Ko-Konstruktionen in der Interaktion: Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen 9783839432952

The essays in this volume apply the linguistic concept of »co-construction« to the general analysis of social processes.

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German Pages 408 Year 2015

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Ko-Konstruktionen in der Interaktion: Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen
 9783839432952

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Ulrich Dausendschön-Gay, Elisabeth Gülich, Ulrich Krafft (Hg.) Ko-Konstruktionen in der Interaktion

Sozialtheorie

2015-09-16 15-29-52 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 00fb408808924634|(S.

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Ulrich Dausendschön-Gay, Elisabeth Gülich, Ulrich Krafft (Hg.)

Ko-Konstruktionen in der Interaktion Die gemeinsame Arbeit an Äußerungen und anderen sozialen Ereignissen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Hans Rudolf Ronning und Ute Dausenschön-Gay (Werther/Westf.). Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3295-8 PDF-ISBN 978-3-8394-3295-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Zu diesem Buch | 7

KO-KONSTRUKTION ALS KONZEPT UND ALS PERSPEKTIVE Zu einem Konzept von Ko-Konstruktion

Ulrich Dausendschön-Gay, Elisabeth Gülich, Ulrich Krafft | 21 Einige Überlegungen zur Herkunft und zum Anspruch des Konzepts der Ko-Konstruktion

Jörg Bergmann | 37 Positionspapier: Multimodale Interaktionsanalyse

Reinhold Schmitt | 43

KO-KONSTRUKTIONEN IN FORMULIERUNGS - UND TEXTHERSTELLUNGSPROZESSEN Ko-Konstruktionen im Gespräch: Zwischen Kollaboration und Konfrontation

Susanne Günthner | 55 Von Konstruktionen, Ko-Konstruktionen und Rekonstruktionen. Perspektiven auf Formen sprachlich-interaktiven Handelns

Martina Drescher | 75 Methodologische Überlegungen zur Analyse der Sprachenwahl als Ko-Konstruktion

Georges Lüdi | 97 Ko-Konstruktionen in der Schrift. Zur Unterscheidung von Face-to-Face-Interaktion und Textkommunikation am Beispiel des Editierens fremder Beiträge in einem Online-Lernforum

Heiko Hausendorf, Katrin Lindemann, Emanuel Ruoss, Caroline Weinzinger | 111 Die Ko-Konstruktion der Bedeutung in der kollaborativen Übersetzung

Teresa Tomaszkiewicz | 139

MULTIMODALE ANALYSEN VON KO-KONSTRUKTIONEN Das Sprechen im Rundfunk als interaktive Montage verschiedener Ressourcen

Lorenza Mondada | 157 Zur Ko-Konstruktion einer amüsanten Unterbrechung während einer argumentativen Auseinandersetzung

Nikolina Pustički, Reinhold Schmitt | 183 Multimodale Ko-Konstruktionen: gestische Lokaldeixis im Bauchraum

Susanne Uhmann | 209 Ko-Konstruktion in der Mensch-Roboter-Interaktion

Karola Pitsch | 229 »Gut, dann such dir mal jemanden für … dich« Räumliche Konfiguration von sozialen Beziehungen am Beispiel von Familien- und Systemaufstellungen

Frank Oberzaucher | 259

DOMÄNENSPEZIFISCHE ANALYSEN VON KO-KONSTRUKTIONEN Ko-Konstruktion in Erwachsenen-Kind-Interaktion: membership und der Erwerb von sprachlicher Kompetenz

Uta Quasthoff | 287 Implizites Beziehungswissen – ko-konstruiert

Ulrich Streeck | 313 Ko-Konstruktionen, alignment und interaction intelligence. Gedanken zum Zusammenhang zwischen Sprache, Kommunikation und Kognition

Barbara Frank-Job | 325 (Ko-?)Konstruktion in institutionellen Settings

Julia Sacher, Heike Knerich, Beate Lingnau | 349 Zur Ko-Konstruktion von Anfallsschilderungen in Arzt-Patienten-Gesprächen

Elisabeth Gülich, Ulrich Krafft | 373

AUTORINNEN UND AUTOREN

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Zu diesem Buch U LRICH D AUSENDSCHÖN -G AY , E LISABETH G ÜLICH , U LRICH K RAFFT

Besonders einprägsame Beispiele für Phänomene der Hervorbringung von Texten (oder Äußerungen), an der mehr als eine Personen beteiligt ist, finden wir in Situationen, in denen zwei Personen gemeinsam an einer Formulierung arbeiten, die in einen schriftlichen Text Eingang finden soll. So im folgenden Ausschnitt aus einem längeren Gespräch, in dessen Verlauf die beiden Protagonistinnen Sylvia und Birgit einen Teil ihrer gemeinsamen »Sozi-Hausarbeit« herstellen.1 Der Satz »Der Fragenkatalog für die Interviews wurde in die drei folgenden thematischen Bereiche unterteilt« ist das Ergebnis eines langen Aushandlungsprozesses über fast jeden seiner Bestandteile. Hier ein kurzer Ausschnitt, in dem es um die »thematischen Bereiche« geht, die in diesem Stadium der Texterarbeitung noch »Fragenkomplexe« heißen: B S B S B S B

((liest vor)) der fragenkatalog für die interviews wurde in die drei folgenden großen (---) oder übergreifenden also ich würde würd ganz gern einfach was mit themen (-) themen hm: thematischen joa (-) mhm ja das is besser ((liest vor)) in die drei folgenden ((schreibt)) thematischen (---) bereiche oder was hattest du jetz, fragenkomplexe unterteilt;

Mit dieser Art der gemeinsamen Arbeit an einer schriftlichen Formulierung haben wir eine Variante dessen vor uns, was in der jüngeren Forschung zur gesprochenen Sprache allgemein als »Ko-Konstruktion« bezeichnet wird. Etablieren konnte sich dieser Terminus ohne größere Probleme, seit die »construction grammar« in linguistischen und gesprächsanalytischen Kreisen intensiv diskutiert und interaktiv interpretiert wird. Beobachtungen zu den damit beschriebenen Phänomenen liegen natürlich schon länger vor, nur sind sie bislang anders benannt worden, etwa als »collaborative utterances«, als »co-énonciations«, oder als »gemeinsam vervollständigte Äußerungen«. In den Forschungsprojekten der Herausgeber dieses Buches zu deutschfranzösischen Kontaktsituationen haben seit Mitte der 1980er Jahre Beobachtungen zu Ko-Konstruktionen unter verschiedenen Gesichtspunkten eine wichtige Rolle ge-

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Solche und ähnliche Situationen des kollaborativen Schreibens haben uns vor geraumer Zeit in mehreren Projekten beschäftigt. Einige der damaligen Erkenntnisse sind nachzulesen in Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft (1992), Krafft/Dausendschön-Gay (1999), Krafft 2005.

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spielt.2 Es bot sich für uns daher an, zu diesem Gegenstandsbereich ein Kolloquium im Zen-trum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld zu veranstalten, in dem wir die seinerzeit bearbeiteten Aspekte von Textherstellung noch einmal aus heutiger Sicht, und speziell unter dem Aspekt Ko-Konstruktion, mit Kolleginnen und Kollegen diskutieren wollten, die uns über viele Jahre und manchmal auch Jahrzehnte wissenschaftlich begleitet und wohlwollend unterstützt haben. Die Diskussionen auf diesem Kolloquium haben eine große Bandbreite teilweise heterogener Aspekte erkennbar gemacht, die sich mit dem Terminus Ko-Konstruktion verbinden lassen. Wir haben uns daher dazu anregen lassen, intensiver darüber nachzudenken, ob nicht ein Konzept vorgeschlagen werden könnte, das die theoretische Klammer für Ansätze aus sehr unterschiedlichen Forschungsbereichen bildet. Das Ergebnis dieser Überlegungen ist im ersten Beitrag des Bandes nachzulesen, in dem wir uns bemühen, gemeinsames Formulieren, gemeinsames Gehen (wie auf dem Deckblatt dieses Bandes) oder gemeinsames Lernen in den konzeptionellen Kontext des »interactional achievement« zu stellen und damit »Ko-Konstruktion« als transdisziplinäres Konzept vorzuschlagen. Der nun vorliegende Band kann als Beleg dafür gelten, dass die Beiträgerinnen und Beiträger mit der Verwendung ihrer je spezifischen Lesart von »Ko-Konstruktion« ihre unterschiedlichen Erkenntnisinteressen gewinnbringend bereichern konnten. Aus der ursprünglichen Heterogenität der Ansätze ist somit im Laufe der Entstehung dieses Bandes eine anregende Vielfalt von Beiträgen innerhalb eines geteilten konzeptionellen Rahmens geworden. Das Buch hat vier Kapitel, jeweils mit Beiträgen verschiedener Autorinnen und Autoren, die dieser angesprochenen Vielfalt eine thematische Struktur geben. Das erste Kapitel versammelt Beiträge, die sich ausschließlich mit dem Konzept der Ko-Konstruktion beschäftigen; es wird eingeleitet von dem bereits oben erwähnten Versuch der Herausgeber, ein weites Konzept von Ko-Konstruktion zu entwerfen, mit dem unterschiedliche analytische Vorgehensweisen und die sie leitenden theoretischen Ansätze erfasst werden. Im Zentrum steht der Vorschlag, KoKonstruktion als analytische Perspektive zu sehen, die zusammen mit der bekannten Trias Koorientierung, Koordination und Kooperation geeignet ist, die in ihrer allgemeinen Formulierung sehr plausible, aber analytisch eher etwas unpräzise Theorie des »interactional achievement« zu operationalisieren, also in der konkreten Beschäftigung mit Daten methodisch kontrolliert anwendbar zu machen. Gleichzeitig wollen die Autoren verdeutlichen, dass die Phänomene, die mit »Ko-Konstruktion« bezeichnet werden sollen, auch ohne diesen Terminus und die mit ihm verbundenen Forschungsparadigmen früher schon die Aufmerksamkeit von Forscherinnen und Forschern erweckt haben. Allerdings soll dieser Teil des Aufsatzes nicht als Forschungsüberblick verstanden werden; diesen erhalten interessierte Leserinnen und Leser erst, wenn sie auch die einführenden Bemerkungen anderer AutorInnen des

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Elisabeth Gülich hat für die gemeinsame Arbeit an der Formulierung schon früh den Terminus »achèvement interactif« eingeführt (Gülich 1986), Dausendschön-Gay/Krafft (1994) haben die Phänomene unter dem Gesichtspunkte der Erwerbsrelevanz dieser Verfahren ausgewertet und mit dem Konzept des SLASS modelliert.

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Bandes gelesen haben, so insbesondere Drescher, Frank-Job, Günthner, sowie Hausendorf et al. Reinhold Schmitt ergänzt diesen ersten Beitrag des rahmenden Kapitels um wesentliche methodische und konzeptionelle Präzisierungen, die sich aus der von ihm vertretenen multimodalen Perspektive innerhalb der Gesprächsforschung ergeben. Seine Überlegungen beruhen auf der intensiven Beschäftigung mit Videodaten und sie erheben den Anspruch, dies mit einem eigenständigen methodologischen Ansatz zu tun, der sich sowohl analytisch als auch konzeptionell von der sprachbasierten (logozentrischen) klassischen Konversationsanalyse unterscheidet. Folgerichtig erläutert er seine Vorschläge an konkreten Beispielen aus Videodaten. Er kann von dort aus eine Reihe von relevanten Aufgaben formulieren, die für die Analyse derartiger Daten im Hinblick auf ko-konstruktiove Verfahren berücksichtigt werden sollten. Insofern kann Schmitts Beitrag als eine Ergänzung und Präzisierung des Herausgeberbeitrages vor allem in methodologischer Hinsicht gelten. Jörg Bergmann hingegen setzt sich mit dem Konzept der Ko-Konstruktion in grundlegender Weise kritisch auseinander. Er rekonstruiert die Quellen und entwickelt die theoretischen Zusammenhänge, die in der Ethnomethodologie dazu geführt haben, dass »Konstruktion« als ein nicht-individualistisches Konzept entwickelt worden ist: Es beschreibt die praktischen Leistungen der Teilnehmer an einem sozialen Ereignis, mit dem sie dessen »Geordnetheit« gemeinsam erzeugen. Ko-Konstruktion ist aus dieser Sicht ein überflüssiger Terminus, weil für jede Art der Konstruktion die gemeinsamen Leistungen der Handelnden konstitutiv sind. In den folgenden drei Kapiteln werden jeweils Beiträge zusammengestellt, die sich thematisch einem übergeordneten Interesse zuordnen lassen. In Kapitel 2 werden Ko-Konstruktionen auf der Ebene ihrer verbalen Hervorbringung und der dort zu beobachtenden Verfahren der gemeinsamen Herstellung untersuchen. Dies allerdings in sehr verschiedenen medialen Domänen und in divergenten Aktivitätszusammenhängen. Einige Beiträge sind stärker auf grammatische Fragestellungen fokussiert, andere stellen Fragen der Zusammenhänge zwischen medialer Übermittlung und sprachlicher Gestaltung ins Zentrum, wieder andere gehen besonders auf die Bedingungen mehrsprachiger Kommunikation ein. In jedem Fall aber geht es um die funktionale Bedeutung von ko-konstruktiven Verfahren, nicht allein um ihre Beschreibung und Klassifikation. In mehreren Beiträgen dieses Buches (u. a. Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft, Frank-Job) wird neben vielen anderen auch die Frage gestellt, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit es zu beobachtbaren Phänomenen der Ko-Konstruktion kommt. Susanne Günthner konzentriert sich auf den Gegenstandsbereich der grammatischen Konstruktionen im Kontext interaktiven Handelns. Dementsprechend referiert ihre Antwort auf die Frage nach den Voraussetzungen auf grundlegende Überlegungen Tomasellos zu gemeinsam fokussierter Aufmerksamkeit, zu Perspektivenübernahme und zu der Fähigkeit zur Interpretation von Handlungsintentionen. Sie kann darlegen, dass dieser interaktionistische Rahmen bestimmend ist für die wesentlichen Forschungsarbeiten zur gemeinsamen Hervorbringung von Äußerungen; in ihrem prägnanten Forschungsbericht dazu ergänzt sie dabei die diesbezüglichen Ausführungen im Beitrag der Herausgeber. Gerade der letzte der von Tomasello ge-

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nannten Punkte ist für ihre eigenen Analysen zentral, geht es doch darum zu zeigen, wie und mit welchen konversationellen Konsequenzen unvollständige Äußerungen eines Gesprächspartners von einem anderen so vervollständigt werden, dass die syntaktischen Projektionen zwar erwartungsadäquat erfüllt, die inhaltlichen Projektionen aber gerade in ihr Gegenteil verkehrt werden. Spielerischer Umgang mit diesen Umdeutungen ermöglicht den Beteiligten, dennoch von der Hypothese auszugehen, dass damit ein kollaborativer Beitrag zum Fortgang des Gesprächs gemacht wird; allerdings bergen solche Verfahren der »absichtlichen Fehldeutung« auch ein nicht unerhebliches Konfliktpotential, wenn damit vor allem eigene (argumentative) Interessen verfolgt werden. Susanne Günthner gelingt es auf diese Weise zu verdeutlichen, dass die »Grammatik« der sprachbasierten Ko-Konstruktionen sowohl auf der Ebene der Erfüllung syntaktischer Projektionen als auch auf der Ebene gesprächsrhetorischer Strategien zu verorten ist. Auch Martina Drescher ergänzt den Beitrag der Herausgeber um wichtige Einzelheiten der Forschungssituation im Kontext von Arbeiten zu constructions und KoKonstruktionen, die in früheren Untersuchungen nicht unter dieser Bezeichnung bearbeitet worden sind. Ihr Fokus liegt dabei auf verbalsprachlichen Aspekten von Äußerungen und Äußerungswiederholungen (Redewiedergaben), denen sie im Analyseteil an einem Corpus von Rundfunksendungen nachgeht. Sie unterzieht zunächst das Konzept der Ko-Konstruktion einer kritischen Prüfung. So wie es im Beitrag der Herausgeber definiert wird, als gemeinsames Handeln der Interaktanten auf ein Ziel hin, kommt es dem Schegloffschen interactional achievement sehr nahe. Ko-Konstruktion wäre dann ein „grundlegendes, jede Interaktion prägendes Prinzip“ (s. dazu auch Bergmann i.d.Bd). Viel schärfer konturiert wäre das Konzept, wenn man ›Konstruktion‹ im Sinne der Konstruktionsgrammatik verstehen könnte. Es ist aber fraglich, ob und wie sich dieser kognitionslinguistische Begriff in den interaktionslinguistischen Untersuchungsrahmen einpassen lässt. Diese Fragestellung lotet die Autorin im ersten, theoretischen Teil ihres Beitrags aus. Gegenstand des zweiten, empirischen Teils ist eine Sendung aus dem kamerunischen Rundfunk, in der Hörer ihre Probleme darstellen und Rat suchen. Analysiert werden insbesondere Zuhöreraktivitäten, Formulierungsroutinen und die Rekonstruktion der Problemdarstellung. Die Verfasserin stellt das Konzept einer zeitlich gestreckten Ko-Konstruktion zur Diskussion. Belegfälle wären die Emergenz von Formulierungsroutinen und die bei der Rekonstruktion fremder Rede beobachtbare Polyphonie. Am Beispiel des Gesprächs zwischen einer Portugiesischen Patientin und einem deutschsprachigen Arzt entwickelt Georges Lüdi die sehr komplexe Fragestellung, wie es den beiden Protagonisten gelingt, die Beschreibung von Symptomen gemeinsam zu erarbeiten, obgleich beide über keine gemeinsame Kommunikationssprache verfügen. Das Sachproblem ähnelt dem, das im Beitrag von Elisabeth Gülich und Ulrich Krafft Gegenstand der Untersuchung ist, nämlich der kollaborativen Erarbeitung der Beschreibung einer körperlichen/psychischen Beschwerde, für die aus verschiedenen Gründen die sprachlichen Darstellungsmittel erst erarbeitet werden müssen. Georges Lüdi interessiert sich dabei vorrangig für die Verfahren der Sprachenwahl, die dann bei der gemeinsamen Formulierung eines Sachverhalts zum Problem wird, wenn von einer »extremen exolingual-mehrsprachigen Situation« gesprochen werden kann. Insofern kann sowohl auf der Ebene der Symptombeschreibung als auch auf der Ebene der Mobilisierung mehrsprachiger Ressourcen durch die Gesprächsteil-

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nehmer von Ko-Konstruktionen gesprochen werden. Lüdis Beitrag schärft den Blick dafür, dass zu den Bedingungen gemeinsamen Formulierens auch die Bereitstellung und/oder Erarbeitung sprachlich-kommunikativer Grundvoraussetzungen gehören, die in endolingual-einsprachigen Settings nicht in den analytischen Fokus geraten, weil die Gesprächsteilnehmer sie als unproblematisch behandeln. Lüdi reichert seine Analysen zu Gesprächsdaten mit Ausschnitten aus Interviews mit Personen an, die sich zu ihren Praktiken der mehrsprachigen Rede äußern; der Methodenmix aus Gesprächsanalyse und Diskursanalyse ist geeignet, genauere Erkenntnisse zu den untersuchten Phänomen zu gewinnen. Hausendorf et al. definieren Ko-konstruktion als das Fortführen einer nicht beendeten Redeeinheit durch einen anderen Sprecher, so dass eine von zwei (oder mehr) Sprechern kokonstruierte Redeeinheit entsteht (zu dieser engen Definition von Kokonstruktion vgl. auch Günthner, Drescher). Die so verstandene Ko-konstruktion ist an die Ko-Präsenz der Partner in der Interaktion gebunden und ist damit ein Phänomen der mündlichen Kommunikation. Ein konstitutives Merkmal schriftlicher Kommunikation ist dagegen die strenge Trennung von Schreiber und Leser: Der Schreiber kann nicht einmal wissen, ob das, was er schreibt, gelesen wird, und der Leser hat keine Möglichkeit, ins Schreiben einzugreifen. Bedingung der Kommunikation ist hier nicht Kopräsenz, sondern Lesbarkeit. Somit kann es in der schriftlichen Kommunikation keine Ko-konstruktion im Sinne der mündlichen Kommunikation geben. Nun bieten aber die elektronischen Medien neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Zunächst bildet etwa E-Mail-Kommunikation die Brief-Kommunikation ab: Es ist ein Folge von Texten, die jeweils eindeutig einem Autoren zugeordnet sind und die auf Lektüre und Antwort warten. Es gibt aber auch Systeme, in denen es möglich ist, ein eigenes oder fremdes Posting zu „editieren“, d.h., es nachträglich zu verändern, ohne dass diese Veränderung vom System kenntlich gemacht würde. Es entsteht ein neuer Text, aus dem nicht zu ersehen ist, wie der ursprüngliche Text lautete und wer wo womit eingegriffen hat. Diese Veränderungen geschehen auf ein gemeinsames Ziel hin (im analysierten Beispiel geht es darum, eine Entscheidung zu treffen). Daher sprechen die Verfasser von einer „Verdichtung“ der Texte, und sie sehen hier einen „Kandidaten“ für eine Ko-Konstruktion in der Schrift: ein besonderes Verfahren der schriftlichen Kommunikation, mit dem zwei oder mehrere Schreiber ein gemeinsames Ziel verfolgen. Übersetzen ist, genau wie Schreiben, eine einsame Tätigkeit, es sei denn, man bittet mehrere Übersetzer, einen Text in Zusammenarbeit zu übersetzen. In einer solchen »kollaborativen Übersetzung« werden die TeilnehmerInnen die einzelnen Arbeitsschritte für und mit ihren PartnerInnen laut vollziehen, sie bei Gelegenheit auch diskutieren. Sie dokumentieren ihre Arbeit, so dass man den Übersetzungsprozess rekonstruieren kann. Diese Rekonstruktion ist das erste Interesse von Teresa Tomszkiewicz. Sie beobachtet minutiös, wie 2 Dyaden von Übersetzerinnen einen Französischen Text ins Polnische bringen. Wie erhofft diskutieren die Übersetzerinnen ihr Vorgehen und helfen sich gegenseitig beim Verstehen des schwierigen Ausgangstextes und beim Formulieren des Zieltextes, der damit als Ergebnis einer Kokonstruktion erscheint. Verf. unterscheidet verschiedene Arbeitsphasen, in denen die Probanden spezifische Verfahren anwenden. Besonders schwer zu fassen, in diesen Interaktionen aber deutlich identifizierbar ist die Phase der Deverbalisierung, der geheimnisvolle Übergang vom Verstehen zum Formulieren. Ein zweiter Schwerpunkt

