Konsens und Konflikt - 35 Jahre Grundgesetz: Vorträge und Diskussionen einer Veranstaltung der Freien Universität Berlin vom 6. bis 8. Dezember 1984 [Reprint 2019 ed.] 9783110906868, 9783110108569

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Konsens und Konflikt - 35 Jahre Grundgesetz: Vorträge und Diskussionen einer Veranstaltung der Freien Universität Berlin vom 6. bis 8. Dezember 1984 [Reprint 2019 ed.]
 9783110906868, 9783110108569

Table of contents :
Inhalt
Geleitwort
Vorwort der Herausgeber
Podiumsdiskussion
Colloquium 1. Der Verfassungskonsens im Angesicht außenpolitischer Kontroverse
Zur Einführung
Konsens in der Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition Eine notwendige Funktionsbedingung des demokratischen Rechtsstaates?
Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der innenpolitischen Kontroverse um die Außenpolitik
Die Kontroverse um die Außenpolitik in der Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland (Westintegration, Wiederbewaffnung, Ostpolitik, aktuelle militärpolitische Debatte)
Außenpolitik der Gemeinden?
Standortbestimmungen der aktuellen Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition
Colloquium 2. Politischer Konsens und sozialer Konflikt Zur aktuellen Geltung des Sozialstaatsprinzips
Zur Einführung
Die Entwicklung des deutschen Sozialstaates zwischen bürokratischer Instrumentalisierung und demokratischer Zukunftsvorsorge
Leistungsstaat contra Rechtsstaat Sozialstaatliche Errungenschaften zwischen Freiheitsverwirklichung und Freiheitsgefährdung
Sozialstaat und politische Legitimation
Der Sozialstaat als Steuerstaat
Der informelle Sektor als Sozialstaatsersatz?
Der Sozialstaat als Versorgungsstaat Von der Wohlstandssicherung zur Massenarbeitslosigkeit
Entmündigung durch Sozialstaatlichkeit
Colloquium 3. Konstanz und Wandel im Verständnis der Parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik
Zur Einführung
Die Herrschaftsordnung der parlamentarischen Demokratie Die rechtsstaatliche Demokratie zwischen Staatsverwaltung, Parteien und Verbänden
Konflikt und Konsens im politischen System der Bundesrepublik
Neuer Konsens durch plebiszitäre Öffnung?
Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demokratie Zur Garantie des institutionellen Willensbildungsund Entscheidungsprozesses
Zur Legitimität politischen Entscheidungshandelns Vom Mehrheits- zum Minderheitsprinzip?
Auf dem Wege zur unmittelbaren Demokratie?
Colloquium 4. Die verfassungsrechtliche Bändigung der Gewalt und die aktuelle Gewaltdebatte
Zur Einführung
Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates
Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt im Verfassungsstaat der Bundesrepublik
Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung in der Bundesrepublik Deutschland
Zum Recht auf Widerstand nach dem Grundgesetz
Zum Verhältnis von Emanzipation und Gewalt in den außerparlamentarischen Oppositionen der Bundesrepublik
Wann schlagen politische Protestbewegungen in Terrorismus um? Lehren aus der Erfahrung der 70er Jahre
Colloquium 5. Politische Kultur und das Gefüge sozialer Bündnisse
Zur Einführung
Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität
Thesen zum Zusammenhang von Wertwandel, alter versus neuer Politik und politischen Institutionen
Zur Legitimität des politischen Systems in den westlichen Demokratien
Die ökologische Herausforderung: Bewußtseinswandel, Konflikt und Konsensbildung auf der Ebene der parlamentarischen Demokratie
Brauchen wir eine neue Identität? Deutsche Nation, bundesrepublikanische Staatsräson, europäische Perspektive —12 Thesen
Der auferstandene Epikur Erfahrungen mit akademischer Jugend
Verzeichnis der Autoren

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Konsens und Konflikt

Konsens und Konflikt 35 Jahre Grundgesetz Vorträge und Diskussionen einer Veranstaltung der Freien Universität Berlin vom 6. bis 8. Dezember 1984

herausgegeben von

Albrecht Randelzhofer und

Werner Süß

W DE G 1986 Walter de Gruyter • Berlin • New York

Albrecht Randelzhofer Dr. jur., Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Verfassungsgeschichte an der FU Berlin Werner Süß Dr. rer. pol., Dipl. Pol. Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der FU Berlin

ClP-Kurztitelaufnahme

der Deutschen

Bibliothek

Konsens und Konflikt : 35 Jahre Grundgesetz ; Vorträge u. Diskussionen e. Veranst. d. Freien Univ. Berlin vom 6. - 8. Dezember 1984 / hrsg. von Albrecht Randelzhofer u. Werner Süss. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1986. ISBN 3 - 1 1 - 0 1 0 3 1 5 - X NE: Randelzhofer, Albrecht [Hrsg.]; Universität (Berlin, West)

© Copyright 1985 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Vorbereitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektrischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany. Einbandgestaltung: Hauke Sturm und Rudolf Hübler, Berlin Satz und Druck: Buch- und Offsetdruckerei Wagner GmbH, Nördlingen Bindearbeiten: Lüderitz 8c Bauer Buchgewerbe GmbH, Berlin

Inhalt Geleitwort Vorwort der Herausgeber Podiumsdiskussion (Leitung: D I E T E R Teilnehmer:

VII IX HECKELMANN)

1

ERNST BENDA JÜRGEN S C H M U D E RUPERT SCHOLZ BURKHARD H I R S C H O T T O SCHILY

Colloquium 1 (Leitung:

ALBRECHT RANDELZHOFER)

Der Verfassungskonsens im Angesicht außenpolitischer Kontroverse . . . .

37

WILHELM GREWE

Konsens in der Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition - Eine notwendige Funktionsbedingung des demokratischen Rechtsstaates?. . . .

40

J O S T DELBRÜCK

Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der innenpolitischen Kontroverse um die Außenpolitik

54

ERNST N O L T E

Die Kontroverse um die Außenpolitik in der Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland

68

WOLFGANG GRAF VITZTHUM

Außenpolitik der Gemeinden?

75

KLAUS BÖLLING

Standortbestimmungen der aktuellen Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition

93

Colloquium 2 (Leitung: Hellmuth Bütow) Politischer Konsens und sozialer Konflikt - Zur aktuellen Geltung des Sozialstaatsprinzips

101

HANS-HERMANN HARTWICH

Die Entwicklung des deutschen Sozialstaates zwischen bürokratischer Instrumentalisierung und demokratischer Zukunftsvorsorge

105

VI

Inhalt

HANS HERBERT VON ARNIM

Leistungsstaat contra Rechtsstaat - Sozialstaatliche Errungenschaften zwischen Freiheitsverwirklichung und Freiheitsgefährdung

117

CLAUS O F F E

Sozialstaat und politische Legitimation

127

KLAUS VOGEL

Der Sozialstaat als Steuerstaat

133

DIETER GRÜHN

Der informelle Sektor als Sozialstaatsersatz?

139

KLAUS SCHROEDER

Der Sozialstaat als Versorgungsstaat — Von der Wohlstandssicherung zur Massenarbeitslosigkeit

172

WOLFRAM ENGELS

Entmündigung durch Sozialstaatlichkeit

190

Colloquium 3 (Leitung: DIETRICH HERZOG) Konstanz und Wandel im Verständnis der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik

197

ERHARD DENNINGER

Die Herrschaftsordnung der parlamentarischen Demokratie — Die rechtsstaatliche Demokratie zwischen Staatsverwaltung, Parteien und Verbänden

200

HEINRICH OBERREUTER

Konflikt und Konsens im politischen System der Bundesrepublik

214

JÜRGEN FIJALKOWSKI

Neuer Konsens durch plebiszitäre Öffnung?

236

HASSO HOFMANN

Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demokratie Zur Garantie des institutionellen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses

267

WALTER LEISNER

Zur Legitimität politischen Entscheidungshandelns - Vom Mehrheits- zum Minderheitsprinzip?

287

JOHANNES AGNOLI

Auf dem Wege zur unmittelbaren Demokratie?

299

Colloquium 4 (Leitung: PETER HÜBNER) Die Verfassungsstaatliche Bändigung der Gewalt und die aktuelle Gewaltdebatte

309

DIETMAR WILLOWEIT

Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates

313

VII

Inhalt DETLEF MERTEN

Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt im Verfassungsstaat der Bundesrepublik

324

ULRICH MATZ

Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung in der Bundesrepublik Deutschland

336

R U D O L F WASSERMANN

Zum Recht auf Widerstand nach dem Grundgesetz

348

W E R N E R SÜSS

Zum Verhältnis von Emanzipation und Gewalt in den außerparlamentarischen Oppositionen der Bundesrepublik

365

PETER WALDMANN

Wann schlagen politische Protestbewegungen in Terrorismus um? Lehren aus der Erfahrung der 70er Jahre

399

C o U o q u i u m 5 (Leitung: GESINE SCHWAN)

Politische Kultur und das Gefüge sozialer Bündnisse

429

H E L M U T KLAGES

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität

434

U D O BERMBACH

Thesen zum Zusammenhang von Wertwandel, alter versus neuer Politik und politischen Institutionen

449

M A X KAASE

Zur Legitimität des politischen Systems in den westlichen Demokratien . .

463

F R I T Z VILMAR

Die ökologische Herausforderung - Bewußtseinswandel, Konflikt und Konsensbildung auf der Ebene der parlamentarischen Demokratie

495

ALEXANDER SCHWAN

Brauchen wir eine neue Identität? Deutsche Nation, bundesrepublikanische Staatsräson, europäische Perspektive - 1 2 Thesen

509

H E R B E R T SCHNÄDELBACH

Der auferstandene Epikur- Erfahrungen mit akademischer Jugend Verzeichnis der Autoren

. . . .

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Geleitwort

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland hat im zeitlichen Geltungsrahmen der vergangenen 35 Jahre die Existenzbedingungen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates im ausgewogenen Zusammenspiel der drei Staatsgewalten von Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung gesichert. Dieser Erfolgsbilanz gegenüber hat der 35.Jahrestag in der politischen Öffentlichkeit eine vergleichsweise geringe Resonanz erfahren: Unsere parlamentarische Demokratie wird weithin als selbstverständlich akzeptiert. Gleichwohl ist das Grundgesetz neuen Herausforderungen an seinen Geltungsbestand derzeit ausgesetzt. Die Stichworte — außenpolitischer Grundkonsens und Verteidigungspolitik — sozialstaatliche Daseinsvorsorge und Arbeitslosigkeit — demokratische Mehrheitsregel im Verhältnis zu Bürgerinitiativen, zur Friedensbewegung und zur Partei der Grünen — staatliche Gegenwehr gegen »gewaltfreien Widerstand« — politische Kultur und Wertebewußtsein beschreiben nur die Kernelemente der aktuellen Diskussion. Um die Lebendigkeit der Verfassung, ihre gestaltende und ordnende Kraft zu verdeutlichen und zugleich durch Verarbeitung der Konflikte ständig erneut Grundkonsens zu erzeugen, sind insbesondere die Universitäten als Stätten freier Forschung und Lehre aufgerufen, Forum eines Konfliktaustrags für das breite Meinungsspektrum zu sein. Die Veranstaltung des Symposions zum 35.Jahrestag des Grundgesetzes unter Beteiligung herausragender Vertreter von Wissenschaft und Politik sowie die Herausgabe dieses Bandes sind der Beitrag der Freien Universität hierzu. Hervorzuheben waren der sachbezogene Austausch auch der gegensätzlichsten Argumente und die engagierte Beteiligung besonders der Studentenschaft sowie der Berliner Öffentlichkeit. Mit der Erörterung der vorgelegten Referate und schließlich durch die öffentliche Podiumsdiskussion mit rund 1500 Teilnehmern hat sich die Freie

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Geleitwort

Universität gemäß ihrem Selbstverständnis als Ort freier geistiger Auseinandersetzung erwiesen. Für das Gelingen der Veranstaltung, die nicht zuletzt zu einer fruchtbaren Diskussion in der Öffentlichkeit geführt hat, danke ich allen Mitwirkenden, insbesondere den Referenten und Organisatoren.

Professor Dr. Dieter Heckelmann Präsident der Freien Universität Berlin

Vorwort der Herausgeber Die in diesem Band gesammelten Beiträge sind Vorträge, die, auf Anregung und unter konzeptioneller Federführung der Herausgeber, während des Kongresses „Konsens und Konflikt - Das Grundgesetz vor den Herausforderungen der 80er Jahre« in der Zeit vom 6. bis 8. Dezember 1984 an der Freien Universität Berlin gehalten wurden. Der Jahrestag der Verfassung war Anlaß, die Meinung prominenter Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien sowie Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen — Historiker, Juristen, Ökonomen, Philosophen, Politologen und Soziologen — zu verfassungspolitisch zentralen Fragestellungen einzuholen. Dabei konnte und sollte es nicht um Vollständigkeit gehen und entsprechend nicht um eine Leistungsbilanz des Verhältnisses von Verfassungsnorm und -Wirklichkeit der vergangenen 35 Jahre. Die Themen sind vielmehr bewußt aus dem Blickwinkel der ersten Jahre des 80er Jahrzehnts gewählt, denn es ging in erster Linie um die Aktualität der Verfassung, um die Frage nach ihrer Leistungsfähigkeit im aktuellen politischen Prozeß und nach ihrer Bewährung im 35.Jahr ihres Bestehens. Hierzu sind neben systematischen Überlegungen vor allem auch Rückblicke in die Geschichte der Bundesrepublik unumgänglich. Die Beiträge lösen die Auseinandersetzung mit den verfassungspolitischen Herausforderungen der 80er Jahre aus dem Tagesgeschehen heraus. Sie behandeln — im Schnittpunkt von 35 Jahren — Geschichte der Bundesrepublik und von zukünftigen Entwicklungen, Aspekte von besonderer innenpolitischer Brisanz, deren Aktualität für die 80er Jahre weiterhin besteht. Die Auswahl der Themen nach Problemfeldern der Innenpolitik lenkt die Verfassungsdiskussion auf den ersten Blick vorrangig auf den Konflikt. Und in der Tat ist die Fähigkeit zum Konfliktaustrag das Wesensmerkmal einer offenen rechtsstaatlichen Demokratie. Im Konflikt werden unterschiedliche Interessen und Anschauungen sichtbar. Der Konfliktbegriff steht für das Selbstverständnis einer freiheitlichen Demokratie, in der Wettbewerb um politische und gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeiten herrscht. Die Offenheit zum Konflikt, zum Wettbewerb, bedarf andererseits des

XII

Vorwort

Regulativs der Übereinstimmung in ordniingspolitischen Grundfragen, des Konsenses, soll sie nicht zum Kampf aller gegen alle führen. Es ist der spezifische Zweck der Verfassung, einen solchen Konsensbestand vor allem über verfahrenstechnische Normierungen sicherzustellen. Darüber hinaus enthält das Grundgesetz Aussagen zum Selbstverständnis der Gesellschaft der Bundesrepublik, insbesondere das Bekenntnis zur freiheitlichen Demokratie. Die Übereinstimmung in Grundfragen der Verfassung leitet den Konflikt um die jeweilige Gestaltung der verfaßten Ordnung. „Konsens und Konflikt" bezeichnen demnach nicht Pole politischer Gestaltungsmöglichkeiten, sondern ergänzen einander. Die wissenschaftliche Erörterung fand in gut besuchten Colloquien zu Fragen der Außenpolitik, des Sozialstaates, der parlamentarischen Demokratie, des staatlichen Gewaltmonopols sowie der politischen Kultur statt. Die Themenstellung verfolgte den Zweck, eine möglichst breite Erörterung durch die Bündelung arbeitsteilig organisierten wissenschaftlichen Sachverstandes zu gewährleisten. Dabei ist in Kauf zu nehmen, daß sachlich eng zusammenhängende Fragen, etwa zum staatlichen Gewaltmonopol und zur Außenpolitik, durch die Gliederung der Colloquien auseinandergerissen worden sind. Der Leser möge auch die unterschiedliche Natur der abgedruckten Colloquien-Beträge in Rechnung stellen. Es handelt sich zum Teil um leicht überarbeitete Fassungen der für den mündlichen Vortrag zeitlich begrenzten Referatstexte, während andere Referenten den Vortragstext für diesen Band weiter ausgebaut haben. Ergänzung und Höhepunkt des Kongresses war die Podiumsveranstaltung, in der unter der Leitung des Präsidenten der Freien Universität Berlin, Professor Dr. Dieter Heckelmann, über aktuelle verfassungspolitische Fragestellungen diskutiert wurde. In der Podiumsveranstaltung ergänzten sich das abgerundete fach wissenschaftliche Urteil und die Kompetenz politischer Prominenz in Rede und Gegenrede. Um diesen Charakter nicht zu verfälschen, haben wir uns entschlossen, dieses Prinzip auch für die Veröffentlichung beizubehalten. Die Zwischentitel stammen von den Herausgebern und sollen der Orientierung dienen. Im übrigen kann die Podiumsdiskussion als Problemaufriß für die folgenden Referate angesehen werden. Die hier angesprochenen Themen werden dort vertieft und erweitert. Die Herausgeber danken allen Referenten für die konstruktive Zusammenarbeit, die letztlich das Zustandekommen des Kongresses und dieses Buches ermöglichte. Wir danken dem Präsidenten der Freien Universität Berlin, Herrn Professor Dr. Dieter Heckelmann, ohne dessen Engagement und großzügige Unterstützung diese Veranstaltung zum 35jährigen Beste-

Vorwort

XIII

hen der Verfassung nicht zustande gekommen wäre, sowie den Mitarbeitern des Außenamtes der Freien Universität Berlin und dessen Leiter, Herrn Dr. Horst W. Hartwich. Unser besonderer Dank gilt darüber hinaus Herrn Dipl. Soz. Reiner Koll für seine zahlreichen Anregungen und für seine Unterstützung in der Organisation des Kongresses.

Berlin, den 2 4 . Juli 1 9 8 5 Albrecht Randelzhofer ferner Süß

Podiumsdiskussion Teilnehmer:

ERNST BENDA BURKHARD HIRSCH O T T O SCHILY JÜRGEN SCHMUDE RUPERT SCHOLZ

Leitung:

DIETER HECKELMANN

HECKELMANN: Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie sehr herzlich zur öffentlichen Podiumsdiskussion des dreitägigen Symposiums der Freien Universität Berlin im Wintersemester 1984/85 zum Thema „Konsens und Konflikt — Das Grundgesetz vor den Herausforderungen der 80er Jahre". Hierzu darf ich den Anlaß der Veranstaltung in wenigen Zügen näher erläutern. Im Mai dieses Jahres hat die Bundesrepublik den 35. Geburtstag des Grundgesetzes begangen. Es fiel auf, daß dieser Anlaß in nur spärlicher Weise durch eine Leistungsbilanz offizielle Würdigung erfuhr. Dies steht im deutlichen Gegensatz zu dem Ausmaß staatlichen Gepränges, mit dem der korrespondierende Jahrestag in der DDR begangen wurde. Eine Erklärung kann das darin finden, daß das Grundgesetz bei uns weithin als staatliche Existenzgrundlage eine wie selbstverständlich empfundene Akzeptanz erfahren hat. Für eine solche bedarf es naturgemäß des verordneten Jubels nicht. Gleichwohl erfordert jede Verfassung in Abständen stets eine Überprüfung auf ihre Leistungsfähigkeit unter sich jeweils ändernden und damit neuen Bedingungen. Hierüber sachkompetente Aussagen kritischen oder bekräftigenden Inhalts zu gewinnen, ist das Ziel dieses dreitägigen Symposiums in der Freien Universität. Auch wenn ein Diskussionsleiter mit eigener Meinung nachhaltig Zurückhaltung üben sollte, erlaube ich mir zur Erläuterung des Themas die Eingangsfeststellung, daß das Grundgesetz für die Bundesrepublik im zeitlichen Geltungsrahmen der vergangenen 35 Jahre die Existenzbedingungen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates im ausgewogenen Zusammenspiel der drei Staatsgewalten von Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung gesichert hat. Dennoch ist unübersehbar, daß das Grundgesetz in der Verfassungswirklichkeit der 80er Jahre massiven Herausforderungen ausgesetzt ist, die seine Fähigkeit zur Bildung eines staatsbezogenen Grundkonsenses in der Bevölkerung ebenso wie zur Lösung grundsätzlicher Konflikte diskussionswürdig und notwendig erscheinen lassen. Abstrakt formuliert geht es um die Kernfrage, ob die gelebte Verfassungswirklichkeit mit der geschriebenen oder mit normativer Kraft vom Bundesverfassungsgericht interpretierten Verfassung noch in Einklang steht. Unbehagen gegenüber einzelnen Erscheinungsformen und In-

Podiumsdiskussion

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halten staatlich-demokratischen Handelns, insbesondere gegenüber den etablierten Parteien als Organe staatlicher Willensbildung, ist nicht zu übersehen. In Wort, Schrift und Tat wird die Fortgeltung bislang unstreitiger einzelner Verfassungsprinzipien vereinzelt ebenso in Zweifel gezogen wie unstreitig fortgeltende Prinzipien mit anderem Inhalt als bisher interpretiert werden. Früherer Konsens stellt sich heute in Grundfragen als Konfliktfeld dar. In diesem Fragenkreis ist praktische Politik an den Normen des Grundgesetzes zu messen. Ich will hierzu nur die Stichworte der heutigen Diskussion benennen, ohne den umfassenden Themenkomplex der fünf Colloquien ansprechen zu können. Dazu gehören: 1. Fortbestand des innen- und außenpolitischen Grundkonsenses: Wie verhält sich z. B. das Wiedervereinigungsgebot der Verfassung zur jüngst diskutierten völkerrechtlichen Anerkennung der DDR? 2. Die Bewältigung der Arbeitslosigkeit unter der Sozialstaatsklausel im Spannungsfeld zwischen Daseinsvorsorge mit öffentlichen Beschäftigungsprogrammen sowie Dienstleistungsbürokratien einerseits und individueller ökonomischer Persönlichkeitsentfaltung andererseits. Welche Politik fördert soziale Chancen und verhindert soziale Konflikte? 3. Inwieweit kollidieren Bürgerinitiativen, insbesondere die Friedensbewegung und die Partei der Grünen, in ihren Aktivitäten mit der demokratischen Mehrheitsregel und dem parlamentarischen Repräsentationsgedanken? 4. In diesem Zusammenhang: Welche Form des Widerstands gegen staatliches Handeln genießt den gesetzlichen oder verfassungsmäßigen Schutz? Letztlich 5.: Beruht schwindender Grundkonsens auf einer Veränderung im Wertebewußtsein der Bevölkerung, die letztlich die Verfassung alltäglich lebt? Zur Diskussion dieser Fragen stehen durch einschlägig herausragende persönliche und berufliche Erfahrung kompetente Teilnehmer zur Verfügung, die ich Ihnen vorstellen darf: 1. Professor ERNST BENDA, einst Bundesinnenminister, bis vor kurzem Präsident des Bundesverfassungsgerichts, jetzt Professor für öffentliches Recht an der Universität Freiburg; 2. Professor RUPERT SCHOLZ, zunächst Justizsenator in Berlin, nun Senator für Bundesangelegenheiten und Professor für öffentliches Recht an der Universität München; 3 . JÜRGEN SCHMUDE, s e i t 1 9 6 9 B u n d e s t a g s a b g e o r d n e t e r d e r S P D ,

war seit Mai 1974 Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnen-

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Podiumsdiskussion

ministerium sowie später Bundesbildungsminister und danach Bundesjustizminister im Kabinett Helmut Schmidt; 4. BURKHARD HIRSCH, Bundestagsabgeordneter der Freien Demokraten von 1972—75, deren innenpolitischer Sprecher und Mitglied des Bundesvorstandes. Seit 1975 war Burkhard Hirsch Innenminister Nordrhein-Westfalens und dort Landesvorsitzender der Freien Demokraten. Seit 1980 gehört er wieder dem Bundestag an. 5. OTTO SCHILY, Rechtsanwalt in Berlin; bundesweit bekannt wurde er als Strafverteidiger in den Stammheimer Terroristenprozessen. Seit der letzten Legislaturperiode ist er Bundestagsabgeordneter für die Grünen und war für einige Zeit einer deren drei Fraktionssprecher. Ich bin sehr froh darüber, für die heutige Diskussion unter den Diskutanten ein so außerordentlich hohes Maß an einschlägiger Erfahrung sowie Sach- und Fachkunde vertreten zu sehen. Für den Ablauf der Diskussion darf ich vorschlagen, daß zunächst jeder der Podiumsteilnehmer ein etwas mehr grundsätzlich gehaltenes Statement zu der Frage abgibt, inwieweit das Grundgesetz bisher seine Bewährungsprobe bestanden hat und ob und inwieweit es für die Zukunft den kurz skizzierten Herausforderungen der 80er Jahre gerecht werden kann. In der weiteren Diskussion werden wir uns sodann einigen wenigen einzelnen, aber wesentlichen Unterfragen des Themas zuwenden. Zunächst bitte ich Herrn Prof. Benda um das Wort.

Verfassungskonsens und politischer Konflikt BENDA: Meine Damen und Herren, in denen uns in der ersten Runde zugestandenen etwa fünf Minuten nenne ich in Kürze fünf Punkte. Erstens: Ich würde eher von Grundkonsens als von Konsens sprechen. Unter Grundkonsens verstehe ich, bezogen auf unser Grundgesetz, daß dieses als verbindlicher Entwurf gemeinsamer Entwicklungen verstanden und akzeptiert wird. Hieraus ergibt sich das Vertrauen, das den Staat und seine Organe trägt. Damit ist zweierlei gemeint. Erstens die grundsätzliche Zustimmung der Bürger zu der gegebenen demokratisch-parlamentarischen Regierungsform und die Respektierung der jeweiligen Regierung, was nicht bedeuten muß, daß man mit ihr einverstanden ist. Zweitens auch eine inhaltliche

Podiumsdiskussion

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Einigung über die unser Gemeinwesen prägenden Werte und Strukturprinzipien insoweit, als diese in das Grundgesetz Eingang gefunden haben. Zweiter Punkt: Die Übereinstimmung in Grundsätzlichem schließt den Konflikt nicht aus. Konflikt ist unvermeidbar und notwendig. Er ist das Wesen der Politik. Konfliktlösung wird aber nicht auf gewaltsamem Wege, sondern durch Diskussion sowie durch politischen und gesellschaftlichen Kampf gesucht. Der Konflikt findet in den Formen und innerhalb der Grenzen des Rechts statt. Drittens: Bezogen auf das Grundgesetz besteht der Grundkonsens nach wie vor. Das Grundgesetz hat sich in 35 Jahren hervorragend bewährt. Die relative Offenheit der Verfassung hat es bisher ermöglicht, alle Konflikte innerhalb der Grenzen des Rechts auszutragen. Ich sehe keinen grundsätzlichen Anlaß zu der Befürchtung, daß dieses künftig anders sein würde. Hieraus folgt auch, daß derjenige, der behauptet, daß seine politische Auffassung nicht mehr ohne Rechtsverletzung geltend gemacht werden könne oder wer meint, wie es genannt wird, Widerstand leisten zu müssen, die vielfältigen Möglichkeiten politischer Gestaltung nach Maßgabe des Mehrheitsprinzips sowie die rechtliche Chance verkennt oder ignoriert, die ihm verfassungsrechtlich garantierten Grundrechte auch gegenüber der Mehrheit durchzusetzen. Strukturelle Änderungen am Grundgesetz halte ich nicht für erforderlich; dies gilt auch für die gelegentlich vorgeschlagene Einführung plebiszitärer Elemente. Viertens: Es besteht keine Verfassungsverdrossenheit. Das Grundgesetz wird von der Bevölkerung ganz überwiegend akzeptiert und als eine gerechte Ordnung empfunden. Dagegen besteht ein gewisses Maß an Staatsverdrossenheit. Sie ist nicht in einem gelegentlich behaupteten Auseinanderfallen von Verfassung und Verfassungswirklichkeit begründet, sondern richtet sich auf die Politik, die angesichts der relativen Offenheit der Verfassung die Verantwortung für bestehende Unzulänglichkeiten nicht angeblichen Mängeln des Grundgesetzes anlasten sollte. Letzter Punkt: Wechselbeziehungen zwischen Verfassung und Politik bestehen insofern, als das demokratische und parlamentarische System des Grundgesetzes hohe Anforderungen sowohl an die Verfassungsorgane, insbesondere an das Parlament, als auch an die politischen Parteien und nicht zuletzt an die Bürger stellt. Wenn bestehende Mängel nicht behoben werden, so besteht die Gefahr, daß sie der Verfassung oder dem, was man das System nennt, zugerechnet wer-

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Podiumsdiskussion

den. Zu fragen ist, um nur einige Beispiele zu erwähnen, wieweit die Parteien die ihnen durch Artikel 21 übertragene Rolle wirklich ausfüllen, ob sie stattdessen nicht zunehmend den verfassungsrechtlich abwegigen Anspruch durchzusetzen versuchen, quasi Verfassungsorgane zu werden, und ob Parlamente und Parlamentarier stets die unabhängige Vertretung des Volkes bilden, wie Artikel 38 GG bestimmt, ob genügend und das Richtige getan wird, um die für eine Konsensbildung notwendige Identifikation des Bürgers mit dem Staat zu stärken, oder ob der Staat nicht dabei ist, sich zu einem gigantischen und nach wettbewerbswirtschaftlichen Erkenntnissen wenig effektiven Serviceunternehmen zu entwickeln. Diese und viele andere Fragen sind Fragen an die Politik, nicht an die Verfassung. Werden sie nicht oder nicht befriedigend beantwortet, wird dies aber Auswirkungen negativer Art auf die Verfassung haben. HECKELMANN: Danke, Herr Kollege Benda. Herr Schmude, darf ich Sie um das Wort bitten?

Mehrheitsentscheidung und gesetzesüberschreitender Protest SCHMUDE: Ich meine mit Herrn Benda, daß unser Grundgesetz sich in schwierigen Belastungsproben bewährt hat, z.B. bei den Regierungswechseln. Die Gefahren und Lasten der Zukunft werden nicht geringer, sondern z. B. in Umwelt- und Sozialpolitik eher größer. Aber die Instrumente und Verfahren zur Bewältigung dieser Probleme werden trotz aller Entwicklung im Kern die gleichen sein wie bisher. Zur verbindlichen Mehrheitsentscheidung der repräsentativen Demokratie gibt es keine akzeptable Alternative. Es gibt Grenzen. Grenzen, die die Grundrechte setzen. Ich denke besonders an das Grundrecht der Gewissensfreiheit, das sogar seinen Ausdruck in dem Recht auf Weigerung gegenüber einer sonst für alle geltenden Rechtspflicht, der Pflicht zur Wehrdienstleistung, findet. Allerdings muß dieser Verweigerung eine Gewissensentscheidung zugrunde liegen und trotz dieses hohen Anspruchs an seine Entscheidung ist der Betroffene nur zur Verweigerung des rechtlich Gebotenen berechtigt, nicht zum aktiven Handeln gegen rechtliche Verbote. Wer unter Berufung auf eine Gewissensentscheidung die Rechtfertigung für rechtswidrige Handlungen beansprucht, strebt damit politische Teilhaberrechte an, die anderen versagt bleiben. Der Konflikt mit den anderen, mit der Mehrheit, ist angesichts der Gewissensentschei-

Podiumsdiskussion

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dung dann ein unbedingter. Konsens wird gar nicht erst angestrebt, ein Kompromiß ist nicht machbar, Politik ist dann unmöglich. Ich meine aber, daß sorgfältig differenzierende Betrachtung in jedem Fall auch dann unerläßlich ist, wenn bei Protestaktionen Gesetze übertreten werden. Die Übertretungen können in Art und Ausmaß vielfältig sein, von der Verweigerung geschuldeter Steuern über die Blockade von Straßen und Gebäuden, bis hin zu schwerwiegenden Straftaten. Keinesfalls sollte die Sorge vor einem Verfall des allgemeinen Rechtsbewußtseins als Folge bürgerlichen Ungehorsams oder sonstiger Widerstehenshandlungen das Sanktionsmaß bestimmen. Das allgemeine Rechtsbewußtsein ist nicht bedroht, wo einzelne oder auch Minderheiten ihren Protest durch Gesetzesverstöße ausdrücken, die in ihrem gesamten Lebensverhalten seltene, ungewöhnliche Ausnahmen sind. Im Vergleich z. B. zu einer Amnestie für Straftaten bei Parteispenden ist die dem allgemeinen Rechtsbewußtsein von Aktionen des bürgerlichen Ungehorsams drohende Gefahr minimal. Zahlreiche geschichtliche Erfahrungen zeigen, daß auch zunächst gesetzwidriger Ungehorsam der Schrittmacher für Reformen sein kann. Zur Offenheit einer demokratischen und reformbereiten Gesellschaft gehört es deshalb, für berechtigte Anstöße auch im gesetzwidrigen Protestverfahren empfindlich zu bleiben. Schönen Dank. HECKELMANN: Herr Schmude, Dank für Ihren Beitrag.

Konstruktionsprinzipien der repräsentativen Demokratie In der Bewertung halte ich nach den mehr systembezogenen Ausführungen von Herrn Kollegen Benda die stärker auf die individuelle Komponente bezogenen Ausführungen von Herrn Schmude für eine gute Ergänzung. Ich glaube, mit Herrn Scholz wird sicherlich in gewissem Umfang eine Gegenposition verbunden sein. Frage hier: Konsens oder Konflikt? Bitte sehr, Herr Scholz.

SCHOLZ: Meine Damen und Herren, jede Verfassung lebt aus dem Zusammenspiel von Konsens und Konflikt. Über die Verfassung selbst, über ihre Grundwerte, über ihre elementaren Grundprinzipien muß jedoch — mit Ernst Benda gesprochen — Grundkonsens bestehen und gewahrt bleiben. Zur Politik in der pluralistischen Demokratie, in der wir leben, gehört naturgemäß der Meinungsstreit, der offene

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Podiumsdiskussion

Austrag entgegengesetzter Meinungen, der Widerstreit und Konflikt im Rahmen der demokratischen Spielregeln. Zur verfassungspolitischen Qualität und zu den herausragenden Leistungen dieser Verfassung, dieses Grundgesetzes, gehört die Erkenntnis dessen und das Ergebnis einer tatsächlich offenen, pluralistischen Ordnung unseres ganzen Gemeinwesens. Auch für den zeitgemäßen Fortbestand einer Verfassung, für ihre Akzeptanz in der jeweiligen Situation, ist ein solches Maß an politischer Offenheit notwendig. Eine Verfassung, die im politischen Meinungsstreit von vornherein oder ausschließlich auf Konformität und Konformismus angelegt ist, wird die dauerhafte Probe der eigenen Bewährung nicht bestehen. Unsere Verfassung hat diese Probe jedoch bestanden. Sie hat einen großen Raum an Freiheit eröffnet und abgesteckt, sie hat einen ebenso großen Raum an rechtlicher Sicherheit für den einzelnen wie für die ganze Gesellschaft eröffnet und sie hat es verstanden, das Prinzip der repräsentativen Demokratie mit ihren Instrumentarien fest zu verwurzeln; sie hat es schließlich über das Prinzip des Sozialstaates verstanden, das Prinzip sozialer Solidarität und sozialer Sicherheit nicht nur aufzunehmen, sondern zur verbindlichen politischen Maxime zu erheben. Das Prinzip der sozialen Solidarität ist unter dem Grundgesetz ebenfalls zu einem herausragenden Grundwert erhoben worden, der andererseits aber auch ein wesentliches Maß an entwicklungspolitischer Offenheit, d.h. an Offenheit in der konkreten sozialen Situation, voraussetzt. Das Grundgesetz hat mit Recht nicht den Versuch ordnungspolitischer Geschlossenheit unternommen, d. h. es hat darauf verzichtet, einen von vornherein abschließenden Entwurf, ein von vornherein abschließendes Konzept für alles das vorzugeben, was konkrete Lebensordnung und in der jeweiligen Situation gültige Gesellschaftsordnung zu sein hat. Hierin offenbart sich die vielleicht bedeutsamste Verfassungsklugheit, die den Verfassungsgeber von 1949 auszeichnet. Das Grundgesetz sollte zunächst ja nur eine Verfassung aufstellen, die als Provisorium für die Zeit bis zur Wiedervereinigung, d. h. bis zur Konstituierung einer gesamtdeutschen Verfassung, gelten sollte. Daß diese Verfassung entgegen jeder Erwartung zur langfristigen Ordnung werden sollte, war noch nicht abzusehen. Dennoch hat das Grundgesetz auch diese Probe bestanden, was es als besondere Verfassung wiederum auszeichnet. Deshalb stellt das Grundgesetz, hier stimme ich mit meinen Vorrednern durchaus überein, ein unverändert gültiges wie brauchbares und fruchtbares Element für unsere gesamte politische und rechtliche Ordnung dar. Der Konflikt gehört, wie gesagt, zum Verfassungsleben, jede Ver-

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fassung, so auch das Grundgesetz, muß also Konflikte bestehen. Daß das Grundgesetz solche Konflikte zu bestehen und auch zu überstehen vermag, hat es in den vergangenen Jahren bewiesen. Die von Präsident Heckelmann angesprochenen Herausforderungen an das Grundgesetz sind in der Tat sehr konfliktträchtig. Konfliktträchtig ist vor allem das Problem, das er mit den Worten vom Unbehagen an den etablierten Parteien umschrieben hat. Selbst wenn der Begriff von den „etablierten Parteien" häufig in mehr abwertender oder gar diskreditierender Weise in der politischen Auseinandersetzung gebraucht wird, ist doch unübersehbar, daß in der jüngsten Vergangenheit mit den Bürgerinitiativen und auch mit den „Grünen" neue politische Bewegungen aufgetreten sind, die von einem sehr anders gearteten Selbstverständnis und einem teilweise sehr entwickelten Konfliktverständnis gegenüber den bisher dominierenden politischen Parteien getragen sind. Konkret geht es vor allem um die repräsentative Demokratie und die ihr gegenüber geübte Kritik. Die repräsentative Demokratie stellt, wie ich ausdrücklich betonen möchte, einen Mechanismus dar, der in einer modernen Massengesellschaft und im pluralistischen Flächenstaat wohl ausschließlich gültig und tragfähig sein kann. Hinsichtlich der Betonung oder Einführung plebiszitärer Elemente teile ich voll die Auffassung von Herrn Benda. Plebiszitäre Elemente sind niemals geeignet, eine für alle Bürger gemeinsame politische Grundlage, d. h. eine wirklich für die Allgemeinheit verbindliche und von dieser auch entsprechend akzeptierte Grundlage zu schaffen. Plebiszitäre Elemente sind in ihrer politischen Ausrichtung in aller Regel partikularistisch, d. h. sie treten in Einzeldimensionen auf, verfolgen bestimmte Einzelziele, werden von bestimmten partikularen Gruppen getragen, verfügen also nicht über jene umfassende Ordnungskraft und Konsensfähigkeit, wie sie für die Allgemeinheit im Gemeinwesen notwendig ist. Entsprechende plebiszitäre Elemente oder Initiativen sind vor allem in aller Regel nicht imstande, das zu beherzigen und durchzusetzen, was für eine Demokratie als allererstes maßgebend ist: nämlich für Gleichheit zu sorgen. Unter Gleichheit ist hier einmal die Gleichheit in der Wahrnehmung der politischen Aktivrechte aller Bürger, also die Gleichheit im bürgerlichen Status und die Gleichheit auch in dem zu verstehen, was an politischer und rechtlicher Teilhabe für jeden Bürger im demokratischen Staat notwendig und geboten ist. Unter Gleichheit ist darüber hinaus Allgemeinheit, d. h. das permanente Streben nach einer politischen Grundlage und nach politischen Entscheidungen zu verstehen, die eine für alle Bürger in gleicher Weise akzeptable und tragfähige Ordnung verbürgen.

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Parteien in der repräsentativen Demokratie Das System der repräsentativen Demokratie ist imstande, diesen Prinzipien gemäß die Aufgaben von Gleichheit und Allgemeinheit zu erfüllen. Dies hat das System der repräsentativen Demokratie nicht nur in Deutschland ausdrücklich bewiesen. Andererseits ist die repräsentative Demokratie im heutigen Gemeinwesen auf organisierte Vermittlungsprozesse angewiesen. Die repräsentative Demokratie läßt sich nicht im einseitigen Gegenüber von Parlament einerseits und Gesellschaft andererseits realisieren. Sie benötigt organisierte Vermittler von Meinungs- und Willensbildungsprozessen, sie benötigt entsprechende Integrationskräfte; und dies sind die politischen Parteien. So hat sich die repräsentative Demokratie in parteienstaatlicher Form organisiert und verfestigt. Die politischen Parteien haben in der Zeit seit 1949 über — dies ist unbestreitbar — Höhen und Tiefen hinweg diese Vermittlungsaufgabe und die damit verbundene Stabilisierungsfunktion für das Parlament gut erfüllt. Und in diesem Sinne wird das System der repräsentativen Demokratie, werden die politischen Parteien nach wie vor von der weit überwiegenden, von der weit absoluten Mehrheit der Bürger in unserem Lande bejaht und vertreten. Andererseits dürfen die politischen Parteien — ich zitiere hier den Bundespräsidenten von Weizsäcker — niemals der Versuchung erliegen, den Staat etwa als ihr Eigentum anzusehen. Die politischen Parteien haben den Bürger zu vertreten, sie haben politische Interessen und Meinungsunterschiede aufzunehmen, diese zu kanalisieren, umzusetzen und in das demokratisch-parlamentarische Gesamtspektrum einzubringen. Dies haben die politischen Parteien in den zurückliegenden 35 Jahren gut bewerkstelligt, sie haben diese verfassungspolitische Probe bestanden und wenn ihnen gegenüber Unbehagen besteht, wie Präsident Heckelmann eben gesagt hat, dann ist dies natürlich ernst zu nehmen. Denn Unbehagen stellt gerade in einer offenen Demokratie ein konstruktives Element dar, es verkörpert ja nichts anderes als das stets notwendige kritische Begleitpotential. Diesem kritischen Potential und seinen Meinungen müssen sich die Parteien stellen. Sie müssen sich auch vorgefaßten Meinungen stellen, so auch der von den angeblich antiquierten Parteien, von dem angeblich überholten System der repräsentativen Demokratie. Indessen, die politischen Parteien können sich dieser Auseinandersetzung mit guten und überzeugenden Gründen stellen. Denn für sie, für ihre Leistung und für die parlamentarische Demokratie sprechen die Erfahrungen

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der vergangenen Jahrzehnte. Noch nie hat es auf deutschem Boden eine derart freiheitliche, eine derart funktionierende und derart stabile Demokratie gegeben wie heute. Daß auch in einer Demokratie und auch bei politischen Parteien manche Mängel bestehen, bestreitet niemand. Solche Mängel gilt es jedoch in aller Offenheit aufzuzeigen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie damit zu überwinden. Auch die Fähigkeit hierzu haben die politischen Parteien und hat unser parlamentarisches System in den vergangenen Jahrzehnten vielfach bewiesen. Meine Damen und Herren, das demokratische Prinzip, das System der repräsentativen und parteienstaatlichen Demokratie hat sich bewährt. Das gleiche gilt für die sozialstaatliche Ordnung, zu der wir, wie ich hoffe, Herr Präsident, im weiteren Verlauf der Diskussion noch kommen werden. HECKELMANN: Danke sehr, Herr Kollege Scholz. Sie haben bereits den Aspekt eventueller Verdrossenheit mit den Parteien angesprochen. Ich möchte diesen Punkt nachher noch etwas ausgiebiger behandeln. Gerade nach den Zwischenrufen habe ich den Eindruck, daß dafür ein gewisses Bedürfnis besteht. Das erscheint mir auch sachgemäß und dem möchte ich gerne nachkommen. Ich bitte dann zunächst im Anschluß Herrn Hirsch.

Grundentscheidungen der Verfassungsväter HIRSCH: Ich bin der Überzeugung, daß das Grundgesetz sich bewährt hat, weil es faire Spielregeln und Grundlagen zur Verfügung stellt für ganz unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe, also für unterschiedliche Politiken. Und dieser Tatsache haben wir es zu verdanken, daß das Grundgesetz 35 Jahre im wesentlichen unverändert überstanden hat. Man muß die einzelnen Grundentscheidungen der Verfassungsväter der Reihe nach sich anhören. Einmal die Grundentscheidung, daß das Gesetz nicht nur ein Organisationsgesetz ist, wie es die Bismarck'sche Reichsverfassung war, sondern daß ein Grundrechtskatalog formuliert wird, der unverändert die gemeinsame Grundlage unserer Gesellschaft darstellt. Da muß man sich fragen, wenn wir heute den Katalog neu formulieren würden, ob wir eine Reihe anderer Probleme mit aufnehmen würden. Ich denke also z. B. an die aktuelle Diskussion über die Einführung von Staatszielen, wie das des Umweltschutzes.

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Die zweite Grundentscheidung ist die zur repräsentativen Demokratie, d. h. nicht durch plebiszitäre Willensbildungen ein System zu schaffen, das allen Emotionen gegenüber wehrlos offen ist, sondern durch eine repräsentative Demokratie zu einer Verstetigung und Versachlichung der Politik zu kommen. Dabei nimmt man alle Probleme des Parteienstaates oder des Parteienbundesstaates in Kauf, die hier ja schon angedeutet worden sind, also die Bildung neuer Hierarchien, die in der Verfassung selbst nicht verankert sind, Hierarchien innerhalb der Parteien, ferner eine gewisse Bereitschaft, politische Probleme gruppenweise zu stabilisieren — gemeint ist die parlamentarische Verknüpfung sachlich nicht zusammenhängender Probleme zu „Paketen", die gemeinsam entschieden werden. Und ich denke, daß auch das Wahlrecht mit dazu beigetragen hat, daß wir zu einer sehr starken Konzentrierung der politischen Kräfte auf wenige Gruppierungen gekommen sind. Die vierte Entscheidung ist die zur bundesstaatlichen Struktur. Hier muß man sagen, daß die Entwicklung denselben Weg genommen hat wie bei früheren bundesstaatlichen Verfassungen, nämlich den Weg zur Zentralisierung. Die eigentlich föderale Struktur hat einen anderen Charakter bekommen, insbesondere im Parteienbundesstaat, wie ihn Leibholz und Weber schon vor 5 0 Jahren beschrieben haben. Er ist heute eher als eine gewaltenteilende Struktur, als als wirklich föderale Position zu beschreiben.

Aktuelle Herausforderungen: Mehrheitsprinzip, Internationale Integration, Arbeitswelt Die Probleme, die vor uns liegen, sind in der Tat weniger verfassungsrechtliche als politische Probleme. Einmal die Frage, ob das Mehrheitsprinzip trägt. Die Alternative zum Mehrheitsprinzip ist natürlich die Durchsetzung von Zielen mit Gewalt. Wer das so begeistert sagt, hat offenbar in seinem Leben Gewalt noch nicht hinreichend kennengelernt. Aber ich bin der Überzeugung, daß die Tragfähigkeit des Mehrheitsprinzips mit davon abhängt, ob die handelnden Politiker ihre politischen Überzeugungen wirklich glaubwürdig darstellen und verkörpern. Ob sie auch bereit und in der Lage sind, sich aus dem Zwang der politischen Gruppe, in der sie sich befinden, zu befreien, also als Persönlichkeiten erkennbar werden. Das nächste politische Problem sehe ich in dem Gegensatz, der in der Internationalisierung vieler Probleme unserer Politik besteht. Ob

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das Umweltschutz ist oder Friedenspolitik, Verteidigungspolitik oder was immer: Die Internationalisierung unserer Politik auf der einen Seite und das Wiedervereinigungsgebot auf der anderen Seite und die Frage, wie wir in den internationalen Systemen, in denen wir uns befinden, eigene, unsere eigenen Interessen wahrnehmen können, ohne eine eigene nationale Identität wirklich zu besitzen. Das letzte Problem sehe ich in der dramatischen Veränderung der Arbeitswelt, der wir uns durch die neuen Technologien gegenübersehen, die unsere Arbeitswelt in den nächsten 10, 15 Jahren in einer dramatischen Weise verändern werden. Ich denke, daß unsere Bildungssysteme, insbesondere die der beruflichen und der Erwachsenenbildung, dieser Tatsache überhaupt nicht entsprechen. Wir müssen, wenn wir das Sozialstaatsprinzip der Verfassung beachten wollen, dafür sorgen, daß der Weg in die neuen Technologien nicht zur schichtenspezifischen Last wird, daß also diejenigen, die in ihrer beruflichen oder in ihrer persönlichen Bildung neuen Qualifikationen nicht entsprechen, die Last der technologischen Veränderung in ihrem Berufsleben nicht allein tragen. Das sind die großen Probleme der nächsten zehn Jahre, aber ich sage, ihre Lösung ist nicht ein Verfassungsproblem, sondern erfordert die Bereitschaft, sich aus Tabus zu lösen und zu versuchen, damit sachlich zu Rande zu kommen. HECKELMANN: Danke für Ihren Beitrag, Herr Hirsch. Meine Damen und Herren, die bisherigen Beiträge haben in durchaus unterschiedlichen Facetten und Nuancen einen breiten Grundkonsens dokumentiert. Ich kann mir schwer vorstellen, Herr Schily, daß Sie das so ganz unwidersprochen stehenlassen. Sie haben das Wort. SCHILY: Das Grundgesetz ist nach meiner Überzeugung eine sehr gute Verfassung und zwar schon in Anbetracht der Tatsache, daß in dem Grundrechtskatalog die Rechte des einzelnen Menschen und nicht die Rechte des Staates gegenüber dem Einzelnen den Vorrang haben. Das Grundgesetz nennt an erster Stelle den Schutz der menschlichen Würde. Von allen, die sich aus unterschiedlichen Positionen für unser Thema interessieren, hoffe ich, daß ihnen zu allererst der Schutz der menschlichen Würde angelegen ist. Ich bin als Verteidiger stets für menschenwürdige Behandlung auch von Gefangenen eingetreten und setze mich selbstverständlich auch heute dafür ein. Ich bin gegen Isolationshaft und andere Formen

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unmenschlicher Haftbedingungen, aber ich weiß, daß nur in einer Demokratie und einer rechtsstaatlichen Ordnung überhaupt Menschenrechte wirksam eingefordert werden können. Die Tätigkeit als Strafverteidiger war deshalb, was viele nicht einzusehen vermögen, Arbeit auch für den Rechtsstaat in seiner Gesamtheit. Ich stimme Ernst Benda zu, wenn er es als einen Vorzug bezeichnet, daß wir eine offene Gesellschaft sind. Darin ist inbegriffen, daß wir natürlich auch Kritik an dieser Gesellschaft zu üben haben, bisweilen auch entschiedene und harte Kritik. Das heißt zugleich, daß wir uns über die Frage verständigen müssen, in welcher Weise und durch welche Konflikte der Gesellschaft der die Verfassung bildende Konsens gefährdet ist. In dieser Hinsicht gibt es sicherlich deutliche Auffassungsunterschiede.

Nachrüstung, Umweltzerstörung und ziviler Ungehorsam Wir haben im vergangenen Jahr und bis in dieses Jahr hinein und vermutlich wird sich das auch nicht so rasch ändern, weil die Anlässe dazu bestehen bleiben, eine Diskussion geführt über die Frage der sogenannten Nachrüstung, der Stationierung neuer Massenvernichtungsmittel auf dem Boden der Republik. Ich behaupte, durch diese Maßnahme, die uns oktroyiert wird, für die es noch nicht einmal eine konstitutive Entscheidung des Bundestages gibt, sondern nur eine Art notarieller Beurkundung — mit dieser von der Regierung zu verantwortenden Entscheidung ist in einem wesentlichen Punkt der Grundkonsens angegriffen worden. Eines der Elemente des Grundkonsenses unserer Verfassung ist die Friedensstaatlichkeit, der mindestens der gleiche Rang zukommt wie der Rechtsstaatlichkeit. Mit dem Prinzip der Friedensstaatlichkeit ist die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles auf dem Boden der Bundesrepublik nicht vereinbar. Deshalb meine ich, daß gegen die Stationierung neuer Massenvernichtungsmittel ziviler Ungehorsam nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten ist. Dieser zivile Ungehorsam tastet die Gewaltfreiheit der Konfliktaustragung, für die ich eintrete, nicht an. Der Konsens ist gleichzeitig auch gefährdet durch die krisenhafte Beschleunigung der Umweltzerstörung in unserem Industriesystem, Umweltzerstörungen, von denen man ohne Übertreibung sagen muß — ich brauche nur das Stichwort Waldsterben zu nennen —, daß sie katastrophale Dimensionen erreichen. Von der Umweltverseuchung sind die Menschen meist nicht nur mittelbar, sondern auch unmittel-

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bar betroffen. Die Luftverschmutzung vernichtet nicht nur unsere Wälder, sondern sie schädigt unmittelbar die Gesundheit der Menschen. Pseudokrupp, andere Atemwegserkrankungen und Krebs sind die Folgen. Leider erweist sich jedoch gegenüber diesen Schädigungen der in Artikel 2 des Grundgesetzes garantierte Schutz der körperlichen Unversehrtheit als unzureichend. Es gehört zu den Widersprüchen unserer Rechts- und Verfassungsordnung, daß der Rechtsschutz wegen relativ harmloser Körperverletzungen im Bereich des Zivil- und Strafrechts auf der Grundlage des Grundrechts in Artikel 2 des Grundgesetzes relativ gut ausgebildet ist, während wir uns kaum gegen Umweltzerstörungen und Umweltvergiftungen zur Wehr setzen können. Der Rechtsschutz wird in diesem Bereich weitgehend aufgehoben oder verringert durch einen seltsamen Begriff, den der Sozialadäquanz, der sozialen Angemessenheit. Damit wird der Grundrechtsschutz durch Hinweis auf einen vermeintlich bestehenden verfassungsexternen Konsens, daß bestimmte Erscheinungsformen der industriellen Produktionsweise hingenommen werden müssen, relativiert. Der angenommene verfassungsexterne Konsens läßt sich mit rechtlichen Kategorien nicht ohne weiteres fassen. Ich denke, daß der ursprüngliche Grundkonsens, der seinen Ausdruck in dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit findet, auch gegenüber Umweltschädigungen wieder stärker zur Geltung gebracht werden muß. Das Bundesverfassungsgericht wird zunehmend mit dieser Frage konfrontiert. Es ist gewiß nicht nur eine Frage der Verfassung als solcher, darin stimme ich Ernst Benda zu, sondern auch der Verfassungshandhabung durch die verschiedenen staatlichen Institutionen, sei es nun das Parlament, sei es das Bundesverfassungsgericht oder sei es die Exekutive. Es ist heute, wie könnte das ausbleiben, viel über Staatsverdrossenheit, über Flick und ähnliches gesprochen worden. Aber in diesem Zusammenhang besteht nicht die geringste Veranlassung zur Kritik an der Verfassung. Die Verfassung ist in dieser Hinsicht tadellos. Nur müssen sich in der Tat die Politiker und die Altparteien die Frage gefallen lassen, ob und inwieweit sie eigentlich bereit sind, schlicht und einfach die Verfassung zu achten. Wenn man weiß, daß in Artikel 21 des Grundgesetzes die Rechenschaftslegung hinsichtlich der Parteispender vorgeschrieben und vom Bundesverfassungsgericht mit Recht als ein zentrales Gebot der Verfassung angesehen wird, weil nämlich die Transparenz der Finanzierung von Parteien zu einem wesentlichen Element der Demokratie gehört, dann ist es folgerichtigerweise eine beachtliche und beachtenswerte Tatsache, daß gegen dieses Transpa-

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renzgebot von den Altparteien in der Vergangenheit massiv und fortdauernd verstoßen wurde, was neuerdings mehr oder weniger reumütig zugestanden wird. Und es ist insofern eine besondere Gefährdung des Grundkonsenses, wenn das Transparenzgebot mißachtet wird, weil die Verfehlungen aus Parteien heraus begangen wurden, die seit langer Zeit in der Pose der quasi Staatsorgane auftreten. Es sind genau dieselben, die sagen, wir beschließen Gesetze, wir ändern notfalls die Verfassung und wir verlangen von den einzelnen Bürgern die getreuliche Erfüllung der Gesetze. Es sind dieselben Politiker, die sich befugt glauben, wenn sie vermuten, es seien irgendwelche verfassungsunfreundliche Gemüter im Lehrberuf tätig, diesen die Ausübung des Lehrberufs zu versagen. Wenn wir dann das Verhalten der betroffenen Politiker mit einer entsprechenden Meßlatte untersuchen würden, dann hätten wir ja, ich wage das kaum zu sagen, ganze Parteien von Verfassungsfeinden. Ich habe das jetzt bewußt im Conditionalis gesagt. Einen Punkt will ich noch ansprechen, der für mich von Interesse ist, das ist die Frage der plebiszitären Ausformung der Verfassung. Es ist heute häufiger schon das Stichwort gefallen, die repräsentative Verfassung, in der das Volk durch die staatlichen Institutionen, durch gewählte Vertreter in Parlament und Regierung seine Gewalt ausübt, entspreche dem Verfassungstext, alle Gewalt geht vom Volke aus. Aber ich glaube, die Zurückdrängung des Volkes auf eine Wahlentscheidung in einem Turnus von vier Jahren und die damit einhergehende Passivierung, die ist ungut. Ich meine, daß eine stärkere Aktivierung und Einbeziehung der Menschen in Sachentscheidungen notwendig ist. Ich hätte es z. B. begrüßt, wenn es möglich gewesen wäre, über die Frage, ob wir atomare Massenvernichtungsmittel im Lande haben wollen oder nicht, einen Volksentscheid herbeizuführen. Ich glaube, daß dann die Entscheidung richtiger ausgefallen wäre, als sie im vorigen Jahr getroffen worden ist. HECKELMANN: Danke für Ihren Beitrag, Herr Schily. Ich möchte an einem Aspekt anknüpfen, den sie angeführt haben, und Ihnen gleich das Wort nochmals geben zu einer zeitlich etwas kürzeren Runde. Ich knüpfe an Ihr Wort,Friedensstaatlichkeit' und im Zusammenhang damit an den Nachrüstungsbeschluß an. Wir haben in einem der Colloquien den Verfassungskonsens im Hinblick auf Außen- und Innenpolitik besprochen, und zwar im Detail. Mich interessiert in dem Zusammenhang eine Frage, die gestern im Berliner Abgeordnetenhaus auch diskutiert wurde und im Grunde aus der DDR in den

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vergangenen Monaten auch zu uns herüberverlagert und auch teilweise aufgegriffen wurde, nämlich die Frage nach der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR. Hier ist im Kern eine Verfassungsnorm angesprochen, nämlich die Präambel des Grundgesetzes mit dem Wiedervereinigungsgebot. Auf der anderen Seite, wenn es zu einer Anerkennung in diesem Sinne käme, würden sich mir folgende Fragen stellen: Wie ist es mit dem Staatsangehörigkeitsrecht? Bürger welches Staates ist man hier in Berlin, speziell in bezug auf den Berlin-Status? Wie ist die Lage Berlins in diesem Zusammenhang zu beurteilen, und hier bekunde ich ein Stück persönlicher Betroffenheit, was ist eigentlich mit dem einzelnen Berliner unter dieser Voraussetzung? Herr Schily, darf ich vielleicht bei Ihnen noch mal beginnen?

Anerkennung der DDR, Staatsangehörigkeitsrecht und Berlin-Status SCHILY: Ich bin der Meinung, daß wir in der Frage der Beziehungen der beiden deutschen Staaten eine, wenn Sie so wollen, gegenläufige Politik entwickeln sollten. Wir sollten einerseits zu einer stärkeren Zusammenarbeit gelangen, wobei ich das ausdrücklich nicht beschränken will auf das Verhältnis der beiden deutschen Staaten. Wir tun gut daran, wenn wir mehr den mitteleuropäischen Rahmen sehen und in dieser Region versuchen, etwas zu verändern. Ich habe kürzlich auf einer Tagung in Loccum in diesem Zusammenhang die Bildung einer mitteleuropäischen Friedensunion vorgeschlagen. Aber andererseits hat diese Zusammenarbeit zugleich zur Voraussetzung, deshalb spreche ich von einer gegenläufigen Position, daß wir die geschichtlichen Tatsachen nach dem Zweiten Weltkrieg zur Kenntnis nehmen, daß wir nicht, wie es noch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag zum Ausdruck kommt, von der Schimäre des fortexistierenden deutschen Reiches ausgehen. Das deutsche Reich ist auf den Schlachtfeldern des zweiten Weltkrieges und in den Gaskammern der Konzentrationslager zugrunde gegangen. An dieser historischen Tatsache können wir nicht vorbeigehen. Der Aufbau einer Friedensordnung in Europa wird uns nur dann gelingen, wenn wir mit dieser geschichtlichen Tatsache zurechtkommen und wenn wir das Verhältnis der beiden deutschen Staaten nicht diskutieren nur aus unserem engeren Gesichtskreis, sondern unter Berücksichtigung der Interessen, wie sie um uns herum vorhanden sind. Hinsichtlich der Frage der Staatsangehörigkeit sind durchaus

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praktikable Lösungen denkbar. Ich weiß, daß es gerade bezogen auf Berlin eine schwierige Frage ist. Dennoch glaube ich, daß es Lösungen gibt, bei denen allen wohlverstandenen Interessen der Menschen Gerechtigkeit widerfahren kann. HECKELMANN: Vielen Dank Herr Schily. Herr Hirsch, bitte.

HIRSCH: Ich glaube, wenn man über die Staatsangehörigkeitsfrage spricht, daß man sich nicht nur einer Symboldiskussion hingeben darf, sondern daß man fragen soll, was das bedeutet. Ich bin aus Mitteldeutschland herübergekommen und war verdammt froh, daß ich die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, das heißt hier genauso als Deutscher behandelt wurde wie jqder andere auch. Und ich möchte gerne, daß Deutsche, die aus der DDR hier herüberkommen oder die in deutschen Konsulaten oder Botschaften Zuflucht finden, daß sie dort dieselben Rechte haben wie jeder andere Deutsche auch. Natürlich. Ich bin nicht bereit, die Verwandten, die ich in Mitteldeutschland, in der DDR habe, sozusagen auszubürgern. Warum eigentlich? Was wir erreichen müssen und was wir erreichen wollen, muß eine Entkrampfung des Verhältnisses dieser beiden Staaten zueinander sein, ohne daß wir dabei individuelle Rechte verletzen. Das ist nicht eine Frage der individuellen Staatsangehörigkeitsrechte, sondern wie diese beiden Staaten vernünftig miteinander umgehen, und ob man alle Möglichkeiten von Kontakten nutzt oder sich gegenseitig zu Feindbildern aufbaut. Und das ist ein Problem, das nicht nur von unserer Seite gelöst werden kann, sondern das von der anderen Seite Deutschlands genauso gelöst werden muß. Und dann will ich Herrn Schily einiges sagen. Es ist ja einfach nicht richtig, Herr Kollege, daß wir im Bundestag über die Stationierung nicht entschieden hätten. Das ist ja einfach nicht wahr. Wir haben nicht entschieden in der Form des formellen Gesetzes, aber der Deutsche Bundestag hat mehrfach darüber entschieden, und immer mit großen Mehrheiten. Sie sagen, man kann die Entscheidung für richtig oder falsch halten, ich hab' da auch meine zweifelnde Meinung, das hab' ich nie verborgen; nur wenn Sie sagen, das wäre bei einer Volksabstimmung richtiger und besser entschieden worden, dann muß ich Sie fragen, ob Sie einen Volksentscheid haben wollen über die Wiedereinführung der Todesstrafe oder über die Rechte von Ausländern in der Bundesrepublik — ob Sie darüber Volksentscheide haben wollen oder nicht, das müssen Sie dann beantworten. Es ist die

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nackte Wahrheit, daß sich dadurch überhaupt nichts ändert, sondern die Frage ist, ob jeder von uns in einer parlamentarischen Demokratie allein entscheiden kann, wann er eine Minderheit anerkennt und wann er das Recht der Minderheit proklamiert. Das ist die Entscheidung, der Sie auch so nicht ausweichen können. HECKELMANN: Danke. Herr Schily wollte einen Satz hinzufügen. Bitte, Herr Schily.

SCHILY: Ja, weil das ein bekannter Einwand gegen eine plebiszitäre Demokratie ist: Das Beispiel der Todesstrafe. Ich gehe bei der plebiszitären Ausformung der Verfassung davon aus, daß es auch insoweit einen Bereich des Unabstimmbaren gibt, ebenso wie im Bereich der Gesetzgebung und des Verfassungsrechts. Ich halte die Abschaffung der Todesstrafe für eines der Grundelemente unserer Verfassung, die weder durch eine Grundgesetzänderung noch durch eine Gesetzgebung noch durch einen Volksentscheid beseitigt werden können. HECKELMANN: Ich gebe das Wort weiter an Herrn Scholz.

SCHOLZ: Meine Damen und Herren, ich möchte als erstes zur Frage des sog. zivilen Ungehorsams Stellung nehmen, den Herr Schily als gewaltfrei und in bestimmten Fällen gar als geboten bezeichnet hat. Gerade in dem Feld der äußeren Sicherheit, der Verteidigung, gibt es klare, demokratisch eindeutig legitimierte Entscheidungen von Regierung und Parlament, die der Staat in seiner eigenen Verantwortung für die äußere Sicherheit getroffen hat. Die äußere Sicherheit gehört zu den elementaren Aufgaben, die der Staat auch nach unserer Verfassung seinen Bürgern schuldet. Politisch spüren wir gerade in Deutschland und noch stärker hier in Berlin, von welch außerordentlicher Bedeutung die äußere Sicherheit ist. Gerade wer hier in Berlin lebt, weiß sehr wohl, wie wichtig der Anspruch des Bürgers nicht nur auf innere, sondern auch auf äußere Sicherheit ist. So schwierig und kompliziert Fragen der Verteidigung und Rüstung gerade heute sind, wenn sich ein entsprechender demokratischer Mehrheitswille gebildet hat, wenn das Parlament mit entsprechender Mehrheit entschieden hat, dann — Herr Hirsch hat völlig zurecht darauf hingewiesen, daß in dieser Frage gültige Entscheidungen im Rahmen unserer Verfassung getroffen worden sind — kann niemand hergehen, selbst wenn er — in

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der Sprache der „Grünen" oder Herrn Schilys, keiner sog. „Altpartei", sondern einer — so müßte man wohl formulieren — „Neopartei" oder - halten wir es vielleicht etwa mit Petra Kelly — einer „Antiparteienpartei" angehört, und sagen, haben wir im Parlament verloren, so gehen wir mit unserem Protest auf die Straße! Dies ist kein demokratisches Verständnis im Sinne unserer Verfassung. Ein solches Verhalten läßt sich mit den demokratischen Spielregeln, auf deren Einhaltung jedes demokratische Gemeinwesen existentiell angewiesen ist, nicht vereinbaren.

Deutschlandpolitik und Wiedervereinigungsgebot des GG Ich komme nun zu meinem zweiten Punkt, zu der Frage nach der Rechtslage Deutschlands, die Herr Präsident Heckelmann eben aufgeworfen hat. Der Auftrag zur Wiedervereinigung Deutschlands steht in der Tat und mit Recht an der Spitze unserer Verfassung. Dieser verfassungsrechtliche Wiedervereinigungsauftrag gilt unverändert, selbst wenn das Grundgesetz oder der Verfassungsgeber von 1949 sicher davon ausgegangen sind, daß die Erfüllung dieses Auftrages schneller gehen würde. Heute wissen wir, daß die Frage der deutschen Einheit eine in historischen Dimensionen wurzelnde Frage darstellt und sicherlich eine Aufgabe verkörpert, die nicht aus dem europäischen Gesamtzusammenhang herausgelöst werden kann. Die Frage der Teilung Deutschlands läßt sich nicht von der Frage der Teilung Europas lösen. Die deutsche Wiedervereinigung läßt sich nur im Rahmen der Uberwindung der Teilung Europas erreichen. Andererseits ist niemand berechtigt, angesichts des langen Zeitablaufs und angesichts der unverändert starren Teilungssituation in Deutschland und Europa davon zu sprechen, daß die ganze deutsche Problematik sich erledigt habe. Die Offenheit der deutschen Frage besteht unverändert fort, sie besteht ebenso im Rahmen des verfassungsrechtlichen Wiedervereinigungsauftrages wie im Rahmen der fortbestehenden Rechte der vier Siegermächte des zweiten Weltkrieges und im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts aller Deutschen. Wer heute davon spricht, daß die deutsche Frage nicht mehr offen sei, der verkennt die rechtlichen und politischen Verantwortlichkeiten in und für Deutschland, der verkennt darüber hinaus den politischen Willen der Deutschen. Gerade wir hier in Berlin wissen wohl am allerbesten, wie ungelöst, wie offen die deutsche Frage ist und wie sehr es darauf ankommt, deutschlandpolitisch voranzukommen. Den Deutschen steht, wie al-

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len Völkern in der Welt, das Selbstbestimmungsrecht zu. Dies gilt für die Deutschen im Westen ebenso wie im Osten. Gerade wir im Westen, die wir über alle freiheitlichen Grundrechte verfügen, haben nicht das Recht, die Deutschen im anderen Teil Deutschlands, die über keine vergleichbaren Freiheiten verfügen, gleichsam zu verabschieden. Den Deutschen in der DDR und in Ost-Berlin steht das Recht auf Freiheit und Selbstbestimmung ebenso zu wie uns. Wenn die Deutschen in der DDR und Ost-Berlin in freier Entscheidung sagen würden bzw. wenn sie die Gelegenheit zu einer solchen freien Entscheidung hätten — und hier ist das Wort von der Volksabstimmung sicher eher am Platze als an jenem Platze, an dem es Herr Schily vorhin gesucht hat — wenn jene Bürger in freier Abstimmung darüber entscheiden könnten, was sie staatlich wollen, wo sie hinwollen, ob sie für sich in gesonderter Staatlichkeit bleiben wollen, ob sie nur noch Staatsangehörige der DDR sein wollen oder ob sie in unserem Sinne Deutsche, d. h. Deutsche im Sinne der fortbestehenden gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit, wie sie das Grundgesetz in Art. 116 voraussetzt, sein wollen, dann werden wir in der Bundesrepublik jede dieser Entscheidungen mit Sicherheit politisch akzeptieren. Solange eine solche Entscheidung der Deutschen in der DDR und in Ost-Berlin jedoch nicht vorliegt, solange den Deutschen dort die Möglichkeit zu einer solchen freien Entscheidung nicht gegeben wird, solange gilt mit Recht allein das, was unsere Verfassung vorgibt; solange bleibt es bei der Feststellung des uneingelösten Selbstbestimmungsrechts der Deutschen. Wer angesichts dieser Rechtslage, wer angesichts dieser offenen deutschen Frage von einer Schimäre oder ähnlichem spricht, der verkennt nicht nur die gegebene Situation, sondern der muß sich auch politisch unverantwortliches Verhalten vorhalten lassen. Solange die Frage der deutschen Wiedervereinigung nicht unmittelbar auf der Tagesordnung der internationalen Politik steht, haben wir den Auftrag, in praktischer Politik möglichst viele Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands zu schaffen. Das ist schwer genug. Dennoch möchte ich noch einmal unterstreichen, wie wenig wir berechtigt sind und wie wichtig es ist, daß hierüber — mit Ernst Benda gesprochen - wirklicher Grundkonsens besteht, daß die Deutschlandfrage offen ¿st, daß sie von uns weiterhin alle Lösungsanstrengungen erfordert und daß in der Frage der Staatsangehörigkeit unverändert Einigkeit darüber bestehen bleibt, daß Deutsche Deutsche sind und Deutsche im Sinne der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit bleiben, sofern sie dies wollen.

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HECKELMANN: Herr Scholz, danke für Ihren Beitrag. Ich bin froh darüber, daß nach dem etwas getragenen Optimismus der ersten Runde, und ich habe es auch nicht anders erwartet, in diesem Feld eine durchaus zugespitzte Argumentation Platz greift. Ich nehme an, Herr Schmude, Ihr Beitrag wird auf der Linie liegen.

SCHMUDE: Ich möchte auf die Frage nach der völkerrechtlichen Anerkennung der DDR nicht juristisch antworten. Da kann man endlose Ausführungen machen. Ich frage, was soll das politisch? Was kommt dabei heraus, wenn man so etwas ernsthaft in Betracht zieht? Und ich stelle fest, keines der Probleme zwischen beiden deutschen Staaten würde dadurch wirklich gelöst. Viele neue Probleme, viele Fragen würden zusätzlich aufgeworfen, unter anderem die Frage nach der Staatsangehörigkeit der Berliner. Und da kann es sich niemand so leicht machen zu sagen, das wird man dann schon irgendwie lösen. Nein, die sachlichen Konsequenzen muß man zuerst betrachten, bevor man sich an das macht, was ich auch in diesem Zusammenhang für Formelkram halten würde. Die Ostpolitik der sozial-liberalen Zeit wurde möglich, weil man sich nicht eng an juristische Fesseln gebunden hielt. Jetzt meinen einige, denen es damals nicht schnell genug gehen konnte, mit dem erneuten Rückfall in juristische Spielereien etwas zu bewegen. Ich sage, das ändert nichts. Es ändert nichts daran, daß jemand, der seine Einkommens- und Lebensverhältnisse in Dresden mit denen in Hannover vergleicht, auch in Zukunft häufig lieber in Hannover bleiben wird, ob da was völkerrechtliches dazwischen ist oder nicht oder zwei Staatsangehörigkeiten oder nicht. Deshalb bin ich strikt dagegen, daß wir an diese Fragen herangehen und damit voreilig irgendwelche Forderungen erheben, mit denen wir nichts bewegen. Ich bin sehr dafür, daß wir diese Geraer Forderung nach der Respektierung der Staatsbürgerschaft endlich mal klären und daß wir auch die DDR veranlassen, zu klären, was sie eigentlich will. Das formelhafte Wiederholen dieses Spruches hilft niemandem. Und formelhaftes Nein aus Bonn, wir gehen da nicht ran, wir prüfen das nicht, das gibts für uns nicht, hilft auch niemandem. Manchmal habe ich den Eindruck, daß die Hardliner auf beiden Seiten wieder trefflich kooperieren.

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Volksentscheid und Raketenstationierung Dann gab's noch die Frage, der ich auch ein paar Sätze widmen will, nach Volksentscheid und Stationierungsentscheidung. Nein, Herr Schily, so leicht können Sie es sich nicht machen, wenn Sie sagen, die Todesstrafe, die gehört in den Bereich des Unabstimmbaren. Die Stationierungsfrage, über die kann man abstimmen, hieße dann die Gegenformulierung. Sie wissen sehr wohl, daß diese Diskussion gerade deshalb mit großem Ernst geführt worden ist, weil viele Menschen gesagt haben, das ist auch unabstimmbar, was da in Bonn entschieden wird. Das geht uns ans Leben, das ruiniert uns die Zukunft, darüber darf überhaupt niemand abstimmen. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß es keine Volksentscheide oder -abstimmungen oder dergleichen über politische Einzelfragen geben sollte. Man kann sich nicht aus Programmen, die zusammengehören, wo eins zum anderen gehört, einen Teil herauspicken und sagen, das entscheiden wir, das entscheidet das Volk, vielleicht unter Emotionen oder nicht, da will ich gar keine Geringschätzung aussprechen, den Rest sollen mal die Parteien weitermachen, und zwar nach unseren Vorstellungen. Und es ist nicht richtig, daß die Bürger nur alle 4 Jahre sich äußern können. Sie können sich bei den verschiedensten Wahlen äußern. Sie können sich sogar dazwischen so deutlich äußern, daß ein Amnestievorhaben, das die Mehrheit im Bundestag wollte, gescheitert ist, weil die Mehrheit der Bürger es nicht gewollt hat. Und da sage ich, laßt uns doch erst mal die vorhandenen Instrumente nutzen, statt fortwährend nach neuen zu rufen. HECKELMANN: Danke sehr, Herr Schmude, für Ihren Beitrag. Herr Benda, Sie sind nicht mehr im Amt des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und haben in dieser Frage jetzt etwas freieren Spielraum in der Argumentation. Nutzen Sie Ihr Grundrecht als Hochschullehrer.

BENDA: Ich will jetzt zunächst einmal die Frage der plebiszitären Elemente ausklammern. Sie spielt natürlich bei dem Thema Nachrüstung, wie ich aus den bisherigen Diskussionsbeiträgen gesehen habe, eine Rolle, aber ich nehme an, wir kommen noch auf diesen Punkt gesondert, und ich würde es mit Ihrem Einverständnis, Herr Heckelmann, im Augenblick mal weglassen.

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Gefährdungen des Konsens Aber ein anderer Punkt interessiert mich besonders aus den vielen Beiträgen zu dem Gesamtthema, den Herr Schily gebracht hat. Er hat die Frage gestellt, wodurch der Konsens gefährdet ist. Da waren vier Punkte. Ich nehme jetzt nur den ersten, weil er thematisch in den Bereich Außen-, Deutschland- und Sicherheitspolitik fällt. Ich habe mir notiert, Nachrüstung als Angriff auf die Friedensstaatlichkeit mit der Folge zivilen Ungehorsams. Hier ist eigentlich eine Frage an das Verfassungsverständnis von Herrn Schily angebracht. Der Angriff auf die Friedensstaatlichkeit ist ja wohl eine Formulierung, die sagt, der Nachrüstungsbeschluß ist verfassungswidrig. Das ist nicht nur daraus herauszulesen, sondern die Partei, der Herr Schily angehört, hat ja damals auch die Konsequenzen gezogen. Ich habe selbst als Zuschauer von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, mir das Plädoyer etwa von Herrn Schily und von anderen in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht anzuhören. Ohne über die Sache ein weiteres Wort zu verlieren, wird man davon ausgehen können, daß es sich um eine wichtige, schwierige, ernst zu nehmende Frage handelt. Das Bundesverfassungsgericht wird, wie Herr Schily am besten weiß, in absehbarer Zeit seine Entscheidung darüber fällen. Meine Frage an das Verfassungsverständnis ist: Wenn dieser Weg, eine von ihm behauptete verfassungswidrige Entscheidung zur Klärung durch das dafür zuständige Gericht zu bringen, vorhanden und genutzt worden ist, bedeutet dieses nach Auffassung von Herrn Schily, daß diese Entscheidung, deren Ergebnis wir nicht kennen, die aber demnächst kommen wird, auch von ihm respektiert wird, egal, ob sie ihn persönlich überzeugt, ihm gefällt, ihn politisch oder rechtlich überzeugt oder nicht. Wenn das so wäre, wäre es ein guter Weg, eine solche Frage auf einem hierfür vorgesehenen Wege vor das Gericht zu bringen. Dann würde dies aber zu keiner Gefährdung des Konsenses führen können, denn man hätte sich in dem Verfahren genau auf den Punkt geeinigt, den ich in meinen einleitenden Bemerkungen hervorgehoben habe, daß man auch schwierige und wichtige Fragen in den Formen des Rechts, und nur in den Formen des Rechts, zu einem Ergebnis bringt, bei dem logischerweise angesichts der kontroversen Positionen nicht jeder befriedigt sein wird. Das ist auch bei jedem Amtsgericht so, daß jeder zweite, der aus dem Gericht herausgeht, mit der Entscheidung zufrieden ist. Der hat den Prozeß gewonnen. Und der andere, der ist nicht so sehr zufrieden, der hat ihn verloren, so ist das Leben. Das ist auch nichts Besonderes.

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Aber ist es im Lichte dieser Situation, das wäre meine Frage, dann nicht inkonsequent, vor einer solchen Entscheidung bereits und erst recht möglicherweise hinterher, zivilen Ungehorsam als das geeignete und von dem Rechtsstandpunkt des Herrn Schily angemessene Mittel zu empfehlen? Noch ein kurzer zweiter Punkt, und der ist genauso pathetisch wie der Satz, den Herr Schily gebracht hatte. Und Pathetik ist ja unter Umständen ein adäquates Mittel, Dinge vereinfacht, aber deutlich und gut darzustellen. Ich nehme das gerne auf. Ich sehe das Gewicht des Arguments, daß das Deutsche Reich auf den Schlachtfeldern und in den Gaskammern untergegangen ist. Ich will Ihnen nur ein persönliches Erlebnis mitteilen, das viele der älteren Anwesenden hier geteilt haben mögen, nicht die Jüngeren. Damals war ich gerade so alt wie die meisten der hier Anwesenden es heute sind. Als ich 1946 nach Hause kam, da war in Berlin von der sowjetischen Besatzungsmacht ein Wort von Stalin plakatiert: „Die Hitlers kommen und gehen, Deutschland, das deutsche Volk bleibt bestehen." Meine Frage: Sollten wir weniger realistisch sein als Josef Stalin? HECKELMANN: Danke sehr, Herr Benda, für Ihren Beitrag. Der Beitrag von Herrn Benda war eine Frage an Herrn Schily, die ich ihm gleich weitergebe mit einer weitergehenden Frage in der letzten Runde, die ich damit zugleich einläuten möchte. Ich komme zurück auf das Thema, das vorher schon mehrfach angesprochen worden war und meine damit folgendes: Ich glaube, am Podium ist mehr oder weniger in allen Beiträgen ebenso wie in Äußerungen aus dem Publikum das Defizit durchgeklungen, das vorhanden ist im Hinblick darauf, wie sich der Bürger bei den Parlamentariern überhaupt noch hinreichend repräsentiert sieht. Hier gibt es außer den genannten Defiziten noch weitere Zwänge, die existieren, vom Fraktionsdruck in der Abstimmung über den Informationsvorsprung der Ministerien bis hin zu dem, was im Wahlkreis dem Abgeordneten bindend aufgegeben wird. Man fragt sich manchmal, wieviel eigenes Gewissen bleibt eigentlich übrig, über das der einzelne Abgeordnete noch disponieren kann. Er ist unter vielfältigen Zwängen, und wenn insoweit ein Legitimationsdefizit besteht, stellt sich die weitere Frage, wie kann man das auffangen? Erwogen ist in diesem Zusammenhang die Verstärkung des plebiszitären Elements in vier verschiedenen denkbaren Variationen. Hier hätte ich gerne noch von jedem Beitragenden ein abgerundetes Statement. Bitte, Herr Schily, beginnen Sie mit den 2 Aspekten:

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SCHILY: Also, ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß die Ausformung der Verfassung im Sinne einer plebiszitären Komponente ein Allheilmittel ist, aber es würde zu einer stärkeren Volksnähe der staatlichen Institutionen führen. Gleichzeitig halte ich es aber für notwendig, das entspricht der grünen Programmatik, daß wir eine weitgehende Entstaatlichung gesellschaftlicher Prozesse anstreben müssen. Es sind zu viele gesellschaftliche Entscheidungsbefugnisse monopolisiert beim Parlament, bei der Regierung und bei sonstigen staatlichen Institutionen. Wenn man den Alltag eines Parlamentariers sich ansieht mit den Bergen von Papieren, die er größtenteils gar nicht gelesen hat und dann hebt er die Hand bei Abstimmungen aufgrund von Vorlagen, die die Arbeitskreise der Fraktion vorbereitet haben, dann kann man bereits daran ablesen, daß die Monopolisierung gesellschaftlicher Entscheidungs- und Willensbildungsprozesse im Parlament nicht das Richtige ist. Jetzt zur Frage von Herrn Benda zum zivilen Ungehorsam. Es ist, glaube ich, eine Berufskrankheit, entschuldigen Sie, ich beziehe mich selber ein, von Juristen, daß sie alles in einem formellen Rahmen sehen. Obwohl ich Verfahrensordnungen und eine unabhängige Gerichtsbarkeit für sehr wichtig halte, läßt sich das Problem nicht auf diesen Aspekt verengen. Ich muß Ihnen einfach die Frage entgegenhalten von der materiell-rechtlichen, sogar von der moralischen Seite: Gibt es auf der Welt wirklich ein Recht, einem anderen Volk mit Massenvernichtungsmitteln den Völkermord anzudrohen? Nach meiner Überzeugung gibt es ein solches Recht nicht, auch wenn man sich der Illusion hingibt, die wechselseitige Bedrohung mit Völkermord könne den Frieden sichern. Nur noch eine Bemerkung zu der deutschen Frage. Sie haben völlig recht, Herr Benda, erfreulicherweise beweist die Geschichte, daß Völker Diktaturen überleben. Aber wir müssen nicht unbedingt in der Tradition weiterdenken, daß ein Volk immer unter demselben staatlichen Dach leben muß. Für die Deutschen war der Einheitsstaat, Großdeutschland darf ich nicht sagen, weil die großdeutsche Lösung historisch einen anderen Zusammenhang hat, eigentlich eine Episode, das hat Hans Heigert in der Süddeutschen Zeitung kürzlich mit Recht unterstrichen. Es gab historisch gesehen während des kurzen Zeitraums von 70 Jahren einen deutschen Einheitsstaat. Während dieser 70 Jahre ist das deutsche Volk in zwei Weltkriegskatastrophen hineingeführt worden. Daraus sollten wir eine Lektion gelernt haben, daß wir uns die Frage stellen, ob das deutsche Volk nicht durchaus in zwei Staaten leben kann. Von einem französischen Publizisten stammt die

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berühmte Äußerung, er liebe Deutschland so sehr, daß er es gut finde, wenn es zwei davon gebe. Wenn wir in dieser Hinsicht etwas lockerer werden und unser Verhältnis zur DDR so ausgestalten, daß die DDR ein Nachbar wird für die Bundesrepublik wie Österreich, dann hätten wir sehr viel mehr gewonnen, als mit irgendwelchen Illusionen einer Wiedervereinigung. Was soll denn da wiedervereinigt werden? Ich meine, daß es am meisten auf die Rechte des einzelnen Menschen ankommt. Wir können niemals darauf verzichten, gegenüber der DDR die Einhaltung der Menschenrechte geltend zu machen. Wenn wir wieder die Nachricht hören, es wird ein Mensch an der Mauer erschossen, nur weil er von einem Gebiet in das andere will, dann ist das in der Tat ein Verbrechen, daran gibt es nichts zu deuteln. Aber wir müssen lernen, mit der Frage so umzugehen, daß wir sagen, wir wollen die Grenzen meinethalben anerkennen, aber wir wollen sie so verändern, daß sie nicht mehr zu spüren sind. HECKELMANN: Wir wollten die letzte Runde mit der Erörterung des plebiszitären Elements weiter bestreiten. Bitte, Herr Hirsch.

HIRSCH: Die Bemerkungen von Herrn Schily haben es eigentlich unmöglich gemacht, auf diesem Vorschlag zu bestehen und zu sagen, wir reden jetzt noch mal über das plebiszitäre Element. Ich muß auf ein paar Bemerkungen eingehen. Das eine war die Bemerkung: Gibt es ein Recht, einem anderen Volk mit seiner Vernichtung zu drohen? Und die Antwort kann natürlich nur sein, nein, ein solches Recht gibt es nicht, aber es ist die halbe Wahrheit. Die Wahrheit ist doch, was für ein Recht habe ich denn, wenn ich selber mit der Vernichtung bedroht werde? Was habe ich dann zu tun? Welche Rechte habe ich dann? Muß ich mich mit allen Zeichen der Demut auf den Teppich werfen und darf nichts tun? Das ist doch das Problem, das mit dieser einfachen Formel gar nicht zu beantworten ist. Ich glaube, daß wir hier an Symptomen herumdiskutieren. Der Frieden in Europa ist über 30 Jahre hindurch in der Tat mit dem System einer militärischen Abschreckung bewahrt worden. Aber es ist ein System, das immanent ein Wettrüsten bedeutet. Und man muß erkennen, daß dieses System nicht unbegrenzt fortgeführt werden kann, ohne den Frieden mehr zu bedrohen als ihn zu bewahren. Das ist das eigentliche Problem. Das ist mit der Frage des Volksentscheids oder womit auch immer, überhaupt nicht zu beantworten, und jeder von uns weiß das. Die zweite Frage, die Herr Schily aufgeworfen hat, hat mich

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überrascht. Natürlich gibt es kein Recht der Deutschen, auf Dauer in einem Staat zu leben, und natürlich muß man fragen, warum sollten sie nicht in zwei Staaten leben? Sie tun es doch, wissen Sie das nicht? Natürlich leben die Deutschen in zwei Staaten, und keiner bestreitet das. Wir reden ja nicht darüber, sondern wir haben über die Frage diskutiert, wie das Verhältnis dieser beiden deutschen Staaten zueinander so geregelt werden kann, daß für den einzelnen in jedem der beiden deutschen Staaten ein Maximum an Freiheit, an Bewegungsmöglichkeit, an persönlicher Entwicklungsmöglichkeit gewährt und gesichert werden kann. Ich kann nicht erkennen, daß die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit gegenüber einem Teil dieser Deutschen auch nur einem von beiden bei der Lösung dieses Problems nutzt, überhaupt nicht. Und der dritte Komplex ist der der Freiheit oder der Bindung des Abgeordneten. Ich glaube, daß man darüber leichter reden kann, als es in der Wirklichkeit zu beachten. Jeder Abgeordner ist gewählt ja nicht nur aufgrund seiner eigenen himmelschreienden Tüchtigkeit, sondern gleichzeitig als Vertreter einer politischen Gruppierung. Und wenn jeder Abgeordnete nur noch das tun würde, was er selber will, seine eigene Meinung verabsolutiert, dann in der Tat würde der Bürger überhaupt nicht wissen, wen und was und warum er wählen soll. Der Abgeordnete steht in einem Spannungsfeld zwischen der politischen Gruppe, als deren Repräsentant er sich im Parlament befindet, und dem Befehl und der Verpflichtung der Verfassung, nur seinem eigenen Gewissen unterworfen zu sein. Ich muß Ihnen sagen, daß jeder Abgeordnete in jeder Entscheidung bei der Abstimmung das Recht und die Pflicht hat, seinem Gewissen zu folgen, und daß er das auch tun kann. Und ein Abgeordneter, der das nicht tut, der sich in einer Gewissensfrage verleugnet, gehört nicht in ein Parlament. HECKELMANN: Danke sehr, Herr Hirsch. Herr Scholz, ich glaube, Sie übernehmen dann den Aspekt des plebiszitären Elements noch einmal, bitte.

