionen

X Χ

Χ

Entscheidungsfindung

X X

Konversation

X X Χ Χ

(2003) Telefongespräche

X

repair

comply

framing

feedback

agree

Daten

Studien

check

Das heißt, in den Mensch-Maschine-Dialogen gibt es einige Funktionen, die ähnlich denen in der Mensch-Mensch-Kommunikation sind, während andere dort bisher nicht gefunden wurden. Auch die Diskussion der Analysen aus der Literatur in den verschiedenen Kontexten hat gezeigt, dass sich das funktionale Spektrum in Teilen überlappt, in Teilen aber auch nicht, das heißt, dass situationsbedingt unterschiedliche Funktionen gefunden werden. Eine grobe Zusammenfassung ist Tabelle 1.

Χ

Χ

Χ

FISCHER ( 2 0 0 6 b )

Terminabsprache HHC 5 X X Χ Χ

FISCHER ( 2 0 0 6 b )

Terminabsprache HCl

Χ Χ

Χ

Tabelle 1: Funktionen von okay in den verschiedenen Studien

Es zeigen sich für okay in der Mensch-Maschine-Kommunikation noch zusätzlich quantitative Effekte. Insbesondere ist es viel seltener in der Kommunikation mit automatischen sprachverarbeitenden Systemen als in Konversationen unter menschlichen Sprecherinnen. So verwenden in sieben Dialogen von 20-30 Minuten Dauer nur drei Sprecherinnen okay als Partikel in der Kommunikation mit der Maschine. In den vier anderen Dialogen wurde es auch benutzt, allerdings an die Versuchsleiterin gerichtet. Dieses Ergebnis ist von Bedeutung, wenn wir Aussagen 5

HHC steht hier für Mensch-Mensch-Kommunikation, HCl für Mensch-MaschineKommunikation.

354

Kerstin Fischer

über Auftretenswahrscheinlichkeiten bestimmter Verwendungen in der Grammatik repräsentieren wollen (siehe HALLIDAY/MATTHIESSEN 2004: 28: „a register can be represented as a particular setting of systemic probabilities.").

3. Situationales Wissen in der Konstruktionsgrammatik

Die drei diskutierten Beispiele der Beziehung zwischen Sprache und Situation verdeutlichen, dass es sich hier nicht um ein einheitliches Phänomen handelt und dass nicht alle Möglichkeiten der Relation zwischen Sprache und Situation gleich behandelt werden müssen. Stattdessen können verschiedene Lösungen für die verschiedenen Zwecke genutzt werden. Eine direkte Situationsanbindung von get well ist durchaus angemessen. Wie wir oben gesehen haben, besteht die Semantik von get well in einer komplexen Szenenbeschreibung mit zwei Interaktantinnen PI und P2 und bestimmten situativen Merkmalen. Das heißt, hier fungiert die Bedeutungsseite der Konstruktion als ein direkter Verweis auf einen bestimmten Typ von Situation bzw. Szene, in der bestimmte soziale Konventionen wirksam sind (FILLMORE 1982, FILLMORE/ATKINS 1992). Wir können daher die Bedeutung von get well im Stil von Frame-Semantik beschreiben. Eine solche Beschreibung umfasst die Partizipanten PI = Sprecherin und P2 = Adressatin, die Umstände (P2 is temporarily compromised in health). Zusätzlich müssten die oben diskutierten formalen Beschränkungen erfasst werden. Dass ein Idiom wie get well auf eine szenische Repräsentation verweist, bedeutet allerdings nicht, dass es tatsächlich direkt an eine solche Situation gebunden ist. Vielmehr wird eine Situation, in der get well verwendet wird, als eine Situation des bezeichneten Typs interpretiert - eine Interpretation, die von den Kopartizipanten zurückgewiesen werden kann. Diese Tatsache wird noch klarer in Bezug auf die Bedeutung von rather als Kontextualisierungshinweis. Das Konzept des Kontextualisierungshinweises selbst impliziert dabei ein Konzept von Situation als sprachlich interaktiv hergestellte. Faktoren, die hier hineinspielen, sind die interaktive Bedeutungskonstitution (DEPPERMANN/SPRANZ-FOGASY 2002), wie sie z.B. über Kontextualisierungshinweise geschieht, aber auch die Konzeption der Situation, die abhängig von den Erwartungen der Sprecherin ist. Ein