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der Beobachtungen und Überlegungen gilt dem Unterschied zwischen den beiden Übersetzerinnen-Dyaden, fortgeschrittene Studentinnen und professionellen Übersetzerinnen. Der Vergleich zeigt, welche Kompetenzen zu entwickeln sind und legt damit Konsequenzen für die Didaktik der Übersetzung nahe. In Kapitel 3 stehen nach den medialen Aspekten des vorangehenden Kapitels nunmehr multimodale Analysegesichtspunkt im Mittelpunkt des Interesses. Dies führt dazu, dass sprachliche Verfahren teilweise in den Hintergrund treten und Zeigeaktionen, Körperkoordinierungen oder mimisch-gestische Beschreibungsaspekte als gleichberechtigte Ressourcen konzipiert und analysiert werden. Für das Konzept der Ko-Konstruktion bzw. des Ko-Konstruierens bedeutet dies, dass es nicht mehr ausschließlich die gemeinsame Formulierungsarbeit der Beteiligten modelliert, sondern alle Formen des gemeinsamen Handelns einschließt, sofern die Koproduzenten ihre Orientierung auf ein anzustrebendes Ziel der Interaktion sich gegenseitig erkennbar machen. Lorenza Mondada untersucht Ausschnitte aus einer Rundfunksendung, einer Magazinsendung mit zwei Moderatoren zum Thema »Coming out«. Was der Radiohörer als zwangloses Gespräch zwischen den Moderatoren und wechselnden Interviewpartnern wahrnimmt, ist in Wirklichkeit Ergebnis eines komplexen Prozesses, in dem die Moderatoren, während Musik gespielt wird, die folgende Anmoderation interaktiv konstruieren. Dabei nutzen sie, wie die Video-Aufnahmen aus dem Studio zeigen, vielfältige Ressourcen: von der Redaktion bereitgestellte Texte, das Internet, Ideen, die sie im Dialog äußern, weiterentwickeln werden und notieren, Musik, die gerade gespielt wird, das vorproduzierte Interview. Sie kommen so zu einem gemeinsamen Entwurf der Anmoderation, den sie mit professioneller »Spontaneität« dialogisch umsetzen, wobei sie sich mimisch und gestisch über den Ablauf verständigen und in den sie auch das vorproduzierte Interview einbinden. Die Verfasserin rekonstruiert die Kokonstruktionsprozesse und widmet sich dabei insbesondere dem Konzept der »Ressource«: Ressourcen finden sich nicht als solche vor; vielmehr können die Interaktanten neben Texten und sprachlichen Fragmenten alle Elemente ihrer Umgebung und ihren eignen Körper (Mimik, Gestik) für die Konstruktion des Produkts nutzen und damit zur Ressource machen. Das Erkenntnisinteresse, mit dem Ko-Konstruktionen in den Fokus der multimodalen Interaktionsanalyse genommen werden, so präzisieren Nikolina Pustički und Reinhold Schmitt in ihrem Beitrag, sucht nach der spezifischen Art der sozialen Beziehung, die mit ihrer Hilfe zwischen Beteiligten hergestellt und angezeigt werden, nämlich die Beteiligung an einem gemeinsamen Projekt und »die kollektive Relevantsetzung thematischer oder pragmatischer Aspekte« (Schmitt, i.d.Bd.:13). An kokonstruierten Äußerungen lässt sich das gut darstellen, wie das vorige Kapitel gezeigt hat. Ereignisse mit geringer oder gänzlich abwesender Bedeutung verbalsprachlicher Elemente für das Zustandekommen der Sinnkonstruktion hingegen stellen eine zusätzliche Herausforderung dar, weil sie das Zusammenspiel der diversen symbolischen Ressourcen analytisch fassen und interpretativ auswerten müssen. Mit diesem Anspruch können die Verfasser die Unterbrechung eines Konfliktgesprächs zwischen einem Ausbilder und vier Auszubildenden durch einen hinzukommenden Kollegen schrittweise auf verschiedenen Ebenen untersuchen. Sie können zeigen, dass und wie

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eine personelle Konstellation allmählich instabil wird, eine neue Konstellation parallel dazu ›emergiert‹, und die zunächst gebildete Gesprächsgruppe sich nach und nach vollständig in die neue Situation integriert. Allerdings nur kurzfristig und vorübergehend, denn ganz im Sinne einer klassischen ›Nebensequenz‹ beenden die Beteiligten die Unterbrechung, indem sie in die Ausgangssituation zurückkehren und die argumentative Auseinandersetzung des Konfliktgesprächs an der Stelle fortsetzen, an der sie es vorher verlassen hatten. Der Unterbrecher, der unfreiwillig Gegenstand und Akteur einer spaßigen Vergesellschaftungssequenz geworden ist, verlässt indes den Ort des Geschehens und geht seiner Wege. Die soziale Qualität dieses ko-konstruierten Ereignisses liegt für die Gruppe in der Möglichkeit, den aktuellen Konflikt durch die sich zufällig ergebende gemeinsame Belustigung zu entschärfen, ohne dabei den Kern der Auseinandersetzung zu berühren; es geht also nicht um die Bearbeitung der ausgetauschten Argumentationen, sondern um die Herstellung und Bestätigung einer spezifischen Qualität der sozialen Beziehung zwischen den Akteuren. Der Ablauf des Geschehens ist gleichzeitig geeignet, die hierarchischen Beziehungen in der Gruppe erkennbar zu machen (aus der Sicht der Analytiker) bzw. zu reproduzieren (aus der Sicht der Beteiligten). So kann der Beitrag von Schmitt/Pustički den Anspruch einlösen, die soziale Dimension des Konzepts der Ko-Konstruktionen herauszuarbeiten und es damit deutlich zu erweitern. Prototypische Beispiele von Ko-Konstruktionen im engeren Sinne sind zweifellos die von Harvey Sacks so genannten »collaboratively built sentences«, auf die in vielen Beiträgen vor allem des zweiten Kapitels referiert wird. Susanne Uhmann plädiert in ihrem Beitrag dafür, auch multimodal komplexe kommunikative Gestalten, die aus verbalen und nicht-verbalen Anteilen in je spezifischer Zusammensetzung bestehen, als gemeinsam produzierte Einheiten in diesem Sinne zu verstehen. Theoretisch fundiert sie dies in einer kritischen und eigenständigen Auseinandersetzung mit dem multimodalen Ansatz der Interaktionsanalyse im Kontext der Beschäftigung mit Studies of Work. Analytisch plausibilisiert sie ihren Ansatz an Videomaterialien aus dem Operationsaal, die während laparoskopischer Eingriffe entstanden sind. Die speziellen Bedingungen der Koorientierung und der gegenseitigen Beobachtbarkeit der Beteiligten bringen es mit sich, dass sprachliche Deixis vom Typ »da« und »hier« nur im Zusammenhang mit Zeigegesten »im Bauchraum« desambiguiert werden kann; die Zeigegesten werden dabei mit multifunktional einsetzbaren OP-Instrumenten vorgenommen, die als semiotische Ressourcen im Zusammenhang einer »social practice« eingesetzt werden. Uhmann kann deutlich machen, dass verbale und gestische Züge so sequenziell organisiert werden, dass sie insgesamt die Aufgabe der Lokaldeixis übernehmen und dies in einer Weise, für die das Konzept der Ko-Konstruktion einen geeigneten deskriptiven Rahmen bereitstellt. Der Beitrag komplettiert die Arbeiten zur multimodalen Analyse um den in dieser Weise wenig bearbeiteten Gegenstand der Lokaldeixis, und dies an Daten aus einer Arbeitssituation, die von extremen Einschränkungen der alltäglich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Organisation des »interactional achievement« gekennzeichnet ist. Die Daten, die als Grundlage des Beitrages von Karola Pitsch dienen, unterliegen ebenfalls starken kommunikativen Einschränkungen; hier jedoch wegen der nur unvollständig entwickelten Handlungskompetenz eines der Beteiligten. Der Roboter NAO soll Museumsbesuchern Erklärungen über Kunstwerke anbieten, die sich an den Wänden des Raums befinden, in dem Nao gut sichtbar installiert ist. Er wendet

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sich erst dann an Besucher, wenn sie in seinem engeren Blickfeld auftauchen und wenn er ihr Verhalten als kommunikationsbereit interpretiert. Er übernimmt dann die Initiative zur Gesprächseröffnung, alle folgenden Aktivitäten seinerseits sind aber wesentlich durch die Programmierung vorgeplant und emergieren nicht aus den spezifischen Bedingungen des jeweiligen Settings, das sich mit jeder Besucherin verändert. Für die vergleichenden Analyse verschiedener Datenstücke aus dem Korpus versteht die Autorin den kommunikativen Austausch zwischen Menschen und Roboter als Interaktionssystem, für dessen Verständnis es vor allem darum geht, die Beiträge der Beteiligten in ihrem funktionalen Wert für das Zustandekommen einer Verständigung zu erfassen. Dies kann vor allem am Beginn einer Interaktion deutlich gemacht werden, in deren Verlauf die menschlichen Partner Hypothesen über die Handlungskompetenzen NAOs entwickeln und ihr eigenes Verhalten darauf abstellen. Es erweist sich, dass die Beschäftigung mit dieser Art von Daten unter der Perspektive der gemeinsamen sozialen Praxis eine interessante Herausforderung für die Interaktionsanalyse darstellt, vor allem im Hinblick auf die Organisation von Anschlusserwartungen und Anschlusshandlungen. Dabei scheinen kommunikative Vorerfahrungen der menschlichen Beteiligten mit »Brechungen der Handlungslogik« eine wichtige Rolle zu spielen. Für die Forschungen zur Mensch-Roboter-Interaktion bietet es sich an, nicht die »Defizite« des Roboters durch angemessene Implementierungen zu beseitigen, sondern auch Bedingungen herzustellen, unter denen am Beginn des kommunikativen Austausches die Art und die Qualität seiner möglichen Beiträge zum interaktiven Geschehen erkannt und berücksichtigt werden können. In den Daten aus psychotherapeutischen Gesprächen, die in den Beiträgen von Sacher et al. und von Gülich/Krafft analysiert werden, erarbeiten die Beteiligten Äußerungen und komplexe Darstellungen wesentlich auf der sprachlichen Ebene und stellen sie sich gegenseitig für die weitere Behandlung zur Verfügung. In den Familienaufstellungen, die im Beitrag von Frank Oberzaucher zum Gegentand gemacht werden, wird hingegen die Positionierung von Personen im Raum zur Darstellung von (Problemen in) sozialen Beziehungen ko-konstruiert; sie ist das Ziel eines Teils des interaktiven Geschehens, und gleichzeitig Grundlage für die weiteren Schritte einer möglichen Behandlung. Damit wird eine der Grundmodalitäten interaktiven Handelns aus dem multimodalen Setting isoliert und die analytische Bearbeitung in besonderer Weise zugänglich. Oberzaucher verfolgt in seiner Darstellung das Geschehen in einer Aufstellung in den wesentlichen Schritten (Formulieren des Anliegens, Wahl der Stellvertreter, Positionierung, Rollenverteilung und Auswertung des Rollenspiels) und arbeitet dabei vor allem den für die Methode spezifischen Wechsel von sprachorientierten und sprachfreien Phasen heraus, in denen die körper- und raumbezogenen Modalitäten Sinn erzeugende Funktionen verstärkt übernehmen. Auch in diesem stark konventionalisierten und durch die methodischen Prinzipien der Aufstellung »überformten« Setting kann gezeigt werden, dass die Perspektive der Ko-Konstruktion wesentliche Orientierungen der Beteiligten analytisch rekonstruierbar macht. Eine zusätzliche Fokussierung auf den Aufstellungsleiter kann darüber hinaus Aspekte des professionellen Handelns und der notwendigen Kompetenzen in den Blick nehmen, die auch im Beitrag von Uhmann durch die Hinweise auf die ›community of practice‹ im Operationssaal thematisiert wurden. Die ungleiche Verteilung der Kompetenzen für die Durchführung der Aufstellung und die verschiedenen Typen von Expertise machen dieses Setting zu einem besonders interessanten

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Untersuchungsfeld für ethnographische Studien, so wie Oberzaucher sie mit methodischer Klarheit vorgestellt hat. Die Beiträge in Kapitel 4 können zeigen, dass das Konzept der Ko-Konstruktion auch für die Bearbeitung von Fragestellungen in unterschiedlichen Handlungsdomänen neue Perspektiven eröffnet. Das gilt für die Fragen der interaktiven Entfaltung von Prozessen des Erwerbs von Diskurskompetenzen oder die Entwicklung des Beziehungswissens bei Kleinkindern; neue Einsichten ergeben sich für die psycholinguistische Interpretation der Voraussetzungen, die bei der Produktion von Ko-Konstruktionen bei den beteiligten Interaktanten erfüllt sein müssen; und auch die Erkenntnisse über die gemeinsame Erarbeitung von Verbalisierungen schwer formulierbarer Erlebnisse werden bereichert durch die Nutzung des Konzepts der Ko-Konstruktion in lokaler und in prozessualer Perspektive. Dem Stichwort »Kommunikation unter erschwerten Bedingungen«, in denen ›accounts‹ für kommunikative Probleme verstärkt beobachtbar sind, lassen sich mehrere Beiträge zuordnen: Lüdi bearbeitet Daten aus mehrsprachigen Settings, in Sacher et al. und in Gülich/Krafft werden Gesprächsausschnitte aus therapeutischen Gesprächen untersucht, Streeck wendet sich den mimisch-gestischen Aspekten von Interaktionen zwischen Babies und ihren Bezugspersonen zu. Die Erschwernis liegt jeweils im gestörten oder zumindest nicht unproblematischen Zugang zu sprachlichen Ressourcen, mit denen Sachverhalte dargestellt oder belastende Erlebnisse beschrieben werden können. In Uta Quasthoffs Arbeit ist der Grund für auftretende Schwierigkeiten hingegen in Kompetenzunterschieden zu suchen, die sich auf Diskurs- und Gattungswissen beziehen und die, wie die Gesprächsausschnitte zeigen, konstitutiv für Kind-Erwachsenen-Interaktionen sind, für die Ko-Konstruktionen eine spezifische Rolle spielen. Sie bieten einen analytischen Zugang zu den Verfahren, mit denen Kindern Kompetenzen zuerkannt werden oder mit denen sie durch die Zuweisung oder Verweigerung von konversationellen Rechten als Nicht-Member kategorisiert werden. Quasthoff kann in ihren Analysen zeigen, und in ausführlichen Kapiteln theoretisch fundieren, dass diese Verfahren einer der wesentlichen Motoren für Entwicklungsprozesse von Kindern auf dem Weg zu anerkannten Mitgliedern von Diskursgemeinschaften sind. Dies trifft auch dann zu, wenn die den Kindern zuerkannten Beteiligungsformate stark eingeschränkt werden. Eine der zentralen Schlussfolgerungen aus solchen Überlegungen ist die Bestätigung und weitere Präzisierung der Annahme soziokognitiver Ansätze, dass Erwerb und Entwicklung Ereignisse in der Interaktion sind, also in diesem weiten Sinne als Prozesse der Ko-Konstruktion von Rolle und Kompetenz verstanden werden müssen. Erst eine methodisch reflektierte Kombination aus Gesprächsanalyse und interaktionistischen Entwicklungstheorien kann derartige Untersuchungen ermöglichen und die dafür notwendigen theoretischen Grundlagen zur Verfügung stellen – genau dies leistet der Beitrag Uta Quasthoffs in Richtung weisender Stringenz. Am Beispiel des still-face-Experiments kann Ulrich Streeck in seinem Beitrag zeigen, dass schon im vorsprachlichen Alter Babies über ein Wissen über Interaktionssequenzen verfügen, das sich nicht nur in Erwartungen über nächste Handlungen (von Seiten der Erwachsenen) manifestiert, sondern sich auch im Verhalten des Kindes, wenn erwartete nächste Handlungen ausbleiben. Routinisierte Baby-MutterSequenzen können also als multimodale Ko-Konstruktionen ohne obligatorische ver-

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balsprachliche Anteile beschrieben werden. Streecks Untersuchung ist daher anschlussfähig an die Beiträge im 3. Kapitel, wegen der Orientierung auf die (früh) kindliche Entwicklung aber auch an den Artikel von Quasthoff. Anders als in den gesprächsanalytischen Arbeiten formuliert er seinen Ausgangspunkt jedoch aus der Perspektive der Psychoanalyse und Psychotherapie: wie kommt es zu den oben beschriebenen Erwartungen und Verhaltensänderungen bei Kleinkindern? Psychologische Forschungen bieten dazu das Konzept des »impliziten Beziehungswissens« an, mit dem eine genetische Disposition für die Angleichung des eigenen Verhaltens an die (musterorientierten) Handlungen von Bezugspersonen beschrieben wird, die sich bereits im frühkindlichen Alter offenbart. Mit diesem Verhalten ist gleichzeitig ein Verfahren aktualisiert, mit dem das Kleinkind seine Interpretation der Beziehung zu der anwesenden Person anzeigt – ganz im Sinne der Ethnomethodologie. Die Anwendung gesprächsanalytischer Methoden ermöglicht im Streeckschen Ansatz, diese Annahme durch konkrete Datenanalysen zu plausibilisieren. Sie ist auch geeignet, der Frage nachzugehen, ob diese Erkenntnisse auf die therapeutische Beziehung zwischen Erwachsenen übertragen werden können und ob therapeutische Ereignisse das implizite Beziehungswissen verändern können. Das Ergebnis dieser Überlegungen lässt sich in dem Statement resümieren, dass das therapeutische Geschehen kokonstruiert ist und dass in ihm die jeweiligen Interpretationen der Beziehung gegenseitig »accountable«, und damit auch veränderbar gemacht werden. In mancher Hinsicht schließt der Beitrag von Barbara Frank-Job an die Ausführungen Susanne Günthners an, denn auch ihr geht es um die Frage nach den Voraussetzungen für das Zustandekommen von ko-konstruierten Äußerungen. Sie betont ebenfalls, dass die Möglichkeit der Entstehung von gemeinsam hervorgebrachten Konstruktionen nur mit sozial konventionalisierten Erwartungen, sowie dem ihnen zugrundeliegenden Diskurswissen, über situativ und pragmatisch angemessene Äußerungsformen erklärt werden kann. Dabei liegt ihr besonders daran, zwei unterschiedliche Forschungsansätze miteinander zu verbinden. Einerseits macht sie Erkenntnisse aus der (teilweise »interaktionistisch« argumentierenden) Psycholinguistik für die Erklärung des Zustandekommens von Ko-Konstruktionen nutzbar. Andererseits entwickelt sie aus der Analyse einer Kollektion von deutschen und französischen Corpusbeispielen, die sie aus experimentellen und aus alltagsweltlichen Gesprächen gewinnt, Fragestellungen zum Phänomen der gemeinsamen Hervorbringung von Äußerungen, die in der Psycholinguistik üblicherweise eine eher untergeordnete Rolle spielen. Sie konstituiert Ko-Konstruktionen auf diese Weise als transdisziplinäres Problem, dessen Bearbeitung und Lösung auf der Ebene der Untersuchung gesprochener Sprache ein aufgeklärtes Grammatikverständnis erfordert, und auf der Ebene der Modellierung kognitiver Operationen bei der Sprachproduktion die Berücksichtigung derjenigen Bedingungen, die gemeinsames (Sprach)Handeln ermöglichen. Sie exemplifiziert die Gesamtproblematik an Gesprächsdaten, in denen sie aufzeigen kann, wie Anschlüsse an Teilformulierungen von einem anderen Sprecher getätigt werden können, der dazu neben der Interpretation des bereits Geäußerten auch eine Annahme über geteiltes sprachliches und diskursives Wissen machen muss, das wegen der hohen zeitlichen Ansprüche in der konkreten Äußerungsproduktion als weitgehend routinisiert zu konzipieren ist. Julia Sacher, Heike Knerich und Beate Lingnau nähern sich dem Thema Ko-Konstruktion gleichsam ex negativo. Sie suchen nämlich nicht nach Fällen von

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Ko-Konstruktion, sondern nach belegbarer Abwesenheit von ko-konstruktiven Aktivitäten. Ihre Beispiele finden sie in institutionellen Settings (narratives Interview, Anamnesegespräch, Schulunterricht), in denen die Rollenverteilung jeweils einem der Partner interaktive Zurückhaltung auferlegt: Der Interviewer, der Arzt, der Schüler sollen rollengemäß dem Interviewten, dem Patienten, dem Lehrer die Initiative und das Wort überlassen. Nun gibt es aber Situationen, in denen dem zurückhaltenden Partner Aktivität abverlangt wird. Für die Verfasserinnen stellen Bewertungen eine solche Situation her, indem sie nämlich Gegenbewertungen einfordern. Unterbleiben diese, dann kann der bewertende Partner diese Abwesenheit markieren, z.B. durch Aktivitäten, die die fehlende Gegenbewertung kompensieren. Damit stellt sich ein interessantes methodisches Problem: Hat man es hier einfach mit fehlender KoKonstruktion zu tun, oder kann man die kompensatorischen Aktivitäten als ›accounts‹ dafür bewerten, dass Ko-Konstruktion an dieser Stelle erwartbar und angemessen wäre? Elisabeth Gülich und Ulrich Krafft untersuchen ein besonderes Korpus, nämlich Anamnesegespräche, in denen festgestellt werden soll, ob Anfallskranke an Epilepsie oder an einer nicht-epileptischen Anfallserkrankung leiden. In diesen Gesprächen legen sich die Ärzte äußerste kommunikative Zurückhaltung auf: Die Patienten sollen die Gesprächsführung übernehmen, ihre eigenen Relevanzen setzen und das Gespräch strukturieren. Trotz dieser Zurückhaltung kann man eine große Zahl von kokonstruktiven Aktivitäten beobachten. Die Verfasser versuchen in einem ersten, typologisch angelegten Analyseteil eine Bestandsaufnahme dieser Ko-Konstruktionen. Im zweiten Teil werden zwei Fallbeispiele kontrastiert. Dabei zeigt sich, dass die Ärzte trotz ihrer Zurückhaltung stark an der Beschreibung der subjektiven, eigentlich kaum mitteilbaren Anfalls-Erlebnisse der Patienten beteiligt sind. Allerdings werden ihre ko-konstruktiven Angebote von den Patienten sehr unterschiedlich aufgenommen und genutzt. Diese unterschiedliche Fähigkeit zur Ko-Konstruktion korrespondiert mit anderen kommunikativen Verhaltensweisen der Patienten und kann wie diese diagnostisch genutzt werden. Die Verfasser nutzen ihre Untersuchung, um das in Dausendschön-Gay/Gülich/ Krafft (i.d.Bd.) vorgestellte »weite« Konzept von Ko-Konstruktion zu erproben. Sie schlagen zwei Präzisierungen vor: Ko-Konstruktion muss als ein graduelles Phänomen begriffen werden, zwischen »maximaler« Ko-Konstruktion, in der beide Partner an Formulierung und Ausarbeitung der Inhalte gleichen Anteil haben, und einem unklaren Randbereich, in dem schwer zu entscheiden ist, ob überhaupt eine KoKonstruktion vorliegt. Weiterhin schlagen sie vor, zwischen gelingenden und misslingenden Ko-Konstruktionen zu unterscheiden. Ko-Konstruktionen finden dort statt, wenn ein Ko-Konstruktionsangebot angenommen und erfolgreich umgesetzt wird. Die in diesem Band entwickelten Analysen und Interpretationen verstehen die Herausgeber als den möglichen Beginn einer intensiveren Beschäftigung mit KoKonstruktionen in einem erweiterten, transdisziplinären Zusammenhang. Wir hoffen, auch andere Forscherinnen und Forscher für diesen erweiterten Ansatz zu interessieren und ihre Arbeiten für die Entwicklung dieser neuen Perspektive anzuregen. Bielefeld, im August 2015

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L ITERATUR Dausendschön-Gay, Ulrich/Gülich, Elisabeth/Krafft, Ulrich (1992): »Gemeinsam schreiben. Konversationelle Schreibinteraktionen zwischen deutschen und französischen Gesprächspartnern«, in: Hans P. Krings/Gerd Antos (Hg.), Textproduktion. Neue Wege der Forschung, Trier: Wissenschaftlicher Verlag, S. 219255. Dausendschön-Gay, Ulrich/Krafft, Ulrich (1994): »Analyse conversationnelle et recherche sur l’acquisition«, in: Bernard Py (Hg.): L’acquisition d’une langue seconde. Quelques développements théoriques récents = Bulletin suisse de linguistique appliquée 59, S. 127-158. Gülich, Elisabeth (1986): »L’organisation conversationnelle des énoncés inachevés et de leur achèvement interactif en ›situation de contact‹«, in: DRLAV Revue de Linguistique 34-35, S. 161-182. Krafft, Ulrich/Dausendschön-Gay, Ulrich (1999): »Système écrivant et processus de mise en mots dans les rédactions conversationnelles«, in: Langages 134 (Themenheft »Interaction et langue étrangère«), S. 51-67. Krafft, Ulrich (2005): »La matérialité de la production écrite: les objets intermédiaires dans la rédaction coopérative de Paulo et Maïté«, in: Robert Bouchard/ Lorenza Mondada (Hg.), Les processus de la rédaction collaborative, Paris: L’Harmattan, S. 55-90.