Plebiszitäre Öffnung und Gemeinwohlverpflichtung SCHOLZ: Ich möchte mich also dem Thema plebiszitäre oder repräsentative Demokratie noch einmal zuwenden. Die plebiszitäre oder, wie man auch sagt, unmittelbare Demokratie bedeutet im Kern, daß der Bürger selbst in direkter Teilnahme am politischen Willensbil-

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dungsprozeß entscheidet. Diese Vorstellung stellt sich für viele als eine Ideallösung dar. Die Vorstellung der direkten Selbstentscheidung ist für viele Bürger sicher zunächst sehr viel einleuchtender als ein System der repräsentativen bzw. mittelbaren Demokratie, d. h. eine Ordnung, in der die Parlamentarier als Vertreter des Volkes allein über die unmittelbare Entscheidungsmacht verfügen. Jenes Unbehagen, von dem Präsident Heckelmann vorhin gesprochen hat, richtet sich gegen die repräsentative Demokratie, artikuliert in vielfältiger Weise ein Streben nach mehr unmittelbarer oder plebiszitärer Demokratie. Indessen, es darf nie vergessen werden, daß jeder Abgeordnete nach geltendem Verfassungsrecht Vertreter des ganzen Volkes, also nicht nur Vertreter der einen oder anderen politischen Richtung ist. Er muß sich in seiner politischen Entscheidung, unabhängig von seiner jeweiligen parteipolitischen Orientierung, um die Allgemeinheit, um die allgemeinen Belange kümmern. Sicherlich werden viele einwenden, dies sei nur leichthin oder gar theoretisch gesagt. Dennoch, diese Pflicht, für die Allgemeinheit gültige und verbindliche, d.h. für alle Bürger in gleicher Weise tragfähige und akzeptable Entscheidungen zu treffen, wird erfüllt. Dies läßt sich z. B. an der Umweltschutzpolitik belegen. Denn gerade im Umweltschutz ist das Bestreben nach unmittelbar demokratischer Bürgerartikulation heute besonders ausgeprägt. Wenn in der Nachbarschaft des einen oder anderen Bürgers ein Kraftwerk errichtet wird, eine Autobahn gebaut wird oder eine neue Startbahn auf einem Flughafen errichtet wird, ist dies naturgemäß für jenen Bürger in der unmittelbaren Nachbarschaft einer solchen Anlage mit gewissen Belastungen verbunden. Indessen, was sind dies für Belastungen? Dies ist genau die entscheidende Frage. Es sind Belastungen für den Bürger, der in der unmittelbaren Nachbarschaft solcher Einrichtungen lebt. Wenn ein solcher Bürger, wie es von Bürgerinitiativen und „Grünen" häufig gefordert wird, in eigener unmittelbar-demokratischer Entscheidung darüber befinden soll, ob jene Anlage errichtet wird oder nicht, wird er diese Entscheidung aus der eigenen unmittelbaren Betroffenheit heraus fällen, er wird also in der Regel gegen jene Anlage entscheiden; er wird eine Entscheidung treffen, die im Lichte seiner persönlichen Belange, seiner subjektiven Betroffenheit sicher verständlich ist. Er wird andererseits aber — und auch dies muß man verstehen und ggf. nachsehen — bei seinen Überlegungen nur schwerlich bereit sein, auch die Belange der Allgemeinheit zu berücksichtigen, also z.B. bei einem Kraftwerk das Interesse der Allgemeinheit an der gesicherten Energieversorgung

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bzw. an der für alle Bürger entscheidenden Energiesicherheit so zu berücksichtigen, wie dies bei insgesamt gebotener objektiver Interessenabwägung erforderlich wäre. Wir brauchen ebenso eine sichere Energieversorgung wie wir einen intakten Umweltschutz brauchen. Das gleiche Problem, das gleiche Gebot der gerechten Interessenabwägung besteht z. B. im Verhältnis von Umweltschutz und der Sicherung von Arbeitsplätzen. Arbeitsplätze setzen industrielle Investitionen voraus, die wiederum für die Umwelt belastend sein können. Erneut muß zwischen beiden Zielsetzungen abgewogen werden können, muß zwischen beiden Zielsetzungen, die in gleicher Weise wichtig und legitim sind, ein vernünftiger Kompromiß gefunden werden. Dieser Kompromiß wird jedoch am besten vom Parlament, d. h. von den Vertretern des ganzen Volkes, von den Vertretern aller Bürger getroffen, also nicht nur von einzelnen Bürgern, die namentlich als Nachbarn eines solchen Kraftwerks oder einer solchen Industrieanlage unmittelbar in ihren persönlichen Belangen oder Umweltschutzinteressen berührt sind. Nur das Parlament oder die von ihm gewählte Regierung kann eine für alle Bürger wirklich gleiche, also wirklich allgemein verbindliche und von allen zu akzeptierende politische Entscheidung verbürgen. Das Grundgesetz hat sich auch in der Erkenntnis solcher Probleme mit Recht auf das System der repräsentativen Demokratie festgelegt. Es hat die unmittelbare oder plebiszitäre Demokratie zwar nicht völlig ausgeschlossen, hat diese aber auf entsprechend begrenzte Bereiche, wie die Gemeinden, beschränkt. Gerade an der hiesigen Entwicklung kann man jedoch sehr deutlich ablesen, wie wenig die unmittelbare oder plebiszitäre Demokratie heute wirklich in politisch verantwortlicher Weise praktiziert werden kann. Bei den Gemeinden hat man seinerzeit gesagt, daß hier unmittelbare Demokratie noch praktiziert werden könnte, da hier der Bürger als Teil der Gemeinde noch am ehesten imstande sei, in unmittelbar demokratischer Entscheidungspartizipation die Belange der gesamten örtlichen Gemeinschaft zu wahren oder wahrzunehmen. Dennoch verfügen wir heute in den Gemeinden praktisch über keine unmittelbare Demokratie mehr, weil auch die Gemeinden inzwischen viel zu groß, zu vielfältig und in ihren gesamten Lebenszusammenhängen viel zu kompliziert geworden sind. Auch in den Gemeinden hat sich im Grunde das repräsentative Prinzip längst durchgesetzt. Und zum Schluß noch ein weiteres, aber ganz zentrales verfassungspolitisches Argument für die repräsentative Demokratie: Das Grundgesetz ist wesentlich aus den Erfahrungen der Weimarer Republik und

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ihres Scheiterns erwachsen, wir leben noch heute ganz in der Erinnerung, wie der damalige Versuch einer stabilen demokratischen Ordnung gescheitert ist. Die Weimarer Verfassung ist ganz wesentlich mit daran zerbrochen, daß die repräsentative Demokratie von der Verfassung her nicht hinreichend stabil ausgerüstet und ausgestattet worden ist. Die repräsentative Demokratie stand damals schon von Verfassungs wegen im institutionellen Konflikt mit der plebiszitären Demokratie, namentlich im Verhältnis von Reichstag und Reichsregierung einerseits und Reichspräsident andererseits. Dieses konstitutionelle Spannungsverhältnis von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie hat die Weimarer Republik nicht durchgestanden, sie ist letztlich und maßgebend an ihm zerbrochen. Das Grundgesetz hat aus diesen Erfahrungen gelernt und die repräsentative Demokratie mit jenen umfassenden Sicherungen und mit jenem absoluten Vorrang ausgestattet, wie dies für eine stabile und dauerhafte Demokratie unverzichtbar ist. Meine Damen und Herren, bei allen zugegebenen Schwächen ist die repräsentative Demokratie nach wie vor die beste, die sicherste und die stabilste demokratische Ordnung, die wir haben können und zu der wir uns deshalb auch bekennen sollten. HECKELMANN: Danke, Herr Senator Scholz. Ich bin gespannt, ob Herr Schmude in dieser Frage andere Akzente setzt. Bitte, Herr Schmude. SCHMUDE: Also zunächst eine Bemerkung vorab zu Herrn Schily. Herr Schily, wenn sie den Abgeordneten schildern, dann sehe ich den förmlich, wie der hinter seinen Papierbergen versinkt, keinen Durchblick mehr hat und hinterher nicht weiß, wofür er die Hand hebt. Ich nehme Sie, Herr Schily, von einem solchen Urteil ausdrücklich aus. Ich habe den Eindruck, Sie haben das Zeug gelesen. Aber wie schade, wenn Sie es nun anwenden sollen und die Hand heben, nachdem Sie es gelesen haben, dann erwischt Sie die Rotation, dann kommen andere, die müssen es erst wieder nachlesen.

Mehrheitsprinzip — Plebiszitäre Öffnung - Verantwortlichkeit Der Kern dieser Bemerkung trifft genau die Sache. Politiker müssen für ein Programm geradestehen, für ein politisches Programm, das sie erarbeiten und das sie durchführen müssen. Sie müssen es dem

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Wähler anbieten, damit er auswählen kann, ob er sich für dieses oder jenes oder ein sonstiges Programm entscheidet. Und deshalb halte ich eben nichts davon, daß man sagt, aber diese und jene Entscheidung, die machen wir per Volksentscheid. Wir entscheiden per Volksentscheid raus aus der NATO, aber gleichzeitig wünschen wir, daß die Bundesregierung auf die Amerikaner und alle anderen Einfluß nimmt wegen Nicaragua und wegen des Weltfriedens. Man kann nicht sagen, wir entscheiden per Volksentscheid für eine höhere Rente und Arbeitslosenunterstützung, aber wir wünschen kein Wirtschaftswachstum und dergleichen mehr. Wer das eine machen soll, der muß auch das andere verantworten können, und da kann man nicht Teile 'rausschneiden. Dort, wo es das Plebiszit, also die Volksabstimmung gibt, das hält man uns ja so gerne als Beispiel vor, da sehe ich nichts Verlockendes. In der Schweiz nehmen nur sehr wenige Bürger an diesen Volksentscheiden teil und die konservativen Kräfte setzen sich durch bei dieser Geschichte. Es nutzt sich halt ab. Das sehen wir allein schon, wenn in Hessen in einem Jahr drei Wahlen sind. Es nutzt sich ab, die Bürger zur Entscheidung zu rufen, sie kommen dann nicht mehr. Und das wäre nun das Schlimmste, wenn das, was entschieden wird, mit Mehrheit nichts mehr zu tun hat, sondern mit vielleicht 20 oder 30% oder noch weniger. Ich bleibe dabei, daß neben dem, was zwischen den Wahlen läuft, auch die Wahlen genügend Einflußmöglichkeiten geben. Und ich frage: Wo waren denn alle diejenigen, die im November 1983 die Welt untergehen sahen wegen der Stationierungsentscheidung, wo waren die im März 1983, als man diese politischen Kräfte hätte verhindern können? Denn das war politisches Programm, das ist ja nicht hinterher erst deutlich geworden, das war zu Jahresanfang schon völlig klar. Wo waren sie denn? Es tut mir leid, ich hätte sie gern im Bundestagswahlkampf erlebt, alle die, die hinterher sagten, es geht um das Schlimmste von dieser Welt, aber sie waren nicht anzutreffen. Wo waren sie dann hinterher bei den anderen Wahlen? Es gibt Landtagswahlen, die in Bonn sehr ernst genommen werden, sogar Gemeinderatswahlen nehmen wir sehr ernst. Wo bleibt denn da die deutliche Antwort des Wählers? Nein, ich meine, diejenigen, die sagen, hier Volksentscheid und Mehrheit, die müssen sich 'mal fragen, ob sie wirklich in der Mehrheit sind, oder ob sich nicht bei den Wahlen zeigt, daß sie es nicht sind. Aber, Herr Heckelmann, ganz unbefriedigt sollen die Fragesteller doch nicht bleiben, die ja immer Zwischenrufen, Flick und gekaufte Republik. Und ich mach's auch ganz kurz, indem ich sage, wir haben

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in Bonn einen Untersuchungsausschuß. Wir haben Justizverfahren, die laufen. Wir haben die Amnestie abgewehrt, ja die Bürger und die Medien und die Öffentlichkeit haben die Amnestie mit abgewehrt, denn allein in Bonn wäre das nicht gelungen. Wenn Sie jetzt irgendwo Vorwürfe hören und Beschimpfungen, es seien da ein paar Saubermänner und Heuchler zugange, erkennen Sie den Kern dieser falschen Vorwürfe, dieser falschen Anschuldigungen, daß man ablenken und verwischen will. Wir machen das, was wir machen, etwa im Ausschuß, nicht aus Heuchelei und moralischer Überheblichkeit, sondern weil wir zeigen wollen und müssen, daß dieser Bundestag, daß diese Demokratie die Instrumente hat, sich selbst zu korrigieren, statt zu verwischen und unter den Teppich zu kehren. Darum geht es uns. HECKELMANN: Herr Schmude, ich danke Ihnen ganz herzlich, gerade für Ihren letzten Beitrag. Ich glaube, meine Damen und Herren, es gebührt das inhaltliche Schlußwort, bevor ich der Versammlung den Abschied gebe, vor allem dem eider statesman Herrn Benda. Bitte sehr, Herr Benda. BENDA: Meine Damen und Herren, ich finde es zunächst einmal bedauerlich, daß wir offenbar nicht mehr die Zeit haben, um viele noch gar nicht abschließend geklärte Fragen miteinander zu besprechen; aber das ist ja wohl so. Lassen Sie mich aus meiner Sicht zu dem zuletzt erwähnten Thema plebiszitäre Demokratie ein paar Bemerkungen machen. — So alt, daß ich mich schon als eider statesman fühle, bin ich übrigens noch nicht, Herr Heckelmann. — HECKELMANN: Das ist keine Frage des Alters.

Politische Kommunikation in der parlamentarischen Demokratie BENDA: Aber das ist auch nicht so schlimm. Ich verstehe die Überlegung derjenigen, die sich zeitweise oder partiell durch die politischen Parteien nicht oder nicht hinreichend mit den sie bewegenden Fragen vertreten fühlen oder gefühlt haben. Ich glaube, daß der objektive Beobachter der politischen Entwicklung wird einräumen müssen, daß eine Reihe der in der deutschen Öffentlichkeit mit

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Leidenschaft und kontrovers diskutierten Fragen nicht zuerst im Parlament diskutiert worden sind, wo sie hingehören, sondern daß sie zunächst außerhalb des Parlaments von vielen Menschen diskutiert wurden und erst hinterher in den Parlamenten aufgenommen worden sind. Ich habe Anlaß zu der Hoffnung, daß diese Situation sich etwas verändert hat. Ich meine das jedenfalls zu beobachten. Insofern sage ich das doch — im Gegensatz zu den sonst hier anwesenden Herren — als jemand, der aus einer gewissen, jedenfalls räumlichen, Distanz von dem unmittelbaren politischen Geschehen ein Beobachter der Szene ist. Mittlerweile gibt es eine Neigung, gelegentlich sogar eine geradezu atemlos gewordene Hektik, nun ja nicht ein Ereignis zu versäumen, und es, am liebsten, bevor es überhaupt stattgefunden hat, schon zum Gegenstand einer aktuellen Stunde im Deutschen Bundestag zu machen. Man kann die Dinge auch etwas übertreiben, und ob dieser Stil ideal ist, lasse ich dahingestellt, aber wenn dies ein Indiz dafür ist, daß man den von mir bezeichneten Fehler korrigieren will, dann ist es vielleicht nicht schlecht, wenn man im Augenblick des Guten ein bißchen zuviel tut. Das wird sich einpendeln. Zweiter Punkt. Auf die immanente konservative Tendenz plebiszitärer Entscheidungen hat Herr Schmude zurecht hingewiesen. Vielleicht wissen nicht alle Anwesenden, daß zweimal im Wege des Volksentscheids in der Schweiz vergeblich versucht worden ist, ein bei uns selbstverständliches Grundrecht, wie das in Artikel 4 Abs. 3 enthaltene Grundrecht der Verweigerung des Wehrdienstes mit der Waffe, zum verfassungsrechtlichen Bestandteil zu machen. Das hat die Mehrheit dort nicht gewollt. Das ist das Ergebnis der dort bestehenden plebiszitären Elemente. Dies ist aber auch nicht der entscheidende Punkt. Ich möchte noch auf einen Punkt hinweisen, der bisher noch keine genügende Rolle gespielt hat. Ich meine, vielleicht im Gegensatz zu den hier anwesenden aktiven Politikern (aber auch ich habe, das ist freilich eine Weile her, dem Deutschen Bundestag eine ganze Reihe von Jahren angehört), daß die Neigung des Parlaments oder der Parlamente heute viel eher darin besteht, schwierigen und heiklen Entscheidungen auszuweichen und lieber auf die wirkliche oder vermutete Meinung des Volkes zu rekurrieren, die sich beispielsweise aus dem geflissentlichen Auswerten von unzähligen demoskopischen Umfragen ergibt, statt selber seine Pflicht wahrzunehmen, so, wie es im Grundgesetz vorgesehen ist, sich den Sachfragen zu stellen, diese auf ihr pro und contra zu untersuchen und dann eine klare Entscheidung zu treffen, die dann als rechtliche Entscheidung, sofern sie Gesetzesform hat, verbindlich ist.

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Ich glaube, daß die Form sozusagen einer formalisierten Demoskopie, die dann fragt, wie hättet ihr es gern, die Neigung des Parlaments zur Flucht aus der Verantwortung, die sich zum Beispiel in den generalklauselartigen Gesetzen und manchem anderen zeigt, eher noch verstärken würde. Und ich würde empfehlen, keine Hand dazu zu reichen, dem Parlament bei dieser Versuchung noch in irgendeiner Weise entgegenzukommen. Ich würde es strikt auf seine Verpflichtung hinweisen.

Repräsentative Demokratie und Parteiendemokratie Letzter Punkt. Ich stimme Herrn Schily darin nicht zu, daß das Volk im wesentlichen zurückgedrängt ist, wie er es vorhin beim Eingangsstatement gesagt hat, auf die im vierjährigen Abstand mögliche Teilnahme an Wahlen. Gerhard Leibholz hat vor langer Zeit davon gesprochen, daß unsere Parteiendemokratie die zeitgemäße Form der Einführung plebiszitärer Elemente in unser demokratischrepräsentatives System ist. Ich will jetzt nichts weiter, weil die Zeit wohl nicht ausreicht, über die Situation der Parteien sagen. Ich habe manches vorhin so angedeutet, aber ich frage diejenigen im Auditorium, die hier und da ihren Unmut über bestehende Zustände in einer oder in mehreren oder vielleicht auch in allen Parteien zum Ausdruck gebracht haben, und möge sich doch jeder für sich die Frage einmal beantworten: Hat er wirklich von der ihm wie jedem anderen gegebenen Möglichkeit Gebrauch gemacht, den Versuch zu unternehmen, in einer der Parteien seiner Wahl zu versuchen, seine Auffassung zur Geltung zu bringen und durchzusetzen? Wenn er diesen Versuch nicht unternommen hat, dann wäre ihm zu empfehlen, dieses zu versuchen. Er wird dann vielleicht mit Erstaunen feststellen, daß die meisten Parteien auf eine solche Mitarbeit sehnsüchtig warten und hierüber ganz froh wären. Und das trifft vielleicht nicht jeden der hier Anwesenden in gleicher Weise. Aber im ganzen würden die meisten der Parteien sich darüber freuen. Dann entsteht das Spannungsverhältnis, von dem Herr Hirsch gesprochen hat und das keiner besser kennt als in der Tat Herr Schily, der ja auch hin und her gerissen wirkt. Ich will jetzt nicht die Sache mit der Rotation wieder aufwärmen. Ich will nur sagen, und das ist eine ernsthafte Sachproblematik, das Gefühl, einer Basis verantwortlich zu sein, und dann zugleich als Mandatsträger - Herr Schily ist doch einer der Mächtigen im Lande

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heutzutage — sich zu überlegen, ob man wirklich in jener Weise den Entscheidungen der Basis, was immer das nun konkret jeweils sein mag, folgen darf, oder ob man ein Recht oder eine Pflicht auf die eigene Meinung hat. Das ist ein Konflikt, der nicht einfach auszutragen ist. Das ist das Element der parlamentarischen Demokratie. Wenn man dieses ernst nimmt, dann bin ich gar nicht bange darum, daß jeder im Volke, der sich an den aktiven Entscheidungen beteiligen will, dazu die Möglichkeit hat. HECKELMANN: Ich bedanke mich sehr herzlich, Herr Benda, für Ihren Beitrag. Meine Damen und Herren, ich möchte erst gar nicht den Versuch unternehmen, eine sachliche Zusammenfassung zu geben. Das ist auch nicht meines Amtes. Eine andere Bemerkung erlauben Sie mir abschließend. Das Thema ist es wert, kontrovers, seriös und auch kompetent erörtert zu werden. In Zeitabständen ist die Rückbesinnung auf die unveränderbar tragenden Grundwerte einer Verfassung erforderlich. Hierzu tragen auch und gerade die Universitäten als Stätten freier geistiger Auseinandersetzung besondere Verantwortung. Gerade eine Universität muß Forum für wichtige Zeitfragen sein. Die Veranstaltung heute und das begleitende Symposium sind der Beitrag der Freien Universität Berlin hierzu. Ich empfinde Genugtuung darüber, und die persönliche Bemerkung erlauben Sie mir, daß diese Veranstaltung in der Freien Universität durchgeführt werden konnte. Ich bedanke mich bei allen Beteiligten, den Mitstreitern am Podium und vor allen Dingen bei Ihnen, meine Damen und Herren, denen ich zugleich auch einen guten Nachhauseweg wünsche.

Colloquium 1

Der Verfassungskonsens im Angesicht außenpolitischer Kontroverse

Z u r Einführung

ALBRECHT RANDELZHOFER

Die Formulierung des Themas des ersten Colloquiums soll nicht so verstanden werden, als müßte in der pluralistischen Demokratie auf dem Felde der Außenpolitik durchgehend Konsens bestehen. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, ihr Entstehen und ihre Konsolidierung waren im Gegenteil gekennzeichnet durch außenpolitische Kontroversen. Westintegration, Wiederbewaffnung, Saarstatut, Ostpolitik seien hier als Stichworte genannt. In allen diesen Fällen hat die jeweilige Opposition auch das BVerfG angerufen, um den außenpolitischen Dissens austragen zu lassen. Gerade in der Bundesrepublik Deutschland kann ein durchgehender Konsens auf dem Felde der Außenpolitik um so weniger erwartet werden, als eine klare Trennung von Außen- und Innenpolitik auf vielen Felder gar nicht möglich ist. Um nur ein ganz zugespitztes Beispiel zu nennen: Ist Deutschlandpolitik Innen- oder Außenpolitik? Divergenzen in der Außenpolitik können durchaus positive Auswirkungen haben. Vorstellungen der Opposition können zu inhaltlichen Verbesserungen der Regierungspolitik führen. Nicht selten wird es die Regierung bei ihren außenpolitischen Verhandlungen als taktisch hilfreich empfinden, wenn sie auf bestimmte Forderungen der Gegenseite mit dem Hinweis reagieren kann, dies lasse sich innenpolitisch niemals durchsetzen. Auf der anderen Seite ist nicht zu bestreiten, daß ein gewisser Grundkonsens für die Führung einer erfolgreichen Außenpolitik unerläßlich ist. Fehlt es an diesem, so liegt darin die Einladung an den Vertragspartner, sich nach dem Prinzip des divide et impera Vorteile zu verschaffen. Bedenklich wird der Dissens in der Außenpolitik besonders, wenn nicht mehr nur in den verfassungsgemäßen Verfahren um die Inhalte der Außenpolitik gerungen wird, sondern der Dissens dazu führt, daß

Zur Einführung

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die Verfahren selbst verbogen oder mißachtet werden. In diesem Falle ist der Verfassungskonsens selbst durch die außenpolitische Kontroverse in Frage gestellt. Genau an diesem Punkt scheint mir eine qualitative Veränderung im Austrag außenpolitischer Kontroversen in der Bundesrepublik Deutschland feststellbar zu sein. Eine qualitative Veränderung, die den Verfassungskonsens selbst in Frage stellt, indem verfassungsrechtliche Verfahren, Zuständigkeiten und Verpflichtungen überspielt oder mißachtet werden. Außenpolitische Gegensätze zwischen Regierung und Opposition werden nicht mehr nur in Debatten und Abstimmungen im Parlament ausgetragen. Die dort unterlegene Opposition eröffnet auf kommunaler Ebene ein neues Feld der Auseinandersetzung und konterkariert den Beschluß der Regierung über die Nachrüstung durch die Erklärung eines Gemeindegebietes zur kernwaffenfreien Zone. Das traditionelle Initiativrecht der Bundesregierung bezüglich der Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen bekommt Konkurrenz durch entsprechende Gesetzesinitiativen von Oppositionsparteien, die völkerrechtliche Verträge, die von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet aber noch nicht ratifiziert wurden, in Kraft setzen wollen, ohne Rücksicht auf die außenpolitischen Erwägungen der Regierung. Die Opposition handelt auf sensiblen Gebieten mit anderen Staaten Vertragsentwürfe aus und setzt damit die Regierung unter — jedenfalls mittelbaren — Entscheidungszwang. Amtsrichter mißachten trotz § 3 1 Abs. 1 BVerfGG Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu außenpolitisch bedeutsamen Sachverhalten. Dies sind nur einige Beispiele. Sie signalisieren aber, daß es angeraten ist, der Frage nachzugehen, ob der Verfassungskonsens selbst heute durch außenpolitische Kontroverse gefährdet ist.

Konsens in der Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition Eine notwendige Funktionsbedingung des demokratischen Rechtsstaates?

WILHELM G. GREWE

I. Dissens und Streit um die Außenpolitik als Regelfall in einer pluralistischen Demokratie In einer pluralistischen Demokratie sollte sich im Normalfall die Vielfalt der politischen Ansichten und Urteile auch in der Außenpolitik zur Geltung bringen. Es gibt keine demokratische Spielregel, die etwas anderes verlangte. 1 Freie Diskussion, Auseinandersetzung, Wettbewerb der Meinungen sind auch für die außenpolitische Willensbildung das für ein demokratisches Staatswesen gesündeste und zuträglichste geistige Klima und müssen als normal gelten.

II. Durch die Außenpolitik bedingte Besonderheiten im Verhältnis Regierung/Opposition Im Vergleich zur Innenpolitik gibt es im Verhältnis von Regierung, parlamentarischer Mehrheit und Opposition gewisse Besonderheiten, 1 Ansatzpunkte in solcher Richtung könnten in der Doktrin vom „Primat der Außenpolitik" gefunden werden, doch sind ausdrückliche Folgerungen dieser Art selten gezogen worden. Über die Problematik der Doktrin und die in wachsendem Maße gegen sie geltend gemachten Einwände vgl. GREWE, Art. „Außenpolitik", in: Staatslexikon (der Görres-Gesellschaft), 7. Aufl. Bd. 1, 1985. - Angesichts der weitverzweigten Literatur zu den allgemeinen Fragen der Außenpolitik werden hier in erster Linie nur eigene Arbeiten des Verf. aufgeführt. Sie enthalten meist weiterführende Literaturangaben.

Konsens in der Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition

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die sich aus der Natur der Sache — d. h. dem Wesen der Außenpolitik und ihrer vom diplomatischen Apparat getragenen Durchführung — ergeben: Stärkeres Gewicht als auf dem Felde der Innenpolitik liegt bei der Initiative und Aktivität der Exekutive; die Zuständigkeit des Parlaments ist enger begrenzt; die parlamentarische Diskussion muß Rücksichten auf ausländische Zuhörer nehmen; die Zustimmung zu außenpolitischen Regierungsakten kann häufig nur en bloc erteilt oder verweigert werden. 2

III. Verhandlungstaktische Vorteile der Existenz einer kritischen Oppostion In vielen Fällen ist eine aktive Opposition, die von der Regierungspolitik abweichende Ansichten vertritt, auch der Regierung durchaus erwünscht oder geradezu unentbehrlich. Jeder Delegationsleiter in einer internationalen Verhandlung weiß, wie wertvoll für seine Position das Argument ist, gewisse von der Gegenseite erhobene Forderungen würden auf erbitterten Widerstand der Opposition stoßen, würden damit eine ggf. erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit gefährden, würden die öffentliche Meinung unter dem Einfluß der Opposition in eine kritische und in der zu treffenden Entscheidung ablehnende Stimmung versetzen. Argumente und Überlegungen dieser Art haben für Adenauer und seine Regierung bei der Verhandlung des Deutschland-Vertrags das gleiche Gewicht gehabt wie für Brandt und Scheel bei der Verhandlung der Ostverträge.

IV. Oppositionskritik als wünschenswertes Korrektiv der Regierungspolitik Indessen ist Kritik der offiziellen Außenpolitik durch eine kämpferische Opposition der Regierung nicht nur deswegen nützlich und häufig erwünscht, weil sie den Diplomaten hilft, diese Politik dem ausländischen Partner gegenüber besser zu verteidigen und durchzusetzen. Neben diesem Unterstützungseffekt, der in den meisten Fällen gleichzeitig ein Bestätigungseffekt ist, insoweit er die Regierung in der 2 W. KEWENIG, Art. „Auswärtige Gewalt", in: Handbuch der deutschen Außenpolitik, hrsg. v. H. P. SCHWARZ, 1975, S. 4 1 f; - W. G. GREWE, Art. „Auswärtige Gewalt", in: Staatslexikon, aaO.

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unveränderten Verfolgung ihrer Linie bestärken wird, gibt es einen nicht geringer zu veranschlagenden Korrektureffekt der Oppositionskritik: Ob öffentlich eingestanden oder in verdeckter Form diskret vorgenommen — häufig wird die Regierung unter dem Einfluß der Oppositionskritik und ihrer Argumente die eigene Politik modifizieren, differenzieren und amendieren. Sie wird versuchen, solchen Argumenten Rechnung zu tragen, die sie bei sachlicher Prüfung und außerhalb erhitzter Öffentlichkeit oder parlamentarischer Auseinandersetzung als begründet und stichhaltig (oder auch nur als publikumswirksam) anerkennen muß. Mit anderen Worten: sie wird ihre Politik verbessern, sie subtiler, flexibler, publizistisch wirksamer gestalten. Wenn sie über ihren innenpolitischen Schatten zu springen vermag, wird sie zugeben, daß die Kritik der Opposition auch in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse gelegen hat. Beispiele lassen sich in beliebiger Zahl finden: Oppositionskritik, die in den Reihen der Regierungspartei Widerhall fand, hat bewirkt, daß 1952 im letzten Augenblick die sogenannte „Bindungsklausel" des Deutschland-Vertrages umformuliert und daß sie 1954 aus dem Vertragstext gestrichen wurde.3 Die sogenannte Hallstein-Doktrin ist unter dem Einfluß der Oppositionskritik flexibler gestaltet worden und ab 1963 durch die Errichtung von Handelsvertretungen in Ostblockstaaten ergänzt worden. 4 Der Text der Ostverträge wurde unter dem Einfluß von Oppositionskritik modifiziert und durch den „Brief zur deutschen Einheit" ergänzt. 5

V. Konsens als Ausnahmeerfordernis: Integration des Staatsbewußtseins, Kontinuität, Durchsetzbarkeit, Vertrauensschutz Es gibt jedoch Ausnahmefälle, in denen ein außenpolitischer Konsens zwischen Regierung und Opposition im nationalen Interesse erwünscht oder für den Erfolg der zu treffenden Entscheidung geradezu unentbehrlich ist. Als Beispiel für einen im nationalen Interesse erwünschten Konsens könnte man (wenn man in diesem Falle die Deutschlandpolitik als Teil der Außenpolitik betrachtet, was hier 3 W. G. GREWE, Deutsche Außenpolitik der Nachkriegszeit, 1960, S. 5 7 f, 81 f; DERS., Rückblenden 1 9 7 6 - 1 9 5 1 , 1 9 7 9 , S. 152 ff. 4 MAJONICA, Handbuch der deutschen Außenpolitik, s. Anm. 2, S. 118. 5 P.NOACK, Deutsche Außenpolitik seit 1 9 4 5 , 1 9 7 2 , S. 139.

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angebracht erscheint und keine präjudizielle Bedeutung zu haben braucht) die zahlreichen einstimmigen Beschlüsse des Bundestages nennen, mit denen in den 50er Jahren und gelegentlich auch später Grundentscheidungen der Deutschlandpolitik bekräftigt wurden. Ein Konsens in den deutschland-politischen Grundfragen war — besonders in den Anfangsjahren der Bundesrepublik — ein wichtiges Element der „Integration" (im Sinne Smends 6 ) dieses neuen Staatswesens, ein Mittel zur Bestimmung seiner Identität und Profilierung seines Charakters, wie er in der Präambel seines Grundgesetzes skizziert war. Darüber hinaus verlieh dieser Konsens der Deutschlandpolitik die notwendige Kontinuität und er machte sie überhaupt erst praktisch durchsetzbar: die Nichtanerkennung der DDR, die sie proklamierte, war nur dann wirkungsvoll, solange sie von allen Parteien und der gesamten Bevölkerung getragen wurde. Sie geriet ins Wanken, als immer mehr Fußballvereine ohne Bedenken die Fahne mit Hammer und Zirkel hißten. Ein anderes, uns zeitlich näher liegendes Beispiel macht vielleicht noch besser deutlich, wie die Durchsetzbarkeit einer bestimmten Außenpolitik durch einen Konsens über ihre Leitgedanken bedingt sein kann: Entwicklungspolitik ist in den meisten Geberländern kein populärer Gegenstand. Den eigenen Nutzen ignorierend, den die heimische Wirtschaft aus den Lieferungen an die Entwicklungsländer zieht, wird lautstark kritisiert, daß der Steuerzahler Projekte von zweifelhaftem Nutzen in fernen Ländern finanziere, in denen die Mittel der Entwicklungshilfe in die Taschen eines korrupten Regimes flössen oder durch Mißwirtschaft und Fehlplanung vergeudet würden. Solche Mittel sind daher nur dann aufzubringen, wenn es über die Notwendigkeit und die Zielrichtung der Entwicklungspolitik einen überparteilichen Generalkonsens gibt. Das ist der Hintergrund für einen einstimmigen Beschluß des Bundestages vom 5. März 1982, der die Zustimmung aller Parteien zu einer Reihe von Leitgedanken der deutschen Entwicklungspolitik zum Ausdruck brachte. Als Beispiele für einen im Interesse der Lebenskraft und Dauerhaftigkeit einer Entscheidung unentbehrlichen Konsens zwischen Regierung und Opposition wären zwei grundlegende Weichenstellungen der amerikanischen Außenpolitik in den ersten Nachkriegsjahren zu nennen: die Ratifizierung der Charta der VN (1945) und die des Nordatlantikpaktes (1949). In beiden Fällen handelte es sich um Entscheidungen, die grundle6

R. SMEND, Verfassung und Verfassungsrecht, 1928.

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gend von der traditionellen außenpolitischen Konzeption der Vereinigten Staaten abwichen und das Land aus seinem über ein Jahrhundert praktizierten Isolationismus heraus und in eine neue internationalistische Politik hineinführten. Daß sich die Vereinigten Staaten in eine Weltorganisation einordneten, daß sie in deren Rahmen Pflichten und Verantwortungen übernahmen, auf gewisse Souveränitätsrechte verzichteten, daß sie (im Falle des Nordatlantikpaktes) gewisse bündnisähnliche Bindungen eingingen — alles dies war so umwälzend, daß es nur auf der Grundlage eines nationalen Konsenses lebensfähig erschien. Die gleichen Gesichtspunkte hatten auch bei dem Interamerikanischen Verteidigungs-Pakt von Rio de Janeiro vom 3 0 . 8 . 1 9 4 7 (einem Modell für den NATO-Vertrag) dazu geführt, daß er unter dem Einfluß des republikanischen (also oppositionellen) Senators Vandenberg („Mr. Bipartisanship") mit einer großen Ratifikationsmehrheit aus Vertretern beider Parteien im Senat angenommen wurde. Auch darüber hinaus bieten die Vereinigten Staaten ein reiches Feld von lehrreichen Beispielen für die Leistungen sowohl wie für die Grenzen einer auf nationalen Konsens gegründeten Außenpolitik (die man dort meist „bipartisan foreign policy", zuweilen auch „nonpartisanship" nennt). Auch liefert die amerikanische Praxis ein reiches Anschauungsmaterial für ihre verschiedenartigen Gestaltungsmöglichkeiten und Anwendungsformen. Die amerikanische Politikwissenschaft hat diesem Phänomen seit langem ihre Aufmerksamkeit gewidmet und hat das einschlägige Material gesammelt und analysiert. 7 Die amerikanischen Beispiele habe ich zunächst im Lichte der inneren, nationalen Tragfähigkeit und Dauerhaftigkeit einer neuen Außenpolitik beurteilt. Es gibt aber natürlich noch andere, mit ihrer Außenwirkung zusammenhängende Gesichtspunkte, die in bestimmten Fällen einen Konsens zwischen Regierung und Opposition erwünscht oder erforderlich machen: vor allem Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes gegenüber einem Vertragspartner. Die ursprünglichen Signatare des Nordadantik-Paktes erwarben durch diesen Vertrag nicht nur Rechte und faktische Vorteile; sie übernahmen auch Pflichten und Verantwortlichkeiten und gingen gewisse Risiken ein: sie exponierten sich der Sowjetunion gegenüber, verzichteten auf die 7 SCHWEITZER, Theorie und Praxis einer gemeinsamen Außenpolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu Das Parlament, Nr. 3, 1968, S. 3—30 (mit weiterer amerikanischer Literatur).

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Option der Blockfreiheit, ordneten sich einer Führungsmacht des Bündnisses unter. Alles dieses konnte von ihnen nur erwartet werden, wenn sie sicher sein konnten, daß die amerikanische Bündnisentscheidung nicht nach vier Jahren, nach der nächsten Präsidentenwahl, wieder umgestoßen und rückgängig gemacht werden würde. VI. Begriff und Erscheinungsformen des Konsenses Einige Bemerkungen über Begriff und Erscheinungsformen des Konsenses: Konsens im Sinne einer 100%igen Übereinstimmung aller Bürger oder aller Parteien oder sozialen Gruppen gibt es nicht einmal in den amtlichen Verlautbarungen diktatorischer Regime; diese haben längst erkannt, daß sich ihre Erfolgsmeldungen im Interesse der Glaubwürdigkeit besser mit 98, 95 oder 90% begnügen sollten. Mit anderen Worten: in der politischen und sozialen Wirklichkeit gibt es einen Konsens immer nur annäherungsweise. Stresemann hat 1927 dem britischen Außenminister gegenüber behauptet, nach der Akzeptierung der Locarno-Verträge durch die Deutschnationalen ständen 85% der Deutschen hinter seiner Außenpolitik. Wenn das richtig gewesen wäre, hätte man wohl von einem nationalen Konsens sprechen können; indessen war seine Einschätzung wohl doch zu optimistisch, zumindest zu kurzfristig auf einen vorübergehenden Augenblick abgestellt. Die Formen, in denen ein außenpolitischer Konsens zum Ausdruck kommen kann, sind naturgemäß höchst vielfältig. Am greifbarsten und meist auch wirkungsvollsten sind parlamentarische Voten, die eine annähernde Zustimmung aller Parteien zum Ausdruck bringen. Denkbar sind auch plebiszitäre Formen des Konsenses. Die Volksentscheide der Weimarer Zeit haben jedoch nie auch nur im entferntesten einen Konsens produziert. Hitler bediente sich des Tricks, Volksabstimmungen an solche Anlässe zu knüpfen, die in der Bevölkerung breiter Zustimmung sicher waren (wie z. B. die Beseitigung der entmilitarisierten Zone im Rheinland oder der Anschluß Österreichs), und das mit Fragen zu verbinden, die die Zustimmung zu seiner Gesamtpolitik und zum NS-Regime überhaupt implizierten. Am wenigsten anzuzweifeln ist wohl der plebiszitäre Konsens der Schweizer über die Neutralitätspolitik ihres Landes. Wie schon erwähnt, bietet insbesondere die amerikanische Praxis reiches Anschauungsmaterial für mögliche Ausgestaltungsformen einer überparteilichen Außenpolitik. Die Ursprünge dieser Praxis liegen — begreiflicherweise — im Kriege, also

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in einer Zeit, wo nationale Solidarität und Konsens besonders groß geschrieben werden. Sie setzte sich nach Kriegsende bei den großen Entscheidungen über die Ordnung der Nachkriegswelt und an entscheidenden Wendepunkten des Kalten Krieges (z. B. bei der Verkündung des Marshall-Planes und der Truman-Doktrin) fort. J. F. Dulles, der sich schon im August 1944 als republikanischer Senator mit Cordeil Hull, dem Außenminister der demokratischen Administration Roosevelt, auf eine Linie außenpolitischer „non-partisanship" geeinigt hatte, wurde einige Jahre später der maßgebliche Unterhändler für den japanischen Friedensvertrag. Unter Kennedy war der Republikaner Douglas Dillon stellvertretender Außenminister, der Republikaner McNamara Verteidigungsminister, d. h. Kabinettsmitglied mit starken Einflußmöglichkeiten auf die Außenpolitik. Der amerikanischen UN-Delegation in San Francisco und danach gehörten meist Kongreßmitglieder beider Parteien an. Neben dieser Betrauung oppositioneller Politiker mit regierungs-offiziellen Ämtern und Aufgaben spielte eine große Rolle stets die Information und Konsultation führender Oppositionspolitiker vor wichtigen Entscheidungen (z. B. vor dem Eingreifen in Korea). Diese Art der außenpolitischen Konsensbildung reichte von der gemeinsamen Festlegung politischer Richtlinien bis zur Feststellung eines Minimal-Konsenses oder der noch schwächeren Form der „extra-partisanship", d.h. der Vereinbarung, gewisse außenpolitische Fragen aus Wahlkämpfen herauszuhalten. In Deutschland hat es solche Formen der konsensualen Außenpolitik immer nur in bescheidenen Ansätzen gegeben. In den ersten Jahren nach dem deutschen Eintritt in den Völkerbund (1926/27) gehörten Vertreter der großen Parteien einschließlich der oppositionellen Deutschnationalen der Völkerbund-Delegation an. Stresemann hatte darauf Wert gelegt, um dem Ausland zu demonstrieren, „daß es in außenpolitischen Fragen eine geschlossene deutsche Front gibt", wie er schrieb. In seinem Nachlaß findet sich dann jedoch eine Notiz über eine ihm zugegangene Information (vom 21. September 1927) über ein Gespräch des Abgeordneten Breitscheid mit dem französischen Delegierten Paul Boncour, in dem der deutsche Sozialdemokrat dem französischen Sozialisten empfohlen habe, der amtierenden deutschen Regierung keine Zugeständnisse zu machen, sondern die nächsten Wahlen abzuwarten. 8 Adenauer legte 1955 Wert darauf, einen Sozialdemokraten in seine 8 ZIMMERMANN, Deutsche Außenpolitik in der Ära der Weimarer Republik, 1958, S. 328.

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Moskau-Delegation aufzunehmen; demgemäß nahm Carlo Schmid, der stellvertretende Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, an den Moskauer Verhandlungen teil. Andere, weniger formalisierte Ausdrucksweisen eines außenpolitischen Konsenses können sich der Presse oder überhaupt der Medien bedienen. Denkbar ist auch ein in Massendemonstrationen oder in einem konkludenten Verhalten der Bevölkerung zum Ausdruck kommender Konsens. Bei allen diesen Formen gerät man jedoch sehr rasch in schwierige Bewertungsfragen. In den Anfangswochen des Jahres 1923 schien der passive "Widerstand gegen die französische Ruhrbesetzung einen breiten Konsens der Bevölkerung widerzuspiegeln, der in ihrem praktischen Verhalten zum Ausdruck kam; aber dann kam bald der Zeitpunkt, da man daran zweifeln mußte. Was Massendemonstrationen anlangt, so hat uns die Friedensbewegung in den letzten Jahren einige eindrucksvolle Beispiele geliefert. Gleichwohl kann keine Rede davon sein, daß sich daran ein nationaler Konsens über Rüstung und Abrüstung ablesen ließe. Auch unter dem Gesichtspunkt seiner zeitlichen Verwirklichung lassen sich verschiedene Formen des Konsenses unterscheiden: es gibt einen consensus ab initio, ex nunc und ex post. Der erste — consensus ab initio — ist eine Ubereinstimmung, die sich in bezug auf eine bestimmte Frage von Anfang an herausbildet und die sich im allgemeinen auf eine Mischung von rationalen politischen Überzeugungen, von konkreten Interessenabwägungen und von mehr oder minder ausgeprägten Emotionen gründet. In der Weimarer Republik gab es einen von Anfang an breit fundierten Konsens in der Ablehnung der alliierten Kriegsschuldthese, wie sie im Art. 2 3 1 des Versailler Vertrages niedergelegt war. Der Reichspräsident und legendäre Sieger von Tannenberg, Hindenburg, hat sie 1927 bei der Einweihung des Tannenbergdenkmals feierlich widerrufen. Kein Zweifel, daß er damit in Deutschland allgemeine Zustimmung fand, aber politisch bewirkt wurde damit nichts. Einen solchen consensus ab initio gab es in den 50er Jahren auch in den Fragen der Deutschland-Politik, besonders in der Forderung nach freien Wahlen in ganz Deutschland und nach Wiedervereinigung. Consensus ex nunc bezeichnet demgegenüber eine Übereinstimmung, die sich erst im Laufe einer Auseinandersetzung herausschält und zu der sich die ursprünglich dissentierenden Partner häufig erst im Augenblick der Entscheidung aus taktischen Überlegungen durchringen. Um noch einmal das Beispiel von 1927 zu zitieren: Damals haben sich die Deutschnationalen nur deshalb zu der von ihnen

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vorher abgelehnten Locarno-Politik Stresemanns bekannt, weil dies eine Bedingung für ihren Eintritt in die Regierung des Zentrumskanzlers Marx war. Oder um ein Beispiel aus jüngerer Zeit zu wählen: Der „Brief zur Deutschen Einheit", der aufgrund eines Beschlusses aller Parteien des Bundestages dem Moskauer Vertrag beigegeben und dem sowjetischen Partner notifiziert wurde, bedeutete ein Einschwenken der CDU/CSU, die dem Moskauer Vertrag überwiegend kritisch gegenüberstand, auf einen partiellen Konsens, der sich noch nicht auf das Vertragswerk im Ganzen bezog — dem man mit Stimmenthaltung begegnete — sondern nur auf seine Auslegung in der Wiedervereinigungsfrage. Diese Positionsänderung war weitgehend taktisch bedingt: sie erfolgte angesichts der Tatsache, daß man den Vertragsabschluß nicht mehr verhindern konnte und daß es auch in den eigenen Reihen Abgeordnete gab, die dem Vertragswerk zuzustimmen entschlossen waren. Bekannte Beispiele für den consensus ex post sind die Schwenkungen, die die jeweiligen Oppositionsparteien (SPD in den 60er Jahren, CDU/CSU in den 70er Jahren) in bezug auf die West- bzw. Ostverträge vorgenommen haben: Deutschlandvertrag und NATO-Mitgliedschaft einerseits, Ost-Verträge und Grundlagen-Vertrag (mit der DDR) andererseits wurden dadurch nachträglich Gegenstand eines nationalen Konsenses. Die Fragen, die uns hier beschäftigen, stellen sich bei allen Arten des Konsenses.

VII. Das Konsensdefizit der Weimarer Republik Wenn bisher dargelegt worden ist, daß ein nationaler Konsens in den Ausnahmefällen außenpolitischer Grundentscheidungen wünschenswert und zuweilen unentbehrlich erscheint, so muß auf der anderen Seite bedacht werden, welche schädlichen Folgen und Nachteile der Mangel eines nationalen Konsenses in solchen Fällen haben kann. Die eindrucksvollste Sammlung von Beispielen hierfür liefert die Geschichte der Weimarer Republik und ihrer Außenpolitik. Das Scheitern dieses ersten demokratischen deutschen Staates ist nicht zuletzt auch dadurch verursacht worden, daß es seinen Politikern, vor allem Stresemann, nicht gelang, in einigen großen Schicksalsfragen der Nation diese zu einigen und auf einen Konsens einzustimmen. Die Weimarer Republik wurde im Laufe ihrer kurzen, nur 14jährigen Geschichte vor eine Reihe von Grundentscheidungen gestellt, die

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jeweils die Frage nach einem die Parteien und ihre innenpolitischen Gegensätze übergreifenden außenpolitischen Konsens aufwerfen mußten. Ereignisse dieser Art waren: (1) die Ratifizierung des Versailler Vertrages im Reichstag; (2) der Entschluß zum passiven Widerstand gegen die französische Besetzung des Ruhrgebietes und seine Beendigung; (3) der Abschluß der Locarno-Verträge und der Eintritt in den Völkerbund sowie die ost-politische Konzeption des Rapallo- und des Berliner Vertrages (1922/1926); (4) die Annahme des Young-Planes, gleichzeitig mit der RheinlandRäumung (1930); (5) das Projekt der Zoll-Union mit Österreich (1931), die Beendigung der Reparationen und die Durchsetzung der Gleichberechtigung auf dem Rüstungsgebiet (1932). Wenn man diese Ereignisse im Hinblick auf ihr innenpolitisches Echo, auf die Reaktion der öffentlichen Meinung und der Parteien prüft, ergibt sich ein Konsens-Defizit von einem Ausmaß, das für das Schicksal der Weimarer Republik verhängnisvoll wurde. Auf dem Tiefpunkt der Niederlage von 1918, als die Alliierten in Versailles ihre Friedensbedingungen übergaben, keine Verhandlung darüber zuließen und schließlich unter ultimativen Drohungen ihre Annahme forderten, gab es auf deutscher Seite keinen Konsens darüber, wie darauf zu antworten sei: Die zur Ablehnung tendierende Haltung des Außenministers und deutschen Delegationsleiters Graf Brockdorff-Rantzau wurde in Berlin von Erzberger durchkreuzt. In der Weimarer Nationalversammlung fand Brockdorff-Rantzau keine Mehrheit für seine Politik, so daß er sich genötigt sah, zurückzutreten. Aber die „Weimarer Koalition", die für die Annahme eintrat, brachte nur 237 Stimmen gegen 138 auf, und bei den nächsten Wahlen erlitt sie eine vernichtende Niederlage. Die Übernahme der Verantwortung setzte sie von diesem Zeitpunkt den demagogischen Angriffen einer „Nationalen Opposition" aus, die ihr die Mitschuld an dem sogenannten „Schandfrieden" anlastete und ihr diesen Sündenfall nie vergab. Bei der nächsten, an den Fortbestand des Reiches und der Republik rührenden Existenzfrage, die sich Anfang 1923 stellte, war von einem nationalen Konsens nichts wesentliches mehr zu spüren: zwar kam es (in einem Augenblick, in dem Inflation, Reparationslasten und kommunistische Aufstände bereits eine höchst kritische Situation herbei-

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geführt hatten) unter dem Schock der französischen Ruhrbesetzung zu einem vorübergehenden Burgfrieden der Parteien und einem allgemeinen „passiven Widerstand", der sich zunächst auf einen breiten, jedoch bald zerbröckelnden Konsens gründete und im September 1923, als eine gemeinsame Front nicht mehr existierte, abgebrochen werden mußte. Mitte der zwanziger Jahre, als sich die Weimarer Republik politisch und wirtschaftlich gefestigt hatte, mußte sie ihren Standort im damaligen Staatensystem bestimmen. In erster Linie im Verhältnis zum Westen, d. h. zu den Siegermächten, die zugleich das machtpolitische Zentrum dieses Systems bildeten, aber auch zum Osten, der nach der Oktoberrevolution von 1917 zwar machtpolitisch geschwächt war, aber dennoch potentiell als Wirtschaftsraum, als ideologisch-revolutionäre Kraft, als territorialer und bevölkerungsmäßiger Riese ins Gewicht fiel. Nach Westen geschah dies durch das Locarno-Vertragswerk und den Eintritt in den Völkerbund, nach Osten durch den Berliner Vertrag mit der Sowjetunion — nachdem schon 1922 durch den Vertrag von Rapallo ein erster Schritt getan worden war. Diese Politik, die unlöslich mit dem Namen Stresemann verbunden ist, hat niemals allgemeine Zustimmung gefunden. Nach heftigen Auseinandersetzungen wurden die Locarno-Verträge am 27. November 1925 mit einer Mehrheit von 3 0 0 : 1 7 4 Stimmen im Reichstag gebilligt, der Eintritt in den Völkerbund mit 2 7 5 : 1 8 3 Stimmen. Die Rapallo-Politik, die zugleich die Zusammenarbeit von Reichswehr und Roter Armee einleitete, war nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb der Regierung und der Öffentlichkeit umstritten. Der Berliner Vertrag bildete eine Ausnahme: er wurde im Auswärtigen Ausschuß des Reichstages einstimmig angenommen - ein in der Geschichte der Weimarer Republik erstmaliger Vorgang, wie der britische Botschafter Lord d'Abernon in seinem Tagebuch notierte. Im Plenum des Reichstages stimmten nur 3 Abgeordnete gegen den Vertrag: ausgerechnet drei Kommunisten, Angehörige einer von der KPD abgesplitterten Dissidenten-Gruppe, die sich „Internationale Kommunisten" nannten und ihren Genossen vorwarfen, daß sie mit ihrer Zustimmung zu dem Vertrag zu einer „Aktionsgemeinschaft zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie auf internationaler Ebene" beitrügen. 9 9 E. H. CARR, German-Soviet Relations between the two World Wars, 1951, dt.: Berlin - Moskau, 1954, S. 114.

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Stresemanns letztes Werk, die Rheinlandräumung, die nach seinem Tode (Oktober 1929) im Juni 1930 zustande kam, ist ein weiteres bezeichnendes Beispiel für das Konsensdefizit der Weimarer Republik: Dieses Ereignis, das als solches natürlich auch von der sogenannten nationalen Opposition nicht anders als positiv bewertet werden konnte, geriet völlig in den Schatten des Streits um den Young-Plan, dessen Annahme eine Voraussetzung für die Rheinlandräumung bildete. Das von den Rechtsparteien verlangte Volksbegehren erhielt die von der Verfassung verlangten 4,1 Millionen Unterschriften, der daraufhin eingeleitete Volksentscheid erhielt aber nur 5,825 Mio. Stimmen (von über 4 0 Millionen Stimmberechtigten, d.h. 13,8%) und scheiterte damit. Im Reichstag wurden die den Young-Plan sanktionierenden Gesetze über die Haager Konferenzen im März 1930 mit 2 6 6 : 1 9 3 Stimmen gebilligt. Der Kampf um dieses Plebiszit wurde mit unerhörter Schärfe und Erbitterung geführt: „Er hatte die Weimarer Republik bis in die Grundfesten erschüttert und die Substanz der Demokratie aufgebraucht." 10 Die positive Seite — die Rheinlandräumung — trat dabei völlig in den Hintergrund. Als sie schließlich vollzogen wurde, wurde in einem Aufruf des Reichspräsidenten der Name Stresemann nicht einmal erwähnt. Auch in den letzten Jahren der Weimarer Republik kam es zu Situationen und Entscheidungen, die eines nationalen Konsenses würdig gewesen wären: das Projekt der deutsch-österreichischen ZollUnion (1931), das Lausanner Abkommen zur Beendigung der Reparationen vom 9. Juli 1932 und die Genfer Fünfmächteerklärung vom 11. Dezember 1932 über die deutsche Gleichberechtigung auf dem Gebiete der Sicherheitspolitik. Aber was in diesen Jahren auch immer geschah — gleichviel ob es positiv oder negativ zu bewerten war — konnte nicht mehr die Zustimmung aller Parteien erlangen, weil die Fähigkeit zum Konsens in diesem Endstadium der Auflösung der parlamentarisch-demokratischen Republik überhaupt verloren gegangen war.

VIII. Ist Bonn anders als Weimar? Vor vielen Jahren — 1956 — schrieb der Schweizer Journalist Fritz René Allemann (langjähriger Korrespondent Schweizer Zeitungen in Bonn und aufmerksamer und urteilsfähiger Beobachter der dortigen 10

ZIMMERMANN, S. Anm. 8, S . 3 9 1 .

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politischen Szene) ein Buch mit dem Titel „Bonn ist nicht Weimar". Der einprägsame Titel hat das Buch überdauert und wird in der politologischen Literatur noch heute viel zitiert. Wenn man ihn in die Perspektive des außenpolitischen Konsensdefizits der Weimarer Republik rückt, stellt sich die Frage: Ist Bonn wirklich nicht Weimar, ist es anders, besser fundiert, auf breitere Zustimmung gegründet, haltbarer, widerstandsfähiger? Ein Staat bricht im allgemeinen nicht schon deswegen zusammen, weil ihm der Konsens seiner Bürger in der Außenpolitik fehlt — es sei denn, daß er infolge der daraus resultierenden Unsicherheit katastrophale Fehler macht, die ihn ins Unheil stürzen. Auch die Weimarer Republik ist nicht am außenpolitischen Konsensmangel zugrunde gegangen. Dieser war nur ein verderblicher Faktor neben anderen, und wichtiger war ohne Zweifel: das Fehlen eines Konsenses über die geistige und ideelle Identität, das geschichtliche Selbstverständnis der Republik, die Respektierung der Verfassung und ihrer Spielregeln in bezug auf die Würde des Staates und seiner Institutionen und Symbole, in bezug auf die Einschätzung des politische Gegners als eines potentiellen Koalitionspartners. Solche Konsensdefizite höhlen den Staat aus, machen ihn morsch, so daß ihn schließlich ein geringfügiger Stoß von außen oder ein Stolpern im Inneren zusammenfallen lassen. Bonn, d.h. die heutige Bundesrepublik, ist vom Konsensdefizit bereits angekränkelt — in der Innenpolitik noch mehr als in der Außenpolitik: er betrifft Grundbegriffe der Verfassung — die freiheitliche demokratische Grundordnung und ihre Verteidigung, die Verbindlichkeit parlamentarischer Mehrheitsentscheidungen, das Gewaltmonopol des Staates, die Sicherstellung der Landesverteidigung. In der Außen- und Sicherheitspolitik wird die Zugehörigkeit zum Westbündnis zunehmend relativiert, mit Vorbehalten durchlöchert, der amerikanische Bündnispartner (ohne den es kein westliches Bündnis geben kann) diffamiert. Äquidistanz zu den beiden Supermächten, Sympathien für Neutralisierungsideen sind im Wachsen. Die europäische Einigung hat keine konsensbildende Kraft mehr. Der Verfassungsauftrag zur Wahrung der deutschen Einheit wird vielfach als lästig und überholt angesehen, seine Streichung wird von manchen verlangt. Es ist im Rahmen dieser Skizze des Konsensproblems in der Außenpolitik kein Urteil darüber abzugeben, welchen Inhalt ein nationaler Konsens — sei es in der Außenpolitik, sei es überhaupt — haben könnte oder haben sollte. Ebensowenig sind hier Feststellungen darüber zu treffen, wieweit der Konsensverfall fortgeschritten ist. Daß ein solcher

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Prozeß im Gange ist, läßt sich aber wohl kaum bestreiten. Und wohin er letzten Endes führen muß, wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, darüber kann es kaum einen Zweifel geben.

Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in der innenpolitischen Kontroverse um die Außenpolitik JOST DELBRÜCK

„The very nature of executive decisions as to foreign policy is political, not judicial. Such decisions... are delicate, complex and involve large elements of prophecy... They are decisions of a kind for which the judiciary has neither aptitude, facilities nor responsibilities . . . " Mit diesen Sätzen umreißt noch 1948 der US Supreme Court in Chicago &C Southern Airlines vs. Waterman Steamship Corporation 1 seine Position gegenüber der auswärtigen Gewalt. Nur knapp anderthalb Jahrzehnte später — in Baker vs. Carr 2 — erklärte derselbe Gerichtshof dann aber unmißverständlich: „it is an error to suppose that every case or controversy which touches foreign relations lies beyond judicial cognizance." Diese Positionen bezeichnen eine in den Vereinigten Staaten immer wieder aufflammende Diskussion über das rechte Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und auswärtiger Gewalt, wobei diese Diskussion nur einen Ausschnitt aus der weiteren Problematik der sog. „political question doctrine" in der Rechtsprechung des US Supreme Court bildet. 3 Auch in der Bundesrepublik Deutschland ist die Erstreckung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die auswärtigen Angelegenheiten, ja ihre generelle Kontrolle, namentlich der Vertragsgewalt durch die 333 US 103 (111), entschieden im Jahre 1948. 3 6 9 US 186 (211), entschieden im Jahre 1962. 3 Vgl. dazu statt anderer L. H. TRIBE, American Constitutional Law, 1978, S. 71 ff; zur Haltung des US Supreme Court gegenüber völkerrechtlichen Verträgen vgl. auch A. v. ROHR, Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts zur Überprüfung völkerrechtlicher Verträge, 1981, S. 170 ff; aus politikwissenschaftlicher Sicht vgl. die schon etwas ältere Schrift von F. SCHARPF, Grenzen der richterlichen Verantwortung - Die political question doctrine in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court, 1965. 1

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Dritte Gewalt, von Skepsis und Kritik begleitet gewesen. 4 Jedenfalls zum überwiegenden Teil fügte sich diese Diskussion auch hier in die allgemeine Problematik des Verhältnisses von Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik ein, deren staatstheoretische kritische Diskussion weit in die Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik zurückreicht.5 Standen auf der einen Seite Befürchtungen, daß Entscheidungen in auswärtigen Angelegenheiten ihrer Natur nach nicht justiziabel seien und daß ihre richterliche Kontrolle zu einer Lähmung außenpolitischer Entscheidungsgewalt führen werde, im Vordergrund, so beherrschten andererseits Überlegungen, die an das Prinzip demokratischer Kontrolle und politischer Verantwortlichkeit der außenpolitischen Entscheidungsträger anknüpften, die Kritik an der verfassungsrechtlichen Kontrollgewalt über - nicht nur — die auswärtige Gewalt. 6 Inzwischen darf diese Grundsatzkontroverse als überwunden gelten.7 Das heißt aber nicht, daß das Verfassungsgericht als Kontrolleur auch von Hoheitsakten im auswärtigen Bereich keiner Kritik mehr unterliegt. Indessen liegt ihr Schwerpunkt heute vorwiegend bei der Frage nach der angemessenen Ausübung dieser Kontrolle — oder anders ausgedrückt, bei der Frage nach den Grenzen verfassungsrechtlicher Kontrolle auswärtiger Akte 8 — und den Auswirkungen der Kontrollentscheidungen auf den innenpolitischen Prozeß der Auseinandersetzung über die Außenpolitik. Gegenstand dieses Beitrages ist es deshalb, über die Spruchpraxis 4 Vgl. zusammenfassend zur Entwicklung der Diskussion CH. TOMUSCHAT, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, Abschnitt VII: Richterliche Kontrolle der Außenpolitik, in: W D S t R L Bd. 36, 1978, S. 55 ff; m.w.N., namentlich mit Hinweisen auf die Versuche der Exemption völkerrechtlicher Verträge von verfassungsrechtlicher Kontrolle: E. KAUFMANN, Normenkontrollverfahren und völkerrechtliche Verträge, in: Forschung und Berichte aus dem öffentlichen Recht - Gedächtnisschrift für Walter Jellinek, 1955, S. 445 ff. 5 Vgl. zusammenfassend R.ZUCK, Politicai Question Dottrine, Judicial selfrestraint und das Bundesverfassungsgericht, in: J Z 1974, S. 361 ff (364) m.w.N. 6 Allgemein zur Kritik am Bundesverfassungsgericht als konsequente Verwirklichung des Konzepts von Verfassungsgerichtsbarkeit vgl. H. LAUFER, Entscheidungsgewalt ohne Opposition? Probleme des Bundesverfassungsgerichts im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: W. Steffani (Hrsg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, Bd. III, 1971, S. 2 1 6 ff. 7 Die Unterwerfung auch der auswärtigen Gewalt unter die Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts ist heute einhellig — mit ganz wenigen Ausnahmestimmen aus jüngerer Zeit - anerkannt, vgl. CH. TOMUSCHAT, Anm. 4, S . 5 5 mit ausführlichen Nachweisen. 8 Vgl. dazu F. SCHUPPERT, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt, 1973, insbes. S. 85 ff.

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des Bundesverfassungsgerichts in auswärtigen Angelegenheiten unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkung auf das Verfassungsgefüge und den von ihm normierten politischen Prozeß nachzudenken. Dabei müssen aus Raumgründen die reizvollen Probleme, die sich hinsichtlich der Spruchpraxis auch anderer höchster Bundesgerichte, die Entscheidungen der auswärtigen Gewalt zum Gegenstand haben 9 , ebenso ausgeklammert bleiben wie umfängliche rechtsvergleichende Überlegungen. Schließlich können auch die sich aus der besonderen Lage der Bundesrepublik als Mitglied einer supranationalen Integrationsgemeinschaft für das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und auswärtiger Gewalt bzw. deren Träger ergebenden Fragen hier nicht näher thematisiert werden. 10 Denn schon die Behandlung des so eingegrenzten Betrachtungsgegenstandes erfordert ein dreifaches: Es müssen zumindest in knapper Skizze die verfassungsrechtlichen Grundlagen verfassungsgerichtlicher Betätigung im Bereich auswärtiger Angelegenheiten und ihre Einbettung in das Verfassungsgefüge und das politische System des Grundgesetzes umrissen werden; weiter muß, im Wege einer kurzen rechtstatsächlichen Bestandsaufnahme, die Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der innenpolitischen Kontroverse um die Außenpolitik aufgezeigt, d. h. es muß seine Rechtsprechung in außenpolitischen Streitfragen und deren "Wirkung dargestellt werden 11 ; und schließlich ist der so gewonnene Befund vor dem aufgezeigten verfassungsrechtlichen Hintergrund einer verfassungstheoretischen Würdigung zu unterziehen, um daraus einige Schlußfolgerungen ableiten zu können.

9 Dazu Nachweise bei BOLEWSKI, Zur Bindung deutscher Gerichte an Äußerungen und Maßnahmen der Regierung auf völkerrechtlicher Ebene. Ein Beitrag zur Verrechtlichung der Außenpolitik, 1971. 10 Hier ist u. a. an die Problematik des Rechtsschutzes des Bürgers im Grundrechtsbereich gegen Akte der supranationalen Gewalt zu erinnern, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts der innerstaatlichen Jurisdiktion nicht unterliegen, so daß der Gesetzgeber verpflichtet sei, für entsprechenden Rechtsschutz bei der Übertragung von Kompetenzen auf supranationale Einrichtungen zu sorgen, vgl. dazu S. HENRICHS, Art. 19 IV G G , Rdn. 4 2 , in: I. v. Münch (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, Bd. 1, 1985 3 , m . w . N . 11 Auf die Notwendigkeit einer genauen Analyse der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts für die Erörterung der Grenzen verfassungsrichterlicher Kontrolle der auswärtigen Gewalt weist zu Recht SCHUPPERT, S. Anm. 8, S. 87 hin.

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I. Verfassungsrechtliche Grundlegung 1. Gegenstandsbereich auswärtiger Beziehungen und verfassungsrechtliche Grundlagen der auswärtigen Gewalt Die zunehmende internationale Verflechtung des Staates auf praktisch allen Politikfeldern hat zu einer entsprechenden Ausweitung des Gegenstandes auswärtiger Politik geführt. Die Notwendigkeit grenzüberschreitender Kooperation der Staaten in den verschiedensten Sachbereichen wie Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz usw. konfrontiert praktisch jedes Fachressort der Regierungen — und so auch der Bundesregierung — mit internationalen Sachverhalten und gibt ihnen die Pflege internationaler Kontakte auf. Das traditionelle Monopol der Außenämter ist verdrängt. Zu Recht weist Tomuschat 12 darauf hin, daß das noch zu Beginn der 20er Jahre von Wolgast gebrauchte Bild, der Staat sei ein Haus mit einer einzigen Tür nach außen, nicht mehr zutreffe. 13 Gilt diese Beobachtung einer gewandelten Stellung des Staates im Verhältnis zur Außenwelt schon für den klassischen, d. h. koordinationsrechtlichen Bereich der internationalen Beziehungen, so ist von einer gewandelten Stellung des Staates zur Außenwelt in verstärktem Maße im Hinblick auf die Einbindung von Staaten, so auch der Bundesrepublik, in supranationale Organisationen zu sprechen. Die mit solcher Einordnung eines Staates in Integrationsgemeinschaften verbundene „Entnationalisierung" weiter Politikbereiche hat zu einer breiten Diversifikation der mit auswärtigen Beziehungen befaßten Staatsorgane geführt. 14 Dieser Befund verbietet es heute, von der auswärtigen Gewalt als einer einheitlich einem bestimmten Träger von Staatsgewalt zugeordneten Gewalt zu sprechen oder die auswärtige Gewalt als eine neben die klassischen drei Staatsgewalten tretende vierte Gewalt anzusehen. Vielmehr ist die auswärtige Gewalt heute mit Scheuner als ein verschiedenen staatlichen Hoheitsträgern zugeordnetes Tätigkeitsfeld mit Bezug zu anderen Staaten zu charakterisieren. 15 12 CH. TOMUSCHAT, S. Anm.4, S. 16 ff, der auch aufzeigt, daß die Öffnung des Staates nach außen die gesamte Gesellschaft einschließt. 13

C H . TOMUSCHAT, s. A n m . 4 , S. 2 3

m.w.N.

Hier ist z. B. an die zunehmende Tendenz der Regierungen der Bundesländer zu erinnern, unmittelbar am Sitz der Europäischen Gemeinschaften repräsentiert zu sein, um den Entscheidungsprozeß der Gemeinschaften vor Ort frühzeitig beeinflussen zu können. 15 U. SCHEUNER, Auswärtige Gewalt, in: H. Kunst/R. Herzog/W. Schneemelcher (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1966 2 , Sp. 109. 14

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Diese Zuordnung der Staatsfunktionen an bestimmte Träger im Tätigkeitsfeld „auswärtige Beziehungen" richtet sich nach der allgemeinen Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Sie sieht die Wahrnehmung der Staatsfunktionen im auswärtigen Bereich sowohl durch die Exekutive (Art. 59 I, 65 GG) als auch durch die Legislative vor (Art. 59 II GG), wobei die Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt vorrangig Bundessache ist (Art. 32 I GG). Angesichts dieser, verschiedenen Staatsorganen zugeordneten, Wahrnehmung der auswärtigen Aufgaben wird heute in der Sache weitgehend einhellig, in der Terminologie nicht ganz einheitlich davon gesprochen, daß die Ausübung der auswärtigen Gewalt der Exekutive und Legislative „zur gesamten Hand" zugewiesen, bzw. daß die auswärtige Gewalt eine „kombinierte Gewalt" sei. Dabei wird aber zutreffend die Beobachtung hinzugefügt, daß sich angesichts der Eigenart auswärtiger Aufgaben, die in der Regel ein einheitliches und oft auch rasches Handeln des Staates nach außen verlangen, faktisch ein Vorrang der Exekutive in den auswärtigen Angelegenheiten ergebe. 16 Der Vorrang der Exekutive wird besonders deutlich bei Vertragsschlüssen, bei denen die gesetzgebenden Körperschaften in der Regel auf eine Zustimmung oder Ablehnung reduziert sind, da die Aushandlung und Fixierung der Verträge vorab durch die Exekutive erfolgt. Hinzukommt, daß häufig die Parlamentsmehrheit in den Regierungswillen eingebunden ist, so daß die Abgrenzungslinien in der Willensbildung nicht zwischen gesetzgebenden Körperschaften und Regierung verlaufen, sondern zwischen Regierung und Regierungsmehrheit einerseits und Opposition andererseits, womit die faktische Dominanz der Exekutive im auswärtigen Bereich noch unterstrichen wird. Diese Vörrangigkeit der Exekutive wurde in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts respektiert. Hierüber wird im folgenden noch gehandelt werden müssen. Zunächst muß sich die Betrachtung der Rolle des Bundesverfassungsgerichts in der Kompetenzordnung des Grundgesetzes im Bereich der auswärtigen Angelegenheiten allgemein zuwenden.

1 6 Zur Diskussion über den Charakter der auswärtigen Gewalt und ihrer Zuordnung vgl. grundlegend W. GREWE U. E. MENZEL, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik Deutschland, in; W D S t R L , Bd. 12, 1 9 5 4 ; W.A.KEWENIG, Auswärtige Gewalt, in: H . P. SCHWARZ (Hrsg.), Handbuch der deutschen Außenpolitik, 1 9 7 5 , S. 3 7 f f m.w.N.; TH. MAUNZ, Art. 3 2 GG, R d n . l f f , in: Maunz/Dürig/ Herzog et al., Grundgesetzkommentar.

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2. Die Kontrollgewalt des Bundesverfassungsgerichts im Bereich der auswärtigen Gewalt Als hoheitliche Tätigkeit ist auch die Pflege der auswärtigen Beziehungen prinzipiell der Kontrolle der Dritten Gewalt unterworfen. Die moderne Verfassungs- und Rechtsstaatlichkeit kann vor dem Bereich der auswärtigen Gewalt nicht haltmachen und erfordert deshalb auch die Überprüfbarkeit der Akte der auswärtigen Gewalt insbesondere am Maßstab der Verfassung. Diese Kontrolle obliegt nach dem System des Grundgesetzes letztlich dem Bundesverfassungsgericht. Damit ist dieses Gericht — wenn auch nicht initiativ, sondern nur reaktiv — an der Wahrnehmung der auswärtigen Gewalt beteiligt. Obgleich diese prinzipielle Unterwerfung der auswärtigen Gewalt unter die Verfassungsgerichtskontrolle heute einheitlich anerkannt wird 17 , ist die Diskussion um die verfassungsrechtlichen Grenzen dieser Kontrolle nach wie vor lebendig. Dabei hat sich der Schwerpunkt der Erörterungen von der Frage einer vermeintlichen Nichtjustiziabilität auswärtiger Hoheitsakte zu der Frage einer verfassungsrechtlich gebotenen „richterlichen Zurückhaltung" gegenüber der auswärtigen Gewalt verlagert. Beide Aspekte einer verfassungsrechtlich möglicherweise gebotenen Begrenzung der richterlichen Kontrolle der auswärtigen Gewalt sind jedenfalls überwiegend — orientiert an der entsprechenden Diskussion in den USA — unter Heranziehung der sog. „political question doctrine" und des „judicial self-restraint" erörtert worden. 18 An dieser Stelle kann die Kontroverse um die Verwendbarkeit dieser dem amerikanischen Verfassungsbereich entnommenen Begriffe in der deutschen Diskussion nicht ausgebreitet werden. Man wird der Auffassung folgen können, daß - wie immer das Verständnis der „political question doctrine" in den USA bestimmt wird 19 — eine 17 Sog. „actes de gouvernement" oder „gerichtsfreie Hoheitsakte" haben angesichts der Rechtsweggarantie des Art. 1 9 IV GG keinen Platz in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, so zutreffend CH.TOMUSCHAT, S. Anm. 4, S. 5 5 m.w.N. 18 Vgl. dazu u. a. D. BLUMENWITZ, Judicial self-restraint und die verfassungsgerichtliche Überprüfung von Akten der Auswärtigen Gewalt, in: DVB1, 1 9 7 6 , S. 4 6 4 ff; F. A. v. D. HEYDTE, Judicial Self-Restraint eines Verfassungsgerichts im freiheitlichen Rechtsstaat?, in: Festschrift für Willi Geiger, 1 9 7 4 , S. 9 0 9 ff; v. ROHR, S. A n m . 3 , S. 1 7 0 f f ; ZUCK, s. A n m . 5 ; J.DELBRÜCK, Quo vadis Bundesverfassungsgericht?, in: J. Delbrück/K. Ipsen/D. Rauschning (Hrsg.), Recht im Dienst des Friedens, Festschrift für Eberhard Menzel, 1 9 7 5 , S. 83 ff. 15 Zur Begriffsentwicklung der political question doctrine in der amerikanischen Diskussion vgl. TRIBE, S. Anm. 3, S. 71 ff; ZUCK, S. Anm. 5, S. 3 6 2 ff.

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solche Doktrin dem deutschen Verfassungsrecht fremd ist und keine — auch keine heuristische — Bedeutung gewinnen wird. Zutreffend ist auch kritisiert worden, daß die Verwendung des amerikanischen Terminus „judicial self-restraint" problematisch ist, da damit spezifische Bedeutungsinhalte dieses Begriffs in das deutsche Verfassungsrecht eingeführt werden könnten, die ihm ebenfalls fremd sind. Die Kritik etwa von der Heydtes 20 an der Verwendung des amerikanischen Terminus durch das Bundesverfassungsgericht hat insofern viel für sich, als er feststellt, daß es nicht einzusehen sei, warum der amerikanische Begriff verwandt würde, wenn mit ihm nicht auch der volle Bedeutungsinhalt des amerikanischen Rechtssystems übernommen werden solle. 21 Dann könne klarer von „richterlicher Selbstbeschränkung" gesprochen werden. 22 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß mit der Verwendung des amerikanischen Terminus nicht notwendigerweise der gesamte Inhalt und verfassungsrechtliche Kontext in das deutsche Verfassungsrecht übernommen und dort zum Tragen gebracht werden muß. Entscheidend ist, daß die Verwendung des Begriffes des „judicial self-restraint" jenen Aspekt des amerikanischen Systems auch für die deutsche Diskussion aktualisieren soll, der das System der Balance der Gewalten betrifft, in dem der Supreme Court eine wesentliche Rolle auch durch die Ausübung des „judicial self-restraint" spielt. Mit der — trotz aller berechtigten Bedenken — durchaus vertretbaren Umschreibung der im deutschen Verfassungssystem zu ziehenden Grenzen verfassungsrichterlicher Kontrolle mit dem Begriff des „judicial self-restraint" soll der verfassungsrechtlich gebotene Interorganrespekt als Mittel der Wahrung der Kernbereiche der je eigenen Kompetenzen der obersten Staatsorgane und damit ihrer Balance bezeichnet werden. Mit der Forderung nach einem „judicial selfrestraint" (deutscher Prägung) wird zugleich — mit Erfolg — versucht, jener Kritik an einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle der anderen Staatsgewalten einschließlich des Bereichs der Staatsfunktionen im auswärtigen Bereich entgegenzutreten, die an ein angebliches demokratisches Legitimationsdefizit des Bundesverfassungsgerichts anknüpft. Wenn und soweit das Bundesverfassungsgericht sich gegenüber den je spezifischen Kompetenzbereichen der anderen Gewalten richterlicher Zurückhaltung befleißigt, ist der Vorwurf, das Gericht setze sich mit seinen Entscheidungen an die Stelle unmittelbar demo20

V. D . H E Y D T E , S. A n m . 1 8 , S. 9 0 9 ff.

21

DERS., S. Anm. 18, S . 9 1 3 f . DERS., S. Anm. 18, S . 9 1 4 .

22

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kratisch legitimierter Staatsorgane insbesondere die der gesetzgebenden Körperschaften, weitgehend entkräftet. 23 Zusammenfassend ist festzuhalten, daß das Bundesverfassungsgericht als Kontrollgewalt gegenüber Akten auswärtiger Gewalt grundsätzliche Anerkennung gefunden hat, daß aber nach wohl weit überwiegender Auffassung diese Kontrollgewalt aus dem Gesichtspunkt des verfassungsrechtlich gebotenen Interorganrespekts Grenzen unterliegt, die mit dem Mittel der richterlichen Zurückhaltung (judicial self-restraint deutscher Prägung) einzuhalten sind. Die Wirkungen einer so verstandenen verfassungsrichterlichen Kontrolle der auswärtigen Gewalt, vor allem in den innenpolitischen Auseinandersetzungen über die Außenpolitik, sind nun im folgenden anhand einer kurzen Analyse der Spruchpraxis näher zu überprüfen.

II. Die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts zur Kontrolle der auswärtigen Gewalt und ihre innenpolitischen Wirkungen 1. Die

Spruchpraxis

Das Bundesverfassungsgericht hat — mit wenigen Ausnahmen 24 — bisher nur Spruchpraxis hinsichtlich von Verträgen zur Modifikation und Ablösung des Besatzungsrechts und von völkerrechtlichen Verträgen allgemein aufzuweisen. In einer ersten Gruppe von Entscheidungen 25 ging es vor dem Bundesverfassungsgericht um den Deutschlandvertrag und die deutsche Wiederbewaffnung, wobei es zu keiner Sachentscheidung des Gerichts kam, da durch Änderungen des Grundgesetzes die entstehenden Streitfragen überwiegend obsolet geworden waren. 26 Weiter ging es in den ersten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts um das ohne Zustimmung der gesetzgebenden Körperschaften abgeschlossene Petersberger Abkommen 27 , das deutsch-französische WirtZur vorstehenden Erörterung vgl. DELBRÜCK, S. Anm. 18. Vgl. z.B. BVerfGE 55, S . 3 4 9 (Hess-Beschluß). 2 5 Vgl. hierzu die Übersichten und Analysen bei R. BERNHARDT, Bundesverfassungsgericht und Völkerrechtliche Verträge, in: Festgabe für das Bundesverfassungsgericht, Bd. II, 1976, S. 154 ff; W. BILLING, Bundesverfassungsgericht und Außenpolitik, in: Handbuch der deutschen Außenpolitik, s. Anm. 16, S. 157 ff (S. 163 ff). 23

24

16

D a z u BERNHARDT, s. A n m . 2 5 , S. 1 6 7 .

27

BVerfGE 1, S . 3 5 1 (Urt. v. 2 9 . Juli 1952).

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schaftsabkommen 28 , ebenfalls ohne Mitwirkung des Bundestages getroffen, den Kehler Hafenvertrag zwischen dem Land Baden und dem Port Autonome de Strasbourg und schließlich das Saarstatut 29 . In allen Fällen hat das Bundesverfassungsgericht - soweit Sachentscheidungen fielen - die Verfassungsmäßigkeit der Verträge festgestellt und damit den außenpolitischen Gestaltungsspielraum der Exekutive nicht nur respektiert, sondern kompetenziell im Verhältnis von Legislative und Exekutive zugunsten der letzteren festgelegt. Auch seine eigene Kontrollkompetenz interpretierte das Gericht sehr zurückhaltend, indem es auch verfahrensmäßig ein Eingreifen zu Lasten der Exekutive durch den Erlaß einstweiliger Anordnungen ablehnte. 30 Diese zurückhaltende Linie kennzeichnet auch die späteren Entscheidungen 31 , wenngleich es immerhin in einem Fall, nämlich im Fall des deutsch-schweizerischen Doppelbesteuerungsabkommens, zur Verwerfung eines Vertrages als verfassungswidrig kam. 32 Auch im Problemkomplex der Ostverträge hat das Bundesverfassungsgericht vorwiegend Zurückhaltung geübt und die außenpolitischen Entscheidungen von Parlament und Regierung bestätigt. Dies gilt auch für die verfahrensmäßigen Aspekte des Streits um den Grundlagenvertrag. 33 Hingegen hat sich das Gericht in der Sachentscheidung zum Grundlagenvertrag den Vorwurf eines „judicial activism" gefallen lassen müssen, weil das Gericht bei der Feststellung der Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages eine verfassungskonforme Auslegung des Grundlagenvertrages vorgenommen habe, die den Spielraum der

BVerfGE 1, S.372 (Urt. v. 29. Juli 1952). BVerfGE 2, S.347 (Urt. v. 30. Juni 1953). 3 0 So z. B. in BVerfGE 1, S. 281 (Urt. v. 15. Mai 1952 im Rahmen des Streits um den Deutschlandvertrag und den Vertrag über die Europäische Verteidigungsgemeinschaft). 31 Vgl. die Übersicht bei BERNHARDT, S. Anm. 25, S. 167 ff. 3 2 BVerfGE 30, S.272 (Urt. v. 10. März 1971). 3 3 Zweimal lehnte es das Gericht im Grundlagenvertragsverfahren ab, der Regierung durch Erlaß einer einstweiligen Anordnung Fesseln anzulegen, im Vertrauen darauf, die Regierung werde keine das Gericht präjudizierenden Schritte unternehmen, vgl. die Entscheidungen vom 4. Juni 1973 (BVerfGE 35, S. 193) und vom 18. Juni 1973 (BVerfGE 35, S. 257); aber auch in den Verfahren über die Ostverträge (Moskauer, Warschauer Verträge und Vertrag mit der Tschechoslowakei) lehnte es das Gericht ab, im Wege einstweiliger Anordnungen den Handlungsspielraum der Regierung einzuschränken; vgl. BVerfGE 33, S. 155 ff und 2 3 2 ff; dazu auch BERNHARDT, S. Anm. 25, S. 169. 28

29

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Regierung in unangemessener Weise eingeschränkt habe. 34 Diese Kritik ist sicher zutreffend, und es ist noch hinzuzufügen, daß das Gericht sich ausdrücklich zu einem „judicial self-restraint" bekannt hat, sich in der Sache aber nicht daran hielt.35 Allerdings ist hier anzumerken, daß das Bundesverfassungsgericht durch die dem Urteil vorangegangene Ratifikation des Grundlagenvertrages in eine zumindest politisch präjudizielle Lage versetzt wurde, d. h. es wurde gegenüber dem Bundesverfassungsgericht seitens der Exekutive der gebotene Interorganrespekt verweigert. Der „judicial activism" des Bundesverfassungsgerichts im Grundlagenvertragsurteil ist jedoch nicht fortgeführt worden. Insbesondere der jüngste Beschluß im Nachrüstungsstreit sieht das Gericht wieder ganz auf der Linie einer klaren Respektierung des für notwendig erachteten Handlungsspielraums der Exekutive. 36 Damit hat sich das Bundesverfassungsgericht insgesamt gesehen aus einer tagespolitischen Parteinahme in außenpolitischen Fragen herausgehalten, wie dies gerade auch von den Kritikern aus Anlaß des Grundlagenvertragsurteils aus Sorge um die langfristige Autoritätssicherung des Gerichts gefordert worden war. Angesichts dessen fragt man sich nun jedoch, welches denn die (verbleibenden) Wirkungen der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung auf die innenpolitischen Kontroversen um Außenpolitik sind. 2. Die Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf die innenpolitischen Kontroversen um die Außenpolitik Die Antwort auf die Frage nach den Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung auf die innenpolitischen Kontroversen um die Außenpolitik ist vielschichtig. Zunächst einmal sind zwei Gesichtspunkte hervorzuheben, die erklären, was nicht die Wirkungen dieser Rechtsprechung waren und sind. Wiewohl sich die überwiegende verfassungsrichterliche Zurückhaltung politisch dahin auswirkte, daß der 3 4 Zur Urteilskritik vgl. BERNHARDT, Völkerrechtliche Bemerkungen zum Grundlagenvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Festschrift Menzel, s.

A n m . 1 8 , S. 1 0 9 f f ; DELBRÜCK, s. A n m . 1 8 ; D . W I L K E / G . H . K O C H ,

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nach Anweisung des Bundesverfassungsgerichts?, in: J Z 1 9 7 5 , S. 2 3 3 ff; U. SCHEUNER, Die staatsrechtliche Stellung der Bundesrepublik. Zum Karlsruher Urteil über den Grundlagenvertrag, in: DÖV, 1 9 7 3 , S. 5 8 1 ff; CH. TOMUSCHAT, Auswärtige Gewalt und verfassungsgerichtliche Kontrolle, in: DÖV, 1973, S. 8 0 1 ff. 35

S o z u t r e f f e n d u. a . BERNHARDT, S. A n m . 2 5 , S. 1 6 5 f.

Sog. „Pershing-Urteil" vom 18. Dezember 1 9 8 4 , abgedruckt in: EuGRZ, 1 9 8 4 , 11. Jg., S. 5 9 3 ff. 36

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jeweilige Regierungskurs in der Außenpolitik bestätigt wurde, so hat dies nicht zu einer Polarisierung der politischen Lager geführt. Zum anderen ist festzustellen, daß die prinzipiellen Befürchtungen, eine verfassungsrichterliche Kontrolle der auswärtigen Gewalt werde zu einer Politisierung des Gerichtes und zu einer Juridifizierung der Politik führen, nicht bestätigt worden sind. Abgesehen von einer allgemein in der deutschen Politik zu beobachtenden Neigung zu einer (normativen) Dogmatisierung der Politik kann nicht festgestellt werden, daß die Institution verfassungsrichterlicher Kontrolle der auswärtigen Gewalt zu einer spezifischen Juridifizierung der Außenpolitik geführt hätte. Auf der anderen Seite hat es das Gericht nach ganz einhelliger Meinung verstanden, die entstehenden (außen-)politischen Probleme in verfassungsrechtlichen Kategorien zu entscheiden, also echte Rechtsprechung zu pflegen. 37 Wendet man sich nun den tatsächlichen und rechtlichen Wirkungen der Verfassungsrechtsprechung zu Fragen der Außenpolitik zu, so ist auf zwei Bereiche abzuheben. Zum einen ist an die oben getroffene Feststellung anzuknüpfen, die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts habe nicht zu einer Polarisierung der politischen Lager geführt. Man wird diese Feststellung positiv dahingehend konkretisieren dürfen, daß im Gegenteil diese Spruchpraxis einer solchen Polarisierung geradezu entgegengewirkt hat. Die mit Verbindlichkeit für alle Staatsorgane ergehenden Entscheidungen ( § 3 1 BVerfGG) kanalisieren offenbar insgesamt die innenpolitische Kontroverse um die Außenpolitik, indem durch die verfassungskräftige Markierung der Grenzen oder Freiräume außenpolitischer Gestaltung die Bandbreite verfassungsmäßiger Außenpolitik fixiert wird. Hierdurch konnte — und kann aller Voraussicht nach auch in Zukunft — eine Mäßigung der innenpolitischen Auseinandersetzung um die Außenpolitik bewirkt werden, indem einer völligen Polarisierung von Regierungspolitik und Oppositionshaltung jedenfalls normativ vorgebeugt werden konnte und kann. Allerdings hängt diese fortdauernde Wirkung der Verfassungsrechtsprechung von weiteren Faktoren ab, auf die im folgenden noch einzugehen sein wird. 38 Schließlich ist auf eine weitere Wirkung der verfassungsrichterlichen Kontrolle der auswärtigen Gewalt hinzuweisen, die allerdings eher negativ einzuschätzen ist. Gemeint ist die potentiell immer 37

D a z u K.STERN, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland,

1 9 8 0 , S. 3 4 8 und ausführlich S. 9 5 1 ff. 38

Unten unter III.

Bd.II,

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mögliche, faktisch allerdings bisher nur einmal vorgekommene verfassungskräftige Fixierung enger — zu enger - Grenzen außenpolitischer Handlungsspielräume.39 Zwei Gefahren können dadurch heraufbeschworen werden: Zum einen kann außenpolitische Innovation schwierig oder sogar unmöglich werden. Zum anderen kann die Normativität der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und damit seine Autorität beeinträchtigt werden, indem die Politik mehr oder weniger offen über die (zu engen) Grenzziehungen des Gerichts hinweggeht. Im Hinblick auf die insgesamt jedoch überwiegende richterliche Zurückhaltung erscheint aus diesem Befund allerdings die integrierende Wirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit in der innenpolitischen Kontroverse um die Außenpolitik als der wichtigste Aspekt. Abschließend ist deshalb auf die Bedingungen einzugehen, die diese Integrationswirkung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch in Zukunft sichern helfen. III. Zu den Bedingungen der Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts als Integrationsfaktor in innenpolitischen Kontroversen über Außenpolitik Als Ergebnis der bisherigen Überlegungen wurde herausgestellt, daß das Bundesverfassungsgericht als mäßigender Faktor in den innenpolitischen Kontroversen um Außenpolitik gewirkt hat. Dieses Ergebnis ist dahin zu konkretisieren, daß die mäßigende Wirkung sich als Integration der außenpolitischen Willensbildung, als Konsensförderung, darstellt. Nicht geht es dagegen um eine durch das Gericht ausgelöste Konsensbildung. Diese ist und bleibt Aufgabe der Politik. Die Bedingungen dafür, daß diese mäßigende Wirkung der Bundesverfassungsgerichtsrechtsprechung in den innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Außenpolitik erhalten bleibt, sind — kurz umrissen — wie folgt zu formulieren: 1. Das Bundesverfassungsgericht muß an seiner überwiegend geübten und verfassungsrechtlich gebotenen Respektierung außenpolitischen Gestaltungsspielraums der aktiven Träger der auswärtigen Gewalt festhalten. Modifikationen der Kompetenzzuweisungen im Bereich der auswärtigen Gewalt mit dem Ziel der Stärkung der legislativen Mitwirkung dürften allerdings von diesem Gebot des 3

' So im Grundlagenvertragsurteil, dazu oben unter II 1.