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

355

Beispiel hierfür ist ROCHEs (1989) Studie von Kommunikation mit Ausländern, die ergab, dass besonders viele Merkmale der , Anpassung' an den ausländischen Kommunikationspartner zu finden waren, wenn der Adressat eine besonders dunkle Hautfarbe hatte, unabhängig von seinen sprachlichen Fähigkeiten. Auch in der Mensch-Computer- und der Mensch-Roboter-Kommunikation (FISCHER 2000b, 2003, 2006c) ist die Interpretation dessen, worin die Situation nun gerade besteht, oft nicht einheitlich. In Mensch-Computer- und Mensch-Roboter-Kommunikationssituationen, in denen sonst alle externen Faktoren identisch sind, variiert das sprachliche Verhalten der verschiedenen Sprecherinnen oft hochgradig und hängt, statt von externen Faktoren, vor allem von den Konzepten der Sprecherinnen über ihren Kommunikationsp a r t n e r a b (FISCHER 2006C).

Die Bedeutung von rather besteht dementsprechend wie bei anderen ana- und kataphorischen Verweisen, wie z.B. Pronomen, in einer schematischen, situationsunabhängigen Repräsentation eines postulierten Aspekts der gemeinsamen Gesprächssituation. Das heißt, die grammatische Repräsentation enthält einen Verweis auf einen Aspekt des Common Ground sowie eine Explikation dessen, wie die indizierte Proposition erschlossen werden kann. Eine Möglichkeit wäre, die Formseite [to rather VERB] mit einer Zuschreibung der negierten Proposition als Teil des argumentativen Kontexts zu paaren, z.B. als [common ground = to not VERB], Bei der Repräsentation von okay haben wir zwei Möglichkeiten. Wird eine direkte Anbindung von sprachlichen Strukturen an bestimmte Situationen gewählt, ist die direkte Übertragung aus der empirischen Analyse möglich. Das heißt, wie wir für okay gesehen haben, können einzelne Studien forschungspraktisch problemlos eingebunden werden, indem jede Studie mit Verweis auf die in ihr untersuchten Daten die identifizierten Konstruktionen für diese Situation benennt. Allerdings würde das bedeuten, dass wir für jede Konstruktion in der Sprache ausweisen müssten, in welchen Situationen sie verwendet werden kann. Eine m.E. wichtige Anforderung an linguistische Repräsentationen, Lernbarkeit und Verstehbarkeit von Ausdrücken und ihre Anwendbarkeit auf neue Situationen zu erklären, wäre mit einer solchen Repräsentation wohl nicht gewährleistet. Insbesondere sollten unendliche Listen vermieden werden, die psychologisch unplausibel sind. Für okay gibt es nun Studien zu Terminvereinbarungen, Verkaufsgesprächen, Instruktionsdialogen, Telefongesprächen usw., aber diese Liste erschöpft natürlich nicht die