Ko-Konstruktion als Konzept und als Perspektive

Zu einem Konzept von Ko-Konstruktion U LRICH D AUSENDSCHÖN -G AY , E LISABETH G ÜLICH & U LRICH K RAFFT

1. D AS K ONZEPT DER K O -K ONSTRUKTION : E RSTE D EFINITION Gespräche sind unberechenbar. Zwar haben die Interaktionspartner aus ihrer Erfahrung gespeiste Erwartungen zum Gesprächsverlauf, doch kann jede Äußerung dem Gespräch eine überraschende Wendung geben, wodurch das Gespräch erfreulicher oder unerfreulicher, erfolgloser oder erfolgreicher, kürzer oder länger wird. Bei aller prinzipiellen Unsicherheit hat aber jeder Teilnehmer ein Gefühl dafür, wie weit die Interaktion gediehen ist; insbesondere »weiß« er, wann er sie abschließen, wann er ein Gespräch beenden kann. Oft ist dieses Urteil sehr gut nachvollziehbar: Wenn Bekannte in der Straßenbahn einen kleinen Schwatz beginnen, wissen sie, dass sie an einer bestimmten Haltestelle auseinandergehen; ein Verkaufsgespräch in einem Geschäft kann mit der Entscheidung für oder gegen den Kauf beendet werden; oft einigen sich Interaktionspartner zu Beginn der Interaktion auf bestimmte Gesprächsziele, auf eine »kommunikative Aufgabe« (Verabredung, Auftrag, Ferienpläne, Buchbesprechung…), und mit diesem »Vertrag« legen sie unter anderem fest, unter welchen Umständen sie das Gespräch als erfolgreich beenden (Verabredung getroffen, Auftrag erteilt, Pläne festgelegt, Buch besprochen…) oder als erfolglos abbrechen können (Dausendschön-Gay/Krafft 1991). In Small-talk-Situationen dagegen gibt es keine inhaltlichen Ziele; es geht darum, die Beziehung zum Partner angemessen zu würdigen. Ob nun die Partner in der Beurteilung des Gesprächsfortschritts übereinzustimmen, ist nicht ausgemacht - diese Unsicherheit gehört zur allgemeinen Unberechenbarkeit der Interaktion, und sie ist ablesbar an der potentiellen Komplexität der Gesprächsbeendigung (Sacks/Schegloff 1972). Trotz dieser Unsicherheiten kann man aber festhalten, dass die Interaktanten sich auf die Beendigung der Interaktion orientieren, bei komplexen Interaktionen zunächst auf die Beendigung des jeweiligen Gesprächsabschnitts, und lokal: auf die Fortsetzung der Interaktion, auf den nächsten Schritt zu einem möglichen Ende, der ermöglicht und vollzogen werden muss. Sie konstruieren Schritt für Schritt die Interaktion, und da sie dies gemeinsam tun, sprechen wir von »Ko-Konstruktion«. Die Ko-Konstruktion ist auf die Erledigung der anstehenden konversationellen Aufgabe und damit auch auf eine mögliche Beendigung der Interaktion oder der Interaktionssequenz orientiert, aber die Aufmerksamkeit und Konstruktionsanstren-

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gung gilt immer der unmittelbar anstehenden Fortsetzung. Wir definieren daher »KoKonstruktion« als das gemeinsame Handeln von Interaktionspartnern zur Fortsetzung einer Interaktion auf ein Ziel hin. Diese Orientierung am Ziel einer Aufgabe lässt sich zum Beispiel an verschiedenen accounts zeigen, mit denen ein Bedarf nach KoKonstruktion angezeigt wird, wenn z.B. Aktivitäten angemahnt werden, die vor dem Abschluss einer Sequenz noch zu erledigen sind. Solche accounts tauchen dabei immer nur »nach Bedarf« auf; wir können also davon ausgehen, dass Ko-Konstruktionen zwar eine der ständigen Anforderungen in Interaktionen sind, dass ihre Manifestationen aber empirisch nicht at any point nachweisbar sind. Die Gemeinsamkeit des Handelns zur Herstellung eines Gesprächs wurde seit Beginn der konversationsanalytischen Forschung an den verschiedensten Phänomenen untersucht. Dabei ging es nie um das Ergebnis oder das Produkt der KoKonstruktion, sondern um die Verfahren, die »Methoden«, die es den Interaktanten erlauben, die Kommunikation zu organisieren und gemeinsam zum Erfolg zu führen. Dabei unterstellte man von Anfang an, dass sie nicht nur dann an der KoKonstruktion beteiligt sind, wenn sie gerade die Sprecherrolle haben, sondern in jedem Augenblick. Dies kann so weit gehen, dass der aktuelle Adressat die Hauptlast der Aktivitäten trägt. Ein besonders prägnantes Beispiel für eine solche Umverteilung der Aktivitäten gibt Charles Goodwin (1985). Goodwin zeigt am Beispiel der Kommunikation zwischen einem halbseitig gelähmten Aphasiker und seiner Familie, mit welchen interaktiven Verfahren und unter Nutzung welcher Handlungsressourcen die Beteiligten ihre kommunikativen Aufgaben erfolgreich bearbeiten. Der ehemalige Rechtsanwalt Chil ist nach einem Schlaganfall im Wesentlichen »sprachlos«: er artikuliert die Phrasen »ja«, »nein« und »und« sowie eine Reihe von sprachlich bedeutungslosen Silben; er setzt außerdem die Intonation und die sequenzielle Platzierung seiner Äußerungen als Ressourcen ein, und er kann die Aufmerksamkeit der von ihm adressierten Gesprächspartner auf sich lenken; ferner benutzt er Gestik, Mimik, Körperpositur und spezielle Handgestikulationen, die er mit der linken Hand ausführen kann. Seine Verarbeitungskompetenzen für kommunikative Handlungen (sprachlicher und nicht-sprachlicher Art) scheinen nicht eingeschränkt. Seine GesprächspartnerInnen interpretieren seine Handlungen und »übersetzen« sie in sprachliche Äußerungen, die sie ihm zur Ratifizierung vorlegen. Goodwin zeigt, dass und wie die Beteiligten auch unter derart extrem erschwerten Bedingungen ihre Handlungsziele erreichen, und zwar durch den Einsatz interaktiver Verfahren, die in einer Serie von auf einander folgenden turns sequenziell organisiert und gemeinsam genutzt werden. »Ko-Konstruktion« meint genau die interaktiven Verfahren, mit denen die Interaktanten gemeinsam ihr Ziel zu erreichen suchen. Verfahren, mit denen zwei (oder mehrere) Interaktanten ihre Zusammenarbeit organisieren, wurden seit Beginn der konversationsanalytischen Forschung beobachtet: ein Gespräch beginnen und beenden; Regelung des Sprecherwechsels; Sequenzierung; Paarsequenzen und konditionelle Relevanz; Fremdreparaturen und fremdinitiierte Reparaturen; back-channel-Signale; recipient-design; etc. Nach diesen grundlegenden Untersuchungen konnten speziellere Probleme in den Blick treten. Dies geschah etwa, wenn man an spezielleren Korpora arbeitete, wo einzelne interaktiv zu lösende Probleme besonders häufig und deutlich hervortraten. Ein solches Korpus wurde z.B. in unserem früheren Bielefelder Forschungsprojekt »Kommunikation in

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Kontaktsituationen zwischen deutschen und französischen Sprechern und Sprecherinnen« zusammengestellt (einige unserer damaligen Kooperationspartner sind auch in diesem Band vertreten). Wir haben damals (in den 1980er Jahren) an Gesprächen gearbeitet, die deutsche SchülerInnen und StudentInnen in Frankreich und – in geringerem Maße: französische SchülerInnen in Deutschland - aufgenommen hatten. Manche von ihnen waren ungemein kreativ, wenn es darum ging, sich verständlich zu machen, obwohl das nötige Vokabular fehlte (prominentestes Beispiel war eine deutsche Schülerin mit dem Pseudonym Irma; dazu Näheres in DausendschönGay/Gülich/Krafft 1995). Wir haben damals einige Methoden oder Verfahren herausgearbeitet, wie unter den gegebenen schwierigen Umständen (normativ gesprochen: bei schlechten Französischkenntnissen) Verständigung zustande kommen kann. Eins dieser Verfahren haben wir als »séquence analytique« bezeichnet (Krafft/Dausendschön-Gay 1993): Das ist eine Reformulierungssequenz, bei der jeder einzelne Schritt vom Gesprächspartner ratifiziert und somit interaktiv vollzogen wird. Auf diese Weise wird eine zunächst unverständliche Äußerung des französischen Partners interaktiv bearbeitet, bis ihr auch vom deutschen Partner eine Bedeutung zugeordnet werden kann. Ein anderes Verfahren haben wir damals als »interaktive Vervollständigung einer unvollendeten Äußerung« beschrieben (Gülich 1986). 1 Damit sind Wortsuchprozesse gemeint, bei denen der Fremdsprache-Sprecher die Hilfe seines Gesprächspartners in Anspruch nimmt, indem er ihm auf irgendeine Art und Weise verständlich macht, was er sagen will und damit welchen sprachlichen Ausdruck er gerade benötigt (vgl. auch Lüdi 1991). Auch zur Ko-Konstruktion von Erzählungen finden sich in den Daten aus diesem Projekt zahlreiche Beispiele (z.B. Oesch-Serra 1989, Gülich 1994; vgl. auch Gülich/Mondada 2008, Kap. 9.3). Wiederum andere Verfahren finden sich in Korpora, in denen gemeinsam geschrieben wird (z.B. Dausendschön-Gay/ Gülich/ Krafft 1992). Hier gilt es vor allem, sehr komplexe und verschiedenartige Aktivitäten – Rollenverteilung, Auswahl und Ordnen der Inhalte, Strukturierung des zu schreibenden Textes, Vorschlag, Evaluation und Bearbeitung von Formulierungen, Aufschreiben – so zu strukturieren und zu kennzeichnen, dass die Interaktanten immer wissen, was gerade getan wird und weiter zu tun ist.2 Schließlich zeigen unsere Beispiele, dass Verfahren der Ko-Konstruktion ganz verschiedene Reichweiten haben. Die »interaktive Vervollständigung« bearbeitet eine lexikalische Lücke, die beseitigt werden muss, weil sie den Fortgang des Gesprächs hemmt; in der Regel geht es um ein Wort. Bei der »analytischen Sequenz« ist der Gegenstand des Verfahrens ein Segment mit Äußerungsformat. Die Zusammenarbeit kann auch sehr viel kleinere Einheiten betreffen, z.B. die phonetische Korrek-

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Ein erster Hinweis auf das Phänomen der interaktiven Vervollständigung findet sich schon bei Harvey Sacks (1992:654), der eine Reihe von Fällen des »completing as-yetincomplete utterances« bearbeitet und diese als Hinweis darauf wertet, dass Hörer an der Produktion von Äußerungen on-line analysierend beteiligt sind und dass es daher angemessen ist, nicht von »product sentences«, sondern von »process sentences« zu sprechen. Verfahren, wie wir sie hier skizziert oder genannt haben, findet man natürlich nicht nur in Kontaktsituationen oder beim gemeinsamen Schreiben; dort werden sie aber besonders deutlich. Man spricht in diesem Kontext gern von einem »Lupeneffekt«.

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tur einer Silbe oder eines Lauts, oder umgekehrt ganze Gespräche oder lange Sequenzen. Mit dem gemeinsamen Erzählen z.B. (s.u.) gestalten die Partner nicht Wörter oder Äußerungen, sondern Teile des Gesprächs, und wenn sie eine konversationelle Aufgabe verabreden, strukturieren sie Teile oder die Gesamtheit des folgenden Austauschs.

2. ASPEKTE VON K O -K ONSTRUKTION UND INTERAKTIVER O RIENTIERUNG IN FRÜHEREN F ORSCHUNGSANSÄTZEN Wenn wir den Begriff ›Ko-Konstruktion‹ als gemeinsame Orientierung auf eine konversationelle Aufgabe und ihre mögliche Beendigung bestimmen, führen wir einen Begriff ein, der es uns erlaubt, verschiedene Beobachtungen und Erkenntnisse aus früheren Forschungen aus einer neuen Perspektive zu betrachten, sie in neuer Weise zu kategorisieren oder zusammenzufassen. Um das tun zu können, müssen wir die Frage stellen, wodurch das Konzept ›Ko-Konstruktion‹ empirisch nahegelegt wird und wie entsprechende Beobachtungen sprachlicher bzw. kommunikativer Phänomene bislang beschrieben worden sind. Denn bei der Analyse von authentischen Daten aus mündlicher (vor allem alltäglicher, informeller) Kommunikation kann man Phänomene, die wir heute als Ko-Konstruktionen bezeichnen würden, gar nicht übersehen. Sie fallen einfach auf und sind natürlich auch schon beobachtet worden, bevor der Begriff ›Ko-Konstruktion‹ überhaupt aufkam. 2.1 Empirische Evidenz für Ko-Konstruktionen Ein Beispiel: Uta Quasthoff hat in den 1970er und 1980er Jahren mündliche Alltagserzählungen (»konversationelle Erzählungen«) analysiert (grundlegend: Quasthoff 1980a). Sie ist in den Daten, die ihr zur Verfügung standen, auf Fälle von gemeinsamem Erzählen gestoßen und hat darüber einen eigenen Aufsatz geschrieben (Quasthoff 1980b). In der Einleitung gibt sie ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, dass das gemeinsame Erzählen bis dahin in der Forschung überhaupt noch nicht beachtet wurde, auch dann nicht, wenn es dezidiert um mündliches Erzählen ging, wie z.B. in den viel zitierten Arbeiten von Labov/Waletzky (1967) und Labov (1972). Das hängt offensichtlich mit der Art der Daten zusammen. Quasthoff schreibt: »Verläßt man jedoch das Treibhaus der Interviewsituation mit seinen erzählfreundlichen Bedingungen – das aus heuristischen Gründen zu studieren durchaus sinnvoll ist - und wendet man sich den zerzausten Exemplaren desselben Untersuchungsgegenstands in der kommunikativen „freien Natur“ zu, so wird man alsbald auf die Interaktionsform des gemeinsamen Erzählens eines gemeinsam erlebten Ereignisses stoßen.« (Quasthoff 1980b: 111)

Die Erzählforschung hat insgesamt noch lange gebraucht, bis sie sich – wenn überhaupt – mit diesen »zerzausten Exemplaren« abgegeben hat – Erzählen ist immer wieder als »monologische Form« bezeichnet worden: »Erzählen ist per definitionem eine Form der Kommunikation, die […] im Kern monologisch konstituiert ist und deshalb auch die Kooperationsmöglichkeiten der Zuhörer einschränkt« (Koch/

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Oesterreicher 1990: 76; ebenso auch noch in der 2. Auflage 2011, S. 74). Manche Autoren tun sich heute noch schwer damit, dass dem nicht so ist. Aber solche Phänomene, wie wir sie hier an Beispielen aus Kommunikation in Kontaktsituationen und aus mündlichen Erzählungen angedeutet haben, sind generell bei der Arbeit mit authentischen Daten aus mündlicher Kommunikation nicht zu übersehen. 2.2 Gesprochene-Sprache-Forschung Insofern wäre eigentlich zu erwarten, dass man sich in der Gesprochene-SpracheForschung, die sich seit den 1960er Jahren entwickelt hat, damit beschäftigt hätte. Das ist aber zumindest in frühen Forschungen zum gesprochenen Deutsch oder Französisch nicht (oder kaum) der Fall. Einer der »Klassiker« der Forschungen zum gesprochenen Französisch in der deutschen Romanistik, Ludwig Söll, bringt in seinem 1974 erschienenen Buch »Gesprochenes und geschriebenes Französisch« in der Beziehung nichts; er spricht z. B. in Bezug auf Gliederungssignale, hesitation phenomena, die in dem Zusammenhang interessant sein könnten, davon, dass sie »zum großen Teil Fehlleistungen sind« und daher nur »den individuellen Sprechakt oder, bei pathologischen Fällen (tics), einen Idiolekt« betreffen (Söll 1974: 177). 3 Ähnlich äußert sich Steger in frühen Arbeiten zum gesprochenen Deutsch, wenn er von einer »hohen Fehlerquote« spricht und als eine der Bedingungen für die Untersuchung gesprochener Sprache festhält: »Es darf nämlich doch wohl nur akzeptiert werden, was gesprochen wird und im Rahmen des jeweils gesprochenen Sprachtyps als ›normal‹, d.h. als richtig anzusehen ist. Denn es hat wenig Sinn, zum Gegenstand der grammatischen und semantischen Erforschung machen zu wollen, was im einmaligen Sprechakt verunglückt ist und vom Sprecher selbst (oder von den Zuhörern) sofort als falsch innerhalb des gegenwärtig verwendeten Sprachtyps registriert und korrigiert wird.« (Steger 1967: 264)

In Untersuchungen dieser Art verstellt zum einen die normative Haltung den Blick auf interaktive Phänomene, zum anderen lenkt die Orientierung an »Merkmalen« gesprochener Sprache, durch die sie sich von der geschriebenen Sprache unterscheidet, die Aufmerksamkeit auf einzelne (isolierte) grammatische und lexikalische Phänomene (vgl. Söll 1974, Kap. III: »Allgemeine Merkmale gesprochener Sprache (Code parlé)«). Auch Koch/Oesterreicher (1990, 2, Auflage 2011) orientieren sich hauptsächlich an solchen »Merkmalen«. Sie unterscheiden »universale Merkmale des gesprochenen Französisch, Italienisch und Spanisch« (Kap. 4) und »die einzelsprachlichen Merkmale des gesprochenen Französisch, Italienisch und Spanisch […]« (Kap. 5). Allerdings argumentieren die Autoren nicht normativ und heben die Bedeutung des »Kontakts zwischen den Partnern« als »fundamental für jede Art sprachlicher Kommunikation« hervor (Koch/Oesterreicher 1990: 57). In einem neueren Buch über »Gesprochenes Französisch« (Barme 2012) wird zwar die Einteilung in »universale« und

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In ähnlicher Weise bezeichnen Riegel et al. (1994) solche Elemente der gesprochenen Sprache als »Abfall« (»scories«).

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»einzelsprachliche Merkmale« kritisiert und durch »allgemeine« und »historischkontingente Merkmale« ersetzt (Barme 2012: 37), aber die Orientierung an Merkmalen wird beibehalten (vgl. Kap. 5 und 6), obwohl »Interaktionale Linguistik und Konstruktionsgrammatik« als »Neue Wege in der Erforschung und Beschreibung gesprochener Sprache« zusammenfassend dargestellt werden (Barme 2012, Kap. 3). M.a.W.: Nicht nur bei der Durchsicht früher Arbeiten aus der Gesprochene-SpracheForschung muss man feststellen, dass interaktive Phänomene erstaunlich wenig beachtet werden, sondern es gibt offenbar bis heute eine resistente Tradition einer merkmalorientierten Gesprochene-Sprache-Forschung. Das hat verschiedene Gründe; einer davon liegt vermutlich darin, dass gesprochene Sprache zunächst immer im Kontrast zur geschriebenen untersucht wurde (und z.T. noch wird). Erst unter dem Einfluss der Konversationsanalyse und der Interaktionslinguistik wird aus der gesprochenen Sprache ein Untersuchungsgegenstand sui generis. Diese Umorientierung ist z.B. in dem Einführungsbuch von Schwitalla »Gesprochenes Deutsch« (1997) gut zu erkennen, in dem die Merkmalsorientierung in den Hintergrund tritt und der Übergang zur Beschreibung von »Verfahren« deutlich wird (vgl. bes. Kap. 7: »Formulierungsverfahren«; für das gesprochene Französisch: Gülich/Mondada 2008, Kap.6.3) 2.3 Textlinguistik In der Textlinguistik, die traditionell eher auf geschriebene Sprache bezogen ist, wären daher interaktionsbezogene Aspekte eigentlich weniger zu erwarten; aber hier zeigen Weinrichs Textgrammatiken (Französisch: 1982, Deutsch: 1993) eine deutliche Interaktionsorientierung. In der älteren, der »Textgrammatik der französischen Sprache« (Weinrich 1982), wird unter den »methodologischen Grundlagen« als erstes der Begriff ›Text‹ erläutert; an 2. Stelle kommt schon der ›Dialog‹. In der rund 10 Jahre später erschienenen »Textgrammatik der deutschen Sprache« (Weinrich 1993) wird diese Orientierung noch deutlicher bzw. »das Prinzip Dialog« wird noch pointierter formuliert: »Die Linguistik, die dieser Grammatik zugrunde liegt, nimmt ihr Maß vom DIALOG. Nicht die monologischen Äußerungen eines einsam vorgestellten Sprachbenutzers also, sondern das gemeinsame SPRACHSPIEL von (mindestens) zwei Dialogpartnern dient hier als grammatisches Denkmodell. Grundeinheit der linguistischen Beschreibung ist daher die KOMMUNIKATIVE DYADE, bestehend aus einem Sprecher und einem Hörer, die im Gespräch miteinander ständig ihre Rollen tauschen. […] In diesem Sinne ist die Textgrammatik gleichzeitig eine DIALOGGRAMMATIK.« (Weinrich 1993: 17/18)

Eine zentrale Rolle spielt in beiden Grammatiken daher auch das »Prinzip Instruktion«: »Ein Sprecher macht in der Regel von der Sprache Gebrauch, um mit einem Hörer zusammen zu handeln. […] Diese Grammatik versteht daher die Bedeutungen der Sprachzeichen (›Wörter‹) als Instruktionen, das heißt, als ANWEISUNGEN, die ein Sprecher einem Hörer im Sprachspiel erteilt.« (Weinrich 1993: 18)

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Einen von den Grundgedanken her ähnlichen textlinguistischen Ansatz vertreten Hausendorf und Kesselheim (2008). Texte werden hier grundsätzlich aufgefasst als »das Dokument einer Kommunikation zwischen Autor und Leser, das im Moment der Lektüre entsteht. Einen Text als ein lesbares Etwas zu verstehen, heißt also auch, ihn in seiner Eigenschaft als kommunikative Erscheinungsform zur Geltung zu bringen« (Hausendorf/Kesselheim 2008: 17). Die Konsequenz aus dieser Auffassung ist, dass sich erst beim Lesen ergibt, was ein Text »ist«: »Lesen ist nichts anderes als das Aufnehmen und Verarbeiten, das Auswerten und Verstehen von Textualitätshinweisen« (ebd.: 21).4 Die verschiedenen grammatischen Erscheinungen werden immer als ›Hinweise‹ dargestellt: z.B. Verknüpfungshinweise, Strukturhinweise, Themahinweise usw. Dabei werden unter ›Hinweisen‹ immer solche an den Adressaten verstanden; im Unterschied zu Weinrich beziehen sich Hausendorf und Kesselheim jedoch nur auf schriftliche Texte. Eine neuere Grammatik, die im vorliegenden Zusammenhang relevant ist, die »Deutsche Grammatik« von Ludger Hoffmann (2013), ist keinem textlinguistischen, sondern einem diskursanalytischen Ansatz verpflichtet: Sie bezieht sich sowohl auf »Diskurse (Gespräche)« als auch auf »Texte«; beiden entsprechen »unterschiedliche Planungsanforderungen«, die sich auch grammatisch niederschlagen. In der Gegenüberstellung (Hoffmann 2013: 32-33) gehören interaktive Aspekte zu den wichtigsten Unterscheidungsmerkmalen, z.B. wenn Diskurse durch Merkmale wie die folgenden charakterisiert werden: »Die Handelnden sind gemeinsam anwesend und teilen das Wahrnehmungsfeld; sie nehmen auch wahr, worauf die Aufmerksamkeit der Anderen jeweils gerichtet ist. […] Sie koordinieren ihr Handeln im Gespräch und im Rahmen von Handlungsmustern: den Sprecherwechsel, die Handlungsabfolge und den Bezug der Handlungen auf einander, die Gewichtung und thematische Organisation der Äußerungen und die äußeren Anzeichen des Verstehens. […] Fortlaufende Rückmeldungen durch Interjektionen wie hm oder nonverbale Mittel steuern den Fortgang des Gesprächs.« (Hoffmann 2013: 32)

Hier sind die Voraussetzungen für die Beschäftigung mit Ko-Konstruktionen auch bei der Beschreibung grammatischer Phänomene deutlich erkennbar. Sie werden allerdings nicht mehr aus der Gesprochene-Sprache-Forschung oder der Textlinguistik entwickelt, sondern aus einem anderen theoretischen Rahmen: der funktionalpragmatischen Diskursanalyse, die ihren Ausgangspunkt bei kommunikativen Handlungen nimmt. Wenn man sich die hier skizzierten Beispiele für frühere Forschungsansätze vergegenwärtigt, könnte man sagen: Die Voraussetzungen für die Beschäftigung mit

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Auch in der früheren Textlinguistik hat es gelegentlich den Versuch gegeben, Kohärenz nicht nur als Texteigenschaft zu sehen, sondern auch als Verstehens- und Interpretationsleistung des Rezipienten; besonders deutlich wird das in den Arbeiten von Charolles (z.B.1989).