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„judicial self-restraint" unter dem Gesichtspunkt der Integrationsrolle des Bundesverfassungsgerichts auszunehmen sein. Die integrierende Kraft der Spruchpraxis zu außenpolitischen Streitfragen beruhte offensichtlich nicht auf den Aussagen des Gerichts zur Gewichtung des jeweiligen Kompetenzanteils von Exekutive und Legislative an der auswärtigen Gewalt. 40 Denkbar wäre sogar, daß eine stärkere Mitwirkung der Legislative an außenpolitischen Entscheidungen langfristig im Hinblick auf die Integrationskraft des Verfassungssystems insgesamt wünschenswert wäre und insofern das Bundesverfassungsgericht zu entsprechender Modifizierung seiner bisherigen Haltung aufzurufen wäre. Das Gebot richterlicher Zurückhaltung betrifft im hiesigen Kontext allein den außenpolitischen Gestaltungsspielraum der aktiven Träger der auswärtigen Gewalt. Richterliche Zurückhaltung in diesem Bereich sichert die Autorität des Gerichts. 2. Als weitere Bedingung der Sicherung der Integrationskraft des Bundesverfassungsgerichts allgemein, aber gerade auch im Bereich der Außenpolitik, wird vielfach gefordert, das Gericht nicht mit der Entscheidung genuin politischer Sachverhalte zu überfordern, mit anderen Worten, das Gericht nicht als „letzte Instanz" für im Parlament verlorene politische Auseinandersetzungen zu mißbrauchen. Gewiß mag eine solche Zurückhaltung seitens der politischen Akteure als eine politische Tugend angesehen werden. Verfassungsrechtlich sind Appelle an die aktiven Träger auswärtiger Gewalt, politische Streitigkeiten über Außenpolitik nicht vor dem Bundesverfassungsgericht auszutragen, irrelevant. Zum einen haben verfassungsrechtliche Streitigkeiten immer eine starke politische Dimension — nicht nur in auswärtigen Angelegenheiten —, so daß es gar nicht möglich wäre, stringent sogenannte politische von nicht (oder weniger) politischen Streitigkeiten zu unterscheiden. Zum anderen ist rechtlich gegen derartige Appelle einzuwenden, daß weder das Verfassungsrecht noch das Verfassungsprozeßrecht solche Einschränkungen kennt. Die Anrufung des Verfassungsgerichts auch in den als besonders politisch empfundenen Streitfällen im Bereich der Außenpolitik ist rechtlich vorgesehen und wird nicht zuletzt deshalb politisch immer wahrgenommen werden. 41 Unter dem Gesichtspunkt der bisherigen moderierenden Wirkung der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts ist dies möglicherweise sogar zu begrüßen. 40

V g l . d a z u BILLING, S. A n m . 2 5 , S. 1 6 3 ff.

41

So zutreffend BERNHARDT, Anm. 25, S. 165.

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Der verfassungsrechtlich gebotene Interorganrespekt verpflichtet allerdings die Streitbeteiligten — und das ist nun allerdings wiederum eine unverzichtbare Bedingung der Sicherung der weiteren Integrationsfähigkeit des Verfassungsgerichts —, dem Gericht den zeitlichen und sachlichen Spielraum zur Wahrnehmung seiner Funktionen zu belassen. So sind völkerrechtliche Präjudizierungen des Gerichts durch Vornahme der Ratifikation im Streit befangener Verträge vor der Endentscheidung zu unterlassen. Darüber hinaus stehen die Streitparteien und alle anderen politischen Akteure in der rechtlichen und politischen Pflicht, Urteile des Verfassungsgerichts auch dann im vollen Umfange zu befolgen, wenn sie im Einzelfall verfassungsrechtliche Grenzziehungen politisch für unzweckmäßig halten. 3. Eng mit den vorstehenden Überlegungen verknüpft ist eine weitere Bedingung der moderierenden Wirkung verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung in außenpolitischen Fragen. Das Gericht kann seine integrierende und mäßigende Rolle in innenpolitischen Kontroversen über Außenpolitik nämlich nur erfüllen, wenn Staatsorgane und politische Parteien die Auseinandersetzung über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in auswärtigen Angelegenheiten in der Öffentlichkeit zwar kritisch, jedoch mit dem prinzipiellen Respekt vor der Autorität des Gerichts führen und damit die moderierende Wirkung der Gerichtsentscheidung in das öffentliche Bewußtsein vermitteln und verstärken. Mit einer kurzen Formel mag man sagen: Urteilskritik ja, Urteilsschelte nein! Die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts als moderierender und integrierender Faktor in den innenpolitischen Kontroversen um Außenpolitik stellt sich damit letztlich als ein weiteres Element der notwendigen Entwicklung und Verfestigung der politischen Kultur in der Bundesrepublik dar.

Die Kontroverse um die Außenpolitik in der Innenpolitik der Bundesrepublik Deutschland (Westintegration, Wiederbewaffnung, Ostpolitik, aktuelle militärpolitische Debatte) ERNST N O L T E

In allen größeren Staaten der Welt wird von Tausenden von Menschen eine ständige innenpolitische Debatte um die Außenpolitik geführt — von Politikern, Parlamentsmitgliedern, Ministerialbeamten, Journalisten, Historikern —, und zwar in der Form von Reden, Artikeln, Denkschriften, Büchern usw., die in ihrer Gesamtheit sich nur nach Regalmetern, ja nach Kubikmetern messen lassen. In der Bundesrepublik Deutschland jedoch trug diese Debatte schon dadurch einen eigentümlichen Charakter, daß die Innenpolitik sich weniger von der Außenpolitik trennen läßt als anderswo: bis heute ist bekanntlich nicht klar, ob die „Deutschlandpolitik" zum Bereich der Innenpolitik oder zu demjenigen der Außenpolitik gehört. Selbst ein scheinbar bloß technisches Problem der Außenpolitik wie die Errichtung von Handelsmissionen in einigen Staaten Osteuropas wurde in den frühen sechziger Jahren vornehmlich unter dem Gesichtspunkt seiner Relevanz für die Innenpolitik erörtert, und eine scheinbar bloß innenpolitische Frage wie diejenige nach dem Sinn und der Tragweite von „Antifaschismus" wies gravierende außenpolitische Implikationen auf. Vor allem aber ist dieser Staat, anders als alle anderen Staaten der Welt, in einer umfassenden innenpolitischen Debatte um die Außenpolitik überhaupt erst entstanden, zunächst (wie es schien) als eine bloße Verwaltungseinheit und dann immer unverkennbarer als ein genuines oder doch beinahe genuines Staatswesen. Eben deshalb war diese Debatte unvergleichlich emotionaler und tiefgreifender, als es die entsprechenden Debatten in anderen Staaten sein können. Wenn es nun schon generell unmöglich ist, eine Debatte

Die Kontroverse um die Außenpolitik in der Innenpolitik

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dieser Art in einer kurzen Darlegung anders als in den einfachsten Umrissen zu verfolgen, so gilt das für das vorliegende Thema erst recht. Daher muß zunächst auf die zahlreichen Untersuchungen zu einzelnen Stadien oder Teilbereichen wie etwa diejenigen von v. Schubert, Dittmann, März, Doering-Manteuffel, Benz, Niclauß, Koerfer verwiesen werden. 1 Hier kann es nur darum gehen, in thesenartiger Verkürzung einige Gesichtspunkte zu entwickeln und ein paar Begriffe zu bilden, die eine übergreifende Einheit erkennbar machen. Dieser Staat ist, wie die DDR, aus einem Zustand der Staatlosigkeit hervorgegangen, welcher von einer Grundemotion geprägt war, der Grundemotion des „Nie wieder". 2 Sie war nach der Katastrophe der zweiten und nicht mehr ausdeutbaren Niederlage sogar für überzeugte Nationalsozialisten die Basis der Empfindungen und Entscheidungen. Einen „Widerstand gegen die Besatzungsmächte" hat es daher in Deutschland nirgendwo auch nur ansatzweise gegeben. Das Verlangen nach Bestrafung der Schuldigen und Verantwortlichen war so gut wie allgemein, und das Ziel der Sehnsucht war eine friedliche Existenz der Deutschen in einer demokratischen Weltgemeinschaft. Angesichts der außerordentlichen Ungleichheit zwischen Siegern und Besiegten handelte es sich jedoch faktisch eher um die Sehnsucht nach einer der Politik enthobenen, endlich wieder Privatheit ermöglichenden Inselexistenz, der man allenfalls die Funktion zuschrieb, nach der großen Wandlung „Brücke" zwischen dem Westen und dem Osten zu sein. Drei Hauptorientierungen waren daher für die „Stunde Null" kennzeichnend: 1. Der Pazifismus als die alle Schichten durchdringende Überzeugung, 1 K. VON SCHUBERT, Wiederbewaffnung und Westintegration. Die innere Auseinandersetzung um die militärische und außenpolitische Orientierung der Bundesrepublik 1 9 5 0 - 1 9 5 2 , 1 9 7 2 2 ; K. DITTMANN, Adenauer und die deutsche Wiederbewaffnung. Die politische Diskussion des Jahres 1 9 5 2 , 1 9 8 1 ; P. MÄRZ, Bundesrepublik zwischen Westintegration und Stalin-Noten. Zur deutschlandpolitischen Diskussion 1 9 5 2 in der Bundesrepublik Deutschland vor dem Hintergrund der westlichen und der sowjetischen Deutschlandpolitik, 1 9 8 2 ; A. DOERING-MANTEUFFEL, Katholizismus und Wiederbewaffnung. Die Haltung der deutschen Katholiken gegenüber der Wehrfrage 1 9 4 8 - 1 9 5 5 , 1 9 8 1 ; W.BENZ, G.PLUM, W.RÖDER, Einheit der Nation. Diskussionen und Konzeptionen zur Deutschlandpolitik der großen Parteien seit 1 9 4 5 , 1 9 7 8 ; K. NiCLAuß, Kontroverse Deutschlandpolitik. Die politische Auseinandersetzung in der Bundesrepublik Deutschland über den Grundlagenvertrag mit der DDR, 1 9 7 7 ; D. KOERFER, Die FPD in der Identitätskrise. Die Jahre 1 9 6 6 - 1 9 6 9 im Spiegel der Zeitschrift „liberal", 1 9 8 1 . 2 Dazu und zum Folgenden vgl. E. NOLTE, Deutschland und der Kalte Krieg, 1 9 7 4 , bes. S. 1 9 0 f f , 2 5 1 f, 2 8 7 f f , 3 7 1 ff.

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daß Deutschland nie wieder in kriegerische Ereignisse oder auch nur in Kriegsvorbereitungen verwickelt sein dürfe. 2. Der Antifaschismus als der nicht ganz so allgemein verbreitete Wille, von der schlimmen Vergangenheit auf radikale Weise Abschied zu nehmen und eine neue Existenzform aufzubauen, die man meist „freiheitlichen Sozialismus" nannte. 3. Der Nationalismus in einer völlig unaggressiven Bedeutung, der die Erhaltung der deutschen Einheit mit einer gewissen Selbstverständlichkeit und doch nicht ganz ohne Anstrengung erwartete, da hier und da schon früh pessimistische oder partikularistische Regungen sichtbar wurden. Und dennoch gab es ein beispielloses Massenphänomen, in dem bereits eine politische Grundlage der späteren Bundesrepublik gesehen werden darf, nämlich das „Nach-Westen-Streben" zahlloser Soldaten und Flüchtlinge. Dafür war nicht nur die qualitative Differenz des Ost- und des Westkrieges Hitlers maßgebend, sondern auch der handgreifliche und als bloßes Resultat des Krieges nicht voll begreifbare Unterschied zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. Die Potsdamer „Paketlösung", mit der die Westmächte Stalins Entscheidung über die Abtrennung der östlichen Hälfte des östlichen Deutschlands provisorisch gegen die Beschränkung der sowjetischen Reparationsforderungen auf das Besatzungsgebiet der Sowjetunion sanktionierten, verstärkte diesen Unterschied, aber sie schuf ihn nicht. Das Ergebnis war das früheste der potentiell staatlichen Konzepte; dasjenige der „Freistatt". Tendenziell war davon jedoch die Überzeugung nicht zu trennen, daß die Westmächte Unterstützung verdienten, wenn sie sich in einen Konflikt mit der Sowjetunion verwickelten, dessen Anfänge ja in der Tat früh sichtbar waren und schon 1 9 4 7 als „Kalter Krieg" bezeichnet wurden. Eben deshalb aber mußte das Mißtrauen sowohl des Pazifismus wie des Antifaschismus wach werden: Die neue Verwicklung in die Welthändel war gefährlich, und sie stand objektiv in einer Kontinuität zu nationalsozialistischen Aussagen. Und als das Konzept der „Freistatt" — mit der amerikanischen Vorstellung vom „Containment" der Sowjetunion — sich zu dem zweiten Staatskonzept des „Dammes" entwickelte, da mußte auch der Nationalismus sich angegriffen fühlen, denn ein Damm mitten in Deutschland bedeutete die Spaltung des Nationalstaats. So begegnete diesem Staat bereits vor seiner Entstehung ein Grundmißtrauen, das ihm bis heute anhaftet.

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Und dennoch war die Ablehnung der Vorgänge in der Sowjetzone, war der sogenannte Antikommunismus von Konrad Adenauer bis zu Kurt Schumacher, von Jakob Kaiser bis zu Theodor Heuss so allgemein und selbstverständlich, daß man doch wieder von einer Staatsgründung des verschämten Totalkonsensus sprechen darf, nachdem der erste Schock über das westalliierte Verlangen überwunden war. Es kann kein Zweifel sein, und es geht aus so gut wie allen nichtkommunistischen Beiträgen zu dieser Debatte mit großer Klarheit hervor, daß der Wunsch, von sowjetischer und russischer Einwirkung frei zu sein, ein Massenverlangen von überwältigender Stärke war. Aber ebenso allgemein war der Einheitswunsch. Die beiden Wünsche konnten nur ausgeglichen werden durch das dritte Staatskonzept, dasjenige des „Kernstaates", das - mit unterschiedlicher Akzentuierung — vornehmlich als Provisorium oder als Magnet gefaßt wurde und das den „Alleinvertretungsanspruch" der „Bundesrepublik Deutschland" unumgänglich machte. Mit dem Beginn der „Wiederbewaffnungsdebatte" nach dem Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 artikulierten und verfestigten sich die großen Vorwürfe, die (aus der Grundemotion und den drei Hauptorientierungen resultierend) diesen Staat grundsätzlich in Frage stellten, als er gerade wirklich zum Staat zu werden begann — sicherlich vor allem auf Drängen der Amerikaner, doch auch unter den Zeichen grobschlächtiger und zuversichtlicher Drohungen von Seiten Ulbrichts und Grotewohls. 3 Für die Sprecher des Pazifismus, wie Ulrich Noack und Martin Niemöller, war dieser Staat der gegen seinen Ursprung sündigende, der unfriedliche Staat. Daran war unzweifelhaft so viel richtig, daß jetzt erstmals und in schroffstem Gegensatz zu allem, was alliierte Staatsmänner und deutsche Politiker seit 1945 gesagt hatten, die idealtypische Möglichkeit eines amerikanisch-deutschen Militärbündnisses auftauchte, das nach der Wiederaufstellung der Wehrmacht stark genug gewesen wäre, die Sowjetunion zur Herausgabe ihrer Zone zu zwingen und sie im Fall der Weigerung niederzuwerfen. Aber dieses Konzept, das erst 1959 post festum von William S. Schlamm formuliert wurde 4 , ist trotz der Rede von der „Politik der Stärke" von keinem verantwortlichen Politiker je zu Wort gebracht oder auch bloß wahrgenommen worVgl. „Neues Deutschland" vom 5. August 1950. W.S.SCHLAMM, Die Grenzen des Wunders. Ein Bericht über Deutschland, 1959. 3 4

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den. Der Ausweg, der gewählt wurde, um die Wiederbewaffnung von dem gefährlichen Vorwurf der Friedensgefährdung zu befreien, waren die EVG und die europäische Integration. Wie hätte die Bundesrepublik auch nur ein Piemont sein können, da sie mit so saturierten Staaten wie Belgien und den Niederlanden zusammengebunden wurde? Für den Antifaschismus und seine Vorkämpfer, wie etwa den Studentenpfarrer Mochalski oder Walter Dirks, war dieser Staat der an die schlechte Vergangenheit anknüpfende und „restaurative", ja tendenziell faschistische Staat. Paradoxerweise wandte sich die Polemik häufig gleichzeitig gegen die „Kommerzialisierung", die schon von den Nationalsozialisten bekämpft worden war. Der Ausweg der Regierung bestand im Verbot der „Sozialistischen Reichspartei" und in der nachdrücklichen Hervorhebung der Tatsache, daß das Grundgesetz mit gleicher Entschiedenheit gegen Kommunismus und Faschismus Stellung nahm. Für den Nationalismus und seine Wortführer, wie Rudolf Augstein und Paul Sethe, war die Bundesrepublik der nach Souveränität greifende Separatstaat, der aus Bequemlichkeit die versklavten Landsleute im Stich läßt. Ausweg und Gegenthese war das Konzept einer Politik der Befreiung, das die Wiedervereinigung nicht in einen Gegensatz zur Westintegration stellte, sondern sie als deren Folge erscheinen ließ. In einem fünfjährigen Ringen setzte sich schließlich die Vorstellung der Regierung durch. Daß sie von vornherein aussichtslos gewesen wäre, muß im Licht der Vorwürfe, die Chruschtschow später gegen Berija richtete5, zweifelhaft erscheinen. Aber eben die lange Dauer der Diskussion und damit der Entscheidungsfindung — symptomatisches Kennzeichen zugleich der deutschen Situation und der Natur des gesellschaftlichen Systems der Bundesrepublik — war eine wesentliche Mitursache des relativen Gleichziehens der Sowjetunion in der Atomrüstung, und damit mußte von vornherein die Frage aufkommen, ob nicht der Preis, den die Westalliierten für die „Wiederbewaffnung" zahlten, nämlich die Verpflichtung zur Unterstützung der Wiedervereinigungskonzeption der Bundesregierung, am Ende bloß verbal war. Aber die Schwäche ihrer Gegner war die eigentliche Stärke der Regierung, und diese Schwäche war alles andere als zufällig: Der „Spiegel" war während dieser Jahre auch ein antikommunistisches Kampfblatt, Wolfgang Abendroth rechtfertigte den Widerstand gegen 5 Rede N.CHRUSCHTSCHOWS vom 8 . M ä r z 1963, in: „Ost-Probleme", 1963, 15. Jg., S. 2 9 0 - 3 0 1 ; S . 2 9 4 .

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die Ansprüche des „sowjetisierten Staatsfragments" auf deutschem Boden 6 , Gustav Heinemann lehnte eine Zusammenarbeit mit dem „Bund der Deutschen" wegen dessen Ostorientierung ab. So gut wie keiner der Gegner trat während der fünfziger Jahre für einen Verzicht auf die Oder-Neiße-Gebiete ein, der doch, auch für eine Regierung Berija, die unverzichtbare Vorbedingung für die Zustimmung zur Wiedervereinigung gewesen wäre. Trotz des Traumas der größten und wichtigsten Debatte, die in Deutschland je stattgefunden hat, blieb jener „Totalkonsensus" zu einem wesentlichen Teil erhalten. Die zwei großen Debatten, die im Abstand von 15 und 25 Jahren folgten, diejenigen um die „Ostpolitik" und um die „Nachrüstung", lassen sich als Reprisen unter veränderten Vorzeichen begreifen. Die wichtigste Veränderung vollzog die Oppositionspartei der SPD mit ihrem Umschwenken auf den Standpunkt der NATO, aber im Rahmen einer erhofften Entspannung; die eigenartigste Veränderung erfolgte auf dem Felde des Nationalismus, wo man Adenauer mit dem Pathos des Rechtgehabthabens das Scheitern seiner Politik vorwarf und eine Anerkennung der DDR forderte, um auf dem Wege zahlreicher kleiner Schritte schließlich den großen Schritt zur Wiedervereinigung tun zu können; die radikalste Veränderung betraf den Pazifismus, der in seiner Polemik gegen die „Notstandsgesetze als Kriegsvorbereitung" von wichtigen Teilen einer jüngeren Generation übernommen und radikalisiert wurde, einer Generation, die nach einer kurzen Übergangszeit der „Aquidistanz" in ihrer geschlossensten Gruppierung erneut die Sprache des Kalten Krieges sprach — aber die Sprache der anderen Seite mit ihren Anklagen gegen den imperialistischen und kriegslustigen Staat des Großkapitals. So zog eine artifizielle Widerstandssituation einen großen Teil der öffentlichen Aufmerksamkeit auf sich und verhüllte die Tatsache, daß die genuine Widerstandssituation auf der entgegengesetzten Seite gegeben war, wo man dem Außerordentlichen widerstrebte, das sich doch seit 25 Jahren abgezeichnet hatte: der Anerkennung der Tatsache, daß in dem neuen Weltstaatensystem für ein einheitliches Deutschland kein Platz war und daß, auf unabsehbare Zeit, die geschichtliche Realität stärker sein würde als das moralische Recht. Aber sogar diesmal ging der staatsgründende Totalkonsensus nicht ganz verloren, wie das entscheidende Abstimmungsergebnis über die „Ostverträge" zeigte. 6 W. ABENDROTH, Deutsche Einheit und europäische Integration in der Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, in: „Europa-Archiv", 1951, II, S. 4 3 8 5 ^ 3 9 2 .

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Auch die jüngste Debatte ist eine Reprise unter veränderten Vorzeichen. Diesmal geht es um die Frage, ob die so mühsam erreichte Entspannung festgehalten oder noch einen wesentlichen Schritt weitergeführt werden soll, der sie indessen gerade im Kern gefährden mag. Zur Entspannung gehört wesensnotwendig Gleichgewicht, und insofern war der „Doppelbeschluß" der NATO von 1979 weiter nichts als ein unumgänglicher Moment der Entspannung. Wenn im Gegenzug von denjenigen, die immer noch auf der Grundlage der Hauptorientierungen von 1945 zu stehen glauben, einseitige Abrüstung verlangt wird, dann wird abermals eine angreifende Position als Widerstandshaltung ausgegeben. Nie ist die Asymmetrie, die in der Verfassung begründet ist, so deutlich geworden wie am Beispiel einer „Friedensbewegung", die es nicht verhindern kann, daß die schwachen Ansätze zu einer Entsprechung auf der Gegenseite vernichtet werden, während die Regierung eines Imperiums, die ohne jeden Widerspruch aufzurüsten vermag, die Sprache des Friedens spricht. Aber der neue „linke" Nationalismus, der sich in der Rede von dem „Besatzungsregime" in beiden Teilen Deutschlands artikuliert 7 , mag in aller subjektiven Aufrichtigkeit an den Pazifismus und den Antifaschismus der Stunde Null anzuknüpfen versuchen, und er muß doch, wenn er Entschlossenheit und Geschick an den Tag legt, für den Frieden der Welt gefährlicher werden als alles, was sich an faschistischen oder militaristischen Tendenzen in der Bundesrepublik je geregt hat. So zeigt sich zu Beginn der achtziger Jahre die alte und tragische Disjunktion von Frieden und Einheit, von historischer Realität und moralischem Recht in der Bundesrepublik Deutschland auf ebenso neuartige wie überraschende Weise.

7 Vgl. etwa W. VENOHR (Hrsg.), Die deutsche Einheit kommt bestimmt, 1 9 8 2 ; P.BRANDT, H.AMMON, Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, 1981.

Außenpolitik der Gemeinden? WOLFGANG GRAF VITZTHUM

I. Untersuchungsgegenstand: Kommunale Aktivitäten mit Auslandsbezug 1. K a u m eine Stadt oder Region mehr ohne direkte Auslandskontakte. K a u m eine Gemeinde mehr ohne den Versuch, Resolutionen zu internationalen Fragen zu fassen. K a u m eine Gemeindevertretung, eine Aufsichtsbehörde oder eine verwaltungsgerichtliche Instanz, die in den letzten Jahren wegen der massenweisen Proklamation von „atomwaffenfreien G e m e i n d e n " nicht um die Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen kommunalen Aktivitäten zu ringen hatte. K a u m ein T h e m a des Staatsrechts und der Politik aber auch, bei dem ein jahrzehntelanger Konsens so drastisch in Dissens, ja in Konflikt umgeschlagen ist. 1 Die kommunalen auslandsrelevanten Tä1 S. u.a. HOFMANN, Die verfassungs- und kommunalrechtliche Zulässigkeit von Gemeinderatsbeschlüssen zu verteidigungspolitischen Fragen, DVB1 1984, S. 116 ff; SCHMITT-KAMMLER, Zur verfassungsrechtlichen Beurteilung gemeindlicher „atomwaffenfreier Zonen", DÖV 1984, S. 869 ff; THEIS, Forum: Die Gemeinden als „atomwaffenfreie Zonen", JuS 1984, S. 422 ff; GRAF VITZTHUM, Errichtung „atomwaffenfreier Zonen" als kommunales Greundrecht?, in: Schwarze/Graf Vitzthum (Hrsg.), Grundrechtsschutz im nationalen und internationalen Recht, 1983, S. 189 ff; DERS., „Atomwaffenfreie Zonen" auf Gemeindeebene, JA 1983, S. 557ff; BLUMENWITZ, Kommunale Außenpolitik, in: v. Mutius (Hrsg.), Selbstverwaltung im Staat der Industriegesellschaft, 1983, S. 747ff; DÄuBLER, „Atomwaffenfreie Zone" in der Bundesrepublik Deutschland, ZRP 1983, S. 113 ff; PENSKI, Gemeindliche Zuständigkeit und staatliche Verteidigungspolitik, ZRP 1983, S. 161 ff; MOMBAUR, „Basisdemokratie" oder Zivilcourage, Städteund Gemeindebund 1983, S. 195 ff, insbes. S. 197ff; UECHTRITZ, Die Erklärung des Gemeindegebietes zur „atomwaffenfreien Zone", NVwZ 1983, S. 334 ff; Süss, Beschlüsse der Gemeinden zu verteidigungspolitischen Fragen, BayVBl 1983, S. 513 ff; HUBER, Die Erklärung des Gemeindegebietes zur „atomwaffenfreien Zone", NVwZ 1982, S. 662 ff.

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Wolfgang Graf Vitzthum

tigkeiten thematisieren insofern mittlerweile nicht m e h r nur

eine

S p e z i a l f r a g e i m V e r h ä l t n i s G e m e i n d e — S t a a t . E s g e h t hier v i e l m e h r z. T. bereits u m die E n t s c h e i d u n g s - u n d V e r a n t w o r t u n g s f ä h i g k e i t des Gemeinwesens insgesamt. Als Institut des V e r f a s s u n g s - o d e r V ö l k e r r e c h t s gibt es „ k o m m u nale Außenpolitik" nicht. Verfassungsrechtlicher Analyse harren vor a l l e m zwei P h ä n o m e n e : die A u s l a n d s k o n t a k t e i n l ä n d i s c h e r K o m m u n e n s o w i e d e r e n S t e l l u n g n a h m e n zu i n t e r n a t i o n a l e n F r a g e n . 2. W a s für K o m m u n e n a n d e r S t a a t s g r e n z e i m H i n b l i c k a u f r e g i o n a l e g r e n z ü b e r s c h r e i t e n d e P r o b l e m e des V e r k e h r s , des

Umweltschutzes,

d e r E n e r g i e v e r s o r g u n g u n d des G e w ä s s e r s c h u t z e s z u m v e r f a s s u n g s g e w o l l t e n V e r w a l t u n g s a l l t a g g e h ö r t , e b e n d e r Auslandskontakt2, s p r i n g t bei b i n n e n l ä n d i s c h e n

Gemeinden

dem Wunsch,

entauf

ihrer

Rangstufe mit ausländischen Partnern auch ohne nachbarschaftlichregionalen Bezug Jugend-, Sport-, Kultur- und Erfahrungsaustausch zu b e t r e i b e n 3 . V o n K o o p e r a t i o n s v e r t r ä g e n ü b e r die B i l d u n g g e m i s c h 2 S. Europäisches Rahmenübereinkommen über die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften, BGBl. II 1981, S. 9 6 6 ff; BEYERLIN, Grenzüberschreitende Zusammenarbeit benachbarter Gemeinden und auswärtige Gewalt, in: Dittmann/Kilian (Hrsg.), Kompetenzprobleme der Auswärtigen Gewalt, 1982, S. 109 ff; DERS., Grenzüberschreitende unterstaatliche Zusammenarbeit in Europa, Z a ö R V 1 9 8 0 , S. 573 ff; WITMER, Grenznachbarliche Zusammenarbeit, 1979; BOTHE, Rechtsprobleme grenzüberschreitender Planung, AöR 1977, S. 68 ff (ebd., S. 7 2 : „Eine Grenze für die (grenzüberschreitende) Tätigkeit örtlicher Gebietskörperschaften ergibt sich hier aus dem Gebot der Bundestreue. Die Untergliederungen dürfen nichts tun, was den Interessen des Bundes und den Interessen anderer Länder grob zuwiderläuft."); STREBEL, Völkerrechtliche Komponenten innerstaatlicher Zuständigkeit, Z a ö R V 1973, S. 132 ff, 163 ff. 3 ENQU£TE-BERICHT über die auswärtige Kulturpolitik, BTDrucks. VII/4121, S. 4 1 f; FIEDLER, Kommunale Außenpolitik, in: Der Städtetag 1978, S. 4 5 9 ff, 4 6 1 ; GARSTKA, Die Rolle der Gemeinden in der internationalen Verständigung, Diss. phil. 1 9 7 2 , S. 89 ff; PÜNDER, Kommunale Auslandsarbeit, in: Der Städtetag 1 9 6 8 , S. 2 8 6 ff; Antwort der BUNDESREGIERUNG auf die Große Anfrage zur Kulturpolitik, BTDrucks. 10/2236, S. 7: „Im Bereich der auswärtigen Kulturpolitik besteht seit jeher eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Bund, den Ländern und den Gemeinden. Dabei handeln Bund und Länder im Rahmen ihrer jeweiligen verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten. Die Mitwirkung der Gemeinden ergibt sich aus ihrer umfangreichen kulturellen Tätigkeit. Über gelegentliche Meinungsverschiedenheiten hinweg hat sich diese Zusammenarbeit bewährt, auch durch institutionelle Vorkehrungen, wie z. B die Förderung auslandsbezogener kultureller Aktivitäten der Gemeinden über die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzen-

Außenpolitik der Gemeinden?

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ter Kommissionen bis hin zur Gründung regionaler Zweckverbände bedienen sich die Kommunen hier virtuos einer Vielzahl von Verfahren und Einrichtungen. Das äußere Erscheinungsbild des Gemeinwesens wird differenzierter, die Außenbeziehungen fächern sich auf. Für die Bundesrepublik Deutschland ist dies selbstverständlich, systemkonform. Städte und Kreise widmen sich bei ihren Auslandskontakten indes auch Agenden, die mit gesamtstaatlichen Belangen verbunden sind. So dienen Städtepartnerschaften der Ortsgemeinschaft oft eher mittelbar, über die Vertiefung des Europagedankens und die Verständigung der Völker. Die interkommunale Zusammenarbeit soll hier das in der Präambel des Grundgesetzes enthaltene Bekenntnis zu Europa sowie die Integrationsklausel des Art. 2 4 GG mit Leben erfüllen. Ein Beispiel ist das Abkommen Nürnberg — Krakau von 1975. 4 Es soll u. a. „auf ein günstiges Klima für positive Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland hinwirken". Daß es mit der Autonomie Krakaus weniger weit her ist als mit der der fränkischen Metropole, sei nur am Rande vermerkt. Wie häufig verbanden sich auch hier ungleiche Partner. 3. Indem Kommunen Stellungnahmen zu internationalen Themen abgeben und diesen einen bestimmten, gesamtstaatlich kontroversen Inhalt geben, zielt der Ehrgeiz mancher Kommunalpolitiker über die kommunale Ebene hinaus in den hochpolitischen Raum, auf die Politik des Bundes. Im Unterschied zu den „klassischen", bundesweit konsentierten, auch von den Bundesorganen begrüßten Partnerschaftsverträgen im EG-Bereich überschreiten diese Parteinahmen die politische Erheblichkeitsschwelle. Die hinter den hochgegriffenen Initiativen stehenden politischen Gruppen wählen für Belange, die sie des konflikthaften Ansatzes wegen auf überörtlicher Ebene nicht durchsetzen können, wie etwa die Bekämpfung der NATO-Nachrüstung, den Umweg „über die Dörfer", die Ingerenz der Gemeinden auf den Bund. In der Auseinandersetzung um den Kurs der Politik der Bundesorgane ist die kommunale Ebene der Partner bei einem „Dopverbände. Die Bundesregierung wird im Interesse einer wirksamen Kulturpolitik die Zusammenarbeit mit Ländern und Gemeinden auch künftig pflegen und ausbauen." 4 Abgedruckt bei BLUMENWITZ, Die deutsch-polnischen Städtepartnerschaftsabkommen im Lichte des Staats- und Verfassungsrechts, 1980, S. 66.

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pelpaß", der jene Organe auf Bundesebene ausspielen und dort letztlich eine andere Politik erzwingen soll. Wenn im Parteienstaat die außenpolitische Gemeinsamkeit zerbricht, werden gelegentlich die Kommunen als Vehikel der (auch außerparlamentarischen) Opposition benutzt, zur kommunalen Thematisierung, ja auch Beantwortung von Fragen der Großen Politik. Die „kommunalen Belange" sind dann nur der Faltenwurf, der handfeste nationale Interessen drapiert.

4. Die Auflösung der traditionellen äußeren Geschlossenheit des Staates fordert seine innere Herrschaftsordnung heraus. Gleiches gilt von der derzeitigen Gefahr einer Erosion des überparteilichen Konsenses in der Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik, dem Gesamtthema unseres Colloquiums. Die Verfassung geht von der Möglichkeit und Notwendigkeit der Unterscheidung von „nationalen", „regionalen" und „lokalen" Agenden aus. Bund und Länder, Kreise und Gemeinden besitzen für die auslandsbezogene Betätigung wie für die Beherrschung der eigenen Betroffenheit ganz unterschiedliche Zuständigkeiten. Kompetenz impliziert Verantwortung. Der jeweiligen Ebene und Materie korrespondieren unterschiedliche Stufen, Techniken und Konsequenzen des Geltendmachens demokratischer Kontrolle. Zuweisungen von Sachherrschaft haben zudem Entlastungsfunktion. Sie sollen Konflikte nicht unterdrücken. Die Kapazität des Gesamtsystems zur Konfliktlösung soll vielmehr dadurch optimiert werden, daß Konflikte auf der angemessenen Stufe ausgetragen werden. Das im Grundgesetz fein austarierte Schema von Betroffensein, Leistungspotential, Legitimationsfunktion, Entscheidungsmacht und Verantwortlichkeit sieht sich derzeit in Frage gestellt. Den einen der Versuch einer Kommunalisierung, ja Atomisierung der Atompolitik, sind die kommunalen „Atomwaffenfreiheits"-Proklamationen den anderen die Konsequenz einer überdehnten Auslegung der Garantie der gemeindlichen Selbstverwaltung. Ihnen dient das „Betroffensein" der Gemeindebürger durch außenpolitische Entscheidungen des Bundes als Hebel für eine extensive, „materielle" Interpretation des Selbstverwaltungsrechts. Zur Grundbedingung der Demokratie gehört indes das Formelle, die Achtung für Fragen der Form, das formal korrekte Zuordnen der Handlungsträger, auch im kommunal-staatlichen Bereich. Werden die Kompetenzzuweisungen nicht respektiert, tritt die

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„Demokratie allmählich in eine Krise der Entschlußkraft, die sich daraus ergibt, daß Stellen, die von der Verantwortung her unzuständig genannt werden müssen, wichtige Entscheidungen an sich reißen und dadurch ein sachgemäßes Handeln verhindern." 5

II. „Kommunale Außenpolitik" und kommunale Selbstverwaltung 1.

Auslandskontakte und Stellungnahmen zu internationalen Fragen sind kein Privileg organisierter Staatlichkeit.6 Der Völkerrechts- und selbstverwaltungsfreundliche Staat des Grundgesetzes hat die auslandsrelevanten Kommunikationsprozesse nicht nationalisiert. Die Akteure sind weder nach außen abgeschottet noch auf provinzielle Perspektiven reduziert. Als unteilbare Gesamtperson tritt der Staat nur dort auf, wo es um verbindliche Beziehungen zu anderen Rechtsträgern auf der Basis des Völkerrechts geht. 7 Wo das Gemeinwesen nicht derart als Ganzes in Pflicht genommen wird, öffnet sich anderen Handlungsträgern, etwa den Kreisen und Gemeinden, ein Feld auslandsbezogener Initiativen. Dort tummeln sich neben den Kommunen zudem auch unzählige Firmen, Universitäten, Verbände, Vereine, Wissenschaftler, Sportler, Schüler, Journalisten, Touristen. Der freiheitliche Verfassungsstaat schützt all dies durch Selbstverwaltungsgarantien und Grundrechte. Dies verwischt Blumenwitz mit seiner Anspielung auf die „Volksdiplomatie" 8 , die nach der Oktoberrevolution unter Leitung Lenins praktiziert wurde, um „über die Köpfe der Regierungen hinweg" eine „Neuform des diplomatischen 5 v. SIMSON, Die Verteidigung des Friedens, 1975, S. 111. - Ohne funktionierende Zuständigkeitsordnung läßt sich die Verteidigung der Freiheit nicht organisieren. Eine Erosion der Willensfähigkeit des Staates gefährdet insofern den Frieden. 6

R O J A H N , A r t . 3 2 G G , R d n . 3 a , in: v . M Ü N C H ( H r s g . ) , G r u n d g e s e t z k o m m e n -

tar, Bd. 2, 1983 2 ; KONRAD, Verfassungsrechtliche Probleme von Städtepartnerschaften, in: Dittmann/Kilian, s. Anm. 2, S. 138 ff, 174; TOMUSCHAT, Der Verfassungsstaat im Geflecht der internationalen Beziehungen, in: W D S t R L 36, 1978, S. 7 ff, 9. 7

B V e r f G E 2 , S . 3 4 7 , 3 7 4 ; R O J A H N , S. A n m . 6 , A r t . 3 2 , R d n . 1 0 ; REICHEL, D i e

auswärtige Gewalt nach dem Grundgesetz, 1967, S. 22; MOSLER, Die auswärtige Gewalt im Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland, in: Festschrift Bilfinger, 1954, S. 243 ff, 253. 8

BLUMENWITZ, s. A n m . 4 , S. 1 7 .

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Kampfes" zu entwickeln. Anders als totalitäre Staaten, die die Auslandskontakte durch das Nadelöhr der Regierungs- oder Parteispitze zu fädeln versuchen, und im Unterschied zur selbstherrlichen Isolierung des Nationalstaates, den Wolgast noch zu Beginn der Weimarer Republik als ein Haus mit einer einzigen Tür beschrieben hatte9, wirft unser Staat - um im Doppelbild zu bleiben — Nadel und Faden weg und stößt alle Türen und Fenster zur Außenwelt auf. Der Pluralität, Meinungsvielfalt, Gewaltenteilung im Innern korrespondieren Offenheit, Vielgestaltigkeit und Dezentralisierung nach außen.10 Mehr noch: Der Staat des Grundgesetzes bedarf breitgefächerter auslandsbezogener Betätigung der Kommunen und Bürger. Ohne Mitwirkung von Grenzgemeinden etwa gibt es keinen effektiven Schutz der Umwelt. Ohne Kooperation der betreffenden Städte, Universitäten und Studenten läßt sich ein Studentenaustausch nicht verwirklichen. Ohne auswärtige kulturelle Aktivitäten der Kommunen ist die Vielfalt deutscher Kultur nach außen nicht abbildbar.11 Bei Staatsbesuchen fungieren die Gemeinden als lokale Repräsentanten des Gesamtstaates.12 Gelegentlich gibt das Auswärtige Amt deshalb Zuschüsse13, leisten Deutsche Kulturinstitute Hilfestellung.14 Als „Locarnos von unten" erhalten Städtepartnerschaften zusätzlichen Flankenschutz. Da sind der Internationale Gemeindeverband, die Internationale Bürgermeister-Union und der Rat der Gemeinden Europas, ganz zu schweigen von der Europakonferenz der Gemeinden und Regionen und vom Weltbund der Partnerstädte.15 2.

Die internationalen Kontakte und Stellungnahmen der Kommunen finden ihre Grundlage und Grenze in Art. 28 Abs. 2 GG. 16 Mit der kommunalen Selbstverwaltung wurde bekanntlich keine dritte staatli' Die auswärtige Gewalt des Deutschen Reiches, AöR 1923, S. 78. 10

TOMUSCHAT, s. A n m . 6 , S. 2 3 f.

11

ENQU£TE-BERICHT, S. A n m . 3 , S . 4 1 ; PÜNDER, S. A n m . 3 , S . 2 8 6 .

STEIN, Amtshilfe in auswärtigen Angelegenheiten, 1975, S. 36. 13 Vgl. die BT-Ausführungen des damaligen Staatsministers im Auswärtigen Amt, v. Dohnanyi, am 1 0 . 1 1 . 1 9 7 9 , Sten. Prot. S. 13.947. 12

14

F I E D L E R , S. A n m . 3 , S . 4 6 1 ; PÜNDER, S. A n m . 3 , S . 2 8 9 .

Übersicht bei WEINBERGER, Internationale Gemeindeverbände und Städtepartnerschaften, in: Püttner (Hrsg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, 1982 2 , S. 5 0 6 ff. 15

16

BLUMENWITZ, S. A n m . 1 , S. 7 5 9 .

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che Ebene neben Bund und Ländern geschaffen. Die Kommunen sind ohne eigene Staatsqualität in den allgemeinen Staatsaufbau eingegliedert. 17 Sie unterliegen der Staatsaufsicht. Bei Ausübung der eigenen, auf die ortsgemeinschaftlichen Aufgaben beschränkten Kompetenzen darf die Gemeinde nicht gegen Interessen der übergeordneten Gemeinschaft verstoßen (Pflicht zu „bundesfreundlichem Verhalten", zu „staatsgerichtetem Respekt"). 18 Das bedeutet kein „Politikverbot", wohl aber das Verbot, außerhalb der eigenen Politikkompetenzen zu politisieren. Die Normen, die für die materielle Außenpolitik kompetenzbestimmend sind (Art. 32, 59, 73 Nr. 1, 87 GG), richten sich nur an die staatlichen Verbände. Im völkerrechtlichen Verkehr tritt der Bundesstaat grundsätzlich als Einheit auf (Art. 32 Abs. 1 GG). Nur im Rahmen des Vertragsrechts haben die Länder Anteil an der auswärtigen Gewalt (Art. 32 Abs. 2 und 3 GG). Die normalen Auslandskontakte der Kommunen dagegen werden nicht einmal von dem allgemeinen Begriff „Pflege der auswärtigen Beziehungen" erfaßt. Auch im Bereich ihrer Hoheit können inländische Gemeinden mit ausländischen keine rechtsverbindlichen Verträge schließen.19 Über die außenpolitische Linie des Gemeinwesens zu befinden ist demnach Sache des Bundes, im Falle des Art. 32 Abs. 2 und 3 GG partiell auch Sache der Länder. In keinem Fall ist dies Sache der Kommunen. Die provozierende Themenfrage „Außenpolitik der Gemeinden?" ist insofern mit „nein" zu beantworten. An der „Kunst, die Führung des eigenen Staatswesens im Verhältnis zu anderen zu ordnen" 20 , haben die Kommunen keinen Anteil. So nützlich die auslandsrelevanten Betätigungen der Gemeinden heute für den Staat sind — Außenpolitik im rechtlich-kompetentiellen Sinne stellen sie 17

THEIS, S. Anm. 1, S . 4 2 4 f ; ROTERS, Art. 32 GG, Rdn.33, in: v. Münch

(Hrsg.),

s. A n m . 6 ;

SCHMIDT-JORTZIG,

Kommunalrecht,

1982,

S.22;

MAUNZ,

Art. 28 GG, Rdn.50, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetzkommentar; STERN, Bonner Kommentar, Art. 28, 1 9 6 4 (Zweitbearb.), Rdn. 70. - Bei den grenzüberschreitenden Aktivitäten der Kommunen gibt es übrigens auch das Phänomen einer „Flucht ins Privatrecht". Ich verweise auf Abwasserlieferverträge u. ä., mit denen gemeinsam über die Grenze hinweg öffentliche Aufgaben erfüllt werden sollen. 18

STEIN, s. A n m . 1 2 , S. 1 4 2 ff.

19

BVerfGE

2,

347,

374;

KONRAD,

s.

Anm. 6,

S. 1 5 7 f f ;

BLUMENWITZ,

S.

Anm. 4, S. 18; GELBERG, Städtepartnerschaften zwischen polnischen und deutschen Städten, Osteuropa-Recht 1980, S. 184 ff, S. 185. 20 Stichwort „Auswärtige Politik" (Bearb.: BERGSTRÄSSER), in: Staatslexikon, hrsg. v.d. Görres-Gesellschaft, l . B d . , 1957, 6. Aufl., Sp.761.

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Wolfgang Graf Vitzthum

nicht dar. 21 Die kommunalen Aktivitäten können sich auf die Außenpolitik der Bundesorgane auswirken — Beiträge dazu im Rechtssinne sind sie nicht. Wenn Tomuschat davon spricht, es stehe den Gemeinden frei, „auf ihrer Rangstufe eine eigene kommunale Außenpolitik zu treiben" 2 2 , so ist das zumindest eine falsa demonstratio. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist „Außenpolitik der Gemeinden" ein non-issue. Außenpolitik, geschweige denn eine solche im Gegensatz zur Politik des Bundes, dürfen Gemeinden nicht treiben. 3. Nichts anderes ergibt sich aus völkerrechtlicher Sicht. Das Völkerrecht nimmt grundsätzlich nicht einmal von den Gliedstaaten eines Bundesstaates Notiz. Gemeinden sind keine Subjekte des Völkerrechts. 23 Bei ihren Auslandskontakten handeln sie auch nicht als Repräsentanten oder als Organe des Staates. 24 Die Mitglieder von Partnerschaftsdelegationen besitzen keinen Diplomatenstatus. Eine eigene („transnationale") Rechtsordnung vermögen grenzüberschreitend kontraktierende Gemeinden nicht zu stipulieren. Nach dem Kehler-Hafen-Urteil des Bundesverfassungsgerichts25 erzeugt der Vertragsabschluß mit einer ausländischen Kommune nicht einmal mittelbare Bindungen völkerrechtlicher Art zu deren Muttergemeinwesen. Sind Auslandskontakte inländischer Gemeinden völkerrechtlich demnach irrelevant, so korrespondiert dieser international-rechtliche Befund meiner vorherigen verfassungsrechtlichen Aussage. Ein etwaiges (Verfassungs-) Recht auf eine eigene „Außenpolitik" könnten die Kommunen (völker-)vertragsrechtlich nicht umsetzen. Sie sind keine völkerrechtsunmittelbaren Gebietskörperschaften, die sich grenzüber2 1 KONRAD, S. Anm. 6, S. 174. — Kommunale Partnerschaftsvereinbarungen etwa liegen demnach außerhalb des Systems der auswärtigen Gewalt des GG und verstoßen nicht gegen Art. 3 2 Abs. 1 GG. 22

TOMUSCHAT, S. A n m . 6 , S. 1 7 4 .

23

KONRAD, S. A n m . 6 , S. 1 5 7 ;

BLUMENWITZ, S. A n m . 4 , S. 1 8 ;

G E L B E R G , S.

Anm. 17, S. 185. — Die Gemeinden genießen auch keine sekundäre Völkerrechtssubjektivität. 24

KONRAD, S. A n m . 6 , S. 1 6 3 ; BLUMENWITZ, s. A n m . 4 , S. 1 9 . -

Gemeindliche

grenzüberschreitende Partnerschaftsvereinbarungen unterstehen weder Völkerrecht noch innerstaatlichem Recht noch einer Vertragsrechtsordnung sui generis. Sie sind vielmehr eine Art Nichtrechtsvertrag, dem ein nur politischer Bindungswille der Parteien zugrunde liegt. Grenzüberschreitende Städtepartnerschaften stellen mithin nicht mehr dar als gemeindepolitische Handlungsprogramme. 2 5 BVerfGE 2, S. 347, 3 7 4 .

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schreitend rechtsverbindlich zu verpflichten vermögen. Die geltende Meinung im Verfassungsrecht befindet sich also mit dem Völkerrecht im Einklang. Rechtssystematisch gesehen ist es insofern konsequent, daß die Kommunen nach deutschem Verfassungsrecht — nach ausländischem ist dies ohnehin der Fall 26 — bei der innerstaatlichen Willensbildung bezüglich der „Führung des eigenen Staatswesens im Verhältnis zu anderen" nicht mitwirken dürfen. Soweit ersichtlich ist von den Anhängern der Idee, die Gemeinden als dritte Säule im Bundesstaat zu verankern, nie der Gedanke geäußert worden, eine entsprechende „Dritte Kammer" sei wie Bundestag und Bundesrat auch an außenpolitischen Entscheidungen zu beteiligen. 4. Der konsensgefährdete Streit unter dem Banner „kommunale Außenpolitik" dreht sich, tritt man näher, indes nicht um den Anteil der Kommunen an der auswärtigen Gewalt. Im Streit steht vielmehr die Frage, ob die Gemeinden von der Basis der Selbstverwaltungsgarantie aus Aktivitäten entfalten dürfen, die zur Außenpolitik der Bundesorgane in Gegensatz treten, staatliche Gemeinwohlbelange insofern also gefährden können. Mein Thema ist demnach die verfassungsgerechte Zuordnung der Selbstverwaltungskompetenz der Kommunen auf der einen und der Außenpolitikkompetenz des Bundes auf der anderen Seite. Sedes materiae ist Art. 28 Abs. 2 GG. Da Auslandsrelevanz weder 2 6 In der Schweiz ist - ähnlich wie in der Bundesrepublik - grundsätzlich zwar der Bund zuständig für die Außenpolitik (Art. 8, 10 Abs. 1 BV), doch dürfen die Kantone mit untergeordneten auswärtigen Stellen auch unmittelbar Kontakt aufnehmen (Art. 1 0 Abs. 2 BV). Die Gemeinden sind autonom (HANGARTNER, Grundzüge des schweizerischen Staatsrechts, Bd. 1, 1 9 8 0 , S. 1 5 3 ) ; ihnen steht nichts im Wege, ebenfalls mit ausländischen kommunalen Gebietskörperschaften zu kooperieren (WITMER, s. Anm. 2 , S. 1 8 1 ) . - In Frankreich ist ausdrücklich vorgesehen (Art. 6 5 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 8 2 - 2 1 3 vom 2 . 3 . 1 9 8 2 , J. O., 1 9 8 2 , S. 7 3 0 ) , daß der Regionalrat mit Genehmigung der Regierung mit angrenzenden ausländischen kommunalen Gebietskörperschaften Kontakte unterhalten darf; Sondervorschriften gibt es für Guadeloupe, Guyana, Martinique und Réunion (Art. 9 des Gesetzes Nr. 8 2 - 1 1 7 1 vom 3 1 . 1 2 . 1 9 8 2 , J. O., 1 9 8 3 , S. 1). Trotz ähnlicher verfassungsrechtlicher Vorschriften - Art. 7 2 frz. Verf. garantiert die kommunale Autonomie — ist hier ein selbständiger Auslandskontakt nicht möglich (vgl. AUXTERIER, L'action extérieure des régions, cahiers juridiques franco-allemands, Nr. 4, 1 9 8 4 ; WITMER, s. Anm. 2 , S. 1 3 5 [a. A. DUPUY, La coopération régionale transfrontalière et le droit international, AFDI 1 9 7 7 , S . 8 3 7 f f , 849]).

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neue Kompetenzen schafft, noch Zuständigkeitsschranken niederlegt, müssen sich die einschlägigen Aktivitäten auf den Zuständigkeitsrahmen der Kommunen gegenüber anderen Verbänden, aber auch gegenüber ihren eigenen Bürgern beschränken. Auch ihre internationalen Kontakte und Stellungnahmen dürfen sich nur mit kommunalen Angelegenheiten befassen. Auslandsbezug entbindet weder von der Verfassungsraison noch vom Gebot der Loyalität gegenüber der Staatsordnung. Der Streit dreht sich damit um die Grenzen der gemeindlichen Selbstverwaltung, insbesondere um den Begriff des „örtlichen Wirkungskreises". 27 Im Kern geht es dabei um das Erfordernis des konkreten Betroffenseins. 28

III. Örtlicher Wirkungskreis und auslandsrelevante Stellungnahme 1. Am 30. Juli 1958 umschrieb das Bundesverfassungsgericht in seinem Atombefragungsurteil 29 die Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises bekanntlich als „Aufgaben, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf die örtliche Gemeinschaft einen spezifischen Bezug haben und von dieser örtlichen Gemeinschaft eigenverantwortlich und selbständig bewältigt werden können. Die Gemeinde kann zwar gegen eine sie speziell berührende staatliche Maßnahme protestieren (z. B. wenn sie als Einfuhrhafen durch einen neuen Zolltarif empfindlich geschädigt wird); sie überschreitet aber die ihr gesetzten rechtlichen Schranken, wenn sie zu allgemeinen, überörtlichen, vielleicht hochpolitischen Fragen Resolutionen faßt, oder für oder gegen eine Politik Stellung nimmt, die sie nicht als einzelne Gemeinde besonders trifft, sondern der Allgemeinheit — ihr nur so wie allen Gemeinden — eine Last aufbürdet oder sie allgemeinen Gefahren aussetzt. Die Abgrenzung im einzelnen kann hier offen bleiben. Jedenfalls gehört die Stellungnahme zur Frage der Ausrüstung der Bundeswehr nicht zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungs2 7 BVerfGE 8, S. 1 2 2 , 1 3 4 ; HOFMANN, S. A n m . l , S. 1 2 0 ff; SCHMITT-KAMMLER, s. A n m . l , S . 8 7 1 ; ROTERS, S. Anm. 17, R d n . 4 0 f f ; MAUNZ, S. Anm. 17,

Rdn. 61 ff. 28

B V e r f G E , e b d . ; SCHMITT-KAMMLER,

S. A n m . 1 , S. 8 7 3 ; T H E I S , S. A n m . 1 ,

S. 423; Süss, s. Anm. 1, S. 517; sehr weitgehend HOFMANN, S. Anm. 1, S. 126. 25 BVerfGE, ebd.

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kreises und deshalb nicht zu den hoheitlich zu erledigenden Aufgaben der Gemeinde. Die Gemeinde mag berechtigt sein, sich mit einer Entschließung ihrer Verfassungsorgane gegen die konkrete Absicht zu wenden, auf ihrem Gemeindegebiet einen Atomreaktor, einen Flugplatz, eine militärische Anlage, z.B. eine Abschußbasis für Atomsprengkörper, zu errichten, sie ist aber nicht befugt, sich in derselben Weise gegen die Anlage von Atomreaktoren, Flugplätzen, militärischen Anlagen schlechthin zu wenden." Auf diese Formulierung des Örtlichkeitsmerkmals hat das Gericht auch in jüngeren Entscheidungen zurückgegriffen.30 Der örtlich radizierte oder speziell ortsgemeinschaftsbezogene Wirkungskreis bildet demnach Grundlage und Schranke des gemeindlichen Kompetenzbereiches. Auf „den Staat abzielende Initiativen oder von ihm herrührende Anliegen" sind „ausgeschlossen."31 Gewiß, die inhaltliche Auffüllung des Begriffes „örtliche Gemeinschaft" ist schwierig, hat sie doch von einer räumlich-territorialen Komponente auszugehen und daneben auch soziale Bezüge zu berücksichtigen. Aber was insoweit „örtliche Gemeinschaft" ist, ist zwischen „funktionalistischem" und überkommenem „substantialistischem" Selbstverwaltungsverständnis nicht strittig. Keine einzige Selbstverwaltungstheorie ordnet den Gemeinden schon alle die Agenden zu, die den Rechts- und Interessenkreis der Gemeinde und ihrer Bürger irgendwie tangieren. Kompetenzbegründend ist nicht ein Betroffensein — andernfalls dürften Polizei und Gerichte, die zweifellos die Gemeindebürger „treffen", schon allein deshalb kommunalisiert werden —, sondern die örtliche Radizierung oder der spezifisch ortsgemeinschaftliche Bezug.32 Außerdem darf die Agende nicht das gemeindliche Bewältigungspotential übersteigen. 2.

Im Fall von allgemeinen außenpolitischen Proklamationen fehlt es an diesen Kompetenzvoraussetzungen. Die Gemeinden handeln hier ebenso ultra vires wie etwa bei generellen energiepolitischen Stellungnahmen.33 Natürlich weisen auch allgemeinpolitische Fragen räum30

Z . B . BVerfGE 52, S.95, 120.

31

SCHMIDT-JORTZIG, s. A n m . 1 6 , S. 1 6 4 .

BVerfGE, s. Anm. 25. VG Kassel, NVwZ 1983, S . 3 7 2 f ; BayVGH, DVBl 1979, S . 6 7 3 ; VGH Baden-Württemberg, DVBl. 1976, S . 5 3 8 ; BLUMENWITZ, S. Anm. 1, S. 761; MOM32 33

BAUR, s. A n m . 1 , S. 1 9 8 .

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liehe Komponenten, lokale Bezüge auf. Diese bleiben indes letztlich Äußerlichkeiten, gemessen am raumgreifenden, gouvernementalen Schwerpunkt. Die Aufgabe etwa, über eine Neutralisierung der Bundesrepublik zu entscheiden, ergibt sich weder aus den örtlichen Daseinsverhältnissen, noch läßt sie sich von daher bestimmen.34 Das Grundgesetz geht im Grundsatz davon aus, daß die Interessen der örtlichen Gemeinschaft hinsichtlich der ortsgemeinschaftlichen Aufgaben von der Gemeinde selbst, hinsichtlich der allgemeinpolitischen Agenden dagegen von den gesamtstaatlichen Entscheidungsträgern bestmöglich geschützt und gefördert werden. Die spezifische Leistung der Selbstverwaltung — nämlich Auflockerung, Differenzierung, „bürgernahes "Wissen" und Berücksichtigung lokaler Interessen an Stelle von Einheitlichkeit, Gleichförmigkeit, Fachinformation und Berücksichtigung raumgreifender Interessen — kann etwa bei außenpolitischen Angelegenheiten als solchen nicht erbracht werden. Diese verlangen regelmäßig nach großen, nicht nach ortsgemeinschaftlichen Leistungs- und Entscheidungsräumen.35 Die Verfassung hat das berücksichtigt, ja über Art. 24—26 GG sogar die internationale Dimension betont. Die relevante Mehrheit, die außenpolitische Entscheidungen legitimiert, ist generell die der Bundes-, nicht die der Gemeindeorgane. Es kommt hier nicht auf den Gemeinde-, sondern auf den Bundeswillen an. Wer das als Doktrinarismus bezeichnet oder als Formalismus abtut, verfälscht den Wählerwillen. Wer die Legitimationszuweisungsverfahren leer laufen läßt, gefährdet die Demokratie. 3.

Soweit eine gesamtstaatliche Entscheidung örtlich konkrete Auswirkungen zeitigt oder speziell auf die Gemeinde bezogen ist, darf diese sich mit ihr befassen. Das Bundesverfassungsgericht hat das im Atombefragungsurteil36 an den zitierten Beispielen unterstrichen. Ist das Gebiet einer Gemeinde unmittelbar angesprochen, so wird für sie der örtliche Bezug hergestellt. Von der allgemeinpolitischen Entscheidung gehen jetzt Auswirkungen gerade auf diese Gemeinde aus. Über ihre allgemeine Betroffenheit hinaus wird sie spezielles Ziel, wird sie „überschießend" betroffen. Als Stationierungsort etwa wird ihr ein 34

THEIS,

S. A n m . 1 ,

S.423;

GRAF VITZTHUM,

S. A n m . 1 ,

S.206;

Süss,

s.

Anm. 1, S . 5 1 5 . 35 Vgl. bereits SCHNUR, Politische Entscheidung und räumliche Interessen, Die Verwaltung 1970, S. 2 5 7 ff. 36 BVerfGE, s. Anm. 25.

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„Sonderopfer" abverlangt. Die überörtliche Agende und Zielsetzung wird auf die örtliche Gemeinschaft tradiert. Die Gemeinde darf wegen und bezüglich dieser besonderen Last und Aufgabe ihren politischen Willen bilden und äußern. Natürlich darf sich die Gemeinde auch in diesem Fall nicht mit der allgemeinpolitischen Dimension der Entscheidung befassen. Die Kommune bleibt auf eine in den örtlichen Gegebenheiten gründende Argumentation beschränkt. 37 Nach wie vor darf sie sich nur mit örtlichen, ortsgemeinschaftlichen Konsequenzen befassen. Die gemeindliche Kompetenz beschränkt sich darauf, spezifisch kommunale Belange zur Geltung zu bringen. Alles darüber Hinausgehende bezieht sich auf Belange, die sich aus gesamtstaatlichen Anliegen ergeben oder auf dem Umweg über die Gemeinden wieder in diese Richtung zielen. Selbst dann also, wenn sie konkret betroffen sind, bleibt den Gemeinden nur der gemeindepolitische Aspekt als solcher. Sie haben dem Bund zu lassen, was des Bundes ist: die Außenpolitik — das Recht dazu, aber auch die Verantwortung dafür. 4. Die Frage nach Möglichkeiten und Schranken einer auf Art. 28 Abs. 2 GG fundierten „gemeindlichen Außenpolitik" dreht sich deshalb primär darum, inwieweit die Stellungnahme zu einer internationalen Frage — da diese nicht in der Ortsgemeinschaft „wurzeln" 38 kann - den nach Bundesverfassungsgericht alternativ erforderlichen „spezifischen Bezug auf die örtliche Gemeinschaft" aufweist. Die Auseinandersetzungen um diese Frage, bezogen auf „Atomwaffenfreiheits"-Proklamationen, dauern nun schon drei Jahre an. Nach zunächst uneinheitlichem Bild erbrachten sie alles in allem jetzt einen Punktsieg für die „kommunale Außenpolitik", ein gerichtlich sanktioniertes Zurückdrängen des Gesamtstaates, — eine Entwicklung, die im übrigen den allgemeinen antizentralistischen Affekten entspricht, die derzeit in Westeuropa herrschen. Im Zuge dieser Auseinandersetzung verlor der „ortsgemeinschaftliche Bezug" im Ergebnis nahezu alle begriffliche Schärfe. Wie die Spiegel in Cocteau's Filmen wurde diese wichtigste Trennlinie zwischen hier und dort bzw. zwischen „kommunal" und „staatlich" beim Nähertreten fließend. Um zur Arbeit der Zuspitzung beizutragen, stelle ich abschließend diese Auflösung des „Ortsbezuges" als Konturbegriff anhand 37 38

GRAF VITZTHUM, JA 1983, s. Anm. 1, S. 5 6 0 BVerfGE, s. Anm. 2 5 .

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eines Beispieles dar: an den Karlsruhe-Stuttgart-Entscheidungen des V G H Baden-Württemberg.39 Diese Judikate markieren jedenfalls für Baden-Württemberg das Ende des aufsichtsbehördlichen Widerstandes beim „Atomwaffenfreiheits"-Thema. Seither ist nicht nur das Tübinger Stift, sondern auch die Stadt Tübingen unbeanstandet „atomwaffenfrei". Das Philosophische Institut der Freien Universität Berlin hat diesen privilegierten Status nun ja ebenfalls erreicht.

IV. VGH Mannheim: Kompetenz aus möglicher Betroffenheit 1.

Die rechtliche Diskussion des „Atomwaffenfreiheits"-Themas drehte sich in der Bundesrepublik vor allem um zwei Fragen, nämlich zum einen, ob die angegangene Gemeinde für die begehrte Beschlußfassung rechtlich zuständig ist - Frage nach der Verbandskompetenz —, und zum anderen, ob der Vorsitzende der Gemeindevertretung berechtigt ist, die Frage der gemeindlichen Zuständigkeit zu prüfen und bei fehlender Zuständigkeit den Antrag nicht auf die Tagesordnung zu nehmen — Frage nach der Organkompetenz. Die zweite Frage trat im Zuge fortschreitender gerichtlicher Behandlung des Themas in den Vordergrund. Die meisten Verfahren wurden an dieser Organkompetenzfrage entschieden. Den Gerichten schien es nicht unlieb zu sein, auf diese Weise eine Entscheidung über ihre und meine Hauptfrage zu vermeiden. 2. Jene Frage nach der Organzuständigkeit ist je nach Gemeindeordnung unterschiedlich zu beantworten. In Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zum Beispiel besteht kein materielles Prüfungsrecht des Bürgermeisters. 40 Hinsichtlich der Hessischen Gemeindeordnung 39 Urteile vom 2 9 . 5 . 1 9 8 4 , Az. 1 S474/84 (Karlsruhe) und I S 157/84 (Stuttgart); auszugsweise abgedruckt in: VwBlBW 1984, S. 312, 317. - Vgl. demgegenüber V G H Bad.-Württ., Urt. v. 19.1.1977, DVB1 1977, S.345, 346 (atomrechtl. Genehmigung) sowie ders., Urt. v. 3 0 . 3 . 1982, Az. X 582/77, S. 43. 4 0 Für Niedersachsen s. Urteil d. OVG Lüneburg, N V w Z 1984, S.460; für Nordrhein-Westfalen Urteil d. OVG Münster, DVB1 1984, S. 155 und KOTTENBURG/REHN, Gemeindeordnung für Nordrhein-Westfalen, Loseblattsammlung, § 33 Anm. 12, S . B V 73; ebenso für Schleswig-Holstein OVG Lüneburg, DVB1 1984, S. 734, a. A. aber Urteil des VG Schleswig vom 5 . 9 . 1 9 8 4 , Az. 6 A 508/83. Für Rheinld.-Pfalz s. nun OVG Koblenz, DVB1. 1985, S.906 (mit zu Recht kritischer Anmerkung v. UNRUH).

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wiederum erklärte das Verwaltungsgericht Darmstadt in einer Entscheidung 41 , die das Herz jedes Pandekten-Wissenschaftlers hätte höher schlagen lassen, der Stadtverordnetenvorsteher dürfe die verbandliche Zuständigkeit der Gemeinde nicht prüfen. Träfe dies zu, so müßte der Vorsteher einen Antrag vorlegen, mit dem etwa begehrt würde, im Gemeindegebiet die Deutsche Mark als gesetzliches Zahlungsmittel durch den Taler zu ersetzen, den Bundespräsidenten aus der Mitte der Stadtverordneten zu wählen oder die Todesstrafe wieder einzuführen. Es ist ein Verdienst der Entscheidungen des VGH Mannheim, daß sie, jedenfalls für Baden-Württemberg, mit derart unhaltbaren Auslegungen Schluß machen. Das Gericht stützt sich auch auf die Entstehungsgeschichte des fraglichen § 34 Abs. 1 S. 5 GemO B W aus dem Jahre 1955. Damals war erklärt worden, die Bestimmung solle „den Mißbrauch" verhindern, der mit Gemeinderatssitzungen getrieben werden könne, indem kleine Gruppen „immer wieder versuchen, die EVG-Verträge, die Pariser Verträge und die hohe Weltpolitik vor das Forum des Gemeinderats zu bringen und Gelegenheit zu nehmen, dort politische Reden zu halten, für die sie andernorts keine Zuhörer fänden." 4 2 3. Hinsichtlich der Hauptfrage, des Ortsbezuges der „Atomwaffenfreiheits"-Proklamationen, folgt das Gericht zwar nicht den Autoren, die in rabulistischer Manier einfach behaupten, der spezifische Bezug ergebe sich bereits daraus, daß die „atomwaffenfreie" Zone eben nur auf dem Gemeindegebiet errichtet werden solle. 43 Der bad.-württ. V G H folgt im Ergebnis indes den Stimmen, die — wie die Antragssteiler im Falle Stuttgarts, während die im Falle Karlsruhes stärker auf die Gefahren der ABC-Waffen abgehoben hatten — an den Beteiligungsrechten anknüpfen, die den Gemeinden bei militärischen Bauvorhaben etwa nach dem Bundesbaugesetz, dem Schutzbereichsgesetz oder dem Landbeschaffungsgesetz zustehen. 44 Aus diesen Bestimmungen 41 Urteil vom 2 2 . 8 . 1 9 8 3 , Az. V/1 E 428/83, 15; ebenso HOFMANN, S. Anm. 1, S. 118 f. 4 2 So der damalige Innenminister des Landes in der Sitzung des Verwaltungsausschusses des Landtages am 1 . 4 . 1 9 5 5 , zit. n. VGH Baden-Württ., Urteil 1 S 4 7 4 / 8 4 , s. Anm. 39, S.9. 43

Z . B . H U B E R , S. A n m . 1 , S. 6 6 3 .

44

S o DERS., s. A n m . 1 , S. 6 6 3 f.

90

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sei ein Recht zu „präventiver vorzeitiger' Befassung", zu Stellungnahmen im vorhinein abzuleiten, auch ohne daß ein konkretes Vorhaben bereits vorliege: „der provisorische Charakter dieser ,Beteiligung' (ist) kein hinreichender Grund, eine antizipierende Befassung mit möglichen Maßnahmen auszuschließen... Aus der Sicht der Gemeinden erscheint eine Standortwahl zu ihren Lasten daher jedenfalls dann im Bereich des konkret Möglichen, wenn sich auf ihrem Gebiet... bereits militärische Einrichtungen befinden, in denen die Abschußvorrichtungen der neuen Waffen aufgestellt werden können... Die im Antrag angesprochenen Maßnahmen können jedenfalls angesichts der auf städtischem Gebiet vorhandenen militärischen Anlagen den Aufgabenkreis der Stadt berühren."45 Setzt sich diese Argumentation allgemein durch, dann wird man praktisch keiner inländischen Stadt mehr die „Betroffenheit" im verteidigungsstrategischen Bereich bestreiten können. Mehr als ein: „militärische Einrichtungen im Gemeindegebiet vorhanden" wäre ja nicht erforderlich. Und wo, wenn nicht vielleicht auf einer entlegenen Hallig oder Alm, finden sich nicht irgendwelche „militärischen Anlagen"? Die Argumentation des VGH Mannheim verkennt, daß die gemeindliche Stellungnahme nach Bundesbaugesetz, Schutzbereichsgesetz und Landbeschaffungsgesetz auf einzelne Teilaspekte eines Vorhabens beschränkt ist.46 Die Kommune äußert sich beispielsweise zur bauordnungsrechtlichen Seite eines militärischen Bauvorhabens, nicht aber zu seiner verteidigungspolitischen Zweckmäßigkeit. Die betreffenden Gesetze sehen nur ein Recht zur Stellungnahme zu konkreten, räumlich konkretisierten Vorhaben vor.47 Daraus ein Recht zu antizi4 5 Urteil 1 S 157/84 (Stuttgart), S.20, 2 2 ; ebenso HOFMANN, S. Anm. 1, S. 1 2 0 unter Hinweis auf die Gefahr der Schaffung vollendeter Tatsachen. 46

GRAF VITZTHUM, J A 1 9 8 3 , s. A n m . 1 , S . 5 6 0 f .

47

THEIS, s. A n m . 1 , S . 4 2 7 ; S ü ß , s. A n m . 1 , S . 5 1 6 f ; UECHTRITZ, s. A n m . 1 ,

S. 3 3 4 . - Vgl. im übrigen Beschl. des BVerfG (Zweiter Senat, Vorprüfungsausschuß [ Z E I D L E R , ROTTMANN, STEINBERGER]) V. 3 0 . 5 . 1 9 8 3 ,

2 BvR 705/83:

Nichtan-

nahme einer Verfassungsbeschwerde gegen das Verhalten der Bundesregierung gegenüber ABC-Waffen und NATO-Doppelbeschluß (es handele „sich ausnahmslos um verteidigungspolitische Leitentscheidungen, die keinen unmittelbaren Bezug zur Rechtssphäre des Beschwerdeführers aufweisen. Ein solcher Bezug kann erst und allein durch die Umsetzung der Entscheidungen in konkrete Maßnahmen entstehen, die ihrerseits die rechtlich geschützten Interessen des Beschwerdeführers berühren. Derartige Einzelmaßnahmen hat der Beschwerdeführer weder angegrif-

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pierten Stellungnahmen abzuleiten, zu „Vorratsbeschlüssen", um bereits im Vorfeld Bonner Entscheidungen auf die außen- und verteidigungspolitischen Überlegungen der Bundesorgane im Sinne eines institutionalisierten „St.-Florians-Prinzips" einzuwirken, liefe auf ein Recht der Gemeinde hinaus, zu allgemeinen überörtlichen Fragen Resolutionen zu fassen. Gerade ein solches Recht besitzen die Gemeinden nicht. 48 Über gesamtstaatliche Fragen, einschließlich der Frage, wer ggf. verstärkt die Lasten der Allgemeinheit zu tragen hat, darf nicht gliedstaatlich oder gar mittels eigennütziger lokaler Vetorechte entschieden werden. Der außenpolitische Entscheidungsbereich wird von der Gemeinde nicht abgedeckt. In dieser Hinsicht ist die Gemeinde nicht das Ganze, sondern nur ein Teil eines Teiles. Entsprechend eng begrenzt ist diesbezüglich die Reichweite ihrer Kompetenz. 4. Die Zuständigkeitsabgrenzungen zwischen Kommune, Land und Bund haben einen hohen Ordnungswert. Wer diese Abgrenzungen verletzt, gefährdet letztlich den mehrstufigen, freiheitssichernden, totalitätsfeindlichen Aufbau des Staates.49 Die Selbstverwaltungsgarantie verschafft den Gemeinden nicht nur einen Freiraum gegenüber Bund und Land, sondern zieht ihrer eigenen politischen Betätigung

fen noch auch nur benannt."). Zur Gesamtthematik „NATO-Nachrüstung und G G " vgl. nun BVerfGE 68, 1. 4 8 BVerfGE, s. A n m . 2 5 ; Süss, ebd.; UECHTRITZ, S. Anm. 1, S. 3 3 5 . - Wenn HOFMANN, S. Anm. 1, S. 124, es als „paradox" bezeichnet, daß es zwar dem Individualkläger unbenommen ist, sich seiner eigenen Rechte zu wehren, das Geltendmachen allgemeiner Bevölkerungsrisiken indes den juristischen Personen versagt ist, so übersieht er, daß öffentlich-rechtliche Körperschaften sich auch an Kompetenznormen halten müssen - allgemeine Interessen fallen ja nicht unter den Tisch, nur ist es im hiesigen Kontext der Bund, nicht sind es die Gemeinden, die diese wahrnehmen müssen. Hinsichtlich gesaraistaatlicher Agenden hat die Kommune keine weitere Zuständigkeit als die zur Feststellung ihrer Unzuständigkeit. 4 9 Süss, s. Anm. 1, S. 5 1 6 ; vgl. BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 6 . 1 1 . 1 9 8 4 („Zwangsanleihe"), S . 3 4 des Urteilsumdrucks: Die „Formenklarheit und Formenbindung" der Finanzverfassung des Grundgesetzes „hat nicht nur eine lediglich formale Bedeutung, die gegenüber der Verwirklichung materiell-rechtlich gedeckter Vorhaben im Konfliktfall zurücktreten müßte. Sie ist selbst Teil der funktionsgerechten Ordnung eines politisch sensiblen Sachbereichs, verwirklicht damit ein Stück Gemeinwohlgerechtigkeit und entfaltet eine Schutzwirkung auch für den Bürger. Zugleich bindet und entlastet sie den politischen Prozeß, indem sie ihm einen festen Rahmen vorgibt."

92

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gleichzeitig Schranken. Nur wer diese respektiert, kann sich gegen Ubergriffe von Bund und Land auf die Gemeindeautonomie berufen. Kommunales Übergreifen in staatliche Zuständigkeitsbereiche läßt sich auch nicht mit Gesichtspunkten der Demokratie rechtfertigen. Im Gegenteil, wer so argumentiert, verfälscht und mißbraucht den Wählerwillen. Nicht ohne Grund sind die Mehrheitsverhältnisse in den Volksvertretungen von Bund, Ländern, Kreisen und Gemeinden häufig unterschiedlich — die Wähler treffen unter den sich bewerbenden Parteien und Vereinigungen für die konkreten Aufgabenstellungen insofern bewußt unterschiedliche Entscheidungen. Bismarck hat einmal von der Täuschung über die realen Machtverhältnisse gesprochen. Wer in unzuständigen Gremien Beschlüsse herbeiführt, für die er in den zuständigen keine Mehrheit findet, täuscht über das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit und untergräbt die Achtung vor der Demokratie. Die Antwort auf die totalitäre Politisierung von oben im NS-Staat und in den „Volksdemokratien" kann nicht in der totalen Politisierung des freiheitlichen, gegliederten Gemeinwesens von unten, von der Gemeindeebene aus, bestehen.

Standortbestimmungen der aktuellen Außenpolitik zwischen Regierung und Opposition KLAUS BÖLLING

Es kann als eine zeitgeschichtlich, womöglich als eine geschichtlich gesicherte Erkenntnis gelten, daß die Integration der Bundesrepublik Deutschland in den Westen ein Verdienst des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer gewesen ist. Sie ist damit sicherlich keine Frage der Christlich Demokratischen Union, und auch nicht jener Mitarbeiter Konrad Adenauers, zu denen damals schon Herr Grewe als junger Völkerrechtler an prominenter Stelle gehörte. Man wird allerdings anmerken müssen, daß es auch in den Reihen der sozialdemokratischen Partei damals Bemühungen gegeben hat, einen Konsensus herzustellen. Es gab eine sehr entschiedene Opposition von Männern wie Wilhelm Kaisen dem jungen Willy Brandt und Ernst Reuter, später auch von Schmidt, gegen das Konzept Schumachers, der damals der Westintegration und den entsprechenden Verträgen heftig opponiert hat dies kann wohl als eine historisch gesicherte Erkenntnis gelten. Die Ostpolitik wird wohl heute schon als die eigentliche außenpolitische Leistung der sozialliberalen Koalition und der sie tragenden Parteien gelten dürfen. Dies unbeschadet richtiger gedanklicher Ansätze bei Konrad Adenauer in der letzten Phase seines politischen Lebens, unbeschadet solcher Gedanken bei dem langjährigen Außenminister Gerhard Schröder, unbeschadet sehr interessanter, nach vorn weisender Gedanken bei einem lange schon vergessenen und der jetzigen Generation wahrscheinlich völlig unbekannten Mann wie dem damaligen Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Belgrad, Hans-Georg Pfleiderer. 1960 — Herr Prof. Grewe hat, ohne den Namen zu nennen, schon darauf hingewiesen - hat ein Mann wie Herbert Wehner den Anschluß der Opposition an das Konzept der Integration in den Westen

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vollzogen in einer denkwürdigen, zeitgeschichtlich bedeutsamen Rede im Deutschen Bundestag. Er hat eingeräumt, daß es notwendig sei, hier einen Konsensus herzustellen, die Westintegration nicht länger zu verdächtigen, daß sie die Einheit Deutschlands verhindere oder gar für alle Zeiten unmöglich machen würde und heute läßt sich fragen, ob es nicht an der Zeit ist, daß nun auch die Konservativen eine ähnliche Erklärung im Interesse der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland geben, durch wen auch immer. Sie müßte dahingehend lauten, daß die Ostpolitik im Interesse der Deutschen — in beiden Staaten meine ich damit — genauso zwingend, genauso ohne Alternative war und ist wie seinerzeit die von Konrad Adenauer vollzogene Integration des westlichen Deutschland in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien. Nun wird häufig eingewendet, und es ist hier auch schon gesagt worden, daß es so etwas wie Kontinuität in der Deutschlandpolitik ganz sicherlich gibt. Ich will das auch nicht in Bausch und Bogen in Zweifel ziehen oder benörgeln, aber ich möchte dennoch einige kritische Fragen an diese These knüpfen, daß doch alles in bester Ordnung sei, was die Deutschlandpolitik anbelangt. Ich glaube allerdings, und will das vorwegschicken, daß die Chance für eine Ost- und Deutschlandpolitik des Konsensus zwischen Regierung und Opposition nicht einmal so ungünstig sind, daß aber die tatsächlichen Voraussetzungen mir einstweilen noch nicht gegeben zu sein scheinen, und zwar deshalb nicht, weil es einen mehr oder minder verdeckten Dissens über die konkreten Inhalte der Ost- und Deutschlandpolitik in den Reihen der CDU/CSU gibt. Die Bemerkungen des Bundespräsidenten anläßlich des Besuchs des rumänischen Staatsund Regierungschefs Ceausescu über die Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen scheint mir eines der wichtigsten politischen Daten der ganzen letzten Jahre zu sein. Wenige Zeitungen nur in der Bundesrepublik oder in West-Berlin haben das — wie ich finde — richtig gewürdigt, und die Besonderheit des Amtes hat wohl den Bundespräsidenten auch davor geschützt, daß er von anderen, die sonst sehr schnell mit kritischen Bemerkungen zur Stelle sind, dieses Satzes wegen angegriffen worden ist. Die Äußerung des der Union angehörenden Staatsministers im Auswärtigen Amt, Alois Mertes, scheint mir auch in die richtige Richtung zu weisen. Mertes hat unlängst gesagt — und auch diese Äußerung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat wenig Beachtung gefunden, dennoch scheint sie mir ganz wichtig zu sein —, die deutsche Frage sei im Kern nicht die Frage der Grenzen und des

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Territoriums, sondern die Frage der Selbstbestimmung und der Freiheit. Auch die Versicherung eines Mannes wie des bayerischen Ministerpräsidenten Franz-Josef Strauß, daß der Grundsatz pacta sunt servanda zu gelten habe, kann die Entwicklung in die Richtung eines ost- und deutschlandpolitischen Konsensus fördern. Mißverständlich allerdings, weil m. E. gedanklich ungenau, sind bis zum heutigen Tage Äußerungen einiger Politiker der Union, aber auch des Bundeskanzlers selbst, der verschiedentlich entweder auf die Wiedervereinigungsformel in der Façon der Adenauer-Zeit zurückgegriffen hat und auch immer wieder zurückgreift, und ein andermal dann die Freiheit den Kern der deutschen Frage nennt und dann wiederum die Einheit der Nation beschwört. Mir scheint das nicht stringent zu sein, in sich unklar, und da wir Deutsche in unserer Geschichte so viele Male durch Unklarheit Mißverständnisse geweckt haben, für die wir dann nachher zu zahlen hatten, fände ich es wünschenswert, wenn der Regierungschef gerade in der Deutschlandpolitik möglichst bald, auch im Interesse der Herstellung eines verläßlichen Konsensus zwischen seiner Partei und der Opposition, hier gedankliche Klarheit zu leisten versucht. Wer aus der Präambel zum Grundgesetz meint den Schluß ziehen zu sollen — und auch dieses ist eine kritische Bemerkung an die Adresse nicht der gesamten Bundesregierung, eher des Regierungschefs - daß wir es mit einem Wiedervereinigungsgebot zu tun haben, der setzt sich, nach meiner subjektiven Meinung, dem Verdacht aus, daß er den Grundlagenvertrag mit dem Dolus ansieht, die staatliche Existenz der DDR sei nur etwas temporäres. Es handele sich, wie einst Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger gesagt hat, gleichsam um ein Phänomen. Die Politik des Aufsaugens der DDR, das wissen wir alle, wird heute sicherlich von niemandem mehr offen deklariert, aber in der gedanklichen Substanz ist sie gleichwohl noch vorhanden. Es ist nicht mehr en vogue, es entspricht nicht mehr dem Zeitgeist, das so offen zu sagen, und deshalb sind jene, die dieser Vorstellung anhängen, auch nicht so leicht zu identifizieren, aber dann und wann geben sie sich dennoch zu erkennen. Wenn wir es aber ernst meinen, ehrlich meinen mit dem Grundlagenvertrag, der ja tatsächlich die wichtigste Basis für den Umgang mit dem anderen deutschen Staat ist, dann werden wir auch den Artikel 1 dieses Vertrages ernstzunehmen haben, in dem die Entwicklung nachbarschaftlicher Beziehungen für die Zukunft postuliert wird. Das aber läßt sich nun überhaupt nicht vereinbaren mit solchen Begriffen, wie ich sie vorhin aus Reden des Bundeskanzlers zitiert habe, nicht in polemischer Absicht, sondern

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nur um klarzumachen, daß auf dem Wege zu einem wirklichen Konsensus noch allerhand gedankliche und emotionale Barrieren bei einigen zu überwinden sein werden. Wäre es so, daß man insgeheim die DDR noch als ein Phänomen betrachtete, es nur nicht mehr offen eingesteht, dann würde das nach meiner Einschätzung ganz unvermeidlich zu einer weiteren Abgrenzung zwischen den beiden deutschen Staaten führen mit unguten Konsequenzen für die betroffenen Bürger, zumal in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Abwesenheit einer demokratischen Legitimation — und daraus mache ich nun ein wirkliches Argument — in der DDR sollte von uns auch künftig nicht übersehen oder als eine Art quantité négligeable geringgeschätzt werden. Doch, die von uns im Grundlagenvertrag anerkannte Gleichberechtigung, sprich Souveränität des anderen deutschen Staates muß unsere faktische Politik gegenüber der DDR bestimmen. Was in der Vergangenheit galt, wird auch für die Zukunft zu gelten haben. Fortschritte im Normalisierungsprozeß sind nicht gegen die DDR erreichbar, sondern nur mit ihr, nämlich durch Interessenausgleich. Ich weiß, wie ungemein banal dieser Gedanke ist, und dennoch scheint er in die Köpfe mancher unserer Landsleute nur sehr zögerlich einzudringen. Die Kontinuität unserer Deutschlandpolitik kann nur gesichert werden, wenn wir das Geflecht der Abmachungen und Verträge mit der DDR enger knüpfen. Eine Gefühlsgemeinschaft der Deutschen kann nur gelingen, wenn man mit dem anderen Staat in Tuchfühlung bleibt und ihn als gleichberechtigt anerkennt, ohne daß man deshalb die kritischen Vorbehalte gegen die innere Ordnung der DDR irgendwann aufgibt oder diesen Staat zu schönen beginnt, aber man wird ihn auch nicht überfordern dürfen. Regierung und Opposition sollten sich im Nachdenken über die sogenannte offene deutsche Frage nicht auf mögliche Formen der Vereinigung konzentrieren, sondern vielmehr konzentrieren auf die noch nicht genutzten Möglichkeiten nachbarschaftlicher Kooperation und auf die Möglichkeiten dieser beiden Staaten zu einer dauerhaften Friedensordnung in Europa beizutragen, die das Sicherheitsbedürfnis unserer Nachbarn im Westen wie im Osten adäquat befriedigt. Ein weiteres Argument: Im Interesse des friedlichen und für die Bürger in beiden deutschen Staaten ersprießlichen Umgangs miteinander müssen die heute noch engen, aber auf beiden Seiten vorhandenen Spielräume in den jeweiligen Allianzen genutzt werden. Neutralistische Stimmungen könnten nach meiner Einschätzung nur dann oder erst dann an politischer Relevanz gewinnen, wenn der sacro egoismo der

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beiden Führungsmächte die Diskussion über die deutsche Identität sozusagen als Fahnenflucht verdächtigt, was dann und wann im Westen ja schon geschehen ist. Bundespräsident von Weizsäcker hat in einer Zusammenstellung seiner Aufsätze in einem Buch Europa das Widerlager der Vereinigten Staaten von Amerika genannt. Daraus resultiert, mich sehr überzeugend, wir haben einen Anspruch darauf, an dem noch nicht vorhandenen Entwurf einer gemeinsamen westlichen außen- und sicherheitspolitischen Strategie der Vereinigten Staaten beteiligt zu werden und unsere nationalen Interessen — und da denke ich jetzt für die DDR einen Augenblick mit — in das Bündnis einzubringen, dem wir angehören. Analog gilt das selbstverständlich auch für die DDR unter dem Dach des Warschauer Paktes. Konsens in der Ost- und Deutschlandpolitik verlangt, wie ich meine, von den Konservativen das konsequente Weiterdenken der Ansätze von Weizsäcker und Mertes, sprich, die klare Absage an die Gedankenwelt der Vertriebenenverbände und ihrer parlamentarischen Anwälte im Bundestag. Wer verhindern will, daß der nach meiner Meinung für uns unbekömmliche Neutralismus eines Tages zu einer wirklichen Strömung bei uns wird, der muß dann allerdings auch auf wirklicher Partnerschaft im Bündnis bestehen. Konsultationen sind nicht genug, sie sind uns viele Male über die Jahrzehnte versprochen worden. Sie sind auch partiell geleistet worden, sie waren aber oft genug nur die freundliche Façon für die Arroganz der Supermächte, denn diese Erfahrung hat die Führung in der DDR ganz sicherlich genauso gemacht wie die wechselnden Bundesregierungen. Ich komme zum Schluß: Eine neuerdings mehrfach geäußerte Zustimmung der Vereinigten Staaten zur Deutschlandpolitik der Bundesregierung will ich überhaupt nicht als taktisch verdächtigen, ich fand das gut, daß derartiges geäußert worden ist. Nur nimmt es mir, und vielen anderen bei uns im Lande nicht die Sorge, daß es zwischen amerikanischen Großmachtinteressen und deutschen Interessen doch zu einem Konflikt kommen kann. Tatsächlich ist es zu Konfliktsituationen ja schon zu jener Zeit gekommen, als Herr Grewe Botschafter der Bundesrepublik in Washington gewesen ist. Dieses ist etwas ganz unsensationelles, aber wir befinden uns wohl an einem Scheidewege im Zeichen der phantastisch überfüllten Arsenale nuklearer Waffen und der Gefahr, daß Konfrontationen zwischen den beiden Weltmächten irgendwann nicht mehr steuerbar sind. Bestätigt sich die Einschätzung, daß der Präsident der Vereinigten Staaten in seiner zweiten Amtsperiode als Friedensstifter zu wirken wünscht, was manche klugen Leute heute schon meinen vorhersagen zu können,

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dann läßt sich auch auf eine vertiefte Kooperation zwischen den beiden deutschen Staaten hoffen und eine solche Entwicklung würde den Konsensus in unserem Parlament sicherlich ungemein fördern. Denn das, was gemeinsames Handeln in der Außenpolitik im Augenblick so sehr erschwert, war ja die unterschiedliche Einschätzung der Motive der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik zwischen den die Regierung tragenden Parteien und den opponierenden Sozialdemokraten. Es wäre wünschenswert, es käme so. Wenn aber dann doch solche Kräfte in Washington sich künftig durchsetzen, prävalieren sollten, deren Motto in der Vergangenheit lautete, „eager to reduce the Soviet Union to a regional power", dann könnte sich verspätet bewahrheiten, was Andropov uns kurz vor seinem Tode prophezeit hat, daß die Deutschen nämlich nur noch durch einen Raketenzaun Gelegenheit haben sich zu betrachten. Regierung und Opposition hätten durchaus eine Chance für eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik, was in einem geteilten Land ohne jede gegenständliche Perspektive für eine Vereinigung hilfreich wäre. Ich sehe eine solche Chance, nur die wichtigste Prämisse für eine solche Konsensbildung ist — und das mag manchen Völkerrechtlern häßlich in den Ohren klingen, und manche Völkerrechtler verweigern sich ja auch dieser Erkenntnis —, daß wir den Status quo in der Territorial- und Grenzfrage anerkennen. Wir haben uns damit schon viel zuviel Zeit gelassen. Hier ist nämlich dem Außenminister unserer westlichen Republik zuzustimmen, der sich mit solcher Klarheit sehr spät, aber vielleicht nicht zu spät unlängst geäußert hat. Die Diskussion über die Grenzfrage habe Verwirrung gestiftet, hat Herr Genscher gesagt. Ich glaube, er hat recht und man könnte sogar etwas pointierter sagen, die Diskussion über Grenzfragen stiftet Zweifel an unserer Berechenbarkeit und begünstigt den Verdacht der östlichen Nachbarn, daß es in der Bundesrepublik Deutschland tatsächlich vielleicht noch Relikte, Rudimente, vielleicht aber auch mehr an Revisionismus und Revanchismus gibt. Daß das alles maßlos überzeichnet worden ist, davon braucht mich niemand zu überzeugen. Aber daß diese Diskussion, die immer noch weiter wabert, diesen Verdacht da und dort stärkt und nicht nur willkommene Munition für konservativ-stalinistische Gruppierungen im Osten ist, steht für mich außer Zweifel. Ich will nicht verschweigen, daß zu dem Thema Konsensbildung in der Deutschland- und Ostpolitik natürlich auch gehört, daß als erster Bundeskanzler seit Konrad Adenauer der jetzt amtierende Bundeskanzler, wie mir schien ohne Not, wiederholt vor Vertriebenenverbänden aufgetreten ist, wobei die

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Gerechtigkeit zu sagen gebietet, daß er nicht in allen Fragen denen zum Mund geredet hat, das immerhin wird zu respektieren sein. Die Politik der mehr oder minder offensiven Behauptung von Rechtstiteln hat uns Deutschen nichts gebracht. Im Gegenteil, unsere Nachbarn im Osten und im Westen sind von neuem skeptisch geworden. Hitlers Angriffskrieg ist zwar bei uns von vielen verdrängt worden, von unseren Nachbarn aber nicht vergessen worden. Was in den Ostverträgen über Gewaltverzicht und über die Grenzen gesagt worden ist, das muß im wohlverstandenen Interesse der Deutschen auch in Zukunft gelten; daran ändert nach meiner — das will ich unterstreichen — subjektiven Überzeugung auch die Tatsache nichts, buchstäblich gar nichts, daß diese Verträge unter dem Vorbehalt eines Friedensvertrages mit ganz Deutschland stehen, denn diesen Friedensvertrag halten wohl die meisten von uns für die vorhersehbare Zukunft für nichts anderes als eine Chimäre oder eine eitle Hoffnung. Den Brief zur deutschen Einheit, von dem Herr Grewe geredet hat, den können wir nicht nur mit gutem Gewissen vertreten, den sollten wir auch mit gutem Gewissen in Zukunft vertreten. Keine der Parteien, der etablierten oder der neuen, sollte den Eindruck erwecken, daß dieser Brief besser vergilbt. Wobei zu sagen ist, das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen ist so wenig ein Abstraktum wie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser. Es muß die Rechte der Nachbarn und deren Sicherheitsinteressen berücksichtigen. Es ist darum unsinnig, immer wieder über den Begriff der Sicherheitspartnerschaft zu streiten und so zu tun als ob jene, die diesen Gedanken vertreten, eine sogenannte Äquidistanz der Bundesrepublik zu den beiden Weltmächten postulieren wollen. Die Sicherheitsbedürfnisse der Sowjetunion sind sicherlich übersteigert, aber, und auf dieses Argument lege ich Wert, der Anspruch der Sowjetunion auf Sicherheit ist moralisch dem Anspruch der Amerikaner in keiner Weise unterlegen. Ich möchte mit einem Zitat aus dem gerade dieser Tage veröffendichten Bericht der internationalen Gruppe des Aspen Instituts schließen, und ich glaube, daß dieser Gedanke für unsere Außenpolitik überhaupt eine wichtige Maxime in der Zukunft sein soll. Es heißt dort: „Es ist von entscheidender Bedeutung, daß die führenden Politiker in Ost und West der Verlockung widerstehen, „Überlegenheit" anzustreben. Keine Seite wird der anderen gestatten, „Überlegenheit" zu gewinnen und Versuche, diesen vermeintlichen Vorteil zu erlangen, sind ebenso gefährlich wie illusorisch. Solche Versuche unterminieren die Sicherheit aller, und sie führen nur zu einer weiteren Verschlechterung der Ost-West-Beziehungen. Parität und Stabilität sollten das Ziel

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sein. Es ist die Pflicht der politischen Führer in Ost und West, dieses Gleichgewicht auf möglichst niedriger Ebene zu bewahren." Und ich will diesem Zitat nur noch den einzigen Satz hinzufügen, daß genau dieser Gedanke im wohlverstandenen Interesse beider deutscher Staaten von deren Regierungen in Bonn und in Ost-Berlin gegenüber ihren Führungsmächten mit etwas mehr Mut und auch mit etwas mehr Phantasie vertreten werden sollte.