356

Kerstin Fischer

Liste der potentiell in Frage kommenden Situationen. Wir könnten Klassenrauminteraktionen, Arzt-Patienten-Gespräche, Jobinterviews und viele weitere, als beschreibungswürdig erwiesene Gesprächssituationen hinzufügen. Es ist überdies unwahrscheinlich, dass es prinzipiell möglich sein könnte, für alle Situationen Aussagen zu treffen. Daher sollte m.E. eine Repräsentation gefunden werden, die einen direkten Verweis auf einzelne situationale Kontexte vermeidet. Eine abstraktere Lösung wäre daher wünschenswert. In FISCHER (2000a) habe ich ein Modell vorgeschlagen, das sich an den durch die Sprecherinnen selbst relevant gesetzten kommunikativen Aufgaben orientiert. Da nicht im Voraus und objektiv spezifiziert werden kann, wie Interaktantinnen die Situation verstehen und nach welchen Aufgaben sie sich richten, gehe ich davon aus, dass die Aufgabe der Sprachwissenschaft endet bei der Spezifikation der sprachlichen Möglichkeiten, bestimmte Aufgaben zu lösen. Für einige Tätigkeiten, z.B. für die Regulierung des Gesprächsablaufs, ist die Orientierung an bestimmten Aufgaben wahrscheinlich: z.B. gehört zu einem reibungslosen Gesprächsablauf, dass der Kanal und die Verständigung gesichert, Verstehen signalisiert und das eigene Gesicht und das der Partnerin gewahrt wird. Allerdings werden diese Aufgaben, obwohl selbstverständlich in der Konversation, in der Kommunikation mit automatischen sprachverstehenden Systemen nicht immer relevant gesetzt. Stattdessen legen die Sprecherinnen dort meist mehr Wert auf Sprachmanagement und auf die Verständlichkeit ihrer eigenen Äußerungen. Die Information, dass Sprecherinnen beispielsweise interpersonale und sprechtechnische Aufgaben oft, aber nicht immer, unterschiedlich gewichten in verschiedenen Situationen, kann m.E. nicht vorhergesagt werden, da es großenteils vom Verständnis der Sprecherin abhängt, welche Aufgaben in der jeweiligen Situation relevant sind. Dies kann beeinflusst sein durch persönliche Erfahrungen mit dem betreffenden Kommunikationspartner, Erfahrungen in als ähnlich bewerteten Situationen sowie durch persönliche Präferenzen. In der Mensch-Computer-Interaktionsforschung sind solche Fragestellungen Teil der Nutzermodellierung (FISCHER 2006C). Meine Repräsentation der situationsbedingten Verwendung von okay geht dementsprechend davon aus, dass wenn Sprecherinnen die Situation so einschätzen, dass eine bestimmte Aufgabe wichtig ist, das Modell beschreibt, wie okay, im Gegensatz zu, z.B. ja oder mhm, diese Aufgabe erfüllt. Dass beispielsweise GROSZ (1982) und nicht die anderen Studien die Funktion nennen, mit okay die erfolgreiche

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

357

Erledigung der eingeforderten Handlung zu signalisieren, liegt m.E. daran, dass beispielsweise in Telefongesprächen und Terminabsprachen die Sprecherinnen vor eine solche Aufgabe nicht gestellt sind. Probabilistische Verteilungen von sprachlichen Merkmalen (siehe HALLIDAY/MATTHIESSEN 2004: 28) ergeben sich gleichermaßen aus unterschiedlichen Anforderungen, die in den verschiedenen Situationen, wie sie von den Sprecherinnen aufgefasst werden, an die Sprecherin gestellt werden. Meine Repräsentation6 (FISCHER 2000a, 2006b) enthält daher einen kommunikativen Rahmen, der die möglichen in der Interaktion anfallenden Aufgaben beschreibt, sowie ein Set an Konstruktionen, die die Funktionen spezifizieren, die Diskurspartikeln im Allgemeinen haben können, und die Partikellexeme selbst. Der kommunikative Frame, der die Aufgaben spezifiziert, nach denen sich Sprecherinnen in der Interaktion richten können, kann durch eine Analyse, die die kommunikativen Aufgaben als Sprecherkategorien identifiziert, bestimmt werden (siehe FISCHER 2006a). Obwohl es vor allem Diskurspartikeln wie okay sind, die sich direkt auf diese Aufgaben beziehen, sollte der postulierte Frame allgemeine Gültigkeit haben, um Zirkularität zu vermeiden. Der kommunikative Frame, nach dem sich Sprecherinnen in der Interaktion richten, umfasst zumindest die folgenden Kategorien: Kontakt/Kanal, Wahrnehmung, Verstehen, Inhalte, Themenstruktur, begleitende Handlung, Sprechproduktion und die persönliche Beziehung zwischen den Interaktantinnen, wobei diese Kategorien nicht nur durch Diskurspartikelfunktionen verifiziert sind. Stattdessen zeigen auch Analysen von Diskursstrategien aller Art (siehe CLARK 1996, LEVINSON 1983), dass sich Sprecherinnen an diesen Aufgaben orientieren (vgl. FISCHER 2000a, 2006a). Dieser kommunikative Frame kann als Repräsentation einer maximal komplexen kommunikativen Situation verstanden werden. Das heißt, wie in einer frame-semantischen Darstellung, in der eine sprachliche Struktur eine bestimmte mögliche Konstellation auswählt bzw. hervorhebt, so verweist auch die Semantik einer bestimmten Diskurspartikelfunktionskonstruktion auf