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Ko-Konstruktionen waren eigentlich schon lange gegeben, schon bevor Konversationsanalyse einen gewissen Bekanntheitsgrad in Deutschland erreichten (Kallmeyer/Schütze 1976) und sich eine linguistische Gesprächsforschung und eine Interaktionale Linguistik entwickeln konnten. Die Voraussetzungen waren aus zwei Gründen gegeben: • •

Es gab Daten aus mündlicher Kommunikation und Interesse an deren Beschreibung (z.B. in der Gesprochene-Sprache-Forschung, in der Erzählforschung), Es gab eine kommunikations- oder interaktionsorientierte Textlinguistik, die evtl. als Beschreibungsrahmen hätte dienen können.

Damit soll nicht die Originalität neuerer Ansätze geschmälert werden, sondern es soll zum einen die Evidenz der beobachtbaren Phänomene herausgestellt werden, zum anderen soll an den Beispielen aus der Forschungsgeschichte deutlich gemacht werden, dass ein geeigneter theoretisch-methodologischer Rahmen erst entwickelt werden musste. Daher blieb es seinerzeit bei vereinzelten oder eher auf spezielle Fälle fokussierten Untersuchungen. Wenn der Forschungsansatz von Harvey Sacks damals schon hätte zur Kenntnis genommen werden können, wären bestimmte Entwicklungen vielleicht früher in Gang gekommen, da er bereits zwischen 1965 und 1967 in seinen Vorlesungen über Ko-Konstruktionen von Äußerungen gesprochen hat; aber wirklich bekannt wurden diese Vorlesungen in Deutschland erst mehr als 20 Jahre später, als sie veröffentlicht werden konnten (Sacks 1992). 5 Es ist manchmal ganz faszinierend zu überlegen, was alles zusammenkommt bzw. zusammenkommen muss, damit die Zeit für ein Thema, einen Forschungsgegenstand »reif« ist. Theoretisch-methodologische Vorarbeiten, einschlägige Forschungskontexte und wesentlich verbesserte technische Möglichkeiten für die Erhebung konversationeller Daten bieten heute ganz andere Voraussetzungen für die Bearbeitung von Ko-Konstruktionen als in früheren Zeiten. 6 Wenn man sich schon früher mit Phänomenen von Ko-Konstruktion beschäftigt hat, stellt sich heute die Frage, welchen Gewinn wir aus neuen Ansätzen ziehen können. Ein neues Konzept ermöglicht nicht nur die Einordnung in neue Forschungskontexte, sondern auch neue Perspektiven und damit auch neue Suchbewegungen.

3. K O -K ONSTRUKTION

ALS ANALYTISCHE

P ERSPEKTIVE

Wir haben bisher in unserem Zugang zum Konzept der Ko-Konstruktion ein weites Verständnis gewählt, das alle Formen der interaktiven Herstellung einer Handlung bis zu dem Zustand umfasst, bei dem alle Beteiligte davon ausgehen, dass die aktuell

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Eine auf das Französische bezogene Untersuchung zur „co-énonciation“ von Jeanneret 1999 bezieht bereits konversationsanalytische Forschung mit ein, favorisiert aber eher einen grammatischen Ansatz zur Beschreibung des Phänomens.

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Neuere Forschungsentwicklungen werden in diesem Band z.B. in den Beiträgen von Drescher, Günthner und Job skizziert.

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zu erledigende gemeinsame Handlung abgeschlossen ist und man sich folglich einer neuen Interaktionsaufgabe zuwenden kann. Wir gehen damit sowohl über die neueren interaktionslinguistischen Ansätze Günthners als auch über die meisten klassischen konversationsanalytischen Arbeiten7 in der Weise hinaus, dass wir uns nicht allein auf das Zustandekommen von gemeinsam produzierten Äußerungen konzentrieren, sondern auch andere Formen interaktiven Handelns betrachten. 8 Bereits in den Anfängen der Konversationsanalyse sind dem genauen und vor allem unvoreingenommenen Blick Harvey Sacks’ gemeinsam produzierte Äußerungen während seiner Transkriptanalysen nicht entgangen. In der dritten Vorlesung aus dem Herbst 1965 interessiert ihn dabei besonders ein Fall, in dem zwei Teenager (Joe und Henry) in einer Gruppentherapiesitzung zusammen mit einem dritten, der gerade erst zur Gruppe gestoßen ist (Mel), ein Ereignis gemeinsam so formulieren, dass sie ihre Zusammengehörigkeit als Dreiergruppe und ihre geteilte Zugehörigkeit verdeutlichen können.9 Dies gelingt ihnen durch die gleichberechtigte Verteilung der inhaltlichen Zuständigkeit bei der Rekonstruktion eines Ereignisses. Dies unterscheidet das Beispiel von vielen Fällen gemeinsamen Formulierens, bei denen eine Person allein das inhaltliche Wissen hat, die anderen Beteiligten also ausschließlich an der sprachlichen Formulierungsarbeit mitwirken können.10 Die zur Diskussion stehende spezielle Form kollaborativen Formulierens bezeichnet Sacks als »a kind of extraordinary tie between syntactic possibilities and phenomena like social organization« (Sacks 1992:145). Die relevanten Fragen zum Bereich der sozialen Organisation arbeitet er im weiteren Verlauf der Vorlesung heraus und betont dabei Aspekte, die auch in unserem weiten Verständnis von Ko-Konstruktion eine Rolle spielen. Sacks führt uns von der Beobachtung gemeinsam produzierter Äußerungen zu allgemeinen Überle-

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Auch die frühe Arbeit von Goodwin, in der er vor allem die Bedeutung der Blickrichtung für die Analyse der Bedeutung (besser: der Adressierung bei Mehrpersonenkonstellationen) von Teiläußerungen belegt, bleibt auf die Bedingungen konzentriert, unter denen Äußerungen produziert und mit Bedeutung ausgestattet werden: »The analysis presented here has argued, […], that the sentence actually produced within a particular turn at talk is determined by a process of interaction between speaker and hearer. Their collaborative work in constructing the turn systematically modifies the emerging structure of the sentence, adding to it, deleting from it, and changing its meaning. Insofar as this is the case, the procedures utilized to construct sentences are, at least in part, interactive procedures.« (Goodwin 1979.112) 8 Zu dieser Erweiterung des analytischen Fokus innerhalb der Konversationsanalyse können einige grundlegende Ausführungen in dem Band »Koordination« (Schmitt 2007) nachgelesen werden, dort vor allem in dem einleitenden Beitrag von Deppermann/Schmitt. 9 In ähnlicher Weise analysiert Sacks das Beispiel auch in Lecture 7, S. 323. Es geht um das folgende Segment aus der Sitzung: Joe: (cough) We were in an automobile discussion, Henry: discussing the psychological motives for Mel: drag racing on the streets 10 Das gilt zum Beispiel in fast allen Fällen aus unserem Korpus »Kontaktsituationen«, in denen Hilfestellungen bei der Wortsuche oder anderen »sprachlichen Lücken« gegeben werden.

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gungen über die Möglichkeiten und Motive, Aufgaben unter verschiedene »Kollaborateure« aufzuteilen, die auch von einer Person alleine erledigt werden können: »[…] if one wants to find a way of showing somebody that what you want is to be with them, then the best way to do it is to find some way of dividing a task which is not easily dividable, and which clearly can be done by either one alone. And that, I take it, obviously is done rather frequently, if not with the putting together of sentences, then with all sorts of other things. Where neither party can then readily take it that the other is simply being of help, but is involved in seeing that what they are doing is ›doing whatever you’re doing with you‹.« (Sacks 1992:147)

In späteren Arbeiten zur Konversationsanalyse, mit der charakteristischen Konzentration auf den Gegenstand »talk in interaction«, hat Schegloff (1982) den Terminus des »interactional achievement« für die generalisierende Beobachtung eingeführt, dass jede Äußerung das Ergebnis interaktiven Zusammenwirkens der Beteiligten ist, nicht nur die sogenannten »collaborative utterances«. Er weist dazu auf den Einfluss von Nicken oder Stirnrunzeln von Zuhörern in einem Hörsaal auf die Formulierungsaktivitäten der Vortragenden hin, die als Wiederholungen, Erläuterungen oder Ergänzungen auf die nicht sprachlichen Interventionen der Zuhörer reagieren. Er formuliert daher vier konstitutive Grundannahmen für die Analyse des »talk in interaction«: • • • •

»(1) The discourse should be treated as an achievement; that involves treating the discourse as something ‘produced’ over time, incrementally accomplished […]. (2) The accomplishment or achievement is an interactional one […]. (3) The character of this interactional achievement is at least in part shaped by the sociosequential organization of participation in conversation […]. (4) Because the actual outcome will have been achieved by the parties in real time and as, at each point, a contingent accomplishment, the mechanisms of the achievement and its effort are displayed, or are analyzably hidden in, or absent from, various bits of behaviour composing and accompanying that discourse, and analyzable with it.« (Schegloff 1982.73)

Damit präzisiert Schegloff den interaktiven Aspekt des Herstellungscharakters sozialen Handelns, für das in den theoretischen Schriften der Ethnomethodologie vor allem seine Prozesshaftigkeit und die Unvorhersehbarkeit jeglicher (nicht nur sprachlichen) Tätigkeit ausformuliert worden sind. 11 So geht es in dem klassischen Text von Garfinkel/Sacks (1970) um die Ausdifferenzierung eines methodischen Konzepts, mit dem indexikalische sprachliche Äußerungen als Prototypen der grundsätzlichen Situiertheit jeder Form des sozialen Handelns verstanden werden. »[…] studies have shown in demonstrable specifics (1) that the properties of indexical expressions are ordered properties, and (2) that they are ordered properties is an ongoing, practical

11 So auch in dem einführenden Text von Coulon, der unter anderem abhebt auf die »incomplétude naturelle des mots, qui ne prennent leur sens »complet« que dans leur contexte de production, que s’ils sont « indexés » à une situation d’échange linguistique.« (Coulon 1987.29).

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accomplishment of every actual occasion of commonplace speech and conduct.« (Garfinkel/Sacks 1970: 341, Kursivdruck im Original). In ihrem Text geht es allerdings noch vorrangig um die Sinnkonstruktion durch die Äußerungen des aktuellen Sprechers auf dem Hintergrund geteilten sozio-kulturellen Wissens, während Schegloff, und vor ihm bereits Goodwin, das interaktive Zusammenspiel der verbalen und non-verbalen Aktivitäten von Sprecher und Hörer bei der Konstruktion von Äußerungen herausarbeiten. Gemeinsam ergeben so der in der Konversationsanalyse betonte Aspekt der Interaktivität konversationellen Handelns und die ethnomethodologische Betonung der grundsätzlichen Situiertheit jeglichen sozialen Handelns als »accomplishment« eine Lesart des Konzepts des »interactional achievement«, denen unser weites Verständnis von Ko-Konstruktion weitgehend entspricht.12 Dass alle Formen sozialen Handelns als gemeinsame Hervorbringungen beschrieben werden können, liegt an konkreten Beobachtungen, zu denen wir allerdings erst in der Lage sind, wenn wir den analytischen Blick dafür entwickelt haben. 13 In der Praxis des konversationsanalytischen Vorgehens und der sie konstituierenden »Mentalität« hat das »interactional achievement« dabei meist den Charakter einer Grundannahme, man könnte auch sagen eines Axioms: Interaktivität ist eine Bedingung sozialen Handelns, nicht ihr Ergebnis. Aufgabe der Analysen authentischer Gespräche und anderer Formen sozialen Handelns ist es zu zeigen, in welchen Verfahren sich Interaktivität manifestiert und warum der Fokus auf Interaktion zu angemesseneren Beschreibungen und besseren Erkenntnissen führt als die Konzentration auf die Aktivitäten Einzelner. Die Annahme des »interactional achievement« muss also analytisch ausbuchstabiert werden. Dies ist bisher in Bezug auf drei Bereiche geschehen, 14 die wir als »analytische Perspektiven« verstehen wollen, mit deren Hilfe verschiedene Verfahrensbereiche rekonstruiert werden können, in denen die gemeinsame Hervorbringung der Wirklichkeit erkennbar wird: •

Wenn die analytische Aufmerksamkeit auf Ko-Operation gelenkt wird, dann stehen Aspekte des »Aufeinander-Bezug-nehmens« im Zentrum der Beschäftigung

12 Dass bei solchen Überlegungen die herkömmliche Sprecher-Hörer-Dichotomie problematisch wird, zeigen die frühen interaktionssoziologischen Arbeiten Goffmans zu Interaktionsrollen, wobei er allerdings nicht als Vertreter konversationsanalytischer Positionen bemüht werden darf. Auch die neueren Arbeiten zur Diskussion um die Weiterentwicklung der Konversationsanalyse im Hinblick auf die Integration einer multimodalen Perspektive und die daraus resultierenden Konsequenzen, wie sie etwa von Schmitt/Deppermann (2007) formuliert werden, weisen in diese Richtung. 13 Dies konnte ja bereits im vorigen Kapitel im Zusammenhang mit den »Vorarbeiten« der Erzählforschung oder der Gesprochene-Sprache-Forschung deutlich gemacht werden. 14 Diese drei Bereiche finden auch in dem gerade erschienenen Beitrag von Hausendorf/ Schmitt Erwähnung; dort allerdings im Zusammenhang mit Hinweisen auf »Interaktionsprobleme«, die mit der Situiertheit interaktiven Handelns verbunden sind. »Probleme der Situierung umfassen Probleme der Herstellung gemeinsamer Wahrnehmungen (Ko-Orientierung), der Abstimmung der Bewegungen aufeinander (Ko-Ordinierung) und der Beteiligung an einer gemeinsamen sozialen Praxis (Ko-Operation)« (p. 8).

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mit den Daten; dazu gehören z. B. die vielfältigen Arbeiten zu Präferenzstrukturen, zur Bevorzugung bestimmter Formen der Reparaturorganisation, oder die Beobachtungen zur thematischen Organisation von Gesprächen. Wenn der analytische Fokus auf Prozesse der Ko-Orientierung gerichtet wird, dann geht es vor allem um Beobachtungen zur Herstellung und Beibehaltung der gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung; die Organisation der Blickrichtung, deiktische Gestikulationen (»Zeigen«) und verbale Aufmerksamkeitserzeuger können hier als Beispiele genannt werden. Die Konzentration auf Verfahren der Ko-Ordination führt dazu, dass vorrangig Ereignisse der gemeinsamen Ausrichtung der Körperposituren, des Handlungsrhythmus oder verschiedener Formen von »interaktivem alignment« beschrieben und interpretiert werden. Dabei ergeben sich u. a. Fragen nach der Organisation von Simultaneität (und nicht nur der klassischen Sequenzialität) sowie neue Beobachtungen zum overlap, die mit der Erweiterung des analytischen Spektrums auf nicht-sprachliche Modalitäten zusammenhängen. 15

Wir schlagen vor, Ko-Konstruktion als einen vierten analytischen Bereich zu konzipieren, mit dem das allgemeine Prinzip des interactional achievement untersucht und präzisiert werden kann. Hier geht es, ganz im Sinne unseres weiten Verständnisses, um accounts dafür, dass die Beteiligten gemeinsam am Zustandekommen eines Ergebnisses/ an der Lösung einer Aufgabe/ am Erreichen eines explizit oder implizit vereinbarten Zieles arbeiten. Das kann man zum Beispiel gut an Hinweisen bemerken, mit denen die Interaktanten sich zu erkennen geben, dass sie mit dem anstehenden Teil, oder mit der gesamten Interaktion fertig sind; der account dafür wäre etwa ein Verfahren des »opening up closings«. Im Zusammenhang mit kommunikativen Gattungen ist diese gemeinsame Orientierung am Ergebnis gut erkennbar, wenn Erzählelemente, die Pointe eines Witzes oder die moralisierende Verallgemeinerung einer Klatschsequenz eingefordert werden. Erwähnt werden können hier aber auch Ko-Konstruktionen im engeren Sinne, also Verfahren der gemeinsamen Vervollständigung einer Äußerung oder die mitformulierende Beteiligung an einer Erzählung. Mit der Bestimmung von Ko-Konstruktion als analytische Perspektive wollen wir vor allem deutlich machen, dass es nicht so sehr darum gehen sollte, die Eigenschaften eines kommunikativen Ereignisses (etwa einer Äußerung) als Ko-Konstruktion zu bestimmen; wir werden also nicht vorrangig der Frage nachgehen, ob etwas eine KoKonstruktion ist, denn das würde die Verpflichtung mit sich bringen, bestimmen zu können, welchen Ereignissen wir diese Eigenschaft nicht zuschreiben wollen. Wir gehen vielmehr systematisch auf die Suche nach Sequenzen, in denen die erwähnten accounts zu finden sind. Zusammen mit Ereignissen, die den anderen drei Bereichen zugeordnet werden können, runden wir damit das analytische Repertoire derjenigen

15 Zu jedem der drei Bereiche gibt es umfangreiche Literatur, die hier nicht im Einzelnen Erwähnung finden kann. Hinzuweisen wäre auf die grundlegenden Arbeiten Erving Goffmans zur Kooperation, sowie auf den von Werner Kallmeyer herausgegebenen Band zur Gesprächsrhetorik. Koorientierung ist früh in den Arbeiten von Marjorie und Charles Goodwin thematisiert worden. Zur Koordinierung verweisen wir auf den von Reinhold Schmitt herausgegebenen Band, mit dem ein neues Forschungsfeld konstituiert worden ist.

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Verfahren ab, in denen sich das Grundprinzip des interactional achievement manifestiert. Die Beispiele für analytische Befunde zu den vier Bereichen der gemeinsamen Hervorbringung haben implizit einen weiteren Aspekt unseres Vorgehens erkennbar gemacht, auf den wir zum Abschluss ausdrücklich hinweisen wollen. Wie inzwischen in den meisten aktuellen Arbeiten aus der Gesprächsforschung und der Interaktionslinguistik üblich, plädieren wir für die grundsätzliche multimodale Orientierung der Beschäftigung mit Daten. Dies bedeutet, dass die Analyse alle semiotischen Systeme berücksichtigt, die bei den kommunikativen Aktivitäten der Beteiligten eine Rolle spielen. Welche dieser Ressourcen genutzt und beschrieben werden, hängt einerseits von den Handlungsbedingungen der Interaktanten ab, andererseits von der Beobachtbarkeit der Systeme durch die Analytiker. Im Kern bedeutet eine multimodale Orientierung, dass die Annahme der Situiertheit jedes kommunikativen Ereignisses Beschreibungen fordert, in denen der Beitrag aller verfügbaren Handlungsressourcen zur Sinnkonstitution und ihr Zusammenspiel im interaktiven Geschehen zum Gegenstand der Untersuchungen gemacht werden.16 Mit multimodal ist also nicht eine Erweiterung der klassischen Konzentration auf Verbaldaten etwa um Aspekte des Blicks oder der Gestikulation gemeint, sondern eine grundlegende Umstellung der Analyse auf die theoretische Gleichwertigkeit aller Mediatisierungssysteme. 17 An dieser »Grundmentalität« ändert auch die Tatsache nichts, dass sich in der Praxis des Interaktionsvollzugs beobachten lässt, dass für bestimmte Handlungszusammenhänge einzelne Systeme gegenüber anderen bevorzugt werden.

L ITERATUR Barme, Stefan (2012): Gesprochenes Französisch, Berlin: de Gruyter. Charolles, Michel (1989): »Text coherence and text interpretation processing«, in: Maria-Elisabeth Conte/János S. Petöfi/Emel Sözer (Hg.): Text and discourse con-

16 In dieser Weise wird ein solcher Ansatz auch in der grundlegenden Arbeit von Charles Goodwin ausformuliert, der zudem den dynamischen Charakter der Nutzung semiotischer Ressourcen betont: »A particular, locally relevant array of semiotic fields that participants demonstrably orient to (not simply a hypothetical set of fields that an analyst might impose to code context) is called a contextual configuration. As action unfolds, new semiotic fields can be added, while others are treated as no longer relevant, with the effect that the contextual configurations which frame, make visible, and constitute the actions of the moment undergo a continuous process of change.« (Goodwin 2000:1490, Kursiv im Original) Hinzuweisen ist auf die Vielfalt der terminologischen Angebote für die Ressourcen: »semiotic fields« bei Goodwin, »Mediatisierungssysteme« in den soziokulturellen Theorien im Anschluss an Wygotsky, »Signalisierungssysteme« bei Auer im Zusammenhang mit der Kontextualisierungstheorie von Gumperz, um nur einige zu nennen. 17 Wir haben dies an anderer Stelle einen »holistischen Ansatz« genannt. Dazu im Einzelnen Dausendschön-Gay/Krafft (2002). Ähnlich bestimmen auch Schmitt/Deppermann (2007) das Konzept multimodaler Analysen. Im Detail geht Reinhold Schmitt in seinem Beitrag für diesen Band darauf ein.