Colloquium 2

Politischer Konsens und sozialer Konflikt Zur aktuellen Geltung des Sozialstaatsprinzips

Z u r Einführung

HELLMUTH BÜTOW

Die Themenstellung dieses Teils wirkt suggestiv und zugleich provozierend; suggestiv, insofern unterstellt wird, es bestünde hinsichtlich der Frage des Sozialstaates ein grundsätzlicher politischer Konsens und es sei lediglich die Weise seiner Realisierung, die in Konflikt geraten sei oder zu sozialen Konflikten geführt habe oder führen könne. Wäre dem aber so, hätte es wohl genügt, sich über das zu besprechen, was zumindest von Teilen der Öffentlichkeit als disproportionaler Abbau dieses Sozialstaates wahrgenommen wird, einschließlich der hieraus ableitbaren sozialen Folgen und dem in diesen enthaltenen vermeintlichen oder tatsächlichen Konfliktpotential. Die einzelnen Themenstellungen belegen jedoch, daß die Fragestellungen durchaus darauf zielten, provozierend zu prüfen, ob denn überhaupt (noch) von einem politischen Konsens hinsichtlich des Sozialstaatsprinzips gesprochen werden könne oder ob sich hinter dem, was als sozialer Konflikt figuriert werden kann, nicht weitergehende Infragestellungen verbergen, ob der konstatierte Abbau oder Umbau des Sozialstaates in letzter Instanz nicht doch Elemente einer Aufkündigung des bis dahin gesichert erscheinenden Einverständnisses enthalte. Solches scheinen zumindest jene Themenstellungen anzudeuten, die — mit Entgegensetzungen operierend — darauf hinweisen, daß das, was Konsens genannt wird, nur dann als existent angenommen werden kann, wenn mit Begriffen so umgegangen wird, als seien sie selbstverständlich, wenn Begriffe, mit denen bestimmte Sachverhalte bezeichnet werden, in ihrer relativen Unbestimmtheit verbleiben und damit weithin von dem abgesehen wird, was in den durch sie bezeichneten Sachverhalten an Spannungen und Widersprüchen wahrgenommen werden kann. Damit wäre allerdings auch die Frage gestellt, ob möglicherweise der festgestellte politische Konsens über das Sozialstaatsprinzip eine mehr sprachliche Leistung denn eine

Zur Einführung

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politische war oder ist. Die Art des Fragens scheint diesen Verdacht nahezulegen. Dienen nun die sozialstaatlichen Errungenschaften eher der Verwirklichung von Freiheit, oder gefährden sie diese (von Arnim); ermöglichen sie demokratische Zukunftsvorsorge, oder dienen die einem fortschreitenden Prozeß der bürokratischen Instrumentalisierung (Hartwich); bringt der Sozialstaat eine zunehmende Entmündigung des Bürgers mit sich, oder hilft er den Bürgern bei dem, was Selbstverwirklichung genannt wird (Engels); gestatten sozialstaatliche Bemühungen wirklich eine Synthese zwischen dem Absolutismus der Mehrheit und einer grenzenlosen Autonomie der Wirtschaft (Vogel) ? Diese und andere von den Autoren präzisierte Fragestellungen erfahren dort eine Zuspitzung, wo der politische Konsens über das Sozialstaatsprinzip als brüchig bezeichnet wird (Schroeder) oder gar gesagt wird, dieses Prinzip sei auf absehbare Zeit weder praktikabel noch realistisch und seine normativen Prämissen würden von wichtigen gesellschaftlichen und politischen Gruppierungen nicht mehr (?) getragen (Offe). Angenommen, dem sei so, und unterstellt, es sei nunmehr etwas fraglich geworden, das es gegeben habe - eben den Konsens über den Sozialstaat — und weiterhin unterstellt, der sich vollziehende Abbau des Sozialstaates wirke im sozialen Bereich marginalisierend und damit zumindest potentiell konfliktsteigernd, dann ist es nur konsequent zu fragen, welche politischen und sozialen Funktionen diejenigen Kräfte wahrnehmen können, die sich selbst als alternative Kräfte verstehen (Grühn), die jedoch zugleich im weiten Sinne des Wortes als Versuche zur Selbsthilfe zu erkennen sind. Stimmen die Diagnosen, ließe sich zugespitzt formulieren, was da allenthalben alternativ einsetzt, wird auf eine verquere Weise »staatstragend«, insofern alternativ geplante Selbsthilfen den Sozialstaat entlasten und seinen Abbau konfliktfreier möglich werden lassen, als dies ohne sie der Fall wäre. Wäre es nicht möglich, diese durch den Abbau des Sozialstaates mobilisierten Kräfte der Selbsthilfe als solche des Marktes zu verstehen, als Kräfte, die gegen die Diktatur des Wohlstands wirken, gegen weitergehende Bürokratisierung, gegen Freiheitsvernichtung und Entmündigung, gegen den Staat als Steuerstaat? Dienen diese Kräfte womöglich neuen Formen einer wenn auch bescheideneren Wohlstandssicherung, und tragen sie womöglich dazu bei, selbst das Legitimationsproblem zu lösen, es wenigstens auf eine tragfähigere Basis zu stellen? Wäre dem so, würde ein zugegebenermaßen problematischer und zugleich boshafter Schluß zulässig: Die Folgen der Wohlstandsdik-

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tatur können so arg nicht gewesen sein zum Beispiel im Blick auf die sogenannte Entmündigung; der Sozialstaat scheint weniger verschüttet zu haben als angenommen; zugleich aber scheint auch der Abbau des Sozialstaates nicht die Folgen zu zeitigen, die die einen befürchten und andere erhoffen mögen. Erweisen sich viele Bürger weitaus mobiler als angenommen, so wirkt ihre Mobilität, soweit sie über Selbsthilfe geleitet wird, eher integrierend als konfligierend. Sollte dies so sein, hätten wir es mit einer Frage zu tun, die des Nachdenkens wert ist. Die durch den Abbau des Sozialstaates bedrängten Gruppen beantworten dieses Geschehen, sobald sie sich zur Selbsthilfe entschließen, mit einer Integrationsleistung, von der sie wahrscheinlich selbst kein Bewußtsein haben. Eine neue Fragestellung wird zulässig: Ist der Abbau des Sozialstaates der Beginn neuer Prozesse einer sozialen und politischen Integration, einer Integration, die zwar vielen suspekt erscheinen mag, weil ihr mehr darwinistische als demokratische Züge eignen? Mich würde das nicht sonderlich überraschen: Leben wir doch in einer Gesellschaft, in der der Markt regiert und fehlt dem Unterliegen am Markt doch weithin der politische Stachel.

Die Entwicklung des deutschen Sozialstaates zwischen bürokratischer Instrumentalisierung und demokratischer Zukunftsvorsorge HANS-HERMANN HARTWICH

Vor einhundert Jahren, im Juni 1883, im Juli 1884 und im Juni 1889, gelang es Reichskanzler Otto von Bismarck mit dem ArbeiterKrankenversicherungsgesetz, dem Unfallversicherungsgesetz und dem Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz, den „Staatssozialismus" wie man es nannte — gegen das widerstrebende, weil im Zeichen des Liberalismus groß gewordene deutsche Bürgertum (Walter Bußmann) einzuführen. Was hat sich demgegenüber heute geändert? Um dies zu beurteilen ist es nützlich, auf die ursprünglichen Zielsetzungen deutscher Sozialstaatlichkeit konservativer Provenienz zu schauen. Aufgabe des Staates sei es — so hieß es in der Kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 —, „durch zweckmäßige Einrichtungen und durch Verwendung der zu seiner Verfügung stehenden Mittel der Gesamtheit das Wohlergehen aller seiner Mitglieder und namentlich der schwachen und hilfsbedürftigen positiv zu fördern." Könnte so nicht auch eine Regierungserklärung des Bundeskanzlers im Jahre 1984 formulieren? Würde sie es tun? Würde sie soviel Klarheit wagen: „ . . . das Wohlergehen aller und namentlich der Schwachen und Hilfsbedürftigen positiv zu fördern?" Könnte sie sich vornehmen, dies „durch zweckmäßige Einrichtungen" zu verwirklichen? Heute sind es nicht nur, ja gelegentlich nicht einmal „namentlich" die Schwachen und Hilfsbedürftigen. Der Sozialstaat ist für alle da und er ist ein wirtschaftlicher Faktor ersten Ranges. Vor allem aber besitzt er eine institutionelle Ausgestaltung, die den Zweck und die ihm gemäßen Einrichtungen kaum noch zur Disposition der Staatsführung belassen. Dies erscheint als das Signifikante der Entwicklung. Aber haben denn nicht in diesen hundert Jahren tiefgreifende Wechsel politischer

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Systeme auf deutschem Boden stattgefunden? War denn nicht dieser Wilhelminische Staat ein Obrigkeitsstaat, ja ein „Klassenstaat" in einem theoretisch wie empirisch klar begründbaren Sinne? Hat sich, auch unabhängig vom Wechsel politischer Systeme, von Obrigkeitsstaat und Demokratie, vom Wechsel politischer Ambiance, vom Reichtum der Nation, von Wirtschaftswunder ä la Eucken und Krisenbewältigung ä la Keynes, nichts sonst geändert am Sozialstaat? Es sollen in der gebotenen Kürze einige Antworten versucht werden, obwohl es gewiß leichter ist, die Fragen zu formulieren, als fundierte Antworten zu finden. Alle Antworten müssen heute, einhundert Jahre nach dem Beginn deutscher Sozialstaatlichkeit, deren innenpolitischer Kern bekanntlich in dem Versuch lag, der sozialdemokratischen Agitation den Nährboden zu nehmen, von dem nicht bestreitbaren Faktum ausgehen, daß es den politischen Konsens über den Sozialstaat nicht nur als allgemein anerkannten Verfassungsgrundsatz, sondern auch als Maßgabe jeder staatlichen Politik in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung trotz der Beschwörung der „Grenzen" 1 oder des „Molochs Sozialstaat" 2 nach wie vor gibt. Es erscheint nützlich, den Zeithorizont weiter zu ziehen, als es das Grundgesetz vermag, das ja „schon" 35 Jahre, dennoch im sozialstaatlichen Sinne „erst" 35 Jahre alt ist. Denn die größere Zeitperspektive erschließt dem Betrachter einen klareren Horizont und ermöglicht die deutlichere Wahrnehmung bestehender Defizite, Fehlentwicklungen und Konfliktlinien.

I. Ernst Fraenkel hat den „Gedanken der sozialen Geborgenheit" als „einen bedeutsamen und bleibenden Beitrag Deutschlands" zur Entwicklung jenes Staats- und Verfassungstyps bezeichnet, den man „westliche Demokratie" zu nennen pflege.3 Dieser Beitrag sei vom Deutschland des ausgehenden 19. und des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts geleistet worden. „Das Postulat der Vollbeschäftigung, die Institutionalisierung der Vorsorge für den Fall von Krankheit, Unfäl1 So etwa J. STRASSER, Grenzen des Sozialstaats? 1 9 7 9 ; journalistisch: M. JUNGBLUT (Hrsg.), Krise im Wunderland. Neue Wege wagen - Vorschläge zu einer Umorientierung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, 1983. 2 M. JUNGBLUT, Der Sozialstaat wird zum Moloch, in: Die Zeit, Nr. 4 9 , 30.11.1984. 3 E. FRAENKEL, Deutschland und die westlichen Demokratien, 1964.

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len und Invalidität, der Schutz der Arbeitsstelle gegen willkürliche Entlassungen, ganz zu schweigen von den disziplinarrechtlichen und finanziellen Sicherungen, die den Beamten zustehen; alles das beruht ja nicht auf Ideen, die auf englischem, französischem, geschweige denn amerikanischem Boden erwachsen sind. Im Gegenteil: viele dieser Vorstellungen haben sich in jenen Ländern gegen tief verwurzelte, zu Unrecht als demokratisch gepriesene Vorstellungen durchsetzen müssen." Es sei, so Fraenkel, mehr als eine rhetorische Frage, ob die dem Gedanken der sozialen Geborgenheit zugrunde liegenden Prinzipien „in der Gegenwart nicht bereits die Gültigkeit von Sätzen des Naturrechts beanspruchen können." (S. 33) Die Hinweise Fraenkels sind richtig, bedeutsam und auch für die gegenwärtige Lage erhellend. In der langen sozialpolitischen Tradition Deutschlands — und nicht zuletzt der damit verbundenen langen Tradition einer sozialrechtlichen Verwaltung — liegt es sicher vor allem begründet, weshalb die „Wende" ab 1982 hierzulande nicht wie in Großbritannien und in den USA die Form radikaler Ignorierung sozialer Not annehmen konnte. Aber Fraenkel hat auch, wie ich schon 1973 in der FraenkelFestschrift nachzuweisen versuchte 4 , den gravierenden Unterschied zwischen der Sozialpolitik des Wilhelminischen Obrigkeitsstaates und der Weimarer Demokratie zu wenig beachtet. In beiden politischen Systemen wurden soziale Einrichtungen mit bleibender Wirkung geschaffen, die heute noch die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland prägen. Man kann durchaus von einem monarchischobrigkeitsstaatlichen und einem republikanisch-demokratischen Erbe deutscher sozialstaatlicher Tradition sprechen. Aber: Zwischen Idee und Prinzipien der kaiserlichen Sozialversicherungspolitik einerseits und den tragenden Grundsätzen des in der Weimarer Republik eingeführten kollektiven Arbeitsrechts (einschließlich der Arbeitsvermittlung, der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitsgerichtsbarkeit) andererseits gibt es fundamentale Unterschiede, die sich vor allem auf das Staats- und Gesellschaftsverständnis und damit auf die innere Einstellung der Sozialbürokratie und die sie tragenden sozialen Gruppen beziehen. Der Gedanke „sozialer Geborgenheit" muß als ein tragendes Prinzip jener sozialpolitischen Maßnahmen angesehen werden, die auf der 4 H.-H. HARTWICH, Der soziale Gedanke im deutschen Staatsverständnis, in: G. Doeker/W. Steffani (Hrsg.), Klassenjustiz und Pluralismus, Festschrift für Ernst Fraenkel, 1973.

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Linie obrigkeitsstaatlich-fürsorgerisch-konservativen Denkens 5 im kaiserlichen Deutschland getroffen wurden. Dieser sozialinterventionistische Obrigkeitsstaat verweigerte und bekämpfte gleichzeitig zwar nicht mehr die Existenz (§ 152 Abs. 1 Reichsgewerbeordnung), wohl aber die freie Betätigung der Arbeiterorganisationen überall dort, wo sie in wirksame Formen kollektiver Selbsthilfe und Selbstgestaltung der Arbeitsverhältnisse einmündeten. Die tragenden Grundsätze kollektiver Arbeitsmarktgestaltung und Sicherung der Arbeitsverhältnisse hingegen, die sich erst mit der Einführung der demokratischen Republik endgültig durchsetzen konnten, beruhen auf dem Gegenteil zum obrigkeitsstaatlichen Denken. Sie sind vielmehr sowohl notwendige Grundlage als auch notwendige Folge der Einführung der demokratischen Staatsorganisation, die die kollektive Selbsthilfe und Interessenvertretung im immer umfassender werdenden Sozialsicherungssystem nicht nur toleriert, sondern auch theoretisch zur Grundlage freier gesellschaftlicher Prozesse macht. 1933, als der Nationalsozialismus begann, diese Form der Ausgestaltung und Sicherung des Sozialleistungssystems zu beseitigen, bestanden grundlegende Elemente des heutigen Sozialstaats bereits bis zu fünfzig Jahre lang. Die Frage „zweckmäßiger Einrichtungen" (s. die Kaiserliche Botschaft) war zu unterschiedlichen Zeiten gestellt und beantwortet worden. Dabei ist wichtig, daß der Antwort jeweils der Stempel des real existierenden politischen Systems aufgedrückt wurde. Die historische Dimension der deutschen Sozialstaatlichkeit weist somit sehr unterschiedliche Wesensmerkmale auf. Da ist mit der obrigkeitsstaatlichen-fürsorgerischen Tradition immer eine Affinität zur „Sozialbürokratie" mit ihrem Beharrungsvermögen vorhanden gewesen. Da gibt es aber ebenso das „kollektivistische" Prinzip des sozialen Schutzes und der Sicherung sozialer Gerechtigkeit durch die organisierte und mächtige Interessengruppe. Man kann dies auch unter konkretem Bezug auf das Thema so formulieren: Die deutsche Sozialstaatlichkeit umfaßt geschichtlich betrachtet immer das bürokratische Element ebenso wie das pluralistisch-demokratische; den Gedanken der Staatssicherung durch Sozialinstitutionen ebenso wie den der Staatsgestaltung durch die Vereinigung von Demokratie und sozialer Gerechtigkeit. 5 Vgl. hierzu z. B. O. KAHN-FREUND, Der Funktionswandel des Arbeitsrechts (1932), in: Th. Ramm (Hrsg.), Arbeitsrecht und Politik. Quellentexte 1 9 1 8 - 1 9 3 3 . Generell geben die Arbeiten der „Sinzheimer-Schule" (hierzu auch F. Neumann und E. Fraenkel) wichtige Aufschlüsse zu diesem Thema.

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II. Der Verfassungskompromiß des Parlamentarischen Rates, der vom 1. September 1948 bis zum 8. Mai 1949 verhandelte, enthält in bezug auf den Sozialstaat sowohl den Konsens als auch den Konflikt. 6 Konsens wurde ohne bemerkenswerte Diskussionen darüber erzielt, daß die sozialpolitischen Traditionen Deutschlands wiederbelebt werden sollten. Dies galt gleichermaßen für die traditionellen Einrichtungen wie für das normative Element; jetzt in Form einer staatlichen Verpflichtung zum Kampf gegen die Nachkriegsnot. Der besondere Ort des Sozialstaatsgrundsatzes im Art. 20 GG, der bekanntlich durch Art. 79 Abs. 3 GG mit seinen „Grundsätzen" für unaufhebbar erklärt wird, verleiht dem Konsens ein starkes verfassungsrechtliches Gewicht. Ob allerdings darin eine „Bestandsschutzgarantie" für die traditionellen sozialpolitischen Einrichtungen enthalten ist, erscheint fraglich. Auf der anderen Seite müssen aber auch alle Versuche seit 1949 7 , diesen Verfassungsgrundsatz zu relativieren, zurückgewiesen werden. Der Sozialstaatsgrundsatz ist weder ein „substanzloser Blankettbegriff" (Greve, 1949), noch „entfaltet" sich der Sozialstaat „unterhalb" der vom Rechtsstaat bestimmten Verfassungsebene allein durch die Gesetzgebung und in der Verwaltung.8 Dieser juristische Streit kann jedoch heute wohl als überwunden gelten.9 Die juristische Auseinandersetzung signalisiert das Konfliktpotential des Verfassungsentscheids. Er programmierte den Konflikt vor allem dadurch, daß — z. B. ohne die Fixierung sozialer Grundrechte oder sogenannter „Lebensordnungen" — er die nähere Ausgestaltung dem Gesetzgeber, der Regierung und der Verwaltung in Bund und Ländern sowie den Gerichten überläßt. So wird denn auch über den Grad an Erfüllungsdruck, der mit diesem Verfassungsgrundsatz auf den genannten Institutionen lastet, gestritten. Die Gründe für den Konflikt liegen nicht zuletzt im seinerzeitigen Streben nach einem möglichst weitgehenden Verfassungskonsens. 6 Neuerdings wieder: W. SÖRGEL, Konsens und Konflikt. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes, 1985 (Nachdruck). 7 Vgl. H.-H. HARTWICH, Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher status quo, 1980 3 . 8 So 1953 E. FORSTHOFF, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaats, in: W d S t R L 12, 1954. * Vgl. z.B. E.BENDA, Der soziale Rechtsstaat, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983.

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Wie üblich in solchen Fällen, wurden die eigentlichen Konfliktbereiche ausgeklammert. So konnte dann die eine Seite des Verfassungsgesetzgebers nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes den Grundsatz vom Sozialstaat als ein Verfassungspostulat auffassen, das es zu erfüllen gelte, während die andere Seite mit dem Hinweis auf die Verankerung klassischer Grundrechte gute Gründe dafür vortragen konnte, daß hier in erster Linie wieder den traditionellen Prinzipien deutscher Sozialstaatlichkeit, nun sogar auf verfassungsrechtlicher Ebene, Rechnung getragen wurde. Der entstehungsgeschichtliche Konflikt, der ja durch die Forderung nach einem System des demokratischen Sozialismus sehr grundsätzliche Formen annahm, wurde im Zuge des erfolgreichen wirtschaftlichen Wiederaufbaus de facto durch neue und weitreichende Konsense der an Regierung, Gesetzgebung und Verwaltung beteiligten Parteien überlagert. Die Sozialstaatlichkeit wurde insofern zu einem Spezifikum der neuen Demokratie, als sich nun die um Mehrheiten konkurrierenden Parteien mit ihrem Angebot an Sozialleistungen zu überbieten begannen. Die Bereitschaft zum quantitativen Ausbau des Sozialleistungssystems ergriff alle politischen Parteien und war unbegrenzt, nachdem die qualitativen Alternativen des Beginns obsolet geworden waren. Als sich die regierende CDU/CSU mit ihren wirtschafts- und sozialpolitischen Prinzipien seit der ersten Regierungsbildung durchgesetzt hatte, insbesondere mit dem Grundsatz, daß eine gute Wirtschaftspolitik die beste Sozialpolitik sei, und die Erfolge sich handgreiflich einstellten, übertrafen sich die Parteien eigentlich nur noch in der Höhe ihrer Versprechungen oder ihrer Forderung, je nachdem, ob sie die Regierung bildeten oder aus der Oppositionsrolle heraus operierten. Sie waren sich einig darin, unter dem Vorzeichen „Sozialstaat" den wachsenden Wohlstand der aktiv im Erwerbsleben Stehenden nun allen zukommen zu lassen. Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang natürlich die Rentendynamisierung von 1957, die mit ihren damals festgelegten Prinzipien (vor allem dem Brutto-Prinzip) heute wesentlich zu den Problemen der Weiterentwicklung des Sozialstaates beiträgt. Diese Reform, die den Grundstein zu einer gewaltigen quantitativen Ausdehnung des Sozialstaates legte (steigende Renteneinkommen), muß zugleich als die bedeutendste „qualitative" Maßnahme in bezug auf die Entwicklung des Sozialstaates bezeichnet werden, die das bis dahin gültige System veränderte. Der formelhaft festgeschriebene Regelmechanismus der Anpassung bedeutete eine große „Errungen-

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schaft" gegenüber den Anhebungen von Fall zu Fall, durch Gesetzgebung oder Verwaltung. Vergleichbar erscheint diese Strukturreform traditioneller Sozialleistungsprinzipien nur noch mit der Einführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Dominierend war ansonsten im Ausbau des Leistungssystems jedoch immer die „quantitative" Seite: Erhöhung der Leistungen, auch in inflationierter Form, ohne eine gleichzeitige strukturelle Anpassung im Sinne der Frage nach „zweckmäßigster Einrichtung", nach Gerechtigkeit, Effizienz, Leistungsgenauigkeit hinsichtlich der Leistungsempfänger oder der Leistungsarten. Kontrovers war bei den qualitativen Strukturreformen z. B. schon die Bundesausbildungs-Förderung (BAFÖG) für Schüler und Studenten. Diese Leistungen wurden denn auch besonders frühzeitig zum Gegenstand von Reduktionen in der Sozialpolitik angesichts restriktiv gewordener ökonomischer Rahmenbedingungen. Der wichtigste Konsens, der sich infolge der führenden Rolle der Gerichte durchsetzte, scheint mir im Grundsatz zu liegen, daß der Sozialstaat als Sozialer Rechtsstaat — unter Einbeziehung des Subsidiaritätsprinzips — Rechtsgarantien auf soziale Leistungen formulieren müsse. Es hat lange gedauert, bis der Gesetzgeber das Fürsorgeprinzip der Notverordnung von 1924 1 0 mit dieser Neuorientierung endlich abschaffte. Die Schrittmacherfunktion der Gerichte ist dabei unübersehbar. Der große Konsens in bezug auf quantitativ orientierte (leistungsverbessernde) Aktivitäten im Sozialleistungssystem von der Mitte der fünfziger bis zum Ende der siebziger Jahre — für den Politikwissenschaftler liegt auf der Hand, daß dies alles mit dem Charakter der Parteien als Volksparteien und mit den Wahlen zu tun hat — begründet, historisch betrachtet, den sozialpolitischen Konflikt unserer Tage. Folgende These erscheint möglich: Könnte man von einer konstanten Relation ausgehen, dann überforderte das Sozialleistungssystem im Prinzip nicht das wirtschaftliche Leistungssystem. Das ökonomische System unterliegt aber weit- und binnenwirtschaftlichen Wandlungsprozessen und Anpassungszwängen, die ein relativ starres, ja antizyklisch expandierendes Sozialleistungssystem als eine schwer 10

VO. über die Fürsorgepflicht vom 1 3 . 2 . 1 9 2 4 , RGBl. I 1924, S . 1 0 0 ; dazu

a u c h : H . - H . H A R T W I C H , vgl. A n m . 7 , S . 4 4 1 ; G.BÄCKER, R.BISPINCK,

K.HOFE-

MANN, G . N A E G E L E , S o z i a l p o l i t i k , 1 9 8 0 , S. 7 4 ff; L . PRELLER, S o z i a l p o l i t i k in d e r

Weimarer Republik (1949), 1978, S. 2 5 4 - 3 3 6 .

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erträgliche Belastung erscheinen lassen. Weil das aber so ist, ja, weil darin ja geradezu die Funktion des Sozialleistungssystems liegt, nämlich antizyklisch auszugleichen, wird die Sozialpolitik zu einem Problem für die Wirtschaftspolitik. Die Frage nach der „Gestaltung von Anpassung" wird zur entscheidenden Konfliktgrenze: — auf der einen Seite stehen die Ökonomisten, die das Sozialleistungssystem den Maximen privatwirtschaftlicher Anreizsysteme unterordnen wollen und die z. T. nicht einmal mehr die eingangs zitierte Kaiserliche Botschaft gelten lassen wollen. — auf der anderen Seite stehen die Sozialpolitiker, die nach in sich schlüssigen Konzepten für eine Neuordnung des Gesamtsystems oder wenigstens zusammenhängender großer Teile des seit 100 Jahren existierenden Systems unter dem Gesichtspunkt der Wahrung bzw. Wiederherstellung von Gerechtigkeit rufen und suchen. Die notwendigen strukturellen Reformen aber werden blockiert. Stattdessen gibt es mühsame Verschiebungen der Finanzmassen von einer Schulter zur anderen, die progressive Vergrößerung von Ungerechtigkeit und reaktionäre Konzepte einerseits, Hilflosigkeit andererseits. Hierbei kommt es auch in zunehmendem Maße zu einer Verschiebung der Sozialbürokratie. Der Vollzug einer Vielzahl neuer komplexer und komplizierter Regelungen in Gesetzen und Verordnungen wird auf die Unternehmen abgewälzt. Darunter leiden insbesondere mittelständische Unternehmen ohne eigene Verwaltungsabteilung; denn der Verwaltungsaufwand je Arbeitnehmer steigt mit abnehmender Betriebsgröße stark an. 11 Dies ist nur ein Ausschnitt aus der generellen Problematik, die aus der Unbeweglichkeit des Leistungssystems und seiner Verwaltung folgt.

III. Soll die aktuelle Geltung des Sozialstaatsprinzips bewertet werden, so ist folgendes festzustellen: 1. Auf der Bundesebene regiert heute das fiskalische Prinzip, das seine Legitimation aus dem Umstand gewinnt, daß das soziale Netz angeblich so weit überspannt wurde, daß es nicht mehr finanzierbar ist. Die hierdurch ausgelöste Politik finanzieller, d. h. im bisher hier 11 So z. B. die Klage der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände des Handwerks, vgl. Kassen-Brief, hrsg. v. G. Schmidtbauer, Nr. 3, 2 8 . 2 . 1 9 8 5 , S.4.

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verwandten „quantitativen" Sinne, Reduktionen von Leistungen berücksichtigt offensichtlich z. T. nicht einmal die Versprechungen der Kaiserlichen Botschaft, nämlich die „schwachen und hilfsbedürftigen Glieder der Gesellschaft besonders positiv zu fördern". 2. Die Dominanz des fiskalischen Prinzips auf der Bundesebene „saniert", wie einst unter Reichskanzler Brüning in den Jahren der Präsidialregierungen und der Notverordnungen 1931/32, z.B. die Bundesanstalt für Arbeit (damals die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung) und überläßt die sozialen Folgen den Gemeinden und Ländern. Hier besteht ein Kampf um Haushaltssanierungen zwischen den drei Ebenen der Bundesrepublik Deutschland, dem Bund, den Ländern und den Gemeinden. Es geht gar nicht um Sozialpolitik. Außerdem wird aus den „quantitativen" Notwendigkeiten (Leistungsreduktionen) ein qualitativer Eingriff, wenn die Politik des Bundes über die Arbeitslosigkeit, die Frühverrentung und die fehlenden Ausbildungs- und Arbeitsplätze für junge Leute immer mehr Menschen unter die Armutsschwelle drückt, bzw. sie statistisch hinter einer grauen Wand von Angehörigenhilfe und Schattenwirtschaft verschwinden läßt. 3. Es erscheint ignorant, wenn in einer großen Wochenzeitung der Leitartikel „Der Sozialstaat wird zum Moloch. Unser Fürsorgesystem ist eine Fehlkonstruktion" Richtiges und völlig Falsches vermengt und dann festgestellt wird: „Viele sind nur deshalb bedürftig, weil der Staat sie dazu macht." Diese Folgerung verkennt gründlich den Umstand, daß die — wie der Autor12 sagt — „mächtige Triebfeder des Eigennutzes" als Motor der Marktwirtschaft nur deshalb so erfolgreich bei uns wirken kann, weil es den Sozialstaat gibt. Er aber folgert: „Dauerhafte Abhilfe ist nur dann möglich, wenn auch der Sozialstaat marktwirtschaftlich wird. Das bedeutet, auch im sozialen Bereich unserer Wirtschaft müssen die Signale so gestellt werden, daß sich Anbieter und Konsumenten sozialer Leistungen aus eigenem Antrieb anders verhalten — nämlich so, daß Eigennutz und Gemeinnutz in die gleiche Richtung weisen." Das Kind soll also mit dem Bade ausgeschüttet werden. Eine solche rigorose Umorientierung mag zur Erreichung effektiverer Organisation in diversen Einrichtungen sinnvoll sein. Als Sozialstaatsgrundsatz aber taugt sie nicht. An diesem Beitrag stimmt lediglich, daß unser System der sozialen Sicherung mehr und mehr zu einer 12

M. JUNGBLUT, S. Anm.2.

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gigantischen bürokratischen Fehlkonstruktion wird. Nicht aber, weil das System „gut gemeint, aber schlecht durchdacht" war und ist, sondern weil notwendige strukturverändernde Reformen nicht zustande kommen. Es fehlt der Geist und es fehlt die „Regierbarkeit", um hier für dieses Politikfeld einmal den bekannten Begriff zu benutzen. 4. Die Strukturdefizite des Sozialstaats werden zuallererst im Leistungsbereich, bis hin zum nicht mehr steuerbaren Transfersystem deutlich. Sie liegen aber vor allem in den Institutionen des Systems. Alter und Verfestigung der Institutionen, die historisch gewachsene Sozialbürokratie und sicher auch die hier schwer zu charakterisierende Art der Selbstverwaltung 13 , garantieren wohl vor allem, daß rüde Eingriffe wie in den USA und in Großbritannien bei uns kaum möglich sind. Aber richtig ist auch, daß die Entwicklung der großen Sozialleistungseinrichtungen einen Zustand erreicht hat, bei dem die Anonymität, die Rechenhaftigkeit und „Verdatung", die Bürokratisierung, neue „Objektsituationen" für den Bürger des Sozialstaats schaffen, die er doch gerade mit der institutionellen Absicherung gegenüber den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit, als überwunden ansah bzw. als überwunden ansehen möchte. 14 Die Orientierung an den konkreten Lebenslagen (Gerhard Weisser) ist verloren gegangen. Strukturdefekte liegen auch in der Macht des sogenannten „Sozialindustriellen Komplexes" und in der Zugkraft neuer Medizintechnologien. So notwendig und wichtig die stete Verbesserung der Krankenversorgung mit der Apparatemedizin ist, so schwierig ist es doch heute geworden, zwischen gewinnorientierter, aber sinnvoller Apparateproduktion und der Ausnutzung eines staatlich organisierten Marktes durch ökonomische Interessen zu unterscheiden. Strukturdefekte liegen schließlich auch darin, daß die Gewerkschaften weder die Kraft haben, noch entsprechend anerkannt werden, wenn sie über tarifvertragliche Regelungen sozialstaatlich relevante Sicherungen im Umkreis der Arbeit und des Arbeitsplatzes vor Ort und ohne den Gesetzgeber erreichen wollen. Schließlich — und das leitet zum letzten Punkt über — hat sich die 13 Hierzu z. B. Sozialpolitik und Selbstverwaltung - Zur Demokratisierung des Sozialstaates, WSI-Studie Nr. 3 5 , 1977. 14 Vgl. ausführlicher H.-H. HARTWICH, Sozialstaatspostulat und sozialer Wandel, in: GWU Nr. 12, 1979.

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politische und administrative Führung unseres Sozialleistungssystems schon immer schwerster Versäumnisse schuldig gemacht, wenn es darum ging, rechtzeitig bekannte, vor allem demographisch bedingte Entwicklungen vorausschauend zu gestalten. Wird von den ökonomischen Krisen abgesehen, so sind doch die für das Sozialleistungssystem eintretenden Problemlagen stets frühzeitig von den Experten bekanntgemacht worden. Nur politisch wurden sie nicht zu einem drängenden „issue", für den es einen akuten Handlungsbedarf gab.

IV. Somit muß als letzter und wichtigster Punkt die Frage der „Regierbarkeit" dieses Politikfeldes angesprochen werden. Wie können zukunftsgerechte Lösungen, vor allem im Rentensystem — angesichts von Politikern, die nur kurzfristig handeln, weil sie an die nächste Wahl denken, von Sozialbürokratien, die am Herkömmlichen festhalten, sowie von wirtschaftlichen Interessen, die am überkommenen System verdienen - gefunden und durchgesetzt werden; Lösungen möglichst, die einmal den historischen Stellenwert jener Einrichtungen und Prinzipien erreichen, die einst vor über 100 Jahren der Wilhelminische Obrigkeitsstaat hervorbrachte? Man muß nicht nur an die anhaltenden und wohl noch weiter wachsenden negativen Folgen der Massenarbeitslosigkeit denken, um die Notwendigkeit einer umfassend geplanten und durchdachten, auch die Institutionen einbeziehenden Strukturreform zu belegen. Schon der Blick auf die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik gibt genügend Anlaß zur Sorge, daß sich Generationenvertrag und die lohnarbeitsbezogene Beitragsbemessungsgrundlage nicht mehr auf Dauer durchhalten lassen. Diskutiert wurde lange Zeit darüber nur auf Wissenschaftlerforen. Hier liegt eine fundamentale Problematik unserer Zeit. Sie liegt in der Unfähigkeit begründet, die nächste Zeit aktiv vorausschauend zu gestalten oder wenigstens die Gestaltung vorzubereiten. Der Sozialstaat benötigt eine diskussions- und entscheidungsfähige Führung, damit zeitgerechte Neugestaltungen der Strukturen möglich werden. Der Politikwissenschaftler, der mit der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bestens vertraut ist, weiß, daß einst 1966 das probate Instrument zur Lösung aufgelaufener Strukturprobleme in Staat und Wirtschaft (als überfällige und seinerzeit lösungsbedürftige Zentralfragen nenne ich nur den kooperativen Föderalismus, die mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz geregelten Interventions-

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kriterien und -instrumente und die Notstandsverfassung) die Große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD war. Eine solche Bündelung der politischen Gestaltungskräfte zur Verwirklichung weiter ausgreifender Strukturreformen dürfte wohl auch für die Zukunft im Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht auszuschließen sein. Die notwendigen Strukturreformen des Sozialstaats werden sicher nicht unter Ausschluß der bewährten und sachkundigen Sozialverwaltungen erfolgen können. Es geht aber auch nicht ohne die Betroffenen. Dabei müssen für diese und ihre Interessenartikulation noch geeignete Foren vor Ort gefunden werden. Dieser Gedanke führt zu einer korporatistischen Problemlösung: Staat und gesellschaftliche Gruppierungen verständigen sich über die notwendigen Strukturreformen und ihre Finanzierung. Sicher scheint nur zu sein, daß die regulären Mechanismen des parlamentarischen Regierungssystems und die verantwortlichen Politiker einer Regierungskoalition die Kraft zu strukturverändernden Reformen des Sozialstaats in das 21. Jahrhundert hinein nicht aufbringen. Der Sozialstaat ist alles in allem kein „Moloch". Er ist ein besonderes Gut, ohne das die Demokratie nicht funktionieren kann — und auch nicht die Marktwirtschaft. Er ist kein „Instrument zwischen Bürokratisierung und Demokratisierung der Gesellschaft". Dies ist kein „Instrument" mehr, weder des Bismarckschen „Staatssozialismus" noch der Wirtschaft, zur Abfederung ihrer Freisetzungen von Arbeitskräften. Dies ist ein Grundsatz sozialer Gesellschaftsgestaltung, die mehr sein muß als staatliche Fürsorge für Untertanen, auch in einem modernen Sinne. Der Grundsatz und die Einrichtungen des Sozialstaats entsprangen in Deutschland dem konservativen Sicherungsdenken. Aber dieser Sozialstaat wurde dann von den Trägern demokratischer Willensbildung (Parteien) und Gesellschaftsgestaltung (z.B. Gewerkschaften) angenommen. Der Sozialstaat ist damit zu einem Grundsatz demokratischer Politik geworden. Er bedarf vorausschauender, aktiver Gestaltung. Fehlt die Kraft zu dieser Gestaltung, so ist dies ein Strukturdefekt unserer Demokratie und nicht eine Frage ständig neuer und detaillierter Reparaturrezepte. Allerdings gilt es auch zu erkennen, daß gerade in den Reparaturkonzepten jene Professionalisierung ihren Niederschlag findet, die als Bestandteil der Bürokratisierung des Sozialstaats geeignet ist, die durchgreifenden großen Strukturreformen zu hemmen.

Leistungsstaat contra Rechtsstaat Sozialstaatliche Errungenschaften zwischen Freiheitsverwirklichung und Freiheitsgefährdung

HANS HERBERT VON ARNIM

Was heißt Leistungsstaat oder Sozialstaat? Was heißt Rechtsstaat? Schon die Begriffe sind umstritten. Nach einem modernen und weitgehenden Verständnis ist Rechtsstaat auch Gerechtigkeitsstaat. Er umgreift dann auch die Gewährung staatlicher Leistungen, die sozialer Gerechtigkeit dienen sollen. Würde ich von diesem weiten Verständnis ausgehen, so bestände letztlich gar kein Unterschied mehr zwischen sozialem Leistungsstaat und Rechtsstaat: Der Rechtsstaat umfaßt dann den Leistungsstaat. Die Themenstellung postuliert aber einen solchen Unterschied oder gar einen Gegensatz. Ich werde deshalb, will ich nicht schon am Anfang aufhören, mit einem engeren Rechtsstaatsbegriff beginnen müssen. Ich verstehe unter Rechtsstaat hier zunächst den bürgerlich-liberalen Rechtsstaat. Dies auch deshalb, weil der Leistungs- und Sozialstaat sich erst als Antwort auf die Mängel des so verstandenen Rechtsstaats entwickelt hat. Der bürgerlich-liberale Rechtsstaat läßt sich schlagwortartig kennzeichnen durch Abwehrgrundrechte gegen den Staat, durch Gewaltenteilung und Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Er kam erstmals zum Durchbruch in der Bill of Rights of Virginia von 1776 und in der französischen Erklärung der Menschenund Bürgerrechte von 1789 und findet heute in den einschlägigen Artikeln des Grundgesetzes seinen Ausdruck. Locke und Montesquieu waren die Propheten. Inhaltlich war der liberale Rechtsstaat vor allem durch ein Negativum charakterisiert: Der Staat trug keine Verantwortung für sozialen Ausgleich zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Man ging

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davon aus, die Selbststeuerungsmechanismen, vor allem die Marktwirtschaft, führten von sich aus zu harmonischen und gerechten Ergebnissen, wenn der Staat sie nur ihren eigenen (Markt-)Gesetzlichkeiten überlasse und sich auf die Schaffung einer Rechtssicherheit und stabiles Geld gewährleistenden Rahmenordnung beschränke. Locke und Montesquieu fanden ihre ökonomische Ergänzung in den Physiokraten und in Adam Smith. Der Staat schien sich auf eine Nachtwächterrolle beschränken zu können. In der Wirklichkeit zeigte sich aber alles andere als die beschworene „prästabilisierte Harmonie". Vor allem die Not der abhängigen Arbeit schrie zum Himmel. Ein Lohn, der zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig war, unmenschliche sonstige Arbeits- und Wohnverhältnisse, Kinderarbeit etc. waren die Merkmale. Friedrich Engels, aber auch Charles Dickens haben die damalige Lage in England in eindringlichen Schilderungen festgehalten. Für diesen Befund war ein ganzes Netz von Gründen maßgeblich; genannt seien nur die Befreiung der Menschen von ständischen Bindungen mit der Kehrseite, daß dadurch auch soziale Sicherungen ausfielen, und die Bevölkerungsexplosion. Beides trug dazu bei, daß immer mehr Menschen in die Industriezentren strömten und zum Aufbau „industrieller Reservearmeen" beitrugen, die den Lohn aufs bloße Existenzminimum drückten. Die Lage war aber auch durch die Rechtsordnung bedingt. Gewerkschaften, Tarifverträge und erst recht Streiks waren gesetzlich verboten. Den Arbeitern war die Möglichkeit genommen, Gegengewichte zu schaffen und so ihre „Vogelfreiheit" am Arbeitsmarkt auszugleichen. Einfluß auf den Gesetzgeber, der die Verbote hätte aufheben und die Interessen der Arbeiter hätte fördern können, hatten die Arbeitnehmer schon gar nicht. In den Grundrechtsdeklarationen von 1776 und 1789 und fast durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch war das Wahlrecht bekanntlich auf Besitzbürger beschränkt, Arbeiter waren ausgeschlossen. Sie waren also nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch macht- und wehrlos. Die These von Karl Marx, das Los der Arbeiterklasse könne allein durch Revolution gebessert werden, schien plausibel. Dies war die Lage, die durch den Begriff „soziale Frage" nur unzureichend gekennzeichnet werden kann und deren geistige Verarbeitung den Hintergrund für die Entstehung des sozialen Leistungsstaates bildete. Das Sozialstaatsprinzip entwickelte sich somit als Gegenprinzip zur bürgerlich-liberalen Vorstellung vom Nachtwächterstaat. Es wurde zur Waffe in der Hand derer, die für soziale

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Gerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe der bisher Benachteiligten und für sozialwirtschaftliche Reformen eintraten. Das Sozialstaatsprinzip gibt dem Staat den Titel, nötige Eingriffe durchzuführen — auch zu Lasten überkommener Privilegien. Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip stehen in dieser Sicht zueinander wie Tradition und Fortschritt. Als Verfassungsgrundsatz niedergelegt wurde das Sozialstaatsprinzip allerdings erst 1949 im Grundgesetz. Die eigentlichen Grundentscheidungen, die die Weichen in Richtung Sozialstaat gestellt hatten, waren aber früher getroffen worden: Die Ausdehnung des Wahlrechts auch auf Lohnabhängige und die Zulassung von Gewerkschaften und Arbeitskampf — beides erfolgte spätestens durch die Weimarer Verfassung — haben die Kräfte entfesselt, die das Sozial- und das Arbeitsrecht, also das Sonderrecht zum Schutze sozial Schwacher, in ihrer heutigen Form entstehen ließen — und zugleich den Marx'schen Thesen die Grundlage entzogen. Damit war aber auch der Boden bereitet für die Entstehung ganz neuer machtvoller politischer Akteure, die im liberal-rechtsstaatlichen Bild noch keinen Platz gehabt hatten, der modernen Massenparteien und der Interessenverbände. Aus der atomistischen Demokratie der bürgerlich-liberalen Konzeption entwickelte sich die moderne pluralistische Demokratie, die dadurch gekennzeichnet ist, daß eine Mehrzahl von Parteien und eine Vielzahl von Interessenverbänden zu beherrschenden Organisatoren des politischen Prozesses aufgestiegen sind. Meine Hauptthese geht nun dahin — und ich formuliere sie bewußt mit jener holzschnittartigen Grobheit, die alle Mißverständnisse ausschließt: Heute stellen sich die Aufgaben der verfaßten Gemeinschaft anders dar als früher. Es geht nicht mehr um die Förderung der abhängigen Arbeit gegenüber dem Kapital. Was man früher „soziale Frage" nannte, ist gelöst. Heute geht es vielmehr um die Durchsetzung zweier Kategorien, die beide dadurch gekennzeichnet sind, daß sie keine schlagkräftigen Organisationen hinter sich haben: erstens um die Interessen bestimmter Randgruppen, deren Förderung man bisweilen auch als „Neue soziale Frage" bezeichnet, zweitens um bestimmte querschnittsartige Interessen aller, vor allem auch um die Bewältigung von Zukunftsproblemen. Und hierbei erweisen sich nun diejenigen Akteure, die zur Überwindung der (alten) sozialen Frage angetreten sind, nicht nur als wenig förderlich, nein, sie scheinen der Bewältigung dringender Zukunftsaufgaben bisweilen sogar im Wege zu stehen.

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Nicht das, was wirklich dringend ist, wird politisch aufgegriffen, sondern was unter dem Gesichtspunkt der Stimmenmaximierung wirksam ist und was politisch einflußreiche Organisationen für dringend erklären. Wer Gefährdungen der Freiheit, die von leistungsstaatlichem Übermaß ausgehen können, darstellen möchte, setzt zumeist an folgenden zwei Seiten an: Einmal wird der Abgabenzahler ins Auge gefaßt, bei dem die finanziellen Abschöpfungen vorgenommen werden. Zu hohe Abgaben können dazu führen, daß Leistung sich kaum noch lohnt, Initiative und Aktivität ökonomisch eingeschnürt oder erdrückt werden, woraus sich insgesamt auch Rückwirkungen auf die ökonomische Leistungsfähigkeit des Staates ergeben können, da das Sprudeln der Quellen des Steuerstaates von der Aktivität und Initiative der privaten Leistungsträger abhängt. Die Freiheit kann aber auch bei den Leistungsempfängern selbst gefährdet werden: Die Leistungen mögen sie so behaglich umsorgen, daß der Anreiz abnimmt, die staatlichen Leistungen durch Eigeninitiative überflüssig zu machen. Tocqueville hat solche wohlfahrtsstaatlichen Gefährdungen der Freiheit schon früh vorausgesagt. Nun wird kaum jemand den sozialen Leistungsstaat und seine Errungenschaften abschaffen wollen. Es geht um die Bekämpfung von Übermaß. Aber wo liegt die Grenze zwischen Maß und Übermaß? Die Frage ist in weiten Bereichen kaum eindeutig zu beantworten, obwohl sich sicher eine Reihe von Leistungen identifizieren läßt, die nach Grund, Umfang oder Ausgestaltung eindeutig nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Ich möchte deshalb nicht so sehr die einzelnen Leistungen ins Auge fassen (und auf ein Zuviel überprüfen), sondern das Kräftespiel, in dem über diese Leistungen beschlossen wird. Wenn sich hier Ungleichgewichte zeigen, etwa derart, daß die auf staatliche Leistungen gerichteten politischen Kräfte — unabhängig von sachlichen Notwendigkeiten — deutlich stärker sind als die Gegenkräfte, kann man daraus rückschließen, daß die Ergebnisse jenes Kräftespiels allmählich zu einem Übermaß an staatlichen Leistungen tendieren werden. Ich möchte dies im folgenden an einigen Fallgruppen demonstrieren, zunächst am Beispiel der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Die Tarifabsprachen im öffentlichen Dienst sind m. E. ein Schlüssel-Beispiel für unausgewogene Kräfteverhältnisse, vor allem weil die Gewerkschaften hier ein Streikrecht für sich in Anspruch nehmen. Wie unausgewogen das Verhandlungssystem typischerweise ist, zeigt

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ein Vergleich mit dem Arbeitskampf in der Privatwirtschaft. Dort führen überhöhte Tarifabschlüsse über kurz oder lang dazu, daß Konjunktur und Beschäftigungsstand gefährdet werden. Die gedankliche Vorwegnahme dieser Folgen trägt dazu bei, einen Mißbrauch von Tarifautonomie und Arbeitskampf zu Lasten der Allgemeinheit tendenziell zu verhindern. Im öffentlichen Dienst fehlt es an einer entsprechenden Bremse. Mangels Arbeitsplatzrisikos drohen hier keine wirtschaftlichen Sanktionen; weiter liegt für Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst das Risiko einer Aussperrung nicht vor, weil Politiker sich eine solch harte Linie regelmäßig nicht leisten zu können glauben. Schließlich ist der Grundsatz der Gegnerfreiheit im öffentlichen Dienst ebenfalls nicht eingehalten. Die Gewerkschaften sind durchweg auf beiden Seiten präsent. Aus all diesen Gründen ist das die Tarifautonomie und die Arbeitskampffreiheit in der Privatwirtschaft legitimierende Macht- und Verhandlungsgleichgewicht im Bereich des öffentlichen Dienstes grundlegend gestört. Die Unterlegenheit des die Allgemeinheit repräsentierenden Staates gegenüber streikbewehrten Pressionen wurde im Frühjahr 1974 besonders deutlich: Unmittelbar nach dem ersten Ölpreisschock (der die Erdöleinfuhren radikal verteuert und den Verteilungsspielraum, d. h. auch den Spielraum für inländische Einkommenserhöhungen, erheblich verringert hatte), setzten die Gewerkschaften mit Streik Einkommensverbesserungen im öffentlichen Dienst bis zu 18 Prozent und damit in einer Höhe durch, die von Bundeskanzler und Bundeswirtschaftsminister vorher ausdrücklich als gesamtwirtschaftlich unverantwortlich und deshalb unannehmbar bezeichnet worden war. Wie wir aus der von Baring verfaßten Scheel-Biographie „Machtwechsel" wissen, war das In-die-Knie-gehen der Regierung einer der Gründe für den Rücktritt des damaligen Bundeskanzlers Brandt. Durch die hohen Abschlüsse hatte die öffentliche Hand auch für die Privatwirtschaft Zeichen gesetzt und wurde insgesamt zum Vorreiter einer stabilitäts- und schließlich auch wachstumswidrigen Lohnpolitik. Die folgende wirtschaftliche Entwicklung mit ihren zunächst hohen Preissteigerungen und den später hochschießenden Arbeitslosenzahlen hatte eine ihrer Ursachen auch in der Lohnpolitik jener Jahre. Die Ohnmacht des Staates gegenüber der ÖTV zeigte sich auch im Winter 1981/82, als eine von der Regierung bereits beschlossene Senkung der Gehälter im öffentlichen Dienst nach massiver Streikdrohung der Gewerkschaften zurückgenommen werden mußte. Das glei-

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che unrühmliche Schicksal hat soeben die früher geäußerte Absichtserklärung der Bundesregierung erlebt, im Jahre 1984 zu einer NullRunde im öffentlichen Dienst zu kommen. Die Folgen liegen nicht nur darin, daß die öffentlichen Mittel an anderer Stelle, etwa bei Finanzierung von Investitionen, fehlen. Die Einkommensverbesserungen, die den beati possidentes, die eine Stelle im öffentlichen Dienst haben, zugute kommen, verschlechtern gleichzeitig die Chance derer, die trotz gleicher Ausbildung und Qualifikation vor der Tür stehen. Dies ist besonders unsozial bei Berufen, für die der Staat praktisch ein Nachfragemonopol hat wie bei Lehrern und Hochschullehrern. So stehen die Gewerkschaften, die den Schutz der Schwächeren auf ihre Fahnen geschrieben haben, heute oft auf der falschen Seite; sie streiken für weitere Lohnerhöhungen derer, die in Arbeit stehen, ohne die fatalen Auswirkungen auf die Lage der anderen zu berücksichtigen, die keinen Arbeitsplatz haben und deren Chancen durch die Lohnerhöhungen weiter verschlechtert werden — Zusammenhänge, die teilweise auch für den allgemeinen Arbeitsmarkt gelten und dadurch zusätzliches Gewicht erhalten, daß sozial schwächere Gruppen von Arbeitslosigkeit stärker betroffen sind: Die durchschnittliche Arbeitslosenquote, die derzeit bei ca. 9 % liegt, ist für ausländische, nichtgelernte, jugendliche und ältere Arbeitnehmer noch weit höher. Hier zeigt sich: Die Machtabhängigkeit dessen, was als „sozial" bezeichnet wird, führt dazu, daß oft nicht die wirklich Bedürftigen Schutz und Unterstützung erhalten. Was nicht organisiert ist, bleibt ungeschützt. Die ungleich überlegene Durchsetzungschance dessen, was als „sozial" gilt, zeigt sich auch dann, wenn man die Empfänger von staatlichen Leistungen mit denjenigen vergleicht, die diese Leistungen aufbringen müssen, also vor allem mit den Steuerzahlern. Die Disparität in der Behandlung dieser beiden Gruppen durch den Gesetzgeber möchte ich wiederum an zwei Beispielen deutlich machen: Beispiel 1: Wer ein Erwerbseinkommen bezieht, muß Lohn- bzw. Einkommensteuer an den Staat zahlen; im Falle eines vierköpfigen Haushalts mit einem Verdiener beginnt die Einkommensteuerpflicht bei einem Jahreseinkommen von 8532 DM. — Die Lo/wsteuerpflicht beginnt wegen des Einbaus verschiedener Pauschalen und weiterer Freibeträge in die Lohnsteuertabelle bei 13 356 DM. - Erstaunlich ist nun, daß dieselbe Familie, wenn sie kein Erwerbseinkommen bezieht, vom Staat Sozialhilfe in etwa der doppelten Höhe erhält — ca. 2 0 0 0 0

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D M — und diese in vollem Umfang steuerfrei bleibt. Der Unterschied überrascht. Denn beide, die Sozialhilfe und der steuerliche Grundfreibetrag werden mit der gleichen Erwägung begründet: Jedem soll sein ökonomisches Existenzminium gesichert werden. Dies kann in einem Fall aber nicht niedriger sein als im anderen. Beispiel 2: Die Sozialrenten sind seit der Rentenreform von 1957 dynamisiert; gleiches gilt seit Anfang der 70er Jahre auch für die Kriegsopferversorgung. Das hat seinen guten Sinn. Die Zahlungsempfänger sollen nicht zu Leidtragenden der Geldentwertung gemacht werden; darüber hinaus sollen sie auch am realen Wachstum beteiligt werden. Geht es dagegen um die Erhebung von Mitteln beim Steuerzahler, so tritt eben das ein, was man beim Rentenempfänger vermeiden wollte: Einkommenserhöhungen unterliegen infolge der (direkten und indirekten) Progression der Lohn- und Einkommensteuer einem verstärkten Zugriff des Fiskus. Diese automatischen Steuererhöhungen fallen nun aber um so mehr ins Gewicht, je mehr sie lediglich auf nominellen, d.h. nur den Kaufkraftschwund ausgleichenden, Einkommenserhöhungen beruhen; denn insoweit muß der Steuerzahler ein Mehreinkommen progressiv versteuern, das er der realen Kaufkraft nach gar nicht erhält. Die Interessen der Steuerzahler genießen — auch bei sonst gleichen Verhältnissen — offenbar grundsätzlich weniger Schutz in den Augen der Politiker, die die Gesetze machen, als die Interessen der Empfänger von Sozialleistungen. Die skizzierten Unausgewogenheiten erhalten heute besondere Brisanz durch das Zusammentreffen mit zwei neueren Entwicklungslinien: dem zumindest vorläufigen Ende der 25jährigen Periode hohen wirtschafdichen Wachstums und dem ausgeprägten Einbruch in der Bevölkerungspyramide der Bundesrepublik, der zu einer radikalen Veränderung der Altersstruktur in den kommenden Jahrzehnten führen wird. Die Zuspitzung der Problematik erhöht andererseits aber vielleicht auch die Chance für die Durchsetzung von dringenden Innovationen. Die Lage macht es unerläßlich, den Gürtel enger zu schnallen. Das braucht an sich noch nicht wirklich gravierend zu sein — angesichts des hohen durchschnittlichen Wohlstandsniveaus, das in der Bundesrepublik sowohl im internationalen Vergleich als auch im historischen Rückblick besteht. Die eigentlichen Probleme folgen erst daraus, daß die etablierten Organisationen und Kräfte dahin tendieren, Einschränkungen zu verhindern, und sich so der Konzentration der Gemeinschaft auf dringende Aufgaben entgegenstemmen. Die Orga-

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nisationen, die frühere Probleme erfolgreich bekämpft haben, sind selbst zur Quelle von Problemen geworden. Ihre Errungenschaften werden als „sozialstaatlich" etikettiert und mit Zähnen und Klauen verteidigt, wie unsozial sich dies im Effekt heute auch auswirken mag. Lassen Sie mich dafür als weiteres Beispiel die Steuerfreiheit der Sozialversicherungsrenten anführen. Sie wurde aus sozialen Gründen eingeführt zu einer Zeit, als die Renten kaum das Existenzminimum abdeckten. Heute können die dynamischen Renten aber in Größenordnungen von mehreren Tausend Mark monatlich hineinwachsen. Damit wird die Steuerfreiheit zu einem nicht mehr vertretbaren Privileg, das besonders augenfällig ist, wenn Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes im Ruhestand plötzlich über ein höheres Nettoeinkommen verfügen als vorher. Aber wehe dem, der die Notwendigkeit einer Reform öffentlich ausspricht. Er sieht sich mit dem ganzen Vokabular konfrontiert, das diejenigen bereithalten, die mit der Macht auch das Definitionsmonopol des Sozialen für sich in Anspruch nehmen. „Soziale Demontage", „Ellenbogengesellschaft", „Umverteilung von unten nach oben" sind die „Totschlageworte". Bezeichnend für die Tabuisierung ist, daß die Frage der Rentenbesteuerung erst durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Thema wurde. Bezeichnend ist weiter, daß der an sich geforderte Bundesgesetzgeber als Antwort erst einmal eine Kommission einsetzte, deren Bericht inzwischen zwar vorliegt, ohne aber bisher Resonanz gefunden zu haben. In einen ähnlichen Zusammenhang gehört die Auseinandersetzung mit den Problemen, die der Einbruch in der Bevölkerungspyramide mit sich bringt. Erwähnt sei vor allem die außerordentliche Kraftanstrengung, die gemacht werden muß, um die Altersversorgung an die zu erwartenden Veränderungen anzupassen. Wenn erst einmal doppelt so viele Alte (im Verhältnis zur Zahl der Aktiven) zu versorgen sein werden wie heute, wird sich etwa die Rentenfinanzierung nur aufrecht erhalten lassen, wenn man die Beitragssätze verdoppelt oder das Niveau der Renten (im Verhältnis zum aktiven Einkommen) halbiert oder das Rentenalter wieder rigoros erhöht oder von allem etwas tut und so die Last, die aus der Veränderung des Altersaufbaus herrührt, auf die Schultern der Aktiven und der Rentner verteilt. Es handelt sich um volkswirtschaftliche Lasten; deshalb stellen sich die gleichen Probleme bei der Finanzierung der Beamtenpensionen. Auch hier geht es um Fragen, die im politischen Raum bislang kaum thematisiert worden sind. Eine solche Thematisierung ist aber unerläßlich. Die schon jetzt erkennbare unerhörte Vorbelastung der Zu-

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kunft muß bei allen Entscheidungen der Gegenwart berücksichtigt werden, wenn die zu erwartenden Spannungen nicht so groß werden sollen, daß sie die Gemeinschaft zerreißen. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Mit den Organisationen, die sich notwendigen wirtschaftlich-sozialen Neuerungen entgegenstemmen, sind keinesfalls allein die Gewerkschaften gemeint, sondern etwa auch die mächtigen Unternehmensverbände. Ihre Wirksamkeit läßt sich z.B. am Volumen der (direkten und indirekten) Subventionen ablesen, das trotz immer wieder beteuerter politischer Abbaunotwendigkeiten weiter gewachsen ist. Transmissionsriemen ihrer Einflußnahme auf die Politik sind nicht nur Geld, sondern auch Wählerstimmen und Sachverstand. Der Faktor Geld hat durch die Spendendiskussion der letzten Jahre lediglich besondere Aufmerksamkeit erfahren. Dabei scheint mir die mögliche strafrechtliche Seite des Flickkomplexes gar nicht mal so bedeutsam. Korruptionsskandale wird es leider immer geben, und es ist zu hoffen, daß der Schaden für die Demokratie durch Aufhellung eingedämmt wird. Problematischer erscheint mir der Umstand, daß die Einflußnahme von Großspendern seit Beginn des Jahres 1984 nun auch noch steuerlich in enormem Maße privilegiert und damit noch verstärkt wird, wo es doch eigentlich darum gehen müßte, die Politik von Interessentenorganisationen unabhängiger zu machen. Das Thema hat auch eine verfassungspolitische Seite. Die Befindlichkeit der Gemeinschaft und ihre In-den-Stand-Setzung, den anstehenden Aufgaben gerecht zu werden, bedarf auch eines konstitutionellen Überdenkens. Die bestehenden Verfassungen sind den neuen Problemen nicht voll gewachsen. Verfassungs-Innovationen sind gefragt, die beides leisten: die Notwendigkeit und Existenzberechtigung des Parteien- und Verbändepluralismus anzuerkennen und doch gleichzeitig die Mängel durch konstitutionelle Neuerungen erfolgreich zu bekämpfen. Dies kann nicht nur durch Ergänzung des Wortlauts des Grundgesetzes geschehen, sondern auch durch interpretativen Wandel, der gerade an Prinzipien wie dem Sozialstaatsgrundsatz und dem Rechtsstaatsgrundsatz ansetzen könnte, die dann auch zur Zukunftsvorsorge, zur Sicherung der physischen und sozialen Lebensgrundlage, zur Gerechtigkeit zwischen den Generationen verpflichten. Um hier wirklich weiterzukommen, bedarf es aber zunächst der Klarstellung, aus welcher Richtung heute die größten Gefahren drohen. In ihrer Hervorkehrung und in der Notwendigkeit, dagegen Front zu machen, liegt, wie ich meine, heute eine der wichtigsten

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Hans Herbert von Arnim

Aufgaben der Lehre vom Staat. Vielleicht brauchen wir sogar eine neue politische Philosophie, die die aktuellen Gefährdungen ins allgemeine Bewußtsein hebt.

Sozialstaat und politische Legitimation CLAUS O F F E

Ich werde mich auf eine einzige These beschränken und einige Anhaltspunkte für sie präsentieren. Dabei kann ich an die beiden vorangegangenen Beiträge der Kollegen Hartwich und von Arnim anknüpfen. Herr Hartwich hat gesagt, und das halte ich für eine durchaus riskante Behauptung, daß das Prinzip des Sozialstaates ein Prinzip sei, das heute weitgehend konsensuell als politische Legitimationsgrundlage unseres Staatswesens anerkannt werde. Hingegen hat Herr von Arnim durch seine Überlegungen und sein provokatives Plädoyer klargemacht, daß dieses sicher so nicht behauptet werden kann, sondern daß jener Konsens, von dem Herr Hartwich für meinen Geschmack überoptimistisch gesprochen hat, an (zumindest) einem Rand „ausfranst". Wir hätten es demnach mit einer Krise des sozialstaatlichen Gerechtigkeitsmodells selbst zu tun. Diese Krise erklärt sich zum einen daraus, daß dieses Gerechtigkeitsmodell auf absehbare Zeit nicht mehr in der Weise praktikabel und „realistisch" sein wird, in der es in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit proklamiert worden ist; und die Krise ergibt sich zum anderen daraus, daß auch die normativen Prämissen, die in das Sozialstaatsprinzip eingegangen sind, von relevanten gesellschaftlichen und politischen Kräften nicht mehr geteilt werden. Nun ist es sicher erforderlich, daß ich auch meinerseits, obwohl kein Jurist, einen definitorischen Versuch einschiebe hinsichtlich dessen, was unter jenem sozialstaatlichen Gerechtigkeits- und Legitimationsmodell zu verstehen sei. Ich verstehe darunter ein Arrangement, nach dem die wichtigsten der für kapitalistische Industriegesellschaften typischen Lebensrisiken aufgrund von subjektiven öffentlichen Rechtsansprüchen so abgedeckt werden, daß alle Bürger zur Teilhabe an der herrschenden Lebensweise befähigt werden. Diese Teilhabesicherung wird im sozialwissenschaftlichen Schrifttum häufig mit Be-

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Claus Offe

griffen wie ,Integration' oder ,Inklusion' bezeichnet. Beispiele für solche charakteristischen Risiken sind Unfall, Arbeitslosigkeit, materielle Unsicherheit bei Alter, Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Familienlasten und so fort. Es geht angesichts solcher Risiken also um Rechtsansprüche auf die materiellen Voraussetzungen zur Teilnahme an einer herrschenden Lebensweise. Selbstverständlich gehört zum Sozialstaatsprinzip auch das, was in einer früheren Schicht verfassungspolitischer Errungenschaften, nämlich in der Weimarer Republik, bereits in Gestalt der Koalitionsfreiheit erreicht wurde. Nun zeigt sich in diesem Gerechtigkeitsprinzip des Sozialstaats, wie ich es kurz skizziert habe, ein eigenartiger Dualismus, eine Zweistufigkeit, ein Zwei-Komponenten-Arrangement, das eben die herkömmliche ordnungspolitische Antithese von Markt und Staat, von Eigentumsrechten und Bürgerrechten zu überwinden und ineinander zu verfugen trachtet. Markt und Staat, Erwerbssphäre und soziale Sicherheit, Rechtsstaat und Sozialstaat, Eigentumsrechte und Bürgerrechte sollen in eine Synthese zueinander gebracht werden. Alle Theoretiker des Sozialstaates haben auf die Problematik einer solchen Synthetisierung von einander eigentlich fremden Strukturprinzipien hingewiesen. Die problematische Beziehung, die zwischen den beiden Strukturelementen (marktwirtschaftliche Erwerbs- und Eigentumsstruktur einerseits, staatliche Sicherheitsgarantie andererseits) besteht, ist die einer asymmetrischen Abhängigkeit. Die beiden Komponenten sind nicht gleichgewichtig, sondern es ergibt sich eine eigentümliche Abhängigkeit der sozialstaatlichen Sicherungsmechanismen vom Markt und der marktgesteuerten Anarchie eines kapitalistischen Wachstumsprozesses — also von derjenigen Dynamik, in welche die sichernde und ordnende Leistung des Sozialstaates gerade eingreifen soll. Die kapitalistische Wachstumsdynamik und die von ihr programmierte Dynamik des Arbeitsmarktes bestimmt nämlich nicht nur den Sicherheitsbedarf, sondern sie bestimmt und begrenzt auch die Effektivität des sozialstaatlichen Lückenbüßer- und Kompensationsarrangements. Man hat das als ,Huckepack-Prinzip' bezeichnet: Die Kompensationsfähigkeit des Sozialstaates ist selbst von den Bewegungen jenes Systems abhängig, dessen Fehler kompensiert werden sollen. Der Sozialstaat ist deshalb nur so leistungsfähig und verläßlich, wie es das relative Gleichgewicht einer Ökonomie ist, in deren Funktionslücken der Sozialstaat gerade einspringen soll. Insofern könnte man von einem strukturellen, allerdings heute erst klar zutage tretenden ,Denkfehler' des Sozialstaatsprinzips sprechen: Das System der sozialen Sicherheit ist selbst ungesichert. Das sozial-

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staatliche Rettungsboot, um einen etwas mechanistischen Vergleich zu nehmen, ist an das Schiff, bei dessen Untergang es gegebenenfalls seine Dienste tun soll, mit einer nicht zu kappenden, wenn auch vielleicht langen Leine angekettet. Dieser Denkfehler ist nun allenfalls mit Vertrauen, Optimismus und Pragmatismus' zu übertünchen. Das Sozialstaatsprinzip genügt jedoch aufgrund dieser seiner eigenen inneren Widersprüchlichkeit nicht wirklich den Ansprüchen einer konsistenten politischen Philosophie oder politischen Theorie, sondern kann nur im Verein mit (bzw. im mitgedachten Vertrauen auf) günstige(n) empirische(tt) Gegebenheiten als Grundlage der Akzeptanz politischer und ökonomischer Herrschafts- und Verteilungsverhältnisse dienen. Um im Bilde zu bleiben: Da man sich auf die Leistungsfähigkeit der Rettungsboote nicht unter allen Umständen verlassen kann, wird die Ruhe an Bord nur so lange währen, wie niemand Anlaß hat zu der Befürchtung, das Schiff könne untergehen. Es gibt eine weitreichende Übereinstimmung bei den ökonomischen, juristischen und politologischen Autoren, die zu dem Thema geschrieben haben, daß das politische System insbesondere der Bundesrepublik Deutschland seine Stabilität nicht der Legitimität seiner politischen Ordnung, sondern, weit mehr, der empirischen Effektivität seines ökonomischen Systems und der Phase, in der es aufgebaut worden ist, verdankt. Es herrscht Akzeptanz statt Legitimität, Wachstum statt Gerechtigkeit, und Stabilität gründet sich eher auf empirische Ursachen als auf zwingende Gründe. Fragen der Legitimität könnten unter den günstigen Umständen einer einmalig langen und langanhaltenden Nachkriegsprosperität sozusagen dahingestellt bleiben. Bricht diese Prosperitätsphase ab und besteht überdies zu der Erwartung wenig Anlaß, die ,Normalität' von Wachstum und Vollbeschäftigung ließe sich demnächst restaurieren (was, so die These, heute beides der Fall ist), so kommt man mit dem Sozialstaatsprinzip jedenfalls in seiner herkömmlichen Fassung nicht weiter. Die Verkoppelung, jene Kette, mit der die Rettungsboote an das potentiell untergehende Schiff gebunden sind, besteht offensichtlich — dies nur zur Verdeutlichung — einerseits darin, daß die Einnahmen der Systeme der sozialen Sicherung vom Volumen der Steigerungsrate der Lohneinkommen und damit dem Beschäftigungsniveau abhängig sind, und ebenso sind die Ausgaben der Systeme der sozialen Sicherung abhängig von der Höhe des individuell jeweils früheren Erwerbseinkommens bzw. der nach ihm bemessenen Transferansprüche. Heute haben wir einen neuen Typus der sozialökonomischen Krisenlage, der genau jene Verkoppelung, jene unzulängliche Unabhängigkeit des

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Sozialstaates prekär werden läßt. Wir haben es mit einem neuen, auch mit keinem früheren Typus der ökonomischen Krise vergleichbaren Tatbestand zu tun, der dadurch am kürzesten charakterisiert werden kann, daß wir einen relativ stabilen, sogar noch langsam wachsenden ökonomischen Output an Gütern und Leistungen haben, wenn auch bei langfristig wohl sinkenden Wachstumsraten, aber gleichzeitig einen dramatisch abnehmenden Input an Arbeitskräften. Die Absorptionsfähigkeit, die Aufnahmefähigkeit des Beschäftigungssystems sinkt, während die Ausstoßfähigkeit des Produktionssystems zumindest gleichbleibt. In dieser Situation sind nun zwei sehr deutliche und innenpolitisch außerordentlich einflußreiche Absetzbewegungen von der (trügerischen) Kompromiß- und Friedensformel des Sozialstaatsprinzips zu identifizieren. Ich möchte diese Absetzbewegung mit einer gewissen, der Klarheit der Debatte hoffentlich dienlichen, plakativen Grobheit der Formulierung so charakterisieren, daß wir auf der einen Seite die Absetzbewegung der neoliberalen Rechten feststellen und auf der anderen Seite die ganz komplementären und spiegelbildlichen Absetzbewegungen dessen, was ich mit einem etwas gewagten Ausdruck als die postindustrielle Linke bezeichnen möchte. Zunächst zur neoliberalen Rechten, bei der ich mich ganz besonders kurz fassen kann im Anblick dieses Podiums: Die Rettungsboote, die in ihrer tatsächlichen Unzulänglichkeit - und hier liegt eine wichtige Erkenntnis, ein wichtiger und realistischer Hinweis der Liberalen — erkannt worden sind, d. h. in ihrer ,Angeknüpftheit' an das Mutterschiff ausgemacht worden sind, werden nicht nur als (im Notfall) wenig hilfreich, sondern, darüber hinaus (und bereits für den Normalfall) als ein Ballast charakterisiert, der gerade im Interesse einer Vermeidung des manifesten sozialpolitischen Notfalles tunlichst abgeworfen werden muß. Man müsse „dem Rad des Wohlfahrtsstaates in die Speichen greifen" — so die dramatisierende Formulierung eines der Protagonisten der neoliberalen Absetzbewegung. Die Botschaft ist klar genug und entbehrt nicht der inneren Schlüssigkeit: Die vorgespiegelte Sicherheit ist trügerisch, und die von den sozialstaatlichen Sicherheitsvorkehrungen ausgehende Belastung kann überdies selbst zum Untergang des Schiffes beitragen. Demgemäß wäre die (partielle) Aufopferung sozialstaatlicher Sicherungsansprüche letztendlich ein Gewinn auch für die (vermeintlichen) Nutznießer und Klienten des Sozialstaates. Deshalb nur Mut: Ballast über Bord, weil ja die ,Rigiditäten' und Garantien des Arbeitsrechtes, des Tarifvertragsrechtes, die sich in wachsenden Lohn-Nebenkosten und Sozial-

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leistungsbelastungen der Unternehmen niederschlagen, nur dazu führen, daß sowohl die „Bereitschaft zu investieren" wie die „Bereitschaft zu arbeiten" beeinträchtigt wird. Die Sozialstaatsformel und ihre unter veränderten ökonomischen und technischen Randbedingungen sich als nicht länger tauglich herausstellende Legitimationsfunktion hat für die neoliberale Rechte ausgedient und wird offen dementiert. Von nun an gehe es um die Privatisierung der Risiken und der Risiko-Vorsorge. Genau spiegelbildlich dazu verhält sich die Absetzbewegung vom Sozialstaatsprinzip, die auf der Seite der postindustriellen Linken' zu beobachten ist. Der Grundgedanke ist, daß wir es in der gegenwärtigen Situation einer tiefen und allen Anzeichen nach lange anhaltenden Beschäftigungskrise zustande bringen müssen, Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, und auf diese Weise das die gesamte Ökonomie einschließlich des Sozialstaats durchziehende Äquivalenzprinzip zu suspendieren. Das läuft hinaus auf eine doppelte Formel: erstens die Institutionalisierung von Einkommensansprüchen auch ohne Erwerbsarbeit, und zweitens die Institutionalisierung von „Arbeit" (oder besser und allgemeiner: von nützlicher Tätigkeit) ohne Lohneinkommen. Erstens also: „Einkommen ohne Arbeit". Entsprechende Vorschläge, Vorstellungen und Versuche einer progressiven Weiterentwicklung des Sozialstaatsprinzips laufen darauf hinaus, die Teilnahme am Reichtum der Gesellschaft auch anders als über marktbestimmte Arbeits- und Faktoreinkommen, nämlich als Bürgerrecht zu organisieren. Dieses kann gerechtfertigt werden mit dem Hinweis auf langfristig sinkende Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes. Wenn aber der Arbeitsmarkt keine hinreichenden Erwerbschancen mehr bietet, dann muß Einkommen anders als in der Form des Lohnes (oder der selbst lohnabhängigen Lohnersatzleistungen) zugeteilt und gewährt werden. Dem entspricht zweitens der Gedanke einer Organisation gesellschaftlich nützlicher Arbeit ohne Einkommen, ohne „Verkauf" der Arbeit gegen Geldleistungen. Das hieße die Emanzipation der gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit von der zu eng gewordenen Form der Lohnarbeit. Abschließend eine Bemerkung zu der naheliegenden und weiß Gott gewichtigen Frage: wenn man diese heute häretisch klingenden Vorstellungen weiterdenkt, was passiert eigentlich mit den traditionellen Organisationen der Vertreter von Lohnarbeiter-Interessen, also den Gewerkschaften und den ihnen verbundenen politischen Kräften? Ich denke, daß man sich in diesem Punkte nicht nur normativ, sondern im Sinne einer gewiß riskanten Prophezeiung vielleicht auf die folgende

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Claus Offe

These einigen könnte: Ihre Rolle besteht darin, aber sie beschränkt sich auch zugleich darauf, in diesem neuen gesellschaftspolitischen Grundsatzkonflikt zwischen neoliberaler Rechter und postindustrieller Linker den Bestand an sozialstaatlichen Garantien so lange zu sichern und gegen Angriffe und Demontage-Versuche zu verteidigen, bis eine neue, nicht mehr durch das institutionelle Nadelöhr der Lohnarbeit gefädelte Verknüpfung zwischen Arbeit und Einkommen etabliert ist. Einem Erfolg in diesem schwierigen Verteidigungskampf der Gewerkschaften würde es jedoch wohl kaum dienen, wenn in seinen Mittelpunkt die Institution der Lohnarbeit selbst und die auf sie bezogenen, aber heute weithin obsoleten Organisationsfiguren des Sozialstaates gestellt würden.

Der Sozialstaat als Steuerstaat KLAUS VOGEL

Der Sozialstaat 1 ist seinem Begriff nach ein Staat mit privater Wirtschaft. Für einen Staat ohne Privatwirtschaft, einen Staat also, in dem die politische Führung auch die wirtschaftlichen Entscheidungen trifft und vollzieht, wäre die Bezeichnung „Sozialstaat" sinnlos. Für einen derartigen Staat gibt es nicht die Alternative „sozial" oder „unsozial". Staatliches Handeln ist stets auf Gerechtigkeit verpflichtet; daß ein Staat, der Produktion, Investition und Verteilung selber besorgt, die Ergebnisse seiner Produktion gerecht verteilen muß, ist nicht zweifelhaft. Verfehlt er die gerechte Verteilung, und mehr oder weniger haben ja bislang alle real existierenden Sozialismen sie immer wieder verfehlt, dann ist das nicht „unsozial", sondern der Staat wird seiner Aufgabe, seinem Prinzip nicht gerecht — vielleicht kann ein Staat als Staat dieser Aufgabe gar nicht gerecht werden. All das gilt entsprechend auch, wenn die politische Führung in den Händen einer allgegenwärtigen „Basis" liegt (falls man das für vorstellbar hält). Demgegenüber hat der Sozialstaat seinen Namen von der sozialen Frage, die eine Konsequenz der Privatwirtschaft war. Ihm stellt seine Verfassung die Aufgabe, die soziale Frage anzugehen und sie, soweit möglich, zu überwinden: Not zu verhindern, ungerechtfertigte Einkommensunterschiede auszugleichen, Abhängigkeit aufzuheben — kurz, die Ergebnisse des privatwirtschaftlichen Verteilungsprozesses zu überwachen und sie, wo nötig, zu korrigieren2. Ich spreche vom 1 Die Literatur zum Sozialstaatsbegriff ist unübersehbar. Für einen Überblick s. R. HERZOG, Die Verfassungsentscheidung für die Sozialstaatlichkeit, in: Maunz/ Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz, Kommentar, Art. 20, S. 295 ff; K. STERN, Staatsrecht, B d . l , 1984 2 , S. 872ff. 2 H. F. ZACHER, Sozialpolitik und Verfassung im ersten Jahrzehnt der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 698 f.

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Sozialstaatsbegriff im Sinne des Grundgesetzes, nicht davon, was man sich unter einem Sozialstaat vielleicht sonst noch alles vorstellen könnte. Der Steuerstaat ist ein Staat, der seinen Bedarf über Steuern finanziert.3 Damit ist „Steuerstaat" lediglich ein anderes Wort für den Staat, der nicht selber produziert. Die Bezeichnung hebt nur einen Aspekt besonders hervor: daß dieser Staat für seinen Bedarf auf Leistungen aus dem nichtstaatlichen Bereich angewiesen ist, außerdem, daß er sie als Geldleistungen erhebt. Da der Sozialstaat, wie ich eben ausführte, ein Staat mit Privatwirtschaft ist, ist er stets Steuerstaat. Man mag sagen, er ist ein Unterfall, eine Erscheinungsform des Steuerstaats: der „soziale Steuerstaat". Die Steuerstaatlichkeit gibt dem Sozialstaat besondere Handhaben; sie setzt ihm aber auch Grenzen. Über die Gestaltung des Steuertarifs kann der Sozialstaat ein Stück Wohlstandsausgleich bewirken, über Steueranreize und -abreize wirtschaftliches Verhalten beeinflussen (allerdings werden die Wirkungsmöglichkeiten solcher Lenkungsmaßnahmen oft überschätzt). Andererseits muß sich der Sozialstaat in seinen Leistungen auf das beschränken, was aus Steuern und Sozialabgaben finanziert werden kann. Und er ist genötigt, bei seinen Maßnahmen auf die Funktionsfähigkeit der Privatwirtschaft zu achten; denn der Staat kann durch Erhebung von Steuern an Gütern nur an sich ziehen, was zuvor im privaten Sektor produziert worden ist. Gerade die heute vielfach diskutierte „Krise des Sozialstaats" 4 liegt ja zu einem wesentlichen Teil darin, daß der Sozialstaat an seine steuerstaatlichen Grenzen stößt. Das alles ist wichtig, aber es ist auch banal. Es läuft auf den alten Satz hinaus, daß man eine Kuh, die man melken will, nicht schlachten darf, und auf den anderen, womöglich noch älteren: „Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren". So banal sie sind, werden allerdings diese Regeln von vielen, auch von Politikern, häufig nur 3 J. ISENSEE, Steuerstaat als Staatsform, in: Festschrift für H. P. Ipsen, 1977, S. 409 ff. 4 S. insbes.: M. HEINZE, Möglichkeiten der Fortentwicklung des Rechts der sozialen Sicherheit zwischen Anpassungszwang und Bestandsschutz, in: Verhandlungen des 55. Dt. Juristentages, Bd. 1 E, S. 32 ff; J. ISENSEE, Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise. Der Kampf um die sozialen Besitzstände und die Normen der Verfassung, in: Festschrift f. J. Broermann, 1982, S. 365 ff; R. SCHOLZ, Sozialstaat zwischen Wachstums- und Rezessionsgesellschaft, Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe, Heft 150,1980; H. F. ZACHER, Der Wohlfahrtsstaat auf dem Prüfstand. Ein Cappenberger Gespräch, 1983, S. 30 ff; DERS., Der gebeutelte Sozialstaat in der wirtschaftlichen Krise, Sozialer Fortschritt, 1984, S. l f f .

Der Sozialstaat als Steuerstaat

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sehr ungern zur Kenntnis genommen. Gewiß: das wird oft billiger Stimmenfang sein. Hinter solch einer Haltung kann aber auch die Ungeduld eines Geistes stehen, der sich in die Schranken des Materiellen nicht fügen, sich von ihnen nicht knechten lassen mag — Prometheus, der an seinen Ketten rüttelt. Das mag kein vernünftiger Standpunkt sein — Prometheus ist nicht vernünftig — aber ich respektiere solch eine Ungeduld. Und um ihretwillen möchte ich hier zeigen, daß es sich in Wahrheit nicht nur um materielle Grenzen handelt, daß diese Grenzen im System des Sozialstaats liegen, daß sie ihn bei seiner Bestimmung halten. Die Trennung des politischen Systems von der Produktion und Verteilung, wie sie der Sozialstaat voraussetzt, soll die Vorzüge beider Bereiche verbinden und ihre Schwächen gegeneinander ausgleichen. Die Vorzüge der politischen Organisation will ich hier nur stichwortartig nennen: Frieden im Innern, Orientierung am Gemeinwohl, in der Demokratie Bändigung der Macht und deren Kontrolle. Ihre Schwäche liegt darin, daß es nur begrenzt möglich ist, Gemeinwohl zu definieren, und noch schwerer, staatliches Handeln darauf auch tatsächlich auszurichten. Politische Führung kann ihre Aufgaben nur erfüllen, wenn es ihr gelingt, Anerkennung und, zumindest in gewissem Umfang, freiwillige Gefolgschaft zu finden; das gilt für jeden Staat, in der Demokratie wird es nur besonders deutlich. Ein Politiker kann noch so befähigt sein, er kann noch so hohe Ziele haben, beides kann er nur zum Tragen bringen, wenn er die Unterstützung seiner Partei und die der Wähler erlangt (und sie bewahrt). Idealerweise sollte die Unterstützung von der Fähigkeit und den Zielen abhängen. Beides unterliegt aber subjektiver Bewertung, und diese Bewertung kann auch bei allseits gutem Willen sehr unterschiedlich ausfallen. Überdies sind Parteifreunde und Wähler verführbar — und sie können getäuscht werden. An die Stelle des Ziels, gute Politik zu machen, tritt so unversehens das doch eigentlich sekundäre Motiv, Partei und Wähler zu gewinnen. Das fordert ganz andere Fähigkeiten, als sie für das Staatsziel erforderlich sind. Man muß Verbündete finden, Zielkompromisse schließen, Protektion gewähren; man muß, wo populäres und sachgerechtes Handeln auseinandergehen, eher populär als sachgerecht handeln; man muß Erfolge „verkaufen", auch wo sie keine sind; man muß Mißerfolge und Fehler kaschieren. Ich erzähle hier keine Horrorgeschichte, sondern beschreibe nur eine Zwangsläufigkeit. Es ist ein hartes Geschäft, dessen Protagonisten nicht zu beneiden sind. Es ist

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ein Geschäft, dem sich auch basisdemokratische „Bewegungen" unterziehen müssen, wenn sie wenigstens einen Teil ihrer Ziele durchsetzen wollen; unsere Grünen und Alternativen haben es zum Teil schon recht gut gelernt. Für die Bürokratie gilt im übrigen Ähnliches; an die Stelle der Unterstützung durch die Wähler tritt hier die durch Kollegen, Vorgesetzte, Politiker. Betrachtet man diese Vorgegebenheiten, dann muß man eigentlich überrascht sein, wieviel Positives bei der Staatstätigkeit noch herauskommt. Man wird nicht erwarten können, daß politisches Handeln unter solchen Bedingungen hocheffektiv ist, daß es seine Ziele — oder die, die es sein sollten — optimal verwirklicht. Man sollte realistischerweise bescheiden sein. All dieser Unsicherheit und Unbestimmtheit setzt die private Wirtschaft ein meßbares Kriterium gegenüber, an dem sie sich orientiert: den Gewinn. Erfolg und Mißerfolg sind hier eindeutig definierbar; sie können auf die Dauer nicht verschleiert werden. Auf Fehler folgt unvermeidlich die Sanktion. Das ist ein gewaltiger Rationalitätsgewinn; auf ihm beruht es, daß die private Wirtschaft in Produktion und Verteilung dem wirtschaftenden Staat so unendlich überlegen ist. Aber diese Überlegenheit ergibt sich aus einer ähnlichen Vereinseitigung der Motive wie ich sie für den Politiker gerade eben beschrieben habe. Andere, ideale Motive — Fürsorge für die Arbeitnehmer, Förderung von Allgemeininteressen — sind zwar nicht ausgeschlossen; es gibt sie, und sie haben ihr Gewicht. Aber sie können doch immer nur so weit berücksichtigt werden, daß das Unternehmen noch mindestens seine Kosten einbringt, sonst folgt die Sanktion. Und der verantwortlich Handelnde muß in Kauf nehmen, daß ihn der Rücksichtslose oft überflügeln kann. Die negativen Folgen, zu denen das führen kann, sind in der Kapitalismuskritik vielfach beschrieben worden. An dieser Stelle setzt der Sozialstaat an. Der Staat hat immer schon der privaten Wirtschaft Rahmenbedingungen gesetzt und sie an Anforderungen des Gemeinwohls gebunden, Anforderungen, deren Einhaltung die Wirtschaft aus sich heraus wegen ihrer einseitigen Ausrichtung auf nur ein Motiv nicht gewährleisten konnte. Anfangs geschah dies durch strafrechtliche Verhaltensvorschriften und im klassischen Gewerberecht. Der Sozialstaat hat diese Instrumente aufgenommen und sie erweitert; er bedient sich dazu der Leistungsfähigkeit der privaten Wirtschaft. Über Abgabenerhebung und -bewirtschaftung, Kostenrechnungen usw. wird nebenher ein Stück wirtschafdicher Rationalität auch in den politischen Raum übernommen.