6

In FISCHER (2000a) habe ich für die Repräsentation ein computerlinguistisches Lexikon gewählt, da der Formalismus der Konstruktionsgrammatik (siehe vor allem KAY/ FILLMORE 1999, MICHAELIS/RUPPENHOFER 2001) gerade für die Repräsentation pragmatischer Inhalte einige Probleme aufweist (FISCHER 1996), die bis heute nicht gelöst sind.

358

Kerstin Fischer

eine mögliche Konstellation von Aufgaben, nach denen sich die Sprecherin in einer bestimmten Situation richtet. Der Verweis auf die jeweilige Aufgabe des kommunikativen Frames ist innerhalb der Konstruktionssemantik repräsentiert, die jede Funktion, die eine Diskurspartikel erfüllen kann, spezifiziert. Das heißt, ich gehe davon aus, dass es Konstruktionen gibt, die mehr als einer Partikel zur Verfügung stehen und die die Funktion der betreffenden Partikel einerseits und die jeweiligen strukturellen Kontexte andererseits spezifizieren. Eine dieser Konstruktionen ist die checking-Konstruktion, in die neben okay auch right und tag-questions geerbt werden können. Die Formseite dieser Konstruktion beinhaltet unter anderem die Information, dass die Partikel in dieser Funktion turn-final und mit steigender Intonationskontur gebraucht wird, sowie dass sie eine Reaktion des Gesprächspartners relevant setzt. Auf der Inhaltsseite ist die Information kodiert, dass die jeweilige Partikel in dieser Konstruktion eine Rückmeldung einholen kann hinsichtlich der im kommunikativen Frame spezifizierten Domänen Perzeption, Verstehen und Zustimmung sowie persönliche Übereinstimmung (siehe auch A L L W O O D ET AL. 1992). Schließlich besteht die lexematische Konstruktion von okay selbst aus einer Spezifikation seiner Grundbedeutung und seinen formalen, hier vor allem seiner phonologischen Eigenschaften. Die Relationen zwischen den verschiedenen Konstruktionen der Repräsentation zeigt Abbildung 1. Da es zur Zeit keinen Formalismus gibt, der automatisch aus der Konstruktionsbedeutung der Funktion und der Lexembedeutung die angemessene Information ableiten könnte, gehe ich davon aus, dass in der Lexemkonstruktion zusätzlich noch die konkreten funktionalen Bedeutungen spezifiziert sind, die die Partikel in den verschiedenen Funktionen haben kann.

Konstruktionsgrammatik und situationales Wissen

359

Abbildung 1: Relationen zwischen Konstruktionen

Zusammenfassend ist der Situationsbezug bei den Diskurspartikeln durch den kommunikativen Frame gegeben, auf den die Funktionskonstruktionen in ihrer Bedeutungsspezifikation verweisen. Es ist damit nicht okay selbst, das diese Information enthält, und auch nicht okay in einer bestimmten Funktion. Stattdessen ist diese Information, welche kommunikative Aufgabe erfüllt werden soll, an die jeweiligen Funktionskonstruktionen gebunden. Welche Aufgaben tatsächlich relevant gesetzt werden in einer bestimmten Kommunikationssituation, ist abhängig davon, wie die Sprecherin die Situation einschätzt. Indem sie okay beispielsweise in der c/zecfc/wg-Konstruktion verwendet, öffnet sie den Raum für ein bestimmtes Spektrum an funktionalen Interpretationen, die je nach Interpretation der Anforderungen der Situation zum Interpretationsspektrum der Partikel gehören können oder nicht. In dieser Weise unterscheidet sich der kommunikative Frame von situationalen Frames wie denen von get well oder von to risk something (FILLMORE/ATKINS 1992): Während Letztere direkt einen bestimmten Situationstyp indizieren, öffnet der kommunikative Frame nur den Raum für mögliche Funktionen, die dann in den die Funktionen der Partikeln spezifizierenden Konstruktionen spezifiziert sind.