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Einige Überlegungen zur Herkunft und zum Anspruch des Konzepts der Ko-Konstruktion J ÖRG B ERGMANN

Die Bezeichnung Konstruktivismus bezieht sich üblicherweise auf eine erkenntnistheoretische Position, deren gemeinsamer Kern in der Überzeugung besteht, dass Wirklichkeit nicht etwas Vorgegebenes ist, das sich in der Wahrnehmung einfach widerspiegelt, sondern etwas »Konstruiertes«, das in den Deutungen, Erfahrungen und Handlungen der Menschen erst entsteht. Der gemeinsame Bedeutungskern dessen, was mit »Konstruktion« und »Konstruktivismus« in der sozial- und geisteswissenschaftlichen Literatur gemeint ist, täuscht jedoch darüber hinweg, dass die Verwendung dieser Konzepte in mehrfacher Hinsicht prekär und nicht selten ein Grund für Missverständnisse ist. Zum einen haben sich unterschiedliche Varianten des Konstruktivismus aufgefächert, die z.T. so weit auseinander stehen, dass mit dem selben Begriff ganz gegensätzliche theoretische Positionen bezeichnet werden und es kaum mehr möglich ist, hinter diesen Positionen den gemeinsamen Bedeutungskern zu erkennen. Zwar haben Ian Hacking (1999) und andere Autoren Vorschläge gemacht, wie die vielfältigen »Spielarten des Konstruktivismus« (Knorr-Cetina 1989) sortiert werden können, doch auch nach diesen Klärungen und nach Versuchen einer enzyklopädischen Bestandsaufnahme (Holstein/Gubrium 2008; Pörksen 2011) bleibt die Unsicherheit darüber, welche der Varianten gemeint ist, wenn man von Konstruktivismus und Konstruktion redet. Problematisch ist der Begriff der Konstruktion auch deshalb, weil in ihm aufgrund seiner Herkunft Bedeutungsdimensionen mitschwingen, die seiner soziologischen Verwendung eigentlich eher im Weg stehen. Obwohl die Idee, dass das, was als tatsächlich erscheint, aus Prozessen hervorgeht, in der Erkenntnistheorie eher trivial ist und in der Soziologie durchaus bekannt war, spielte der Begriff der Konstruktion bis in die 60er Jahre keine Rolle. Erst mit dem Buch von Peter Berger und Thomas Luckmann »The social construction of reality« (1966) hat das Konzept der Konstruktion in der Soziologie Fuß gefasst. Das Buch selbst enthält keinen Hinweis auf die Herkunft des Konstruktionsbegriffs, doch ist unschwer zu erkennen, worauf sich die Autoren bei der Einführung dieses Begriffs stützen. Für Berger und Luckmanns Arbeit ist ja erklärtermaßen Alfred Schütz die zentrale Bezugsperson. Zwar verwendet Alfred Schütz in keiner seiner Schriften den Begriff der Konstruktion als theoretisch aufgeladenes Konzept (Schütz spricht an einigen Stellen allenfalls von Typen- oder Begriffskonstruktion), doch seine 1932 erschienene Dissertation trägt

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den Titel »Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt«. 1 Und es gibt gute Gründe für die These, dass »construction« bei Berger/Luckmann nichts anderes ist als das direkte englische Äquivalent zum Begriff »Aufbau« bei Alfred Schütz, das dann - in Rückübersetzung und ohne Bezug auf die ursprüngliche Quelle - als »Konstruktion« im Deutschen auftaucht und heimisch wird.2 Gegenüber dem Begriff »Aufbau« hat das Konzept der Konstruktion einen entscheidenden Vorteil. Die Aufbau-Metapher legt ja eine statische Sicht auf die Wirklichkeit nah: Die soziale Welt erscheint als etwas Gegebenes, als ein unflexibles Ganzes mit einem fixen Satz an Bau-Teilen, die mechanisch miteinander verbunden sind - eine Sichtweise, die durch manche Formulierungen in den Arbeiten von Schütz (Wissensvorrat u. Ä.) noch verstärkt wird. Im Vergleich dazu zielt die Bedeutung von »Konstruktion« eher auf den Aspekt des Gemachten und Hervorgebrachten, und diese Betonung des Herstellens und Gestaltens und das ihm zugrundeliegende epistemologische Modell des aktiven Akteurs sind immer wieder als Erklärung für den weltweiten Erfolg des Buchs von Berger/Luckmann Ende der unruhigen 60er Jahre angeführt worden. Wenn man den Konstruktionsbegriff über Schütz zurückverfolgt auf seine phänomenologische Herkunft, wird der Punkt erkennbar, an dem sich das, was mit diesem singulären Begriff belegt wird, in konträre Richtungen auffächert. Die phänomenologische Beschreibung zielt darauf ab, zu rekonstruieren, wie sich die Welt und ihre Gegenstände in den Wahrnehmungs- und Erfahrungskategorien des subjektiven Bewusstseins konstituieren - Konstitution statt Konstruktion. Diesem egologischen Ansatz bleibt Schütz noch weitgehend verpflichtet; sein Vorhaben ist nicht, Soziologie als empirische Wissenschaft zu betreiben, sondern den Sozialwissenschaften auf phänomenologische Weise ein methodologisch tragfähiges Fundament zu verschaffen, und zwar nach Kriterien, die die empirischen Wissenschaften selbst transzendieren. Während im sog. Radikalen Konstruktivismus nach einem »Immanenzprinzip« (Hirschauer 2003) die kognitiven Mechanismen und Prozesse des Wahrnehmungsapparats, die die Welt erzeugen, in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses rücken, stellt sich für die empirisch verfahrenden Sozialwissenschaften die Frage: Wie kann die ichhafte Perspektive, aus der Schütz die Sozialwissenschaften zu begründen suchte, überwunden und Zugang zur intersubjektiven sozialen Erfahrungswelt gewonnen werden? Luckmann selbst hat verschiedentlich zum Ausdruck gebracht (Pawlowski/Schmitz 2003: 33), dass ein Motiv für die Wahl des Begriffs »Konstruktion« darin lag, eine deutliche Absetzung von dem technisch phänomenologischen Begriff der »Konstitution« zu erreichen. Doch selbst diese begriffliche Scheidung kann die deutlich gewordenen Ambivalenzen, die dem Konstruktionsbegriff anhaften, nicht beseitigen. So bleibt etwa im Unklaren, wie tief das, was - im Gegensatz zu Konstitu-

1

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Dieser Titel ist seinerseits bezogen und in Kontrast gesetzt zu Rudolf Carnaps (1928) Untersuchung »Der logische Aufbau der Welt«, mit dessen Wiener Kreis Alfred Schütz in Verbindung stand. Eine ähnliche transformative Rückübersetzung erlebte das Simmelsche Konzept der Wechselwirkung, das als »interaction« ins Englische übersetzt wurde und dann via Goffmans Arbeiten als »Interaktion« ins Deutsche zurückkehrte; vgl. hierzu Bergmann (2011).

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tion - als Konstruktion von Wirklichkeit bezeichnet wird, angesetzt werden soll. Genügt es, hierfür vor allem Prozesse der Institutionalisierung, der Objektivierung und der Legitimierung zu thematisieren (wie Berger/Luckmann dies tun), oder müssen Konstruktionsleistungen nicht auf einer sehr viel elementareren Ebene der sozialen Wechselwirkung (durchaus im Sinn Georg Simmels) vermutet und untersucht werden? So berechtigt die Unterscheidung zwischen einem phänomenologischen Begriff der Konstitution und einem erfahrungswissenschaftlichen Begriff der Konstruktion sein mag, so wenig sollte sie dazu benutzt werden, diese beiden Sphären strikt voneinander zu isolieren und weit voneinander getrennt zu halten. Spätestens an diesem Punkt gehen Berger/Luckmanns Sozialkonstruktivismus und die Ethnomethodologie unterschiedliche Wege. Garfinkel (1967) bezieht sich zwar ebenfalls auf die Arbeiten von Alfred Schütz, doch er interpretiert dessen Arbeiten auf kreative - und kontroverse - Weise neu. Er macht sich die Fragehaltung der phänomenologischen Konstitutionsanalyse zu eigen, richtet sich damit jedoch nicht auf die subjektiven Bewusstseins- und Erfahrungsweisen eines Einzelnen, sondern auf die lokalen, situativen Praktiken, in denen die Handelnden für sich und für einander die Welt, in der sie leben, als eine geordnete Wirklichkeit hervorbringen, anzeigen und vollziehen. Diese Perspektive impliziert nicht einen simplen Import phänomenologischer Verfahren in die Soziologie, weshalb es auch falsch wäre, die Ethnomethodologie als eine Art »phänomenologische Soziologie« zu verstehen. Es geht der Ethnomethodologie vielmehr um eine empirische Bestimmung der Konstruktionsleistungen, in und aus denen in jedem Moment des Miteinander-Handelns soziale Geordnetheit erzeugt wird - eine Geordnetheit, die zugleich immer schon vorausgesetzt wird und Bezugspunkt des Handelns ist. Ob man auf der Grundlage dieser Charakterisierung die Ethnomethodologie als einen konstruktivistischen Ansatz betrachtet, sei dahin gestellt,3 entscheidender ist es, festzuhalten, dass die lokalen Konstruktionsleistungen, auf die die Ethnomethodologie abzielt, keine Leistungen eines individuellen Bewusstseins sind, sondern aufeinander bezogene, koordinierte Praktiken der Erzeugung und Stabilisierung der sozialen Welt, also: KoKonstruktionen. Gerade wenn man sich die phänomenologische Genealogie des Konstruktionsbegriffs - Konstitution - vor Augen hält, muss das Konzept der Ko-Konstruktion eigentlich als Fehlbezeichnung erscheinen. Ähnlich wie beim Begriff der Intersubjektivität wird eine Bewusstseinsleistung Egos als Basiskategorie angesetzt und dann mit der subjektiven Sphäre Alters gekoppelt, doch dieser Sprung zu Alter Ego lässt eben das aus, was er zu erklären meint (wie Schütz bereits an Husserls Konzept der Intersubjektivität kritisiert hat). Man entgeht dieser Antinomie nur, wenn man das »Ko-« bereits in die »Konstruktion« hineinverlegt, also Ko-Konstruktion nicht versteht als etwas, das aus dem Zusammenschluss einzelner Konstruktionen hervorgeht, sondern als eine Ko-Orientierung, die bereits jede einzelne Konstruktion bestimmt. Mit der Ko-Konstruktion verhält es sich damit wie mit der Inter-Aktion: Ebenso, wie - ethnomethodologisch betrachtet - der Aktion die Interaktion vorangeht, geht der Konstruktion die Ko-Konstruktion voran. Beide Begriffe müssen sich damit bis zu

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Aus einer ethnomethodologischen Perspektive hat Michael Lynch (2008) seine Skepsis gegenüber einer konstruktivistischen Lesart der Ethnomethodologie formuliert.

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einem gewissen Grad selbst dementieren, da sich ihre soziale Qualität nicht erst durch die nachträgliche Kopplung isolierter, singulärer Akte einstellt, sondern bereits ein konstitutives Element jeder einzelnen Handlung bzw. Konstruktion ist. Eine der überzeugendsten Formulierungen dieser Auffassung von Ko-Konstruktion findet sich bei Volosinov (1975: 146): »Eigentlich ist das Wort ein zweiseitiger Akt. Es wird in gleicher Weise dadurch bestimmt, von wem es ist, als auch, für wen es ist. Es ist, als Wort, genau das Produkt der Interaktion von Sprechendem und Zuhörendem. […] Das Wort ist eine Brücke, die von mir zum anderen führt. Wenn sie sich mit einem Ende auf mich stützt, dann stützt sie sich mit dem anderen auf den Gesprächspartner. Das Wort ist das gemeinsame Territorium von Sprechendem und Gesprächspartner.«

Folgt man dieser Überlegung, dann wäre Ko-Konstruktion die Bezeichnung für ein Merkmal von sprachlich-sozialen Handlungen, das gar nicht negierbar oder vermeidbar ist. Ko-Konstruktion wäre dann gerade nicht zu verstehen als Etikett für ein neues Untersuchungsfeld, das als Bindestrich neben andere Teildisziplinen tritt und ansonsten die Disziplinen insgesamt lässt, wie sie sind.

L ITERATUR Berger, Peter/Luckmann, Thomas (1966): The Social Construction of Reality: A Treatise in the Sociology of Knowledge, New York: Doubleday; dt.: (1970). Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt: Fischer. Bergmann, Jörg (2011): »Von der Wechselwirkung zur Interaktion: Georg Simmel und die Mikrosoziologie heute«, in: Hartmann Tyrell/Otthein Rammstedt/Ingo Meyer (Hg.): Georg Simmels große »Soziologie«: Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren, Bielefeld: Transcript Verlag, S. 125-148. Carnap, Rudolf (1966): Der logische Aufbau der Welt, Hamburg: Felix Meiner (orig. 1928). Garfinkel, Harold (1967). Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice Hall. Knorr-Cetina, Karin (1989): Spielarten des Konstruktivismus, in: Soziale Welt, 40, S. 86-95. Hacking, Ian (1999): The Social Construction of What?, Cambridge, MA: Harvard UP. Holstein, James A./Gubrium, Jaber F. (Hg., 2008): Handbook of Constructionist Research, New York: Guilford Press. Hirschauer, Stefan (2003): »Konstruktivismus«, in: Ralf Bohnsack/Winfried Marotzki/Michael Meuser (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung, Opladen: Leske & Budrich, S. 102-104. Lynch, Michael (2008): »Ethnomethodology as a Provocation to Constructionism«, in: James A. Holstein/Jaber F. Gubrium (Hg.): Handbook of Constructionist Research, New York: Guilford Press, S. 715-73. Pawlowski, Tatjana/Schmitz, H. Walter (Hg., 2003): 30 Jahre »Die gesellschaftliche

H ERKUNFT

UND

A NSPRUCH DES K ONZEPTS | 41

Konstruktion der Wirklichkeit«: Gespräch mit Thomas Luckmann, Aachen: Shaker. Pörksen, Bernhard (Hg.) (2011): Schlüsselwerke des Konstruktivismus, Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Schütz, Alfred (1932): Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien: Julius Springer. Volosinov, Valentin (1975): Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft, Frankfurt/M.: Ullstein (orig. 1929).

Positionspapier: Multimodale Interaktionsanalyse R EINHOLD S CHMITT

1. M ULTIMODALITÄT Eine multimodale Konzeption von Interaktion ist in verschiedener Hinsicht die notwendige »Korrektur« einer wissenschaftshistorischen, aufnahme- und analysetechnisch bedingten Reduktion. Dies gilt für die technisch erstellten Interaktionsdokumente, welche die empirische Grundlage unterschiedlicher Formen von Interaktionsanalysen darstellen. Das gilt gleichermaßen für die mit der materialen Spezifik der Interaktionsdokumente zusammenhängende Komplexität der Untersuchungsgegenstände und –fragen. Schließlich gilt diese Einschätzung für die mit beiden Komplexitäten zusammenhängende methodische und konzeptionelle Adäquatheit. Aus multimodaler Sicht erscheint die Perspektive, die durch die weitgehende bzw. ausschließliche Konzentration auf Verbalität als zentralem Untersuchungsgegenstand der empirischen Analyse von Interaktion entstanden ist, als monomodal. Diese Perspektive reflektiert – was die tatsächliche Komplexität der in den Interaktionsdokumenten festgehaltenen Ursprungssituation betrifft – weder einen theoretisch haltbaren, noch empirisch evidenten autonomen Status von Verbalität als dominanter Ausdrucksressource. Die theoretische, methodische und konzeptionelle Priorisierung von Verbalität entstand vielmehr im Zuge der Etablierung der konversationsanalytischen und gesprächsanalytischen Perspektive auf Interaktion. Sie hat ihren Ursprung in der »gründerzeitlichen« Relevantsetzung einer Situation, in der Beteiligte und Analytiker einen vergleichbar begrenzten Zugang zur faktischen, audiovisuellen Komplexität der Gesamtsituation hatten: dem Telefongespräch. Die Priorisierung von Verbalität macht in ihrer technisch motivierten Limitierung der Komplexitätserfassung bei einem solchen Untersuchungsgegenstand durchaus Sinn. In dieser konversationsanalytischen Gründungsphase, die durch die Dominanz von Telefonkommunikation als dem zentralen Untersuchungsgegenstand gekennzeichnet ist, wurde die mit der Materialspezifik verbundene Reduktion der Komplexitätsrepräsentanz explizit reflektiert. Als die Konversationsanalyse dann jedoch die Telefonzelle verlies und die Tür zur Welt der audiovisuellen Face-to-face-Kommunikation mit Wahrnehmung-Wahrnehmungs-Relevanzen öffnete, wurde das Spannungsverhältnis zwischen verbaler Fixierung und audiovisueller Komplexität nicht mehr hinreichend methodologisch reflektiert. Dieser »wissenschaftsgeschichtliche

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Reduktionismus« wurde auch im Verlaufe des späteren Siegeszuges der Konversationsanalyse und der Erweiterung der Untersuchungsgegenstände durch immer komplexere – beispielsweise institutionell geprägte – Interaktionssituationen nicht konsequent reflektiert oder konzeptuelle und methodisch umgesetzt. Das Bewusstsein hinsichtlich der reduktionistischen Implikationen einer monomodal-verbalen Perspektive hat sich mit der flächendeckenden Substitution der ursprünglich rein auditiven Analysegrundlagen durch audiovisuelle Interaktionsdokumente grundlegend verändert. Dabei spielt auch die Herausbildung einer konsequent multimodalen Perspektive (mehrheitlich von Wissenschaftler/innen mit konversationsanalytischem Hintergrund) eine wesentliche Rolle, sowie die damit einhergehende »zweite Rezeption« von Ansätzen, die bereits sehr früh die faktische multimodale Komplexität des interaktiven Alltags berücksichtigt haben. Nicht zuletzt trägt hierzu jedoch die empirische Evidenz bei, die zeigt, dass und wie sich die onlineanalytische Wahrnehmung aktueller Sprecher/innen, in denen sie ihre interaktive Umgebung verstehensdokumentarisch auf ihre eigene momentane Beteiligung beziehen, auf die Äußerungsproduktion auswirkt. 1.2 Interaktionsanalytische Zugänge Im Moment wird die aktuelle Entwicklung der empirischen Untersuchung von Kommunikation durch ein Kontinuum koexistierender Zugänge bestimmt, die sich bezüglich der theoretisch-methodisch-konzeptionellen Bedeutung von Verbalität unterscheiden. Diese kann man – unter Berücksichtigung dabei unvermeidbarer prototypischer Verzeichnung – wie folgt sehen: 1.3 Klassische Konversationsanalyse Untersuchungen auf der Grundlage dieser Konzeption arbeiten nach wie vor mit Audioaufzeichnungen und gestalten ihre Gegenstandskonstitution so, dass Phänomene und Strukturen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen, die auf der Grundlage einer monomodalen und letztlich immer noch autonom gesetzten Ausdrucksressource, der Verbalität, untersucht werden. 1.4 Modalitätsspezifisch erweiterte Konversationsanalyse Arbeiten mit diesem Schwerpunkt integrieren singuläre visuelle Ausdrucksressourcen bei der multimodalen Erweiterung verbal definierter Konzepte. Sie arbeiten daher auf der Grundlage audio-visueller Interaktionsdokumente. Das Erkenntnisinteresse wird auch hier weitgehend noch von Strukturen verbaler Kommunikation bestimmt. Es geht dabei beispielsweise um Fragen, wie verbale Mechanismen der Interaktionskonstitution wie etwa die Turn-Taking-Organisation durch Blickverhalten, Gestikulation, Mimik etc. mitbestimmt werden.

M ULTIMODALE I NTERAKTIONSANALYSE | 45

1.5 Multimodale Interaktionsanalyse Dieser Ansatz benutzt ausschließlich Videoaufzeichnungen, hat aber im Unterschied zur multimodalen Konversationsanalyse per se kein primäres Interesse mehr an der Rekonstruktion ausschließlich verbaler Strukturen. Das Erkenntnisinteresse bezieht sich vielmehr auf die Rekonstruktion interaktiver Ordnungsstrukturen, die auf einer interaktionstheoretischen Grundlage arbeitet, für welche die Selbstbezeichnung in ihrer Kontrastivität gleichermaßen wissenschaftsgeschichtlich motiviert wie ein weißer Schimmel ist, denn Interaktion ist immer multimodal! Zwischen diesen drei Formen konstitutionsanalytischer Rekonstruktion, die ihre gemeinsame methodologische Grundlage in der ethnomethodologischen Vorstellung einer »Vollzugsrealität« besitzen, besteht einerseits eine große Durchlässigkeit, andererseits gibt es auch deutliche Unterschiede. Letztere beziehen sich vor allem auf die theoretisch motivierte Art der Gegenstandskonstitution und auf die Rolle, welche die bei der Analyse verbaler Interaktion entwickelten Konzepte als Erkenntnisorientierung spielen. Die relative Eigenständigkeit der Zugänge, ihre jeweiligen Schwerpunktsetzungen bei der Analyse von Interaktion, die Rolle, die Verbalität dabei spielt, sowie die Unterschiede in Methode, Theorie und der Bestimmung des Gegenstandsbereichs sind nochmals in folgender Grafik verdeutlicht.

Im Unterschied zu den beiden stärker verbal orientierten Zugängen ist für die multimodale Interaktionsanalyse charakteristisch, dass – ausgehend vom theoretischen Postulat der Egalität aller Ausdrucksressourcen – alle Formen interaktiver Praxis, ungeachtet der bei ihrer Konstitution eingesetzten Ausdrucksressourcen, gleichwertige Untersuchungsgegenstände sind. Das führt im Einzelfall (nicht grundsätzlich!) zur methodisch motivierten Fokussierung von Visualität als bislang weitgehend vernachlässigter Konstituente der Interaktion. Ihren methodischen Ausdruck findet dieses Verfahren beispielsweise in der »visuellen Erstanalyse« (Schmitt 2006, 2007a), bei der Verbalität zunächst motiviert ausgeblendet und erst im späteren Analysegang

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integriert wird. Auch für die ko-konstruktive Gegenstandskonstitution öffnet sich dadurch der Blick auf Zusammenhänge, bei denen Verbalität nicht im Zentrum steht oder gar keine Rolle spielt. An die Stelle von Verbaltranskripten treten dann als empirische Basis der Analyse solcher Zusammenhänge neue Sekundärdokumente. Hierzu zählen beispielsweise Standbildreihen in Form von »Frame-Comics« (Schmitt/Dausendschön-Gay im Druck, Schmitt in Vorbereitung). Frame-Comics bilden den für die Analyse relevanten interaktiven Zusammenhang bewusst und motiviert in Form ausgewählter Standbilder ab, die entlang der faktischen Zeitlichkeit der Interaktion aus dem Primärdokument extrahiert werden. Aus der Perspektive der multimodalen Interaktionsanalyse stellen sich auch die Fragen, in welcher Weise sich die Architektur von Räumen auf Interaktion auswirkt, welche Formen ermöglicht und welche eher verhindert werden und welches sozial geprägte, raumbezogenes Wissen sich in konkreten Formen der (vorinteraktiven) Raumnutzung manifestiert. Diese Fragen werden momentan unter den Begriffen „Interaktionsarchitektur“ und »Sozialtopografie« diskutiert (Hausendorf/Schmitt 2013). Da sich die multimodale Interaktionsanalyse am Prinzip der methodischen Adäquatheit orientiert, steht die Entwicklung solcher Methoden und Konzepte im Vordergrund, die der interaktiven Komplexität durch die analytische Berücksichtigung aller Ausdrucksressourcen in ihrer sequenziellen und simultanen Vollzugscharakteristik und dem zwischen den einzelnen Ressourcen bestehenden Zusammenhang explizit Rechnung tragen. Damit ist zwangsläufig ein durch die Qualität des Untersuchungsgegenstandes motiviertes – produktiv zu verstehendes und zu nutzendes – »strukturelles Misstrauen« gegenüber monomodalen Konzepten verbunden. Im multimodalen Erkenntniszusammenhang entsteht grundsätzlich die Notwendigkeit, etablierte verbale Konzepte nicht fraglos zu nutzen, sondern sie hinsichtlich ihrer Angemessenheit für Erkenntnisinteressen zu reflektieren, die sich an der hör- und sichtbaren Komplexität von Interaktion und ihrer strukturimplikativen räumlichen Umgebung orientieren.