Der Sozialstaat als Steuerstaat

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Vergleicht man die „soziale Frage" vor einhundert Jahren mit dem, was heute davon verblieben ist, dann sieht man, jenseits berechtigter und unberechtigter Nörgelei, daß der Sozialstaat Eindrucksvolles bewirkt hat. Auch neue Herausforderungen wie heute die Umweltprobleme kann und wird der Staat auf demselben Weg, durch Schaffung und Durchsetzung von Rahmenbedingungen, bewältigen können. Daß dies einstweilen nur sehr unzulänglich geschieht, ist angesichts eines sturzbachartigen Wertewandels, dazu zahlreicher neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, kaum verwunderlich. Bei allem bleibt natürlich die Struktur des politischen Bereiches unverändert; es bleibt bei seinem Rationalitätsdefizit. So ist es wohl kaum rational, wenn heute ein großer Teil der „SoziaP'-Leistungen durch Abgaben derer finanziert werden muß, die anschließend diese Leistungen wieder bekommen sollen 5 , wenn also der Sozialstaat die Bedürftigkeit, die er lindert, in vielen Fällen selber erst schafft, von dem Wertverzehr durch Verwaltungsaufwand zu schweigen. Und ich halte es gleichfalls für wenig rational, wenn heute der Schutz von Arbeitsplätzen und Mietwohnungen im Ergebnis zu Lasten der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und Wohnungen geht, also zu Lasten derer, die die Arbeitsplätze und Wohnungen benötigen würden (sie sind heute „die im Dunkeln", die man nicht sieht: Finale der Dreigroschenoper). Wenn in solchen Fällen der Sozialstaat als Steuerstaat an die Grenzen des Finanzierbaren stößt, dann sind dies nicht „niedere" materielle Grenzen, sondern es ist wirtschaftliche Rationalität, die gegenüber der mangelhaften Rationalität des Politischen ihre Beachtung verlangt. Auch hier kommt es zu Sanktionen, wenn diese Rationalität nicht beachtet wird. Ich fasse zusammen. Der Sozialstaat als Steuerstaat — oder besser: der Steuerstaat als Sozialstaat — ist die Synthese (im Sinne Hegels) zwischen einem Staatsabsolutismus, wie ihn, als Absolutismus der Mehrheit oder der Basis oder der mit dem richtigen Bewußtsein, Sozialisten immer wieder angestrebt haben, und einer grenzenlosen Autonomie der Wirtschaft im Sinne der Vorstellungen des Frühliberalismus. Sein System: Begrenzung der negativen Folgen wirtschaftlicher Autonomie durch sozialstaatliche Vorgaben einerseits, die Begrenzung politischer Fehlsteuerungen durch das Angewiesensein des Staats auf die Wirtschaft andererseits, funktioniert aber nur, wenn die beiden Bereiche hinreichend klar voneinander geschieden sind. Es ist 5

H. F. ZACHER, Der gebeutelte Sozialstaat, s. Anm. 4, S. 7.

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kein Zufall, daß ein wesentlicher Teil unserer Umweltproblematik aus einem Sektor herrührt, in dem staatliche, kommunale und wirtschaftliche Einflüsse und Interessen aufs engste miteinander verstrickt sind: der Energiewirtschaft. Die notwendige Abgrenzung ist allerdings ständig gefährdet: von seiten der Wirtschaft, wo sie über ihre politischen Rechte und Möglichkeiten hinaus mit den ihr spezifischen Mitteln auf Funktionsträger Einfluß zu nehmen sucht (Stichwort: Spendenaffäre), von Seiten des Staates, wo er durch Überspannung seiner Anforderungen der Wirtschaft das Substrat entzieht (Stichwort: Steuerschraube). Wenn innerhalb von zehn Jahren der Staatsanteil am Sozialprodukt von einem Drittel auf knapp die Hälfte ausgedehnt wird und gleichzeitig die Zahl der Arbeitslosen von null auf zehn Prozent steigt, dann ist das ein Beispiel dafür, wie der soziale Steuerstaat sich selbst zuwider handeln kann. Hier wäre es nötig, die Grenzen der beiden Bereiche gegen Durchbrechung und Unterminierung besser zu sichern. Am besten verfassungsrechtlich — aber das ist ein neues Thema. 6

6 Über einschlägige Bestrebungen in den Vereinigten Staaten und dort bereits bestehende Regelungen s. K.VOGEL, Verfassungsgrenzen für Steuern und Staatsausgaben? in: Festschrift f. TH. Maunz, 1981, S. 415 ff; ferner jetzt: C.FOLKERS, Begrenzungen von Steuern und Staatsausgaben in den USA, 1983.

Der informelle Sektor als Sozialstaatsersatz? DIETER GRÜHN

I. Fragestellung 2,5 Millionen Arbeitslose ohne die bis auf die gleiche Anzahl geschätzte Dunkelziffer — darunter hunderttausend Jugendliche ohne Ausbildung und ohne Zukunftsperspektive, beinahe dieselbe Zahl bei den Sozialhilfeempfängern, zunehmende Sinnentleerung in großen Bereichen der noch verbleibenden Arbeit, Erosion kulturell verankerter Identitätsmaßstäbe, Verlagerung identitätssichernder Handlungsbezüge in einen von Kolonisierungsbestrebungen heimgesuchten Freizeit- und Konsumbereich, wachsende Morbidität und Mortalität seit Ende der 60er Jahre durch Verdichtung der Arbeit und galoppierende Umweltvergiftung, Anwachsen neuer Krankheitsbilder des Herzkreislaufsystems sowie in Bereichen des rheumatischen Formenkreises und der Atmungsorgane, Versorgungslücken bei der Pflege behinderter aber auch älterer Menschen, steigende psychische Verelendung durch Einsamkeit und Anonymität nicht nur in zerstörten, unwirtlichen Großstädten, sondern auch auf dem zersiedelten und seiner sozialen Strukturen beraubten Land, Integrationsprobleme ausländischer Arbeitnehmer und anderer an quantitativer Bedeutung gewinnender marginalisierter Gruppen. Vor diesem Hintergrund findet eine Auseinandersetzung über die Grenzen des Sozialstaats statt, die zunächst auf Finanzierungsschwierigkeiten, die Finanzkrise des Sozialstaats, beschränkt schien. Diese Finanzprobleme werden aufgrund anhaltender Konjunkturschwächen, sinkender Wachstumsraten, anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und demographischer Umstrukturierung nicht nur in der Rentendebatte auf der Tagesordnung bleiben. Es zeigt sich jedoch in der Entfaltung der Diskussion, daß der Konsens über das Sozialstaatsprinzip selbst zu zerbrechen beginnt und zunehmend tiefergehende Zweifel an den Grundlagen, Zielen und Methoden staatlicher Wohl-

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fahrtspolitik geäußert werden. Die sozialkulturelle Dimension sozialstaatlicher Sicherungssysteme, vor allem veränderte Bedarfslagen, der Bedeutungsgewinn immaterieller Bedürfnisse und damit verbunden vor allem die Vernachlässigung informeller Ausgleichssysteme werden heute thematisiert. Gleichzeitig wird ein grundsätzlicher Bedeutungsverlust traditioneller Berufs- und Leistungswerte konstatiert, ein Einstellungswandel in bezug auf Erwerbsarbeit, in dessen Folge eine andere Form von Arbeit — „Tätigkeit" 1 — im informellen Sektor wiederentdeckt wird: Sowohl die um sich greifende Arbeitslosigkeit wie die Kritik an perspektivloser, sinnentleerter und gesundheitsraubender beruflicher Arbeit führen dazu, daß „die Sphäre von Arbeit und Produktion ihre gesellschaftsstrukturierende und -organisierende Kapazität offenbar einbüßt und im Gefolge der ,Implosion' ihrer sozialen Determinationskraft neue Handlungsfelder mit neuen Akteuren und Rationalitäten freisetzt". 2 Im informellen Sektor wird eine Chance zur Lösung der Krise der Arbeitsgesellschaft und des Sozialstaates gesehen. Dieser Vermutung gehe ich in den folgenden Ausführungen nach. — Zunächst weise ich auf die zentralen Krisentendenzen des traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Leistungssystems hin, die andere Formen gesellschaftlicher bzw. gemeinschaftlicher Bearbeitung erforderlich erscheinen lassen. — Danach gehe ich am Beispiel der Ursachen der Wiederentdeckung des informellen Sektors auf die verschiedenen Bezeichnungen für ihn und die sich dahinter verbergenden Differenzen ein. — Abschließend behandle ich die Frage, ob und wenn ja unter welchen Voraussetzungen der informelle Sektor einen Beitrag zur Lösung der Krise des Wohlfahrtsstaates leisten kann.

II. „Soziale Grenzen" traditioneller Sozialpolitik Sozialpolitik ist organisierte Form gesellschaftlicher Reproduktion. Sie hat die negativen externen Effekte (physische, psychische und 1 Vgl. R. DAHRENDORF, Die Chancen der Krise, 1983; DERS., Wenn der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgeht, in: J. Matthes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? 1983, S. 2 5 - 3 7 . 2 C. OFFE, Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie, in: J. Matthes (Hrsg.), s. Anm. 1, S. 3 8 - 6 5 , hier S. 60.

Der informelle Sektor als Sozialstaatsersatz?

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soziale Leiden) und sozialen Kosten des marktgesteuerten Wirtschaftens aufzufangen, abzubauen und zu kompensieren. Dies geschieht über den Einsatz von Finanz- und Sachmitteln sowie mit Hilfe sozialer Dienste, mit denen positive Lebensbedingungen und Erlebnisinhalte für die Betroffenen geschaffen werden sollen. Die finanziellen Möglichkeiten zu entsprechenden Bedarfsdeckungen sind begrenzt durch die Beitragseinnahmen der Sozialversicherungsträger und durch das Steueraufkommen. Sie haben sich durch die Wachstumseinbußen des vergangenen Jahrzehnts und durch die „Krise der Staatsfinanzen" einschneidend verschlechtert. Das Dilemma, in dem sich staatliche Sozialpolitik heute befindet, resultiert nicht zuletzt daraus, daß zwar kurzfristige Beschäftigungseinbrüche wohlfahrtsstaatlich abgefedert werden können, das Auffangpotential angesichts der derzeitigen ausufernden und anhaltenden Arbeitsmarktkrise jedoch unterminiert wird, und die verfügbaren Mittel für die Sozialeinkommen der wachsenden Zahl derjenigen, die einen Rechtsanspruch darauf haben, erheblich vermindert werden. Das führt zu einer Reduktion wohlfahrtsstaatlich garantierter Schutzund Rechtsansprüche vor allem marginalisierter, nicht organisierter und zur Auslösung kollektiver Konflikte unfähiger Gruppen. Das heißt, die Krise des Wohlfahrtsstaates ist auch eine Funktion der Arbeitsmarktkrise, da ein systematischer Zusammenhang besteht zwischen der gesamtgesellschaftlichen Beschäftigungslage auf der einen Seite und sowohl dem Umfang der Rechtsansprüche, die an den Sozialstaat gerichtet werden, als auch der Höhe der zur Befriedigung dieser Ansprüche zur Verfügung stehenden Mittel auf der anderen. Angesichts eingeschränkter Wachstumsentwicklung spielen technokratische Bedarfsprognosen als Leitlinien für die Bedarfsdeckung heute keine Rolle. Anders als während der Phase sozialliberaler Reformeuphorie wird dieses Problem derzeit pragmatisch gelöst: „Die vorhandenen fiskalischen und personellen Kapazitäten werden zum Maßstab des Bedarfs, und die Ansprüche nach Leistungen werden auf dieses Niveau zurückgeregelt. Eine befriedigende Lösung ist dies fürwahr nicht." 3 Die Ursachen der Finanzkrise des Sozialstaats kann man stark gerafft wie folgt umreißen: - Wie eingangs erwähnt steigt insgesamt für den einzelnen die Wahrscheinlichkeit, sozialpolitische Hilfen in Anspruch nehmen zu müs3 G. SCHMID, Krise des Wohlfahrtsstaates: Alternative zur staatlichen Finanzierung und Bereitstellung kollektiver Güter, in: PVS 1/1984, S. 6-30, hier S. 18.

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sen und damit die Gefahr der Abhängigkeit von sozialstaatlichen Hilfsangeboten mit der Folge wachsender Belastungen des Sozialbudgets. — Die demographische Entwicklung verstärkt die Probleme, da eine sinkende Zahl junger Menschen die Versorgung der anteilig größer werdenden Gruppe älterer Mitmenschen tragen muß. — Einer steigenden Zahl arbeitsfähiger und arbeitswilliger Personen wird zugleich der Zutritt zum Beschäftigungssystem verwehrt. Durch die Massenarbeitslosigkeit kommt es zu wachsenden Einbußen auf der Einnahmeseite der Sozialstaatsbilanz. — Produktivitätssteigerungen infolge technologischer Entwicklung werden zu weiteren Freisetzungen noch beschäftigter Arbeitnehmer führen. — In dieser Situation schafft auch ein „angemessenes Wirtschaftswachstum" von 2—3% keine Abhilfe: Es macht vielmehr das Besondere der derzeitigen Beschäftigungskrise aus, daß sie sich nicht zugleich in einer output-Krise äußert. — Eine neokeynesianische Nachfragepolitik ist zum Scheitern verurteilt, da die Ausgaben „davonlaufen" und die öffentliche Hand zunehmend zur Kreditfinanzierung gezwungen ist. Der dadurch begünstigte Mechanismus: „Steigende Zinsen, sinkende private Investitionsbereitschaft" läßt zugleich die Anforderungen an staatliche Investitionen weiter ansteigen. Dies wiederum bereitet, angesichts anhaltender Wachstumsschwächen den Boden für Forderungen nach einer angebotsorientierten staatlichen Wirtschaftspolitik zu Lasten der Sozialpolitik, um die Voraussetzungen für ein „investitionsfreundliches Klima" zu schaffen. — Eine Umverteilung innerhalb des Staatshaushaltes zugunsten „der sozialen Dienste wird u. a. auch dadurch behindert, daß das weitverbreitete Vorurteil besteht, im wesentlichen würden soziale Dienste nur Kosten verursachen und kaum Nutzen stiften. Die Kenntnis, ob, wann und unter welchen Bedingungen sich Nutzen einstellen bzw. quantifizieren lassen, ist kaum vorhanden oder nur sehr wenig verbreitet." 4 Selbst wenn vom rechten Flügel der Sozialdemokratie und aus weiten Teilen der Gewerkschaften noch heute der Ruf nach keynesia4

BUNDESMINISTER FÜR ARBEIT UND SOZIALORDNUNG (Hrsg.), Soziale Dienst-

leistungen als Träger potentiellen Wachstums und ihr Beitrag zum Abbau der längerfristigen Arbeitslosigkeit, 1980, S. 5.

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nischen Rettungsversuchen erklingt, gekoppelt mit einem weitgehenden Festhalten an überkommenen Zielen, Organisationsformen und Methoden, so steht doch im Mittelpunkt der derzeitigen Diskussion die Einsicht, daß aus den genannten Gründen weder eine angebotsnoch eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik zur Lösung der Sozialstaatsprobleme beitragen kann. Die Vorstellung, eine gute Wirtschaftspolitik sei die beste Sozialpolitik, ist aber vor allem obsolet geworden aufgrund der Kritik, wonach derartige Maßnahmen die Reduktion sozialer Probleme auf Einbußen im Bruttosozialprodukt implizieren, und daß die Fixierung auf quantitatives industrielles Wachstum sowie expandierende Bürokratie als grundlegendes Paradigma selbst zur Diskussion zu stellen sei. In einer publizitätswirksamen scheinbaren Koalition konservativen Spar- und grün-alternativen Umbauwillens wird nicht nur die Frage gestellt, ob man den Sozialstaat noch finanzieren kann, sondern ob man diesen Sozialleviathan mit seinen anonymen, entmündigenden Wohltaten und grundlegenden Steuerungs- und Strukturdefiziten überhaupt noch finanzieren soll und will. So schrieben Badura/Gross bereits vor einem Jahrzehnt: „Die Krise der Sozialpolitik erschöpft sich . . . nicht in der vielzitierten ,Finanzkrise'. Das Fiskalproblem muß vielmehr als aktueller, nunmehr unübersehbarer Ausdruck länger schwelender Spannungen und Probleme unserer traditionellen Lebens-, Wirtschafts- und Sicherungsformen verstanden werden. Die lange Zeit stillschweigend unterstellte Gleichung ,Wohlfahrtsstaat = Wohlfahrtsgesellschaft' gilt nicht mehr, falls sie überhaupt je gegolten hat." 5 Die Parole von „weniger Staat" aus dem Munde konservativer Sozialstaatskritiker, die im weiteren Ausbau des Sozialstaats eine Gefährdung der tragenden Systembedingungen des kapitalistischen Gesellschaftssystems sehen, da er „parasitäre Existenzen" nähre, Disziplinierung untergrabe, leistungshemmend wirke bzw. individuelle Leistung bestrafe und „unechte Arbeitslose" und „Trittbrettfahrer" belohne, steht in scheinbarer Nähe neben dem „Staat hau ab" aus den Reihen der neuen sozialen Bewegungen, die in ihrer überwältigenden Mehrheit nicht die Ziele — „Wohlfahrt für alle und nicht nur für wenige" —, sondern die Dysfunktionalitäten und Steuerungsdefizite traditioneller Sozialpolitik kritisieren: Die also die Frage stellen, was denn heute „Wohlfahrt" bedeuten kann und soll, die mit den Worten von Strasser „die evolutionäre Entfaltung des Sozialstaats5

B . BADURA, P. GROSS, S o z i a l p o l i t i s c h e P e r s p e k t i v e n , 1 9 7 6 , S . 1 0 .

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prinzips unter Bedingungen der politischen Demokratie bejahen, aber die vorherrschende sozialpolitische Konzeption in Teilen oder insgesamt für verfehlt halten." 6 Dabei geht es diesen Kritikern des Wohlfahrtsstaates keinesfalls um die Abschaffung des Sozialstaates überhaupt, vielmehr wird explizit festgehalten, daß die Überwindung der Alternative Verstaadichung/Privatisierung und Wiederfinden der Solidarität nicht vergessen lassen dürfen, daß der Wohlfahrtsstaat weiterhin die zentrale Rolle spielen wird, wenn es darum geht, Solidarität zu verwirklichen. Allerdings, so wird bemängelt, habe man durch die Reduktion der Kernfrage des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft auf die rein finanzielle Dimension, „über die Frage ,wer soll die kollektiven Dienstleistungen bezahlen', . . . die Frage vergessen, was eine kollektive Dienstleistung eigentlich sei." 7 Diesen divergierenden Positionen liegt ein entsprechend vielfältiges und widersprüchliches Ursachenspektrum zugrunde. Man kann sie etwas vereinfachend den drei zentralen Erklärungsansätzen im Rahmen der Wertewandeldebatte zuordnen: a) Ein erster, häufig mit „rising-demand" titulierter Ansatz geht davon aus, daß der Entwicklung neuer Werte eine staatlich produzierte Anspruchsinflation zugrunde liegt: Der erreichte Wohlstand und das zunehmende Sicherheitsniveau setze die Individuen zunehmend für die Verfolgung sozialer, kultureller und intellektueller Bedürfnisse frei. Das „Neue Leiden" an der Gesellschaft ist danach nur das Ergebnis einer „Aspirationsexplosion". Diesem Ansatz wäre auch die in der Diskussion der sozialen Grenzen des Sozialstaats mit „Rationalitätsfalle des Wohlfahrtsstaates" bezeichnete Erklärung zuzuordnen. Danach führt die Unzufriedenheit mit steigenden Zwangsbeiträgen und Steuerlasten zu einem ausufernden Nachfrageverhalten nach Kollektivgütern. b) Eine zweiter, gelegentlich mit „need-defence" charakterisierter Ansatz geht von der Pauperisierung der Lebensbedingungen aus. Damit unterstreicht er seinen implizit oppositionellen Anspruch: Die neuen Werte erwachsen demnach dem Kampf gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen. c) Ein dritter Ansatz steht in der Tradition der Theorie postindustrieller Gesellschaften. Danach handelt es sich bei der Herausbildung J . STRASSER, Die Grenzen des Sozialstaats? 1979, S. 18. P. ROSANVALLON, Nach der Sozialdemokratie, in: Freibeuter 11, S. 6 3 - 7 5 , hier S. 64. 6 7

1982,

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neuer Werte, neuer sozialer Bewegungen und neuer Ansprüche an den Sozialstaat um einen Mutationsprozeß (Touraine), in dem sich als Ablagerung eines strukturellen grundlegenden Umbruchs embryonale Formen gegenkultureller Protestpotentiale herausbilden. Diesen beiden letzten Positionen vor allem lassen sich die in der Diskussion um die sozialen Grenzen des Sozialstaats angeführten Funktionsdefizite und Probleme zuordnen: — Verlust zwischenmenschlicher, solidarisch-spontaner Kooperationsbezüge durch rapide Auflösung traditioneller Handlungssysteme und weitere Schwächung intermediärer Gruppen; — Entmündigungstendenzen durch Expertenherrschaft im Bereich sozialer Dienste, bürokratische Überformung und Verrechtlichung. Dadurch würden die Individuen der Fähigkeiten beraubt, ihr Leben sowohl autonom als auch gemeinschaftlich zu gestalten; — und, mit letzterem zusammenhängend, die Selbstperpetuierungstendenzen der Sozialpolitik, da Professionen dazu tendieren, sich unentbehrlich zu machen, wodurch die auslösenden Notlagen nicht nur nicht beseitigt, sondern sogar verstärkt würden. Insgesamt erscheint es notwendig, die drei Erklärungsansätze der Wertewandeldebatte zu einer Perspektive zu verschränken, um den Phänomenen gerecht zu werden. Damit wird deutlich, daß nicht die Sozialstaats&nse, sondern die Sozialstaats&men zur Debatte stehen: Die Effizienz- und Effektivitätskrise, die Organisationskrise, die Krise des Reparaturprinzips, die politische Krise, die sozialkulturelle Krise oder etwas systematischer: Es handelt sich um eine Krise der Kosten und aufzubringenden Mittel, eine Krise der Wirksamkeit bzw. des Nutzens und um eine Krise der Legitimität. Als Alternative zu einer sich ausschließlich an Steigerungsraten der Sozialleistungsquote orientierenden, nur die quantitativen Zuwächse der traditionellen Sach- und Finanzhilfen sowie sozialen Dienste betrachtenden Position werden in einer neuen Sichtweise zunehmend die im Dunkel des primären Sozialstaatssektors vergessenen und verdrängten vormarktlichen und vorpolitischen Formen sozialer Sicherungssysteme wiederentdeckt. Im Schatten des traditionellen Sozialstaatsstreits um die Art und Höhe von bürokratisch zu verteilenden Einkommens-, Sach- und Dienstleistungen wird die Bedeutung immaterieller Güter und Bedürfnislagen sichtbar. Danach vernachlässigt eine Sozialpolitik, die sich auf die Regulierung und Abfederung regelhafter und typifizierbarer Risiken und

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Notlagen beschränkt und diesen durch abstrakte Normensetzung, Rechtsansprüche und Geldleistungen zu begegnen sucht, die wachsende Bedeutung persönlicher Dienstleistungen als Beratungs- und Aufklärungsarbeit für konkrete, alltägliche Lebenslagen. Diese kann sich vor dem Hintergrund widersprüchlicher Normalitätserwartungen nicht auf eingeschliffene Deutungs- und Handlungsmuster berufen. Vielmehr hat die „Deutungsarbeit zwischen Sozialarbeiter und Klient" aufgrund der Zerstörung und „Pluralisierung von Identitätsmaßstäben und Normalitätsentwürfen" selbst im Mittelpunkt der Dienstleistungsarbeit zu stehen.8 Allerdings sind Rechtsansprüche auf Leistungen sowie die freie Verwendung über Sozialeinkommen weiterhin Voraussetzung für mehr Freiheit und soziale Sicherheit für die Betroffenen. Es existieren jedoch vielfältige Bedürfnisse, „die nur außerhalb von Marktprozessen und bürokratischen Zuweisungen zu befriedigen sind. Eine abstrahierende, zentralisierte Sozialpolitik kann hier nichts bewirken. Notwendig erscheinen eher ergänzende dezentrale Organisationsformen, durch die persönliche Dienstleistungen angeboten werden, und wobei auf die verschiedenen Selbsthilfepotentiale . . . stärkend und unterstützend gewirkt werden kann." 9 So wird auch in einer Studie für den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung u.a. darauf hingewiesen, daß soziale Dienstleistungen nur dann die Leistungsempfänger in die Lage versetzen können, ihre Probleme auf Dauer selbst zu lösen, „wenn das traditionelle Organisationskonzept aufgegeben wird und das Angebot dezentral in kleinen Einheiten bereitgestellt wird. Bürokratische, hierarchische und autokratische Organisations-, Management- und Führungskonzepte zerstören die für ein effektives Angebot der sozialen Dienstleistungen notwendige Zusammenarbeit in Teams (Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Gemeindeschwestern, Verwaltungspersonal etc.)." 10 Vor dem Hintergrund der Auflösung kulturell verankerter Identitätsmaßstäbe und solidarische Gemeinschaftsbeziehungen ermöglichender identitätssichernder Lebenswelten — heute im „neoromanti8 K. P. JAPP, TH. OLK, Identitätswandel und soziale Dienste, in: Soziale Welt 2, 1981, S. 143-165. 9 E. STANDFEST, Verteilungsspielräume und Sozialpolitik, in: C. Schäfer, E. Standfest, R. Welzmüller: Verteilung und Umverteilung unter veränderten Wachstumsbedingungen (WSI-Studien zur Wirtschafts- und Sozialforschung Nr. 46), 1982, S. 108-152, hier S. 125. 10

BUNDESMINISTER FÜR A R B E I T UND SOZIALORDNUNG ( H r s g . ) , s. A n m . 4 ,

S. 3 8 2 .

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sehen Protest" der neuen sozialen Bewegungen thematisiert und als Traum von menschlicher Geborgenheit in der kleinen Gruppe ohne Rücksicht auf das, was rundherum geschieht, festgehalten sowie auf Grundlage zunehmend sinnentleerter und knapper werdender Lohnarbeit, wird im informellen Sektor eine unabdingbare Ergänzung zu traditionellen großbürokratischen Bearbeitungsformen und marktförmigen Dienstleistungsangeboten gesehen. Die Irrationalität der politisch, aus öffentlichen Mitteln bestrittenen sozialpädagogischen Interventionsform legt es nahe, daß öffentliche Maßnahmen zur Beeinflussung der Bewußtseinslage restriktiv gehandhabt und statt dessen „vor allem . . . die sich selbst regulierenden Hilfssysteme mit Eigenbeteiligung geschützt und gefördert werden . . . Formen der kollektiven Selbsthilfe vermögen jenen sozialpädagogisch-therapeutischen Auftrag wahrzunehmen, den die multiprofessionellen und geradezu bedrohlich nahe an den Bürger heranrückenden Dienstleistungs-Zentren zu usurpieren suchen." 11 Selbsthilfe, Selbstorganisation, Nachbarschaftshilfe, kleine soziale Netze, neue Subsidiarität — sprich „Hilfe zur Selbsthilfe", kleine zentrale Einheiten, Deprofessionalisierung, Laiisierung und Eigenarbeit sowie in kritisch-solidarischer Absicht „Hausfrauisierung" (v. Werlhof), „Vernetzung von oben", „Mobilisierung des Ehrenamtlichkeits- und Nachbarschaftsprinzips" sowie „Selbstausbeutung" lauten die zentralen Begriffe, um die sich diese Diskussion formiert.

III. Jenseits von Markt und Staat: Der informelle Sektor Mit den genannten Begriffen ist zugleich der zentrale Widerspruch in der Diskussion um den informellen Sektor angesprochen: Während dieser Bereich jenseits von Markt und Staat mit seinen arbeitsmarktexternen Lebens- und Produktionsformen für die einen lediglich als Auffangbecken für einen zusammengebrochenen Arbeitsmarkt und für ein durchlöchertes soziales Netz dient, und die weggetauchte alternative Ökonomie nur schlecht kaschierte Armutsökonomie und Almosenwirtschaft ist, sehen andere in diesem Bereich einen Ansatzpunkt zur Lösung der zentralen Probleme einer in die Krise geratenen industriellen Wachstums- und Wohlfahrtsgesellschaft. Bevor ich dieser Frage im nächsten Kapitel nachgehe, soll hier kurz 11 Vgl. K. P. JAPP, TH. OLK, S. Anm. 8, sowie P. GROSS, Selbstbestimmung oder Fremdsteuerung der Familie, in: F.-X. Kaufmann (Hrsg.), Staatliche Sozialpolitik und Familie, 1982, S. 2 8 5 - 3 1 2 .

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angerissen werden, was sich hinter dem Begriff „informeller Sektor" verbirgt, in welchen Erscheinungsformen er uns begegnet und welche Ursachen es für seine Wiederentdeckung gibt. Dieses Unterfangen ist schwierig, weil die Wiederentdeckung mit einer verwirrenden Begriffs- und Inhaltsvielfalt einhergeht; Schattenwirtschaft, Parallelwirtschaft, subterranean economy, Dual- und Komplementärwirtschaft, weggetauchte Ökonomie, moonlightening, voluntary non-profit Sektor, Selbstorganisation und Selbsthilfebewegung, Eigenarbeit und Alternativökonomie, Grauzonen des Arbeitsmarktes, Nachbarschaftshilfe, Schwarzarbeit und Schmuggel werden zu einem unstimmigen Potpourri zusammengestellt.12 Es ist daher auch unmöglich, eine nur einigermaßen befriedigende Definition des informellen Sektors zu geben oder in Kürze eine systematische Abgrenzung der genannten Begriffe vorzunehmen. Selbst ein defensiver Versuch, den informellen Sektor als Restkategorie von Tätigkeiten jenseits arbeitsmarktvermittelter, steuerlich und im Bruttosozialprodukt erfaßter erwerbswirtschaftlicher Arbeit und Aktivitäten zu fassen, greift nicht: So können z.B. „Stellen" in alternativ-ökonomischen Projekten oder Alternativprojekten des sozialen Dienstleistungssektors sehr wohl über den Arbeitsmarkt vermittelt werden, ja es werden sogar verstärkt Bemühungen unternommen, Mittel aus Arbeitsbeschaffungsprogrammen hierfür zu nutzen. Und in Italien werden Schätzwerte für den schwarzen Zigarettenhandel bei der Berechnung des Bruttosozialproduktes berücksichtigt, so daß sowohl für die genannten Projekte als auch für den Schmuggel nicht ohne weiteres gesagt werden kann, die Schattenwirtschaft bezeichne den Teil der gesamtwirtschaftlichen Aktivitäten, der durch die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nicht erfaßt werde. Sinnvoller erscheint es mir daher, auf die für die Entstehung oder Wiederentdeckung des informellen Sektors verantwortlichen Krisentendenzen einzugehen. Nur so kann auch den sozialen Ursachen und Motiven Rechnung getragen und eine verengte ökonomische Sichtweise überwunden werden, der es in erster Linie nur darum geht, die Schattenökonomie „in den Griff zu bekommen" und zu messen, um

12 Als Überblick über die verschiedenen Abgrenzungsversuche vgl. J. HUBER, Die zwei Gesichter der Arbeit, 1 9 8 4 ; J. BERGER (unter Mitarbeit von L. Voigt), Die Zukunft der Dualwirtschaft, in: F. Benseier, R. G. Heinze, A. Klönne (Hrsg.), Zukunft der Arbeit, 1982, S. 9 7 - 1 1 7 ; R. G. HEINZE, TH. OLK, Selbsthilfe, Eigenarbeit, Schattenwirtschaft, in: F. Benseier u.a., s. oben, S. 1 3 - 2 9 ; sowie CH. BADELT, Sozioökonomie der Selbstorganisation, 1980.

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diese in ihrer Sichtweise schädigenden Aktivitäten unterbinden zu können. Allgemeinster Ausgangspunkt aller Überlegungen sind die Funktionsdefizite der Regulierungsmechanismen wohlfahrtsstaatlicher Systeme, die Störungen der materiellen und normativen Reproduktion der Gesellschaft. So kommt es nach Matzner infolge der „Kostenkrankheit personengebundener Dienstleistungen" zu einem „Marktund Staatsversagen", das sich entweder in kontraproduktiven technischen und/oder organisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen, in Auslagerungen der Dienstleistungsproduktion in den privaten Sektor mit den gleichen Folgen und/oder einschneidenden Preisschüben, oder aber in Reduzierungen im Angebot bis hin zur generellen Einstellung des Angebots ausdrückt. 13 Der Wohlfahrtsstaat leidet aber auch an einer Qualitätskrankheit personengebundener Dienstleistungen: Denn die Herausbildung des informellen Sektors ist auch Ausdruck von Emanzipationsbestrebungen und „Symbol eines ,alternativen Lebensstils'" 14 : So ist — wie zuvor gezeigt — die Entstehung von Selbsthilfegruppen und -initiativen darauf zurückzuführen, daß staatliche und großbürokratische Fremdhilfen den akuten Problemlagen nicht mehr gerecht zu werden in der Lage sind und von den Betroffenen nicht mehr angenommen werden. Aber auch veränderte Werthaltungen gegenüber Arbeit und Beruf, die Ausdifferenzierung arbeitszentrierter Werte spielen hier eine Rolle. In dem Maße also, wie dezentrale Produktions- und Allokationsformen jenseits von Staat und Markt (wieder) in den Blick geraten, wird der alte Glaube, Defizite des Staates bewiesen die Überlegenheit des Marktes und umgekehrt, erschüttert und der informelle Sektor gewinnt an Bedeutung. Das drückt sich in einem verstärkten Übergang zur Eigenarbeit, unterstützt durch wachsende Technisierung des Haushaltsbereichs und dauerhafte und drastische Expansion des „Do-it-yourself" aus, in einem Bedeutungsgewinn von Nachbarschaftshilfe, der Stärkung kleiner sozialer Netze und der Selbsthilfebewegung bei Steigerung der eigenen und gemeinschaftlichen kooperativen, kommunikativen und sozialen Kompetenz sowie dem Anwachsen der Schwarzarbeit. So ist z. B. die Mitarbeit in „unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen" 15 einerseits auf die Einbrüche 13 E. MATZNER, Zur Entwicklung des autonomen Sektors, WZB (Berlin)discussion paper IIM/dp 79-89, 1979, S. 6 ff. 14

V g l . C H . BADELT, A n m . 1 2 , S . 1 6 f f .

15

V g l . F . H E G N E R , C . SCHLEGELMILCH, F o r m e n u n d

Entwicklungschancen

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im Arbeitsmarkt zurückzuführen und damit als Zwangsalternative und Ausweichstrategie im Erwerbsverhalten angesichts anhaltender Arbeitsmarktprobleme vorprogrammiert, andererseits stellt sie für viele eine Wunschalternative dar. In der Mitarbeit in derartigen unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen manifestiert sich also auch eine Kritik an perspektivloser, sinnentleerter und gesundheitsraubender traditioneller beruflicher Arbeit. Mit anderen Worten: „Der Begriff des informellen Sektors ist ein Allesfänger, ein catch-all-Begriff." 16 Und die Ursachen für die Relevanz dieses Sektors kann man nur begreifen, wenn man den Krisenerscheinungen in verschiedenen gesellschaftlichen Teilsystemen nachgeht. Dies kann an dieser Stelle nur sehr kursorisch mit einigen Hinweisen auf drei miteinander verflochtene Teilkrisen geschehen: a) Zur Krise des ökonomischen Systems gehören neben den Kosten- und Qualitätsproblemen vor allem die Strukturkrise des Arbeitsmarktes durch wachsenden Mangel an Arbeitsgelegenheiten im formellen Sektor. Für die „Freigesetzten" entsteht hierdurch der Zwang, im informellen Sektor eine Reproduktionsbasis zu finden. Hierbei können über den Selektionsfilter „arbeitsmarkt-externe Alternativrollen" 1 7 Problemgruppen des Arbeitsmarktes wie un- und angelernte Arbeitskräfte, Jugendliche, Frauen und ältere sowie ausländische Arbeitnehmer aber auch von der Arbeitslosigkeit überproportional betroffene Hochschulabsolventen in Alternativrollen des informellen Sektors hineingepreßt werden. Vor allem für Frauen und Jugendliche, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe haben erwerben können oder diesen durch Kinderaufzucht oder Familienhilfe verloren haben, kann der „Verbleib" in der Herkunfts- oder eigenen Familie zum alternativlosen Schicksal als Hausfrau oder mithelfende Familienangehörige werden. Ältere Arbeitnehmer werden zur Tatenlosigkeit am Rande der Gesellschaft oder in einem Altengetto gezwungen, da die traditionellen Rollen der „Alten" mit unkonventioneller Beschäftigungsinitiativen, W Z B discussion p a p e r s I I M / L M P 8 3 - 1 9 , 1 9 8 3 ; s o w i e D . GRÜHN, Hochschulabsolventen in unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen - C h a n c e oder Illusion? M S Berlin, 1 9 8 5 (ersch. demnächst i. d. Zeitschrift „ H o c h s c h u l a u s b i l d u n g " ) . 1 6 G . ELWERT, H . - D . EVERS, W. WILKENS, Die Suche nach Sicherheit: K o m b i nierte P r o d u k t i o n s f o r m e n im sogenannten informellen Sektor, in: Z f S 4, 1 9 8 2 , S. 2 8 1 - 2 9 6 . 1 7 Vgl. C . OFFE, K. HINRICHS, S o z i a l ö k o n o m i e des Arbeitsmarktes u n d die L a g e „ b e n a c h t e i l i g t e r " G r u p p e n v o n Arbeitnehmern, in: C . O f f e (Hrsg.), O p f e r des Arbeitsmarktes, 1 9 7 7 , S. 3 - 6 1 .

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dem tiefgreifenden Wandel der familialen Lebenszusammenhänge obsolet geworden sind. Denkbar sind jedoch auch Ausweichstrategien, wie sie soeben als Folge des „Staats- und Marktversagens" angesprochen wurden, die in neue, befriedigendere Formen des Verhältnisses von Arbeit und Leben führen, zur Entwicklung neuer Verhaltensmuster und Kooperationsformen jenseits von Lohnarbeit in Alternativprojekten bzw. zur selbstbestimmten und selbstinitiierten Bewältigung sozialer Probleme in Selbstorganisation. Nicht zuletzt sei an die negativen Effekte sinkenden Steuer- und Sozialversicherungsaufkommens und deren Rückwirkungen auf die sozialstaatlichen Auffangmechanismen erinnert: Hierdurch wird die Suche nach Lebensformen im informellen Sektor erzwungen, und eine befriedigende Lösung kann eben durch diesen Zwang erschwert oder sogar verhindert werden. (Ich komme hierauf zurück.) Zusammenfassend kann man festhalten, daß die Entwicklung des informellen Sektors also ambivalent zu beurteilen ist. Versuche, sich in ihm zu reproduzieren und in Tätigkeiten dort eine neue Lebensbasis zu finden, können sowohl auf Zwang als auch auf Freiwilligkeit basieren. Vor allem wenn der Umschichtungsprozeß auf Zwang beruht, ist anzunehmen, daß sich die Lebenschancen der Betroffenen dadurch nicht verbessern. b) Zweitens ist auf die Krise des kulturellen Systems zu verweisen, als Verlust der Sinnhaftigkeit von Arbeit, als Erosion beruflichen Handelns und arbeitszentrierter Wertmuster, als Zerstörung Schutz und Geborgenheit bietender alltäglicher Lebenszusammenhänge und damit übergreifend als zumindest partiellen Zusammenbruch des industriellen Wachstumsparadigmas. Verschlechterung der Lebensbedingungen, Zukunftsangst und Ohnmachtsgefühle auf der einen Seite, auf der anderen wachsende Bereitschaft in Teilen vor allem der jüngeren Bevölkerung, sich gegen die Entwicklung der Produktivkraft und der Gesellschaft nach dem Prinzip produktiver Destruktion auch mit unkonventionellen Mitteln zu wehren, aber auch die zunehmende Weigerung, die Persönlichkeit den Anforderungen und Bedingungen entfremdeter Arbeit unterzuordnen, „auszusteigen" und sich zu „verweigern", kennzeichnen ein mit dem Begriff „Wertewandel" versehenes Bild. Das heißt, daß vor allem das Verhältnis Individuum, Gemeinschaft, Gesellschaft in der Wertwandeldiskussion thematisiert wird: Zum Teil drückt sich darin eine Rückbesinnung auf das bürgerliche Individuum, auf das autonome „Ich" oder „Selbst" aus, welches

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sich gegen die Entmündigung durch gesellschaftlich organisierte Systembildung zur Wehr setzt. Andererseits zeigt sich in den gemeinschaftlichen Trägern dieses Wertewandels, den neuen sozialen Bewegungen, daß diese individuellen Emanzipationsbestrebungen jeweils in sich ihr Verhältnis zum gesellschaftlichen System reflektieren und an traditionelle regionale, genossenschaftliche oder proletarische Gemeinschaftsformen anknüpfen. Bevor man der Annahme aufsitzt, die Lösung der anstehenden gesellschaftlichen Probleme ergebe sich sozusagen im Selbstlauf aus der Entwicklung dieses neuen Wertehorizonts, muß allerdings darauf aufmerksam gemacht werden, daß die neuen Werte auf dem Boden zunehmenden Reichtums entfalteter gesellschaftlicher Produktivkräfte erwachsen sind. Es wäre also zunächst zu klären, ob nicht der Wertewandelschub der 60er und 70er Jahre, unter dem Eindruck von Prosperität und Sozialstaatsexpansion, mit seinem Bedeutungszuwachs von Selbstentfaltungswerten an die Besonderheiten dieser Phase gebunden war, und was mit ihnen geschieht, wenn „der kurze Traum der immerwährenden Prosperität" (Lutz) ausgeträumt ist. Darüber hinaus darf man nicht übersehen, daß Formen des „Ausstiegs" aus der „Arbeitsgesellschaft" zwar als Vorläufer einer neuen „Tätigkeitsgesellschaft" jenseits fremdbestimmter, alle anderen Lebensbereiche prägender, Lohnarbeit betrachtet werden. Derzeit sind sie allerdings überwiegend noch durch ökonomische Unsicherheit, rechtliche und finanzielle Benachteiligung gekennzeichnet. c) Von der des ökonomischen und kulturellen ist die Krise des politischen Systems nicht zu trennen. Es handelt sich dabei um einen Steuerungsverlust z.B. in der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Technologieund Umweltpolitik, der sich in einem Bedeutungsgewinn „alternativer Politikformen" als Gegengewicht zu marktwirtschaftlichen, sozialdemokratisch-etatistischen und neokorporativen Lösungsversuchen niederschlägt. Diese „Alternative Politik" ist selbst wiederum nur vor dem Hintergrund der Wertewandeldiskussion zu erfassen: Unbewältigte ökonomische, soziale und wachsende ökologische Probleme wie Dauerarbeitslosigkeit, Abbau sozialstaatlicher Leistungen, verschärfter Rationalisierungs- und Bürokratisierungsdruck, gescheiterte Reformstrategien, steigende Umweltbelastungen usw. lassen die Defizite institutionalisierter Problemlösungsstrategien evident werden. In diesem Zusammenhang spielt nicht zuletzt das gestiegene Bildungsniveau vor allem in den neuen pädagogischen und sozialen Dienstleistungsbereichen, das Auseinanderklaffen von Einkommen und Macht auf der einen und Selbsteinschätzung und kulturellem Kapital auf der

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anderen Seite eine wichtige Rolle. Die immer deutlicher hervortretenden Blockierungen der Berufs-, Aufstiegs-, Zukunfts- und politischen Partizipationschancen, aber auch die verhärteten staatlichen Reaktionen auf intellektuelle systemkritische Opposition bei gleichzeitig wachsender Kritikfähigkeit führen zu einem Entwicklungsschub in Richtung basisnaher und dezentraler Organisation- und Politikmuster. Mit ihnen wird der Versuch unternommen, nach den Prinzipien der Selbstbetroffenheit, Kooperationsbereitschaft, Subsidiarität und Autonomie eine Veränderung „von unten" in Gang zu setzen. Sei es, daß in örtlichen oder regionalen Initiativen versucht wird, den Bau großtechnischer Projekte zu verhindern oder zu blockieren, sei es, daß in alternativökonomischen Projekten neue Formen von Arbeit und Leben ausprobiert werden, oder in nicht-institutionalisierten Beratungs- und Therapiezentren in der Arbeit mit alten Menschen, Arbeitslosen, verzweifelten Sozialhilfeempfängern, einsamen Menschen, Drogensüchtigen und Behinderten Hilfe zur Selbsthilfe zu geben versucht wird; jeweils steht im Zentrum, der alltäglichen Bevormundung, Repression oder Gleichgültigkeit eine bedürfnisorientierte, selbstbestimmte und selbstverantwortliche Lebensform entgegenzusetzen und das Zusammenbrechen traditioneller Formen der alltäglichen Hilfeleistung durch neue Strukturen der Bewältigung von Notlagen zu kompensieren. Mit anderen Worten: „,Alternative Politik' verwendet ein anderes Kommunikationsmedium als konventionelle: an die Stelle von Macht tritt Sympathie." 18 Trotz eines anderen Kommunikationsmediums innerhalb der neuen sozialen Bewegungen wird allerdings die Durchsetzungsfähigkeit nach außen weiterhin dem „Spiel der Macht" gehorchen. Welche Durchsetzungschancen daher derartige Formen alternativer Politik haben werden, ist derzeit schwer abzusehen.

IV. Dualwirtschaft als Ausweg? Ist es realistisch, in der Expansion des informellen Sektors einen Ausweg aus der Arbeitsmarkt- und Sozialstaatskrise zu sehen? Kann die Zweiteilung der Ökonomie in einen formellen und einen informellen Sektor tatsächlich die beschäftigungspolitische Lücke schließen und die Kapazitäten und Qualifikationen freisetzen, um die sozialpo18 Vgl. V. RONGE, „Alternative Politik" und Politikreform, in: M. Glagow (Hrsg.), Gesellschaftssteuerung zwischen Korporatismus und Subsidiarität, 1984, S. 2 2 2 - 2 3 7 , hier S. 2 3 4 .

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litischen Defizite aufzufangen — eine Teilung in einen formellen Bereich von Lohnarbeit beim Staat und in der „Freien Wirtschaft" auf der einen sowie einen informellen Sektor, der die Bereiche Haus- und Eigenarbeit, Schwarzarbeit und Untergrundökonomie sowie vielfältige Projekte und Initiativen der solidarischen Selbsthilfe auf der anderen Seite umfaßt? Die jeweils am Ende der drei als Ursachen genannten Krisentendenzen gemachten Einschränkungen geben zu Optimismus keinen Anlaß. Gleichwohl werden die Probleme, die den Ausgang der Überlegungen bilden, sich nicht im Rahmen der „Selbstheilungskräfte des Marktes" bzw. der traditionellen Politikmuster lösen. Stimmt man der Auffassung zu, die derzeitige Krise stelle keinen kurzfristigen Betriebsunfall des kapitalistisch-industriellen Systems dar, vielmehr handle es sich bei der besonderen Konstellation, die der beispiellosen Entwicklung seit den frühen 50er Jahren zugrunde lag, um einen nicht-wiederholbaren geschichtlichen Sonderfall, dann ist nach den Bedingungen der Möglichkeit zu fragen, unter denen der informelle Sektor (mit) zur Krisenlösung beitragen und als Produktivitätsreserve des Wohlfahrtsstaates dienen kann. 1. Die derzeitige beschäftigungspolitische Bedeutung unkonventioneller Beschäftigungsinitiativen Mit steigender Arbeitslosigkeit und wachsender Wirkungslosigkeit herkömmlicher nachfrage- und angebotsorientierter Instrumente wird der informelle Sektor an Bedeutung gewinnen. In dieser primär beschäftigungspolitischen Perspektive kommt vor allem den „unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen" - Arbeitsloseninitiativen, neue Selbständige und Alternativ- und Selbsthilfeprojekte — eine besondere Bedeutung zu. Demgegenüber kann man die illegalen und irregulären Formen der Untergrundwirtschaft sowie häusliche Eigenarbeit und -dienstleistungen vernachlässigen. In solchen Selbstorganisationen, wie die unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen zusammenfassend auch genannt werden, steht der Wunsch nach veränderten Arbeitsorientierungen und -formen im Vordergrund. Sie sind Ausdruck von Versuchen, neue selbstbestimmte und nichtentfremdete Arbeits- und Lebensformen zu realisieren. Bei der Innenstruktur und Organisation spielt dementsprechend der Gedanke nach Selbstverwaltung eine zentrale Rolle. Die häufigsten Kriterien sind: — Selbstinitiiertheit;

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— alternativer Anspruch; — Streben nach dauerhafter Erwerbstätigkeit für einige oder doch zumindest für einen der Mitarbeiter. Zentrales Problem bei der Eingrenzung ist das Merkmal des Selbstanspruches, alternativ zu sein. Wenn auch mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung werden hierzu die folgenden Handlungs-, Organisations- und Arbeitsprinzipien herangezogen: — antikapitalistisch, d.h. nicht auf kapitalistische Profitlogik bezogen; — ganzheitliche Vorstellungen von Leben, Wohnen und Arbeiten; — Hilfe zur Selbsthilfe für gesellschaftliche Randgruppen; — gegen die gesellschaftliche Unterdrückung der Frauen; — Aufhebung der geschlechtsspezifischen, gesellschafts- und rollenspezifischen Arbeitsteilung; — praktizierte demokratische Selbstverwaltung; — gesellschaftlich nützliches und befriedigendes Arbeiten zu ermöglichen; — dezentrale Arbeitsweise und Vernetzung; — Entspezialisierung und Funktionsrotation. Die genaue zahlenmäßige Erfassung der realen Arbeitsplätze im Selbsthilfe- und Alternativbereich, bei den neuen Selbständigen und den Arbeitsloseninitiativen ist außerordentlich schwierig. Die Schätzungen für die Alternativprojekte bewegen sich zwischen 3 0 0 0 0 und 4 0 0 0 0 0 aktiven Mitarbeitern für die Bundesrepublik einschließlich Berlin. Die wohl aktuellste und fundierteste Schätzung wurde Ende 1983 von Grottian/Kück vorgenommen. 19 Sie basiert auf einer gewichteten Hochrechnung der regionalen Daten für Berlin, Hannover und Nürnberg unter Berücksichtigung der sektoralen Verteilung zwischen Großstadt, Kleinstadt und Land sowie des bekannten „Nord-SüdGefälles". Zudem erscheint den Autoren die Hochrechnung mit den Regionaldaten für Hamburg und für den Raum Köln/Bonn kompatibel. Nach dieser Hochrechnung, die strengen Definitionskriterien alternativer Selbsteinschätzung gehorcht, ist für die Bundesrepublik

19 Vgl. P. GROTTIAN, M . KÜCK, 100000 Arbeitsplätze im Selbsthilfe und Alternativsektor sind nur durch neue Finanzierungskonzeptionen realistisch! in: P. de Gijsel/H. G. Seifert-Voigt (Hrsg.), Schattenwirtschaft und alternative Ökonomie, 1984, S. 221-248.

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einschließlich Berlin von etwa 14 000 Projekten beitern auszugehen. (Vgl. Tabelle 1):

mit 104 000

Mitar-

Tabelle 1: Die Größe des alternativen Sektors in der Bundesrepublik 1983 (Schätzung) Anzahl der Projekte

Anzahl der Mitarbeiter

Alternative Sozialdienstleistungen Alternativ-ökonomischer Sektor

10000 4000

80000 24000

Gesamt

14000

104 0 0 0

Sektor

Quelle: P. Grottian/M. Kück, s. Anm. 19, S . 2 2 6 .

Innerhalb des Selbsthilfe- und Alternativsektors kommt dem Bereich sozialer Dienstleitungen eine dominante Stellung zu: 10 000, d. h. zwei Drittel der Projekte und 80 0 0 0 der Personen, das sind etwa 8 0 % der aktiven Mitarbeiter, sind mit alternativen Dienstleistungen befaßt. Schwerpunkte liegen auf den Sozialbereichen Gesundheit, Drogen, Frauen sowie Kinder/Erziehung, auf die etwa zwei Drittel,der alternativen Sozialdienstleistungsprojekte entfallen. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der alternativ-ökonomischen Projekte verteilen sich jeweils auf die Bereiche Dienstleistungen/Infrastruktur (Kinos, Cafés, Restaurants, Kommunikationszentren und Verlage), verarbeitendes Gewerbe sowie Handel/Zirkulation. Insgesamt betrachtet beträgt das Verhältnis aktiver Mitarbeiter von selbstverwalteten Betrieben zu solchen von sozialen Dienstleistungsprojekten 1 zu 4 ( 2 4 0 0 0 zu 8 0 0 0 0 ) . Allerdings sind die bisher referierten Ergebnisse für die Frage der real geschaffenen Arbeitsplätze wenig aussagefähig. Der verwendete Begriff „aktiver Mitarbeiter" sagt nichts darüber aus, ob das Projekt sich und seine Mitarbeiter selbst tragen und gewissermaßen seine Arbeitsplätze selbst schaffen kann, die Arbeitsplätze über öffentliche und halb-öffentliche Haushalte finanziert sind oder die Mitarbeiter unentgeltlich arbeiten und sich aus anderen Finanzquellen reproduzieren (Arbeitslosengeld, -hilfe, BAFöG, Sozialhilfe etc.). Während bei den selbstverwalteten Betrieben davon auszugehen ist, daß diese vielfach in der Lage sind, „über Marktaktivitäten für ihre Mitarbeiter ein zumindest bescheidenes Lohnniveau zu realisieren" 20 , werden in sozialen Dienstleistungs20

P. GROTTIAN, M . KÜCK, S. A n m . 1 9 , S . 2 2 6 .

Der informelle Sektor als Sozialstaatsersatz?

157

Projekten nur etwa 15—20% der Mitarbeiter dort ihren Lebensunterhalt verdienen können, da für die angebotenen Leistungen i. d. R. über einen Marktpreis keine Einnahmen zu erzielen sind. Unter Berücksichtigung dieser drastischen Einschränkungen kommt man auf ca. 4 0 0 0 0 unkonventionelle Arbeitsplätze im Selbsthilfe- und Alternativsektor. Nimmt man die von Hegner/Schlegelmilch auf 25 0 0 0 geschätzten neuen Selbständigen hinzu, so kommt man auf etwa 65 000 unkonventionelle Arbeitsplätze. In dieser Perspektive leisten diese Beschäftigungsformen noch keinen nennenswerten Beitrag zur Bewältigung der Arbeitsmarktkrise. Bedenkt man jedoch, daß derartige Arbeitsplätze vorwiegend mit Personen aus besonderen Arbeitsmarkt-Problemgruppen besetzt sind und bezieht diese Zahlen daher auf die Arbeitslosenquoten dieser speziellen Gruppen, so erscheint die beschäftigungspolitische Bedeutung unkonventioneller Beschäftigungsinitiativen in einem anderen Licht. 21 Zusammenfassend läßt sich sagen, daß den neuen unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen angesichts der anhaltenden Arbeitsmarktkrise, aber auch aufgrund der Frage nach einer Bedeutungsminderung oder einem -wandel traditioneller Berufs- und Leistungswerte zunehmende Bedeutung als Beschäftigungsalternative zukommen wird. Unterstützend wirkt die hohe Anziehungskraft, die derartige Projekte und Versuche auf die Bevölkerung ausüben: In den Projekten, vor allem im ersatzsozialstaatlichen Bereich, aber auch in kulturellen und anderen Alternativprojekten, werden die strukturellen Defizite dieser Gesellschaft aufgegriffen, ihre soziale, kulturelle und ökologische Problematik. Wird derzeit vielfach in der veröffentlichten Meinung der Eindruck produziert, als handle es sich bei den Trägern derartiger Alternativprojekte um marginale „Spinner", so erstaunt doch die hohe Akzeptanz, die ihnen von der Bevölkerung entgegengebracht wird. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht in alternativen Arbeits- und Lebensformen zumindest einen interessanten Versuch, und „jeder vierte Jugendliche meint sogar, daß alternativ/selbsthilfeorganisierte Arbeitplätze für ihn selbst in Frage kommen." 2 2 Und 2 1 Vgl. für jugendliche Arbeitslose F. HEGNER, C. SCHLEGELMILCH, S. Anm. 15, sowie für Hochschulabsolventen unter besonderer Berücksichtigung der überproportional von Arbeitslosigkeit betroffenen Sozial- und Geisteswissenschaftler D. GRÜHN, S. Anm. 15. 2 2 P. GROTTIAN, B. STRÜMPEL, M. V. KLIPSTEIN, Neue Arbeitsumverteilung Eine mehrheitsfähige Alternative für die anstehenden Tarifverhandlungen, MS Berlin/Bonn, 1983.

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immerhin 5 7 % der Gesamtbevölkerung sind danach der Meinung, daß sie vom Staat als Mittel zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit unterstützt werden sollten. Darüber hinaus bleibt die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze in unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen weit hinter der Nachfrage nach derartigen beruflichen Beschäftigungsmöglichkeiten zurück. Dafür spricht das Ausmaß unbezahlter Arbeit in alternativen Sozialdienstleistungsprojekten sowie die breite ehrenamtliche Unterstützung anderer Initiativen. 2. Diskriminierung unkonventioneller Beschäftigungsinitiativen und Ansatzpunkte für neue Förderungs- und Finanzierungsmethoden Trotz des unbestrittenen Bedarfs an unkonventionellen Beschäftigungsinitiativen stoßen diese auf erhebliche Widerstände: — Selbstverwaltete Betriebe haben kaum Möglichkeiten, in den Genuß öffentlicher Kredite und Bürgschaften sowie von Bankkrediten zu kommen, weil sie nach traditionellen Kriterien keinen „richtigen" Gewinn ausweisen, die Kapitalstruktur nicht abgesichert ist und das kollektive Entscheidungssystem nicht vertrauenswürdig erscheint; — noch nachhaltiger sind die sozialen Selbsthilfe-, Frauen- und Alternativprojekte diskriminiert. Sie können sich in der Regel nicht aus ihrer eigenen Arbeit finanzieren und Arbeitsplätze schaffen. Sie sind deshalb dringend auf öffentliche, halb-öffentliche bzw. kirchliche Förderungen angewiesen; — Selbsthilfe- und Alternativprojekte sind auch bei ABM-Programmen erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt. Trotz einer sehr bemühten ABM-Auslegungspraxis z.B. in Hamburg und Nordrhein-Westfalen sind der Zuschnitt der Förderkonditionen und die oftmals vorhandenen politischen Restriktionen mit den Strukturen der Projekte inkompatibel. Berlin — als größte ABM-Region der Bundesrepublik — ist ein Musterbeispiel für diesen Sachverhalt. Obwohl Berlin 1984 durch 2 0 0 0 zusätzliche Stellen insgesamt 1 0 0 0 0 ABM-Stellen zur Verfügung standen, wurden nur 8000 davon eingerichtet und etwa 6500 davon besetzt. Obwohl der Senat sich bereit erklärte, die erforderlichen 2 0 % Eigenmittel zur Verfügung zu stellen, scheiterten die Selbsthilfe- und Alternativprojekte im Vergabeverfahren, da sie noch über keine anderweitigen öffentlichen Gelder verfügten, die „Zusätzlichkeit" der einzurichtenden Stellen nicht begründen oder auf keinen „Belegschafts-

Der informelle Sektor als Sozialstaatsersatz?

159

stamm" verweisen konnten. Statt einiger hundert wurden daher nur 60—80 ABM-Steilen im Selbsthilfe- und Alternativsektor besetzt und die vorhandenen Mittel in einem sozial nicht vertretbaren Ausmaß nicht ausgeschöpft. Nimmt man die sozialen, kulturellen und ökologischen Konflikte ernst, auf die in diesen Initiativen Antworten gesucht werden, so müssen die vorhandenen politischen und ökonomischen Diskriminierungen abgebaut und gleichzeitig für die Initiativen und Projekte eine Basisförderung ermöglicht und öffentliche Förderungen eingerichtet werden. Autonome, teilautonome, parastaatliche und öffentliche Förderungsformen müssen dabei in einem vertretbaren, bürokratisch überschaubaren und für die Initiativen politisch akzeptierbaren Verhältnis zueinander stehen. Folgende — hier nicht im Einzelnen zu erläuternde — Konzepte kommen hier in Betracht 23 :

— Für die Förderung von Selbsthilfe- und Alternativprojekten

über

ABM müßten sowohl von den Projekten als auch vom Landesarbeitsamt her die Beratungs- und Betreuungsleistungen erheblich verbessert werden (Clearing-Stelle). Die Förderungs- und Zuwendungsdauer im Bereich der sozialen Dienste sollte angehoben werden, um einen sinnvollen Planungshorizont zu eröffnen: Förderungsdauer bis zu 5 Jahren, kein Eigenbeitrag, Anerkennung auch „alternativer" Träger bei der Durchführung der Maßnahmen. Damit wird eine Änderung des AFG unausweichlich.

— Die chronische Unterkapitalisierung der selbstverwalteten Betriebe kann durch eine autonome Kreditvermittlung entscheidend vermindert werden. Aufgabe dieser Vermittlung ist es, bei Umgehung der Banken direkt von privaten Anlegern günstige Finanzierungsmittel für selbstverwaltete Betriebe zu aktivieren. Diese Vermittlung konnte bisher erfolgreich operieren: Bürgerinnen und Bürger sind offensichtlich in erstaunlichem Ausmaß bereit, ihr Geld für derartige Vorhaben zur Verfügung zu stellen. Um die Schwierigkeiten, die bei der Kreditvermittlung durch fehlende Sicherheiten entstehen auszuräumen, muß die Gründung einer „Haftungsassoziation" angestrebt werden, die mit institutionellen Bürgschaften diese Sicherungslücke schließt. 24 23

V g l . P. GROTTIAN, M . KÜCK, A n m . 1 9 , s o w i e F . - J . BARTSCH, P. GROTTIAN,

Für neue innovative Arbeitsplätze im Bereich gemeinnütziger, sozialer und kultureller Dienstleistungen durch besonders steuerbegünstigte Spenden, MS Berlin, 1984. 24

V g l . P. GROTTIAN, M . KÜCK, A n m . 1 9 , S. 2 3 9 ff.

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— Eine andere Form, Kredite für alternative Projekte zur Verfügung zu stellen, wird derzeit von der Öko-Bank-Initiative vorangetrieben. Die zugrunde liegende Überlegung ist, kleinere Spar- und Einlagebetriebe aus dem Sympathisantenumfeld zusammenzufassen und für alternative Projekte zur Verfügung zu stellen. Die Vorzeichen für die Realisierung des Projektes Öko-Bank sind derzeit sowohl von der Geldnachfrage als auch von der Geldangebotsseite günstig, auch wenn die Konzeption noch Schwächen aufweist und bei der Realisierung erhebliche Probleme und Konflikte auftreten. Das Bewußtsein, daß traditionelle Banken mit ihrer Kreditpolitik wesentlich diejenigen ökonomischen und politischen Strukturen verfestigen, gegen die die neuen sozialen Bewegungen protestieren, hat seit der Friedensbewegung die Anlagebereitschaft für alternative Geldinstitute gefördert. — Die Spenden-Gesetzesinitiative25 \ Wie bei den Überlegungen zur Kreditvermittlung/Haftungsassoziation und der Initiative zur Gründung der Öko-Bank, spielt auch bei der Spenden-Gesetzesinitiative die Diskussion um Abhängigkeit von und durch „Staatsknete" eine Rolle. Angesichts der großen finanziellen Restriktionen, denen soziale Selbsthilfe-, Frauen- und Alternativprojekte ausgesetzt sind, soll in einer gemeinsamen Initiative von Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, gemeinnützigen Organisationen, Stiftungen, Selbsthilfe- und Alternativprojekten durch ein interfraktionelles Gesetzesvorhaben aller Bundestagsfraktionen erreicht werden, daß Spenden an gemeinnützige Institutionen, Gruppen und Projekte, wie die Parteispenden seit 1984, von der Steuerschuld (nicht vom zu versteuernden Einkommen) abzugsfähig sind. Und zwar bis 1000 DM zu 80%, bis zu weiteren 1000 DM zu 60% und über 2000 DM zu 50% (bei Verheirateten jeweils Verdoppelung). Voraussetzung ist der Nachweis, daß die Gelder für die Schaffung neuer Arbeitsplätze eingesetzt wurden. Das bedeutet, daß der/die Steuerpflichtige mit der Spende eine sozialpolitische Umverteilung initiiert, denn der Staat wird nicht aus seiner sozialstaatlichen Verpflichtung entlassen, sondern zahlt 5 0 - 8 0 % des insgesamt angelegten Spendenvolumens zur Einrichtung eines Arbeitsplatzes an ein vom Spender gewähltes Projekt. Für den Erfolg einer solchen Spendeninitiative spricht das anhaltend hohe Spendenaufkommen, die Tatsache, daß der gesellschaft25

Vgl.

P. GROTTIAN, M .

GROTTIAN, S. A n m . 2 3 .

KÜCK, A n m . 1 9 ,

S.242,

sowie F.-J.

BARTSCH,

P.

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liehe Bedarf an derartigen Initiativen unbestritten ist und daß die Bevölkerung derartigen Vorhaben recht offen gegenübersteht.

3. Kolonisierung und chronische Überforderung des informellen Sektors In den beiden vorhergehenden Abschnitten habe ich aus einem primär beschäftigungspolitischen Blickwinkel auf die derzeitige Bedeutung von Alternativ- und Selbsthilfeprojekten aufmerksam gemacht. Zusätzliche 100 0 0 0 innovative Arbeitsplätze in derartigen Initiativen sind in den nächsten Jahren erreichbar, wenn die ökonomischen, politischen und sozialen Diskriminierungen abgebaut, die ABM-Regelungen den veränderten Anforderungen angepaßt und ein durch staatliche Rückbürgschaften unterstütztes, autonomes Kreditvergabe- und Haftungsassoziationsnetz sowie eine Öko-Bank für selbstverwaltete Betriebe vorangetrieben und schließlich durch ein neues System von steuerbegünstigten Spenden — die von der Steuerschuld abzugsfähig sind — die Schaffung neuer Arbeitsplätze im Bereich gemeinnütziger, sozialer und alternativer Dienstleistungen unterstützt wird. Die Versuche alternativ-ökonomischer Projekte, andere Lebensund Arbeitsformen zu entwickeln und auszuprobieren, stoßen — wie schon erwähnt — auf Sympathie. Dieser Zuspruch beruht auf der Erosion des dieser Gesellschaft zugrunde liegenden Wissenschafts-, Technik- und Produktionsbildes. Er signalisiert einen Innovationsbedarf nach alternativen Produkten, Produktions- und Mitbestimmungsformen sowie nach neuen Technologien. Auch der gesellschaftliche Bedarf, auf den mit den Selbsthilfe- und Alternativprojekten reagiert wird, scheint unbestritten, da die Handlungsdefizite in den sozialen Dienstleitungssektoren: alte Menschen, Arbeitslose und Sozialhilfe, Ausländer/Dritte Welt, Behinderte, Drogen/Süchte, Erwachsenenbildung, Frauen, Gesundheit, Jugendliche/ Kinder, Strafvollzug, Kultur, staatsbürgerliche und politische Initiativen, Umweltschutz und Wohnen/Stadt- und Regionalplanung, unübersehbar geworden sind. Zwar wird im informellen Sektor prinzipiell die Möglichkeit gesehen, zur Lösung der Krisensymptome des Wohlfahrtsstaates wesentlich beizutragen. Darüber darf jedoch nicht die Tatsache der Selbstausbeutung im informellen Sektor als Produkt der Fremdausbeutung im formellen Sektor nicht vergessen werden: In Alternativprojekten wird zunehmend über „burnout"-Prozesse geklagt, über chronische finanzielle, physische und psychische Uberforderung.

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Infolge ökonomischer Probleme von Selbstorganisation, aber auch aus anderen Gründen, zeigen sich die Grenzen und negativen Auswirkungen von Versuchen, den informellen Sektor als Produktivitätsreserve des Sozialstaates zu nutzen: a) Im informellen Sektor wird zwar die Chance gesehen, die Zweckrationalität von Markt und Staat zurückzudrängen und wertrationalem und kommunikativem Handeln Raum zu geben. Doch zugleich zeigen sich Tendenzen einer Verökonomisierung oder Kolonisierung dieses Bereiches; d. h., „das Medium ,Geld' wird in solche Zusammenhänge transferiert, die einer anderen — kommunikativen — Logik folgen".26 Oder es entfallen lediglich vormals erwerbswirtschaftlich oder staatlich angebotene Dienstleistungen und/oder Güter, so daß der Zwang, diese Güter und Dienstleistungen zu produzieren, zu einer zusätzlichen Übernahme in Eigenarbeit oder Selbsthilfe — ohne qualitative Änderung - führt. Mit anderen Worten: Übernahme in Eigenarbeit bzw. Selbsthilfe garantiert noch keine Qualitätsveränderung bzw. schließt nicht automatisch Kolonisierung oder Vereinnahmung aus. Die Übernahme von Renovierungsarbeiten oder von Transportleistungen beim Möbelkauf ist nicht zwangsläufig ein Stück Emanzipation, sondern individualisierte Mehrarbeit aufgrund der Kostenexplosion personalintensiver Dienstleistungen. Aber auch die vergleichenden Analysen z. B. zwischen öffentlichen Kindergärten und privaten Kinderladen-Initiativen zeigen, daß einerseits nicht zuletzt die durch die Kinderladen-Bewegung angeregte Diskussion in traditionellen Erziehungsbereichen fruchtbar geworden ist, so daß sowohl seitens des pädagogischen Personals als auch von den Eltern neue Ansprüche geltend gemacht werden, und daß andererseits in den Selbsthilfegruppen aufgrund chronischer finanzieller Engpässe und beruflicher Zwänge „Ermüdungserscheinungen" aufgetreten sind, so daß eindeutige Schlüsse über die Elternpartizipation, Kommunikationsintensität etc. aus der jeweiligen Trägerschaft nicht zulässig sind. Und im Bereich alternativer Angebote der Gesundheitsversorgung führt der ökonomische Kampf ums Überleben der Initiativen nach Auffassung von Rosenbrock dazu, daß am ehesten solche Gruppen weiterexistieren werden, die mit den vorherrschenden konservativen und regressiven sozialpolitischen Konzepten vereinbar sind 2 6 R. G. HEINZE, TH. OLK, Der informelle Sektor - Produktivitätsreserve des Wohlfahrtsstaates? in: F. Heckmann, P. Winter (Hrsg.), 21. Deutscher Soziologentag 1982, Beiträge der Sektions- und ad hoc Gruppen, 1983, S. 3 4 1 - 3 4 7 , hier S. 3 4 5 .

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und sich am ehesten dem herrschenden Trend im Gesundheitswesen, der Unterwerfung unter die Gesetze der Marktökonomie, anbiedern können: „Der Prozeß der Verbetrieblichung von Gruppen aus der Alternativ- und Selbsthilfebewegung hat eingesetzt und gewinnt an Tempo." 27 b) Auf der politischen Ebene zeigen sich die negativen Auswirkungen dessen, was in der Alternativ- und Selbsthilfe-„Szene" als mangelnde Vernetzung diskutiert wird. Ein Beispiel, wie sich das Fehlen korporativer Strukturen auswirkt, sind die oben angesprochenen Benachteiligungen beim Zugang zu Finanzmitteln. Hier sind die von Elwert, Evers und Wilkens28 angestellten Überlegungen zur Funktion des informellen Sektors vornehmlich in Ländern der Dritten Welt mit gewissen Korrekturen übertragbar: Sie sprechen von der „Peripherisierung auf der ökonomischen Ebene" als Tendenz der Eliminierung nichtkonkurrenzfähiger Kapitale, wodurch eine Anzahl von Betrieben entstehe, die lediglich unter erschwerten ökonomischen, unterdurchschnittlichen Reproduktionsbedingungen die Existenz der Mitarbeiter sichern können. Gerade in dieser Lohndrückerfunktion kann die Bedeutung dieser Betriebe gesehen werden. Diese Unterdrückung erfolge durch „feststellbare Vermachtungsstrukturen der bereits etablierten kapitalistischen Ökonomie und des intervenierenden Staatsapparates. Der erschwerte Zugang zu Krediten und Subventionen, das unzureichende System der Rechtssicherheit, die mangelnde infrastrukturelle Versorgung und repressive behördliche Auflagen stehen als Beispiele für staatlich und parastaatlich verursachte defizitäre Beeinflussung".29 Die Peripherisierung ist dabei das zentrale Hindernis, um korporative Gegenstrukturen aufzubauen: Die mangelnde Stärke der vorhandenen kooperativen Strukturen impliziere, daß keine „pressure groups" vorhanden sind, die eine Formalisierung des ökonomischen Lebensraums der Ungesicherten erfordern oder erzwingen könnten. Diese Gedanken wären aus der Perspektive der neuen Subsidiarität weiter zu verfolgen, um zu klären, welche Durchsetzungschancen eine auf die Produktivitätsreserve des informellen Sektors setzende „fort-

27 R. ROSENBROCK, Selbsthilfegruppen im Gesundheitswesen unter Anpassungsdruck - zwischen Untergang und Marktkonformität, WZB IIVG preprints, IIVG/pre 83-12, Berlin, 1983, S.4. 28

V g l . G . ELWERT, H . - D . EVERS, W . WILKENS, A n m . 1 6 .

29

G . ELWERT, H . - D . EVERS, W . WILKENS, S. A n m . 1 6 , S. 2 9 1 f.

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schrittliche" Sozialpolitik hat. So haben Heinze und Olk 30 darauf hingewiesen, daß es fruchtbar erscheint, den NeokorporatismusAnsatz über den „Tripartismus" Staat/Kapital/Arbeit auf die Diskussion der Wohlfahrtsverbände/Selbstorganisation auszudehnen, um sekundäre Umverteilungsprozesse im entwickelten Wohlfahrtsstaat erfassen und die Erfolgschancen von Vernetzungen im informellen Sektor einschätzen zu können. Zwar ist die empirische Erkundung des „Sektoralen Korporatismus" bzw. die Bedeutung von „Versorgungsklassen" für die Bundesrepublik noch nicht weit fortgeschritten31, aber es deutet doch einiges darauf hin, daß die Konflikte um die Ausgestaltung des informellen Sektors im Zusammenhang mit der andauernden Massenarbeitslosigkeit eine strukturelle Basis für das Wachstum radikaler politischer Bewegungen abgeben können. c) Chronische Überforderung: Gelegentlich wird den Selbsthilfepotentialen des informellen Sektors euphemistisch das Wort geredet, so daß die realen Widersprüche, Konflikte, Macht- und Interessengegensätze vernebelt und über die Begriffe Gemeinschaft, Spontaneität, Solidarität, Natur bis hin zur Beschwörung von Blutsbeziehungen mystifiziert werden. Dabei wird übersehen, daß sich hinter Selbsthilfe- und Eigenarbeit häufig schlicht die alten Ausbeutungsverhältnisse familialer Selbsthilfepotentiale vor allem über die Reaktivierung traditioneller weiblicher Rollenzuweisungen verbergen.32 Und es wird zu wenig bedacht, daß die zunehmende Funktionsschwäche der Familie, die eine Überforderung durch die tendenzielle Reduktion auf psychosozialen Spannungsausgleich beinhaltet, Realität und nicht nur sozialwissenschaftliche Fiktion ist. Die moderne Rumpffamilie ist häufig mit den ihr aus dem Selbsthilfegedanken zugewiesenen Aufgaben hoffnungslos überfordert: „Die Pflege chronisch-kranker älterer Menschen stellt hohe Anforderungen und Belastungen, und häufig sind die pflegenden Familienangehörigen — zumeist die Töchter oder Schwiegertöchter — dieser Dauer- und Überbelastung nicht gewachsen. Bei schwerer und/oder andauernder Pflegebedürftigkeit können 3 0 R. G. HEINZE, TH. OLK, Sozialpolitische Steuerung: Von der Subsidiarität zum Korporatismus, in: M. Glagow (Hrsg.), Anm. 18, S. 162-194, hier S. 192. 31 J. ALBER, Versorgungsklassen im Wohlfahrtsstaat, in: KZfSS 2, 1984,

S. 2 2 5 - 2 5 1 . 32 C. v. WERLHOF, Der Proletarier ist tot. Es lebe die Hausfrau, in: Die GRÜNEN Baden-Württemberg (Hrsg.), Die Zukunft des Sozialstaats, 1984, S. 142-157.

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die körperlichen, emotionalen und sozialen Belastungen so hoch sein, daß die Angehörigen selbst erkranken, daß innerfamiliäre Spannungen und Konflikte auftreten und daß die anfängliche Besorgnis der Pflegenden in Ablehnung und Resignation umschlägt." 33 Das spricht nun, das sei ausdrücklich betont, keinesfalls gegen die Forderung, diese Entwicklung zurückzuschrauben, und auch nicht dafür, Ideen der Selbstorganisation als rückwärtsgewandte Utopien und weltfremde Sozialschwärmereien abzutun. Es macht lediglich darauf aufmerksam, daß dieser Prozeß der Reaktivierung von Selbsthilfepotentialen und Eigenarbeit im informellen Sektor an vielfältige Voraussetzungen ökonomischer, (sozial)politischer und kultureller Art gebunden ist, auf die noch zurückzukommen sein wird. d) Im Begriff „Hilfe zur Selbsthilfe" ist der Widerspruch, daß die Betroffenen sich nicht problem- und voraussetzungslos allein aus dem „Sumpf" ziehen können („Eigenhilfe"), festgehalten.34 Der Zerstörung gewachsener Sozialbeziehungen, in denen Problemlösungsmuster authentisch verankert waren, wozu man keinesfalls die Geschichtsmythologie der scheinbar heilen Großfamilie bemühen muß, werden mit den Selbstorganisationen problemzentrierte, thematisch begrenzte, wenn man so will, künstliche Zusammenschlüsse Betroffener entgegenzusetzen versucht. Aus diesem Kontext ist nun der „Professional" keinesfalls weggedacht, vielmehr wird ihm lediglich eine andere, teilweise reduzierte, andererseits erweiterte Funktion zugewiesen. Er soll nicht Kontrolleur, sondern Partner oder Berater und kann Initiator sein. Daher kommt es bei den Versuchen, Selbstorganisationen in das bestehende Wohlfahrtssystem einzubinden, aufgrund der schwerfälligen administrativen Regeln und Hierarchien großbürokratischer Bearbeitungsformen zu vielfältigen Konflikten, da die Sozialarbeiter auf einheitliche Führung und Kontrolle verpflichtet sind. Sie geraten hierdurch in ausweglose Rollen- und die Initiativen in unlösbare Zielkonflikte zwischen Flexibilität, Selbstbestimmung und Fremdkontrolle. Es kommt zu einem administrativen Anpassungsdruck auf die Selbstorganisationen: Wollen sie öffentliche Unterstützung erreichen, so wird diese nämlich i.d.R. an politisch-administra33

G. BÄCKER, Entprofessionalisierung und Laiisierung sozialer Dienste - Richtungsweisende Perspektive oder konservativer Rückzug? in: WSI-Mitteilungen 10, 1979, S. 5 2 6 - 5 3 7 , hier S.523. 34 Vgl. zur Begriffsparadoxie sowie zur Begriffsgeschichte: H. NOKIELSKI, E. PANKOKE, Famiiiale Eigenhilfe und situative Selbsthilfe, in: F.-X. Kaufmann (Hrsg.), vgl. Anm. 11, S. 2 6 7 - 2 8 4 .

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tive Kontrolle und Rechenschaftspflicht gebunden. Sozialarbeiter, die nicht in den Selbsthilfegruppen, sondern in Zusammenarbeit mit oder für die Initiativen wirken wollen, sind in unbewegliche Verwaltungsstrukturen eingebunden und müssen die immensen Kontrollprobleme für die Sozialverwaltungen austragen. Diese sind bürokratischer Rationalität verpflichtet und tun sich daher schwer mit den Selbstverwaltungs- und Freiheitsansprüchen der Selbstorganisationen und scheitern vor allem an der „Unplanbarkeit und Undurchführbarkeit der pädagogischen Interventionsform in einem rationalen Sinne."35 Auf allen drei Ebenen rationalen Handelns — Bedarfsermittlung, Maßnahmezuweisung und zielorientierte Effizienzkontrolle — muß, bei den vorwiegend immateriellen Bedarfslagen in den Selbstorganisationen, auf Rechenhaftigkeit angelegtes administratives Handeln an seine Grenzen stoßen. „Es entsteht der Eindruck, daß die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen und ihre Unterstützung gefördert werden soll unter Beibehaltung der bisherigen Verwaltungsstrukturen. Unter diesen Bedingungen werden die Sozialarbeiter ,an der Front' die Konfliktausträger — der strukturelle Konflikt wird individualisiert."36 So ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß sich z.B. bei der Betrachtung von Sozialstationen zeigt, daß die zentrale Aufgabe neuer Subsidiaritätspolitik, Selbsthilfepotentiale aufzubauen und zu reaktivieren, kaum wahrgenommen wird. e) Schichtspezifisch unterschiedliche Zugangsbarrieren oder -zwänge: In der Diskussion von Selbsthilfegruppen wird immer wieder auf die Hindernisse hingewiesen, die vor allem sozial schwache Gruppen von der Beteiligung an oder der Inanspruchnahme von neuen Sozialangeboten ausschließen. Hier wiederholt sich also ein Selektionsprozeß, der gerade an den traditionellen sozialpolitischen Instrumenten kritisiert wird, daß sie nämlich vorwiegend von Personen in Anspruch genommen werden können, „die den zugrundeliegenden (marktwirtschaftlichen) Modellvorstellungen genügen, d.h. Personen mit einem intakten Handlungsvermögen" 37 . So läßt sich vor allem im Erziehungsbereich eine Mittelschichtenverzerrung nachweisen, die die bekannte schichtspezifische Bildungsbeteiligung in die Selbstorganisation hineinträgt. Aber auch in Rehabilitations- und Resozialisationsgruppen existiert eine derartige „Negativauslese", da 35

P. GROSS, vgl. A n m . 1 1 , S . 3 0 2 ; vgl. auch K. P. JAPP, TH. OLK, A n m . 8,

S. 162 ff. 36 CH. DENEKE, Selbsthilfegruppen und Sozialarbeit, in: Neue Praxis, Sonderheft 6, 1982, S. 199-208, S.206.

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sich vor allem die Artikulationsstarken, Kommunikationsfähigen und Problembewußten Zugang verschaffen und/oder durchsetzen können. 38 Darüber hinaus begünstigt eine Ungleichverteilung finanzieller und zeitlicher Ressourcen bei den Betroffenen eine derartige Selektion. Etwas kraß formuliert Huber diesen Mechanismus: „Die neue Partnerschaft von helfenden Profis und selbsthelfenden Laien auf der Grundlage von Selbstkontrolle und Gegenseitigkeit hat aber nur ausnahmsweise mit Individualisierung und Demokratisierung zu tun. In der Regel handelt es sich um Vereinzelung und bloßes Geschäft." 3 9 Betrachtet man den informellen Sektor insgesamt, so ist auch an den bereits erwähnten sozialen Selektionseffekt in die andere Richtung zu erinnern. In der Krise werden die Interessen marginalisierter Randgruppen und Minderheiten von den korporativ strukturierten Gruppen vernachlässigt und mit Schattenwirtschaft und Eigenarbeit oftmals nur Bereiche der neuen Armutsökonomie mit einem progressiven Etikett versehen. Nachdem man den Betroffenen ihre Arbeit genommen hat, fügt man dem formellen Sektor eine ArbeitslosenSubkultur hinzu, in der in ehrenamtlicher Form die sozialpolitischen Aufgaben wahrgenommen werden, von denen der formelle Sektor zuvor befreit und entlastet wurde, oder in der - über die Zwangsbetätigung im Schatten der formellen Ökonomie — die individuelle Reproduktionsbasis aufrecht zu erhalten versucht wird. Nicht zuletzt sind in diesem Zusammenhang die geschlechtsspezifischen Selektionsprozesse bei der Eigenarbeit, Selbst- und Familienhilfe ins Gedächtnis zu rufen, mit denen die überproportionale Frauenarbeitslosigkeit über die traditionellen Rollenzuweisungen kaschiert und der Arbeitsmarkt insgesamt entlastet werden soll.

4. Naturwüchsige Dualwirtschaft oder politisch gefördete und verantwortete Komplementärwirtschaft? Verökonomisierung und Kolonisierung, Verrechtlichung und administrative Einbindung, chronische Überforderung, Schicht- und geschlechtsspezifische Selektionsvorgänge kennzeichnen in weiten Bereichen die Realität des informellen Sektors. Ohne tiefgreifende Veränderungen der Wirtschafts-, Einkommens-, 37

E . STANDFEST, S. A n m . 9 , S. 1 2 5 .

A. WINDHOFF-HÜRITIER, Selbsthilfe-Organisationen. Eine Lösung für die Sozialpolitik der mageren Jahre? in: Soziale Welt 1, 1982, S. 4 9 - 6 5 , S.61. 38

39

J . H U B E R , s. A n m . 1 2 , S. 8 0 f f ; v g l . a u c h R . ROSENBROCK, A n m . 2 7 s o w i e H . -

J. DAHME, F. HEGNER, Wie autonom ist der autonome Sektor? in: ZfS 1, 1982, S. 2 8 - 4 8 .

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Beschäftigungs- und Steuerpolitik kann den negativen Tendenzen im informellen Sektor nicht begegnet werden. Bleiben diese Veränderungen aus und die herkömmlichen Denkschemata aufrechterhalten, dann wiederholt sich innerhalb der Gesellschaft das Nord-Süd-Gefälle von arm und reich, von Erster-, Zweiter- und Dritter Welt. D. h. der mit Sicherheit anwachsende informelle Sektor degeneriert zu einem Auffangbecken marginalisierter Randgruppen und privilegierter Aussteiger. Ein sozial ungesicherter informeller Sektor subventioniert dann über ehrenamtliche Tätigkeit, Selbst- und Eigenhilfe einen auf Sparen bedachten Sozialstaat. Die kontraproduktiven und entmündigenden Wirkungen einer verrechdichten, überprofessionalisierten, nur nach Effektivitätsgesichtspunkten organisierten Sozialpolitik können nur dann durch den informellen Sektor aufgefangen werden, wenn er selbst auf ein ökonomisch-sozialpolitisch gesichertes Fundament gebaut wird. Will man den informellen Sektor als Produktivitätsreserve des Sozialstaats fruchtbar werden lassen, eine naturwüchsige Dualwirtschaft überwinden, in der ein Teil der Bevölkerung am Rand der Gesellschaft sich allein durchschlagen muß, so ist eine bessere Ausbalancierung zwischen formellem und informellem Sektor sicherzustellen. Eine vernetzte Komplementärwirtschaft, politisch gefördert und verantwortet, setzt eine ausgeglichenere Verteilung der Lasten und Vorzüge der beiden Sektoren zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, Generationen und Geschlechtern voraus. Da beide Bereiche voneinander abhängig sind, gilt es zunächst, die Tabuisierung der Erwerbswelt in den Betrieben, in Markt und Staat zu überwinden. Rosanvallon spricht in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit, drei ineinander verschachtelte Einzelkompromisse einzugehen: Einem „sozio-ökonomischen Kompromiß mit der Unternehmerschaft", einem „sozio-politischen Kompromiß mit dem Staat" sowie einem „Kompromiß der Gesellschaft mit sich selbst". Können diese nicht gefunden werden, so werden wir in einer von neuen Ungerechtigkeiten und einer „Anhäufung von Dualismen" gekennzeichneten „Mischgesellschaft leben, die von starken Marktmechanismen, rigiden staatlichen Formen und einer partiellen gesellschaftlichen Korporatisierung geprägt sein wird." 40 a) Kernstück des sozio-ökonomischen Kompromisses mit der Unternehmerschaft ist eine generelle Reduktion der individuellen Ar40

P. ROSANVALLON, A n m . 7 , S. 7 4 ff.

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beitszeit im formellen Sektor als Grundlage einer sozialverträglichen Umverteilung der verbleibenden Erwerbsarbeit. Hierzu müssen Wahlmöglichkeiten bei der täglichen, wöchentlichen, jährlichen und Lebensarbeitszeit eingebaut werden. Derartige Flexibilisierungsstrategien der individuellen Arbeitszeit haben sicherzustellen, daß sie nicht auf dem Rücken einer flexiblen „allzeit-bereiten" Reservearmee ausgetragen werden, die auf Abruf die aktuellen, kurzfristigen Personallücken in den Betrieben zu schließen hat. Die Möglichkeiten eines freiwilligen Zugangs zum informellen Sektor sowie die Attraktivität der Betätigung in ihm müssen über die Bereitstellung freiverfügbarer Zeitkontingente und über die Sicherstellung der Wahlfreiheit hinsichtlich der Teilnahme am Arbeitsmarkt oder informellen Sektor erhöht werden. Dabei ist zu berücksichtigen, das haben Hinrichs, Offe und Wiesenthal betont41, daß zwar eine Vielzahl von Arbeitnehmern für ein Mehr an Freiheit Lohneinbußen hinnehmen könnte und würde, insgesamt die Arbeitszeitwünsche jedoch nach familialer, sozialer, ökonomischer und biographischer Situation sehr unterschiedlich sind. Sie schlagen daher vor, die Mehrarbeitsmöglichkeiten einzuschränken und statt dessen die Arbeitszeitflexibilisierung nach unten auf individuellen Wunsch fest zu verankern. Nur diese Lösung schaffe Arbeitsplätze und lasse eine Feineinstellung auf individuelle Wünsche zu. Um das vorhandene Potential für Tätigkeiten im informellen Sektor ausschöpfen zu können, ist allerdings die Einrichtung eines arbeitsmarktunabhängigen Einkommenssicherungssystems, z.B. in Form eines garantierten Mindesteinkommens, notwendig. b) Der Kompromiß mit dem Staat beinhaltet zunächst die Sicherstellung eines solchen arbeitsunabhängigen Grundeinkommens, z. B. als Bürgerrecht auf ein garantiertes Mindesteinkommen. Will man die Aufwertung gesellschaftlich sinnvoller Tätigkeiten jenseits der Lohnarbeit im informellen Sektor erreichen, so ist die Entkoppelung von Erwerbsarbeit im formellen von der Tätigkeit im informellen Sektor durch eine Entkoppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit zu ergänzen. Dies hätte zugleich eine Entlastung des Arbeitsmarktes sowie seiner versicherungsrechtlichen Auffangsysteme zur Folge. Durch die Sicherstellung eines garantierten Mindesteinkommens würden die von Arbeitslosigkeit Betroffenen nicht immer wieder entmutigt und resigniert auf einen überquellenden Arbeitsmarkt ver4 1 Vgl. K. HINRICHS, C. OFFE, H. WIESENTHAL, The crisis of the welfare State and alternative modes of work redistribution, MS Bielefeld, 1 9 8 4 , S. 2 8 f.