360

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4. Konklusion

In diesem Aufsatz habe ich drei verschiedene Arten diskutiert, in denen sprachliche Ausdrücke in Beziehung zu situationalem Wissen stehen können, und Möglichkeiten vorgestellt, wie solches Wissen innerhalb einer konstruktionsgrammatischen Beschreibung repräsentiert werden kann. Allerdings bleiben viele offene Fragen. Diese betreffen unter anderem die Möglichkeit der Repräsentation selbst. Gerade für die Bedeutungsseite von Konstruktionen ist noch keine gute Lösung vorhanden. Dennoch bietet die Konstruktionsgrammatik einen nützlichen Ansatzpunkt zur Diskussion der Rolle situationalen Verwendungswissens in der Grammatik.

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Sequentielle Struktur Ol

[] []

eine Zeile entspricht einer Intonationskontur; erstreckt sich eine Intonationskontur über mehr als eine auf der Seitenbreite verfügbare Länge, wird sie ohne neue Nummerierung in der nächsten Zeile weitergeführt Überlappungen und Simultansprechen schneller, unmittelbarer Anschluss neuer Redezüge oder Einheiten

Pausen (·)

(-), (-), ( - ) (1.5)

Mikropause (unter 0.3 Sekunden) kurze, mittlere oder lange Pausen von ca. 0.25 - 0.75 Sekunden, bis zu ca. 1 Sekunde Pause von mehr als einer Sekunde

Sonstige segmentale Konventionen a:, a:: Dehnung, Längung, je nach Dauer und=äh Verschleifungen innerhalb von Einheiten äh, ehm etc. Verzögerungssignale Abbruch durch Glottalverschluss (oft vor Selbstreparaturen) Lachen so(h)o haha hoho hehe

Lachpartikeln beim Reden silbisches Lachen

Rezipientensignale hm, ja, ne hmhm, jaja 'hm'hm

einsilbige Signale zweisilbige Signale mit Glottalverschlüssen, meistens verneinend

366

GAT-Transkriptionskonventionen

Akzentuierung akZENT

Hauptakzent: Großbuchstaben über die ganze Silbe Nebenakzent: Großbuchstabe über Vokal sehr starker Akzent

akzEnt akIZENT!

Tonhöhenbewegung am Einheitenende ? hoch steigend , mittel steigend gleichbleibend ; mittel fallend tief fallend Auffällige Τ •l Verändertes «1> «h>

Tonhöhensprünge Tonhöhensprung nach oben Tonhöhensprung nach unten Tonhöhenregister > tiefes Tonhöhenregister > hohen Tonhöhenregister

Lautstärke- und Sprechgeschwindigkeitsveränderungen «f> > = forte, laut «ff> > = fortissimo, sehr laut «p> > piano, leise > pianissimo, sehr leise «PP> «dim> > diminuendo, leiser werdend «cresc> > crescendo, lauter werdend «len> > lento, langsam «rall> > rallentando, langsamer werdend «all> > allegro, schnell «acc> > accellerando, schneller werdend Ein- und Ausatmen .h, .hh, .hhh h, hh, hhh

Einatmen, je nach Dauer Ausatmen, je nach Dauer

GAT-Transkriptionskonventionen

Sonstige

Konventionen

«erstaunt> «lacht> ((husten)) (arzt) al(s)o (alt/halt) (2 Silben)

( ( ( · · · ) ) — »

367

)

> >

interpretierende Kommentare mit Reichweite begleitende para- und außersprachliche Handlungen mit Reichweite para- und außersprachliche Handlungen und Ereignisse vermuteter Wortlaut vermuteter Laut oder Silbe vermutete Alternativen unverständlicher Abschnitt, entsprechend der Länge unverständlicher Abschnitt, wenn keine Silbenstruktur hörbar ist ausgelassener Text Verweis auf im Text behandelte Transkriptstelle.