2. V ISUELL WAHRNEHMBARE K O -K ONSTRUKTIONEN Interessiert man sich aus Perspektive der multimodalen Interaktionsanalyse für das breite Spektrum von Ko-Konstruktionen, dann bezieht diese Perspektive systematisch auch solche ko-konstruktiven Praktiken mit ein, für deren Konstitution Verbalität keine Rolle spielt. Für diese Perspektive sind vor allem zwei der von Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft (i.d.Bd.) differenzierten Bereiche relevant, in denen die interaktionstheoretische Annahme des »interactional achivement« als erkenntnisleitender Rahmen für die konkrete Analyse ko-konstruktiver Praktiken analysefaktisch präzisiert wurde: Ko-Orientierung und Ko-Ordination (Dausendschön-Gay/Gülich/ Krafft, i.d.Bd.: 34). Dies betrifft insbesondere die für Ko-Orientierung konstitutive »Herstellung und Beibehaltung der gemeinsamen Aufmerksamkeitsausrichtung; die Organisation der Blickrichtung, deiktische Gestikulationen (»Zeigen«)«, sowie die für Koordination wesentlichen »Ereignisse der gemeinsamen Ausrichtung der Körperposituren, des Handlungsrhythmus oder verschiedener Formen von »interaktivem Alignment« ... «.

M ULTIMODALE I NTERAKTIONSANALYSE | 47

3. G EMEINSAM

GEHEN

Ein Prototyp solcher Ko-Konstruktionen bzw. ko-konstruktiver Praxis, die gänzlich ohne verbale Ko-Operation (dies ist der dritte in Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft i.d.Bd. genannte Bereich) stellen die unterschiedlichsten, im Alltag omnipräsenten Formen des »gemeinsamen Gehens« dar.1 Die ko-konstruktive Qualität des gemeinsamen Gehens (oder des Zusammen-Laufens) ist die wahrnehmbar gemachte, koordinierte, auf den jeweils anderen Beteiligten fein abgestimmte eigene Bewegung im Raum. Diese Bewegung unterscheidet sich erkennbar von der Art und Weise, in der Einzelpersonen – und auch nicht gemeinsam Gehende – die Distanz von A nach B zurücklegen. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass beim gemeinsamen Gehen die sichtbare und symbolträchtige soziale Qualität der Bewegung einen eigenständigen Sinn bzw. Wert – eben den der Ko-Konstruktion erhält (siehe unten). Ausgehend von einer Vorstellung, nach der es sich bei Ko-Konstruktionen um eine besondere Form der gemeinsamen Herstellung von Interaktion handelt, geraten all jene Formen interaktiver Praxis in den Blick, für die die Gemeinsamkeit der Orientierung, die Gleichsinnigkeit der Sinnproduktion, die kollektive Relevantsetzung thematischer oder pragmatischer Aspekte sowie eine wechselseitig akzeptierte koordinative Relevanz bestimmende Merkmale sind. Mechanismen der Interaktionskonstitution werden dazu genutzt, um gemeinsam eine spezifische Form sozialer Bedeutung zu schaffen, die durch ein kollektives Projekt getragen wird, welches die Bearbeiter auf spezifische Weise für die Dauer der Bearbeitung auch auf spezifische Weise sozial miteinander verbindet. In einen solchen ko-konstruktiven Relevanzrahmen gehört – neben Ereignissen, für die Verbalität als konstitutiver Teil des sozialen Austauscht eine Rolle spielt – dann beispielsweise auch der gemeinsame Gang zweier Konfirmandinnen als Duett in der Eröffnungsphase eines Gottesdienstes (Schmitt 2012). Der einzige Unterschied zu verbalen Ko-Konstruktionen besteht darin, dass es sich dabei um »laufende Interaktionsbeiträge« handelt, durch die eine spezifische Form der Sinnkonstitution entsteht. Um sich selbst und der Öffentlichkeit zu zeigen, dass sie als Duett im Kirchenraum unterwegs sind, realisieren die beiden Konfirmandinnen unterschiedliche Verfahren, die in ihrer empirischen Evidenz teils manifest, teils unauffällig sind. Grundsätzlich jedoch sind die Anforderungsstruktur und die zur Bearbeitung eingesetzten Verfahren strukturell mit verbalen Anforderungen und Bearbeitungsverfahren vergleichbar. Im Zentrum der von den Konfirmandinnen investierten Anstrengungen steht Koordination (Schmitt 2007b). Als Duett zu gehen bedeutet, die beiden individuellen Bewegungen kontinuierlich aufeinander abzustimmen und immer wieder mikrostrukturell zu überprüfen und zu justieren. Das, was das Video in Bezug auf den Gang der beiden Konfirmandinnen zeigt, ist nicht etwas fraglos Gegebenes oder Zufälliges. Es ist vielmehr das Ergebnis einer kontinuierlichen gemeinsamen Herstellung und die Folge der Bearbeitung interpersoneller koordinativer Relevanzen.

1

Zur Bewegung im (öffentlichen) Raum – mit mehr oder weniger direktem Bezug auf den Aspekt der koordinierten gemeinsamen Hervorbringung – siehe beispielsweise die Untersuchungen von Ryave/Schenkein (1974), Collet/Marsh (1981) sowie Lee/Watson (1993).

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Abbildung 1: Schritt- und Beinsynchronität bei Hin- und Rückweg zur Osterkerze

Der Gang der Konfirmandinnen zur Kerze ist ein Einzelfall und produziert zunächst fallspezifische Einsichten. Er ist jedoch gleichzeitig auch ein prototypischer Vertreter ›sprachfreier‹ Ko-Konstruktion (siehe auch Schmitt 2012b). In dieser Hinsicht ist er einerseits für die Entwicklung adäquater Analyseverfahren von wesen tlicher Bedeutung. Andererseits erweitert er den Blick auf das Kaleidoskop kokonstruktiver Vielfalt, die in keiner Weise an Verbalität gebunden ist. Die weitere Entwicklung multimodaler Analysen wird dazu beitragen, bislang aufgrund ihrer modalen Konstitutionsspezifik eher unbeachtete Interaktionsdokumente neben verbal konstituierte Ereignisse zu stellen und somit einen differenzierteren Einblick in das Universum ko-konstruktiver Strukturen zu eröffnen, die unseren sozialen Alltag bestimmen. Einen noch wesentlich komplexeren Fall verbalitätsfreier Ko-Konstruktion stellt zum Beispiel der Umzug venezianischer Masken und Kostüme in einer provenzalischen Altstadt dar. Nur unter einer konsequent ko-konstruktiven Perspektive werden bei der Analyse sowohl der fein abgestimmte Mechanismus als auch die Mikroorganisation situativer Koordination deutlich, die sich im vielfältigen Zusammenspiel unterschiedlicher Beteiligungsweisen zeigen. Nur durch ko-konstruktive Aktivitäten kann ein soziales Ereignis im öffentlichen Raum entstehen. Ohne ko-konstruktive und koordinative Abstimmung hat man es lediglich mit merkwürdig gekleideten Personen zu tun, die durch die engen Straßen der Altstadt laufen. Unter einer ko-konstruktiven Sicht wird jedoch die beidseitige Verantwortung für die Konstitution des sozialen Ereignisses im öffentlichen Raum deutlich: Die Masken- und Kostümträger/innen können das ebenso wenig alleine leisten wie die Spalier stehenden, applaudierenden sowie filmenden und fotografierenden Zuschauer. Nur wenn beide Seiten in angemessener Weise ko-konstruktiv investieren, entsteht für die Dauer des Umzugs die spezifische Qualität eines sozialen Ereignisses im öffentlichen Raum.

M ULTIMODALE I NTERAKTIONSANALYSE | 49

Abbildung 2: Fotografieren als ko-konstruktiver Beitrag

4. P RODUKTIVITÄT

DES

K ONZEPTES

Aus multimodaler Perspektive liegt die Produktivität des Konzeptes der KoKonstruktion in zwei unterschiedlichen Bereichen: Zum einen kann aus Sicht der multimodalen Konversationsanalyse die Frage nach den modalitätsspezifischen Möglichkeiten und Restriktionen ko-konstruktiver Praxis beantwortet werden und somit zur Schärfung des Konzeptes beitragen. Man kann beispielsweise systematisch nach multimodalen Ko-Konstruktionen suchen und diese in konzeptreflexiver Weise explizit auf verbale clear cases beziehen. Dabei tauchen eine Reihe interessanter Fragen auf: •

• • • •

Können Teile einer verbalen Konstruktion auch mit anderen modalitätsspezifischen Ressourcen ko-konstruktiv komplettiert werden? Kann beispielsweise eine gestikulatorische Aktivität eine von einem anderen Interaktionsbeteiligten eröffnete verbale Konstruktion vervollständigen? Gibt es für visuell wahrnehmbaren Konstruktionsbeteiligungen reservierte Modalitäten? Ist eine mischmodale Realisierung nur bei komplettierenden oder auch bei initiierenden Konstruktionsteilen möglich? Welche interaktions- und organisationsstrukturellen Bedingungen müssen für mischmodale Ko-Konstruktionen gegeben sein? Ist eine nur visuell wahrnehmbare Komplettierung funktional äquivalent im Vergleich mit einer verbalen Vollform?

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Welche Rolle spielt die Möglichkeiten, verbal gleichsinnig zu komplettieren, in einer andern Modalität (Gestik, Mimik, Blickorganisation) jedoch »NichtGleichsinnigkeit« zu signalisieren?

Dies sind nur einige Fragen, die produktive Irritation entwickeln, wenn man sich von der relativ sicheren Plattform verbaler Ko-Konstruktion entfernt. Ihre Beantwortung würde zu einer Erweiterung des Konzeptes führen, bei denen alle Ausdrucksressourcen gleichwertig Berücksichtigung finden und empirisch hinsichtlich ihrer funktionalen Differenz bzw. Äquivalenz geprüft werden könnten. Zum anderen sensibilisiert die Beschäftigung mit der ko-konstruktiven Perspektive für die unterschiedlichsten Formen gemeinsam hergestellter sozialer Ordnung, die den oben skizzierten Grundlagen der Sinnproduktion entsprechen: »Gemeinsamkeit der Orientierung«, »Gleichsinnigkeit der Sinnproduktion«, »kollektive Relevantsetzung thematischer oder pragmatischer Aspekte« sowie eine »wechselseitig akzeptierte koordinative Relevanz«. Ohne eine solche Fokussierung würden viele Formen von Interaktion hinsichtlich ihrer ko-konstruktiven Qualität überhaupt nicht in den Blick geraten. Diesbezüglich befinde ich mich in vollständiger Übereinstimmung mit Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft (i.d.Bd.), wenn sie die egalitäre Relevanz aller Ausdrucksphänomene im Rahmen einer multimodalen Erkenntnisperspektive betonen: »Im Kern bedeutet eine multimodale Orientierung, dass die Annahme der Situiertheit jedes kommunikativen Ereignisses Beschreibungen fordert, in denen der Beitrag aller verfügbaren Handlungsressourcen zur Sinnkonstitution und ihr Zusammenspiel im interaktiven Geschehen zum Gegenstand der Untersuchungen gemacht werden... « (Dausendschön-Gay/Gülich/Krafft, i.d.Bd.: 35)

L ITERATUR Collett, Peter/Marsh, Peter (1981): »Patterns of public behavior: Collision avoidance on a pedestrian crossing«, in: Nonverbal Communication, Interaction and Gesture. Selections from Semiotica (Approaches to Semiotics 41), The Hague: Mouton, S. 199-217. Hausendorf, Heiko/Schmitt, Reinhold (2013): Interaktionsarchitektur und Sozialtopografie. Umrisse einer raumlinguistischen Programmatik. Arbeitspapiere des UFSP Sprache und Raum (SpuR) Nr. 01, 59 Seiten, Zürich – Mai 2013 http://www.spur.uzh.ch/research.html. Lee, John, R. E./Watson, Rodney (1993): »Regards et habitudes des passants. Les arrangements de visibilité de la locomotion«, in: Annales de la recherche urbaine 57-58, S. 100-109. Ryave, Lincoln A./Schenkein, James N. (1974): »Notes on the art of walking«, in: Roy Turner (Hg.): Ethnomethodology. Selected readings, Harmondsworth: Penguin, S. 265–274. Schmitt, Reinhold (2006): »Videoaufzeichnungen als Grundlage für Interaktionsanalysen«, in: Sylvia Dickgießer/Ulrich Reitemeier/Wilfried Schütte (Hg.): "Symbolische Interaktionen" (Sonderheft Deutsche Sprache 34, 1-2). Berlin, 18-31.

M ULTIMODALE I NTERAKTIONSANALYSE | 51

Schmitt, Reinhold (2007a): »Theoretische und methodische Implikationen der Analyse multimodaler Interaktion«, in: Werner Holly/ Ingwer Paul (Hg.): Medialität und Sprache (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 54/1). Bielefeld: Aisthesis, S. 26-53. Schmitt, Reinhold (2007b) (Hg.): Koordination. Analysen zur multimodalen Interaktion (Studien zur Deutschen Sprache Band 38). Tübingen: Narr. Schmitt, Reinhold (2012a): »Gehen als situierte Praktik: ‚Gemeinsam gehen‘ und ‚hinter jemandem herlaufen’«, in: Gesprächsforschung Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion (ISSN 1617-1837), Ausgabe 13, S. 1-44 (www.gespraechs forschung-ozs.de). Schmitt, Reinhold (2012b): »Störung und Reparatur eines religiösen Ritus: Die erloschene Osterkerze«, in: Wolfgang Klein/Stephan Habscheid (Hg.): Dinge und Maschinen in der Kommunikation, Sonderheft der Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 168, S. 62-91. Schmitt, Reinhold (in Vorbereitung): »„Frame-Comics“ als Dokumente multimodaler Interaktionsanalysen«, erscheint in: Heiko Hausendorf/Wolfgang Kesselheim/Reinhold Schmitt (Hg.): Interaktionsarchitektur, Sozialtopografie und Interaktionsraum. Tübingen: Narr. Schmitt, Reinhold/Dausendschön-Gay, Ulrich (im Druck): Freiraum schaffen im Klassenzimmer: Fallbasierte methodologische Überlegungen zur Raumanalyse. Erscheint in: Arbeitspapiere des UFSP Sprache und Raum (SpuR) Nr. 04, 102 Seiten, Zürich – September 2015, http://www.spur.uzh.ch/research.html.

Ko-Konstruktionen in Formulierungs- und Textherstellungsprozessen

Ko-Konstruktionen im Gespräch: Zwischen Kollaboration und Konfrontation 1 S USANNE G ÜNTHNER

1.E INLEITUNG Eines der wesentlichen Merkmale der Face-to-Face-Kommunikation ist die wechselseitige Ausrichtung der Interagierenden an den Handlungen ihres Gegenübers. Eine Koordination des sprachlichen Handelns im Hier-und-Jetzt der Interaktion ist deshalb möglich, da die Prozesse sprachlicher Produktion und Rezeption in der Face-to-FaceKommunikation maximal synchronisiert sind (Schütz/Luckmann 1984: 123f.; Luckmann 2007: 178ff.; Auer 2000; Günthner 2012): GesprächsteilnehmerInnen überwachen den sequenziell organisierten Gesprächsablauf, passen ihre Beiträge dem situierten, dialogisch produzierten Interaktionsprozess an und erzeugen auf diese Weise gemeinsames sprachliches bzw. soziales Handeln. Nach Tomasello (2005: 19) sind die Grundlagen menschlicher Sprache und sprachlicher Kommunikation darin zu sehen, dass Menschen über sozio-kognitive Fertigkeiten verfügen, die es ihnen ermöglichen, (i) »joint attentional frames« aufzubauen und dabei ihr gemeinsames Interesse auf einen Gegenstand bzw. eine Aufgabe zu richten, (ii) kommunikative Intentionen zu verstehen, die im Kontext solcher »joint attentional frames« aufkommen, und dass (iii) Menschen in der Lage sind, sich in andere hineinzuversetzen und deren Handlungen nachzuvollziehen (»role reversal imitation«). Insbesondere die Fähigkeit, Absichten des Gegenübers einschätzen zu können, gilt bei Tomasello (2005: 19) als »the most fundamental socialcognitive ability«, die wiederum die Voraussetzung menschlicher Sprachfähigkeit bildet.2

1

2

Dieser Beitrag steht in Zusammenhang mit dem von der DFG geförderten Projekt: »Grammatik und Dialogizität: Retraktive und projektive Konstruktionen im interaktionalen Gebrauch» GU 366: 5-1. Teile des Beitrags wurden in Zusammenhang mit meinem Forschungsaufenthalt am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) im April/Mai 2013 verfasst. Larissa Böhringer, Katharina König, Benjamin Stoltenburg und Lars Wegner danke ich für ihre Kommentare zu einer früheren Fassung des Textes. Vgl. in diesem Zusammenhang das von Alfred Schütz (Schütz/Luckmann 1979) entwickelte Konzept der »Generalthese der wechselseitigen Perspektiven«, das die Vorausset-

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Die gemeinsame Ausrichtung der Teilnehmenden am fortlaufenden Interaktionsprozess und die Fähigkeit, die Intentionen des Gegenübers zu deuten und Bedeutungen zu inferieren, stehen im Fokus zahlreicher interaktionaler Studien: Auf der Grundlage empirischer Untersuchungen veranschaulichen sie, wie InteraktionsteilnehmerInnen die Prozesse der lokalen Bedeutungsherstellung in Orientierung am Interaktionsverlauf sowie an den Handlungen der GesprächspartnerInnen einerseits und an vorhandenem Musterwissen andererseits koordinieren.3 So argumentieren u.a. Arbeiten der Online-Syntax (Auer 2000, 2006, 2007) und der »dialogical linguistics« (Linell 2009), die auf einer inkrementellen und prozessorientierten Konzeption von Grammatik gesprochener Sprache basieren, dass die Aktualisierung grammatischer Konstruktionen in alltäglichen Interaktionen nicht etwa aus autonomen, vom sequenziellen Kontext losgelösten Strukturen resultiert, sondern aus sequenziell organisierten »Inter-Acts« (Linell 2009): Die Äußerungen einer Sprecherin richten sich an denen des vorausgehenden Sprechers aus und stellen selbst zugleich wiederum Strukturlatenzen zur Verfügung, die der nächste Sprecher für die Syntax seiner Äußerungen nutzen kann. Grammatische Konstruktionen und die Herstellung kommunikativer Bedeutungen sind also keineswegs als Produkte eines einzelnen Sprechers zu betrachten, sondern als dialogisch ausgerichtete Errungenschaften und koordinierte Aktivitäten, die im Prozess der Interaktion emergieren und erheblich von den Reaktionen (bzw. ausbleibenden Reaktionen) der RezipientInnen beeinflusst werden (Goodwin 1995; Auer 2000, 2007; Thompson/Couper-Kuhlen 2005; Gülich/Mondada 2008; Auer/Pfänder 2011). Aufbauend auf Sacks‘ (1967/95: 528) Beobachtungen zu »collaboratively built utterances« haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Untersuchungen dem Phänomen syntaktischer Ko-Konstruktionen gewidmet.4 Solche gemeinschaftlich erzeugten sprachlichen Gestalten, bei denen eine Sprecherin eine Äußerung beginnt und ein zweiter Sprecher diese initiierte Struktur als »joint action« (Clark 1996) komplettiert bzw. inkrementell erweitert, verwischen zum einen die dichotome Einteilung in Sprecher vs. Hörer, darüber hinaus veranschaulichen sie aber auch, wie der syntaktische Strukturaufbau in situ funktioniert und wie Prozesse lokaler Bedeutungs- und Handlungskonstitution koordiniert werden. Darüber hinaus liefern solche »collaborative turn sequences« (Lerner 1991), »joint productions« (Ferrara 1992), »co-constructions« (Ono/Thompson 1995), »kollaborativen Konstruktionen« (Günthner 2000, 2006, 2009, 2012), »collaborative productions« (Szczepek 2000a, b), »shared syntax« (Helasvuo 2004) bzw. »kollektiven Äußerungsproduktionen« (Gülich/Mondada 2008) wichtige Hinweise auf geteilte grammatische Wissensbestände der Interagierenden (Günthner 2012) und damit auf »socially shared cognition« (Schegloff 1991). Ferner zeigen u.a. Deppermanns (2008) Arbeiten zu Verstehen-

3

4

zung für soziales Handeln bildet. Hierzu gehören die beiden Idealisierungen der »Austauschbarkeit der Standpunkte“ sowie der „Kongruenz der Relevanzsysteme«. Hierzu u.a. Gumperz (1982); Auer (2000, 2007); Günthner (2000); Selting/Couper-Kuhlen (2001); Deppermann et al. (2006); Günthner/Imo (2006); Hausendorf (2007); Auer/Pfänder (2011). Siehe u.a. Lerner (1987, 1991, 1996, 2002); Ono/Thompson (1996); Günthner (1999, 2006; 2012; 2013); Szczepek (2000a, b); Helasvuo (2004); Mazeland (2009); Brenning (2012).