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Dieter Grühn

wiesen, sondern hätten die Möglichkeit, sich Tätigkeitsformen jenseits traditioneller Beschäftigung im Erwerbssektor zuzuwenden. Nur so kann auch eine weitere Monetarisierung der sozialen Dienstleistungen und das Vordringen der „Expertenherrschaft" aufgehalten werden. Die Entbürokratisierung und Entprofessionalisierung der sozialen Dienste setzt darüber hinaus administrative „Lockerungsübungen" voraus, die Einräumung von mehr Möglichkeiten zu experimentieren und klassische Staatsnachfrage durch kollektive Selbsthilfe zu ersetzen. Der informelle Sektor muß also durch unterschiedliche Maßnahmen und Förderungen erweitert und institutionell abgesichert werden mit dem Ziel, die Tätigkeiten in ihm den gleichen Kriterien sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit zu unterstellen, die für den formellen Sektor gelten: — Einführung steuerlicher und anderer rechtlicher Erleichterungen wie versicherungsrechtlicher Begünstigungen von Beschäftigungsverhältnissen in Alternativprojekten und Selbsthilfegruppen und Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen, die ihren spezifischen Problemlagen gerecht werden, — Abbau der Benachteiligung bei der Vergabe öffentlicher und privater Kredite durch Übernahme von Bürgschaften und Entwicklung eines gezielten Subventionsprogramms, — Aufbau eines Beratungsnetzes bzw. finanzielle Unterstützung beim Aufbau eines autonomen Hilfs- und Beratungsnetzes. Dabei ist im Rahmen einer makroökonomischen Betrachtung auf mittlere Sicht davon auszugehen, daß die Einsparungen in den entlasteten Arbeitslosen- und Sozialversicherungssystemen die Kosten derartiger Unterstützungen übersteigen.42 c) Diese notwendigen Veränderungen können nicht das Ergebnis intellektueller Konstruktionen sein, die dann durch staatliche Planung und Politik umgesetzt werden. Sie müssen aus der Betroffenheit und Eigeninitiative der Bevölkerung erwachsen, aus einer Verbreiterung des Wunsches nach Selbst- und Fremdhilfe, nach Eigenbeteiligung und Gegenseitigkeit, nach Wiedererlangung sozialer Kompetenzen. Sie setzen also einen grundsätzlichen Kompromiß der Gesellschaft mit sich selbst im Sinne einer Veränderung des Wertesystems der Gesellschaft voraus. 4 2 Vgl. J. BERGER, Alternativen zum Arbeitsmarkt, in: MittAB 1, 1984, S. 6 3 - 7 2 .

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Gerade dieser Wertewandel scheint jedoch aus drei Gründen ins Stocken geraten zu sein: Zum einen, weil der Wertewandel selbst möglicherweise ein zyklisches Phänomen darstellt, es sozusagen eine phasenverschobene Ungleichzeitigkeit von realwirtschaftlichen Zyklen und Wertewandel gibt (s.o.); zum anderen, weil seine Träger im informellen Sektor nach mehr Individualität, persönlicher Entfaltung und Solidarität suchen, statt dessen oftmals aber nur soziale und ökonomische Unsicherheit sowie wachsenden inneren und äußeren Problemdruck bei sinkenden Ressourcen vorfinden. Und drittens weil dieser Lageverschlechterung durch konservativen Druck und Besetzung des Terrains Vorschub geleistet wird: So machen die ersten empirischen Analysen der staatlich inszenierten „neuen Subsidiaritätspolitik" deutlich, daß zwar verbal an die Funktionsdefizite staatlicher Sozialpolitik angeknüpft wird, die politische Umsetzung der Subsidiaritätspolitik jedoch im eklatanten Widerspruch zu dieser Rhetorik nur schlecht kaschierte Sparpolitik ist: „Selbsthilfegruppen wird faktisch keine ,Hilfe zur Selbsthilfe' angeboten; Frauen wird durch die Stiftung („Hilfe für die Familie" in Berlin, „Mutter und Kind — Schutz ungeborenen Lebens" auf Bundesebene, D. G.) kaum geholfen; Sozialhilfeempfänger werden noch mehr diskriminiert; und selbst das Konzept der Sozialstationen hat den Nachweis seiner Qualität noch nicht erbracht." 4 3 Es muß daher vor einer realitätsblinden Selbsthilfe-Euphorie gewarnt werden.

4 3 P. GROTTIAN, F. KROTZ, G. LÜTKE, M . WOLF: Die Entzauberung der Berliner Sozialpolitik, in: FR, Nr. 7 8 vom 2. April 1 9 8 5 , S. 14.

Der Sozialstaat als Versorgungsstaat Von der Wohlstandssicherung zur Massenarbeitslosigkeit

KLAUS SCHROEDER

Im Vordergrund der nachfolgenden Überlegungen steht das Spannungsverhältnis zwischen wohlfahrtsstaatlicher Massendemokratie und kapitalistischer Marktökonomie am Beispiel der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Meine zentrale These lautet: die gesellschaftlichen Ausgangsbedingungen und die nachfolgenden Veränderungen im politisch-sozialen und politisch-staatlichen Raum seit 1945 und in veränderter Weise seit Mitte der 60er Jahre haben einerseits die Grundlage für eine lange Phase wirtschaftlichen Wachstums und den Ausbau des Sozialstaates gelegt, sie sind aber andererseits in den 70er Jahren mit strukturellen und funktionalen Prinzipien der Ökonomie in Konflikt geraten, was letztendlich zur Krise von Ökonomie und Sozialstaat gleichermaßen führen mußte. Gleichzeitig schafft die ökonomische Krise zusammen mit einem spezifischen (sozial-)staatlichen Krisenverarbeitungsmuster die Grundlagen für ein neues Gesellschaftsmodell.

I. Der Konsens der staatstragenden politischen Kräfte in der Bundesrepublik über Inhalt und Struktur des Sozialstaates ist seit Mitte der 70er Jahre brüchig. Bis zum Beginn der ökonomischen Stagnationsperiode gilt der Erhalt bzw. der Ausbau des Sozialstaates den gesellschaftlich relevanten Parteien- und Interessengruppen als unverzichtbarer Bestandteil für ihr Verständnis von staatlicher Politik und der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung. Diese prinzipielle Überein-

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Stimmung berührt jedoch nicht die unterschiedliche Interpretation der Funktion des Sozialstaates. Vereinzelt vorgebrachte konservative oder linke Sozialstaatskritik, die um die Pole „Wohlstandsdiktatur" versus „Sozialstaatsillusion" kreist, wird politisch nicht bedeutsam. Mit dem Andauern ökonomischer Krisenerscheinungen ändert sich die Situation: politisch, indem sich die jeweiligen Regierungen (sozialliberale ebenso wie christlichliberale) veranlaßt sehen, durch diverse „Sparoperationen" die Kosten des Sozialstaats zu reduzieren, um einer vermuteten Ausweitung der Finanzkrise zu einer umfassenden Staatskrise vorzubeugen und ideologisch, indem die in Anbetracht der Dominanz tagespolitischer Ereignisse oftmals nicht erkennbaren Gesellschaftsmodelle der unterschiedlichen politischen und sozialen Kräfte wieder deutlicher und schärfer hervortreten.1 Im konservativen Lager verdichten sich in jüngster Zeit partiell und von verschiedenen Seiten geäußerte Einwände zu einer Fundamentalkritik am Sozialstaat. Finanzierungsprobleme ebenso wie die sozialkulturellen Folgen des Sozialstaates hätten die materielle und soziale Basis der ökonomischen Entwicklung zerstört und seien die eigentliche Ursache der Stagnation. Über diverse Vermittlungsschienen beeinflußt der Sozialstaat sowohl die Kapitalseite als auch die Arbeitsseite negativ. Insgesamt gesehen wirkt er bremsend auf die Investitionswie auf die Arbeitsbereitschaft. Während das Kapital und die gut verdienenden sozialen Schichten hiernach unter steigenden Abgabelasten zu leiden haben, was ihren Leistungs- und Risikowillen hemmt, unterliegen große Teile der Arbeitnehmerschaft der Illusion, der Sozialstaat garantiere ihnen ein sorgenfreies Leben, was ihre Bereitschaft mehr und intensiver und auch für weniger Geld zu arbeiten, beeinträchtigt. Im Verweis auf diese leistungshemmende und zugleich anspruchsfördernde Funktion des Sozialstaates liegt die Substanz konservativer Sozialstaatskritik. Darüber hinaus bemängelt diese Kritik drei Aspekte, die sich aus der institutionellen Struktur und Organisation des Sozialstaates in einer hochgradig parteien- und verbändemäßig vermachteten Gesellschaft ergeben. — indem der Gegensatz von Kapital und Arbeit sozialstaatlich aufgehoben oder zumindest weitgehend staatlich vermittelt wird, entstehen neue soziale Benachteiligungen und neues Elend. Es ist die Rede von einer „neuen sozialen Frage". 1 Z u r aktuellen „ l i n k e n " u n d rechten Sozialstaatskritik vgl. C . OFFE, Arbeitsgesellschaft, 1 9 8 4 .

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— der Sozialstaat ist hochgradig ineffektiv. Gemessen an den Leistungen sind die Kosten zu hoch, zumal die intendierte Umverteilung zu einem „Griff in die eigene Tasche" führt. — der Ausbau des Sozialstaates bedroht die Freiheit des Einzelnen. Die mit dem Ausbau des Sozialstaates einhergehende Verrechtlichung und Verstaatlichung sozialer Beziehungen schränken hiernach die Gestaltungsmöglichkeiten des Individuums ein. „Freiheit oder Sozialismus" Die konservative Sozialstaatskritik findet bisher nur ansatzweise Berücksichtigung im staatlichen Handeln. Bis zum jetzigen Zeitpunkt geht die „Sparpolitik" der CDU/CSU/FDP nur partiell über die schon vorher praktizierte (sozialliberale) Politik hinaus. Im Widerspruchsfeld zwischen ökonomischen und legitimatorischen Interessen konstituiert sich eine Politik des pragmatischen Krisenmanagements, die nur bedingt den Kritiken Rechnung tragen kann. Insofern kann ein Mißverhältnis zwischen den Inhalten diverser konservativer Strategie- und Theoriepapiere und der tatsächlichen Politik konstatiert werden. Umgekehrt verhält es sich mit sozialdemokratischen Beiträgen und Kritiken zum Sozialstaat: die tatsächliche Politik war wesentlich restriktiver als die diversen propagandistischen Verlautbarungen zum Erhalt und Ausbau des Sozialstaates. Für die SPD war und ist der Sozialstaat ideologischer Dreh- und Angelpunkt ihrer politischen Perspektiven hinsichtlich eines sozialen Kapitalismus. Trotz dieser Prämisse hat die Sozialdemokratie in den letzten Jahren ihrer Regierungsverantwortung erfahren müssen, daß eine Politik, die auf einen quantitativen Ausbau des Sozialstaates setzt, letztendlich von der Kontinuität ökonomischer Prosperität abhängt. Mit der finanziellen Krise des Sozialstaates verliert sozialdemokratische Politik zunächst ihre zentrale Leitlinie. Aktuelle sozialdemokratische Beiträge zur Sozialstaatsdiskussion stellen die mehr oder weniger bedingungslose Verteidigung des Sozialstaates in seinem jetzigen Zustand in den Mittelpunkt, ohne angeben zu können, wie das Dilemma zwischen Sozialstaat und ökonomischer Stagnation aufgelöst werden kann. Für die Traditionslinke ist der Sozialstaat ein Mittel zur Stabilisierung des Kapitalismus. Indem sie von der prinzipiellen Reformunfähigkeit des Systems ausgeht, kommt sie zu dem Ergebnis, daß Sozialpolitik realiter keine grundlegenden Veränderungen im Verhältnis Kapital-Arbeit bewirkt, sondern allenfalls der Entstehung und Aus-

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breitung eines „falschen" Bewußtseins (Sozialstaatsillusion) über die gesellschaftliche Realität dient. Als Beleg für die Richtigkeit dieser These wird zumeist auf die nicht erfolgte sekundäre Umverteilung zwischen Kapital und Arbeit verwiesen, d. h. der Ausbau des Sozialstaates wird von den Lohnarbeitern selbst finanziert. Es kommt nur zu einer klasseninternen Umverteilung. In der aktuellen grün-alternativen-Diskussion werden insbesondere drei Aspekte in der Sozialstaatskritik hervorgehoben: 1) der Sozialstaat beseitigt nicht die Ursachen, die sein Eingreifen notwendig machen, sondern er versucht, immer nur die Folgen mangelhafter Entwicklungen zu mildern; 2) durch seine spezifischen institutionellen Ausformungen, insbesondere seiner Neigung zur Zentralität, wirkt er unpersönlich, anonym und nimmt auf die jeweiligen Bedürfnisse keine Rücksicht; 3) entkleidet der Sozialstaat sich in keiner Phase seines sozialen Norm- und Kontrollaspektes. Er erzwingt und fördert Sozialnormen, die dem in der Gesellschaft dominanten bürgerlichen Sozialverhalten entsprechen.

II. Sozialpolitik ist in ihren historischen Anfängen humanitär und sozialethisch begründet. Eine explizit politische Dimension erfährt staatliche Sozialpolitik in Deutschland erstmalig mit der Bismarck'schen Sozialgesetzgebung, die sich hierüber die soziale und politische Integration der Arbeiterschaft verspricht. Die gesetzliche Verankerung der Sozialpolitik erfolgt in einer Zeit der Sozialistenverfolgung. Sozialistengesetz und Sozialgesetze können insofern als zwei Seiten einer Medaille interpretiert werden. Mit dem Ausbau des Systems staatlicher Sozialleistungen in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts wird der Zusammenhang zur kapitalistischen Marktökonomie unabdingbar. Staatliche Sozialpolitik versucht, für das gesellschaftliche und politische System schädliche soziale Folgen, die der Logik kapitalistischer Ökonomien entwachsen, zu kompensieren, während gleichzeitig die Finanzierung dieser Politik vom wirtschaftlichen Wachstum abhängig wird. Die systematische Ausgestaltung des Sozialstaates in der Weimarer Republik trägt eindeutig die Handschrift der Sozialdemokratie. Es ist der Versuch, vermittels des staatlichen Prinzips der sozialen Sicherheit, den Kapitalismus in Einklang mit der parlamenta-

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tischen Demokratie zu bringen. Bekanntlich scheiterte dieser Versuch. 2 Die negative Auflösung des Verhältnisses von Sozialstaat und Marktökonomie in der Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre führt konzeptionell zu einer Ausweitung staatlicher Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten. Will der Staat seine sozialpolitischen Dimensionen erhalten oder ausbauen, muß er gleichzeitig die Garantien für den Fortgang des ökonomischen Prozesses übernehmen. Staatliche Sozialpolitik und Wirtschaftsinterventionismusgarantien sind insoweit unauflösbar miteinander verbunden. In der ökonomischen Theorie steht der Name Keynes für dieses theoretische Konstrukt. Erste praktische Erfahrungen mit diesem Konzept werden unmittelbar in Anschluß an die Weltwirtschaftskrise gewonnen. In der amerikanischen Politik des „New Deal", aber zum Teil auch in der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik finden, ungeachtet der unterschiedlichen politischen Ausrichtung der Systeme, diese Gedanken Anwendung.

III. Das bundesdeutsche Konzept der „Sozialen Marktwirtschaft" trägt diesem Zusammenhang durchaus Rechnung. Es ist der Versuch, Profitlogik und Sozialbindung zu versöhnen und staatlich zu vermitteln: der Sozialstaat wird zum politischen Inhalt der Massendemokratie. Im Grundgesetz der Bundesrepublik kommt es zu einer Fixierung des Sozialstaatsprinzips. Allerdings bedeutet diese grundgesetzliche Fixierung keine konkret faßbaren Handlungsanweisungen für die staatlichen Instanzen. Die spezifische Ausgestaltung dieses Prinzips bleibt dem politischen Kräftespiel überlassen.3 Die soziale und ökonomische Politik des Staates wird damit zum Transmissionsriemen zwischen politischer, sozialer und ökonomischer Sphäre. Um den unterschiedlichen Erfordernissen, die sich hieraus ergeben, gerecht zu werden, muß der ökonomische Staat in Funktionslücken des Marktes springen, ohne die Funktionsprinzipien zu verletzen. Diese Gratwanderung kann nur gelingen, wenn die

2 Zur historischen Entwicklung des Sozialstaats vgl. J. STRASSER, Grenzen des Sozialstaats 1983 2 . 3 Zur Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft vgl. die Beiträge in W. STÜTZEL u.a., Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, 1981.

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sozialen Träger des politischen und ökonomischen Prozesses sich im zugewiesenen Rahmen bewegen, bzw. sich konsensual verständigen. In Anbetracht dessen kommt dem Sozialstaat eine doppelte Funktion zu: einerseits materielle Kompensation für aus dem Arbeitsprozeß vorübergehend oder für immer Ausgeschlossene zu sein und andererseits durch seine inneren Strukturregeln, den sozialen Differenzierungs- und Hierarchisierungsprinzipien des ökonomischen Systems zu entsprechen. Idealtypisch wird hierduch eine für das ökonomische System disfunktionale Wirkung des Sozialstaats verhindert. Erst in Perioden mit relativ hohem Beschäftigungsstand oder sogar Arbeitskräftemangel verliert die sozial disziplinierende Funktion für einen großen Teil der Betroffenen an Wirkung, da nun die sozialen Sanktionsmechanismen des ökonomischen Systems durch Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen zumindest kurzzeitig außer Kraft gesetzt werden. Die Funktionen der Krise - ökonomisch eine „Reinigungskrise" und politisch-sozial ein Disziplinierungsmittel — verlagern sich zum Teil in den politisch-institutionellen Raum. Je mehr der Staat versucht, die Ökonomie zu regulieren und damit Krisen verhindert, desto mehr muß er auch Teilbereiche der „sozialen Normierung" übernehmen, die vormals über ökonomische Krisen vermittelt sind. Für die Organisation des Sozialstaates ergeben sich hieraus Konsequenzen. Er muß präventiv im Sinne sozialer Kontrolle wirken, und er muß den vorherrschenden Grundprinzipien sozialen Verhaltens entsprechen bzw. sie fördern. Der Sozialstaat darf das System sozialer und funktionaler Hierarchien der Gesellschaft nicht in Frage stellen. In der Tat wird der Sozialstaat diesen Ansprüchen gerecht, indem er individuelle Leistungs- und Aufstiegsorientierung, privatistische Lebensführung und monetäre Entschädigung zu Kriterien seiner Politik macht. In den westlichen (insbesondere westeuropäischen) Industriegesellschaften gehören seit der politischen und ökonomischen „Rekonstruktionsphase" nach dem Ende des 2. Weltkrieges Sozialstaat, kapitalistische Marktökonomie und politische Massendemokratie konstitutiv zusammen. Die gesellschaftlichen Kernfunktionen des Sozialstaates lassen sich hiernach auf zwei Ebenen darstellen: — in politischer Hinsicht hat der Sozialstaat legitimatorische Wirkung, indem er den Konflikt Kapital-Arbeit entschärft und damit neutralisiert, während er gleichzeitig durch seine institutionell-

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bürokratischen Vermittlungsformen und inhaltlichen Kriterien politisch-sozial normierend und disziplinierend tätig wird. 4 — für den ökonomischen Prozeß bietet der Sozialstaat durch seine Verpflichtung, über monetäre Entschädigungen wirtschaftliche Risiken des Einzelnen abzumildern, eine gewisse Garantie für eine stabile Entwicklung der Massenkaufkraft. Darüber hinaus sichert er die jeweils spezifische und für die Ökonomie notwendige Reproduktion der Lohnarbeiter.

IV. In der Gründungsphase der Bundesrepublik wird zwischen den relevanten gesellschaftspolitischen Blöcken nicht um das „ O b " , allenfalls um das „Wie" des Sozialstaates gestritten. Als Alternative zum Sozialismuskonzept sowjetischer Prägung gewinnt die Vision eines „sozialen Kapitalismus" an Bedeutung und wird 1949 zum staatsleitenden Prinzip. Die nun erfolgende konkrete Ausgestaltung des Sozialstaates durch konservative Regierungen kann sich der Zustimmung breiter gesellschafdicher Kräfte gewiß sein. Schon in den 50er Jahren werden die wesentlichen Elemente des Sozialstaates, die auch noch heute Gültigkeit haben, geschaffen. Der rasche wirtschaftliche Aufschwung ermöglicht die Finanzierung und schafft gleichzeitig die Legitimation für dieses Entwicklungsmodell. Insofern gelingt die sozialstaatliche Befriedung des Klassenkonflikts in den 50er Jahren auf der Grundlage hoher Wachstumsraten, die einen weiteren Ausbau des Sozialstaates und eine schnelle Verbesserung des materiellen Lebensstandards für weite Bevölkerungsschichten erlauben. Extensiv steigende Gewinne ermöglichen dem Kapital beträchtliche „freiwillige" Erhöhungen der Lohnsätze. Allerdings liegen in dieser Phase die Raten der Gewinne wie der Produktivität über denen der Löhne. Mit der Ausweitung der Massenkaufkraft sowie der staatlichen Finanzressourcen bei gleichzeitigem Ausbleiben größerer sozialer Konflikte verstetigt und stabilisiert sich der wirtschaftliche Prozeß: die Ökonomie kann über lange Jahre hinweg relativ krisenfrei verlaufen. Neben der expansiv zunehmenden Binnennachfrage garantiert insbesondere der Export für die erfolgrei-

4 Zum Verhältnis Sozialstaat, Massendemokratie und Kapitalistische Marktökonomie vgl. J. HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, S. 5 1 0 ff, 1981.

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che Realisierung des Produktionsangebots. Insofern sind die Produktions- und Realisierungsbedingungen gleichermaßen günstig für die Entwicklung der westdeutschen "Wirtschaft. Der Bedeutung des politisch-sozialen Gleichgewichts zwischen Kapital und Arbeit auf der institutionellen Ebene für eine krisenfreie Ökonomie entspricht auf der Ebene der Individuen die Akzeptanz bürgerlichen Sozialverhaltens, die Anerkennung von Leistung und Konkurrenz als Grundprinzipien sozialen Verhaltens. So lange über die Zunahme des individuellen Konsums eine hinreichend materielle Kompensation erfolgt und das Bild einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft" zum Erwartungshorizont von Mehrheiten gehört, bleibt dieses Gesellschaftsmodell ohne ernsthafte Alternative. Mit dem Godesberger Programm vollzieht auch die Sozialdemokratie die programmatische Hinwendung zu gesellschaftlichen Realitäten. Zu diesen gesellschaftlichen Realitäten gehört, daß die Rekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft in Ubereinstimmung mit der Arbeiterbewegung erfolgt. Unmittelbar nach 1945 ist es die Arbeiterschaft selbst, die das Kapitalverhältnis wieder in Gang setzt. Nach der Befreiung von Lohnarbeit und Kapital von der nationalsozialistischen Herrschaft begreift sie sich als gleichberechtigter Partner des Kapitals. Auf der Grundlage selbstgewählter Unterwerfung unter die Herrschaft kapitalistischer Logiken entwickelt sich eine Volksgemeinschaft, die nicht mehr mit den Begriffen und Schemata traditioneller Klassentheorie erfaßt werden kann. 5 Von Seiten der Arbeiterschaft gibt es insofern keine Widerstände gegen Formen der Arbeitsorganisation, die Disziplin, Hierarchisierung und Individualisierung erfordern. Dieses Arbeiterverhalten schafft die Voraussetzung für das sprunghafte Wachsen der Produktivität in den 50er Jahren. Durch die Übernahme bürgerlicher Wertorientierungen durch die bundesdeutsche Arbeiterschaft, die wirtschaftspolitischen Interventionsgarantien, den Ausbau des Sozialstaates und die faktische politisch-soziale Kooperation zwischen Kapital und Arbeiterbewegung verändert sich die Verlaufsform des ,kapitalistischen Krisenzyklus'. Bis Mitte der 70er Jahre kann von einem Wirtschaftswunder gesprochen werden.

5 Diese These habe ich von Rotermundt übernommen; vgl. R. ROTERMUNDT, Verkehrte Utopien, 1980.

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V. Ab Mitte der 60er Jahre beginnen der politisch-soziale Konsens und in der Folge auch das ökonomische Gleichgewicht zu bröckeln: Soziale Unruhen, ausgehend von periphären gesellschaftlichen Bereichen (APO) sowie steigende Lohnquoten künden das Aufbrechen vorhandener — scheinbar unverrückbarer — sozialer Hierarchien, politischer Strukturen und gesellschaftlicher Wertvorstellungen an. Mögen die Ursachen für diesen Prozeß noch weitgehend ungeklärt sein, die sichtbaren Resultate sind analysierbar. Mit den September-Streiks 1969 beginnt in der Bundesrepublik analog zu vielen westeuropäischen Ländern - eine „Lohnoffensive der Arbeiterschaft", die von der Verteilungsebene her die Gleichgewichtsstrukturen der Ökonomie in Frage stellt und während der folgenden Jahre auch verändert. 6 Die inneren subjektiven Bedingungen für den Wiederbeginn relevanter Arbeiterkämpfe reifen Ende der 60er Jahre unter dem Eindruck von abgesicherter materieller Reproduktionsbasis, der Zunahme der Dequalifizierung der Arbeit, der Erfahrbarkeit von Disparitäten im Reproduktionsbereich und im Gefolge prosperierender Konjunktur heran. Konfrontiert mit schlechteren Arbeitsbedingungen, zyklischer Arbeitslosigkeit und offensichtlich ungerechten Verteilungsrelationen nach der Krise 1966/67 schlägt dieses individuell herangereifte Selbstbewußtsein ansatzweise in kollektives um; die Arbeiterkämpfe werden für die folgenden Jahre zu einem relevanten gesellschaftlichen und ökonomischen Faktor für die weitere Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Kurzzeitig verändern sich die politischen, sozialen und ökonomischen Grundlagen des gesellschaftlichen Konsenses; politisch durch die Regierungsfähigkeit des Reformismus in Gestalt der sozialliberalen Koalition, sozial durch die Infragestellung und Veränderung bisheriger Hierarchien und ökonomisch durch das Zugeständnis beträchtlicher Lohnerhöhungen. Regierungsfähig wird die SPD insbesondere durch zwei Aspekte: einerseits bindet sie vermeintlich die Arbeiterschaft stärker als zuvor an das „Gesamtwohl", und andererseits hat sie eine politische Antwort auf die seit Mitte der 70er Jahre sich ausbreitenden sozialen Konflikte und Unruhen. Im Wahlsieg der SPD/FDP 1969 und vor allem 1972 zeigt sich 6 Zur ökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik vgl. K. SCHROEDER, Der Weg in die Stagnation, 1984.

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jedoch auch der gewandelte Bewußtseinsstand bei Teilen der Bevölkerung, d. h. die versprochene „soziale Reform" des Kapitalismus findet bei Bevölkerungsmehrheiten Zustimmung. Zwar setzt sich das Reformprojekt realiter nur bedingt und vergleichsweise bescheiden um oder führt sogar zu kontraintentionalen Wirkungen, aber es kommt in den Jahren 1969 zu einer atmosphärischen Veränderung im politisch-sozialen Raum. Alte Hierarchien werden in Frage gestellt, neue gesellschaftliche Strukturprinzipien diskutiert und steigende Ansprüche an Staat und Gesellschaft formuliert. Auch die Ökonomie bleibt von diesem Prozeß nicht unberührt; sozialliberales Modernitätsverständnis und eine auf Ausgleich und Versöhnung zielende Außenpolitik verbessern kurzzeitig Verwertungs- und Realisierungsbedingungen des Kapitals gleichermaßen. Allerdings zeigt sich in dieser Phase auch wieder die entscheidende Schranke kapitalistischer Ökonomien: eine Arbeiterschaft, die in die soziale Offensive geht und damit eine wesentliche Prämisse des bisherigen politisch-sozialen Konsenses und einer expandierenden, auf Export ausgerichteten Wirtschaft verletzt. Sicherlich geht es in den Verteilungskämpfen der folgenden Jahre nicht um Systemveränderung, sondern „nur" um eine größere Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum für die Arbeiterschaft. Aber die Lohnoffensive reicht aus, die Grenzen dieser kapitalistischen Ökonomie offenzulegen: eine tiefgreifende Korrektur der Produktions- und Verteilungsstrukturen verträgt sich nicht mit immanenten Kapitalstrategien. Wird das Band von Produktivität und Lohn, von Arbeit und Leistung zugunsten der Arbeiterschaft durchbrochen, geht das bisherige Gesellschaftsmodell seiner sozialen Grundlagen verlustig. Unter den beiden ersten sozialliberalen Regierungen kommt es zu einer nochmaligen quantitativen Ausweitung des Sozialstaates. Nahezu alle gesellschaftlichen Teilbereiche und alle Gesellschaftsmitglieder werden nun von den sozialen Sicherungssystemen erfaßt — ohne daß jedoch die Funktionsprinzipien des Sozialstaates qualitativ verändert werden. 7 Der Ausbau des Sozialstaates wird verstanden als ein Beitrag zur Demokratisierung der Gesellschaft. Tatsächlich aber verbirgt sich hinter dem Demokratisierungsversprechen eine Politikkonzeption, die analog dem keynesianischen Wirtschaftsprojekt eine staatlich-bürokratische, von oben zu vermit7

Zur Struktur und Wirkungsweise des Sozialstaats vgl. TRANSFER-ENQUETEDas Transfersystem in der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 8 1 .

KOMMISSION,

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telnde Reform des gesellschaftlichen Lebens anstrebt. Das sozialdemokratische Reformverständnis ist gemäß der von Keynes dem Staat zugedachten Rolle von vornherein exekutivstaatlich ausgerichtet. Einleitung und Perspektive der „Politik der inneren Reformen" lassen sich in drei Momenten systematisieren: — Insbesondere die SPD nimmt die Impulse sozialer und politischer Aufbruchsstimmung auf, indem sie die kultur- und kapitalismuskritischen Inhalte der APO systemimmanent reduziert und sie mit den Reformerwartungen großer Bevölkerungsteile verkoppelt. Die Kritik wird von der sozialen Basis losgelöst, in den staatlichpolitischen Raum zurückgeholt und insofern verstaatlicht. — Das sozialdemokratische Selbstverständnis der 70er Jahre zielt noch im Reformversprechen und in der Erhaltung und des Ausbaus eines sozialen Kapitalismus auf den „starken Staat". Im Unterschied zu konservativen und reaktionären Parteien strebt sie jedoch einen funktionalen Einbezug der Arbeiterschaft auf der Ebene der Politik (über die SPD) und der Produktion (über die Gewerkschaft) an. Der Antagonismus von Kapital und Arbeit soll nicht nur im programmatischen Verständnis aufgehoben, sondern institutionellkooperativ transformiert werden. — Über die Modernisierung der Wirtschaft hinaus geht es den Sozialliberalen um die Modernisierung der Gesellschaft als Ganzes. Anpassung und Flexibilisierung aller Lebensbereiche an die vermeintlich fortschrittliche und dynamische Entwicklung der ökonomisch-technischen Produktivkräfte, Beseitigung ideologischer Anachronismen und die Ausrichtung auf eine nicht näher definierte Zukunft — charakterisieren dieses Verständnis von Modernität. Die unbedingten Prämissen ökonomischen Wachstums und sozialer Apathie verleihen dieser Politik einen allzu kurzen Atem: Quantitativer Ausbau des Sozialstaates und vor allem die staatliche Unterstützung eines (sozialen) Reformklimas zeigen letztendlich kontraintentionale Wirkung, sofern das soziale Aufbegehren der Arbeiterschaft verbunden mit einem erheblich gesteigerten Anspruchsniveau großer Bevölkerungsteile die Ökonomie in die Krise bringt. Die Fundamente des bisherigen, die Wachstumswelle von 1948 bis 1967 prägenden Akkumulationsmodells geraten in dieser Phase ins Wanken. Die Kapitalseite reagiert in einer Situation der Vollbeschäftigung auf den zunehmenden gesellschaftlichen Einfluß der Arbeiterschaft und der Gewerkschaften, auf Wirtschafts„regulierung" und Ausbau

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des Sozialstaates mit der forcierten Substituierung von Arbeit durch Kapital. Hierdurch wird die Abhängigkeit von der Arbeit vermindert, und durch angsterzeugende und die Arbeiterschaft fraktionierende Folgen jahrelanger Massenarbeitslosigkeit sollen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verändert werden. Im Zentrum dieses Prozesses — von der Lohnoffensive der Arbeiterschaft zur Strategie der sozialen Entflechtung durch Kapital und Staat - steht die Krise 1974/ 75. Im Unterschied zur Krise 1966/67 ist die 75er Krise Kulminationspunkt struktureller Entwicklungstendenzen, und sie bezeichnet den Übergang zu einem neuen Akkumulationstyp. Anhand der statistischen Aufschlüsselung ökonomischer Daten läßt sich belegen, daß der Einfluß des Faktors „Lohn" auf die konstatierte Profitkompression vor der Krise 1975 an Bedeutung zunimmt, ohne ausschließlicher Grund für die Krise zu sein. Der Vergleich von Arbeitsproduktivität, Kapitalintensität, Nettoproduktionsvolumen und Reallohn von 1960 bis 1978 und insbesondere in den Zeiträumen vor der 67er und 75er Krise (1960—1964 und 1969—1973) zeigt fallende Kapitalproduktivität und sinkende Profitquoten in den Jahren vor der Krise. In beiden Momenten drückt sich im Zyklus ab 1967 die Veränderung der politisch-sozialen Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeiterschaft aus. Während die fallende Kapitalproduktivität den unzureichenden Versuch der Substitution von Arbeit durch Kapital ausdrückt (vermittelt über die im Vergleich zur Kapitalintensität niedrigeren Raten der Produktivität), bezeichnen die über den Produktivitätsfortschritt hinausgehenden Lohnerhöhungen das verteilungspolitische Ergebnis einer „sozialen Offensive" der Arbeiterschaft unterhalb der Schwelle substantieller (über das System hinausgehender) Klassenkonflikte. Im Bestreben, die Abhängigkeit von der Arbeitskraft zu lockern, liegen in dieser Phase die strukturellen Probleme des Kapitals (Entwicklung und Anwendung neuer Technologien, ausländische Arbeitskräfte etc.). Die spezifische Ausprägung und Tiefe des ökonomischen Krisenprozesses und die unzureichende — ökonomische — Krisenüberwindung relativieren jedoch eine monokausale, in diesem Fall auf lohnbedingte Profitkompression abzielende Erklärung. Erst unter Berücksichtigung der Veränderungen auf dem Weltmarkt, der internationalen Synchronität von Krisentendenzen, der Veränderung der preismäßigen Grundlage der Rohstoffbasis, der relativen Sättigung im Grundbedarf der Konsumnachfrage unter den

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gegebenen Verteilungsverhältnissen, der begrenzten Umsetzung technologischer Neuerungen in die Produktion mangels Basisinnovationen und des kumulativen Zusammenwirkens dieser Faktoren mit der aktuellen Profitkompression wird die historische Dimension der Krise deutlich. Sie bezeichnet das endgültige Ende der Nachkriegsökonomie und die „Geburtswehen" eines neuen Akkumulationstyps. Die Ursachen für die (grundlegenden) Veränderungen im politischsozialen Raum, die zur sozialen Offensive der Arbeiterschaft geführt haben, liegen vermutlich auch im außerökonomischen Bereich. Unter dem Eindruck gesicherter Arbeitsplätze und relativem materiellen Wohlstands kommt es in den 60er Jahren zu einer Erosionskrise 8 der Subjektbasis der Gesellschaft, d.h. die Einstellung der Subjekte zur Gesellschaft, zum Staat, zur Geschichte und Moral wandeln sich, was nicht ohne Auswirkungen auf die Arbeitsmoral und die Identitätsbildung im allgemeinen bleibt. Dieser Erosionsprozeß im politischsozialen Raum setzt sich auf der ökonomischen Ebene fort und bringt über eine Forcierung des Klassenkonflikts die Krise. Überschreiten die Lohnkämpfe mittelfristig den Spielraum des Produktivitätsfortschritts und läßt die Arbeitsdisziplin nach (ablesbar an der Zunahme des individuellen Absentismus, der sicherlich durch Maßnahmen des Sozialstaats begünstigt wird), muß sich die Akkumulation auf veränderter Grundlage regenerieren. Die ökonomische Krise offenbart insofern die Grenzen sozialer und politischer Strukturveränderungen und der allgemeinen Belastungsfähigkeit des Systems. Ihre Funktion erstreckt sich über ökonomische Funktionen (Kapitalvernichtung, Lohnsenkung) hinaus auf den gesamten gesellschaftlichen Raum. Da gewerkschaftlicher Einfluß und relativ weit ausgebauter Sozialstaat sowohl kurzfristige Lohnsenkung verhindern als auch die folgende Arbeitslosigkeit kurzfristig abmildern, führt erst ein andauernder Zustand der Massenarbeitslosigkeit zu einem gesellschaftlichen Klima, das Kapital und Staat soziale Restrukturierungsbemühungen in Richtung alter Hierarchien und Prinzipien erlaubt. Solange der politisch-soziale Grundkonsens der relevanten gesellschaftlichen Führungsgruppen (unter Zustimmung von Bevölkerungsmehrheiten), der auf diesen Prämissen basiert, erhalten bleibt, pendelt eine kapitalistische Ökonomie in einem kumulativen Prozeß zwischen Profitkompression und Nachfragemangel. 8 Der Begriff der Erosionskrise stammt von Negt; vgl. O . NEGT, Lebendige Arbeit, „enteignete Z e i t " , 1 9 8 4 .

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Mit der Krise brechen sich mehrere Trends: — Die Wachstumsperiode der Nachkriegszeit erlischt endgültig, — Die Verteilungsrelationen ändern sich wieder zugunsten der Kapitalseite, — Auf die Lohnoffensive folgt eine Gewerkschaftspolitik, die nur reagiert und keine gesellschaftlichen Alternativen anbietet, — Spontane Streiks und autonome Kämpfe werden quantitativ bedeutungslos und thematisieren allenfalls die Verhinderung von Entlassungen, — Staatliche Politiken zielen auf soziale Disziplinierung mittels Arbeitsmarktpolitik und Umverteilung zugunsten des Kapitals mittels Wirtschaftspolitik ab, — Die Reformperiode geht zu Ende und in eine Phase offen restriktiver staatlicher Politiken über, — Das gesellschaftliche und soziale Klima steht quer zu emanzipatorischen Bestrebungen. Nun lassen sich diese Tendenzen nicht allein auf die ökonomische Krise zurückführen; sie unterstützt und beschleunigt allerdings diese politische Restrukturierung der Gesellschaft, die wiederum den politisch-sozialen Boden für einen neuen Akkumulationstyp schaffen soll. Ist diese Analyse der Krise zutreffend, drängt sich die Frage auf, ob Vollbeschäftigung, relativ gut ausgebauter Sozialstaat und eine auf soziale Gerechtigkeit abzielende Gewerkschaftspolitik mit kapitalistischen Strukturprinzipien und Handlungsorientierungen vereinbar sind, oder ob diese Konstellation unausweichlich ökonomische Krisen hervorruft. 9 Anhand der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik läßt sich diese Frage weder positiv noch negativ hinreichend beantworten, da die Lohnoffensive mit der ökonomischen Krise ein abruptes Ende findet, das Reformprojekt schon vor Krisenbeginn offiziell scheitert und trotz Massenarbeitslosigkeit, Abbau des Sozialstaats, Reallohnsenkungen und die Kapitalseite begünstigende Wirtschaftspolitik sich kein neuer Wachstumszyklus entfaltet. Dies bedeutet, selbst wenn Sozialstaat und Lohnoffensive zur ökonomischen Krise führen bzw. für ihre Entstehung wesentlich sein sollten, ist der Umkehrschluß nicht erlaubt. Es scheint, als ob die kapitalistische Ökonomie in einem kumulativen Prozeß zwischen Profitklemme und Nachfragemangel pendelt und als ob für längere 9

Vgl. hierzu G. VOBRUBA, Politik mit dem Wohlfahrtsstaat, 1983.

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Wachstumsperioden außergewöhnliche Faktoren (Krieg, bahnbrechende Innovationen, Exportexpansionen, billige Rohstoffe oder Arbeitskräfte etc.) verantwortlich seien.

VII. In einer Krise dieses strukturellen Ausmaßes erweisen sich Sozialstaat und gewachsene gesellschaftliche Macht der Gewerkschaften als hinderliches Moment für eine schnelle Überwindung der Krise, weil die Selbstregulierungsmechanismen einer kapitalistischen Marktökonomie behindert werden. Während der Sozialstaat die materiellen Folgen der Arbeitslosigkeit abmildert und die Position des einzelnen Arbeitslosen gegenüber krisenspezifischen Kapitalstrategien (Lohnreduktion, Dequalifikation, Erhöhung regionaler und beruflicher Mobilität etc.) zumindest kurzzeitig stärkt, verhindert die gewerkschaftliche Tarifpolitik eine allzu rasche und nachhaltige Lohnreduktion, so daß die Strategie der Lohnsummenreduktion zunehmend durch Freisetzungen erfolgt. Die vom Kräftespiel bürokratischer Großorganisationen geprägte Interessensvermittlung erlaubt bisher keine andere Perspektive der Krisenlösung. In ökonomischen Krisenzeiten und Phasen reduzierten Wachstums sieht sich somit der Staat einem doppelten Problem gegenüber. Die Beseitigung der Funktionsdefizite der Kapitalverwertung steht gegen die Erfüllung von sozialen Leistungsansprüchen, die für ihn legitimationsrelevant sein können. Aus diesem Dilemma versucht sich der Staat durch ein spezifisches Krisenverarbeitungsmuster, welches in der Arbeitsmarktpolitik am deutlichsten sichtbar wird, zu befreien.10 Die Strategie kann als Marginalisierungspolitik bezeichnet werden. Marginalisierung bedeutet in diesem Zusammenhang die gezielte und regulierte Bewältigung von Krisenfolgen über ihre Abwälzung auf bestimmte soziale Gruppen, deren gesellschaftliche Artikulationsfähigkeit als gering eingeschätzt wird. Mit der Verlagerung von Problemfeldern an die gesellschaftliche Peripherie verlagern sich auch die sozialen Konfliktlinien. Nun ist diese Strategie nicht neu, ihre spezifische Ausprägung gewinnt sie erst durch das konzertierte Zuammenspiel von Staat, Kapital und Gewerkschaften. Unbenommen von diesem strukturellen Gleichklang der Interessen und Handlungen bleibt der substantielle 10

Vgl. hierzu W. WAGNER, Die nützliche Armut, 1982.

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Unterschied, d.h. die innergesellschaftliche Hierarchisierung auch von Institutionen, zwischen diesen drei gesellschaftlichen Instanzen bestehen, bzw. sie tritt in Krisenzeiten wieder deutlicher hervor. In wirtschaftlichen Krisen- oder Stagnationszeiten befinden sich die bundesdeutschen Gewerkschaften tatsächlich in einem Dilemma: Einerseits müssen sie als Interessensvertreter der arbeitenden Bevölkerung Lohnreduktionen und Arbeitslosigkeit zu verhindern suchen, andererseits gebietet die kapitalistische Logik, der sich die Gewerkschaften integral und funktional zuordnen, Lohnzurückhaltung und das Akzeptieren der privaten kapitalistischen Dominanz, um im Gefolge neuerlichen Wachstums wieder Lohnerhöhungen und Vollbeschäftigung zu erreichen. Bei anhaltend hoher Arbeitslosigkeit und stagnativem Wachstum können sich die Gewerkschaften ohne konzeptionelle und strategische Änderung ihrer gesellschaftspolitischen Perspektive aus diesem Dilemma, das letztendlich bisher zu Lohnreduktion und Arbeitslosigkeit geführt hat, nicht befreien. Nicht zuletzt das politische Selbstverständnis der Gewerkschaften — soziale und ökonomische Probleme nicht auf die politische Sphäre zu vermitteln und politisch lösen zu wollen — führt letztendlich zu einem für die Gewerkschaften in dieser Phase bezeichnenden Zustand gesellschaftspolitischer Hilflosigkeit. Die Massenarbeitslosigkeit kristallisiert die besondere Betroffenheit ohnehin gesellschaftlich benachteiligter Gruppen mit geringem Organisationsgrad und geringer Konfliktfähigkeit. Betriebliche Personalpolitik, gewerkschaftliche Strategien und staatliche Aktivitäten arbeiten bei dieser Art der Problemüberwälzung fast reibungslos zusammen und lassen eine reduzierte Konsensgesellschaft mit repressiv abgespaltenen Rändern entstehen. Solche Marginalisierungsstrategie, die ideologisch noch durch Ausgrenzungs- und Stigmatisierungslogiken gerechtfertigt wird, scheint eine Konsequenz der politischsozialen Ubereinstimmung zwischen den gesellschaftlich relevanten Führungsgruppen zu sein. Während der Staat den Weg des geringsten Widerstandes geht, indem er bei seinen Maßnahmen versucht, sich die Zustimmung staatstragender Schichten zu sichern, verteidigen die Interessenorganisationen von Kapital und Arbeit ihre Clientel, so daß tatsächlich von den Krisenfolgen die im Gefüge gesellschaftlicher Interessenvermittlung nicht oder nur unzureichend vertretenen sozialen Gruppen zuerst und am intensivsten getroffen werden. In den abgestuften Formen der sozialen Absicherung der Arbeitslosen durch den Staat wird das Bemühen deutlich, den sozialen Anfor-

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derungen des Beschäftigungssystems zu entsprechen. Analog zum sozialen Aufstieg vollzieht sich auch der soziale Abstieg abgestuft und differenzierend: Wo die Not am größten ist, da ist das Netz am schwächsten. Das soziale Netz wird nicht global durchlöchert oder aufgeknüpft, sondern sozusagen restriktiv verfeinert. Dieser Prozeß setzt bei den ohnehin am meisten benachteiligten Gruppen (Berufsanfänger, Dauerarbeitslose, Behinderte, Sozialhilfeempfänger) an und pflanzt sich allmählich in Richtung Kernarbeitsbevölkerung fort. Der arbeitsmarktpolitische Weg vom AFG (1969) bis zum AFKG (1982) ist gekennzeichnet durch den Übergang von einem präventiv angelegten, durchaus die Belange der Arbeitslosen berücksichtigenden Konzept zu einer durch Sanktionen geprägten, systematisch kontrollierenden, auf Individualisierung und soziale Disziplinierung zielenden Arbeitsmarktpolitik. Diese neue staatliche Arbeitsmarktpolitik versucht — bisher durchaus mit Erfolg — durch individuelle Schuldzuweisungen, Kontrolle und Sanktionierung von Arbeitslosen, den sozialen Konflikt zu entschärfen, den Arbeitslosigkeit impliziert. Eingebettet ist dieser arbeitsmarktpolitische Kurswechsel in diverse staatliche Sparprogramme, die mit dem Haushaltsstrukturgesetz von 1975 beginnen und in den „Sparoperationen" von 1981 bis 1984 ihren bisherigen Höhepunkt finden. Sämtliche Konsolidierungsprogramme seit 1975 implizieren einen differenzierten sukzessiven Abbau von sozialstaatlichen Leistungen, ohne daß bisher der Sozialstaat insgesamt in Frage gestellt wird. Die Stoßrichtung dieser Bemühungen um Haushaltskonsolidierung zielt einerseits auf soziale Disziplinierung der Sozialstaatsclientel und andererseits auf eine finanziell angemessene Verwaltung der Krise, um einer vermuteten Staatskrise, hervorgerufen durch ein Übermaß an Verschuldung, präventiv entgegenzuwirken. VIII. Das prinzipielle Dilemma von Sozialstaat und Ökonomie — unter Beibehaltung des Modells westlicher Massendemokratie — können jedoch weder eine restriktive Arbeitsmarktpolitik, noch diverse, auf Sozialstaatsabbau zielende Konsolidierungsprogramme lösen: der Staat muß einerseits zur sozialen Befriedung und Machterhaltung ein gewisses Niveau an Sozialstaatlichkeit aufrecht erhalten. Er gerät damit in Konflikt mit ökonomischen Restrukturierungsprozessen. Andererseits verkleinert die Finanzkrise das materielle Fundament des

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Sozialstaates. Insofern sind die verschiedenen Programme und Politiken eine Gradwanderung zwischen Haushaltskonsolidierung und Erhaltung des Sozialstaates auf einem historisch angemessenen Niveau. Die gezielte und differenzierte Strategie der sozialen Disziplinierung und ein vom Rand ausgehender Abbau des Sozialstaates bei gleichzeitiger Begünstigung mittlerer und höherer Einkommensgruppen durch Steuerentlastungsprogramme soll dieser staatlichen Politik die Unterstützung von Bevölkerungsmehrheiten sichern. Insofern ist die Marginalisierungspolitik bisher ein Mittel, die gesellschaftlichen Konsensbedingungen für die Führungsgruppen zu erhalten und gleichzeitig die politisch-sozialen und ökonomischen Grundstrukturen auf einer veränderten Grundlage zu reproduzieren. Auch wenn die Kritiken am Sozialstaat weitgehend zutreffend sein sollten, gerade in Anbetracht des Andauerns der ökonomischen Stagnationsperiode und der Massenarbeitslosigkeit, die sich in den nächsten Jahren durch die vermehrte Einführung neuer Technologien noch vergrößern wird, scheint der Sozialstaat unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen ohne Alternative.11 Die sicherlich notwendige Diskussion um einen qualitativen Umbau des Sozialstaates darf sich nicht für den quantitativen Abbau zulasten „sozial schwacher Schichten" und zugunsten höherer Einkommensbezieher funktionalisieren lassen. Eine Sanierung der Ökonomie durch einen forcierten Abbau des Sozialstaates kann letztendlich nicht ohne schwerwiegende Auswirkungen auf das soziale Klima und die politische Struktur der Bundesrepublik Deutschland bleiben. Eine weitergehende Diskussion über den Sozialstaat kann und darf mögliche Veränderungen staatlicher Politik und ökonomischer Strukturprinzipien nicht tabuisieren. 12

11 Zur Krise des Wohlfahrtsstaates und möglichen Alternativen vgl. J. HABERMAS, Die neue Unübersichtlichkeit, in: Merkur 1/1985. 12 Als ein Beispiel vgl. die Diskussion um ein garantiertes Mindesteinkommen in: T. SCHMID, Befreiung von falscher Arbeit, 1984.

Entmündigung durch Sozialstaatlichkeit WOLFRAM ENGELS

Eine amerikanische Zeitschrift brachte vor einiger Zeit eine Karikatur unter der Überschrift ,The Weifare State'. Darauf sah man zwei Männer, die einem Pferd Hafer fütterten. Hinter dem Pferd pickten Sperlinge in den Pferdeäpfeln. Die beiden Männer waren als Steuerzahler' kenntlich gemacht, das Pferd als,Bürokratie' und die Sperlinge als ,die Armen'. Fragte der eine Mann den anderen: ,Warum verfüttern wir den Hafer nicht gleich an die Sperlinge?' Antwortete der zweite: ,Das Pferd ist dagegen.' Das ist mein Thema: Es geht nicht um die Frage, ob die Sperlinge gefüttert werden sollen, sondern nur darum, ob ein Pferd zwischen Hafer und Sperlingen nötig sei.

Die Gesetzeslawine Zwischen 1970 und 1980 hat sich der jährliche Ausstoß an Gesetzen — gemessen am Umfang des Bundesgesetzblattes — verdreifacht. Der frühere Bundesjustizminister Vogel rechtfertigte diese Gesetzeslawine in einem Referat vor dem Juristentag mit sozialen Zielen. Eine Regierung, so Vogel sinngemäß, deren vorrangiges Ziel der soziale Ausgleich sei, könne nicht umhin, durch zwingendes Recht das freie Spiel der Kräfte zu begrenzen. Der Staat verfolgt damit zwei Ziele. Das erste ist die Sicherung des sozial Schwächeren, sei es in der Form der Beseitigung, sei es in der Form der Verlagerung von Risiken. Das zweite ist die Umverteilung zu Lasten der Bezieher hoher und zugunsten der Bezieher geringer Einkommen. Der Eingriff in das ,freie Spiel der Kräfte' ist das Mittel, mit dem die Zwecke erreicht werden sollen. Zwingendes Recht ist dadurch definiert, daß es die Freiheitsspielräume des Bürgers einengt. Das ist an sich noch kein Einwand. Niemand würde wünschen, daß jedermann das Recht haben solle, zu morden, zu rauben, zu stehlen. Die Frage kann also immer nur sein,

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ob die Freiheitsbeschränkung gerechtfertigt sei. Die liberale Staatsund Gesellschaftsphilosophie hat dafür einen einfachen Grundsatz entwickelt — die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie anderen schadet, oder, in Benjamin Franklins griffiger Formel: ,Die Freiheit meiner Faust endet vor der Spitze deines Kinns.' Es ist also nicht nur zu untersuchen, ob der Eingriff in Bürgerfreiheiten geeignet ist, soziale Zwecke zu erreichen, sondern zusätzlich, ob der Eingriff dafür notwendig sei, ob sich also das Ziel nicht auch mit anderen Mittel ansteuern ließe. Klassifiziert man die Staatseingriffe in die Märkte nach ihrer Art, so handelt es sich zum Teil um Gebote und Verbote, zu einem anderen Teil um Steuern und Subventionen. Gelegentlich werden beide Mittel kumuliert. So etwa wird der Arbeitnehmer gezwungen, Altersvorsorge im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung zu betreiben. Die Alternative — private Vermögensbildung — ist ihm insofern verwehrt. Darüber hinaus wird der Zwang steuerlich attraktiv gemacht, so daß er als Wohltat erscheint. Einzahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung sind teils steuerfrei (Arbeitgeberbeiträge), teils abzugsfähig im Rahmen der Sonderausgaben (Arbeitnehmerbeiträge). Die Renten sind de facto steuerfrei. Wer statt dessen Vermögen bilden wollte, der muß die Ersparnis selbst und deren Verzinsung der Einkommensteuer unterwerfen, der Vermögensbestand unterliegt der Vermögenssteuer. Das führt, nach Steuern gerechnet, dazu, daß zumindest in der Vergangenheit, Einzahlungen in die Rentenversicherung sich weit besser verzinsten als private Kapitalanlagen. Im Falle von Besteuerung und Subventionierung bleibt die Wahlfreiheit formal erhalten. Die Vorteilhaftigkeit der Alternativen wird lediglich verändert. Würden beispielsweise Universitäten nicht subventioniert, müßten sie also ihre Kosten aus Studiengebühren decken, so wäre ein Studium weit weniger attraktiv. Bei den Geboten und Verboten handelt es sich teils um Eingriffe in die Eigentumsrechte, teils um Beschränkungen der Vertragsfreiheit, teils um Minderungen der Entfaltungsmöglichkeit der Person. Das wichtigste Beispiel für den letzten Bereich ist das ganze Strafrecht. Eingriffe in die Eigentumsrechte sind Mitbestimmung und Betriebsverfassung, Nutzungsgebote wie das Umwidmungsverbot von Wohnraum u. a. Eingriffe in die Vertragsfreiheit sind der Kündigungsschutz im Arbeits- und Mietrecht, Lohnfortzahlung, Streikrecht, Tarifautonomie etc. Hierher gehört aber auch die Sozialversicherung. Der Arbeitnehmer wird nicht nur gezwungen, sich zu versichern, er kann auch weder den Versicherungsträger noch den Tarif wählen.

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Die Märkte sind von solchen Staatseingriffen höchst unterschiedlich betroffen. Am Arbeitsmarkt werden nahezu sämtliche Marktkräfte unterdrückt. Der Wohnungsmarkt ist in hohem Maße von gesetzlichen Maßnahmen beeinflußt. Am Automobilmarkt dagegen gibt es eine .soziale Komponente' allenfalls in Form einer Differenzierung der Kraftfahrzeugsteuer nach dem Hubraum.

Interventionstheorie Die ökonomische Interventionstheorie kann hier nur in einer ganz rohen Skizze gezeichnet werden. Interventionen sind in zwei Fällen wohlstandsfördernd: bei den sogenannten externen Effekten (mit dem Grenzfall öffentlicher Güter) und bei Monopolisierung. In anderen Fällen ist bei Interventionen regelmäßig mit Wohlstandseinbußen zu rechnen. Die Einkommen sind in diesen Fällen niedriger als sie es ohne Intervention wären. Unter der Voraussetzung daß sich Produktion und Verteilung trennen lassen, gibt es dann auch keine sozialen Gründe für den Eingriff: An die Stelle eines Eingriffs in den Markt kann jeweils auch die nachträgliche Umverteilung der Marktergebnisse treten. Dazu einige Grundfälle: Das Lohnfindungssystem mit Tarifautonomie und Allgemeinverbindlichkeit stellt ein Kartell dar, das im Gegensatz zu anderen Kartellen nicht verboten ist, dessen Festlegungen vielmehr, wo nötig, mit staatlichem Zwang allgemeinverbindlich werden. Am Arbeitsmarkt gilt derselbe elementare Zusammenhang, der auch für Bananen, Flugzeugtickets oder Pfeifentabak gilt: Je höher der Preis umso geringer die Nachfrage. Liegt der vereinbarte Lohn über seinem markträumenden Niveau, dann entsteht Arbeitslosigkeit. Der Fall zu niedriger Tariflöhne ist dagegen unproblematisch. Tariflöhne dürfen über- nicht aber unterschritten werden. Die Arbeitgeber werden in diesem Fall in der Konkurrenz um die Arbeitnehmer den Lohn auf die markträumende Höhe treiben. Den ausgeprägtesten Fall dieser Art konnte man 1969 beobachten. Werden also die Preise allgemein zu niedrig gehalten, dann entsteht Mangel (wie zeitweise bei Wohnungen, Studienplätzen u. a.), werden sie zu hoch angesetzt, so ergibt sich ein unverkäufliches Angebot (wie bei Arbeit oder Agrarerzeugnissen). Solche Lösungen sind immer ineffizient. So läge die Lohnsumme bei Vollbeschäftigung (und niedrigeren Löhnen) höher als bei Unterbeschäftigung. Als zweiter Fall sei der Eingriff in die Vertragsfreiheit durch gesetzliche Konditionennormierung untersucht. Der Arbeitnehmer

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kann auf Rechte wie Lohnfortzahlung, Kündigungsschutz, Streikrecht, Mitwirkung durch den Betriebsrat oder Aufsichtsrat nicht vertraglich verzichten. Diese Rechte haben für den Arbeitnehmer einen Wert, der sich prinzipiell beziffern läßt. Entsprechend haben sie für den Arbeitgeber einen negativen Wert. Nehmen wir an, der Betriebsrat koste den Arbeitgeber 650 DM pro Arbeitsplatz und Jahr. Liegt der Wert des Betriebsrats für den Arbeitnehmer bei 800 DM, so liegt die Bildung eines Betriebsrats in beiderseitigem Interesse. Der Arbeitnehmer wäre dann ohne Betriebsrat nur bereit, um einen um 800 DM höheren Lohn zu arbeiten. Der Arbeitgeber erspart also 800 DM Lohnkosten, muß aber nur 650 DM für den Betriebsrat aufwenden. Liegt dagegen der Wert des Betriebsrats für den Arbeitnehmer nur bei 250 DM, dann würden beide Parteien ein gutes Geschäft machen, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer sein Mitwirkungsrecht über den Betriebsrat zu beispielsweise 450 DM abkaufte. Fazit also: Bestimmte Konditionen liegen entweder in beiderseitigem Interesse. Dann kommen sie auch freiwillig zustande. Oder sie sind nicht in beiderseitigem Interesse. Dann führt staatlicher Zwang zu ineffizienten Lösungen. Vernünftige Lösungen werden besonders dann verfehlt, wenn einzelne Gruppen von Marktteilnehmern besondere Vorrechte »genießen*. Der Mutterschutz führt zu geringeren Arbeitsplatzchancen für Frauen im gebärfähigen Alter. Entsprechendes gilt für Schwerbehinderte etc. Die eigentliche Gefahr staatlicher Eingriffe in Vertragsfreiheit und Eigentumsrechte liegt aber im ,Hayek'schen Prozeß'. Greift der Staat mit Umverteilungsabsicht in die Märkte ein, dann kommt es am Markt zu Vermeidungs- und Anpassungsreaktionen. Hohe Löhne erzeugen Arbeitslosigkeit, niedrige Mieten Wohnungsmangel etc. Diese Mißstände werden dann mit weiteren Interventionen bekämpft und die erzeugen ihrerseits neue Mißstände. Die Gesetzgebungsmaschine wird von einer Schubkraft getrieben, die sie selbst erzeugt. Und da Gesetze verwaltet werden müssen, so bringt der Prozeß eine wachsende Bürokratie hervor. Dieser Prozeß bedeutet eine zunehmende Sklerotisierung der Gesellschaft. Sie verliert ihre Fähigkeit, auf neue Herausforderungen auch neue Antworten zu finden. Sie wird unregierbar. Der Markt ist eine Friedensordnung. Täglich werden Millionen von Konflikten unauffällig gelöst. Werden die Konflikte politisiert, so ist das politische System unfähig, mit ihnen fertig zu werden. Die Gesellschaft insgesamt wird unfähig zum Wandel.

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Nichtinterventionistische Sozialpolitik Der moderne Wohlfahrtsstaat ist von zwei Gedankengebäuden geformt. Der Liberalismus hat das System der Märkte geformt. Dagegen ist die Sozialpolitik, also das System der Umverteilung und Sicherung weitgehend aus sozialistischem Gedankengut entstanden. Im Sozialsystem versucht man die ,Auswüchse des Kapitalismus' zu beschneiden. Man unterbindet die Konkurrenz der Arbeitnehmer. Man beschneidet die Eigentumsrechte. Man begrenzt die Vertragsfreiheit. Man besteuert die Wirtschaftsaktivität um so höher, je .kapitalistischer' sie ist. Die ,guten' Eigentumsformen — beispielsweise das Eigenheim oder die Wohnungsbaugesellschaften — werden niedrig besteuert, die ,bösen' - wie die Aktiengesellschaft — hoch. Die Altersvorsorge im Umlageverfahren wird subventioniert, die Altersvorsorge durch Kapitalbildung exzessiv besteuert. Diese beiden Systemelemente — Liberalismus im Allokations- und Sozialismus im Distributionsbereich — sind inkompatibel. Einerseits vereitelt der Markt die guten Absichten der Sozialpolitiker: Der Versuch der Umverteilungspolitik über die Löhne endet in Arbeitslosigkeit, hohe Besteuerung der Unternehmen oder Einschränkung der Eigentumsrechte führen zu Investitionsschwäche, besondere Begünstigungen einzelner Gruppen führt zur Minderung ihrer Erwerbschancen. Andererseits mindert das Sozialsystem die Leistungsfähigkeit der Märkte. Die Eingriffe des Staates durch zwingendes Recht im Rahmen des Sozialsystems erfolgen mit der Absicht, Einkommen oder Entscheidungsbefugnisse oder Risiken umzuverteilen. Der Fall der Umverteilung von Entscheidungsbefugnissen soll hier nicht untersucht werden. Allerdings sollte man die Problematik sehen, die in der Mibestimmungsdiskussion leichtfertig übergangen wurde. In einer Gesellschaft mit dezentralisierten Entscheidungsbefugnissen (Markt) muß die Rechtsordnung dafür sorgen, daß Entscheidungen, die der einzelne in seinem eigenen Interesse trifft, gleichzeitig dem Wohl der Allgemeinheit dienen. Die Aufgabe der Rechtsordnung ist also Interessengleichrichtung zwischen Individualinteresse und Gemeinwohl. Das wichtigste Instrument dafür ist das Privateigentum. Es soll gesellschaftliche Fehlerminimierung dadurch erreichen, daß jeder für seine eigenen Fehler auch selbst einzustehen hat. Das Instrument,Eigentum' erfüllt die Funktion also gerade dadurch, daß Verfügungsmacht und Nutznießung gekoppelt sind. Mit der Mitbestimmung wurde die Verfügungsmacht von der Nutznießung getrennt. Organisationstheoretisch wurde damit das Prinzip der Einheit von Kompetenz und Verantwor-

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tung durchbrochen. Die entscheidende Frage ist also nicht, ob die Mitbestimmung den Betrieben oder den Alteigentümern schadet, sondern ob die Interessengleichrichtung von Individuum und Gesellschaft noch gewahrt ist. Die Theorie des Marktes geht — unter idealisierten Bedingungen — davon aus, daß eine solche Interessengleichrichtung an Märkten besteht, wenn die Eigentumsrechte vollständig sind. In der Mitbestimmungsdiskussion hätte also entweder dargetan werden müssen, daß die Mitbestimmung das Entscheidungsverhalten der Betriebe nicht ändert. Dann wäre sie überflüssig. Oder man hätte zeigen sollen, daß sich die Entscheidungen ändern. Dann wäre gleichzeitig zu zeigen gewesen, welche Wirkungen von solchen Verhaltensänderungen auf die Allgemeinheit ausgehen. Diese Debatte hat nicht stattgefunden. Im Falle der Umverteilung von Risiken wird das Unternehmen gewissermaßen zur Versicherungsgesellschaft gemacht. Auch hier ist die Frage nicht, ob der Arbeitnehmer gesichert werden sollte, sondern ob das Unternehmen der geeignete Ort der sozialen Sicherung ist. In der Regel sind spezialisierte Versicherungsgesellschaften leistungsfähiger. Hätte man die Kosten des Mutterschutzes nicht den Unternehmen aufgebürdet, sondern einer Versicherung übertragen, dann müßten Frauen im gebärfähigen Alter den Mutterschutz nicht in der Fom der Minderung ihrer Erwerbschancen bezahlen. Geradezu abenteuerlich ist unser derzeitiges System der Umverteilung. Umverteilt wird durch sieben verschiedene Steuern, durch über 90 verschiedene Transferzahlungen, die von rund 40 verschiedenen Behörden und Quasi-Behörden verwaltet werden, mit einer kaum angebbaren Zahl von Objektsubventionen (sozialer Wohnungsbau, Studiengeldfreiheit an Universitäten, Subventionierung des öffentlichen Nahverkehrs etc.). Umverteilt wird innerhalb des Kreises der Sozialversicherten, durch den Finanzausgleich zwischen öffentlichen Körperschaften, aber auch durch viele andere Maßnahmen, etwa all diejenigen Bestimmungen, die Arbeitgeber oder Vermieter zugunsten von Arbeitnehmern oder Mietern belasten. Die Verteilungswirkungen dieses Systems sind vollkommen undurchschaubar geworden. Niemand weiß mehr, wer seine Hand in wessen Tasche hat und wieviel er daraus entnimmt. Die Wirtschaftswissenschaft fordert seit langem die sog. Trennung von Allokation und Distribution, also die Befreiung des Systems der Märkte von sozialen Aufgaben. Diese Aufgaben und ihre Ziele können besser erreicht werden, wenn man sie spezialisierten Einrichtungen und Instrumenten anvertraut. Im Falle der Umverteilung wäre das

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geeignete Instrument eine Negativsteuer. Es werden einmal alle Merkmale der Bedürftigkeit oder Leistungsfähigkeit eines Bürgers erhoben. Er wird dann nach seiner Leistungsfähigkeit besteuert oder nach seiner Bedürftigkeit unterstützt. Man gibt ihm nicht verbilligte Wohnungen, Studienplätze oder Theaterkarten — man gibt ihm Geld, das er nach seinen Bedürfnissen und Wertschätzungen ausgeben kann. Im Bereich der sozialen Sicherung gilt entsprechendes. Wo ein Bedürfnis nach Sicherung besteht, da kann der Gesetzgeber eine Mindest-Versicherung vorschreiben. Der Staat kann auch die Träger solcher Versicherung selbst betreiben. Es ist aber weder notwendig, noch für das angestrebte Ziel zweckmäßig, durch zwingendes Recht in die Freiheit des Bürger, Verträge abzuschließen, einzugreifen. So bleibt als Schlußfolgerung, daß die Entmündigung des Bürgers für die angestrebten Zwecke — Umverteilung und Sicherung — weder notwendig, noch auch geeignet ist. Andere Instrumente können die Aufgaben ohne Freiheitsbeschränkung wirksamer übernehmen. Es ergibt sich also der Verdacht, daß die sozialen Ziele nur vorgeschoben sind, daß in Wirklichkeit ganz andere Motive die Gesetzeslawine in Bewegung gesetzt haben. Bei der Suche nach den wahren Motiven stößt man zunächst einmal auf Interessengruppen. So kommt die Förderung des Bausparens nicht in erster Linie den Sparern, sondern in erster Linie den Bausparkassen zugute, die Förderung des sozialen Wohnungsbaus nicht den Mietern, sondern den Bauträgern, die Begünstigung der Lebensversicherung weniger den Versicherten als den Versicherungsgesellschaften, die Mitbestimmung weniger den Arbeitnehmern als den Funktionären der Gewerkschaften. Sonderinteressen lassen sich eben leichter verkaufen, wenn man ihnen das Mäntelchen des Sozialen umhängt. In der Beamtenschaft stoßen solche Bestrebungen sicher eher auf Sympathie: Viele Gesetze erfordern viele Beamte und Richter. Die Beförderungschancen derer, die bereits im System sind, nehmen zu. Viele Politiker empfinden sich darüber hinaus weniger als Diener, denn als Vormünder der Bürger. Viele Güter werden subventioniert mit der Behauptung, es handle sich um sog. meritorische Güter. Die Politiker fürchten, die Bürger würden sich solche Güter nicht kaufen, wenn man ihnen die Geldbeträge zur freien Verfügung überläßt. Sie meinen also, der Bürger könne seine eigenen Interessen nicht selbst vernünftig wahrnehmen. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich was der Zweck der Entmündigung der Bürger ist — die Entmündigung der Bürger.

Colloquium 3

Konstanz und Wandel im Verständnis der Parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik

Z u r Einführung

DIETRICH H E R Z O G

Ich eröffne das dritte Colloquium zum Thema „Konstanz und Wandel im Verständnis der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik", und ich möchte sehr herzlich unsere Teilnehmer am Podiumsgespräch und unsere Gäste begrüßen. Meine Damen und Herren, unser Thema hat viele Aspekte, die wir sicherlich auch nicht annähernd alle behandeln können. Ernst Fraenkel, ein Nestor der Politischen Wissenschaft und sicher einer der großen Fachleute der vergleichenden Parlamentarismus-Forschung, hat einmal gesagt: „Das Kritikwürdigste am deutschen Parlamentarismus ist die landläufige Kritik, die an ihm geübt wird." Der Nachdruck liegt auf „landläufig". Kritik also als ideologisch verschleppte, nicht informierte, stimmungsmäßige Ablehnung oder Gleichgültigkeit. Das bezog sich auf die Geschichte des Parlamentarismus und auf die Geschichte des Parlamentsverständnisses in Deutschland, und es bezog sich auch noch auf die Zeit der vierziger und fünfziger Jahre. Waren sie doch gekennzeichnet durch eine weit verbreitete Aversion gegen die politischen Parteien, gegen den Parteienpluralismus, gegen den Parteienkonflikt, — damals, manchmal heute noch, als „Parteiengezänk" verurteilt. Fraenkel sah ein tiefes Unverständnis über die Funktion des repräsentativen Systems und des Parlaments, das noch in der Weimarer Republik diffamierend als „Quasselbude" bezeichnet wurde. In jener formativen Phase der Bundesrepublik war das politische Interesse in der Bevölkerung, war die Bereitschaft zur politischen Teilnahme noch äußerst gering. Die Erwartungen waren eher an die Verwaltung des Staates, an seinen „Output", seine Leistungen gerichtet, kaum aber an die politischen Parteien, die Verbände, den demokratischen „input" qua Partizipation. Die politische Kultur war über-

Zur Einführung

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wiegend eine — wie es die anglo-amerikanische Forschung genannt hat — „subject culture", etwas frei übersetzt: „Untertanen-Mentalität". Das hat sich geändert. Wir wissen inzwischen aus zahlreichen Untersuchungen recht genau, daß sich der Verfassungskonsens erweitert hat. Die Legitimität der politischen Ordnung, mit ihrem Parteienpluralismus, ihrer dauernden Konflikthaftigkeit, der Notwendigkeit einer sie tragenden politischen Teilnahme, hat sich beträchtlich verbreitert und stabilisiert. Freilich wissen wir auch, daß in jüngster Zeit neue Herausforderungen auf das parlamentarische System zugekommen sind. Neue Fragen sind aufgetaucht, die in Gestalt der neuen sozialen Bewegungen oder der neuen Parteiformationen sicherlich nicht ihre Ursache, wohl aber ihren Ausdruck finden. Sind aber diese neuen kritischen Stimmen wieder nur „landläufig"? Oder haben wir es heute mit realen Funktionsproblemen des parlamentarischen Systems zu tun, und dann mit welchen? Darauf eine Antwort zu suchen, sollte das Ziel unserer nun folgenden Erörterungen sein.

Die Herrschaftsordnung der parlamentarischen Demokratie Die rechtsstaatliche Demokratie zwischen Staatsverwaltung, Parteien und Verbänden

ERHARD DENNINGER

I. Das Thema ist vieldeutig und reich an Aspekten. Die Versuchung ist groß, Zustand und Perspektiven des Parlamentarismus im engeren Sinne in den Mittelpunkt der Untersuchung zu rücken, 61 Jahre, zwei Generationen nach Carl Schmitts Krisendiagnose. 1 Von ideologisch ganz anders fundierter Seite wird 1984 unter der Überschrift „Wider den repräsentativen Absolutismus" 2 nicht nur eine Krisis des Parlamentarismus diagnostiziert, sondern seine „Krankheit zum Tode". 3 Wer genau hinsieht, wird allerdings bemerken, daß seit Bestehen der Bundesrepublik noch kein Jahr verstrichen ist, in welchem und für welches die Krise des Parlamentarismus nicht behauptet worden wäre. Das hat auch etwas Beruhigendes. Es gibt mindestens drei aktuelle Gründe, die gegenwärtig eine Konzentration auf die Frage nahelegen oder rechtfertigen würden, wie es um die von der Verfassung geforderte Funktionsfähigkeit der Parlamente in Bund und Ländern realiter bestellt sei: den Rücktritt des Bundestagspräsidenten Barzel und seine Hintergründe, Stichwort „Parteispendenaffäre", die Selbstverständnisdebatte des Deutschen 1 C. SCHMITT, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1926 2 , S. 21. 2 Vorgänge Nr. 71, Heft 5/1984, 23. Jg. 3 W. D. NARR, Strukturdefizite der parteienstaatlich/parlamentarischen Demokratie und mögliche Alternativen, in: Vorgänge Nr. 71, 23. Jg., S. 95 ff, 102.

Die Herrschaftsordnung der parlamentarischen Demokratie

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Bundestages am 20. September 1984 und schließlich die neuen Formen parlamentarischer Mehrheitsbildung bzw. Minderheitstolerierung, wie sie, auch in ihrer Zerbrechlichkeit, exemplarisch in der „rot-grünen" Bündnisabrede für den Hessischen Landtag sichtbar geworden sind. Jedes dieser drei Ereignisse könnte symptomatisch und zum Ausgangspunkt spezieller Analysen — 1. zum Verhältnis des Parlaments zu den Parteien, und dieser zu verbandlich organisierten oder nicht organisierten Interventionen der Wirtschaft, 2. zum Verhältnis des Parlaments zu Regierung und Ministerialbürokratie und 3. zum Verhältnis von Regierungsmehrheit und Opposition bei parlamentarischen Entscheidungen — genommen werden. Die in der Themenstellung formulierten Dimensionen würden damit erfaßt. Gleichwohl will ich diesen Weg nicht einschlagen; schon die Bestandsaufnahme der Phänomene würde dadurch unangemessen verkürzt. Die parlamentarische Demokratie läßt sich nämlich nicht — wie eine strenge Themaauslegung suggerieren mag — allein im Spannungsgefüge zwischen Staatsverwaltung, Parteien und Verbänden wirklichkeitsgerecht beschreiben. Jeder derartige Versuch muß vielmehr auch die Wechselbeziehungen berücksichtigen, die zwischen Regierung und Parlament auf der einen und dem „Volk", also der Aktivbürgerschaft, auf der anderen Seite bestehen. Und Entsprechendes gilt für ihr Verhältnis zur „Öffentlichkeit", genauer zu den Massenmedien, ferner zu den Organen der Dritten Gewalt einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit; schließlich wäre auch das Verhältnis des nationalen parlamentarisch-demokratischen Herrschaftssystems zu den Ansätzen einer europäischen Integration und zu den atlantischen Verflechtungen und Abhängigkeiten zu beleuchten. Daß beispielsweise dieses Verhältnis unmittelbare und tiefgreifende Rückwirkungen auf das Verhältnis Regierung/Parlament zum Volk auszulösen vermag, hat die Raketendiskussion des Herbstes 1983 gezeigt. Der hier gezogene zeitliche Rahmen verbietet von vornherein jeden Anspruch auf auch nur annähernd erschöpfende Benennung der einschlägigen Probleme. Bei der zu treffenden Auswahl wurde versucht, die Frage nach Konstanz und/oder Wandel im Verständnis der parlamentarischen Demokratie im Auge zu behalten.

II. Eine Hauptursache des weit verbreiteten Unbehagens an der Herrschaftsform der parlamentarischen Demokratie ist die immer noch

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ideologisch getrübte, reichlich illusionäre Zuordnung der parteienstaatlichen Wirklichkeit zu den an Parlament und Regierung gestellten Funktionsanforderungen. Damit meine ich weniger Defizite des technischen Funktionierens der von den Parteien personell faktisch in Monopolregie geführten zentralen Staatsorgane Parlament und Regierung — im Gegenteil: Abgesehen von den neuerdings in Folge der Veränderungen in der Parteienlandschaft aufgetretenen Schwierigkeiten bei der Mehrheitsbildung in einigen Ländern, funktioniert die Kreationstätigkeit der Parlamente zufriedenstellend; das Karussell der Ämterbesetzung dreht sich mit gedämpfter Musik und erträglichen Nebengeräuschen. Und sieht man auf die Legislativfunktion der Parlamente, so läßt zwar die technisch-juristische Qualität der Produkte einiges zu wünschen übrig, auch der inhaltliche Mangel an normativer Steuerungskraft der Gesetze wird bei der Rechtsauslegung und Rechtsanwendung offenbar und indiziert ungelöste strukturelle Probleme des institutionell-arbeitsteiligen Rechterzeugungsprozesses. Aber daß etwa der Bundestag diese seine Aufgaben in einem verfahrenstechnisch-formalen Sinne erfüllt, wird niemand bestreiten. Er ist sicher eines der fleißigsten Parlamente Europas. Was hier zu bedenken ist, ist etwas ganz anderes. Es ist der Widerspruch, die mit der überlieferten Dichotomie von Staat und Gesellschaft nicht überbrückbare Kluft zwischen parteiendemokratischer Politikprogrammierung und -durchsetzung und parteienüberwölbender etatistischer Gemeinwohlideologie. Bedauerlicherweise hat auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, was im einzelnen zu zeigen wäre, — angefangen bei den Volksbefragungsurteilen in Sachen atomare Bewaffnung 1958 4 mit der strikten Trennung von politischer Willensbildung des Volkes und staatlich-organschaftlicher Willensbildung, über die Parteifinanzierungsurteile 1966/685, über den Facharztbeschluß 1972 6 , bis hin zum Wahlkampf-WahlwerBVerfGE 8, S. 104 ff, 122 ff. BVerfGE 20, S.56, 24, 3 0 0 ff. 6 BVerfGE 33, S. 125, 159: Das Parlament vor allem wird als „Hüter des Gemeinwohls gegenüber Gruppeninteressen" gesehen. Das ist nicht als normative Aussage zu kritisieren, sondern deshalb, weil jede nähere Verhältnisbestimmung von Gemeinwohl und Gruppeninteressen, ferner jede Problematisierung der Erkennbarkeit des Gemeinwohls unterbleibt. In dem Beamtentreue-Beschluß BVerfGE 39, S. 334, 3 5 9 wird die Gemeinwohl-Hüterfunktion dem Beamten, durchaus in Abgrenzung gegen den „normalen" Bürger, aufgebürdet. Die Vorstellung, daß die Verwirklichung des demokratischen Verfassungsstaates in erster Linie dem verfassungstreuen Beamten (überhaupt dem Amtsträger, unter welchen Begriff auch der Abgeordnete fällt) aufgetragen sei, während dem „gewöhnlichen" 4 5

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bungsurteil 1977 7 — dazu beigetragen, die dilemmatische, ja schizoide Situation des Parlamentariers, abgeschwächt auch eines Regierungsmitgliedes, zu festigen. Der Abgeordnete, der, gleichgültig ob als Wahlkreiskandidat oder als Zweitstimmen-Listenbewerber, ja doch nur als Angehöriger seiner Partei und als Anhänger ihres Wahlprogrammes in den Bundestag gewählt wurde, soll dort als weisungsfreier, nur gewissensgebundener Vertreter des ganzen Volkes handeln8, er soll die Funktion der parlamentarischen Kontrolle der Regierung wahrnehmen, evtl. und durchaus nicht selten sogar in der rigiden Form eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Sie kann seine Parteifreunde und Parteivorgesetzten treffen, denen der Berufsparlamentarier seine bisherige Karriere verdankt, die über seine künftige Karriere wesentlich mitzubestimmen haben. Die jüngsten Vorschläge zur Parlamentsreform in der „Abgeordneten-Initiative zur Respektierung des freien Mandates und zur Wahrung des Parlamentsansehens. Ein Dokument der Besorgnis um Parlamentsrechte und Parlamentskultur" 9 setzen auf eine Ausgestaltung des in Art. 3 8 Abs. 1 GG verankerten Grundsatzes des freien Mandats, dem der Rang eines „fundamentalen Verfassungsauftrages" zugesprochen wird. Wie anders doch die Einschätzung eines international erfahrenen Kenners des Parlamentarismus wie Karl Loewenstein, der eben diesen Grundsatz 1972 als Konstruktionsfehler des Grundgesetzes und als einen vermotteten Ladenhüter der Französischen Revolutionsverfassung von 1791 charakterisierte! Selbst wenn sich das Wunder der Transsubstantiation in der Person des einzelnen Abgeordneten nach seiner Mandatsübernahme oder gar nach dem — zur Einführung vorgeschlagenen Abgeordneteneid10 — im Sinne der Krüger'sehen Selbstvergütungslehre11 vollziehen sollte, würde diese Bürger ein gewisses Maß an politischer Narrenfreiheit eingeräumt werden könne, ist ein Relikt wilhelminischer Staatsmentalität. Die Demokratie muß auf die Integration aller ihrer Bürger setzen. 7 BVerfGE 4 4 , S. 125 ff. 8 Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. 9 ZParl Heft 2 / 1 9 8 4 , S. 171 ff. 10 Ebd., S. 173. 11 H. KRÜGER, Allgemeine Staatslehre, 1964, S. 2 4 0 : Wesen der Repräsentation als Vorgang der Selbst-Vergütung; S. 2 6 5 ff: Das Amt als vollendete Repräsentation. Die „Veramtung verlangt im Grundsatz, daß der Mensch als Amtsträger ein ganz anderer sein muß, als er als Mensch ist." (266) Bezüglich der Wandlung zum Amtsträger: „Geht es doch um die Erlangung einer zweiten, geradezu einer ÜberNatur" (271), usw. Das ist idealistisches Wunschdenken. Die Geschichte lehrt, daß die Erzeugung falschen Elitebewußtseins, verbunden mit Macht und Privilegien,

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dem Parlament als Institution nicht mehr zum politischen Eigengewicht gegenüber einer Mehrheitsregierung und gegenüber den beide Organe personell und programmatisch verklammernden Parteien verhelfen können. Der Abgeordnete wird primär immer Mitglied einer Mehrheits- oder aber Oppositionsfraktion sein, sein wollen und müssen, und erst in zweiter Linie Mitglied des „Hohen Hauses" als Gegenüber des Kanzlers und seiner Mannschaft. Zu den fragwürdigen Konsequenzen der hier wirksamen Repräsentationsideologie gehört, daß die herrschende Lehre auch dann noch eine Gewissensentscheidung zu respektieren und damit die Beibehaltung des „Mandates" zu akzeptieren bereit ist, wenn der Abgeordnete während seiner Amtszeit freiwillig die Partei wechselt. Auf der Ebene der Regierung gilt entsprechendes: Die Gewissensverpflichtung wird zur Amtspflicht objektiviert und erscheint in Zeiten des Vorwahl- und des Wahlkampfes als Pflicht der Regierung zu parteipolitischer Neutralität.12 Für das Bundesverfassungsgericht folgt diese Pflicht aus der „verfassungsrechtlichen Grundverpflichtung, daß alle Staatsgewalt . . . stets am Wohle aller Bürger ausgerichtet zu sein hat." 13 Mit dem zeitlich begrenzten demokratischen Herrschaftsauftrag sei es unvereinbar, „daß die im Amt befindliche Bundesregierung als Verfassungsorgan im Wahlkampf sich gleichsam zur Wiederwahl stellt und dafür wirbt, daß sie ,als Regierung wiedergewählt' wird." Außerhalb ihrer amtlichen Funktionen sollen Regierungsmitglieder jedoch parteipolitischen Wahlkampf machen dürfen.14 Soll also der Bundeskanzler, der zugleich (einer der) Parteiführer ist, auf Wahlplakaten, auf Einladungen zu Wahlversammlungen nicht als Bundeskanzler angekündigt werden dürfen? Soll er nicht sagen dürfen, daß er gerne Bundeskanzler bleiben möchte und weshalb er dies verdient zu haben glaubt? Die Verpflichtung aller Staatsgewalt auf das Gemeinwohl ist selbstverständlich, aber das Gericht verkennt, daß es in einer pluralistischen Demokratie ein parteipolitisch völlig neutrales „Gemeinwohl" als eine inhaltlich bestimmte, statische Größe gar nicht geben kann und nicht geben soll. Indem eine Partei oder Parteienkoalition ihre Programme zu verwirklichen sucht, verwirklicht sie, was sie für

häufig genug gerade (milde gesagt) das Allzumenschliche in der Amtsausübung zum Vorschein bringt. Den Beamten zum „Übermenschen" hochzustilisieren heißt, die Gefahr des Unmenschen heraufzubeschwören. 12 BVerfGE 44, S. 125, 144. 13 AaO, S. 141 f. 14 AaO, S. 141.

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„Gemeinwohl" hält. Sind die Wähler mehrheitlich anderer Meinung, so können sie dies bei der Wahl zum Ausdruck bringen. Die wünschenswerte Stärkung des A«io«ow/'ebewußtseins der Volksvertretung gegenüber Regierung und Ministerialbürokratie ebenso wie gegenüber mannigfaltigen Verbandspressionen darf also nicht bei Gemeinwohl- und Neutralitätsfiktionen ansetzen, sondern muß die parteienstaatliche Struktur voll akzeptieren. Dann aber erweisen sich „Reformvorschläge", wie sie der Bundestagspräsident (Dr. Barzel) in seiner Eröffnungsrede über „Stellung und Arbeit des Deutschen Bundestages" geäußert hat, als drittklassiges Herumdoktern an Symptomen. Wo man eine grundsätzliche Positionsaussage aus dem oder über das Selbstverständnis des Deutschen Parlaments hätte erwarten dürfen, hört man nur das Lamentieren über Details, etwa, daß der Präsident des Bundesrechnungshofes statt vom Bundestag von der Bundesregierung ausgesucht werde, daß die Zeitung „Das Parlament" nicht von diesem, sondern von der Bundesregierung herausgegeben werde, daß die Information über Kabinettsitzungen ebenso unzulänglich sei wie die Ausstattung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages mit Umweltfachleuten oder der strafrechtliche Schutz der Abgeordneten bei Dienstreisen im Ausland. Sogar von einer verbesserten Architektur des Plenarsaales erwartet man eine wesentliche Stärkung der Stellung des Parlaments.15

in. Registriert man diese und andere verspielte Chancen, so erhält das Wort vom „Raumschiff Bonn", das in der Debatte fiel16, den Klang bedrückender Realität. In mehrfacher Hinsicht erscheint die fleißige Routine des Bonner Regierungsapparates: der ministerialen Programmentwurfs-, der gouvernementalen Lenkungs- und der parlamentarischen Legitimationsmaschine als ein allzu selbstgenügsames Insichkreisen. Die damit verbundene Einbuße an Repräsentativität insbesondere des Parlaments zeigt sich auf der Inputseite als mangelhafte Legitimitätsvermittlung und Impulsverarbeitungskapazität, auf der Outputseite als Entscheidungs- und Steuerungsschwäche, in wichtigen Gebieten als Verzicht auf Normierungsleistung überhaupt. Auf der erstgenannten Seite reagiert die Aktivbürgerschaft mit unterschiedlichen Protestformationen; die Veränderung der Parteien15

Deutscher Bundestag, Sten. Ber., 10. Wahlperiode, 85. Sitzung, S. 6202 f.

16

Abg. Frau NICKELS, GRÜNE, aaO, S . 6 2 1 0 .

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landschaft, das Auftreten zahlreicher Bürgerinitiativen und einiger an Großproblemen orientierten Sammelbewegungen (Typus: Friedensbewegung) sind charakteristische Formen der 80er Jahre. Offensichtlich haben die sogenannten „etablierten Parteien" 17 — man darf bezweifeln, ob wirklich alle damit gemeinten Parteien noch dauerhaft etabliert sind — die ihnen sogar gesetzlich zugeschriebene Aufgabe, „für eine ständige lebendige Verbindung zwischen dem Volk und den Staatsorganen (zu) sorgen18 nur unzureichend erfüllt. In diese Lücke sind die bisher nicht etablierten Grünen vorgestoßen, die davon profitierten, daß sie nicht nur negative Protestwähler anziehen, sondern mindestens in der Umweltpolitik das Bild einer positiven Alternative zu vermitteln verstehen. Dabei muß es als ein im Vergleich mit den Jahren der großen Koalition ermutigendes Zeichen für den Parlamentarismus angesehen werden, daß sich die neue Opposition keineswegs als primär außerparlamentarische versteht19, daß auch von einer großen oder totalen Verweigerung der jungen Generation keine Rede sein kann, sondern daß die Diskussion zwischen den „Fundamentalisten" und den „Realisten" oder „Pragmatikern" bereits um den Übergang von der Oppositionshaltung in die Reigerungsverantwortung geführt wird - und sei es zunächst nur in der zaghaften Vorform einer parlamentarischen Tolerierungsabsprache. Der Realitätssinn der „etablierten Parteien" und damit die Vitalität des Parlamentarismus müssen sich daran erweisen, ob sie flexibel genug sind, solche neuen Kooperationsformen politisch produktiv zu verarbeiten. Die Parlamentarismusverdrossenheit hat aber auch ihre themabezogene Seite. Das Parlament war selbst nie der Ort, wo Themen der Politik vorausbedacht, Lösungswege längerfristig vorgezeichnet wur17

Vgl. etwa K. SONTHEIMER, Ist unsere Demokratie überfordert? in: H. (Hrsg.), Fluchtpunkt Jahrhundertwende, Band 1, 1 9 8 1 , S. 1 7 3 ff, 1 8 6 . 18 § 1 Abs. 2 am Ende Parteiengesetz vom 15. Februar 1984. 19 Vgl. Abg. Frau SCHOPPE, GRÜNE, Deutscher Bundestag, Sten. Ber., 10. Wahlperiode, 102. Sitzung, S. 7437: „Wir haben die größte parlamentarische Bewegung der Nachkriegszeit". Auch das Thesenpapier der „ökolibertären Grünen" akzeptiert den Rahmen der parlamentarischen repräsentativen Demokratie und fordert eine Reformpolitik innerhalb dieser Struktur; vgl.: „Der Parlamentarismus könnte vor einer neuen Blüte stehen", Frankfurter Rundschau Nr. 286 vom 7. Dezember 1984, S. 10. Andererseits trifft es sicherlich auch zu, wenn PAPIER feststellt, daß sich ein „Potential an . . . systemilloyalen Kräften" innerhalb wie außerhalb der staatlichen Willensbildungsebene angesammelt hat; vgl. H.-J. PAPIER, Parlamentarische Demokratie und die innere Souveränität des Staates, in: Das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland auf dem Prüfstand, Seminar zum 70. Geburtstag von K. A. Bettermann, 1984, S. 33 ff, 52. GLASER

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den. Stets überließ man es der Regierung, Programme zu präsentieren; der Bundestag verdiente schon Anerkennung, wenn er die Rolle des Chores in der Griechischen Tragödie, Ausdruck der Meinung der schweigenden Mehrheit und Hüter der öffentlichen politischen Moral zu sein, gut verkörpert hatte. Aber allzu offenkundig ist heute, daß die vielgepriesene Methode des ,muddling through', zumal wenn sie nur die jeweilige Kompromißlinie des verbändestaatlich organisierten Interessenpluralismus nachzeichnet, als Regierungskunst unter den komplexen Bedingungen des ausgehenden Jahrhunderts nicht mehr ausreicht. Der Umgang mit den natürlichen Ressourcen, die Energiepolitik, das Gesundheitswesen, die Rentenversicherung bis in die nächste Generation bieten Anschauungsmaterial. Man ist lautstark und einträchtig im Beweinen der in den Brunnen gefallenen Kinder, aber weder gelingt es, die Brunnen rechtzeitig abzudecken, noch gar (um im Bilde zu bleiben) überhaupt ein neues, sicheres Wasserversorgungssystem einzurichten. Erst wenn die radioaktiven Uranfässer im Schiffswrack auf der Nordsee treiben, werden im Parlament die Rufe nach Schutzvorkehrungen bei Sondermülltransporten laut. Und die Diskussionen um Entschwefelungsanlagen oder Autoabgaskatalysatoren verlaufen kaum ermutigender. Es wäre eine sorgfältige Untersuchung wert, das Schicksal eines einzelnen Politikthemas über die einzelnen Stationen — Parteiantrag, Parteiprogramm, Wahlaussage, Koalitionsabsprache, Regierungserklärung, Sachverständigenkommission der Regierung, Bericht, Referentenentwurf, Regierungsentwurf, Ausschußempfehlungen, Bundesratsäußerungen, Gegenäußerungen, Beschlußfassungen, Gesetzesverabschiedung, abstrakte Normenkontrolle und evtl. Nichtigerklärung — hin zu verfolgen, um festzustellen, wo und warum es versandet oder dahinschmilzt wie Schnee an der Sonne. Und es ist weitere, ja vielfach schon vorhandene Untersuchungen wert, um festzustellen, welche Politikthemen erst gar nicht das Licht der parlamentarischen Welt (der etablierten Parteien) erblicken und warum dies so ist. Einen echten Zuwachs an Autorität und Macht dürfte sich das Parlament als Institution nur erhoffen, wenn es aus der jetzigen, stark rezeptiven Rolle als eine freilich wichtige Instanz in der langen Kette der Rechterzeugungsfaktoren herausträte und in die aktive Rolle eines politischen Vor-Denkers der Nation hineinwüchse. Die dann bei entsprechender Aufmerksamkeit der Massenmedien zu führenden Plenardebatten über Grundsatzfragen und Zukunftsprobleme (die heute eigentlich immer schon Gegenwartsprobleme sind) kämen nicht nur der Transparenz der politischen Willensbildung, sondern auch

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ihrem Entscheidungsgehalt und ihrer normativen Steuerungskraft zugute.