Personenregister Abraham, Werner 129,131, 135, 154, 155 Auer, Peter 1, 7, 8, 9, 11,12, 14, 16, 18, 66, 74, 76, 165, 175, 182, 199, 214, 225, 226, 232, 240, 259, 263, 268, 269, 273, 291,293 Barth-Weingarten, Dagmar 11, 12, 159, 164, 170, 176, 201,208 Behaghel, Otto 183 Behrens, Heike 93, 94, 95, 97, 117 Birkner, Karin 12, 14, 30, 77, 176, 201, 207, 209, 233, 292 Bybee, Joan 7, 25, 31, 36, 116, 285, 293 Clark, Herbert H. 24, 348, 349, 350, 357 Condon, Sherri 349, 350, 353 Couper-Kuhlen, Elizabeth 1, 8, 9, 10, 12, 13, 14, 15, 18, 25, 30, 32, 45, 78, 147, 153, 159, 166, 170, 239, 240, 286 Croft, William 2, 5, 6, 7, 59, 176, 182, 233, 240, 270, 282, 291 Cruse, AlanD. 176,291 Crystal, David 346 Deppermann, Arnulf 7, 9, 11, 13, 15, 17, 18, 30, 172, 196, 220, 234, 240, 241, 285,291,294, 344, 354 Dürscheid, Christa 318 Goldberg, Adele 2, 4, 5, 6, 59, 93, 94, 120, 127, 148, 176, 182, 198, 201, 205, 234, 239, 250, 259, 343, 344 Eisenberg, Peter 181, 208, 222, 273, 318, 319 Erben, Johannes 60, 61, 64, 127, 129, 131, 132, 133, 135, 144, 148, 183, 184, 186 Eroms, Hans-Werner 129, 132, 133, 135, 140 Fillmore, Charles J. 2, 3, 6, 31, 59, 92, 96, 153, 174, 198, 317, 318, 322, 323, 324, 327, 330, 332, 338, 339, 343, 344, 354, 357, 359 Fischer, Kerstin 12, 18, 115, 343, 344, 347, 348, 349, 350, 351, 353, 355, 356, 357 Ford, Cecilia Ε. 24, 25, 30, 38, 42, 47, 81, 194, 196, 276, 277 Fox, Barbara Α. 24, 276, 277, 292 Fries, Norbert 2, 241, 242, 247, Göhl, Christine 11, 13, 14, 17, 30, 82, 175, 176, 183, 189, 194, 196, 200, 256 Grosz, Barbara J. 349, 351, 353, 356 Gumperz, John 347 Günthner, Susanne 1, 2, 7, 9, 10, 12, 13, 15, 17, 42, 59, 81, 147, 148, 174, 176, 182,

183, 190, 200, 201, 226, 232, 250, 268, 269, 273, 291, 297, 344 Halliday, M.A.K. 349, 354, 357 Hartmann, Peter 1 Haspelmath, Martin 285 Hausendorf, Heiko 212,214,221 Heinle, Eva-Maria 318, 334 Hopper, Paul 9,12, 24, 25, 28, 42, 50, 73, 78, 83, 84, 85, 86, 147, 148, 250, 263, 272, 282, 286 Imo, Wolfgang 11, 12, 14, 16, 291, 297 Jespersen, Otto 26, 27, 60, 61, 64 Kay, Paul 2, 3, 6, 153, 174, 239, 316, 317, 338, 343, 344, 357 Knobloch, Clemens 11,103,118 Konerding, Klaus-Peter 184 Lakoff, Robin 154, 155, 156, 157, 163 Lambrecht, Knud 2, 14, 59, 60, 61, 64, 65, 69, 71, 72, 73, 77, 78, 84, 147, 205, 216,217,218, 222, 226 Langacker, Ronald W. 4, 6, 25, 94, 106, 239, 250, 293 Lehmann, Christian 97, 116, 216, 222 Matthiessen, Christian 349, 354, 357 Merritt, Marilyn 349,351,352,353 Michaelis, Laura A. 2, 59, 147, 259, 357 Mulac, Anthony 284 Ninio, Anat 93 O'Connor, Catherine 2, 3, 153, 174, 317, 338, 344 Ono, Tsuyoshi 7, 9, 80, 82, 190 Östman, Jan-Ola 7, 205, 291, 292, 293, 294, 344 Papafragou, Anna 97, 109, 110 Paul, Hermann 64 Pounder, Amanda 334, 338 Ramge, Hans 97,99, 110 Schegloff, Emanuel Α. 23, 24, 25, 41, 42, 159, 163, 164, 176, 239, 298, 303, 350 Schwitalla, Johannes 11, 15, 17, 67, 120, 277, 326 Selting, Margret 1, 8, 29, 76, 79, 182, 239, 240 Spiekermann, Helmut 17, 291 Stenström, Anna-Brita 350, 353 Stoltenburg, Benjamin 17, 267, 269, 272, 291 Theakston, Anna L. 93, 96, 107, 117, 120 Thompson, Sandra A. 7, 9, 10, 12, 13, 14, 15, 18, 23, 25, 30, 32, 33, 38, 42, 78,