K OLLABORATION UND K ONFRONTATION | 57

sprozessen in Gesprächen, dass kollaborative Produktionen eng mit der Dokumentation von Verstehen verwoben sind. Im vorliegenden Beitrag werde ich anhand kollaborativ erzeugter grammatischer Konstruktionen die enge Verwobenheit zwischen sprachlicher Musterbildung und dialogischen und zeitlichen Prozessen sozialen Handelns in der Interaktion veranschaulichen. Zugleich soll gezeigt werden, dass jene grammatischen Ko-Konstruktionen, die eine syntaktische Einheit des vorausgehenden Sprechers fortsetzen, keineswegs mit dessen inhaltlicher Ausrichtung, dessen Interaktionsmodalität 5 bzw. »stance« (Stivers 2008) übereinstimmen müssen – im Gegenteil: Gelegentlich liefern zweite SprecherInnen Fortsetzungen der vom Gegenüber initiierten syntaktischen Muster, um eine gegenläufige, kritische Bewertung zum Ausdruck zu bringen, eine Änderung der Perspektive durchzuführen oder einen Wechsel der Interaktionsmodalität zu initiieren. Auch wenn Ko-Konstruktionen Verfahren interaktiver Bedeutungskonstitution repräsentieren und konzeptuell in den Kontext von interaktionalen Untersuchungen zu Koordination und Kooperation gehören (siehe DausendschönGay/Gülich/Krafft i.d.Bd.: 48), können sie durchaus konfrontativ bzw. diskordant ausgerichtet sein und als Ressource zur Bewältigung unterschiedlicher kommunikativer Aufgaben eingesetzt werden. Die vorliegende Untersuchung basiert auf einem Datenkorpus, das informelle Face-to-Face-Interaktionen im Familien- und Freundeskreis, institutionelle Gespräche (Arzt-Patienten-Interaktionen, genetische Beratungsgespräche, Fortbildungsseminare und »Head-Hunting«-Telefonate einer deutschen Firma) sowie Gespräche in unterschiedlichen medialen Kontexten (Radio-Phone-Ins, Talkshow-Gespräche und Interaktionen aus »Reality-TV-Shows«) enthält. Die Interaktionen wurden von 1989 bis 2012 in Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Thüringen aufgezeichnet und nach dem »Gesprächsanalytischen Transkriptionssystem« GAT 2 (Selting et al. 2009) transkribiert.

2.

KOLLABORATIV ERZEUGTE GRAMMATISCHE K ONSTRUKTIONEN

Im Prozess der Interaktion trifft man immer wieder auf syntaktische Strukturen, an deren Produktion mehrere SprecherInnen aktiv beteiligt sind. Sacks (1967/95: 147; zitiert in Szczepek 2000a: 2) beschreibt »collaboratively built utterances« als soziale Phänomene des »to do together«: »The fact that there is a job that any person could clearly do by themselves (sic), provides a resource for members for permitting them to show each other that whatever it is they’re doing together, they’re just doing together to do together. That is to say, if one wants to find a way of showing somebody that what you want is to be with them, the best way to do it is to find some way of dividing a task which is not easily dividable, and which clearly can be done by either one alone.«

5

Zum Konzept der Interaktionsmodaliät siehe u.a. Kallmeyer (1979).

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Wie u.a. die Studien von Lerner (1991; 1996), Ferrara (1992), Ono/Thompson (1995), Szczepek (2000a, b), Helasvuo (2004), Günthner (2006, 2010, 2011, 2012) und Brenning (2012) verdeutlichen, repräsentieren solche von mehreren GesprächsteilnehmerInnen erzeugte Konstruktionen keinesfalls marginale Phänomene, sondern sie treten in mündlichen Interaktionen immer wieder auf und liefern insofern wichtige Hinweise auf interaktive und kognitive Prozesse grammatischer Musterbildung, als sie zeigen, dass syntaktische Strukturen Formen sozial geteilter Wissensbestände darstellen.6 In Anlehnung an Ono/Thompson (1995) werde ich die folgenden Typen gemeinschaftlich erzeugter syntaktischer Muster unterscheiden:7 (i) (ii)

kollaborative Komplettierungen kollaborative Expansionen.

Bei (i) kollaborativen Komplettierungen setzt eine Sprecherin mit der Initiierung einer syntaktischen Gestalt ein und ein zweiter Sprecher führt die vom Gegenüber begonnene grammatische Struktur zu Ende, indem er die noch ausstehenden, projizierten syntaktischen Elemente beisteuert. Lerner (1991, 1996, 2002) spricht hierbei von »compound turn-constructional units«, da diese Ko-Konstruktionen aus zwei, von verschiedenen SprecherInnen erzeugten, Komponenten bestehen. Die erste Komponente – beispielsweise ein »if-clause« – macht typischerweise eine bestimmte zweite Komponente – den »then-clause« – als Fortsetzung erwartbar. Im folgenden Gesprächsausschnitt, der einer Reality-TV-Sendung entstammt, wird eine solche kollaborative Komplettierung (bzw. »compound turn-constructional unit«) erzeugt, wobei der zweite Sprecher (Willi) die von der ersten Sprecherin (Sonja) initiierte wenn-Konstruktion fortsetzt: 8

QUOTE MACHEN (REALITY TV-SHOW) 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174

6

7 8

Sonja: Willi: Sonja: Willi: Sonja: Ede: Willi: Ede:

[das] ist überHAUPT kein thema. aber WENNS dir darum geht (.) ähm;= =QUOte zu [machen;] [QUOte ]zu machen,= =das ist DAS find ich schlecht.= =da wird mir SCHLECHT; das ist ECHT prostitution. ich glaub NICHT dass er das macht; WEIß ich nicht. NEI:N Eben;= =das glaub ich AUCH nicht. (-) DANke ede. hehe

Hierzu auch Lerner (1991); Goodwin (1995); Ono/Thompson (1995); Thompson/CouperKuhlen (2005); Auer (2007); Günthner (2006; 2010; 2011; 2012); Gülich/Mondada (2008); Mazeland (2009). Hierzu auch Ferrara (1992); Szczepek (2000a) sowie Günthner (2012). Zu einer konstruktionsgrammatischen Analyse dieses Ausschnitts siehe Günthner (2009).

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Nachdem Sonja im Verlauf ihrer wenn-Äußerung (»aber WENNS dir darum geht (.) ähm;=«; Z. 163) ins Zögern gerät, übernimmt Willi den Turn und komplettiert

die Protasisbildung (Z. 164) »=QUOte zu [machen;]«). Die kurze Pause und die Zögerungspartikel »ähm« in Zeile 163 sowie die strukturell projizierte Fortsetzung (die ausstehende Verbalkomponente) bieten ihm die Gelegenheit, in die begonnene Struktur seiner Gesprächspartnerin einzusteigen und diese weiterzuführen. Mit seiner Fortsetzung der von Sonja begonnenen Struktur etabliert er sich als Ko-Sprecher (Lerner 1991; Ford 1993) und trägt dazu bei, die Szene mit aufzubauen, in der die folgenden Bewertungen (»=das ist DAS find ich schlecht.=« bzw. »da wird mir SCHLECHT; das ist ECHT prostitution.«; Z. 166-168) Gültigkeit besitzen. Nach Sonjas Ratifikation von Willis Komplettierung durch eine wortwörtliche Wiederholung (Z. 165) führt dieser die begonnene wenn-dann-Konstruktion mit der noch ausstehenden Apodosis fort: »=das ist [DAS find ich schlecht.]=« (Z. 166). Willis Bewertung wird von Sonja durch die Produktion einer eigenständigen Apodosis nicht nur gestützt, sondern noch verstärkt: »da wird mir SCHLECHT; das ist ECHT prostitution.« (Z. 167-168) Bei dieser kollaborativen Äußerungskonstruktion handelt es sich um eine projizierte und damit syntaktisch erwartbare Fortsetzung eines von der ersten Sprecherin initiierten Musters; der zweite Sprecher übernimmt hier also eine begonnene, aber noch »ungesättigte« Struktur und komplettiert diese: 163 Sonja: 164 Willi: … 166 Willi:

aber WENNS dir darum geht (.) ähm; =QUOte zu [machen;] =das ist DAS find ich schlecht.=

Solche gemeinsamen Realisierungen komplexer syntaktischer Konstruktionen sind u.a. deshalb möglich, weil RezipientInnen – eng synchronisiert mit den SprecherInnen – Hypothesen über den weiteren Verlauf projizierter Strukturen aufstellen, die es ihnen dann ermöglichen, in die emergente Konstruktionsbildung einzusteigen und diese entsprechend der aufgebauten Erwartungen fortzusetzen (Auer 2007; Günthner 2009; 2012). Wie u.a. Gülich/Mondada (2008: 46) ausführen, gibt es bestimmte Typen von »ersten Zügen«, die eine Vervollständigung im zweiten Zug begünstigen: »Dazu gehören beispielsweise Aufzählungen, bestimmte Formen der Subordination wie die Struktur ‚wenn p, dann q‘, die Projektion eines Gegensatzes mit mais [frz. ‚aber‘; SG] […] oder eines Relativsatzes […]«. Zugleich veranschaulicht die vorliegende Ko-Produktion, dass der Einstieg des zweiten Sprechers keineswegs an syntaktisch stark markierten Stellen (wie nach Beendigung des ersten Teils einer bi-klausalen Konstruktion) erfolgen muss; vielmehr weisen Ko-Produktionen auf vielfältige Möglichkeiten der syntaktischen Aufteilung von komplexen Konstruktionen hin.9 Im Zusammenhang mit seiner Differenzierung zwischen »agreeing« und »showing agreement« geht Schegloff (1984: 42) u.a. auf ko-konstruierte Sätze ein, die eine zentrale Technik darstellen, um zu markieren »[that] one knows what the other has in

9

Hierzu auch Szczepek (2000a: 17).

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mind by saying it for him, as in completing his sentence or his argument«. Auch der vorliegende Ausschnitt QUOTE MACHEN verdeutlicht, wie die Interagierenden im Gesprächsverlauf ihre sprachlichen Handlungen koordinieren und zugleich anhand syntaktischer Ko-Produktionen inhaltliche Konkordanzen markieren: Mit seiner Komplettierung von Sonjas Äußerung indiziert Willi, dass er ihre Einstellung bzgl. der quotenbezogenen Anbiederung eines Mitspielers teilt. Kollaborative Komplettierungen werden oftmals als kommunikative Praxis eingesetzt, um Übereinstimmungen, lokale Gruppenzugehörigkeiten und geteilte epistemische Verantwortlichkeiten zu markieren.10 Zugleich fungieren sie insofern als Methode der »Verstehensdokumentation«, als der zweite Sprecher mit der Äußerungsfortsetzung dokumentiert, dass er »eine Aktivität so vollzieht, wie sie der Partner selbst auch hätte vollziehen können« (Deppermann 2008: 237). (ii) Gelegentlich bauen zweite SprecherInnen auch eine von der ersten Sprecherin bereits abgeschlossene syntaktische Einheit aus, indem sie eine Erweiterung der bereits beendeten syntaktischen Struktur durchführen und sich in das Format der ersten Sprecherin »einnisten« (Mazeland 2009; Günthner 2012). Im Gegensatz zu den kollaborativen Komplettierungen handelt es sich bei diesen kollaborativen Expansionen um »unprojected opportunities for completions« (Lerner 1996: 256) bzw. um »syntactic additions« (Ono/Thompson 1995: 16).11 Im folgenden Ausschnitt unterhalten sich Ulla, ihre beiden Töchter (Sara und Lisa) sowie Karl (Saras Mann) über alte Familienfotos. In Zeile 007 fragt Ulla ihren Schwiegersohn, ob er schon immer Locken hatte: 12

A FRECHE GOSCH 007 Ulla: 008 Karl: 009 Ulla: 010 Sara: 011Ulla: 012 Lisa: 013 Ulla: 014 Lisa: 015 Ulla: 016 Sara: 017 Lisa: 018 Ulla: 019 Sara:

(SCHWARZWALD 93)

hasch du scho immer so LOCKe ghabt? ja JA. ja. und en BART hat er au scho [(ziemlich LANG.)] [hahahahahahahaha] haha [hahaha] [hahaha] kamsch mit hihi em BART haha auf d_WELT. ha? [hahaha] [hahaha] hahahaha dass mer erKENNT dass er_en BUB [hh° war.] [ hahaha ]ha hahahaha[haha] [haha]haha

Ulla baut mit ihrer Nachfrage in Zeile 013 die bereits initiierte scherzhafte Modalität aus: »kamsch mit hihi em BART haha auf d_WELT. ha? «. Diese Äußerung ist sowohl syntaktisch (durch die gesättigte syntaktische Gestalt und die folgende

10 Vgl. auch Sacks (1967/95); Szczepek (2000b); Gülich/Mondada (2008) sowie Mazeland (2009). 11 Siehe auch Mazeland (2009) zu »kollaborativen Komplettierungen« vs. »Positionserweiterungen«. 12 »Gosch« ist Schwäbisch für »Mund« bzw. »Klappe«. Siehe hierzu auch Günthner (2012).

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Bestätigungspartikel » ha?«) als auch prosodisch (aufgrund der finalen Intonationsbewegung) abgeschlossen. Nach dem Lachen von Lisa und Ulla reaktiviert Sara jedoch Ullas vorausgehenden Redezug als Bezugsäußerung für ihren adverbialen dass-Satz: kamsch mit hihi em BART haha auf d_WELT. ha? … dass mer erKENNT dass er_en BUB [hh° war.]

Mit dieser spaßhaften Bemerkung rekontextualisiert Sara Ullas vorausgehende scherzhafte Frageäußerung als Hintergrund für ihre eigene Blödelei. Die aktivitätsbezogene Fortsetzung wird auf der Ebene der Syntax untermauert: Statt einer unabhängigen Konstruktion (etwa: »so hat man erkannt, dass er ein Bub war«) bindet Sara die Fortsetzung der Blödelei durch den Subjunktor dass eng an die vorausgehende Sprechhandlung Ullas an, wodurch deren Fragesatz »kamsch mit hihi em BART haha auf d_WELT. ha?« (Z. 013) als Ankersatz ihres konsekutiven dass-Teilsatzes rekontextualisiert wird. Im Unterschied zu kollaborativen Komplettierungen, bei denen der zweite Sprecher den Turn übernimmt, obwohl noch kein TRP (transition relevance place) vorliegt, ergreift der zweite Sprecher bei kollaborativen Expansionen den Redezug erst, nachdem die erste Sprecherin ihren Turn beendet hat und liefert dann eine Zugabe (»clausal glue-on«; Couper-Kuhlen/Ono 2007: 531f.), die von der Syntax der Vorgängeräußerung nicht gefordert bzw. projiziert wird.13 Während in den präsentierten Ausschnitten QUOTE MACHEN und A FRECHE GOSCH die zweiten SprecherInnen die inhaltliche sowie modalitätsbezogene Ausrichtung der ersten Sprecherinnen fortführen, zeigen sich im vorliegenden Datenmaterial durchaus auch »collaboratively built utterances« (Sacks 1967/95), bei denen die Fortsetzungen der zweiten SprecherInnen nicht mit der inhaltlichen Ausrichtung bzw. dem »stance« (bzw. der affektiven Ausrichtung) der ersten SprecherInnen übereinstimmen; im Gegenteil: Der zweite Sprecher kollaboriert zwar auf der formalen Ebene, doch inhaltlich nimmt die Fortsetzung der syntaktischen Struktur eine neue – teilweise sogar entgegengesetzte und damit disaffilierende – Ausrichtung an.14 Solche diskordanten Ko-Konstruktionen sollen im Folgenden genauer analysiert werden.

3. D ISKORDANTE K O -K ONSTRUKTIONEN Zweite SprecherInnen können sowohl mittels kollaborativer Komplettierungen als auch anhand von Expansionen bereits abgeschlossener Redezüge diskordante Fort13 Kollaborative Expansionen haben Ähnlichkeit mit den von Sacks (1967/1995: 528f.) als »appendors« bezeichneten »collaboratively built utterances«: »They work in the following way: Some person A, introduces a sentence. B treats that as an independent clause, but which, if seen as the dependent clause to an independent clause, is okay […]«. 14 Zu den konversationsanalytischen Konzepten von »(dis)alignment«, »(dis)affiliation« und »stance« siehe u.a. Stivers (2008) und Lindström/Sorjonen (2013).

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setzungen produzieren, die eine inhaltliche bzw. modalitätsbezogene Umfokussierung der vom ersten Sprecher anvisierten Handlung bzw. Modalität einleiten und damit »disaffiliation« (Stivers 2008; Lindström/Sorjonen 2013) aufweisen. 3.1. Kollaborative Komplettierungen mit diskordanter Ausrichtung Der folgende Ausschnitt entstammt einem Gespräch unter Studentinnen: Mia, Adi, Karla und Freya reden über eine Radiosendung, die Mia und Adi gemeinsam gestalten werden. In Zeile 001f. rekapituliert Adi nochmals die Detailplanung der Sendung und führt an, dass zunächst Mia »ne stunde interview;« (Z. 004) hat. Doch bevor sie ihren eigenen Part in der Sendung darlegen kann (»ICH habe? (.)«; Z. 005), setzt Mia die von Adi begonnene syntaktische Konstruktion fort: INTERVIEW (RATHMANN: 2012) 001 002 003 004 005 006 007 008 009 010

Adi: Mia: Adi: Mia: Adi: A,M,K&F:

also dann is DAS ungefähralso des is ne STUNde interview, mhm. DU hast ne stunde interview; ICH habe? (.) ne stunde ge [((lachen))] [ne stunde ]

((lachen))

Auf Adis Zögern und steigende Intonationskontur mitten in ihrer Äußerungsproduktion hin (d.h. nach der linken Verbalklammer; Z. 005),15 komplettiert Mia das von Adi begonnene Syntagma mit der Produktion des noch ausstehenden direkten Objekts »ne stunde « (Z. 006). Die Teilnehmenden erzeugen somit eine kollaborativ produzierte Äußerung mit »one speaker talking at a time« (Lerner 1996: 244), wobei der »animator« (Goffman 1979) mitten in der Äußerungsproduktion wechselt: Adi: Mia:

ICH habe? (.) ne stunde ge

Obgleich die syntaktische Struktur wie aus einem Guss erscheint, legt Mia der vorausgehenden Sprecherin eine Formulierung in den Mund, die deren ursprünglicher inhaltlicher Ausrichtung bzw. der von ihr initiierten Modalität nicht entspricht: Adis Radiosendung wird mit kichernder Stimme als »geQUATsche« ironisch abgewertet. Mit ihrem anschließenden Lachen verstärkt Mia die spaßhafte Interaktionsmodalität. Adi wiederum reproduziert in Zeile 008 nicht nur Mias Komplettierung, sondern auch die von Mia initiierte Spaßmodalität. Wie Lerner (2004) ausführt, markieren erste SprecherInnen in der Regel ihre Autorität über die Turnkonstruktion, indem sie auf die Äußerungskomplettierung des

15 Siehe Szczepek (2000a) sowie Brenning (2012) zur prosodischen Orientierung zweiter SprecherInnen in kollaborativen Konstruktionen.

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Gegenübers mit Akzeptanz oder Ablehnung reagieren. Auch im vorliegenden Ausschnitt honoriert Adi einerseits die von Mia eingeführte scherzhafte Modalität, doch zum andern macht sie ihre Autorität insofern geltend, als sie ihre in Zeile 009 initiierte Äußerung nun selbst zu Ende bringt: »und zwanzig minuten n_ GUtes interview;>«. Hierbei überschreibt sie nicht nur Mias Bewertung »ge « durch » ähä a- aquí). Gemeinsam versuchen M und P offensichtlich, eine sichere Beschreibung der Symptome zu konstruieren, um eine korrekte Diagnose zu ermöglichen. Dazu "basteln" sie eine mehrsprachige und multimodale Äußerung, in welcher sprachliche und nicht sprachliche Ressourcen, Rückwärtsschritte und Reparatursequenzen akkumuliert werden. Das zugrundeliegende Prinzip ist jenes der Intersubjektivität (Schegloff 1992; Mondada 2012), welches darauf gründet, dass die Gesprächsteilnehmer die sequentielle Organisation jedes »Turns« gemeinsam gestalten: »… le tour est une forme dynamique qui est incrémentée progressivement; chaque ajout peut faire l'objet d'une recherche de mot, d'une hésitation ou d'une correction – comme si chaque mot était soumis à l'examen de son énonciateur et de ses destinataires avant qu'ils poursuivent. (...) Tout se passe donc comme si la progression incrémentale du tour était constamment soumise à un monitoring de tous les participants, étant négociable pas à pas et construite interactivement et réflexivement. « (Mondada 2012, 113)

Zu anderen Zeitpunkten werden potentielle Missverständnisse interaktiv nicht angezeigt, etwa am Beispiel des undurchsichtigen bri tisas oder der Sequenz iere quittiert mit ayer (gestern') aber reformuliert als anteontem (vorgestern). Hier findet sich das entgegengesetzte Prinzip der Progressivität, welche die Weiterführung der Interaktion auch um den Preis eines momentanen Nicht-Verstehens privilegiert, welche von den Teilnehmern interaktiv als – in unserem Beispiel für die Diagnose des Arztes – irrelevant behandelt wird (Firth 1996, 244). Die Teilnehmer »acceptent ainsi une certaine indétermination de l’intercompréhension à toutes fins pratiques« (Mondada 2012, 115).

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Zusammenfassend konfigurieren M und P gemeinsam die zur Verfügung stehenden sprachlichen Ressourcen derart, dass die anstehende praktische Aufgabe – eine ärztliche Diagnose – gelöst werden kann. Von größter theoretischer Bedeutung ist dabei, dass in dieser Folge von Wiederholungen, Umformulierungen und Paraphrasen keinerlei Grenze zwischen »Sprachen« angezeigt wird. spalda und columna, doile, doi und duele wie auch cui und aquí, iere, ayer und anteontem »[constituent] des ressources lexicales cherchées et trouvées par le locuteur en cours qui ne sont pas catégorisées par les participants comme [‘appartenant à l'une ou l'autre langue’].« Mondada (2012) Das hat Konsequenzen für die interaktive Behandlung der »Sprachenwahl«, wie wir noch genauer ausführen werden. In einem ähnlichen Beispiel, welches am Schalter eines großen Schweizer Bahnhofs aufgenommen wurde (und das wir hier aus Platzgründen nur sehr verkürzt wiedergeben [cf. Lüdi/Barth/Höchle/Yanaprasart 2009]), endet die Interaktion genau so mehrsprachig mit einer Mischung aus Elementen französischer, italienischer, spanischer, deutscher und portugiesischer Herkunft: Beamter voilà. il prossimo treno (.) binario cinco hm? Dodici diciotto. Kunde (3) merci [obrigado] Beamter [bitteschön]. service Kunde obrigado (h) Beamter molto grazio. ((sic)) (( wendet sich zum For scher)) es goht mit händ und füess aber es goht ((sc. es geht mit Händen und Füssen, aber es geht))

Am Schluss wendet sich der Schalterbeamte mit einem Kommentar an den neben ihm sitzenden Forscher und bestätigt, dass es sich dieses Handlungsmuster durchaus bewusst ist, und dass es häufig und banal ist. Dass die sprachlichen Routinen, die dabei verwendet werden, aus verschiedenen »Sprachen« stammen, ist im Moment deren gemeinsamer Mobilisierung durch die Teilnehmer irrelevant, was man daran sieht, dass diese Elemente nicht als Einzelsprachen zugehörig kategorisiert werden.

3. Z EITVERSETZTE K OMMENTARE ZU SPRACHLICHEN P RAKTIKEN Wir haben soeben Beispiele von ko-konstruierter Mobilisierung mehrsprachiger Ressourcen in einer extremen exolingual-mehrsprachigen Situation beobachtet und festgestellt, dass ein on-line-Kommentar die interaktive Wahrnehmbarkeit dieses Phänomens bezeugt. Es ist deshalb nicht überraschend, dass Mischformen auch Gegenstand zeitverzögerter Diskurse über die Sprachenwahl sind. Offensichtlich gehört die gemischte Rede zum Inhalt geteilter sozialer Vorstellungen über die Sprachenwahl in exolingual-mehrsprachigen Situationen. Der folgende Ausschnitt stammt aus einem Interview mit einer deutschen Auszubildenden im Anschluss an ein Berufspraktikum in Frankreich.