IV. Damit sind wir bei der Kritik der Output-Seite des parlamentarischen Systems angelangt. Liegen wesentliche Ursachen für die Defizite an Repräsentativität, bei der Legitimationsvermittlung, bei der Impulsgebung und -Verarbeitung in der starren, oligarchischen Struktur des Systems der etablierten Parteien (bis hin zu 5%-Sperrklauseln und grundkonsensualen FdGO-Ausgrenzungen), so liegen wesentliche Gründe für das Defizit an Normativität auf der Output-Seite in der verbandspluralistischen Struktur auf der einen, in der ministerialgesteuerten bürokratischen Struktur der Rechtsumsetzung auf der anderen Seite. Beide Aspekte bedürfen der Erläuterung. Wenn hier von einem Defizit an Normativität die Rede ist, so darf dies nicht als Plädoyer für mehr „Verrechtlichung" mißverstanden werden. Vielmehr ist zweierlei gemeint: 1. In wichtigen Teilbereichen des wirtschaftlichen und kulturellen Lebens hat der Staat — mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts — „seine Zuständigkeit zur Rechtsetzung weit zurückgenommen" 20 und das Feld den Trägern verbandsmäßig organisierter Interessen überlassen. 2. Dort, wo der Staat, also das Parlament, noch selbst die Normen setzt, führt der Einfluß der oft kontrapunktisch einwirkenden Verbände nach dem Prinzip des kleinsten gemeinsamen Nenners entweder zu einer Regelung ohne Klauen und Zähne oder die Gesetzentwurfsbürokratie antizipiert die Entscheidungsschwäche des Parlaments, indem sie teils statt materiellrechtlicher nur prozedurale Lösungen vorschlägt, teils durch den Einbau von Ausnahme-, Zumutbarkeits-, Härte- und anderen unbestimmten Generalklauseln für das Funktionieren des „Pelz-Trockenwäsche-Verfahrens" sorgt. Immerhin beträgt die Zahl der im März 1983 beim Deutschen Bundestag registrierten Interessenverbände 1164, öffentlich-rechtliche Körperschaften, Anstalten und Stiftungen aller Art nicht mitgezählt. 21 Der Verzicht des Staates auf parlamentarische Normsetzung ist in einigen Bereichen unmittelbares Verfassungsgebot. Zum Teil unterliegen die Grenzen des staatlichen Rückzugs jedoch der Interpretations2 0 BVerfGE 34, S . 3 0 7 , 3 1 6 ; 44, S . 3 2 2 , 3 4 0 ; BAG Urt. v. 1 0 . 6 . 1 9 8 0 , NJW 1980, S. 1 6 4 2 ; stRspr. 21 Vgl. Beilage zur „woche im bundestag", Nr. 7/1983.

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herrschaft des Bundesverfassungsgerichts und sind insofern begrenzt revidierbar. Zum Teil führt die legislatorische Neutralität und Enthaltsamkeit bei politischen Pattsituationen im Kampf zwischen Verband und Gegenverband dazu, daß der Staat, nun aber in Gestalt der Dritten Gewalt gerufen wird, das Machtvakuum zu füllen. Die erstgenannte Situation beobachten wir im Verhältnis zwischen Staat und Kirchen, für die zuletzt genannte bildet die richterliche Ersatzgesetzgebung auf dem Gebiet des Arbeitskampfrechts das Musterbeispiel. Das verfassungskräftig verbürgte Recht der Kirchen, „ihre Angelegenheiten" „selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes" zu ordnen und zu verwalten22, wird nicht unzulässig beschnitten, wenn der Staat in der Überschneidungszone der für ihn und die Kirchen „gemeinsamen Angelegenheiten", z. B. in der Krankenhausversorgung, organisatorische Normen setzt und diese als „für alle geltendes Gesetz" auch auf die in kirchlicher Regie geführten Krankenanstalten anwenden will. Das Bundesverfassungsgericht geht hier jedoch nicht nur in der Respektierung des kirchlichen Eigenverständnisses und damit der kirchlichen Grenzziehung gegenüber dem Staat recht weit, sondern es unterwirft auch das „für alle geltende Gesetz" noch der Prüfung und eventuellen Beschränkung am kircheneigenen Maßstab der Inanspruchnahme von Autonomie.23 Kritik verdient hier nicht das Ergebnis, sondern die Methode des Gerichts. Selbst wenn man einräumt, daß der Staat gegenüber einigen Grundrechtsschutzgütern wie Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Kunstfreiheit, Wissenschaftsfreiheit an absolute Grenzen seiner Definitionskompetenz stößt, kann das andererseits nicht den Verzicht darauf rechtfertigen, den Geltungsbereich des „für alle geltenden Gesetzes" (welches eben deshalb dem Schutz anderer wichtiger Rechtsgüter dient) selbst zu bestimmen. Im Bereich der sogenannten Wirtschafts- und Arbeitsverfassung liegen die Verhältnisse anders. Der zunächst verfassungsmäßig weit gezogene Bereich der Tarifautonomie erfährt in zunehmendem Maße Regulierungen und Strukturierungen durch die Rechtsprechung, die sich in dieser, ihr von den Sozialpartnern aufgedrängten Rolle durchaus nicht immer wohl fühlt. Noch ein dritter Bereich und Normsetzungstypus verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung. Mit den beiden Erstgenannten hat 22 23

Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG. BVerfGE 53, S.366, mit lesenswerter abw. Meinung des Richters ROTT-

MANN, S . 4 0 8 f f .

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er den Verzicht des parlamentarischen Gesetzgebers auf Normsetzung gemeinsam. Was ihn jedoch charakterisiert, ist die Übertragung der Rechtsetzungsfunktion auf überverbandliche, öffentlich-rechtliche, der Form nach sogar staatliche Gremien, die die antagonistischen Verbandsinteressen durch die beteiligten Repräsentanten in sich aufnehmen und gemeinwohlbezogen ausgleichen sollen. Deshalb ist für diese Organe ein unparteiischer Vorsitzender typisch, den zu finden der Staat notfalls mithilft. Und der Staat, das heißt jetzt aber nicht die Dritte Gewalt und nicht die Erste, sondern die Exekutive, springt auch als Normgeber ein, wenn die überverbandlichen Organe, die weder Selbstverwaltungs- noch reine Staatsverwaltungsorgane sind, in ihrer Normsetzungsfunktion versagen. Dieses Modell bestimmt in Gestalt der Landes- und Bundesausschüsse der Ärzte und Krankenkassen die Gesundheitspolitik im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung24; es liegt quer zu allen klassischen Strukturen rechtsstaatlicher Staats- oder Selbstverwaltung. Von der Gemeinwohlproblematik der eigentlich verbandsinternen Rechtsetzung, sei es die der Kirchen, der Tarifpartner oder die der bis zum Überdruß „verkammerten" sogenannten „freien Berufe" 25 , war dabei noch nicht einmal die Rede. Die Beispiele belegen zur Genüge, wie viele und wie wichtige Rechtsetzungsaufgaben außerhalb des Parlaments und an diesem vorbei erledigt werden. Es liegt in seiner Hand, dem Überhandnehmen solcher Tendenzen zu wehren.

V. An dieser Stelle wäre die These vom Normativitätsdefizit schließlich „produktbezogen" zu erläutern: Es wäre darzulegen, inwiefern und weshalb die Produkte der Rechtsetzungsarbeit des Gesetzgebers ihre Funktion, die Einheit von Erwartungssicherung und Verhaltenssteuerung zu gewährleisten26, aus inhaltlichen Gründen nur noch höchst unvollkommen erfüllen. Daß man, mit Blick auf die Wirklichkeit, eigentlich nicht mehr von Rechtseizwwg, sondern besser von Rechtsänderung sprechen sollte, bezeichnet hier nur ein, allerdings 24 Vgl. § 3 6 8 p RVO. Zur verfassungsrechlichen Problematik dieser Art von Rechtsetzung; vgl. DENNINGER, Arzneimittel-Richtlinien und ,Verschreibungsfähigkeit', 1 9 8 1 . 25 Zu den Grenzen der berufsständischen Satzungsautonomie vgl. schon BVerfGE 33, S. 125, 157ff. 26 Vgl. N. LUHMANN, Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 73 ff, 90.

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wichtiges Phänomen. Der Topos „Überforderung des Staates"27, eine Leitvokabel in der neokonservativen „Unregierbarkeits"-Diskussion greift dieses Problem etwas komplexer an, variiert aber nur das schon eine Generation früher angeschlagene Thema von der „Überanstrengung des Rechts" (H. Huber, 1953) 28 und dementsprechend vom „déclin du droit" (Georges Ripert, 1949). 29 Seither ist über den „Niedergang des Rechts und die Krise des Rechtsstaats"30 aus kompetenten wie inkompetenten Federn so viel Tinte verschrieben worden, daß man befürchten muß, mit einem weiteren Beitrag den Unwillen der Kundigen zu erregen. Auf dem Hintergrund der Kontroversen um Rechsstaat versus Leistungs- gleich Sozialstaat, um Verwaltungsüber- und Parlamentsohnmacht, um Eingriffsabwehr- oder Teilhabefunktion der Grundrechte, um unmittelbaren Verfassungsvollzug oder gesetzliche Maßgabe, um soziale Grundrechte oder Gesetzgebungsaufträge, um Verrechtlichung der besonderen Verwaltungsverhältnisse, um „Normenflut" und Regelungshypertrophie gegen Verwaltungsermessen und Beschränkung der richterlichen Kontrolldichte, auf dem Hintergrund all dieser, teilweise konträren Einschätzungen und Forderungen soll hier zum Schluß ein Rechtsgedanke kritisch betrachtet werden, der seit etwa anderthalb Jahrzehnten in zunehmendem Maße im Grundrechtsbereich, aber auch darüber hinaus, als Entscheidungshilfe Karriere macht: die Bestimmung (grund)rechtlicher Grenzen durch Organisation und Verfahren. Von Luhmann31 1969 als generelles Legitimationsprinzip rechtlicher Entscheidungen vorgestellt, von P. Häberle 1971 unter dem Titel „status activus processualis" als verfahrensrechtliche Seite der Grundrechtsfreiheiten im Leistungsstaat beschrieben, 1978 von K. Hesse in die allgemeine Grundrechtssystematik eingebaut32, ist die Prozedura27

B . GUGGENBERGER, H e r r s c h a f t s l e g i t i m i e r u n g u n d S t a a t s k r i s e , in: GREVEN/

GUGGENBERGER/STRASSER, Krise des Staates? 1975, S.9ff, 39. Guggenberger beginnt: „Daß New York und Frankfurt unregierbare Monstren aus Eisen und Beton sind, ist ein rhetorischer Gemeinplatz" (aaO, S. 9). Das sind flotte Sprüche, geeignet, Vorurteile zu bekräftigen, jedoch ohne wissenschaftlichen Aussagegehalt. 28 H. HUBER, Niedergang des Rechts und Krise des Rechtsstaats, 1953, in: ders., Rechtstheorie, Verfassungsrecht, Völkerrecht. Ausgewählte Aufsätze 1 9 5 0 - 1 9 7 0 , 1971, S.27ff, 4 7 . 29 G. RIPERT, Le déclin du droit, 1949. 30 Vgl. Anm. 2 8 . 31 N. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, 1969. 32 P. HÄBERLE, Grundrechte im Leistungsstaat, W D S t R L Heft 30, 1972, S. 43 ff, 8 6 ff; K. HESSE, Bestand und Bedeutung der Grundreche in der Bundesre-

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lisierung als Rechtsfindungskriterium nicht erst, aber insbesondere seit der Mülheim-Kärlich-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1979 33 in den Rang eines universell einsetzbaren Verfassungsmaßstabes aufgerückt: Nicht nur, daß Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren verwirklicht werden muß, sondern umgekehrt wirken Grundrechte auf Ausgestaltung, Auslegung und Anwendung von Verfahrensregelungen ein.34 Die rechtsstaatliche und demokratiefunktionale Bedeutung legitimationsbeschaffender Verfahrensregeln soll hier nicht unterschätzt und verkleinert werden. Ist sie doch weithin nur der folgerichtige Ausdruck des „Kooperativen Pluralismus" in der Verbändedemokratie, der Versuch, diesen Pluralismus zu operationalisieren. 35 Aber sowenig der organisierte Pluralismus als solcher bei der politischen Willensbildung irgendeine Garantie sachrichtiger Entscheidungen zu bieten vermag, sowenig er auch nur die Berücksichtigung aller relevanten Interessen gewährleistet, zumal er keinen Maßstab weder für Sachrichtigkeit der einen noch für Relevanz der anderen zu bilden vermag, so verfehlt wäre es, von einer zunehmenden Prozeduralisierung des Rechts allein inhaltlich richtige, d.h. allen Beteiligten als inhaltlich richtig einleuchtende Konfliktlösungen zu erwarten. Der Systemtheoretiker etwa sieht politische Wahlen wie auch Gerichtsverfahren nicht zuletzt unter dem Entlastungseffekt der Absorption von Protesten 36 ; aus makrotheoretischer Perspektive mag dies befriedigen, auf der mikrotheoretischen Ebene bietet es dem handelnden Individuum keinen Verhaltensmaßstab. Auf der anderen Seite scheidet auch der unreflektierte Rekurs auf irgendein inhaltlich definiertes Gemeinwohlkonzept im Sinne einer liberalen, sozialistischen publik Deutschland, E u G R Z 1978, S. 427 ff. Aus der danach einsetzenden Literaturflut sind hervorzuheben: H. GOERLICH, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, und neuerdings D. SUHR, Freiheit durch Geselligkeit, E u G R Z 1984, S. 529 ff; zur rechtstheoretischen Begründung von Rechtsgarantien durch Verfahren vgl. schon DENNINGER, Rechtsperson und Solidarität, 1967, S . 3 0 4 f . 33 BVerfGE 53, S.30, besonders auch die abweichende Meinung der Richter SIMON u n d HEUSSNER, d o r t S. 6 9 ff. 34 BVerfGE 53, S.30, 73, m.v.N. Vgl. BVerfGE 24, S.367, 401: Gewährung effektiven Rechtsschutzes als wesentliches Element des Grundrechts selbst. Auch schon: BVerfGE 12, S.205, 263; Organisationsvorschriften sind aus der Grundrechtsgarantie der Rundfunkfreiheit abzuleiten. Abschwächend: BVerfGE 60, S.253, 295. 35 Vgl. E.-H. RITTER, Der kooperative Staat, AöR 104 (1979), S. 389 ff;

DENNINGER, S t a a t s r e c h t 1, 1 9 7 3 , S . 4 4 f f . 36

N. LUHMANN, Legitimation durch Verfahren, 1969, S. 171, 173.

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oder sozialliberalen usw. Eigentumsideologie aus; und Entsprechendes gilt für alle anderen Bereiche des Rechts. Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann nur in Richtung auf eine vorsichtige Rematerialisierung der Rechtsstrukturen gesucht werden, die mit der Differenzierung der Rechtsfindung in Verfahrensschritte zu verbinden ist. Damit ist allerdings ein Problemhorizont eröffnet, der den hier gesteckten Rahmen sprengt.

Konflikt und Konsens im politischen System der Bundesrepublik HEINRICH OBERREUTER

Parlamente, die ihren Namen verdienen, die also einen eigenständigen Machtfaktor im politischen System darstellen, sind noch nie etwas anderes gewesen als Repräsentanten des Gemeinwesens in seinen politischen und sozialen Gegensätzen. Gerade dadurch, daß diese Gegensätze in ihnen zum Ausdruck kamen, haben sie stets jenes unabdingbare Mindestmaß gesellschaftlicher Integration bewirkt. Für das parlamentarische Prinzip ist kein Platz in politischen Systemen, die für sich von vornherein eine Homogenität der sozialen und politischen Interessen und Positionen in Anspruch nehmen: dort wäre es nicht funktional und stünde in fundamentalem Gegensatz zur Grundannahme der Einheit als Ausgangs- und Zielpunkt aller politischen Willensbildung, die zumeist normativ überhöht ist und in politische Wahrheitsansprüche mündet. Parlamentarismus hat den Pluralismus zur Voraussetzung und damit die offene Möglichkeit, Kontroversen und Konflikte auszutragen. Aber allein schon, um Konflikte zu legitimieren und um sich auf Verfahren zu verständigen, sie in humaner Weise auszutragen, bedarf es des Konsensus. Dieser Konsensus über Ordnungs- und Verfahrensprinzipien reicht natürlich keineswegs so weit wie das Homogenitätspostulat. Er beschränkt sich auf fundamentale Übereinstimmungen, die Konflikten vorausliegen, ohne ihre Legitimität zu bezweifeln und ohne ihre Austragung zu verhindern. Das parlamentarische Prinzip selbst gehört zum Fundamentalkonsens in einer pluralistischen Demokratie. Es genügt dann aber auch nicht mehr, das Wesen des Parlamentarismus durch Diskussion und Öffentlichkeit zu bestimmen. 1 Vielmehr verlangt die Anerkennung politisch-gesellschaftlicher 1 So aber, heute noch wirkmächtig: C. SCHMITT, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 1969 4 .

Konflikt und Konsens im politischen System der Bundesrepublik

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Heterogenität als Geschäftsgrundlage des demokratischen Staates vom Parlament Diskussion und Entscheidung, um legitime Herrschaft zu sichern. Neben die kommunikative tritt also die dezisive Dimension, die nicht nur den parlamentarischen Gestaltungsanspruch der politischen Wirklichkeit einlöst, sondern parlamentarische Kommunikation auch Leistungsdruck aussetzt. Sie ist nicht nur ziel-, sondern auch sachorientiert; d. h. sie muß in akzeptabler Zeit zu nicht nur politisch, sondern auch rational vertretbaren Lösungen gelangen. Dadurch ist nicht nur der Parlamentarismus charakterisiert. Es ist zugleich die Grundsatzfrage formuliert, mit der sich jede Institution konfrontiert sieht, die die Herausforderungen der Zukunft meistern will. Für Parlamente stellt sie sich obendrein verschärft, weil sie ihre Aufgaben nicht für sich, gleichsam isoliert, erfüllen können. In allen ihren Aufgaben stehen Parlamente vielmehr in Relationen und Interdependenzen. Sie sind eingebunden in einen Kreislauf der Kommunikation; sie stehen in Beziehungen zur Öffentlichkeit, zu anderen Institutionen, zu gesellschaftlichen Großgruppen, zu Parteien, Regierung und Medien. Von daher erfährt der Versuch, ihre Aufgabe als „Legitimation duch Kommunikation"2 zu bestimmen, zusätzliche, über die engere Parlamentarismustheorie hinausweisende Rechtfertigung. Konflikt und Konsens sind durchaus Begriffe, die das parlamentarische System erschließen. In diesem Beitrag sollen jedoch weniger systematische Fragen aufgeworfen werden. Es geht vielmehr darum, zwei weniger anspruchsvolle Dimensionen der Themenfrage zu klären: 1. Konsens und Konflikt in bezug auf das parlamentarische System selbst, 2. aktuelle Grundprobleme im Rahmen dieses Systems, Konsens und Konflikt, zum Ausdruck zu bringen. Diese Überlegungen münden in das Problem öffentlichkeitszugewandter Reform.

I. Erosion eines Konsenses? Die parlamentarische Demokratie in der Auseinandersetzung Begibt man sich wieder einmal an die Wurzeln der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes, so erstaunt doch, wie unumstritten der Parlamentarismus als Organisationsform politischer Wil2 Vgl. dazu den Versuch bei H. OBERREUTER, Kann der Parlamentarismus überleben? 1978 2 , S. 4 4 ff; Unter allgemeineren Aspekten ders., Legitimität und Kommunikation, in: Kommunikation im Wandel der Gesellschaft. Festschrift für Otto B. Roegele. 1980, S. 6 1 - 7 6 .

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lensbildung in der Phase der Staatsgründung der Bundesrepublik dastand. Es gab zu ihm keine Alternative.3 Und dies, obgleich die Schwäche des Weimarer Parlaments gewiß eine der Bedingungen für das Entstehen der nationalsozialistischen Diktatur gewesen war und obgleich fast überall in Europa der Parlamentarismus in der Zwischenkriegsphase alles andere als eine beeindruckende Kraft entfaltet hatte. Seit Herrenchiemsee herrschte Konsens über die Errichtung eines „echten Parlaments" und über die Konstruktion eines parlamentarischen Regierungssystems, das auf der Verknüpfung der Regierung mit einer arbeitsfähigen Mehrheit beruht. Diese mehr verfassungspolitische Grundbedingung wurde in den Verfassungsberatungen sehr deutlich gesehen, und obgleich keineswegs feststand, daß die Mentalität der Parteien sich wandeln und diese einen stets ungebrochenen Willen zu Macht und Verantwortung ausprägen würden, reifte der Entschluß, ein solches parlamentarisches Regierungssystem erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte konsequent zu etablieren. Dieses System mutet dem Parlament die Aufgabe zu, die Regierung zu bilden und stabil zu halten, und zwingt es damit — zumindest seine Mehrheit — in die Verantwortung, zwingt es in eine gestaltende Rolle und nicht in die historisch überkommene negatorische. Die einzige damals vehement vorgetragene Alternative bleib marginal. Ihr ging es um eine Stärkung der Regierungsautorität. Es waren die beiden Liberalen Dehler und Becker, die, vom Versagen des Parlamentarismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgehend, die Frage stellten, was man denn nun anders schaffe „als das Wiederaufleben dieser todkranken Demokratie", von der man insbesondere im Blick auf Frankreich sehe, „daß sie nicht leben und nicht sterben" könne und daher wohl kaum zur Bewältigung der Aufgabe, die Massen zu lenken, in der Lage sei. 4 Dehler und Becker wollten eine handlungsfähige Regierung auf Zeit, unabhängig von „jeder Krise im Parlament". Sie kritisierten, daß man im Grunde mitten im 20. Jahrhundert ein Regierungssystem nach dem Vorbild des 19. Jh. schaffe, ohne dessen Elan und Optimismus noch haben zu können; es herrschten vielmehr im Gegenteil Mißtrauen und Skepsis.5 Der unver3 Entsprechend knapp fiel auch die Diskussion und ihre wissenschaftliche Verarbeitung aus. Vgl. etwa V. OTTO, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, 1 9 7 1 , S. 1 2 2 ff. 4 „Ich sehe keine Chance für den Parlamentarismus, wie er hier wieder niedergelegt wird, ohne Witz und neue Einfälle." TH. DEHLER, Parlamentarischer Rat, Hauptausschuß, 3 2 . Sitzung vom 7 . 1 . 1 9 4 9 , S. 3 9 9 . 5

M . BECKER, ebd., S. 3 9 5 f.

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antwortliche Verfall schwächlicher Koalitionen werde wiederkehren und der Kanzler sein Amt nicht führen können. In Wirklichkeit ist es so nicht wieder-, sondern ganz anders gekommen. Schon wenig später war die Rede von der Kanzlerdemokratie — ein übertreibender und zugespitzter Begriff 6 , aus dem jedoch zumindest soviel zu erkennen ist, daß der befürchtete Marsch in die Versammlungsdemokratie nicht stattfand. Bewirkt wurde diese Entwicklung zu einem stabilen politischen System durch einen Mentalitätswandel: durch ein ungebrochenes Verhältnis der Parteien zur Verantwortung und zur Macht. Es stellte sich eine Mentalität ein, die von Beginn an und bis heute — sieht man einmal von Gruppierungen ab, die vorläufig noch marginal sind und es wahrscheinlich gerade deswegen bleiben werden, weil sie zu dieser Mentalität nicht finden wollen — den Konstruktionsprinzipien des parlamentarischen Regierungssystems entspricht. Vorauszusehen war diese Entwicklung nicht, zumal 1949 durchaus noch nicht entschieden war, welcher Parteientyp sich duchsetzen und welche Struktur des Parteiensystems sich herausprägen würde: beides hat unabdingbar Rückwirkungen auf das innerparlamentarische Selbstverständnis, auf die innerparlamentarischen Verhaltensweisen und auf die Kommunikation mit der Öffentlichkeit im konkreten Vollzug der Repräsentation. Das Erfolgsgeheimnis des Nachkriegsparlamentarismus in der Bundesrepublik ist die jederzeit unter Beweis gestellte Fähigkeit, stabile Mehrheiten und Regierungen zu bilden und gemäß dieser Maxime auch dann zu verfahren, wenn sich — selten genug — Krisen einstellten. Mentalität der politischen Akteure und Systemstruktur paßten nahtlos zusammen. Um die Aufgaben der achtziger Jahre zu bewältigen, wird es nicht darauf ankommen, die Struktur zu verändern, sondern diese Mentalität, die positive Einstellung zur Regierungsverantwortung, zu bewahren. Herausforderungen des Parlamentarismus stellten sich relativ spät ein. Sie kamen nicht von innen, sondern mehr von außen — nicht zuletzt durch theoretische Entwürfe (Habermas, Agnoli). Soweit sie praxisbezogen waren, zogen sie gerade in Zweifel, was geschichtlich als Errungenschaft und an ihrer Wege als durchaus zweifelhaft galt: nämlich Autorität und Stabilität der parlamentarischen Demokratie — oder auch ihre Verstetigung und Komplexität, worin sich Autorität und Stabilität niederschlugen. Sicher hat es auch — leider viel zu wenig — reformorientierte und 6

Dazu jetzt: J. KÜPPER, Die Kanzlerdemokratie, 1985.

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funktionale Parlamentskritik gegeben. Sehr viel stärker aber war wohl stets ein kulturpessimistischer Zweig, charakterisiert durch eine Rückwärtsorientierung zu angeblich golden-klassischen Zeiten — eine Kritik, die sich gerade in der Verweigerung der Anerkennung der Strukturprinzipien des parlamentarischen Regierungssystems ausdrückt, die am Wandel zur Moderne, an der Dynamik und Komplexität der Prozesse verzweifelt. Sehr viel mehr Brisanz und soziale Relevanz insbesondere unter Intellektuellen hat jedoch die radikaldemokratisch-spätmarxistische Systemkritik gewonnen, die aus der angeblichen Korrumpierung des klassischen Parlamentarismus in der Gegenwart die Notwendigkeit seiner Überwindung in der Zukunft folgerte. Die unkritische Rückwärtsorientierung der Systemkritik wurde schon bei Jürgen Habermas deutlich, dessen „Strukturwandel der Öffentlichkeit" 7 frühzeitig in nuce das kritische Arsenal der außerparlamentarischen Opposition bereitstellte. Agnoli 8 hat es zugespitzt und populär gemacht. Beide gehen von irrealen historischen Voraussetzungen aus und erheben literarische Fiktionen zum Idealtypus und zum kritischen Maßstab aktueller Phänomene. Ein methodischer Irrweg, der nichtsdestoweniger unverdrossen beschritten wird. An den Idealen - nicht der konkreten Realität - des 19. Jahrhunderts gemessen, muß der gänzlich anders entwickelte Parlamentarismus des 20. um so tiefer fallen. Wenn Agnoli beklagt, es gebe „die klassische parlamentarische Demokratie schon längst nicht mehr" und wenn er sie, so wie er sie versteht und stilisiert, in Deutschland überwunden sieht9, so kann man dagegen nur sagen: es gab sie noch nie — schon gleich gar nicht in der deutschen Verfassungsgeschichte. Hier wird ein antiquiertes, theoretisches Parlamentsverständnis reproduziert. Gleich antiquiert ist die Tendenz zur Rekonstruktion eines Modells politischer Kommunikation ohne Vermittlungsprozesse. Die politische Öffentlichkeit der Massendemokratie kann nicht identisch sein mit dem auf Unmittelbarkeit beruhenden Kommunikationsidyll des bürgerlich-plutokratischen Parlamentarismus. Die Verzahnung von Repräsentation und Herrschaft, ihr tendenzielles Ineins-Fallen, kann möglich werden, wenn ein Dutzend gebildeter und vermögender Bürger als Nominierungs- und Wahlkörperschaft für ihren Repräsentanten auftreten; angesichts der heutigen Dimensionen von WahlkreiJ . HABERMAS, Strukturwandel der Öffentlichkeit, (erstmals) 1962. J . AGNOLI, Die Transformation der Demokratie, 1968. 9 J . AGNOLI, Thesen zur Transformation der Demokratie und zur außerparlamentarischen Opposition, in: N e u e Kritik 4 7 , 1968, S. 24—33. 7

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sen und angesichts ihrer Komplexität liegt jedoch gerade in der Strukturierung und Vermittlung von Kommunikation die Chance zu Verantwortlichkeit und Kontrolle von Herrschaft. Verantwortlichkeit und Kontrolle sind unabdingbare Voraussetzungen für Partizipation. Der Scheidebegriff der Auseinandersetzung ist Herrschaft. Legitimation von Herrschaft als wichtigste Funktion des Parlaments in der Demokratie kann nur kritisieren und als Dekadenz verurteilen, wer Herrschaft an sich ablehnt und Demokratie als Selbstherrschaft des Volkes, nicht auch als legitime, verantwortliche und rechtsstaatlich eingehegte Herrschaftsordnung begreift. Dieser Ansatz bekennt sich auch heute noch nach mehr als 15 Jahren zu ungebrochener Kontinuität. Dieser Ansatz bescheinigt im übrigen dem Parlament bei seiner Aufgabe, Herrschaft zu legitimieren, Funktions- und Leistungsfähigkeit — ja übersteigert sie geradezu ins Gigantische —, weil auf ihnen jene Verschwörungshypothese beruht, nach der die Legitimationsmechanismen des Parlamentarismus dazu führen, das Bewußtsein der Massen zuungunsten ihrer objektiven und primären Interessen zu manipulieren. Demnach wäre er genau dort am leistungsfähigsten, wo empirisch orientierte funktionale Parlamentskritik bedenkliche Defizite geortet hat: bei den Öffentlichkeitsfunktionen. Man könnte aus Agnolis Thesen eine atemberaubend unkritische Funktionsbestätigung des Repräsentativsystems herauslesen, der kaum jemand zu folgen bereit wäre, der es empirisch erforscht hat. 10 Aber es entbehrt ja keineswegs der Logik, daß für jemanden, der der Utopie der Herrschaftslosigkeit nachjagt, Legitimation von Herrschaft allzugut funktionieren muß, so lange dieses System leistungsfähig besteht. Zugleich offenbart sich in dieser Auseinandersetzung aber auch der eigentliche verfassungshistorische Fortschritt: Der angeblich klassische Parlamentarismus und mit ihm das Volkssouveränitätsprinzip hätten in Deutschland ihren Kampf gewonnen, wäre ihnen seinerzeit die Konstitutionalisierung der Herrschaft gelungen und hätten sie deren Legitimität unter ihre Botmäßigkeit zu bringen vermocht. Diese Einsicht, die zugleich zu einer anderen Einschätzung der aktuellen Situation führen müßte, trifft man jedoch nicht an. Statt 10 Vgl. z.B.: Zwischen Bewegung und Institution. Ein Gespräch mit J. AGNOLI, in: W. KRAUSHAAR (Hrsg.), Was sollen die Grünen im Parlament? 1983, S. 1 2 0 - 1 3 8 ; einschlägig sind auch andere Beiträge in diesem Band. Agnoli spricht gelegentlich von gesellschaftlicher Autonomie, wenn er den Zustand der Herrschaftslosigkeit meint.

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dessen wird uns Ende der sechziger Jahre ebenso wie heute erneut das Rätesystem als Alternative angeboten — ohne empirische Absicherung und hoffnungsfroh: Wenn sich das Problem wirklich stelle, werde es schon gelöst werden. Der Weg dorthin soll gebahnt werden durch Fundamentalopposition, permanente Obstruktionspolitik und Organisation von gesellschaftlichem Dissens. 11 Zweifel sind erlaubt, ob die vorgeschlagene Alternative von den Voraussetzungen her dazu führen kann, die demokratischen Verheißungen zu verwirklichen, noch größere Zweifel, ob sie in der Lage ist, jene Problemlösungskapazität und Steuerungsfunktion zu entwickeln, die angesichts der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen notwendig sind. Die große Alternative scheitert an beiden Problemen. Das muß den nicht stören, der auf Empirie und Parlamentarismus pfeift. Aber es muß jene alarmieren, die Wert auf eine pluralistische Demokratie und auf den Parlamentarismus als legitimierende Struktur politischer Willensbildung legen. Vergleicht man die beiden kritischen Ansätze — den im Rahmen des Parlamentarischen Rats marginal gebliebenen der beiden Liberalen Becker und Dehler und den systemkritischen Agnolis und seiner Epigonen —, so widerstreiten sie sich natürlich in den Ausgangsorientierungen. Aber sie laufen auf ein ähnliches Ergebnis hinaus, nämlich auf eine Entmächtigung des Parlaments. Beim ersten Ansatz entspringt dieses Ergebnis der Vermutung, das Parlament werde sich als zu schwach erweisen, beim zweiten dem Vorwurf, es sei zu stark oder zumindest doch zu „herrschaftlich". Gegen das Parlament wollte der erste Ansatz die Staatsmacht stärken; er will es heute noch, wenn wir unterstellen dürfen, daß sich Restbestände dieser oder ähnlicher Motive durchaus in der zurecht allmählich untergehenden Unregierbarkeitsdiskussion offenbaren. Der zweite Ansatz jedoch will gegen das Parlament das Volk stärken. Genau dort knüpft die Diskussion um eine „neue Form" an. Die Suche nach einer neuen Form als aktuelle verfassungspolitische Herausforderung lehnt folglich Stellvertretung — d. h. Repräsentation 11 Ebd., passim. N u r drei Beispiele: Fundamentalopposition, für die plädiert wird, heißt, „eine permanente Obstruktionspolitik zu betreiben" (S. 121); die Machtfrage sei zu lösen durch Verweigerung gegenüber dem Staat und durch Ausbreitung des Dissenses in der Gesellschaft: „ . . . auch der real existierende Rechtsstaat, den wir haben, kann überwunden werden . . . durch den Dissens und die Organisation des Dissenses" (S. 133); zum erstrebten, offenbar zusätzlich entinstitutionalisierten „ R ä t e k o m m u n i s m u s " : „Wenn sich das Problem institutionell stellt, wird die Menschheit das Problem auch lösen können" (S. 134).

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ab. Sie vertraut dem Volk, nicht dem Abgeordneten. Da die wahre Demokratie durch das Repräsentativsystem nicht zu erreichen sei, lohne sich auch kein Reparaturversuch: jedes Ringen um Verbesserung, um Reform der Institutionen sei bloße „Ornamentalistik". 12 Natürlich wird diese neue Form weder wirklich beschrieben, noch kritisch geprüft. Zwar gilt die Kommune als „Strukturtyp politischer Produktion". Aber es wird eingeräumt, daß dieser Ansatz nicht ausreiche, weil er vor Schwierigkeiten von der Kommune bis zur supranationalen Ebene und vor der großen Frage nach seiner Leistungsfähigkeit stehe. Allerdings führt der Weg zu dieser unbestimmt fließenden Form ins Ungewisse und nie zum Ziel; denn die Reform so immer der Gang dieser Argumentation — stehe vor der Schwierigkeit, in nicht reformierten Verhältnissen ansetzen zu müssen, während doch eigentlich die Herrschaft der neuen Bedingungen und des neuen Menschen Voraussetzungen für eben diese Reform wären. Verfassungspolitik hört hier natürlich auf. Auch Originalität herrscht hier nicht; denn das Argumentationsmuster, es sei zunächst einmal wichtig, die bestehende Ordnung zu beseitigen, auch wenn Gestalt und Leistungsfähigkeit dessen, was aus ihren Trümmern entstehen soll, nicht präzise umrissen werden können, kehrt seit den späten sechziger Jahren unermüdlich wieder. Noch weiter zurück, nämlich bis in die Frühzeit der Weimarer Republik, reicht die Tradition eines verfassungspolitischen Denkens, welches Zustand und politische Form mit Bewegung verwechselt und spätestens seit Carl Schmitt zur Auffassung gelangt ist, liberal-demokratische Verfassungen seien der politischen Wirklichkeit einer Massendemokratie nicht mehr angemessen. Bekanntlich ist die Diskussion offen und vielfältig. Sie zusammenzufassen bedeutet mit Sicherheit, sie zuzuspitzen — vielleicht sogar unzulässig. Trotzdem seien folgende Bemerkungen gewagt: In der Programmzielvorgabe, „das parlamentarische System grundsätzlich hin auf eine direkte Demokratie zu verändern" 13 , liegt kein Bekenntnis zum repräsentativen Parlamentarismus, sondern eine Projektion seiner Überwindung. Die Richtung offenbart sich in Vorschlägen, möglichst viele Kompetenzen aus den Parlamenten hinauszuverla1 2 Ich beziehe mich auf den Vortrag von W.-D. NARR, Zur Formkrise alter und neuer Politik, auf dem Kongreß der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft am 5. Oktober 1982 in Berlin, der im Tagungsband leider nicht enthalten ist; vgl. aber auch die Beiträge Narrs und anderer in: R. ROTH (Hrsg.), Parlamentarisches Ritual und politische Alternativen, 1980. 13 Landesprogramm die GRÜNEN Hessen, S . 9 8 .

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gern. Als Stichworte seien genannt: Basisdemokratie, imperatives Mandat, Rotation, Dezentralisierung. Mehr als ein Mißverständnis des Parlamentarismus ist auch die Idee, ihn lediglich „mitzubenutzen" bei einer Strategie der Mobilisierung der Massen und des Systemumbaus. 14 Die „neue Spontaneität" läuft auf eine Entformalisierung der politischen Willensbildung und auf die Erosion legitimierender Strukturen und Verfahren hinaus. Institutionen und Verfahren sind jedoch nicht nur „formal". Sie repräsentieren vielmehr „Sinn". Von daher ist dem Versuch zu widersprechen, eine Kluft zwischen der Staatsidee und der Staatsorganisation der Bundesrepublik aufzureißen. Dieser Versuch ist künstlich. Die Verfassungsgeber haben vielmehr in dieser Form parlamentarischer Demokratie das organisatorische Mittel zur Verwirklichung der freiheitlichen Staatsidee gesehen — und sie stehen dabei nicht allein; sie stehen sogar in einer langen Tradition verfassungsgeschichtlicher Kämpfe um die Verwirklichung dieser Idee. Das kann nicht heißen, hier ein statisches Postulat aufzurichten. Natürlich steht diese parlamentarische Demokratie in sozialem Wandel. Sie hat darauf auch reagiert und Anpassungsprozesse vollzogen — von der Wissenschaft weitgehend unbemerkt, die sie immer noch an anachronistischen Maßstäben zu messen pflegt. Die Parlamente sind einige Schritte weitergegangen als die meisten ihrer Kritiker. Trotzdem konfrontiert der demokratische Anspruch auf politische Steuerung des Gemeinwesens sie mit weitreichenden Herausforderungen angesichts der sozialen, ökonomischen, ökologischen und technologischen Entwicklungen sowie der sich darum herumrankenden Wertund Bewußtseinskrisen. Wieso aber der liberal-parlamentarische Verfassungstyp insgesamt überholt sein soll, nur weil politische Willensbildung und Entscheidungsfindung vor Schwierigkeiten stehen, ist bisher nirgendwo überzeugend begründet worden. Schwierigkeiten und Gegner, die ihm solche Probleme bereiteten, kannte er immer. Vollkommenheitsansprüche sind ihm wesensfremd und fundamental konträr. Die Suche nach der Utopie der vollkommenen Form hat jedoch noch nie bei diesem Verfassungstyp, sondern stets bei illiberalen Gegentypen geendet.

14 Diese Position wird nach wie vor vielfältig geäußert. Dem mündigen Bürger gegenüber ist es eine ziemlich respektlose Zumutung, sich ihm zur Wahl zu stellen, ohne zugleich widerspruchsfreie Aussagen über das Verhältnis zu Rechtsstaat, Gewalt und Parlamentarismus zu treffen.

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II. Zur Artikulation von Konsens und Konflikt Die zweite Dimension des Themas sind Grundprobleme, Konsens und Konflikt zum Ausdruck zu bringen: Konsens zu bewahren und stets wieder aufs neue zu begründen; Konflikte zu artikulieren und auszutragen auf eine Weise, welche die Integration der Gesellschaft möglich bleiben läßt. Eingangs ist bereits darauf hingewiesen worden, daß parlamentarische Institutionen an diesen Prozessen durch Diskussion und Entscheidung, durch Kommunikation und Leistungsentfaltung wesentlich beteiligt sind — von den verfassungspolitischen Prämissen her wesentlich beteiligt sein müssen. 1. Die Mehrheitsdemokratie als Konkurrenzdemokratie Freiheitliche Politik ist Kampf der Meinungen und Interessen um die verbindliche Ordnung des Gemeinwesens. Aber dieser Kampf berührt in der Regel nicht den verfassungspolitischen Kern, den Konsens in fundamentalen Fragen, Werten, Orientierungen: Angesprochen ist hier die Erkenntnis, die durch Ernst Fraenkel15 zum lange Zeit unbestrittenen Gemeingut auch der Politikwissenschaft in Deutschland geworden war, daß es in jeder funktionsfähigen pluralistischen Demokratie neben dem kontroversen Sektor auch einen nichtkontroversen Sektor gibt. Politische Auseinandersetzung vollzieht sich auf diese Weise stets auf der Basis einer fundamentalen Gemeinsamkeit, jenseits und vor aller Alternative.16 D. h., das Modell des modernen Verfassungsstaats und seine Ausprägung als parlamentarische Demokratie beruht geradezu darauf, daß verfassungspolitische Basiskonflikte gelöst und Konsensbereiche gefunden sind, von denen aus sich alternative Politikkonzepte kontrovers entfalten können. Diese grundlegende Übereinstimmung macht bekanntlich zivilisierte politische Auseinandersetzung, die gewaltsame, bürgerkriegsähnliche Zustände hinter sich läßt, erst möglich. Die politischen und sozialen Entwicklungen der Neuzeit haben politisierbares Konfliktpotential zweifelsohne reduziert und die Voraussetzung dafür geschaffen, daß der Prozeß politischer Willensbildung seinen Ausgang von einer weithin übereinstimmend akzeptierten Basis nehmen kann. Die in die Oppositionstheorie traditionell und heute in die verfassungspolitische Auseinandersetzung aktuell immer wieder eingebrachte fundamental-oppositionelle Option wiE. FRAENKEL, Deutschland und die westlichen Demokratien, 1974 6 . S. LANDSHUT, Formen und Funktionen der parlamentarischen Opposition, in: G. Eisermann (Hrsg.), Wirtschaft und Kultursystem, 1955, S . 2 1 6 . 15

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derstreitet natürlich dieser Grundannahme. Denn diese Option läßt den Basiskonsens nicht gelten, sie gibt sich nicht mit der Möglichkeit zufrieden, Alternativen und Konflikte im Rahmen eines auf bestimmten und bekannten Prämissen beruhenden parlamentarischen Systems auszutragen, sondern plädiert ganz offen für Systemveränderungen und ein anderes Legitimitätsprogramm: nichts anderes verbirgt sich hinter dem Teminus „Fundamentalopposition" oder dem Postulat nach Fundamentalalternativen. Der Spielraum für politische Auseinandersetzungen hängt nicht zuletzt davon ab, daß der Konsensbereich nicht überdehnt wird: Der kontroverse Sektor darf nicht durch ein Übermaß an Verbindlichkeit, durch ideologische Wahrheitsansprüche, durch neointegralistische Tendenzen eingeengt oder sogar zum Verschwinden gebracht werden. Auf den ersten Blick scheint die Forderung, das Konfliktpotential zu vertiefen, Alternativen zu verschärfen und Opposition zu verdeutlichen, dieser Einsicht entgegenzukommen. Aber da sich diese Forderung ganz offensichtlich gegen die plurale parlamentarische Demokratie erhebt, unterstützt sie sie nicht, sondern führt über sie hinaus. Sie führt nicht nur zur Vielfalt, sondern zur Durchsetzung eines bestimmten, sich exklusiv setzenden politischen Anspruchs, der eben gerade Vielfalt delegitimiert. Tatsächlich ist aber die Legitimierung von Vielfalt und Minderheitspositionen in der politischen Auseinandersetzung, in Form der parlamentarischen Opposition sogar ihre formelle oder faktische Institutionalisierung als „anderer Beweger der Politik" (Carlo Schmid), nicht nur eines der reifsten Zeugnisse politischer Kultur. Darin liegt vielmehr auch ein unverwechselbares Kennzeichen freiheitlicher Ordnung. Die Entfaltungsfreiheit von Minderheiten definiert und begrenzt Demokratie und Mehrheitsherrschaft substantiell. Denn diese Entfaltungsfreiheit unterwirft beide, System und Mehrheit, dem Konkurrenzprinzip. Dadurch soll ein stets offener Prozeß politischer Willensbildung erreicht werden, in welchem der Mehrheitswille keineswegs die Qualität des „Höheren" oder des „Wahren" gewinnt. Minderheiten sind voll wettbewerbsfähig. Ihr Zutrittsrecht hängt nicht von inhaltlichen politischen Positionen im Detail ab. Sie können nicht mehr und tiefer verpflichtet werden als der Basiskonsens es verlangt. Auch wenn letztlich nach Mehrheit entschieden wird, was für alle verbindlich zu regeln ist — die parlamentarische Demokratie bezieht ihr Ethos und ihre Struktur in gleicher Weise aus der Entfaltungsfreiheit von Minderheiten. Dem entsprechen weithin ihre staatsrechtli-

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chen Konstruktionsprinzipien: Nur unter bestimmten Voraussetzungen und nur innerhalb bestimmter Grenzen ist die Mehrheit berechtigt, für alle verbindlich zu entscheiden. Niemand ist vernünftigerweise bereit — und niemandem wird es zugemutet — sich ihrem unbegrenzten Verfügungsrecht zu unterwerfen. Die Konkurrenzdemokratie muß also zunächst auf dem Schutz der elementaren Rechte der Person beruhen. Der Verfassungsstaat der Neuzeit ist denn auch weitgehend von dem Gedanken aus konstruiert, das Individuum und Minderheiten zu schützen. Bekanntlich beseelte die amerikanischen Verfassungsväter die Idee, die Institutionen einander so zuzuordnen, daß die Mehrheit ihre Macht erst gar nicht mißbrauchen könne. Sie schufen eine Struktur, „die fast wie ein Käfig das Mehrheitsprinzip umstellt". 17 Die Väter des Grundgesetzes haben das Bauprinzip dieses Käfigs mit Nachdruck importiert und eine keineswegs mehrheitsfreundliche Verfassung geschaffen. Sie ist zusätzlich bewußt als wertgebundene Ordnung konstruiert, die ethische Maximen inkorporiert und der Gestaltungsfreiheit parlamentarischer Mehrheiten deutliche Grenzen setzt. Wo das Prinzip der legitimen Vielfalt herrscht, kann Politik sich nicht um letzte Fragen drehen, um Wahrheitsoptionen oder um die Verwirklichung geschichtsphilosophischer Entwürfe. Politik bleibt stets unabgeschlossen, angreifbar, verbesserungsfähig — also abseits jeder Vollkommenheit. Wo der Streit über ihre Inhalte zugelassen ist, weil die Ziele der Gesellschaft offenbleiben und von niemandem im einzelnen verbindlich vorwegdefiniert werden dürfen, tritt die Frage nach einer demokratischen Verhaltensethik in den Vordergrund: das Verfahren gewinnt an Bedeutung — zunächst und vor allem sicher als Struktur — darüber hinaus aber auch als eine Weise, derart miteinander umzugehen, daß es der Qualität der wertgebundenen Ordnung entspricht. Die plurale Demokratie bleibt also auch als wertgebundene Ordnung stark auf ihre Verfahrensethik gegründet. Damit stellen sich naturgemäß und völlig legitim Fragen nach der Art und Offenheit der Kommunikation, nach Toleranz und Kooperation. Aber all diesen Fragen muß zunächst einmal die Regelhaftigkeit und Rechtssicherheit, die institutionelle Garantie und die individuelle Beachtung des Verfahrens selbst vorausliegen. Die parlamentarische Demokratie ist sicher bis heute die intelligenteste Erfindung der Menschheit, im Rahmen ihrer Experimente eine Form zu finden, die 17

trag.

So P. GRAF KIELMANSEGG in einem zur Veröffentlichung anstehenden Bei-

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den inhaltlichen Vorgaben von Freiheit und Menschenwürde entspricht. Als Staatsorganisation des gesellschaftlichen Pluralismus beruht sie auf normativer Anerkennung der Positionen von Individuen und Gruppen. Diese Anerkennung kann nur auf einer Basis geschehen, die Toleranz als unteilbar akzeptiert. Nachdrücklich ist der These zu widersprechen, die „neue Macht der Minderheit" gründe sich darauf, daß sie nicht in gleicher Weise auf das Toleranz- und Mäßigungsgebot verpflichtet werden könne wie die Mehrheit. Nützt Toleranz wirklich mehr den Mächtigen? Eher ist es umgekehrt. Die These 18 , daß Mäßigung, Toleranz- und Rechtsstaatsgebot primär Hürden für Staat und Mehrheiten, nicht aber für Minderheiten seien, ist gefährlich, weil die Infragestellung unteilbarer Toleranz zuallererst Minderheiten entmächtigte, darüber hinaus aber grundsätzlich den inneren Frieden und die Verfahrensethik parlamentarischer Demokratie beschädigen muß. Wenn Form und grundlegende Inhalte derart komplementär zueinander sind wie in der pluralen parlamentarischen Demokratie, bedeutet die Zerstörung des einen unweigerlich auch die Zerstörung des anderen. Ein zweiter Aspekt besitzt im Zusammenhang mit der propagierten Teilbarkeit der Toleranz Bedeutung: In einer wertgebundenen Ordnung, die weltanschaulich neutral bleibt, gilt nicht nur das Gebot einer auf Grundwerte bezogenen ethischen Orientierung des Politischen, sondern es gilt auch das Verbot ethisch-weltanschaulichen Übermaßes in der Politik. Von daher wäre es ein Rückfall hinter die Konstruktionsprinzipien des Verfassungsstaates, Legitimität erneut und verstärkt inhaltlich zu begründen, also auf eine konkret als absolut für wahr und richtig empfundene Politik, gegen die es legitimen Widerspruch nicht mehr geben soll; denn „jeden Widerspruch gilt es mit dem Schwert der unzweideutigen politischen Prioritätenentscheidung aufzulösen." 19 Eine derartige Position zieht das Zusammen- und Widerspiel von Mehrheit und Minderheit in der parlamentarischen Demokratie grundsätzlich in Zweifel. Es droht ein Rückfall in die Delegitimierung der abweichenden Meinung. Die aktuelle Diskussion in der Bundesrepublik über die Grenzen der Mehrheitsdemokratie hat pikanterweise den Akzent, diese Delegitimierung diesmal von Minderheiten ausgehen und sich gegen Mehrheiten richten zu lassen. Dabei nehmen diese Minderheiten für sich in Anspruch, Wert- und Bewußtseinseliten zu sein. 18 B. GUGGENBERGER, Die neue Macht der Minderheit, in: B. Guggenberger, C. Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1 9 8 4 , S . 2 1 0 . " B. GUGGENBERGER, Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, 1 9 8 0 , S. 95.

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Allein auf dieses Selbstverständnis gründen sich Durchsetzungsansprüche, die sich — man kann es anders schwerlich einordnen — als absolut verstehen. Solche Ansprüche widersprechen materiell der parlamentarischen Demokratie. In ihr gilt die Entfaltungsfreiheit von Pluralität, aus welcher wiederum unmittelbar der Kompromiß als parlamentarische Tugend folgt. Diese Staatsform unterscheidet sich von Ansprüchen zur Weltvergewisserung „aus einem Guß" dadurch, daß sie Alternativen offenläßt. Dagegen tendiert Weltvergewisserung „aus einem Guß" in der Tat dazu, nicht befriedbar, nicht kompromißfähig und darüber hinaus auch noch unduldsam zu sein. Eigene Gravitationsgesetze, die von einer „überragenden Zielbenennung her . . . auf wunderbare Weise auch die Welt des Politischen wieder zu einem sinnvollen Kosmos" fügen 20 und die von daher auf eigene Durchsetzung ebenso drängen wie auf moralische Verdikte anderer Positionen, widersprechen den Gravitationsgesetzen der parlamentarischen Demokratie. Denn eine alles überragende, sich exklusiv setzende Zielformel widerstreitet theoretisch und praktisch dem Prinzip legitimer Vielfalt, indem sie höheres Bewußtsein für sich in Anspruch nimmt und alle jene diffamiert, welche diese Bewußtseinsstufe noch nicht erklommen haben. Heute gibt es Ansätze, „normale" Themen der Politik in den Rang fundamentaler Wertfragen zu erheben und damit streitoffene Politikprobleme in den Bereich des Basiskonsens zu transferieren. Dadurch sollen sie der streitigen Auseinandersetzung entzogen und bestimmte inhaltliche Lösungen tabuisiert werden. Im Selbstverständnis „unbeugsamer Minoritäten" entstehen dadurch „Grundkonflikte, die nicht befriedbar, Wertkonflikte, die nicht kompromißfähig sind". 21 Tatsächlich sind es jedoch fundamentale und seit langem bekannte Wertorientierungen, von denen aus die in Rede stehenden Probleme politisch zu lösen sind. Die Gewährleistung einer humanen Gesellschaft, Umweltschutz und Friedenssicherung sind Themen von großem Ernst und großer ethischer Herausforderung; sie stehen aber nicht außerhalb des Wertkonsensus, der diesem politischen System zugrunde liegt, und müßten nun erst gleichsam mühselig hereingeholt werden. Vielmehr machen sie seit je den Kern dieses Konsensus aus, weil sie an die Verwirklichung von Menschenwürde und Freiheit gebunden sind. Wie andere Themen auch sind sie politisch — also 20 21

B.GUGGENBERGER, Die neue M a c h t . . . (Anm. 18), S. 218. Ebd., S. 216.

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kontrovers — zu bearbeiten und zu entscheiden und zwar im Rahmen der vorgegebenen Strukturen und Verfahren, welche ja als Voraussetzung und Hilfsmittel zur Verwirklichung dieser Wertorientierung konstruiert worden sind. Es besteht kein Anlaß, das System zu destruieren, bloß weil Minderheiten Komplexität und Widerspruch nicht aushalten zu können glauben. Die Simplifizierung komplexer Problemlagen und ihre Verkürzung auf Eindimensionalität lassen die Wirklichkeit zur Karikatur verkümmern. Es geht nicht um Haben oder Sein, um Materialismus oder Postmaterialismus. Nach allem, was die politische Erfahrung lehrt und was ein umfassendes, dem Menschen dienendes politisches Konzept verlangt, geht es jeweils um ein balanciertes Verhältnis von Orientierungen, die sich nicht ausschließen, sondern ergänzen. Auf keinem Felde der Politik geht es um Sein oder Nichtsein. Es geht vielmehr um politische Lösungen, von einer Wertbasis aus, die insgesamt Gemeingut zu sein scheint, die aber in der Praxis nur dann verteidigt werden kann, wenn die Lösung konkreter Probleme kontroversen Auseinandersetzungen vorbehalten bleibt. Sobald jedoch in solchen normalen Kontroversen eine Position für sich den nicht befriedbaren Grundkonflikt postuliert, wird diese Grundbedingung offener politischer Willensbildung aufgelöst. Folglich kann die Zukunft nicht durch eine Ausnahmezustandsmentalität gewonnen werden, welche die Rechte, Verfahren und Institutionen der parlamentarischen Demokratie in vermeindich sicherer Erkenntnis des Wahren und im vermeintlichen Besitz des richtigen Bewußtseins auf die Seite schieben zu müssen meint und jenen zum Souverän über die Verfassungsordnung macht, der glaubt, über Grundkonflikte oder, wie Isensee es ausgedrückt hat, über den Weltuntergang zu verfügen. Solches Bewußtsein und auch noch so tiefe ethische Orientierungen legitimieren keineswegs Ausbruchstendenzen aus einer Ordnung, die durch den Anspruch und den Willen gekennzeichnet ist, Menschenwürde, Freiheit und Leben zu verwirklichen. 2. Kommunikative Demokratie in der Krise? Wenn sich die Notwendigkeit einstellt, derartige Fragestellungen, wie wir sie bisher behandelt haben, zu thematisieren, liegen in einem politischen System offensichtlich Kommunikationsstörungen vor. Daher muß nun noch nach den innerparlamentarischen Ursachen für die außerparlamentarische Attraktivität einer „neuen Form" gefragt werden.

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Es wäre ein Mißverständnis zu glauben, daß sich Repräsentation gleichsam im Wahlakt erschöpft. Repräsentation als Beziehung zwischen Regierenden und Regierten ist vielmehr ein dynamischer kommunikativer Prozeß. Sie ist „eine - auf Korrelation beruhende Übereinstimmung zwischen politischen Entscheidungen der regierenden Elite und öffentlicher Meinung". 2 2 Dieser Prozeß kann nur mit Hilfe öffentlicher Meinungsbildung und Meinungsäußerung von Regierenden und Regierten stattfinden sowie mit Hilfe der dafür zu Gebote stehenden Formen und Kanäle. Dazu zählt der ganze Satz demokratischer Artikulations- und Partizipationsrechte, insbesondere aber zählen dazu die Institutionen der politischen Kommunikation. Die Verschränkung parlamentarischer und vorparlamentarischer Kommunikation, die mit ihrer Hilfe geleistet werden soll, ist nach der allgemeinen Demokratisierung in der Massendemokratie einerseits schwieriger zu verwirklichen als zuvor; andererseits gilt sie aber als Postulat demokratischer Repräsentation um so zwingender, weil in diesem Prozeß die Legitimität auf dem Spiel steht. Und zumindest im parlamentarischen Regierungssystem läßt sich Legitimation, die nur kommunikativ bewirkt werden kann, als die Kardinalfunktion des Parlaments bestimmen. 23 Repräsentative Demokratie muß demnach kommunikative Demokratie sein. Im Begriff der kommunikativen Demokratie kommt das Dynamische und Prozeßhafte des Repräsentationsvorgangs am besten zum Ausdruck. Er scheint auch gut geeignet, die sterile Entgegensetzung von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie zu überwinden, in der das eigentliche Problem nicht zum Ausdruck kommt. Kommunikation zielt ja nicht unmittelbar auf Sanktion, auf Entscheidungsgewalt ab, so daß sie unterhalb der Schwelle des Plebiszitären bleibt und die parlamentarische Entscheidung zwar beeinflußt, aber nicht ersetzt und verdrängt. Andererseits wirkt sie einem verkürzten Repräsentationsverständnis entgegen und verdeutlicht im Grunde die Permanenz des Repräsentationsprozesses, in dem ständig und allseitig Begründung, Rechenschaft und Diskussion eingefordert wird, um parlamentarische Regierung in Korrespondenz mit der öffentlichen Meinung zu vollziehen. Damit ist auch mehr gemeint, als in dem Begriff der responsiven Demokratie zum Ausdruck kommt, der sich 2 2 M. SOBOLEWSKI, Politische Repräsentation im modernen Staat, in: H. Rausch (Hrsg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und der Repräsentatiwerfassung, 1968, S. 4 2 2 . 2 3 Vgl. Anm. 2.

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seit neuerem in den Vordergrund drängt und doch vor allem suggeriert, es käme auf die Reaktionsfähigkeit der Institutionen an — und nicht z.B. auch auf die legitime politische Führung. Damit wären Begriff und Inhalt repräsentativer Demokratie verkürzt. Solche Verkürzungen vermeidet der Kommunikationsbegriff, weil er, solange er nicht mißverstanden wird, immer einen reziproken Prozeß meint. Die Frage nach den innerparlamentarischen Ursachen für die gelegentlich aufscheinende Attraktivität von Alternativen zum System findet ihre Antwort leider in der Feststellung, daß dieses Verständnis kommunikativer Demokratie im Bewußtsein der Abgeordneten und in der routinemäßigen Parlamentsarbeit zu kurz kommt. Auch in den Parlamenten müßte es aufhorchen lassen, wenn das Leitmotiv aller Kritik an ihnen seit etwa 25 Jahren in ihrem Öffenlichkeitsdefizit zu finden ist. Auch hier wiederholt sich im übrigen in der Argumentation der Grünen und Alternativen von heute nur der Protest der Neuen Linken von damals. Das Selbstverständnis der Parlamentarier akzentuiert die Leistungsentfaltung, die Effizienz. Diese Orientierung hat entgegen landläufigen Urteilen zu relativ guter Positionsbehauptung, zumindest des Bundestags, im Wettbewerb mit Bürokratie und Verbänden geführt. Zuzugeben ist, daß diese Orientierung aus zwei Gründen Bedeutung hat: Zum einen läuft politischer Wille leer, wenn er heute nicht sachrational unterfangen wird, wenn er sich nicht informieren läßt und wenn er sich zusätzlich nicht in entsprechenden fach- und effizienzorientierten Strukturen entfaltet; zum anderen wird gerade an dieser Front der Kampf um die Kompetenz zur politischen Steuerung des Gemeinwesens ausgetragen, den das Parlament nur bestehen kann, wenn es den schuldigen Tribut zollt: Arbeitsteilung, Expertentum, Fachorientierung. Die Folge ist im Vergleich zu früher ein Strukturwandel der Parlamentsarbeit, welcher die Kommunikation nach außen erschwert. In Wirklichkeit müßten jedoch beide Orientierungen ausbalanciert oder wenigstens in ein ausgewogeneres Verhältnis zueinander gebracht werden. Denn auch Leistungsentfaltung läuft leer, wenn es nicht gelingt, sie der Öffentlichkeit zu vermitteln. Wenn das Parlament aber sich selbst nur eingeschränkt zu vermitteln vermag, dann kann auch die ständige Verschränkung parlamentarischer und vorparlamentarischer Willensbildung, dann kann Repräsentation als Prozeß nicht nahtlos gelingen. Es geht hier nicht um den einzelnen Abgeordneten und seine Leistung vor Ort, sondern um die Institution und die Vermittlung ihrer Arbeit und Bedeutung für den Bürger. Neben dieser strukturbedingten, gleichwohl wenigstens in Ansät-

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zen korrigierbar erscheinenden kommunikativen Schwäche gibt es eine zweite, die ihr in Ursache und Wirkung sehr verwandt ist: ein Verlust an Dialogfähigkeit. Es scheint, als ob Parteien und ihre Fraktionen im Parlament sich im Getriebe politischer Routine über lange Zeit verkrallt, vergraben und verausgabt hätten. Die Leistungen, die sie dabei erbracht haben, sind nicht hoch genug zu veranschlagen. Schließlich sind Aufbau und Steuerung eines derartigen Systems und die Bewältigung seiner Probleme alles andere als Bagatellen — bedenkt man insbesondere die Ausgangssituation. Zur Leistungsentfaltung ständig herausgefordert, hat dieses Parlament vielleicht gerade im letzten Jahrzehnt nicht deutlich genug gesehen, welche neuen Themen relativ starke Gruppen in der Öffentlichkeit bewegt haben, geschweige denn, daß es sie diskutiert und mit bündigen Antworten bedacht hätte. In der Folge sind wichtige Themen und Positionen von „draußen" besetzt und initiiert worden. Zum Teil geschah dies dann nicht mehr in der Absicht, einen partnerschaftlichen Dialog zu initiieren, sondern mit dem Ziel, sich gegen die Institutionen zu profilieren und sie der Tendenz nach vielleicht sogar zu isolieren. Dem Parlament kommt in der repräsentativen Demokratie auch eine politische Führungsfunktion zu. Auch sie drückt sich ja nicht in einem Befehls- und Gehorsamsverhältnis aus. Sie wird kommunikativ wahrgenommen, im wesentlichen durch Artikulation und Initiierung politischer Themen. Wer überwiegend auf die Themenvorgaben anderer reagiert, führt nicht und ist von vornherein in seiner politischen Gestaltungsfreiheit eingeschränkt. Wenn Luhmann recht hat, daß öffentliche Meinung identisch ist mit der Etablierung von Themen 24 , dann bedeute der Verlust der Themeninitiative, daß das Parlament die öffentliche Meinung verloren hätte. Trifft dies zu — und über weite Strecken scheint es ja wirklich so zu sein —, sind energische Korrekturversuche angebracht, denn das Parlament, dessen wichtigste Aufgabe die Legitimation ist, wäre dann in seinem Kern getroffen.

III. Öffentlichkeitszugewandte Reform Korrektur heißt Reform. Reform aber muß mehr sein als nur pragmatische Mängelbeseitigung. Da gegenüber weitergehenden Schritten eine gewisse Scheu zu bestehen scheint, hat das Reformpa24

N. LUHMANN, Öffentliche Meinung, in: ders., Politische Planung, 1971,

S. 9 - 3 4 .

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ket von 1969 an der Arbeit des Parlaments und ihrer Darstellung nach außen wenig geändert; die Geschäftsordnungsrevision von 1980 ist in ihrer begrenzten Zielsetzung außerhalb des Parlaments so gut wie unbeachtet geblieben und wäre auch kaum geeignet, auf die hier aufgeworfenen Probleme zu antworten. Eine neue Diskussion ist 1984 in Gang gekommen, nicht nur auf Grund der Initiative der hundert Abgeordneten 25 , sondern vor allem auch auf Initiative des Parlamentspräsidenten Rainer Barzel. Es scheint, als ob die beiden, seit Jahrzehnten gebotenen wichtigsten Ziele jetzt deutlicher anvisiert würden: nämlich die verstärkte Wahrnehmung der Öffentlichkeitsfunktion und der Ausbau der technisch-wissenschaftlichen Infrastruktur. Jedenfalls ist seit langem nicht mehr so intensiv über die Aktualisierung der Parlamentsarbeit, über den Debattenstil und über die praktische Ausweitung parlamentarischer Öffentlichkeit auf die Ausschüsse diskutiert worden wie gegenwärtig. Zum Teil müßten nur Möglichkeiten genutzt werden, die geschäftsordnungsmäßig ohnehin vorgesehen sind. Die kommunikative Demokratie wäre ein Stück mehr verwirklicht, würde es dem Parlament als Institution gelingen, sich ohne Scheu zur Verwirklichung dieser Ansätze durchzuringen. Überlegungen, die noch im Anfangsstadium sind, neue technische Möglichkeiten hinsichtlich ihres Einsatzes zur Verbesserung der Kommunikation des Abgeordneten mit seinem Wahlkreis zu untersuchen und dann auch einzusetzen, weisen ebenfalls in die richtige Richtung. Auch die zweite Front ist in Bewegung geraten: Informations- und Dokumentationssysteme wurden aufgebaut, der Zugriff soll verbessert werden; darüber hinaus reagiert das Parlament nun nach langer Überlegung auf neue Herausforderungen mit einem Versuch, sich hinsichtlich der Technologiefolgenabschätzung sachkundig zu machen. Es ist ohnehin ein Irrweg, parlamentarische Kommunikation und parlamentarische Arbeit auseinanderzurücken. Denn nicht nur der Wettbewerb um Anteile an der politischen Führung verlangt Sachverstand, sondern auch die Kommunikation mit dem Wähler. Der Wähler will Kompetenz, nicht Formeln. Aber zugleich müssen 2 5 Zu dieser Diskussion: ABGEORDNETEN=INITIATIVE zur Respektierung des freien Mandats und zur Wahrung des Parlamentsansehens, in: ZParl Heft 2 , 1 9 8 4 , 15. Jg., S. 171 ff; Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu: Das Parlament, Nr. 6/ 85 vom 9 . 2 . 1 9 8 5 mit Beiträgen von Hamm-Brücher, Höcherl, Lammert, Schäfer, Verheyen, de With; Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform, Ergebnisse einer Umfrage über Vorstellungen und Wünsche der Abgeordneten zur Parlamentsreform, vorgelegt von H. HAMM-BRÜCHER, Januar/Februar 1985 (hektographiert).

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ihm Kompetenz, Sachverstand und Führungstaten mitgeteilt und verständlich gemacht, sie müssen seinem kritischen Urteil und der Chance seiner Mitbestimmung ausgesetzt werden, wenn Legitimität gesichert bleiben soll. So steht zu hoffen, daß aus den Diskussionen Mitte der achtziger Jahre die längst notwendige Veränderung der Parlamentsarbeit entsteht. Damit wären wenigstens Voraussetzungen dafür geschaffen, die innerparlamentarischen Ursachen für die neue Attraktivität außerund partiell antiparlamentarischer Alternativen zu beseitigen. Wieviel dadurch in der Realität tatsächlich bewirkt werden kann, läßt sich vorab ohnehin nicht verläßlich abschätzen. Einstweilen stehen wir wieder einmal ziemlich ratlos vor dem Problem, die Bruchstücke politischer Öffentlichkeit zusammenzufügen. Das Problem hat sich allmählich zugespitzt. Paradox genug ist, daß das Parlament gerade durch seine hohe Leistungsentfaltung und seine Problemlösungskapazität in der Vergangenheit dazu beigetragen hat, den Blick auf neue Probleme freizuräumen. Die neuen, die „postmaterialistischen" Werte konnten ja erst in Mode kommen, weil der Aufbau der parlamentarischen Demokratie in der letzten Generation geglückt ist und weil ihr auch das durchaus nicht unwichtige „materialistische" Fundament wirtschaftlicher Prosperität unterbaut worden war. Aber im kommunikativen Vakuum haben sich Kräfte etabliert, die zum Teil stark an der Initiierung jener Themen interessiert sind, die übersehen worden waren, die sich zum Teil aber auch als Alternative zum parlamentarischen System selbst verstehen. Schaut man hinter die bis vor kurzem noch Beruhigung ausstrahlenden demoskopischen Befunde, so zeigen sich durchaus Spaltungstendenzen unserer politischen Kultur. Sicher befinden wir uns nicht in einer globalen Legitimationskrise — noch nicht einmal in bezug auf die ganze jüngere Generation. 26 Aber es stellt sich derzeit deutlich die Frage, wie Minderheiten — zumeist Angehörige der jüngeren Generation mit einem hohen Maß formaler Bildung und großer Bereitschaft zu politischem und sozialem Engagement ausgestattet — zurückgewonnen werden können. Anders als 1968, als der Staat wenigstens als Gegner ernstgenommen worden ist, gibt es heute im weiten Spektrum der Alternativen Verweigerungstendenzen, die ihn weder als Adressaten noch als Partner akzeptieren wollen. Genau hier liegt das System2 6 Dazu jetzt differenzierter als viele Vorläufer: K. R. ALLERBECK, Systemverständnis und gesellschaftliche Leitbilder von Jugendlichen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu: Das Parlament, Nr. 5 0 / 8 4 vom 1 5 . 1 2 . 1 9 8 4 , S. 1 4 - 2 6 .

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problem und keineswegs dort, wo den klassisch gewordenen Parlamentsparteien Konkurrenz erwächst. In zweiter Linie von Bedeutung ist die Frage, ob der Wandel von der Protestbewegung zur Parlamentspartei auch substantiell stattfindet und die Berührungsängste mit Macht, Verantwortung und Kompromiß wirklich zu schwinden vermögen. Gegenwärtig findet eine interessante Auseinandersetzung zwischen Gesinnungsethikern und zaghaft sich vorwagenden Verantwortungsethikern in der grün-alternativen Bewegung statt. 27 Gesetzt, es gelingt ihr, sich dauerhaft in den Parlamenten zu etablieren, ist der Ausgang dieser Auseinandersetzung von großer Bedeutung für die künftige Gestaltung unseres Parteiensystems; denn eine deutliche Ideologisierung und Verantwortungsflucht könnte für die unter Konkurrenzdruck geratenen anderen Parteien nicht folgenlos bleiben. Auch das Problem, den Konsens einerseits zu sichern, andererseits auch schmal zu halten, sowie Chancen und Techniken des Konfliktaustrags in der parlamentarischen Demokratie werden vom Ausgang dieser Auseinandersetzung berührt. Erst in dritter Linie bedeutsam erscheint das vordergründig diskutierte Strategieproblem. Genauer: die Frage der Verbindung parlamentarischer und außerparlamentarischer Strategien. Daß Parteien in den Institutionen und in der Gesellschaft ansetzen, daß sie Transmissionsriemen sein sollen, gehört zu ihrem Funktionsbereich und erst recht zum zeitgerechten Verständnis parlamentarischer Repräsentation. Angesichts ihrer zentralen Rolle in der politischen Willensbildung ist demnach die kommunikative Verschränkung von Parlament und Öffentlichkeit sogar eine ihrer wichtigsten Aufgaben. Diese Aufgabe ist keineswegs eine Neuentdeckung dieser Tage, wie mancher Neuparlamentarier zu glauben scheint.28 Ebensowenig trifft zu, daß hier nichts geschehen wäre. Die Kommunikation des Abgeordneten mit Partei, Wählern und Interessengruppen nimmt in seinem Selbstverständnis und in seinem Zeitbudget einen hohen Rang ein.29 27

Nur als Beispiele: „Wir sind die Antipartei-Partei", Spiegel-Gespräch mit P.

KELLY, in: D e r S p i e g e l 2 4 / 1 9 8 2 , S. 4 7 f f , u n d W . - D . HASENCLEVER, D i e G r ü n e n

und die Parlamente, in: ZParl Heft 4, 1982, 13. Jg., S. 417-422. 28

S i e h e W . - D . HASENCLEVER, e b d . , u n d M . MOMBAUR, I m P a r l a m e n t u n d a u f

der Straße, in: J. Mettke (Hrsg.), Die Grünen, 1982, s. 135 ff. 29 Das ist im Grunde altbekannt. Die Ergebnisse eines am Passauer Lehrstuhl für Politikwissenschaft eben zum Abschluß gebrachten Forschungsprojektes über die Wahlkreiskommunikation der Abgeordneten des Bayerischen Landtags offenbaren ein ziemlich dichtes Kommunikationsnetz zwischen Abgeordneten, Bürgern, Verbänden, lokaler Parteiorganisation und Presse.

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Aber was geschieht, reicht offensichtlich nicht aus; anscheinend werden die lokalen Parteistrukturen dafür zu wenig genutzt. Die Aufgabe ist bekannt, sie ist bisher nur nicht angemessen erfüllt worden. Folglich stellt sich das Stragegieproblem gar nicht grundsätzlich. Es stellt sich nur dort, wo es sich nicht um eine integrierte, sondern um eine eigentlich genuin außerparlamentarische Strategie handelt, die in der Entschiedenheit ihrer Akzentsetzung vielleicht bereits eine antiparlamentarische sein mag. Antiparlamentarisch zumindest in dem Sinn, daß der Verfassungstyp repräsentativer parlamentarischer Demokratie nur als Zwischen- und Durchlaufphase akzeptiert wird.30 Das Strategieproblem stellt sich also nur dort, wo „das Parlament kein Ziel, sondern Teil einer Strategie ist" 31 , zu deren Effektivierung es nur als Tribüne gebraucht wird, um am Ende überflüssig zu werden. Es stellt sich, wo nicht die Verbindung zur Straße, sondern ihre Mobilisierung gegen die legitime parlamentarische Prozedur und Entscheidung gemeint ist und wo der Versuch unternommen wird, die Demonstration von Basis und Straße unmittelbar in die Parlamentsverhandlungen mit einzubeziehen, um Druck auf die Institution und ihre Beratungen zu erzeugen. Wenn die These zutrifft, daß repräsentative Demokratie kommunikative Demokratie sei, dann ist diese These gewiß ein Merkposten für eine öffentlichkeitszugewandte Gestaltung der Arbeitsweise der Parlamente. Andererseits markiert sie dann aber auch eine deutliche Grenzlinie für Gestalt und Form politischer Verhaltensweisen im parlamentarischen System und gegenüber seinen Institutionen: Jedes andere als in der Methode kommunikative Verhalten wäre ein fundamentales Mißverständnis parlamentarischer Demokratie. Die Fragen nach der Sicherung von Legitimität, nach der Verteidigung verfaßter Formen politischer Willensbildung gegen die Entformalisierungstendenzen neuer Spontaneität und nach Eingrenzung oder Entgrenzung der Gewalt erweisen sich als Fluchtpunkte der Diskussion über die Chancen, Konsens zu bewahren und Konflikte auszutragen. Diese Fragen sind Bewährungsproben für das Grundgesetz und das von ihm verfaßte politische System in den achtziger Jahren.

3 0 „Die parlamentarische Demokratie ist sicher besser als gar keine Demokratie. Es ist aber gar kein Geheimnis, daß für uns die parlamentarische Demokratie nicht gerade das Erstrebenswerteste, Glücklichste, Schönste ist, das man sich vorstellen kann." Spiegel-Gespräch mit Berliner AL-VERTRETERN, in: Der Spiegel 31/1981, S.56. 3 1 P. KELLY, Wir sind die Antipartei-Partei, (Anm. 2 7 ) S. 5 2 .

Neuer Konsens durch plebiszitäre Öffnung? JÜRGEN FIJALKOWSKI

I. Die Frage, ob plebiszitäre Öffnung neuen Konsens bringen kann, ist in bezug auf die Bundesrepublik eine Frage nach der Leistungsfähigkeit der gegebenen Institutionen parlamentarischer Demokratie. Am Eingang können zwei Feststellungen über Dissens und Entfremdung stehen. Erstens gibt es in der Bundesrepublik angesicht der Herausforderungen der 80er Jahre einige Streitfragen der Politik, zu denen erheblicher Dissens besteht. Er reicht bis zur Inanspruchnahme und Rechtfertigung von Widerstand und zivilem Ungehorsam. Zweitens gibt es Anzeichen ernstlicher Entfremdung zwischen den etablierten politischen Kräften und einer Bevölkerungsbasis, die sich offenbar in Generationsschüben stark zu verändern scheint. Diese Entfremdung hat die gegebenen Institutionen der parlamentarischen Demokratie zumindest zum Teil in Zweifel geraten lassen. Kann plebiszitäre Öffnung in dieser Lage etwas nützen? Die Frage nach der Eignung plebiszitärer Öffnung für die Gewinnung neuen Konsenses zwischen den verfeindeten Gruppen ebenso wie zwischen den Eliten und der breiten Bevölkerung wird im folgenden nicht deshalb gestellt, weil die neuen sozialen Bewegungen nach mehr direkter Demokratie verlangen. Sie wird vielmehr gestellt aus wissenschaftlich distanzierterer Sicht und in der übergeordneten Erwägung, daß mehrere Wege in Betracht kommen können, um einem Wachstum von Dissens und Entfremdung zu begegnen. Plebiszitäre Öffnung wird im folgenden also von vornherein nur als einer unter mehreren Wegen angesehen, der weder notwendig geeignet sein, noch zum Ziel führen muß. Dissens in Demokratien ist zunächst etwas Normales und Unproblematisches. Über Streitigkeiten — etwa zur richtigen Wirtschaftsund Sozialpolitik oder zur angemessenen Bau- und Mietpolitik etc. -

Neuer Konsens durch plebiszitäre Öffnung?

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vollzieht sich der inkrementale soziale Wandel, der den Hauptteil des sozialen Wandels ausmacht. Auch größere Richtungswechsel der Politik und die Verdrängung einer bisher vorrangigen Einflußkoalition durch andere Großinteressengruppen sind etwas Normales, wenngleich nicht mehr ganz so Alltägliches. Problematisch wird Dissens erst, wenn er die verfassungspolitische Dimension der grundrechtlich geschützten und zu schützenden Lebensprinzipien und der Verfahren legitimer Entscheidungsfindung bzw. der Strukturen des Regierungssystems erreicht. Das ist der Fall, wenn Dissens nicht nur große Bevölkerungsgruppen ergreift, sondern diese ihn als ausweglos betrachten, wenn Unversöhnlichkeit aufkommt, der Frieden in Gefahr gerät und Bürgerkrieg heraufzieht. Das Zeichen dafür ist, daß Gewaltsamkeiten um sich greifen, seien diese nun aggressiver oder repressiver Art. Es sind drei Gruppen von Bedingungen auszumachen, durch die solche Ernstlichkeit und Intensität von Konflikten gesteigert und durch die die verfassungspolitische Dimension der Auseinandersetzungen erreicht wird. 1 Die Intensität von Konflikten steigt: 1. mit der Höhe des Einsatzes, der für die Beteiligten auf dem Spiel steht, d.h. abhängig davon, ob der Verlust leicht zu verschmerzen wäre oder im Gegenteil die gesamte Lebensweise verändert würde — insbesondere dann, wenn Gewinne der einen Seite nur durch Verluste der Gegenseite möglich sind —, sowie mit dem Anteil derer, die sich zu Lasten der moderaten Mitte bei den Extremen konträrer Pro- und Kontra-Auffassungen versammeln, insbesondere wenn dies für die Meinungsführer und Eliten einer Gesamtbevölkerung gilt. 2. mit der Kumulation mehrerer oder vieler solcher Bruchlinien in einer Bevölkerung, die sich nicht etwa zahlreich durchkreuzen und dadurch die Bevölkerung in ein Vielfaches von sich überlagernden Teilgruppen fragmentieren, sondern die im Gegenteil eine Polarisierung zwischen wenigen Großgruppen fördern, durch die dieselben Menschen gleich in vielfacher Hinsicht gegeneinander abgegrenzt werden, weil etwa sowohl regionale wie ethnische, religiöse, berufssoziale, generationsmäßige, klassenmäßige und ideologische Unterscheidungen miteinander zur Deckung gebracht sind. 3. mit der Rigidität der Verfahrensvorkehrungen für legitime Ent1 Vgl. dazu R. DAHL über „Factors Affecting the Severity of Conflict", in: ders., Democracy in the United States: Promise and Performance, 1976 3 , Chapter 23, S. 3 2 7 ff.

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scheidungsfindung, insbesondere mit einer etwaigen Unausgewogenheit im Verhältnis von Interessenberücksichtigung und Entscheidungsmöglichkeit, wenn z.B. zwar breite Beteiligung an den Aushandlungsprozessen gegeben ist, aber durch die Verfahrensregeln die Möglichkeit behindert ist, zu einer Entscheidung zu kommen, bzw. auch umgekehrt, wenn zwar leicht zu einer Entscheidung gefunden werden kann, aber durch die Verfahrensregeln die Möglichkeit behindert ist, zu einer angemessenen Interessenberücksichtigung zu gelangen. Durch gut ausgewogene Verfassungsstrukturen und Verfahrensvorkehrungen kann in Situationen starken Einzel- oder gar kumulierten Dissenses immer noch zur Entspannung und Erfindung von Auswegen beigetragen werden, während schlecht ausgewogene Verfahrensvorkehrungen und Verfassungsstrukturen konfliktverschärfend wirken. 2 Die Frage nach Nutzen und Nachteilen plebiszitärer Öffnung zielt auf solche Verfahrensmodalitäten der Herbeiführung von als legitim akzeptierbaren Entscheidungen. Recht verstanden geht es also darum zu bestimmen, ob plebiszitäre Öffnungen des gegebenen — vermeintlich oder wirklich — geschlossenen repräsentativ-demokratischen Systems dazu beitragen können, den Gefahren der Dissensverschärfung und Konflikteskalation entgegenzuwirken. Die herrschende Meinung gibt eine im wesentlichen verneinende Antwort und beruft sich dazu ziemlich pauschal auf negative historische und komparative Erfahrungen. Dieser herrschenden Meinung steht eine Gegenmeinung gegenüber, die vor allem von Fundamentalkritik an den Oligarchie- und Korruptionstendenzen gegebener repräsentativ-demokratischer Institutionen lebt und deshalb nach verstärktem Rekurs auf den unmittelbaren Bevölkerungswillen verlangt. Beide Positionen müssen genauer betrachtet werden. Wir können uns keiner von beiden anschließen und müssen doch beiden teilweise Recht geben. Zunächst sind einige Beobachtungen zum Hintergrund der aufgetretenen Dissens- und Entfremdungsprobleme festzuhalten, so2 Die Implikationen dieser Einschätzung der die Prozesse der gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen formenden und steuernden Funktion von Verfassungsstrukturen und Verfahrensvorkehrungen sind geradezu konstitutiv für die Kernbereiche der Politikwissenschaft und politologische Analyse; vgl. dazu auch die Beiträge von FIJALKOWSKI und SCHARPF in: H.-H. Hartwich (Hrsg.), Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Selbstverständnis und Verhältnis zu den Grundfragen der Politikwissenschaft. Symposium der DVPW. 1985, S. 159 ff.

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wie einige Differenzierungen zum Begriff der plebiszitären Öffnung vorzunehmen.

II. Das Dissens- und Entfremdungsproblem scheint uns in der Bundesrepublik derzeit weniger darin zu liegen, daß es eine Kumulation von Bruchlinien gäbe, als vielmehr zunächst darin, daß einige Streitfragen hervorgetreten sind, in denen es um hohe Einsätze geht, und zu diesen Streitfragen sich Gegeneliten gebildet haben, die ihre öffentliche Resonanz aus der Lebens- und Existenzbedeutung dieser Streitfragen zu gewinnen vermögen. Ein Verfassungsproblem revolutionärer Größenordnung würde daraus erst werden, wenn jene Bruchlinien-Kumulation dazu käme und auch die Verfassungs-Verfahrensgrundsätze für die Gewinnung legitimer Entscheidungen in höherem Maße aufgekündigt würden. Tatsächlich aber ist in diesen Grundfragen der Dissens keineswegs so tiefgreifend und ausgedehnt wie es einige politisierte Verständnislosigkeiten zwischen den Generationen zunächst scheinen lassen. Daß die Menschen- und Grundrechte gelten sollen, und daß die Bundesrepublik ein demokratischer, föderaler und sozialer Rechtsstaat sein soll, von welcher der irgend relevanten politischen Kräfte wird das eigentlich in Frage gestellt? Allerdings gibt es gegenseitig Vorbehalte, ob diese Ziele im je konkreten Fall auch ernst genug genommen werden. Es ist also möglicherweise weniger die Option für eine andere Republik, als vielmehr die Reaktion auf die Kritik an der Erstarrung der gegebenen, die den Konsens bröckeln läßt. In der Bevölkerung gibt es starke Kritik an der Parteienstaatlichkeit, die sich akut von der Parteifinanzierungsaffäre nährt, sowie Kritik an gewissen Abgehobenheiten, die den parlamentarischen Betrieb zu kennzeichnen scheinen. Es gibt eine unübersehbare Zunahme unkonventioneller Beteiligungen an Politik, die im übrigen ein internationales Phänomen in den meisten der westlichen Industrieländer ist.3 Sozusagen im Rücken von vielen tausend zunächst sehr dispara3 Vgl. dazu S. H. BARNES, M. KAASE U. a., Political Action. Mass participation in Five Western Democracies, 1979. In Erinnerung zu rufen ist das Ergebnis einer Umfrage, die das Godesberger Institut für angewandte Sozialwissenschaft INFAS 1973 in der Bundesrepublik veranstaltet hatte und die zeigte, daß quer durch die Parteipräferenzen, Altersgruppen und Bildungsstufen hindurch 63% der Stichprobe der Meinung waren, wichtige politische Entscheidungen sollten durch die

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ten Einzelinitiativen wird, wie Guggenberger 4 formuliert hat, „in Umrissen so etwas wie eine Alternativprogrammatik zum, jenseits aller demonstrativen Streitbefangenheit vorherrschenden, Allparteienkonsens der parlamentarischen Sachmehrheiten sichtbar". Es gibt auch regelrechten "Widerstand gegen manche politischen Projekte und fundamentale Zweifel an der Weisheit getroffener Entscheidungen, die z. T. von erheblicher Kraft sind. In der konkreten Wirklichkeit finden sich Leben und Zukunft der Menschen von den Gefahren unabsehbarer technischer Großprojekte bedroht, und die Äußerung ihres freien Eigenwillens sieht sich durch undurchschaubare Oligarchien und Bürokratien überfremdet. Betroffenen-Initiativen, die sich gegen Vorhaben wie Durchführung der Politik der Parteien, Parlamente, Regierungen und Verwaltungen richten, haben sich zu einer Bewegung solcher Vitalität formiert, daß in der Gemeinsamkeit ihrer Negation der etablierten Politik sich fast schon so etwas wie ein eigenes verfassungspolitisches Programm zu erkennen gibt. „ O b w o h l . . . nicht ursprünglich auf die verfassungspolitische Dimension bezogen, setzen die Mechanismen latenten Legitimitätszweifels die Relativierungs- und Pazifizierungsfunktion verfassungspolitischer Grundüberzeugungen zumindest partiell außer Kraft. Es droht der Abbruch demokratischer Auseinandersetzung, obwohl keineswegs prinzipiell Zweifel an Sinn und Wert demokratischer Konfliktkanalisierung die ursprüngliche Stoßrichtung bezeichnen." 5 Das alles konvergiert zu einer sich eher ausbreitenden Generalkritik an Erstarrungserscheinungen der etablierten Politik. Sie gibt ganz neuen Kräften Auftrieb, und zwar weit hinaus über die vordergründigen Programmpunkte des Umweltschutzes, der Bürgernähe oder des Engagements für den Frieden. Gelegentlich wird die Kritik an oligarchischen Erstarrungen auch hochstilisiert zu der Auffassung, daß der alte Konsens der parlamentarischen Repräsentativdemokratie bloße ideologische Verhüllung geworden sei, daß die Demokratie vom Bürger in direkten Volksabstimmungen getroffen werden, während nur 2 2 % der Meinung waren, dies sollten die Parteien und die gewählten Politiker allein tun und das Volk könne sich mit der Wahl begnügen; 1 5 % antworteten: weiß nicht; vgl. M. MÜLLER, Repräsentativerhebung: Einfügung plebiszitärer Elemente in die Verfassungsordnung der Bundesrepublik? in: ZParl Heft 2, 1974, 5. Jg., S. 143 ff. 4 B. GUGGENBERGER, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, in: B. Guggenberger/C. Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel. 1984, S. 185. 5

B . GUGGENBERGER, e b d .