370 81, 82, 83,147, 154, 158, 170, 190, 205, 239, 250, 276, 277, 284, 286, 292, 293, 344 Tomasello, Michael 86, 92, 93, 120, 198 Traugott, Elizabeth C. 282, 286 Zifonun, Gisela 60, 61, 62, 64, 76,183, 184, 195,222, 273,277

Personenregister

Sachregister Ablehnung 79, 83, 142, 255, 278, 294, 351352 Adjektive, unflektierte 17-18, 318-321, 323-327, 328-338 Adjektivflexion 13-14, 19-23 Agens 15,211-225,240-260 Aktionsart 133 Amalgamisierung[en] 10, 77-79 Ambiguität / ambig 184, 197, 222, 227, 258, 272, 334, 338 ,Anaphorischer' Bezug (Vorwärtsgerichtetheit) / anaphorisch 43, 127, 185-191, 197,255 Ankündigen einer Handlung (siehe Handlungsankündigung) Argumentstruktur 240, 249-250, 257 Aufforderung / Auffordern 99, 108, MOM I , 146, 185, 244-258, 278, 351 Begründung 13-14, 131, 181-201 bi-clausal 12, 14, 60, 217, but 154-166, 174-175 cleft-Satz bzw. cleft-Konstruktion 32, 6162, 72, 77, 78-79 Cognitive Grammar 4, 6, 239 Common Ground 347-349, 355 Construction Discourse 7 ita-Konstruktion 13-14, 176, 181-201, 256 Dialektsyntax 320-321, 333-337 Dialogizität 1 Diskursfunktion / diskursfunktional 8, 59 Diskurspartikel 357-359 Emergenz / emergent 10-12, 15-16, 24, 42, 59, 66, 82, 85, 93,115,119, 200, 263, 267, 286,293, 309,312-313 Epistemischer, evaluativer und evidentieller Rahmen 30,33,49, 119 Extraposition 9-10, 12, 23, 26-50, 147, 286 Form-Bedeutungs-Paare 5, 8, 270, 343 Formel / formelhaft 2,11, 30, 60, 76, 83-84, 92-119, 222, 253, 258, 260, 283, 299, 311,316, 345 Fragment/fragmentarisch 9, 16, 81, 216, 218, 220, 264, 272, 286

Frame 15, 107, 251-254, 258-259, 352, 357-359 Frame-Semantik 18, 198, 344, 347, 354, 357 Gattung 1, 5, 8, 17-18, 59, 222, 252, 256, 258, 294, 298, 304, 308, 312-313 Gebrauchsbasiertheit 6 Gestalt 4-5, 8,10-13, 16, 24, 49, 50, 66-68, 76, 79-80, 84-86, 92, 99, 107, 128,163164, 175, 191, 194, 199, 200-201, 205206, 227, 230, 232-234, 239, 270, 272, 282-283, 286, 293 Grammatik der gesprochenen Sprache 2, 59 Grammatikalisierung 93, 96,105,119,128, 242, 282, 286, 297 Handlungsankündigung 136, 143-146 Holismus / holistisch 8, 59, 82, 153, 200, 205, 239, 257, 292 Infinitiv, deontischer 15, 239, 242-260, 294 Intentionalität 105, 192, 247 Interaktionale Linguistik 7, 23, 291-294, 313 Intonation / Intonationseinheit / intonatorisch 4, 33-38,138,157, 163, 166-167, 175, 187, 197, 226-231, 241, 267, 276, 298, 304-305, 358 ,Kataphorischer' Bezug (Rückwärtsgerichtetheit) / kataphorisch 43, 127, 212, 214, 218, 234, 255, 302, 345, 355 kommunikative Praxis 7-9 Komplementsatz 10, 28, 69-72, 81-85, 209, 279 konditioneile Relevanz 196, 245, 251-252, 255, 258, 260 Konjunktion 14, 32, 35-41, 181-182, 186, 190, 196,199, 204, 267 Konnektor 41, 153-155, 158, 164, 181, 183, 187-192, 196, 199 Konsekutivität / konsekutiv 184, 190-198, 201, 304-313 Kontextbezug 345 Kontextualisierungshinweis 18, 347-348, 354