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Also es ist jetzt nicht mehr so, dass ich sag: um Gotteswillen meinen nächsten Sommerurlaub möcht ich da überhaupt nicht verbringen, sondern es hat auch gezeigt, dass in Frankreich nette Leute sind. Nicht nur so wie er damals gesagt hat, ja geht überhaupt nicht. Und das war dann schon so, ja so beeindruckend, sag ich jetzt auf eine Art und Weise, dass man den totalen Gegensatz gesehen hat, dass man mit den Leuten, auch wenn man jetzt kein Französisch kann, irgendwie kommunizieren kann. Es geht auch im schlimmsten Fall mit Händen und Füssen und Gesichtsausdrücken und also das hat dann schon einiges gewandelt, so dass ich denk, nächstes Jahr könnt ich auch nach Frankreich rüber gehen.

Im Berufspraktikum reifte die Erkenntnis, dass man mit den Franzosen kommunizieren kann, auch wenn man die Sprache nur rudimentär spricht. Es ist kein Zufall, dass sie dieselbe stereotype Wendung verwendet wie der Schalterbeamte; »mit Händen und Füssen«. Sie steht als Chiffre für die verbale und non-verbale Kommunikation in extremen exolingualen Situationen. Einen ähnlichen stereotypen Ausdruck verwendet Tobias S., ein leitender Angestellter des Pharmaunternehmens , wenn er in einem semi-direktiven Interview von seinem sprachlichen Alltag spricht: TB

GL TB GL TB GL TB GL TB

und mir hei jez beschlosse well’s zähjährig isch gsi mir düe d’Jury komplett uswächsle un ich ha jez z’erscht Males Meeting müesse leite mit dr komplett neue Jury zäh komplett neu Lütt oder se Mal zämme bringt de findet mene Sprach und eh isch e Mischig zwüsche Basel-Hochdütsch-Änglisch [oder s’isch igend] [(h)] üses Esperanto [wo mr do] [(h)] jez gfunde hei un jez simmer d(r)a gsi und hei sächzäh Projäkt gha müesse entscheide welles. (...) [(h)] (h) on-und me das findet sie oder das isch würkli mir hei nä nem da chömme kreativi Prozäss chömme z’Gang Mhm= =mir hei au das vo de vo de Sprach hei mr halt natürli müesse usblände oder hei de da i üsem Chuderwälsch-Esperanto hei mr hei mr das düre diskutiert

Die Begriffe Mischung (»de findet mene Sprach und es isch e Mischig zwüsche Basel-Hochdütsch-Änglisch «), bzw. Chuderwälsch-Esperanto bezeichnen offensichtlich eine Form mehrsprachiger Rede. Sie sind aus zwei Gründen interessant. Einerseits bezieht sich Tobias B. auf eine bei zirkulierende doxa — auch was die Beziehung zwischen Mehrsprachigkeit und Kreativität betrifft —, andererseits verweisen die Personalpronomina eindeutig auf kollaborative Prozesse (»man findet eine Sprache«, »unser Esperanto, das wir da gefunden haben«, »wir haben die Sprache [sc. die Standardsprache] ausblenden müssen«, »wir haben das durchdiskutiert«), die wir als Ko-Konstruktion der verwendeten sprachlichen Mittel interpretieren. Diese Äußerungen in semidirektiven Interviews sind durch verschiedenste Teilnehmer bezeugt. Sie werden selbstständig, ohne irgendwelche Stimulierung durch die

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Interviewer formuliert und reflektieren die beobachtete mehrsprachige Rede ohne jegliche negative Konnotationen. Sie sind offensichtlich Teil eines gemeinsamen Diskursuniversums, aus welchem die Teilnehmer schöpfen können.

4. W EITERE S PUREN DER KO - KONSTRUIERTEN M EHRSPRACHIGKEIT Natürlich ist die Sprachmischung nicht die einzige Spur der Multikompetenz. Codeswitching aufgrund der wechselnden Konstellation der Interaktionsteilnehmer (»participant related c.s.«; Auer 1988) ist häufiger, besser bekannt — und anerkannt. Auch hier muss ein Beispiel genügen. Die Redaktionskommission des internen Magazins von diskutiert, auf Deutsch als lingua franca, die Farbe des Titelblattes der nächsten Ausgabe. Alle Teilnehmende sind deutschsprachig oder haben gute Deutschkenntnisse. Plötzlich tritt der Chef Patrick W. auf: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

SM: =jetzt rein (.) nur (.)aso auch von (.) von der& &grafiksprache die mir jetzt zumindest so bekannt ist& &dass man halt braun (.) dass man das mit hellen tönen& &mischt mit blau[tönen] CF: [aaaah] ((die Tür hat sich ge öffnet, PW ist eingetreten, allge meines Stimmengewirr)) PW: [ha ha ha ha ha] SM: now it’s gett[ing] BK: [ha ha ha ha ha]= PW: the language is [(xxx) once again] SM: [we switch in English] ((Gelächter)) PW: what a benefit= SS: =we only getting started JK: ((für sich)) (xxx) PW: sorry about that that again= CF: =that’s great= PW: =yeah i’m sure it’s perfect [((Gelächter))] CF: [what eh]= PW: [yeah CF: =christoph you said we have to use white (.) who says& &we have to use white we ?

Das Erscheinen von Patrick W, wird mit allgemeinem Gelächter regelrecht in Szene gesetzt. Es ist offensichtlich Teil des geteilten Wissens, dass jetzt auf Englisch gewechselt wird. Dieser Wechsel wird in mehreren Turns ko-konstruiert. Bevor CF in Zeile 19 auf Englisch auf den deutschen Redebeitrag von CB (Z. 4) reagiert, wird der Wechsel mehrfach kommentiert (Z. 7-18). Beachtenswert sind insbesondere die Reparaturstrategien von PW (Z. 14), um allfällige negative Konsequenzen für sein Image durch die Tatsache zu neutralisieren, dass wegen ihm auf Englisch gewechselt werden muss. Dieser Wechsel wird gemeinsam und widerstandslos vollzogen, Allerdings wechselt die Interaktion einige Minuten später, als PW den Raum wieder verlässt, verzugslos wieder auf Deutsch.

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Während im vorigen Beispiel der Sprachwechsel mit Kommentaren gleichsam markiert und on-line interaktiv validiert wird, beobachten wir viele reibungslose code-switchings,3 die aber post hoc kommentiert und gleichsam gerechtfertigt werden. Dies ist zum Beispiel der Fall von Jamal H. Obwohl seine Deutschkenntnisse rudimentär sind, riskiert er es, sie im mehrsprachen Modus einzusetzen und wechselseitig vom Englischen ins Deutsche und zurück zu switchen. Wir verzichten hier darauf, die Sequenz nochmals abzudrucken (cf. Lüdi/Höchle/Yanaprasart 2010) und beschränken uns auf die Kommentare von Jamal H. in einem auf die Aufnahmen einer Arbeitssitzung in seinem Laboratorium von folgenden Interview: Pour moi, le plus important c’est qu’ELLES s’entendent et se comprennent sur les changements qu’ils vont faire à ce protocole, parce que c’est un document qu’ELLES utilisent chaque jour pour travailler. Ça ne sert à rien de parler en anglais et puis je dois réexpliquer, redire et (attendre qqn à traduire), donc j’essaie de faire traducteur en même temps. Donc là, c’est vraiment pour faciliter, c’està-dire pour que tout le monde se sente à l’aise, tout le monde comprenne, tout le monde sur le même niveau, et puis voilà, efficacité ça veut dire vraiment immédiatement lorsqu’on a fini la réunion tout le monde connaît déjà le message. Tous les rapports doivent être en anglais. Tout document officiel, le study plan, doit être en anglais. Le travail expérimental, ça peut être en allemand ou anglais. Il y a ce que nous appelons raw data, les données brutes, c’est en allemand. Les working documents, les documents avec lesquels elles [sc. les laborantines] travaillent, sont en allemand, et ça, c’est un peu toléré parce qu’on est en Suisse. C’est un mélange. Parfois c’est intéressant, mais je ne me rends pas compte quand je parle et parfois il y a un mélange linguistique. (JH )

Frappierend ist in diesen Beispielen die Übereinstimmung zwischen dem Handeln (dem code-switching als beobachtbarem Phänomen in der Rede) und dem Sagen (dem Sprachwechsel als Gegenstand des Diskurses der Teilnehmer). Wir schließen daraus auf einen hohen Grad an Übereinstinnung zwischen den verbalisierten Sprachvorstellungen der Teilnehmer und ihren tatsächlichen Sprachpraktiken, wenn es darum um interaktiv aushandelte mehrsprachige Rede geht (und gehen deshalb davon aus, dass in der von Tobias B. angeführten Jury tatsächlich mehrsprachig geredet wurde). Hinweise auf mehrsprachige Praktiken finden sich auch in einer ganz anderen Textsorte: in den Direktiven der Firmenleitungen zur Sprachenwahl. Auch hier beschränken wir uns auf zwei Beispiele Im Rahmen ihres Sprachenmanagements beweist , eine gesamtschweizerisch tätige Anbieterin von mannigfaltigen Logistikdienstleistungen, was man eine »mehrsprachige Gesinnung« nennen kann, in dem sie in einer Personalrekrutierungsbroschüre ebenso wie im internen Magazin mehrsprachige Lösungen begünstigt:

3

Siehe Poplack 1987 für den Unterschied zwischen »flagged« (markiertem) und »unflagged« oder »smooth« (reibungslosem) code-switching.

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Chez nous, vous travaillerez dans des équipes mixtes regroupant des profils, des langues, des âges et des talents très différents. Respect et tolérance: telle est ici la devise de chacun. (Werbebroschüre) [Chez ], 106 nations sont représentées au sein du personnel et on y parle 56 langues. En tête de classement figure l'Italie, suivie de l'Espagne, du Portugal, de la Turquie, de l'Allemagne, de la France, de la Serbie Monténégro et de la Croatie. Un énorme potentiel de connaissances et de compétences que met à profit. (Dossier Diversité N°8/2007 Si l’on réussit à créer un environnement fait de tolérance et de respect, la mixité est un formidable terreau de créativité», (...) Dans une équipe mixte, il y a toujours quelqu’un qui connaît déjà certaines problématiques et qui peut apporter des solutions.» (Interview Edgar Kälin ).

Zwar widersprechen die tatsächlichen Sprachpraktiken am Arbeitsplatz häufig diesem Lob der Mehrsprachigkeit (cf. Lüdi/Höchle/Yanaprasart 2013) — gerade weil die Sprachenwahl ko-konstruiert werden muss und in der Regel nicht einfach verordnet werden kann. Nichtsdestoweniger bezeugen diese Texte die in der Firma gültige endoxa.

5. U NTERSCHIEDLICHE V ORSTELLUNGEN VON M EHRSPRACHIGKEIT Wer die zitierten Beispiele genauer ansieht, wird rasch bemerken, dass sie auf sehr unterschiedlichen Vorstellungen von Mehrsprachigkeit gründen. Diese finden ihren Widerhall in zwei theoretischen Strängen, die durch namhafte Linguisten vertreten werden, jeweils geteilten sozialen Vorstellungen entsprechen und Zeugnis von der Polyphonie der Diskurse über Mehrsprachigkeit ablegen. Die bekannteste und verbreitetste Auffassung ist gleichsam »additiv«. Sie gründet auf der Prämisse, dass es so etwas wie autonome sprachliche Systeme gibt (die »Langue« von de Saussure oder die »Kompetenz« von Chomsky), durch klare Grenzen getrennt, am adäquatesten durch das Bild von Standardsprachen mit stabilen Normen wiedergegeben. Diese Sprachen werden getrennt voneinander erworben und ebenso getrennt voneinander durch autonome kognitive Subjekte mobilisiert, welche idealiter in nebeneinander lebenden homoglossischen Sprachgemeinschaften leben. Die auf dem Territorialprinzip basierende Schweizer Viersprachigkeit ist für diese Vorstellung prototypisch. Eine zweisprachige Person beherrscht deshalb ihre beiden Sprachen vollständig, ist gleichsam ein Muttersprachler in beiden zugleich (Bloomfield 1933, Ducrot/Todorov 1972, 83). Beim code-switching handelt es sich entsprechend um die Aneinanderreihung von Sequenzen in der Matrixsprache und der eingebetteten Sprache, die vollständig nach den Regeln der entsprechenden Sprachen gebildet werden (Myers Scotton 1997). Auszuhandeln gibt es dabei höchstens die Alternanz zwischen den Sprachen, nicht die beiden Sprachen als solche. Dieser Auffassung steht die bereits erwähnte Theorie von der »integrierten Multikompetenz« gegenüber (Cook 2008, Lüdi 2011, Franceschini 2011, Berthoud/Grin/ Lüdi 2013). Das mehrsprachige Repertoire (Gal 1986) wird verstanden als eine

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Menge von Ressourcen (Lüdi/Py 2009), erworben dank einer mehrsprachigen Erwerbskompetenz (Bono/Stratilaki 2009). Diese Ressourcen werden von den Sprachteilnehmern gemeinsam genutzt (soziale Kognition) bzw. konstruiert, um lokale Antworten auf praktische Probleme zu finden. Wenn man sie als unbestimmte und offene Menge von grammatikalischen, lexikalischen Mikrosystemen ansieht, die zu unterschiedlichen Registern, Lekten oder »Sprachen« gehören, nur teilweise stabilisiert und für die Sprachteilnehmer verfügbar sind (siehe Lüdi/Py 2009 für Details), dann werden sie in Funktion der Konfigurationen ihrer Sprachkenntnisse kreativ eingesetzt (Mondada 2001, Pekarek Doehler 2005). Dies geschieht häufig improvisiert im Sinne der »Bastelwerkzeuge« von Lévi-Strauss (1962: 27). Auf der Suche nach Lösungen ihrer kommunikativen Probleme bewegen sich die mehrsprachigen Sprecher kreativ bis an die Grenzen ihrer Sprachen und häufig über sie hinaus. Dies führt zu unterschiedlichen Formen von code switching und code mixing. Das Resultat ist, traditionell gesprochen, Hybridität, welche aber, im Gegenteil zu alten Vorurteilen gegenüber Sprachmischungen, positiv konnotiert ist, wie der Begriff »unser Esperanto« im Zitat von andeutet. Dieses »Bastelkonzept« stellt mit anderen Worten die erwähnten stereotypen Vorstellungen vom Status von Sprachen als autonome und kontextfreie Einheiten in Frage und damit auch die Idee von klaren Sprachgrenzen (vgl. schon Schuchardt 1917, 8). Ohne dass wir die Existenz unterschiedlicher Sprachen leugnen wollten (wenn wir mit einem Sprecher von Thai oder Suaheli kommunizieren wollen, wird uns dies schmerzlich bewusst), legen wir den Akzent auf deren Dynamik und Entwicklung in Kontaktsituation, d. h. auf die Emergenz von neuen Mikrosystemen im Sinne einer »gramática mestiza« (Pfänder 2009). Oder mit zwei anderen Zitaten: »Viewing language as a complex system makes us regard linguistic signs not as ›autonomous objects of any kind, either social or psychological‹, but as ›contextualised products of the integration of various activities by [particular] individuals in particular communicative situations‹« (Harris 1993: 321) »It logically follows that they [sc. the languages] are continually created to meet new needs and circumstances.« (Toolan 2003: 125)

Im Lichte der Fragestellung dieses Buches zu Ko-Konstruktion bedeutet dies, dass in der mehrsprachigen Situation nicht nur die Sprachenwahl, sondern die verwendeten Ressourcen selber Gegenstand einer Ko-Konstruktion sind. Grundsätzlich ziehen wir die zweite Vorstellung von Mehrsprachigkeit vor. Freilich scheint auch die erste einen hohen Erklärungswert für zahlreiche Diskurse und Praktiken zu haben, die wir im Laufe unserer Feldforschung beobachten konnten. Das scheinbare Paradox lässt sich einfach erklären, wenn man annimmt, dass es weniger um Unterschiede auf der Ebene der Ressourcen geht als auf jener ihrer Verwendung; wir schlagen deshalb vor, die Mobilisierung der Ressourcen auf einem Kontinuum zwischen »einsprachiger Rede« (welche die Verwendung einsprachiger Kompetenzen simuliert) und der »extremen mehrsprachigen Rede« zu situieren:

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A

B

einsprachige Rede

C

D

extrem mehrsprachige Rede

In der Position A wählt eine mehrsprachige Person eine Kommunikationsstrategie, welche darin besteht, alle anderen Sprachen ihres Repertoires außer einer einzigen gleichsam »abzuschalten«. Sollten seine Kenntnisse in dieser Sprache nicht ausreichen, wird sie eine per definitionem hybride4 lingua franca verwenden; ihre Rede wird Spuren anderer Sprachen enthalten und sich auf der Achse nach rechts verschieben (Position B). Wenn unter Mehrsprachigen mehrere Sprachen möglich sind, treten participant related oder discourse related code-switchings auf, was in etwa der Position C entspricht. Am interessantesten sind zweifellos extreme Mischformen (Position D), welche, wie schon angedeutet, die Grenzen zwischen »Sprachen« selbst in Frage stellen. Pennycook formuliert daraus folgende Forschungsfrage: »In what ways do people draw on language resources, features, elements, styles as they engage in translingual, polylingual, metrolingual language practices«.5 Es ist allerdings bezeichnend, dass Pennycook den Unterschied wieder auf der Ebene der Sprecher anzusetzen scheint: »While a multilingual person may be understood as using constellations of separate languages, a multilanguage user simultaneously uses linguistic features drawn from multiple interconnected linguistic resources. (Pennycook, s. d.)«

Wenn man konsequenterweise unterschiedliche Formen von Sprachverwendung postuliert, würde dies bedeuten, dass einmal (Position C) die Konstellation der verwendeten Sprachen, das andere Mal (Position D) die sprachlichen Ressourcen selber Gegenstand einer Ko-Konstruktion sind.

4

5

»When language users are in an ELF mode, the range of resources and possibilities available to them is not limited to English however. Even though English is apparent on the surface, all of the speakers’ linguistic resources are concurrently available for use. They are not automatically switched off only because a non-L1 is chosen as means of spoken communication« (Hülmbauer et al. 2013). Siehe dazu auch Markaki et al. 2013 and Lüdi et al. 2013. »… metrolingualism describes the ways in which people of different and mixed backgrounds use, play with and negotiate identities through language; it does not assume connections between language, culture, ethnicity, nationality or geography, but rather seeks to explore how such relations are produced, resisted, defied or rearranged, how metrolingual language users distance themselves from the retrolingual; its focus is not on language systems but on languages as emergent from contexts of interaction.« (Otsuji and Pennycook, 2010) »What if the participants do not orient to the juxtaposition of languages in terms of switching? What if they instead orient to a linguistic norm where all available linguistic resources can be used to reach the goals of the speaker? Then it is not adequate to categorise this conversation as bilingual or multilingual, or even as language mixing, because all these terms depend on the separability of linguistic categories. I therefore suggest the term polylingual instead.« (Møller, 2008: 218)

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Im Übrigen legen auch neuere Theorien des Fremdspracherwerbs in der exolingualen Interaktion Wert auf die Anpassung an den kommunikativen Kontext: »Embodied learners soft assemble their language resources interacting with a changing environment. As they do so, their language resources change. Learning is not the taking in of linguistic forms by learners, but the constant adaptation and enactment of language-using patterns in the service of meaning-making in response to the affordances that emerge in a dynamic communicative situation.« (Larsen-Freeman/Cameron 2008)

Genau diese hohe Anpassungsfähigkeit Mehrsprachiger könne auch der Grund für deren höhere Kreativität sein: »It is not unreasonable to propose that the cognitive connection between creativity and plurilingualism is the ability to perceive and produce new units of meaning […] Consequently, given high level plurilinguals’ increased perceptual awareness, they are likely to gain new insights, create new analogies and experience creative moments in any domain where perception is at work.« (Furlong 2009, 365)

6. B ILANZ Wir wollten zunächst den in DYLAN gewählten multimethodologischen Ansatz, d. h. die Kombinationen von Konversationsanalyse und Diskursanalyse, auf die Probe stellen. Dazu haben wir vier Typen von Diskursen über Sprachenwahl und Mehrsprachigkeit unterschieden: (a) in der Interaktion selber eingebettete Kommentare, (b) zeitversetzte Kommentare zu beobachteten Sprachpraktiken, (c) autonome Kommentare, die auf geteilte soziale Vorstellungen verweisen, und (d) der offizielle Diskurs präskriptiver Natur, der das Sprachmanagement bzw. die Sprachideologie der betreffenden Firmen reflektiert. Die Analyse dieser Diskurse brachte einen hohen Grad an Bewusstsein der Sprachteilnehmer für und von Konvergenz mit den beobachteten Sprachpraktiken zu Tage. Gleichzeitig blieben die Formen des mehrsprachigen Redens oft verschwommen, so dass sich komplementär eine feine Interaktionsanalyse aufdrängt. Konversationsanalyse und Diskursanalyse können so unterschiedliche Facetten der Mehrsprachigkeit beleuchten (cf. Berthoud/Grin/Lüdi eds. 2013 für mehr Details). Zweitens ergab die Analyse dieser vielfältigen Daten, dass die Praktiken selbst ebenso wie ihre Entsprechungen als Diskursgegenstände mit unterschiedlichen Vorstellungen von Mehrsprachigkeit oder besser: von der Mobilisierung mehrsprachiger Ressourcen korrelierbar sind. Dabei schien sich zunächst eine Dichotomie »additive Mehrsprachigkeit« vs. »integrierte Mehrsprachigkeit« abzuzeichnen. Freilich wurde unsere Hypothese, dass die Wahl der benutzten sprachlichen Ressourcen dynamisch und flexibel ist in dem Sinne klar bestätigt, dass es sich keineswegs um ein Entweder-oder handelt, sondern zahlreiche Zwischen- und Mischformen (»mehrsprachige Rede«) zu beobachten sind. Wir erwarteten drittens, dass die Sprachenwahl oft nicht einfach deterministisch vorgegeben ist, sondern in der Interaktion von den Partnern gemeinsam immer wie-

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der neu »ausgehandelt« wird. Es hat sich gezeigt, dass die Situation noch komplexer ist. Solange wir uns auf der linken Hälfte der Kontinuums bewegen, scheint sich die Ko-Konstruktion in der Tat auf die Wahl einer einzigen Sprache (Positionen A und B) oder auf die Formen und Funktionen der Alternanz (Position C) zu beschränken. Von größerer theoretischer Bedeutung dürften die Beobachtungen an Position D sein, wo die vorgängige Existenz von »Sprachen« in Frage gestellt wird, insofern es um die Ko-Konstruktion der sprachlichen Ressourcen selber geht. Diese Beobachtung gilt es im Hinblick auf eine umfassende Mehrsprachigkeits-, ja wohl gar Sprachtheorie weiter auszuloten. Transkriptionskonventionen [ ] : Überlappungen = : unmittelbarer Anschluss (Latching) & : Fortsetzung des Sprecherbeitrags über mehrere Linien (.); (..); (1) : kurze, lange Pause und Pause von mehr als einer Sekunde ? : steigender Tonfall . : fallender Tonfall ! : Betonung >schneller