372 Kontrast / kontrastierend 61, 65, 97, 111, 131, 132, 134,137-138,148, 153-176, 348 Konstruktionsvarianten / Konstruktionstypen 82, 84, 159, 164-166, 168, 171173, 176,208,316 Kopula 60-64, 69-79, 83-84, 205-210, 213, 216, 299, 302, 304, 306, 308, 312, 329, 332 Korrelat 182, 187-190, 197, 199

Sachregister Pseudocleft 10, 12, 42, 50, 59-86, 147-148, 174, 176, 190, 200, 268,291 Randgrammatik 2-3 rather 18, 171-172, 347-349, 354-355 Relativkonstruktion 176, 205, 207-208, 217, 221,224-226, 232 Relativsatz 60-64, 133, 205- 234, 267, 292 Rhematisierung 130

Matrixsatz 16, 62-64, 67, 76-77, 79-80, 8485, 208-210, 217, 220-225, 228-230, 233, 263, 265, 267-271, 274, 278-285 Modalität 1, 15, 95, 116, 136-140, 240, 242-243, 246, 251-259 Modalkonstruktion 242, 247, 256-258 Modalpartikel 16, 129, 136, 255, 269, 270274, 279, 282-283, 285, 347-349 Modalverb 11, 91, 96-97, 103, 129, 132, 183,242-243, 252 Modalwort 16,279-285

Schema / schematisch 7-11, 16, 18, 24-25, 30, 59, 72, 80-82, 91, 94, 118, 153, 190, 198, 201, 252, 263, 265, 273, 278, 280, 282-286, 294, 322, 343-344, 355 semantic opposition 157, 172 Situationstyp 345, 349, 359 Situations- und Hintergrundwissen 192 Spaltsatz 60-65 Sprachwissenschaft, realistische 1, 2, 7 Sperrsatz 60, 62 Sprecherkonsistenzannahme 15, 251, 254 Subordination 14, 74, 197, 217, 222, 226, 232-234

Nachstellung (engl, increment) 47-48 Nebensequenz 80, 85 Netzwerk 5, 16-17, 84, 176, 256, 263, 282, 284, 286, 295

Themenfokussierung 147 Topikalisierung 131-132

okay 18,349-359 on line-Syntax 66, 85 Operator 99, 104, 114, 116 Qrigo 100-119,264

Vagheit 248, 256, 260, 273-274 Verberwerb 93,95-96 Verbstellung 225, 233 Vorwurf 130-131, 141, 254, 277 Wortarten 94, 117, 161, 280, 326, 334

Paradigmatisierung 11,91, 100-111, 115116, 119 Parenthese 80, 267, 269, 283 Projektion / Projektabilität / projizierend 8, 10, 14, 17, 30-31, 34, 66-67, 72-73, 80, 84-85, 92, 163, 214, 218, 233-234, 251252, 259, 267, 293-294, 297, 302, 310, 332 Prosodie / prosodisch 4, 8, 10, 13-14, 1617, 31-38, 45, 65-66, 70, 73-76, 83-84, 138-139, 148, 153-154,160, 163-164, 166, 168, 174-175, 182, 187, 198-201, 205-206, 208, 223, 227-235, 241, 267280, 283, 285, 292, 298-299, 304, 308, 310, 312, 343, 347 Prototypentheorie 176 Prozesshaftigkeit 1