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Bündnis zwischen bürokratischer Exekutive und mächtigen Verbandsinteressen der Großindustrie und der Gewerkschaften vereinnahmt werde, und daß das System deshalb der Uberwindung durch die basisdemokratische Bewegung und ihrer direkt-demokratischen Formen bedürfe. Dies ist dann die Operationslinie von solchen Teilen der grün-alternativen Bewegung, die sich als eine außer- und eher antiparlamentarische Kraft nach rätedemokratischen Optionen verstehen und sich derzeit, angesichts eigener Schwäche, auf die Defensivposition der Fundamentalopposition und einer strikten Koalitionsverweigerung zurückziehen. Die etablierte Politik reagiert auf solche Legitimitätszweifel und kritische Gegenbewegungen in einer recht unsicheren Weise. Einerseits ruft sie mit Recht zu moralischer Selbstreinigung und zu vermehrten Anstrengungen der Rückgewinnung von Bürgernähe auf. Andererseits begreift sie den Einzug der Grünen und Alternativen in die Parlamente pointiert als eine Gefahr, der man nicht durch Öffnung, sondern im Gegenteil durch deutliche Ausgrenzung begegnen sollte. Dies scheint etwa die Operationslinie zu sein, die der Generalsekretär der CDU im Spätsommer 1984 hat eröffnen wollen6: Neuer Konsens ja, aber nicht durch plebiszitäre Öffnungen, sondern im Gegenteil durch Hervorhebung der repräsentativen Geschlossenheit und durch Zurückverweisung der Alternativbewegung in die Schranken strikter Legalitätsbedingungen für die politische Betätigung. Man pocht auf die Legalität getroffener Entscheidungen, ermahnt zu Gesetzesgehorsam und dringt auf rechtsstaatliche Durchsetzung. Möglicherweise vertiefen solche Reaktionen aber nur die Legitimitätszweifel, weil sie den eigentlichen Ursachen nicht auf den Grund gehen. Durch kurzschlüssige Feinderklärungen und Verdächtigungen, andere wollten auf eine andere Republik hinaus, trägt solche Uberreaktion möglicherweise selbst zur Problematisierung des Grundgesetzes wesentlicher bei als die von den Alternativbewegungen vorgebrachte Kritik. Es könnte doch sein, daß die Protestbewegungen und ihr Einzug in die Parlamente in der Hauptsache Revitalisierungen eines Konsenses bedeuten, der im Grunde der ältere ist und auf die Entstehungszeit der Bundesrepublik zurückverweist, und daß die Brüchigkeit des Konsenses wesentlich von Verengungen des Verfassungsverständnisses der Etablierten ausgegangen ist. Dann wäre plebiszitäre 6 Vgl. dazu „Die Grünen. Eine Analyse der öko-marxistischen Radikalopposition", in: CDU-Informationsdienst Nr. 28, hrsg. vom Parteivorstand der CDU, Sept. 1984.

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Öffnung weder von vornherein als Vergrößerung einer Gefahr noch von vornherein als große, alternative Hoffnung zu verstehen, sondern könnte nüchtern daraufhin geprüft werden, ob, wie und in welchen Grenzen sie ergänzende Hilfen zur Uberwindung gewisser Gefahren der Verengung und Erstarrung in unserer politischen Kultur bieten kann. Vor allem könnten die eigentlichen Ursachen für die aufgetretenen Legitimitätsprobleme noch unterhalb der Ebene liegen, auf der sowohl die Kritik an der Oligarchie als auch die Reaktion auf diese Kritik angesiedelt sind. Beider Auseinandersetzung könnte gemeinsames Indiz für tiefergelegene Strukturprobleme sein. Das ist in der Tat die im folgenden vertretene These. Die genannten Reaktionen der etablierten Politik, die nur zu Verhaltensänderungen auf der individuellen Ebene einerseits, zur strikten Legalitätsdurchsetzung gegen Widerstand andererseits raten, erscheinen dann in dem Maße unangemessen, in dem es strukturelle Mißverhältnisse sind, auf die die Ausbreitung der Legitimitätszweifel zurückzuführen wären. Mängeln in der Organisation und in der Ablaufstruktur der Verfahren politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung läßt sich weder durch hortative noch durch repressive Mittel wirklich beikommen, weil beide Mittel auf der Ebene bloß individuellen subjektiven Verhaltens liegen.

III. Nennenswert als strukturelle Hintergründe der bestehenden Zweifel an der Rationalität der Formen der Politik scheinen uns vor allen zwei Dinge 7 : — die historisch dramatische Vergrößerung der Tragweite von Entscheidungen in Verbindung mit einer Veränderung des Stellenwerts des Gesetzes, im Vergleich zu der die Zahl und der Artenreichtum der Sicherungen und der Einspruchsmöglichkeiten zu klein wirken, — die ebenfalls erheblich gewachsene Differenzierung der Betroffenheiten und der Lebenslagen der Menschen, im Vergleich zu denen 7 Vgl. zum folgenden auch J. F i j a l k w o s k i , Wahlen im Spannungsfeld von Vefassung und Verfassungswirklichkeit - verfassungspolitische Aspekte möglicher Koalitionsprobleme nach polarisierendem Wahlkampf bei Existenz einer Sperrminorität, in: H.-D. Klingemann/M. Kaase (Hrsg.), Wahlen und politischer Prozeß Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1983, 1985 (i. E.).

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die gegebenen Beteiligungsformen und Ausdrucksmöglichkeiten der Politik zu plump wirken und Verdrängungseffekte des parlamentarischen Alternanzprinzips sich bemerkbar machen. Durch die Verwissenschaftlichung der Zivilisation, insbesondere der großtechnischen Produktion, und die gleichzeitige Ausdehnung internationaler Interdependenzen sind die räumlichen, zeitlichen und sachlichen Abstände zwischen Entscheidungsbeteiligten und Entscheidungsbetroffenen erheblich vergrößert worden. Zugleich ist das Gewicht von Entscheidungen erheblich gewachsen wegen des Ausmaßes an Eigendynamik, das sie freisetzen und das ihre Reversibilität zunehmend beschränkt. Der Wind trägt die Industrieabgase räumlich über viele Landesgrenzen hinweg und schädigt die Böden von Menschen, die keine Beteiligungsrechte an den Entscheidungen der Schadensverursacher haben. Die mit öffentlichen Subventionen geförderte Einführung einer neuen Informationstechnik zeitigt sachlich Folgen für abertausende von Arbeitsplätzen selbst in entfernten Berufen, auf denen frisch qualifizierte Berufsneulinge sich eben noch dauerhaft sicher meinten. Die Abfälle aus der Nutzung der Kernenergie schaffen Endlagerungsprobleme, mit denen zeitlich viele Generationen von Ungeborenen unvermeidlich belastet werden müssen. Dies sind Entscheidungsmaterien einer historisch neuen Qualität von Tragweite, die in Zweifel geraten läßt, wie sie überhaupt noch sollen verantwortet werden können. Das Mißverhältnis zwischen solcher gewachsener Tragweite der Entscheidungen einerseits, der Zahl und dem Artenreichtum der Sicherungen andererseits, kann an den bisherigen Erfahrungen mit Genehmigungsverfahren für großtechnische Anlagen gut demonstriert werden. Da hat häufig genug am Anfang das Angebot an Expertenwissen der Interessenten, der Betreiber der Anlagen, gestanden, und der zuständigen Bürokratie ist es nicht ohne Mühe gelungen, mit Hilfe von Gutachtern und Sachverständigenbeiräten auf die Höhe dieses Sachverstands zu kommen. Entsprechend erfolgte dann die Empfehlung an die verantwortliche Regierung, die sie auch übernahm, wobei die Rolle der Parlamentarier vergleichsweise marginal blieb. Dann aber gab es Bürgerprotest von seiten irgendwelcher Betroffener, die Bildung einer Initiative und erhebliche Mobilisierung von weiterem neuem Sachverstand, der dem Sachverstand der interessierten Betreiber und der Genehmigungsbehörden die Interessengebundenheit nachzuweisen versuchte und andere Sichtweisen mit nicht minder starker Expertenargumentation zu unterstützen vermochte.

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Die Parteien und die gewählten Abgeordneten sind häufig erst im Zuge dieser direkten Auseinandersetzungen zu dem gehörigen Problembewußtsein erwacht. Die Auseinandersetzungen haben auch gerne den Weg zu den Gerichten gesucht, und deren Sprüche haben dann klar gemacht, daß die gesetzlichen Grundlagen der Entscheidung in der Tat voller Undeutlichkeiten sein mochten. Sachverstand und Verantwortungsernst der gewählten Politiker haben im Vergleich zu denen der anderen Beteiligten auf Seiten der Industrie oder der Behörden, der Gerichte und der Bürgerinitiativen oft nur blaß gewirkt und erst sehr spät, wenn überhaupt, die Höhe der Intellektualität wie der Moralität der direkt verwickelten Streitkontrahenten und ihrer Anwälte erreicht. Andererseits aber handelt es sich um Entscheidungen von so erheblicher Tragweite, daß ihre Folgen die zeitlich und räumlich noch entfernt betroffenen Generationen und Regionen eher stärker berühren als die Nächstbeteiligten. Das ungewisse Endlagerungsproblem wird ja kumulativ größer, wenn erst der Weg für die Atomwirtschaft in voller Breite geöffnet ist. Außerdem sind solche Entscheidungen kaum noch reversibel. Im Vergleich dazu gibt es in der Tat sehr wenig politische Öffentlichkeit und öffentliche Verantwortung der Entscheidungen und sehr wenig politische Sicherungen für umfassende Berücksichtigung der individuellen und der kollektiven Langfristinteressen. Dazu kommt die Veränderung, die der Stellenwert der Gesetze im Zuge der Ausbreitung jener Langfrist- und Weitraum-Orientierungen politischer Steuerung erfährt, weil diese das Gesetz nicht mehr den Abschluß eines Vorgangs der Willensbildung und Entscheidungsfindung sein lassen, der fortan Geltung beanspruchen kann, sondern weil sie es zum Bestandteil von längerfristigen Planungen machen, in denen die Novellierung des Gesetzes von vornherein vorgesehen und offengehalten werden muß.8 Angesichts der demographischen Entwicklungen antizipiert die Bundeswehrplanung bereits Situationen, die erst in Jahrzehnten eintreten werden und für die gleichwohl schon jetzt Änderungen der Wehrdienstgesetze vorgesehen werden müssen, über die erst ein noch gar nicht gewähltes Gremium zu entscheiden haben wird. So wird die Verantwortbarkeit der Entscheidungen ebenso wie die 8 Dazu sehr subtil T. ELLWEIN, Gesetzgebung, Regierung, Verwaltung, in: E. Benda/W. Maihofer/J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, Band 2,

1 9 8 4 , S. 1 0 9 3 - 1 1 4 7

(1113).

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Verantwortlichkeit der Entscheidungsbefugten auf eine Weise problematisch, die als dramatisch erlebt wird, weil sie sich in einer Art großem historischen Bewußtseinsschub zu manifestieren scheint. Aber nicht genug damit. Die zivilisatorische Entwicklung bringt außerdem eine eigentümliche Differenzierung und Politisierung der Lebenslagen mit sich. Es sind in schneller Folge innerhalb ein und desselben Lebens immer wieder andere Betroffenheiten, in denen man auf aktive Interessenvertretung gegenüber einer ringsum interventionistischen Politik angewiesen ist, und zugleich immer wieder andere Personengruppen, mit denen man sein spezifisches Interesse als Berufstätiger, als Verkehrsteilnehmer, als Verbraucher, als Rentenempfänger, als Mieter, als Ehegatte und Verwandter, als Versicherungsnehmer, als Patient, als Bausparer, als Kontoinhaber, als Elternteil, als Fernsehzuschauer etc. gemeinsam hat. Demgegenüber aber wirkt das geltende Alternanzprinzip bei der Wählerentscheidung zwischen wenigen Parteien, die zum regierenden und opponierenden Lager zusammentreten, außerordentlich selektiv. Der Fall, daß man sich in der einen Streitfrage durch die eine Partei, in der anderen Streitfrage besser durch die zweite Partei und in einer dritten am besten durch die dritte Partei vertreten fühlt, bei der Wahlentscheidung aber für ein integriertes Programm voller dilatorischer Formulierungen hat votieren müssen, dieser Fall wird häufiger. Integration durch Programme wird schwieriger. Entsprechend werden auch die Vorbehalte gegen die Hingabe pauschaler Legitimationen größer. Es werden weitere Wege des Ausdrucks für spezifische Interessen und des Ausdrucks spezifischer Betroffenenbeteiligung an den Entscheidungen gesucht. Allgemein wird beobachtet, daß Politik politischer wird, daß Fluktuation von Wählern zunimmt, daß Dissens in Einzelfragen geäußert wird etc. Die Gesamtprogramme der zum Regierungslager bzw. zum Oppositionslager zusammentretenden Volksparteien müssen demgemäß immer abstrakter und dilatorischer formuliert werden, um die unterschiedlichsten Auffassungen noch hinter ihren Formulierungen vereinen und von offenem Widerspruch abhalten zu können. Folglich verlieren sie aber auch an realer Bedeutung für die Meinungs- und Verhaltensorientierung. Der Streit der Politik und der Interessen fängt sozusagen erst jenseits der Grundwerte wieder an und wird heftiger, je konkreter das Dezidendum ist. Folglich hat auch die einzelne Streifrage im Vergleich zum Gesamtprogramm einen wachsenden Stellenwert, und folglich nimmt auch die Wahrscheinlichkeit ab, daß die Repräsentanten in der Tat echte Mehrheiten repräsentieren. Unter

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Politologen ist inzwischen das sogenannte Ostrogorski-Paradox Gemeingut.9 Die Unverantwortbarkeitseffekte der Tragweitenvergrößerung von Entscheidungen einerseits und die Effekte der Verdrängung spezifischer Interessenlagen andererseits, die das parlamentarische Alternanzsystem der Volksparteienkonkurrenz begleiten, wirken zusammen als Erschütterung des verfassungspolitischen Grundkonsenses und in Richtung eines steigenden Widerstandsvorbehalts der Bürger gegenüber den Legalitätsansprüchen der Politik. Mit Veränderungen im Bereich des individuellen Verhaltens der politischen Kultur ist solchen Problemen nicht hinreichend beizukommen, wenngleich sie zweifellos notwendig sind. Es bedarf darüber hinaus struktureller, institutionell-organisatorischer Eingriffe, insbesondere weiterer Differenzierungen der gegebenen Strukturen der Volks- und der Staatswillensbildung. Dazu bedarf es also nicht eines neuens Konsenses im Sinne des Übergangs in eine andere Republik, vielmehr einer erneuten Vergewisserung des alten Konsenses und allerdings einer Weiterentwicklung der Formen, damit die alte Republik lebenskräftig zu bleiben vermag. Die Summe der nötigen Überlegungen wäre eine Wieder-

' Das Ostrogorski-Paradox hat im Anschluß an H. und P. W. Rae zuletzt C. OFFE, Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung?, in: B. Guggenberger/C. Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984, S. 163 formuliert: Wenn es a) weniger Parteien als politische Streitfragen gibt und die Parteien vielmehr Plattform-Parteien sind, die in ihrer Wahlaussage zu mehreren Streitfragen Stellung nehmen und wenn b) Wähler sich „issue-orientiert" entscheiden (d.h. nicht einer bestimmten Partei treu sind, sondern jeweils die Partei wählen, die bei den meisten der Streitfragen die jeweils vom Wähler präferierte Alternative anbieten), dann kann der Fall eintreten, daß Partei Y gewinnt, obwohl die von Partei X vorgeschlagenen Alternativen jeweils mehrheitlich bei den Wahlen Anklang finden, wie folgendes Beispiel zeigt: Wählergruppen

Anteil 1

A B C D

20% 20% 20% 40%

Mehrheiten für Partei X nach Issues

Streitfragen-bezogene Parteipräferenz für issue 2 3 Wahlerg. n. Wählergruppen

X Y Y X

Y X Y X

Y Y X X

60%

60%

60%

Y Y Y X

Wahlergebnis insges.

Partei Y siegt mit 60% der Stimmen

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aufnähme der Verfassungsreformdiskussion, die 1976 stehengeblieben ist. 10 Hier soll es nur um einen Aspekt dazu gehen, nämlich die sogenannte plebiszitäre Öffnung.

IV. Nun gibt es Konzepte für strukturelle Veränderungen, an die zwar beim Stichwort plebiszitäre Öffnung gedacht werden könnte, die aber eher als schiefe Ebenen anzusehen wären, auf denen man in der Tat eher in die Funktionslogik anderer Systeme abrutschen würde, als daß sie geeignete Mittel zur Behebung der genannten Schwierigkeiten werden könnten. Solche Konzepte beinhalten vor allem verabsolutierende Idealisierungen von Basisdemokratie, Konsensprinzip und imperativem Mandat. Das Bundesprogramm der Grünen vom März 1980 klingt diesbezüglich sehr ambivalent, wenn es zur Erläuterung des basisdemokratischen Prinzips formuliert: „Wir gehen davon aus, daß der Entscheidung der Basis prinzipiell Vorrang eingeräumt werden muß . . . Kerngedanke ist dabei die ständige Kontrolle aller Amtsund Mandatsinhaber und Institutionen durch die Basis (Öffentlichkeit, zeitliche Begrenzung) und die jederzeitige Ablösbarkeit, um Organisation und Politik für alle durchschaubar zu machen und um der Loslösung einzelner von ihrer Basis entgegenzuwirken." Als seither viel erörterter Verfahrensgrundsatz für die Willensbildung und Entscheidungsfindung gilt das Konsensprinzip, wonach Mehrheitsentscheidungen tunlichst vermieden werden und man vielmehr solange verhandelt, bis möglichst jeder Einwand berücksichtigt ist und auf Gegenstimmen verzichtet wird. Als derzeit bestehendes Grundübel und große Gefahr auch für die Alternativbewegung gilt danach die sogenannte Stellvertreterpolitik, in der die oligarchischen Kräfte über die Demokratie triumphieren und die mündigen Bürger sich als Mandanten zu bloßen Klienten herabgesetzt finden. Entsprechend wird nicht nur an verbesserte und intensivierte Kommunikation zwischen Bürgern und Abgeordneten oder an vermehrte Öffent1 0 Vgl. „Fragen der Verfassungsreform. Zwischenbericht der ENQUETEKOMMISSION des Deutschen Bundestages", in: Zur Sache - Themen parlamentarischer Beratung, hrsg. vom Presse- und Informationszentrum des Deutschen Bundestages, Nr. 1 , 1 9 7 3 , sowie den Schlußbericht der ENQUETE-KOMMISSION, Beratungen und Empfehlungen zur Verfassungsreform (I) und (II), in: Zur Sache - s.o. - ,

Nr. 3,1976, Nr. 2,1977.

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lichkeit bei Entscheidungsfindungsverfahren, sondern an Verkürzung von Wahlzeiten, an Rückrufbarkeit und an bindende Aufträge gedacht. Man muß sehen, daß diese Optionen zum Teil nur als Korrektur und Ergänzung zu bestehenden parlamentarischen Formen gemeint sind. Doch beinhalten sie eben auch stark pointierte Ansprüche auf Übergang zu neuen Verfassungsformen einer vorrangig direkten Volksgesetzgebung in allen Lebensfragen. Wiederum ist einschränkend zunächst festzuhalten, daß im Prinzip rechtsstaatliche Demokratie auch auf andere Weise realisiert werden kann als durch das parlamentarische Regierungssystem. Auch eine plebiszitäre Regierungsweise — mit starker Betonung der Direktentscheidung von Sachalternativen durch Abstimmungen des als Verfassungsorgan tätig werdenden Volkes und einer von der Volksvertretung nicht abberufbaren, sondern auf Zeit gewählten autorisierten Direktorialregierung — kann rechtsstaatliche Demokratie sein, was der Schweiz ja niemand bestreiten wird und einen Anwalt des Schweizer Modells demgemäß auch nicht zum Verfassungsfeind machen würde. Ebenso sind das Präsidialsystem mit plebiszitärer Grundlage und strikter Gewaltenteilung zur Legislative nach USVorbild oder ein Präsidialsystem nach französischem Vorbild rechtsstaatliche Demokratien. Wer von plebiszitärer Öffnung spricht, muß also sagen, was wirklich gemeint ist. Dennoch kann man auf die besagte schiefe Ebene geraten, wenn man historische und komparative Erfahrungen nicht beachtet und naiven Ideologisierungen erliegt. Verstanden als Alternativmodell der Konsens- und Souveränitätsdemokratie — in polarisierender Abgrenzung zum konkurrenzdemokratischen Verfassungsstaat — haben basisdemokratische Konzepte einen stark ideologieverdächtigen Charakter. 11 Sie machen den pouvoir constituant sozusa11 Eine positive verfassungs- und parteienrechtliche Würdigung der basisdemokratischen Konzeptionen der Grünen hat jetzt unternommen: R. STÖSS, Die Grünen und das Grundgesetz, Vortragstyposkript, 1 9 8 4 ; vgl. kritisch im übrigen W. STEFFANI, Zur Vereinbarkeit von Basisdemokratie und parlamentarischer Demokratie, sowie H. OBERREUTER, Abgesang auf einen Verfassungstyp?, beide in: „Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zu: Das Parlament, Nr. 2 / 8 3 . Bereits C. SCHMITT, Volksentscheid und Volksbegehren, 1 9 2 7 , hat deutlich die Grenzen der Vereinbarkeit von parlamentarischem System und plebiszitärer Demokratie erkannt und benannt, in der Alternative zwischen beiden allerdings nicht eindeutig für das parlamentarische System entschieden. Als Alternative zwischen plebiszitärer und repräsentativer Demokratie, in der sie gegen die erste plädieren, behandeln das Problem auch: W. WEBER, Mittelbare und unmittelbare Demokratie, in:

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gen zur Alltagsgröße und übertragen die Primärgruppenmoral auf die Großgesellschaft, vor deren Komplexität sie dann aber zum Scheitern verurteilt ist, so daß sie de facto zur bloßen ideologischen Bemäntelung für neue Elitenherrschaft werden können. Die Idealisierungen der Konsensdemokratie und der vorrangig direkten Entscheidung des Volkes über alle seine öffentlichen Angelegenheiten ergibt keine realistisch funktionsfähigen Formen der Willensbildung und Entscheidungsfindung in der komplexen Großgesellschaft. So ist unmittelbar einleuchtend, daß sie nur in kleineren Gemeinwesen praktizierbar ist, d. h. umgekehrt dort, wo ein direkter Austausch zwischen Menschen nicht mehr möglich ist, auch die Bestimmung öffentlicher Belange allein durch direkten Volksentscheid nicht mehr realisierbar erscheint. Die Schwierigkeit, erkennbar zu machen, was der Volkswille in Großgesellschaften ist, verführt auch dazu, mit Vereinfachungen und Identifikationen zu arbeiten: Ein Führer verkörpert den Volkswillen und gewinnt seine Autorität aus Akklamation. In der Tat sind ja die Bonapartistischen Exempel seit dem Staatsstreich von 1851/52 in Frankreich bis zu den Legitimationen, die Hitler sich 1934 für die Übernahme des Reichspräsidentenamtes, 1938 für den Einmarsch in Österreich aus Volksabstimmungen holte, abschreckende Beispiele. Diese Form plebiszitärer Äußerung des Volkswillens hat die cäsaristischen Züge und die damit verbundenen Gefahren, die man ihr nachsagt. Die naive Idealisierung der Konsensdemokratie führt über die bloße Abstützung einer möglicherweise berechtigten Kritik durch einfache Negation nicht hinaus und konstruiert bloße utopische Gegenbilder. Ihre Funktion liegt denn auch stärker in der Beihilfe zur Destabilisierung gegebener Formen und, in Grenzfällen, auch zur Ermutigung anarchischen Verhaltens, das wiederum cäsaristischen Festschrift für K. G. Hügelmann, 1959; M . E. RITTERBACH, Repräsentative und direkte Demokratie, 1 9 7 6 ; Schlußbericht der ENQUETE-KOMMISSION Verfassungsreform, vgl. Anm. 10; E.-W. BÖCKENFÖRDE, Demokratie und Repräsentation Z u r Kritik der heutigen Demokratiediskussion. Landeszentrale für politische Bildung Niedersachsen, 1 9 8 3 : A. GREIFELD, Volksentscheid durch Parlamentswahlen und Abstimmungen vor dem Grundgesetz der Demokratie, 1 9 8 3 . Vgl. auch die Tagung der DEUTSCHEN VEREINIGUNG FÜR PARLAMENTS FRAGEN im Dezember 1983. Hingegen nicht als Alternativproblem, sondern eher als Balancierungsproblem mit Vorrang für die repräsentative Komponente wird im Anschluß an E. FRAENKEL, Deutschland und die westlichen Demokratien, 1973 5 , das Problem behandelt bei W. STEFFANI, S. o.; vgl. auch H . SCHEER, Direkte oder repräsentative Demokratie, in: ders., Mittendrin, 1982.

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Bewegungen willkommene Gelegenheiten der Selbstrechtfertigung bietet. Wird plebiszitäre Öffnung verstanden als Abwendung von der parlamentarischen Demokratie und als Hinwendung zu Alternativformen einer vorrangig direkten Demokratie, die von außerparlamentarischen Aktionen her einzuführen wäre, so ist solche plebiszitäre Öffnung sicher kein geeignetes Mittel zur besseren Bewältigung der oben geschilderten Legitimationsprobleme. Sie würde nur vertiefte Effizienzprobleme aufwerfen, d. h. die Regierbarkeit des Gemeinwesens noch mehr erschweren, als dies ohnehin ist, und damit hinterrücks eher genau den cäsaristisch-autoritären Lösungen zuarbeiten, denen die antioligarchische Option vordergründig doch gerade widerstrebt.

V. Jedoch muß plebiszitäre Öffnung nicht notwendig solche reinen Modelle einer endlich durchgesetzten Souveränitätsdemokratie 12 meinen. Vielmehr gilt es, zunächst die Vielfalt der Formen für die Ausübung direkter Volksrechte zu vergegenwärtigen. Auch ist der gegebene demokratische Verfassungsstaat ganz diesseits jener Alternativen durchaus weiterer Demokratisierung fähig. Was in der Realität begegnet, sind ja nicht die Idealtypen, sondern Mischsysteme aus repräsentativ-indirekten wie plebiszitär-direkten Elementen. Übersichtlich und treffend heißt es in Artikel 20, Abs. 2 des Grundgesetzes, daß das Volk die von ihm ausgehende Staatsgewalt „in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der Vollziehung und der Rechtsprechung" ausübt. Schon Wahlen also und nicht nur Volksabstimmungen sind sicher plebiszitär-direktdemokratische Akte des Volkswillens, und die Ausübung der Staatsgewalt ist außer durch besondere Organe im Namen des Volkes auch durch Formen direkter Beteiligung des Volkswillens konstruierbar. Die jeweiligen Mischungen der Elemente können, je nach Lage der Umfeld- und Wirkungsbedingungen für Verfassungen, durchaus veränderungsfähig und -bedürftig sein. Hält man bezogen auf die Vorgänge zur Herbeiführung verbindlicher Entscheidungen für gemischt repräsentativ-plebiszitäre Systeme einerseits Initiativ-Instanzen und andererseits Entscheidungs-Instan1 2 Zur Gegenüberstellung von Souveränitätsdemokratie und demokratisiertem Verfassungsstaat vgl. M. KRIELE, Einführung in die Staatslehre, 1 9 7 5 , insbes. S. 2 2 4 ff.

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zen auseinander, so sieht man, daß auf der Seite der Initiativinstanzen neben dem Staatsoberhaupt und der Regierung, der Parlamentsmehrheit und der Parlamentsminderheit auch unmittelbare Begehren aus dem Volke Initiativ-Instanz sein können, während auf der Seite der Entscheidungsinstanzen wiederum sowohl die gewählte Volksvertretung als auch das Volk mit direkt herbeigeführten Willensäußerungen als Entscheidungsinstanz denkbar sind. Die Kombination dieser Möglichkeiten ergibt, bei entsprechend vereinfachender Zusammenfassung, wenigstens fünf Grundtypen direkter Volksbeteiligung an der Herbeiführung verbindlicher Entscheidungen. Es sind Grundtypen, die über die reine Form der Parlaments- und Repräsentantenentscheidung hinausgehen. Es sind dies die folgenden Grundtypen, die alle innerhalb der vom Wahlakt abgeleiteten Legitimation von Abgeordneten als Vertreter des Volkes verbleiben 13 : Typen von Entscheidungsabläufen in gemischt plebiszitär-repräsentativ verfaßten Regierungssystemen Initiativinstanz

Staatsoberhaupt oder Regierung Parlamentsmehrheit Parlamentsminderheit Begehren aus dem Volk Verfassungsobligation

Entscheidungsinstanz mit Mehrheitsbeschluß: Parlament Volk Typ B 1 Typ B 2 Typ A

Typ C TypD Typ E

— die Massenpetition aus dem Volke an das Parlament oder, ihr verwandt, auch die aus dem Parlament oder der Regierung mobilisierte konsultative Volksbefragung, bei der die Entscheidung jedoch dem Parlament vorbehalten sowie rechtlich freie Parlamentsentscheidung bleibt (Typ A); — das Plebiszit im engeren Sinne, d. h. eine nicht aus dem Volk und auch nicht von einer Parlamentsminderheit, sondern von der Regierung initiierte Abstimmung des Volkes über eine Regierungsvor13 Die folgenden Unterscheidungen stellen bereits Vereinfachungen durch Zusammenfassung von Möglichkeiten dar, die sehr viel differenzierter noch gefaßt werden können. Sehr sorgfältig hat dies getan K. G. TROITZSCH, Volksbegehren und Volksentscheid. Eine vergleichende Analyse direktdemokratischer Verfassungsinstitutionen, 1979.

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läge, zu der keine Alternative vorgelegt werden kann, die jedoch eine Ja/Nein-Entscheidung enthalten mag. Dies ist die Form cäsaristischer Akklamation im präsidentiellen Regierungssystem, die durch Louis Bonaparte 1852 berühmt-berüchtigt wurde, aber auch von einer Parlamentsmehrheit im parlamentarischen Regierungssystem praktiziert werden kann oder, wie in der Schweiz, als sogenanntes Behördenreferendum vorkommt. (Typ B 1 und 2) — der Volksentscheid im engeren Sinne, bei dem zu einer unter den Parteien umstrittenen Frage das Parlament schon vorentschieden hat, nun aber auf Begehr der unterlegenen Minderheit, sei es im Parlament oder/und sei es aus dem Volk direkt, Einspruch eingelegt und die Schiedsentscheidung der vereinten constituencies entweder in der Sache oder zumindest über Parlamentsauflösung und Neuwahl herbeigeführt wird. (Typ C vor allem) Im Falle von Ablehnung der Vorlage durch das Volk kommt allerdings überhaupt keine Neuerung zustande, und das Volk kann in der Sache nicht etwa auch gegen den Willen der Mehrheit der Abgeordneten etwas Eigenes entscheiden: Das wäre der Fall der Volksinitiative. Im übrigen kann es Vorkehrungen für einzuhaltende Fristen geben, durch die eigens Gelegenheit zu solchen Einsprüchen und Möglichkeiten der Herbeiführung von Schiedsentscheidungen des Volkes geschaffen wird; — die Volksinitiative im engeren Sinne, d. h. die Herbeiführung von Volksentscheiden nach Volksbegehren als direkten Sachabstimmungen auf Initiativen hin, die von einer Parlaments- oder Parteienminderheit ergriffen werden oder an denen die Abgeordneten und die Parteien sozusagen erst en passant und beschränkt auf Konsultation beteiligt werden, bei denen die Entscheidung in jedem Falle aber auch gegen den Willen der Mehrheit der gewählten Abgeordneten zustande gebracht werden kann (Typ D); — neben den genannten Formen, die fakultative Formen der Äußerung direkten Volkswillens in der Initiativinstanz und/oder der Entscheidungsinstanz sind, muß noch die obligatorische Form des Referendums festgehalten werden, bei der von Verfassungs wegen zu bestimmten Materien — wie etwa Verfassungsänderungen selbst — direkte Volksentscheidung herbeizuführen ist (Typ E). Im Vergleich dieser verschiedenen Grundtypen erkennt man leicht, daß plebiszitäre Öffnung für ein parlamentarisches Regierungssystem außerordentlich Verschiedenes bedeuten kann und daß sich auch das Problem der Eröffnung schiefer Ebenen zu anderen Regierungssyste-

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men hin weder in allen Fällen gleichermaßen, noch überhaupt in allen Fällen stellt. Wichtig ist im übrigen auch, wieviele dieser verschiedenen Typen institutionalisiert und welche etwa ausgeschlossen sind. So ergibt der Vergleich: — Die sogenannte konsultative Volksbefragung ist von der Massenpetition nicht sehr gravierend unterschieden und letztere in der Bundesrepublik nicht nur gewährleistet, sondern scheint sich auch zunehmenden Gebrauchs zu erfreuen. — Verfassungsmäßig institutionalisierte obligatorische Referenden setzen eine Unterscheidung zwischen Entscheidungsmaterien fundamentaler und weniger fundamentaler Bedeutung voraus und eignen sich insofern insbesondere zu Schutz und Verstärkung geltender verfassungspolitischer Grundentscheidungen über Prinzipien und Verfahren, d. h. also zur Sicherung gegen die Entstehung schiefer Ebenen. Ist für sehr viele Materien der Rechtsetzung ein Volksentscheid obligatorisch oder wird faktisch sehr häufig von fakultativen Volksentscheiden Gebrauch gemacht, so geht schon davon eine ermüdende und demgemäß für die Erhaltung des Status quo günstige Wirkung aus. — Volksinitiativen im engeren Sinne werden ein eher seltenes Phänomen sein, weil es teuer ist, sie zu mobilisieren und das Risiko einer Initiativminderheit, daß sie am Ende doch nicht die Mehrheit zu mobilisieren vermag, ziemlich hoch ist, bzw. es schon sehr aparte Umstände sein müssen, unter denen alle etablierten Kräfte davon abgesehen oder versäumt haben, sich einer Initiative von sich aus anzunehmen, derweilen diese — und zwar ohne selbst zu einer fester organisierten und dauerhaft wirksamen politischen Kraft werden zu wollen — gleichwohl auf Erfolg zu hoffen vermag. — Mithin bleiben vor allem die Formen des Plebiszits im engeren Sinne und des Volksentscheids im engeren Sinne genauer zu betrachten, und gerade sie bedeuten für die Frage nach der plebiszitären Öffnung und ihrer Eignung zur besseren Lösung der eingetretenen Legitimationsprobleme etwas sehr verschiedenes. Auch die Schweiz und die französische Staatsrechtslehre heben daher hervor, daß ein dicker Strich zwischen plebiszitärer Demokratie und Referendumsdemokratie zu machen sei. 14 14 Vgl. dazu H. HUBER, Das Gesetzesreferendum. Vergleichende und kritische Betrachtungen, 1969, S. 13 (Huber selbst zählt im übrigen zu den Skeptikern der Referendumsdemokratie). Begrifflich scharf auch W. SCHRÖDER, De Gaulle und

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Die Skepsis gegen plebiszitäre Öffnungen, die unter Verfassungsrechtlern und Politikwissenschaftlern der Bundesrepublik wohl immer noch die Mehrheitsmeinung darstellt, operiert vor allem mit Hinweisen auf schlechte historische und komparative Erfahrungen. "Wie gut oder schlecht begründet diese Skepsis gegen die engeren Formen des Plebiszits sein mag — die skeptischen Argumente sind eben schon vorgetragen worden — das wichtigste Argument im vorliegenden Gedankengang ist der Hinweis, daß das Plebiszit nur eine unter anderen Formen der direkten Äußerung des Volkswillens ist und keineswegs die wichtigste, und daß es demgegenüber Erfahrungen auch mit den anderen Formen gibt. Die Erfahrungen aus der Weimarer Republik ebenso wie aus anderen Ländern der Welt oder auch aus den deutschen Bundesländern der Gegenwart, die zum Gebrauch der Formen des Volksentscheids und der Volksinitiative im engeren Sinne vorliegen, sind keineswegs so negativ wie die zum Plebiszit im engeren Sinne. Im übrigen sind auch die Formen der Volksinitiative und des Volksentscheids noch verschiedener Ausprägungen fähig, z.B. bei Quotenregelungen und bei Interventionsregelungen für die gewählten Organe, so daß Mißbrauch verringert werden kann.

VI. In der Weimarer Republik 15 sind zwar in etwa 30 Fällen Volksinitiativen erwogen oder angekündigt, jedoch im Reich nur acht beantragt worden, von denen dann eine nicht weiter verfolgt, drei nicht zugelassen wurden und eine sich erledigte. Interessant wurden so nur die Volksbegehren und die Volksentscheidverfahren zur Fürstenenteignung 1926, zum Panzerschiffbau 1928 und zum Young-Plan 1929. In den Ländern der Weimarer Republik ist es zu einigen wenigen Landtagsauflösungen unter der Einwirkung von Volksbegehren gekommen, von denen politisches die direkte Demokratie, Kölner Schriften zur Sozialwissenschaftlichen Forschung, 1969, Band II, S. 9 f. Die Unterschiede zwischen einer Demokratie in originärer Selbstbestimmungstradition von Eidgenossen und einer sich erst gegen den fürstlichen Obrigkeitsstaat durchsetzenden Demokratie macht vorzüglich deutlich H. NAWIASKY, Von der unmittelbaren Demokratie — die Bereitschaft in der Schweiz — die Zurückhaltung in Deutschland, in: U. Matz (Hrsg.), Grundprobleme der Demokratie, 1973. 15 Vgl. R. SCHIFFERS, Elemente direkter Demokratie im Weimarer Regierungssystem, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 1971.

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Gewicht jedoch nur dem gescheiterten Versuch in Preußen 1931 zukam. Von diesen vier Fällen ist die Rede, wenn die Weimarer Erfahrungen gegen die Gefahren der Demagogie beschworen werden, die sich mit Volksbegehren und Volksentscheid verbinden sollen. Genauere Betrachtung aber zeigt, daß im Ergebnis alle vier Fälle sich als Bestätigung durchaus rationalen Verhaltens der Volksmehrheit interpretieren lassen 16 : Völksbegehren und Volksentscheid zur Frage der Fürstenenteignung 1926, die eine sehr hohe Beteiligung fanden, sind schließlich doch an der Quorums-Regelung gescheitert. Es gab seinerzeit viele Beobachter, die mit dem preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun und dem liberalen Staatsrechtslehrer Richard Thoma der Meinung waren, daß diese Volksinitiative eine klare Mehrheit gewonnen hätte, wenn sie anstatt der Forderung nach entschädigungsloser Enteignung Abfindungsbestimmungen enthalten hätte. Der Vorwurf, die Initiative und ihre Durchführung seien Demagogie gewesen, stützte sich insbesondere auf die Maßlosigkeit der Forderung nach Entschädigungslosigkeit der Enteignung. Mithin hätte das Scheitern des Volksentscheids schließlich also doch bewiesen, daß die Mehrheit des Volkes eben der Demagogie eine Absage erteilen wollte. Ähnlich schlecht läßt sich der Vorwurf der demagogischen Verführbarkeit des Volkes mit dem Volksbegehren zum Verbot des Panzerschiffbaus 1928 belegen. Hier war es allein die KPD, die das Volksbegehren betrieb. Die SPD, die im Reichstagswahlkampf 1928 die Parole: Kinderspeisung oder Panzerkreuzer ausgegeben hatte und sehr erfolgreich geworden war, so daß sie das Kabinett Hermann Müller bilden konnte, wollte die Frage nicht zur Koalitionsfrage werden lassen. Es fanden sich daher nur 2 , 9 4 % der Stimmberechtigten für dieses Volksbegehren, das mithin schon am Eingangsquorum scheiterte und nicht weiter verfolgt werden konnte. Das Volk war also keineswegs der Demagogie erlegen, sondern hatte durch sein Verhalten die Fortführung der republiktragenden Weimarer Koalition ermöglicht. Der Völksentscheid über den Young-Plan — zur endgültigen Regelung der nach dem Versailler Vertrag offenen deutschen Reparationszahlungen — war eine Art Schulbeispiel zur Frage der Demagogie und zu den Grenzen der Entscheidungsfähigkeit des Volkes in Sachfragen. Die Initiative gegen den Young-Plan 1928 war von Deutsch-Nationalen, Nationalsozialisten und Stahlhelm ausgegangen und bedrohte 16

Vgl. insbes. D . HARTMANN, Volksinitiativen, 1 9 7 6 .

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Reichskanzler, Reichsminister und deren Bevollmächtigte, die den Young-Plan unterzeichnen würden, mit Zuchthausstrafen für Landesverrat. Der Volksgesetzentwurf betraf zudem als Geldgesetz und Entscheidung in der auswärtigen Politik zwei Materien, die nach herrschender Lehre ohnehin der Volksgesetzgebung entzogen sein sollten. Die Reichsregierung und viele Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens hatten gegen das Begehren aufgerufen. Um so interessanter ist das Ergebnis. Es zeigte, daß die große Mehrheit des Volkes das sogenannte Freiheitsgesetz sehr wohl durchschaut hatte und daß diese Volksinitiative keine „Prämie auf Demagogie", sondern eine schwere Niederlage der äußersten Rechten brachte. Schließlich ist die Volksinitiative zur Auflösung des preußischen Landtags 1931 zu betrachten, die zunächst von Stahlhelm und den Nationalsozialisten gegen die im preußischen Landtag anders als im Reich noch immer dominierende Mehrheit der Weimarer Koalition angestrengt wurde. In dieses Begehren trugen sich 2 2 , 6 % der Stimmberechtigten ein. Die Kommunisten, die die Initiative zunächst zum faschistischen Volksbetrug erklärt hatten, schwenkten im Juli 1931 um und versuchten, moskauhörig ihrer gegen die SPD gerichteten Sozialfaschismustheorie folgend, die Initiative zu einem „roten Volksbegehren" umzufunktionieren. Der Volksentscheid vom August 1931 erbrachte jedoch bei einer Beteiligung von 3 9 , 2 % der Stimmberechtigten und 3 6 , 8 % Ja-Stimmen nicht die erforderliche Beteiligungsmehrheit der Stimmberechtigten und scheiterte entsprechend. Erst die ordentliche Landtagswahl vom April 1932 entzog dann der Weimarer Koalition in Preußen die Mehrheit der Sitze, allerdings ohne daß die Rechtsparteien diese Mehrheit ihrerseits zu gewinnen vermochten. Die sozialdemokratische Regierung der Weimarer Koalition ist in Preußen erst durch Einsetzung des Reichskommissars zum Sturz gebracht worden. Auch hier ist es also nicht das reale Verhalten des Volkes gegenüber der Volksinitiative gewesen, an der die Weimarer Republik gescheitert ist. Anstatt der Prämie auf Demagogie wirkte das Quorum und ergab im Ergebnis die rationalere Lösung. Auf negative Erfahrungen der Zeit des Nationalsozialismus kann man sich im übrigen nicht berufen, wenn der Unterschied zwischen den Formen plebiszitärer Beteiligung festgehalten wird. Es gab unter dem Nationalsozialismus weder Volksbegehren noch Volksentscheid. Im Gegenteil wurde mit ausdrücklicher Abgrenzung der Volksentscheid auf Volksbegehren durch das neue Institut der Volksabstimmung auf Volksbefragung hin ersetzt. Dazu heißt es bei Ernst Rudolf Huber im „Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches": „Dieser

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Volksentscheid war praktisch so eingerichtet, daß er nur zum Kampf gegen die Regierung verwandt werden konnte. Er war ein Instrument der Opposition gegen die Reichsleitung. Im völkischen Reich kann es kein eigenes, zu Zwecken der Opposition gegen die Führung organisiertes Verfahren geben: Daher ist auch der Volksentscheid auf Volksbegehren ausgeschlossen . . . Die Abstimmung hat vielmehr den Sinn, das gesamte lebende Volk für ein vom Führer aufgestelltes politisches Ziel aufzurufen und einzusetzen . . . Diese Volksabstimmung . . . wird angewandt, um die völlige Einigkeit zwischen Führer und Volk in den Lebensfragen der Nation öffentlich zu bekunden . . . Die Volksabstimmung gibt dem Volk die Gelegenheit, ein vertrauendes Bekenntnis zum Führer und zu seinen politischen Entscheidungen abzulegen. Aber sie beeinträchtigt den Führergedanken nicht durch Restbestände des überwundenen Mehrheitsprinzips und stellt keine Beschränkung der gesetzgebenden Gewalt des Führers dar." 1 7 Dieser Kommentar macht deutlich, was von den drei Volksabstimmungen zu halten ist, die unter dem Nationalsozialismus stattfanden. Sie können im vorliegenden Gedankengang nicht als Erfahrungen gegen Völksrechte in Anspruch genommen werden.

VII. Differenziert werden müssen auch die Erfahrungen aus anderen Ländern und Regierungssystemen. Ältere Erfahrungen liegen vor für eine Reihe von Bundesstaaten der USA. Nicht ohne Einfluß des Vorbilds der Schweizer Referendumsdemokratie hat hier seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und im Beginn des 20. Jh. das sogenannte „Progressive Movement" im Kampf gegen die Korruption in Parlamenten in mehreren Staaten Rechte der Volksinitiative, des Volksentscheids und des recall durchgesetzt. Dieselbe Bewegung hat nach mehreren Anläufen 1912 auch die Direktwahl des amerikanischen Senats durchgesetzt. Zwischen 1898 und 1918 führten 2 2 Staaten des amerikanischen Westens und Südwestens Völksinitiativen und Referenden ein. 1959—1972 folgten noch einmal drei Staaten. 18 Diese Erfahrungen betreffen auch Staaten mit erheblicher Bevölkerungsgröße, wie Kalifornien mit fast 20 Millionen Einwohnern. Zit. n. d. 2. Aufl. 1939, S. 199 ff. Vgl. dazu A. RANNEY, The United States of America, in: D. Butler/A. Ranney (Ed.), Referendums. A Comparative Study of Practice and Theory, American Enterprise Intitute for Public Policy Research, 1978. 17

18

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Die Urteile der nordamerikanischen Politikwissenschaft über die Erfahrungen mit dem Gebrauch dieser Formen sind schwankend. Bei J. P. La Palombara, Ch. B. Hagan 19 findet sich die zusammenfassende Bemerkung: „Over the long period, the electorate is not likely to do anything more foolish than the legislature is likely to do . . . The usual criticism ought no longer to be peddled as embodying either knowledge or wisdom." Einige Autoren wie Eugene Lee 20 haben nach Beobachtungen in Kalifornien die Rolle hervorgehoben, die finanzkräftige Interessengruppen bei der Mobilisierung von Vorurteilen und Emotionen in den Referendumskampagnen spielen. Auch Lee jedoch stellt nicht in Frage, daß Volksinitiativen und Volksentscheide fester Bestandteil der politischen Kultur in den westlichen amerikanischen Bundesstaaten sind. Wenn auch Bewegungen, die direkte Gesetzesinitiativen des Volkes sogar auf der Bundesebene der USA einführen wollten, bisher nicht viel Kraft hatten, so haben sie doch in Umfragen durchaus freundliche Meinungen für sich verzeichnen können, wie etwa im „Gallup-Poll" von 1978, der eine positive Reaktion von 5 7 % registrierte. Abgesehen von der Schweiz — die ein kleiner Staat ist, aber eine sehr lange Tradition direkter Volksrechte hat — sehen von den übrigen Staaten der Welt nur wenige die Formen von Volksinitiative und Volksentscheid vor und selbst diese haben nur seltenen Gebrauch davon gemacht. Im übrigen sind die konkrete Ausformung der Institute und die in der politischen Kultur des Landes gegebenen Randbedingungen wichtig. So wird etwa das Referendum im Hinblick auf die Erfahrungen Australiens eher negativ, als Hemmnis gegen Verfassungsänderungen und als Mittel der Parteiendemagogie zitiert. 21 Aus dem weltweiten Vergleich des Gebrauchs von Volksinitiativen und Volksentscheiden auf Gesamtstaatsebene leiten sich vergleichsweise wenig Erfahrungen her, jedenfalls aber auch nicht eindeutig negative. 22 " J. P. LA PALOMBARA, CH. B. HAGAN, Direct Legislation - An Appraisal and a Suggestion, in: American Political Science Review, Vol. 4 5 , 1 9 5 1 , P . 4 1 4 . 2 0 E. LEE, California, in: D. Buttler/A. Ranney (Eds.), s. Anm. 18, S . 9 7 . 2 1 Vgl. D. AITKIN, Australia, in: Butler/Ranney (Eds.), s. Anm. 18. 2 2 Plädoyers für die Vermehrung direkter Beteiligungsrechte des Volkes in Sachfragen finden sich hingegen durchaus. Vgl. etwa für das United Kingdom ST. ALDERSON, Yea or Nay - Referenda in the United Kingdom, 1 9 7 5 . Alderson formuliert noch ausdrücklich die näheren Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um „improper influences" auszuschließen.

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B r e i t u n d ergiebig h i n g e g e n sind die E r f a h r u n g e n des S o n d e r f a l l s Schweiz sowie aus Teilstaaten föderierter Bundesstaaten, wie Kalifornien, o d e r a u c h a u s d e n d e u t s c h e n B u n d e s l ä n d e r n . In d e r S c h w e i z 2 3 gibt es allein a u f B u n d e s e b e n e j ä h r l i c h m e h r e r e V o r l a g e n z u r V o l k s a b s t i m m u n g ( 5 5 in d e n J a h r e n 1 9 7 1 — 7 8 ) . W o h l l a s s e n sich B e w e i s e für die h ä u f i g e r g e h ö r t e V e r m u t u n g einer n e g a t i v e n K o r r e l a t i o n z w i s c h e n I n a n s p r u c h n a h m e u n d t a t s ä c h l i c h e r Beteilig u n g s b e r e i t s c h a f t d e r S c h w e i z e r S t i m m b ü r g e r f i n d e n . 2 4 D e n n o c h ist f e s t z u h a l t e n , d a ß die S c h w e i z e r S t i m m b ü r g e r „ r e g e n G e b r a u c h " v o n d e r M ö g l i c h k e i t m a c h e n , „ i n einer einzelnen p o l i t i s c h e n S a c h f r a g e v o n der Abstimmungsempfehlung der im übrigen bevorzugten Partei a b z u w e i c h e n u n d m i t A u s s i c h t a u f D u r c h s e t z u n g a n d e r s zu e n t s c h e i d e n " . 2 5 I n s b e s o n d e r e die W i r k u n g des f a k u l t a t i v e n R e f e r e n d u m s ist b e m e r k e n s w e r t . N u r g e g e n einen kleinen Teil d e r r e f e r e n d u m s p f l i c h tigen E r l a s s e w i r d d a s R e f e r e n d u m ü b e r h a u p t ergriffen (in d e n J a h r e n 1 9 4 5 bis 1 9 7 8 n u r in 3 0 v o n 6 4 6 F ä l l e n , d . h . 4 , 6 % d e r F ä l l e ) . 2 6 Schließlich k a n n a u f E r f a h r u n g e n a u s d e n d e u t s c h e n B u n d e s l ä n d e r n n a c h 1 9 4 9 h i n g e w i e s e n w e r d e n . 2 7 Auffällig ist hier z u n ä c h s t , 2 3 Die Volksrechte und die Referendumsdemokratie werden zumindest für die Bundesebene auch in der Schweiz natürlich nicht überall positiv eingeschätzt. Kritisch z. B. H. HUBER, Das Gesetzesreferendum, Recht und Staat Nr. 3 8 3 , 1969. Doch gehen auch die Verfassungsreformüberlegungen allenfalls in die Richtung einer Stärkung der parlamentarisch-repräsentativen Komponente im Balancesystem, nicht in die Richtung einer Abkehr vom plebiszitären System der direkten Sachabstimmungsmöglichkeiten des Volkes überhaupt. So etwa kann man auch L. NEIDHART, Plebiszitäre und pluralistische Demokratie - eine Analyse der Funktion des schweizerischen Gesetzesreferendums, 1970, nur als Zeugen eines ideologiekritisch-empirisch-realistischen Bildes von unmittelbarer Demokratie überhaupt in Anspruch nehmen. 2 4 Dazu vor allem die große Untersuchung von A. RIKLIN und R. KLEY, Stimmabstinenz und direkte Demokratie. Ursachen-Bewertungen-Konsequenzen, 1 9 8 1 , sowie früher schon J . STEINER, Bürger und Politik, 1969. 25

S o T R O I T Z S C H , S. A n m . 1 3 , S . 7 7 f f .

TROITZSCH, ebd. Den zugrundeliegenden Zuammenhängen, nämlich den im Hinblick auf die Referendumsdrohung im Vorverfahren stattfindenden Bemühungen um eine möglichst umfassende Interessenberücksichtigung nach allen Seiten, die die Eigentümlichkeit des - auf diese Weise gerade mit Hilfe der Existenz direkter Volksrechte konstituierten — Schweizer Modells der Konkordanzdemokratie ausmachen, geht sehr differenziert nach F. LEHNER, Das Schweizerische Konkordanzmodell als Alternative zum Parlamentarismus, Typoskript, 1984. Vgl. auch dens., Grenzen des Regierens — Eine Studie zur Regierungsproblematik hochindustrialisierter Demokratien, 1979, Kapitel 11. 2 7 Einen umfassenden Versuch, die vergleichbaren Erfahrungen aus anderen westlichen Industriegesellschaften, aus der Schweiz, aus der Weimarer Republik 26

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daß alle Länder, die ihre Verfassungsberatungen vor Verabschiedung des Grundgesetzes abgeschlossen hatten, noch ohne Bedenken an die Weimarer Traditionen der Volksgesetzgebung angeknüpft haben. Die Abkehr von der Volksgesetzgebung vollzieht sich erst in den nach 1949 verabschiedeten Verfassungen und offensichtlich unter dem Einfluß der Beratungen des parlamentarischen Rats zum Grundgesetz. Hatte der Herrenchiemsee-Entwurf zwar nicht mehr das Volksbegehren, wohl aber den Volksentscheid vorgesehen, so ließ der parlamentarische Rat gemäß den Vorlagen eines für redaktionelle Zwecke eingesetzten Fünfer-Ausschusses auch den Volksentscheid fallen, was, wie Troitzsch anmerkt, im Zusammenhang des Verzichts auf Volksabstimmung über das als Provisorium verstandene Grundgesetz gesehen werden muß. Immerhin war, unter anderem von Theodor Heuss, mit Blick auf die Erfahrungen der Zwischenkriegszeit im parlamentarischen Rat ebenso pauschal wie skeptisch gegen plebiszitäre Demokratie gesprochen worden. Insbesondere aus den Ländern Bayern und Nordrhein-Westfalen, deren Verfassungen Formen von Volksbegehren und Volksentscheid kennen, liegen inzwischen breitere Erfahrungen vor. Öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben vor allem die im Ergebnis erfolgreichen Volksbegehren in Bayern 1966/67 zur Gleichstellung der Gemeinschaftsschule mit der Bekenntnisschule, in Bayern 1972 zur Erhaltung der Rundfunkfreiheit sowie in Nordrhein-Westfalen 1977/78 gegen die Einführung der kooperativen Gesamtschule. Genauere Analysen zeigen jedoch auch Wirkungen zunächst gescheiterter Begehren sowie Wirkungen bloßer Androhung. Troitzsch hat die empirischen Befunde aus den deutschen Bundesländern, in die er auch die Erfahrungen der Schweiz und anderer Regierungssysteme einbezieht, wie folgt zusammengefaßt 28 : Nicht nur pflegt die Initiative zur Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid regelmäßig von solchen Parteien auszugehen, die sich und aus westdeutschen Bundesländern systematisch aufzuarbeiten, unternimmt a u ß e r TROITZSCH (S. A n m . 1 3 ) u n d HARTMANN (s. A n m . 1 6 ) n o c h W . BERGER, D i e

unmittelbare Teilnahme des Volks an staatlichen Entscheidungen durch Volksbegehren und Volksentscheid. Jur. Dissertation 1978. Für eine Bestandsaufnahme und Würdigung der in den westdeutschen Bundesländern gegebenen Möglichkeiten von Volksbegehren und Volksentscheid vgl. im übrigen CH. PESTALOZZA, Der Populär-Vorbehalt. Direkte Demokratie in Deutschland, 1981. Pestalozza hält die Volksbefragung für das „demokratische Minimum" in Neue Juristische Wochenschrift, 1981, S. 733 f. 28

TROITZSCH, S. A n m . 1 3 , S. 1 1 5 ff.

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in langjähriger Minderheitsposition befunden haben, den politischen Parteien kommt auch bei gegebenen direkten Volksrechten eine überragende Bedeutung zu, insofern die Ergebnisse von Volksbegehren und Volksentscheid regelmäßig die Polaritäten des Parteiensystems widerspiegeln. Volksbegehren und Volksentscheid erhöhen den Konsens zwischen Regierenden und Regierten, insofern sie die Bereitschaft der Regierung, der Parlamente wie der Parteien erhöhen, Reaktionen aus dem Volk zu antizipieren. Sie erhöhen auch die Kooperations- und Kompromißbereitschaft zwischen den Parteien selbst, bei denen in Auswirkung der Existenz der Institute Strategien begünstigt werden, die im Interesse der Annahme einer Vorlage durch das Volk zunächst die Breite der parlamentarischen Zustimmung zu demonstrieren versuchen. Knappe parlamentarische Mehrheiten werden durch das Institut des Volksentscheids eher stabilisiert. Auch ist es für die Chance, bei der nächsten Wahl wiedergewählt zu werden, nicht schon von Nachteil, bei einer politischen Einzelfrage in der Volksabstimmung unterlegen zu sein. Zwischen der Institutionalisierung von Volksbegehren und Volksentscheid einerseits, der Transparenz des politischen Systems andererseits, scheint ein Verhältnis wechselseitiger Förderung zu bestehen. Effizienzeinbußen für das politische System, die von Volksbegehren und Volksentscheid ausgehen könnten, lassen sich wegen der Schwierigkeit, den Effizienzbegriff in diesem Zusammenhang für empirische Uberprüfungen zu operationalisieren, zwar vermuten, aber nicht wirklich belegen. „Hieraus läßt sich die Schlußfolgerung ziehen, daß plebiszitäre Elemente, sollen sie auch innerhalb eines Repräsentativsystems eine Funktion im Prozeß der Legitimation staatlicher Entscheidungen ausüben, sozusagen in der Hand des Volkes bleiben müssen, wie das der Fall ist bei jedem obligatorischen Referendum, das aus dem Volk ergriffen wird, aber auch bei der Volksinitiative, die einen Volksentscheid jedenfalls dann zur Folge hat, wenn das Parlament ihr nicht zu folgen bereit ist. Auch das Referendum, das von einer Minderheit des Parlaments mit oder ohne gleichzeitige Unterstützung eines Teils der Stimmbürger ergriffen werden kann, ist hier einzurechnen. Allen diesen Instrumenten ist gemeinsam, daß sie das pluralistisch-repräsentative System um Minderheitenrechte ergänzen können. Demgegenüber ist ein Volksentscheid, der von Staatsoberhaupt, Regierung oder Parlamentsmehrheit aus freiem Ermessen anberaumt oder auch unterlassen werden kann, kein Gewinn für das repräsentative System: Entweder bestreitet, wer den Volksentscheid veranlaßt, ungefragt seine eigene Legitimität — mit allen negativen Konsequenzen für den

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Fall, daß sie ihm tatsächlich entzogen wird — oder er ist überflüssigerweise darauf aus, seine Legitimität — auf Kosten anderer Verfassungsorgane und damit zu Lasten des Gleichgewichts des gesamten Systems — zu verstärken." 29 VIII. Konsequenz: Gefragt war nach der Chance, neuen Konsens durch plebiszitäre Öffnung zu finden. Die Antwort und der auf sie hinführende Gedankengang können wie folgt zusammengefaßt und vervollständigt werden. 1. Es gibt einzelne herausgehobene politische Streitfragen, wie z.B. die der dauerhaften Nutzung von Atomenergie oder die zum Schwangerschaftsabbruch, in denen die Meinungs- und Interessengemeinschaft in einer Bevölkerung so unversöhnlich und der Dissens so groß sein können, daß die Durchsetzbarkeit der Entscheidung zweifelhaft wird, weil die Minderheit entweder überzeugt ist, das wahre Bevölkerungsinteresse zu vertreten bzw. die Mehrheit von morgen zu sein, oder überzeugt ist, daß die Mehrheit hier überhaupt kein Recht hat, weil es sich um grundrechtliche Existenzfragen handelt, so daß diese Minderheit sich deshalb im betreffenden Streitfall zur Aufkündigung des normalen Gesetzesgehorsams berechtigt sieht, während auch die Mehrheit, angesichts der Tragweite der zu treffenden Entscheidung, Skrupel gegen die Anwendung von an sich zunächst legalen Zwangsmitteln der Durchsetzung hat, weil sie unsicher ist, ob die Bevölkerung, der sie für die Entscheidung letztlich verantwortlich ist, bei der gegebenen Legitimation bleiben oder aber ihr das Vertrauen entziehen wird. 2. Wir nennen diese Streitfragen: Probleme des Fundamentaldis29

TROITZSCH, aaO, S. 131. Eine deutliche Hervorhebung des Volksbegehrens als besonderes Ausdrucksmittel der öffentlichen Meinungsäußerung und besonders als Korrektiv gegenüber dem parlamentarischen Parteienstaat findet sich auch bei H . SCHAMBECK, Das Volksbegehren, Recht und Staat Nr. 400/401, 1971. Schambeck gibt in diesen Regelungen daher auch dem Weg Österreichs den Vorzug vor dem der Bundesrepublik Deutschland. Den Versuch der Einordnung von Bemühungen um den Ausbau direkter Demokratie in die große geschichtliche Entwicklung und die Deutung der gegenwärtigen Auseinandersetzungen als dritte Welle der im Ausgang des 18. Jh. beginnenden bürgerlichen Emanzipationsbewegung unternimmt sehr anregend R. SCHEDIWY, Empirische Politik. Chancen und Grenzen einer demokratischen Gesellschaft, 1980.

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senses und konstatieren, daß ihnen eine Tendenz der wechselseitigen Eskalation von Durchsetzung, Widerstand, Repression und zivilem Ungehorsam innewohnt, die derzeit in der politischen Kultur der Bundesrepublik auffällig ist, sowie daß sie wegen der Tragweitenexpansion politischer Entscheidungen und wegen erhöhter Differenzierung der Betroffenheiten in der Gegenwartsgesellschaft eher zuzunehmen scheinen. Wir fragen demgemäß, ob es Vorkehrungen geben kann, das hier eingeschlossene Konfliktpotential durch Vermehrung der Einspruchsmöglichkeiten und Differenzierung der Ausdrucksmöglichkeiten für protestierende Interessen effizienter abzubauen als dies in den gegebenen Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung gelingt. Insbesondere betrachten wir die Möglichkeiten sogenannter plebiszitärer Öffnung daraufhin, ob sie sich zur Verringerung dieses Potentials an gegenseitiger Eskalation von Widerstandsund Durchsetzungstendenzen eignen. In der herrschenden Meinung begegnen wir zunächst starken Vorbehalten gegen plebiszitäre Öffnungen, die sich auf negative historische und komparative Erfahrungen berufen. Daher gehen wir diesen Einwänden genauer nach. 3. Soweit plebiszitäre Öffnung die Option für eine andere Republik als Systemalternative zur gegebenen parlamentarisch-demokratischen Regierungsweise bedeutet, steht sie in der Tat unter starkem Ideologieverdacht und zieht den Einwand auf sich, im Ergebnis nur destabilisierend zu wirken und eine schiefe Ebene in ungewisse Weiterungen zu eröffnen. In der Tat weisen sowohl die Bonapartistischen Erfahrungen als auch die Akklamationsverfahren, deren sich Hitler bediente, auf Möglichkeiten demagogischer Überwältigung hin, die in plebiszitären Verfahren stecken können. Doch ist plebiszitäre Öffnung auch als Ergänzung der Formenvielfalt politischer Beteiligung in gemischt repräsentativ-plebiszitären Systemen interpretierbar. Daher müssen zunächst verschiedene Typen der Entscheidungsfindung unter direkter Mitwirkung des Volkes auseinandergehalten werden, insbesondere die Massenpetition, das Plebiszit im engeren Sinne, die Volksinitiative im engeren Sinne, der Volksentscheid im engeren Sinne und die verfassungsobligatorischen Volksabstimmungen. 4. Für die Formen der Volksinitiative und des Volksentscheids im engeren Sinne, in denen die Initiative nicht bei der Regierung, sondern bei opponierenden Minderheiten liegt, sind die Erfahrungen keineswegs so negativ wie für das Plebiszit im engeren Sinne. Im Gegenteil scheinen Volksinitiative und Volksentscheid bei manchen Entscheidungen schon durch die Möglichkeit, mit ihnen zu drohen, eine

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verbreiterte Einspruchsberücksichtigung zu gewährleisten. Sie erweisen sich unter Umständen als eine Möglichkeit, bei Entscheidungen von vornherein die Interessenberücksichtigung zu verbreitern oder auch die Parteienkonkurrenz in Einzelfragen von Verantwortungen zu entlasten, die die sonst benötigte Kompromißfähigkeit beeinträchtigen würden. Der Demagogieverdacht, der gegenüber den Formen des Plebiszits im engeren Sinne rational ist, kann gegenüber diesen anderen Formen nicht umstandslos durchgehalten werden. 5. Wenn auch nicht der Demagogie-Verdacht, so sind doch andere Bedenken gegenüber einer stark auf Volksentscheiden und Volksinitiativen gegründeten Referendums-Demokratie empirisch begründbar und rational. Dies gilt insbesondere für die Erfahrung, daß der Referendumsdemokratie eine Tendenz zum Minimum an Entscheidung innewohnt, daß sie Innovationen größere Hemmungen in den Weg legt als andere Systeme, daß in ihnen Minderheiten größere Schwierigkeiten als anderwärts haben, sich zu Mehrheiten zu entfalten, weil sie mit Volksentscheiden abgeblockt werden können, daß Volksentscheide schwieriger zu revidieren sind als Repräsentationsentscheide oder Wahlergebnisse, daß es vor allem die finanz- und organisationsstarken Verbände sind, die bei Volksgesetzgebungsverfahren vorrangigen Einfluß entfalten. Nur als Ergänzungen zur parlamentarischen Regierungsweise, nicht als Alternativen, kommen Volksbegehren und Volksentscheid also in Betracht. 6. Vor diesem Hintergrund und mit diesen Einschränkungen aber läßt sich festhalten: Bisher können sich Leidenschaft und Sachverstand von Betroffenen, die sich in Bürgerinitiativen gegen die etablierte Parteien- und Behördenpolitik organisieren, die öffentliche Aufmerksamkeit, wenn nicht über Gerichtsverfahren, dann nur über spektakuläre Aktionen verschaffen. Hätten sie darüber hinaus die formelle Chance, ungeachtet der Wahlentscheidungen und sonstigen Parteipräferenzen, inmitten der Legislaturperiode und zu einzelnen Fragen besonderer Tragweite, Motor für die Mobilisierung direkter Sachentscheidungen des Volkes zu sein, so könnte dies — und zwar ungeachtet des tatsächlichen Ausgangs solcher Mobilisierungsversuche, die ja auch scheitern können — zur Verringerung des Eskalationspotentials von Widerstand, Durchsetzung, Repression und zivilem Ungehorsam beitragen, die derzeit die politische Kultur belasten. Allerdings müssen solche Sachentscheidungen Richtungsentscheidungen bleiben, die noch Ausgestaltungsspielraum offen lassen.

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7. Plebiszitäre Öffnung in Richtung auf ein ganz anderes System wäre ein Abweg, nicht nur soweit etwa an volksdemokratische oder rätedemokratische Ordnungen gedacht würde, sondern auch, soweit es um andere Formen rechtsstaatlicher Demokratie, wie Präsidialoder Direktorialsysteme, ginge: Die Risiken für die Mindestregierbarkeit eines Landes, die sich mit Totalrevisionen und Systemwandel verbinden, wiegen sehr viel schwerer als die Chancen, die man sich davon für verbesserte Problemlösungsfähigkeit versprechen könnte. Plebiszitäre Öffnung im Sinne einer Ergänzung der gegebenen parlamentarischen Demokratie könnte jedoch Legitimitätsreserven erschließen, sofern die Formenunterschiede angemessen beachtet werden. Direkte Volksrechte eröffnen angesichts sonstiger Konzentrationstendenzen sozusagen eine weitere Linie der Gewaltenbalancierung. 8. Daher könnte die Eröffnung weiterer Möglichkeiten der Volksinitiative und des Volksentscheids, in den Bundesländern, die sie bisher nicht vorsehen und auf Bundesebene, in der Tat die Chance einer Entlastung der Regierungen von legitimitätszerstörenden Durchsetzungskosten umstrittener Entscheidungen bieten. Allerdings wird damit nicht auch schon die Gefahr der Dissens-Eskalation vermindert. Die öffentliche Mobilisierung enthält stets ein erhebliches Potential an Ideologisierung und Radikalisierung, das insbesondere bei knappen Mehrheiten Wunden hinterlassen kann, die nur langsam heilen. Man soll also die Möglichkeiten plebiszitärer Öffnung nicht überschätzen. Ihre Funktion als Regulativ gegenüber Oligarchisierungsgefahren und Gefahren der Verletzung von Minderheitenrechten ist größer als ihre Leistungsfähigkeit zur direkten Normsetzung, Streitentscheidung und Erfindung von Problemlösungen. Für die Bewältigung der Probleme von Tragweitenexpansion politischer Entscheidungen und Differenzierung der Betroffenheiten ist daher mehr und weiteres nötig als die Ermöglichung von Volksinitiativen und Volksentscheiden, denn diese mögen zwar die Durchsetzungskosten politischer Entscheidungen verringern, tun dies jedoch nur um den Preis der Erhöhung ihrer Aushandlungskosten. Um nicht Effizienzeinbußen zu erleiden, ist die Ausweitung der Möglichkeiten für Volksinitiative und Volksentscheid also nicht nur an Erlaubniseinschränkungen auf bestimmte Entscheidungsmaterien und Quotenregelungen für diese Verfahren zu denken, sondern auch an weitere Vorkehrungen. 9. Solche weiteren Vorkehrungen können hier nur angedeutet werden, zielen jedoch alle auf eine Erhöhung der Problemverarbeitungs-

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kapazität des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik von seinen gegebenen Grundlagen her sowie auf Bekämpfung der Gefahren wachsenden Dissenses in Lebensfragen und wachsender Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten. In dieser Richtung förderungswürdig erscheinen insbesondere: — Bekräftigungen bis hin zu neuen, verdeutlichenden Formulierungen der persönlichen Unantastbarkeitsrechte, z. B. nach Art. 2, um in Lebensfragen die Grenzen der Mehrheit zu verdeutlichen — Bekräftigungen der Grundrechte der Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit nach Art. 5, 8 und 9 des Grundgesetzes im Interesse der Offenhaltung der Konkurrenz politischer Überzeugungen gegenüber den Etatisierungstendenzen der Parteien — verstärkte Konzentration der Parlamente und der Parlamentsparteien auf Rahmengesetzgebung und Langfristplanung bei gleichzeitiger Stärkung der Öffentlichkeitsfunktionen des Parlamentes, um gegenüber den schleichenden Bürokratisierungstendenzen die Verantwortlichkeit für Strukturentscheidungen hochzuhalten — Ausbau von Enqueteverfahren unter Beteiligung von Wissenschaftlern bis hin zur Erteilung von Initiativrechten für Enquetekommissionen gegenüber den zur Rechtssetzung befugten Parlamentskörperschaften, die sie eingesetzt haben und denen sie dienen, um eine breiteste Interessenberücksichtigung und Sorgfalt von Entscheidungen zu stärken — Dezentralisierung der Programmierungs- wie der Implementationsvorgänge so tief hinab zu den regional-lokalen wie den funktionalen Gruppen wie möglich, um der Entfremdung zwischen Entscheidungsbefugten und Entscheidungsbetroffenen entgegenzuwirken. Erweiterung von Möglichkeiten für Volksbegehren und Volksentscheid sind in diesem Zusammenhang also nur eine unter anderen Möglichkeiten. Wenn sie nicht überschätzt und richtig ausgestaltet werden, können sie jedoch durchaus bereichernd wirken in einem mündiger werdenden Volk, und sie können auch größere Egalität der Einflußchancen wiederherzustellen helfen angesichts des unverkennbaren Vordringens von Initiativeliten aller Art, die sich Sondereinfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten zu verschaffen suchen.

Verfassungsrechtliche Sicherungen der parlamentarischen Demokratie Zur Garantie des institutionellen Willensbildungsund Entscheidungsprozesses HASSO

HOFMANN

I. Kaum eine andere geschriebene Verfassung rückt das vom Volk gewählte Parlament so entschieden ins Zentrum des institutionellen Willensbildungsprozesses und zugleich damit in den Mittelpunkt des demokratischen Staatsaufbaus wie das Bonner Grundgesetz. Es zeigt sich dies bekanntlich in dreifacher Hinsicht: nämlich in der parlamentarischen Monopolisierung der Rechtssetzung, in der entschiedenen Entmachtung des Staatsoberhauptes als des traditionellen Gegenspielers und — damit eng verbunden — in der vollen Parlamentarisierung der Regierung. 1. Mit seinem schlichten Einleitungssatz: „Die Bundesgesetze werden vom Bundestag beschlossen", dokumentiert Art. 77 GG den Verzicht auf die in Herrenchiemsee ins Auge gefaßte demokratische Erneuerung des echten bundesstaatlichen Zweikammerprinzips 1 , wie es in anderem Kontext das Gesetzgebungsverfahren nach der Paulskirchenverfassung hätte bestimmen sollen (§§ 85 ff) und die Setzung von Reichsrecht nach der Verfassung von 1871 (Art. 5) geprägt hat. 2 Vor allem aber besiegelt diese lapidare Bestimmung — wenn wir von den praktisch wenig bedeutungsvollen oder schon erledigten Vor1 Vgl. v. DOEMMING/FÜSSLEIN/MATZ, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, J ö R n . F . l , 1951, S. 565 ff. S. a. BVerfGE 37, S. 363 ff (380). 2 Vgl. E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 1968 2 , S. 829 ff; Bd. 3, 1970 2 , S. 8 7 9 ff, 908 ff.

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Hasso Hofmann

Schriften der Art. 28 Abs. 1 Satz 3, 29 und 118 GG absehen — den Ausschluß der unmittelbaren Teilnahme des Volkes an der Gesetzgebung, wie sie für die Weimarer Konstruktion der Reichsgesetzgebung charakteristisch war und wie sie mehrere Länderverfassungen bewahrt haben.3 Zwar gab es auch nach der Weimarer Reichsverfassung keine Volksgesetzgebung unter Umgehung des Reichstages (vgl. Art. 73 Abs. 3 S. 3 u. 4), aber doch die Möglichkeit des Volksbegehrens, also der Volksinitiative, und des Volksentscheids, wenn der Reichstag den Vorschlag ablehnte (Art. 73 Abs. 3 S. 1 u. 4). Darüber hinaus standen alle Reichsgesetze unter dem Vorbehalt plebiszitärer Gesetzesverwerfung. Das Recht eines solchen Appells an das Volk stand im Verfahren der Verfassungsänderung dem Reichsrat (Art. 76 Abs. 2), bei den meisten anderen Gesetzen einem Drittel des Reichstags in Verbindung mit einem gewissen Bruchteil der Wählerschaft (Art. 72, 73 Abs. 2) und in jedem Fall dem Reichspräsidenten zu (Art. 73 Abs. 1 u. 4, 74 Abs. 3). Praktische Bedeutung hat freilich nur das Institut des Volksbegehrens erlangt.4 In einem engen systematischen Zusammenhang mit dem Verzicht des Parlamentarischen Rates auf diese Elemente unmittelbarer Demokratie und mit der daraus sich ergebenden parlamentarischen Monopolisierung der förmlichen Gesetzgebung5 steht auf der anderen Seite, in Art. 80 Abs. 1 GG, die verfassungsrechtliche Vorsorge gegen die Selbstentmachtung des (im Rahmen der Bundeskompetenzen) gesetzgeberisch allzuständigen Parlaments. Dient doch auch jene, die Normsetzung durch die Exekutive einschränkende neuartige Vorschrift nicht nur unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten, sondern vor allem auch unter dem Aspekt des Demokratieprinzips einer Konzentration der politischen Leitentscheidungen beim Bundestag.6 3 Dazu im einzelnen H. HOFMANN, Bundesstaatliche Spaltung des Demokratiebegriffs unter dem Grundgesetz? in: Festschrift f. K. H. Neumayer, i. E. 4 Vgl. E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6 , 1 9 8 1 , S. 3 9 , 4 2 9 ff; Bd. 7, 1 9 8 4 , S. 5 7 9 ff, 5 9 1 f, 6 4 4 f, 6 7 9 ff. 5 Dazu E. FRIESENHAHN, Parteien und Parlamentarismus nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in: Deutsch-Spanisches Verfassungsrechts-Kolloquium, hrsgg. v. Aa. Randelzhofer, 1 9 8 2 , S. 2 3 ff, bes. S. 2 4 f u. 4 4 ; K. STERN, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 1 9 8 4 2 , § 2 2 III 4 (S. 1 0 0 3 ) ; s. zum folgenden auch R. HERZOG, in: Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 2 0 II, Rdn. 84. 6 Vgl. H. QUARITSCH, Das parlamentslose Parlamentsgesetz, 1 9 6 1 2 , S. 7 ; B.-O. BRYDE, in: v. Münch, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3 , 1 9 7 8 2 , Art. 8 0 , Rdn. 2. Einseitig auf die demokratische Komponente hebt H. J. HANSEN, Fachliche Wei-

Verfassungsrechtliche Sicherung der parlamentarischen Demokratie

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2. Die zweite Grundentscheidung, welche den Bundestag zum zentralen Kristallisationspunkt demokratischer Repräsentation machte, war die Entscheidung gegen die Volkswahl des Präsidenten (Art. 54 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 GG) und gegen dessen maßgebliche Beteiligung bei der Regierungsbildung.7 Die Beschneidung seiner Amtsbefugnisse hat dazu geführt, daß der Bundespräsident, außer bei Kanzlerwahl mit bloß relativer Mehrheit (Art. 63 Abs. 4 Satz 3 GG), nur noch im Falle des Scheiterns einer Vertrauensfrage des Kanzlers als Gegenspieler des Bundestages in Betracht kommt - und selbst das nur dann, wenn der Bundeskanzler die Auflösung des Bundestages vorschlägt (Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG), oder wenn die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes beantragt (Art. 81 Abs. 1 GG). Auch die nachträglich in das GG eingefügte Notstandsverfassung hat sich bekanntlich nicht an den präsidentiellen Prärogativen von ehedem orientiert. 8 3. Insbesondere aber verdankt der Bundestag dem Umstand eine neue institutionelle Qualität, daß er nach Art. 63 Abs. 1 GG den Bundeskanzler zu wählen hat (dem seinerseits dann die Zusammensetzung der Bundesregierung obliegt: Art. 64 Abs. 1 GG). Die Konstituierung des Parlaments als einer „Wahlkörperschaft", wie Walter Bagehot das genannt hat 9 — und nicht nur als einer „Abwahl-Körperschaft" nach Weimarer Muster (Art. 54 Satz 2 WRV) - stellt das gesamte Regierungssystem auf ein neues Fundament. 10 Diese volle sung und materielles Gesetz, 1971, S. 90 ff, ab, während MAUNZ, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Rdn. 1 ff, hier zu Unrecht nur „Folgerungen aus dem Rechtsstaatsprinzip" sieht. 7 Vgl. v. DOEMMING u. a., s. Anm. 1,S. 3 9 9 f u. S. 4 2 6 ff; zum folgenden statt aller K. STERN, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2 , 1 9 8 0 , § 3 0 (S. 187 ff). 8

V g l . K . STERN, S. A n m . 7 , § § 5 2 ff (S. 1 2 8 9 ff).

' W. BAGEHOT, The English Constitution, 1867, dt. u. d. T. Die englische Verfassung, 1971, S. 144. 10 Den Angelpunkt der Kanzlerwahl hebt hervor H. MEYER, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, W D S t R L 33, 1975, S. 6 9 ff (86). Mit vollem Recht spricht K. STERN, S. Anm. 1, § 2 2 III 2 u. 6 - 8 (S. 9 7 9 ff, 1 0 0 7 ff) von Art. 63 GG als dem „Herzstück" des parlamentarischen Regierungssystems (S.979); ihm folgen: M. FRIEDRICH, Anlage und Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems, DVB1. 1 9 8 0 , S. 5 0 5 ff (506); M. SCHRÖDER, Das parlamentarische Regierungssystem, Jura 1982, S. 4 4 9 ff (450 f); M. R. LIPPERT, Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem, 1973, behandelt nur die institutionellen Zusammenhänge.

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Parlamentarisierung der Regierung hat weitreichende Konsequenzen. Denn auf dieser Grundlage ist jede Regierung ganz zwangsläufig Parteienregierung, ein Präsidialkabinett so gut wie ausgeschlossen. Nötigt dieses System die politischen Parteien doch, über die Vermittlung politischer Partizipationschancen und die Vertretung und Integration von Interessen hinaus Führungspersonal zu rekrutieren und Regierungsprogramme zu entwickeln sowie beides in einer mehrheitsfähigen Weise zu präsentieren. Die verfassungsrechtliche „Inkorporation" der politischen Parteien 11 als Mitträger der politischen Willensbildung in Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG ist daher nicht einfach nur eine Anerkennung längst bestehender Verhältnisse, nicht nur eine Konkretisierung des grundgesetzlichen Demokratieprinzips, sondern auch, ja vor allem ein verfassungskonstruktiv notwendiges Korrelat zur vollen Parlamentarisierung der Regierung. Damit ist ein sachlicher Zusammenhang angesprochen, den schon Robert v. Mohl gesehen 12 , Walter Bagehot in seiner Analyse der englischen Verfassung thematisiert 13 und der in der Endphase des zweiten Deutschen Kaiserreichs die Reformüberlegungen M a x Webers und anderer bestimmt hat. 14 Jene vielberedete „Proklamation des Parteienstaates" ist also in erster Linie ein auf das Parlament zu beziehendes Stück der grundgesetzlichen Institutionalisierung des politischen Willensbildungsprozesses. Damit gewinnen die Parteien bekanntlich eine eigentümliche Doppelstellung 15 : einerseits sind und bleiben sie freie gesellschaftliche So EVerfGE 2, S. 1 (73); 5, S . 8 5 (134). R. v. MOHL, Encyklopädie der Staatswissenschaften, 1 8 7 2 2 , S. 6 5 3 ff. 13 W. BAGEHOT, S. Anm. 9, S. 1 4 3 ff; vgl. auch J. SCHUMPETER, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 1 9 5 0 2 , S. 4 3 4 ff. 1 4 Vgl. M . WEBER, Gesammelte politische Schriften, 1 9 5 8 2 , S . 2 1 3 , 2 7 5 ff, 3 2 7 f f , 3 3 5 , 3 3 9 ff, 3 8 4 ; dazu R. v. GNEIST, Die nationale Rechtsidee von den Ständen und das preußische Dreiklassenwahlrecht, 1 8 9 4 (Nachdr. 1 9 6 2 ) , S. 2 3 4 ff; R. SCHMIDT, Parlamentsregierung und Parlamentskontrolle in Deutschland, ZfP 2 ( 1 9 0 9 ) , S. 1 8 6 f f (189F); E. PIKART, Die Rolle der Parteien im deutschen konstitutionellen System vor 1 9 1 4 , ZfP N F 9, 1 9 6 2 , S. 1 2 ff; P. MOLT, Der Reichstag vor der improvisierten Revolution, 1 9 6 3 , S. 2 5 ff; D. GROSSER, Vom monarchischen Konstitutionalismus zur parlamentarischen Demokratie, 1 9 7 0 , S. 4 , 1 1 ff, 17, 2 1 2 , 215. 1 5 Dazu CH. F. MENGER, Z u r verfassungsrechtlichen Stellung der deutschen politischen Parteien, A ö R 7 8 , 1 9 5 2 / 5 3 , S. 1 4 9 ff ( 1 5 7 f f ) ; K. HESSE, Die verfassungsrechtliche Stellung der politischen Parteien im modernen Staat, W D S t R L 17, 1 9 5 9 , S. 11 ff; H. STEIGER, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1 9 7 3 , S. 1 6 9 ff; FRIESENHAHN, s. Anm. 5, S. 3 2 f f ; aber auch 11

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Vereinigungen, gleichzeitig macht die Verfassung sie jedoch zu staatsrechtlichen Einrichtungen. Sie sind, sagt das BVerfG (E 20, 56/100 f), „frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen, dazu berufen, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken und in den Bereich der institutionalisierten Staatlichkeit hineinzuwirken". Die den Parteien damit zugemessene Mittlerstellung erinnert an jene Position und Funktion, welche die altliberale Theorie im Verhältnis von Gesellschaft und monarchischer Staatsanstalt den damaligen Repräsentativkörperschaften zugeschrieben hatte. 16 Aus der „Mediatisierung" des Volkes durch die oligarchisch strukturierten Parteien 17 folgt, daß deren verfassungsmäßige Eingliederung mitnichten einfach den Einbruch direktdemokratischer, also identitärplebiszitärer Momente in das parlamentarische Repräsentativsystem darstellt. 18 Vielmehr wird die parlamentarische Repräsentation — sieht man Art. 21 im Zusammenhang mit den Art. 5, 8 und 9 GG — mit einem offeneren und flexibleren Sub-System von Parteien, Verbänden und Massenkommunikationsmitteln unterfangen, das selbst bereits in einem beträchtlichen Maße repräsentativ und d.h.: oligarchisch, korporativ und föderal strukturiert ist. 19 Die Partei der „Grünen" nimmt da allenfalls graduell, aber nicht prinzipiell eine Sonderstellung ein.

K.-H. SEIFERT, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 7 5 , S. 7 7 ff, der mehr den privatrechtlichen Charakter der politischen Parteien („Sondervereine") hervorhebt. 1 6 Vgl. H . BRANDT, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz, 1 9 6 8 . - Unter dem Aspekt des Freiheitsprinzips hat die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auch heute noch ihren Sinn, aber der ist von dem, welcher sich aus dem Kontext des 19. Jh. ergibt, recht verschieden. Deshalb ist W. HENKES Satz „Die Parteien stehen zwischen Staat und Gesellschaft" (in: Das Recht der politischen Parteien, 1 9 7 2 2 , S. 1) ziemlich fragwürdig. 1 7 Vgl. W. WEBER, Spannungen und Kräfte im westdeutschen Verfassungssystem, 1 9 7 0 3 , S. 3 6 ff: „Der Einbruch politischer Stände in die Demokratie". Die zu einiger Popularität gelangte Wendung, daß die Parteien das Volk „völlig mediatisiert (haben)", findet sich aaO, S . 4 3 . 18 So aber bekanntlich G. LEIBHOLZ, Strukturprobleme der modernen Demokratie, 1 9 6 7 3 , S. 7 1 ff, 9 3 ff, 1 4 2 ff; dazu näher H. HOFMANN, Parlamentarische Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie, Mitt d. dt. Talentanwälte 76, 1985, S.llOff. " Dazu W. WEBER, S. Anm. 17, bes. S . 4 8 , u. K.-H. SEIFERT, S. Anm. 15, S. 2 7 ff; mit Recht ortet H. SCHULZE-FIELITZ den „sachlich-normativen Schwerpunkt informaler Verfassungsregeln" im „engen Zusammenhang mit der Dynamik des Parteienstaats": Der informale Verfassungsstaat, 1 9 8 4 , S. 1 6 2 .

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II. Daß der Parlamentarische Rat den demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß in dieser charakteristischen Weise institutionalisiert, nämlich im Bundestag zentriert hat, erklärt sich natürlich aus historischer Erfahrung, genauer: aus der Interpretation jener Umstände, die man für das Scheitern der ersten deutschen Republik verantwortlich gemacht hat. Daraus resultierten: die Furcht vor radikalen Parteien und destruktiven Parlamentsmehrheiten, ferner das Bestreben der Schwächung desjenigen Amtes, dessen Inhaber sich am Ende schwach gezeigt, als „Hüter der Verfassung" 20 eben nicht bewährt hatte, und über allem — die Furcht vor der Verführbarkeit der Massen. Höchst symptomatisch hierfür ist das Argument des Abgeordneten Theodor Heuss gegen die Zulassung von Volksbegehren und Volksentscheid, welche die Zentrumsfraktion dreimal vergeblich beantragte. Heuss meinte, im Gegensatz zu den überschaubaren, traditionell festgefügten Schweizer Verhältnissen sei Volksinitiative in einer „Zeit der Vermassung und Entwurzelung, in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen und führe zu einer dauernden Erschütterung des mühsam erkämpften und noch zu erkämpfenden Ansehens der Gesetzgebungskörper". 21 Es waren eben diese Einschätzungen, welche auch zu spezifischen verfassungsrechtlichen Sicherungen der parlamentarischen Demokratie mit ihrem repräsentativen politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß führten. Diese Sicherungen lassen sich in sieben Punkten zusammenfassen. III. 1. Grundvoraussetzung für das Funktionieren des politischen Prozesses, wie ihn das GG einrichtet, sind mindestens zwei demokratische Parteien. Mit Recht hat das BVerfG daher das Mehrparteienprinzip zu einem wesentlichen Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erklärt. 22 Indem Art. 21 GG von den Parteien nur in der Mehrzahl spricht und die Freiheit ihrer Gründung garantiert (Abs. 1 S. 2), sichert er ihre Pluralität; indem er diese freien privaten Vereinigungen demokratischen Organisationsprinzipien un2 0 C. SCHMITT, Der Hüter der Verfassung, 1 9 3 1 , S. 132 ff, über den Reichspräsidenten als den „eigentlichen" Wahrer der WRV. 2 1 Zit. nach d. Zusammenfassung v. DOEMMING U. a., s. Anm. 1, S. 6 2 0 . 2 2 Vgl. BVerfGE 2, 1 (13, 69); 5, 85 (224).

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terwirft (Art. 21 Abs. 1 S. 3 GG), macht er sie über ihre Funktionsbestimmung (Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG) hinaus auch organisatorisch zu Verfassungseinrichtungen und schützt so den intendierten politischen Willensbildungsprozeß dort, wo im Parteienstaat die vielberufene „Basis" liegt. Der Vorkehrung gegen autokratische Strukturen korrespondiert der Gedanke des Art. 21 Abs. 1 S.4 GG, plutokratische Fremdsteuerungsversuche durch Publizität zu neutralisieren.23 Systematisch handelt es sich hierbei um eine funktionale Parallele zum Verbot des imperativen Mandats beim einzelnen Abgeordneten. Tatsächlich wird dieser Neutralisierungseffekt freilich nicht durch jene, von ihren Adressaten mit eindrucksvoller Hemmungslosigkeit verbogene und mißachtete Vorschrift erreicht, sondern eher durch innerparteiliche Demokratie, durch die Komplexität der Interessen und die Vielzahl von Interessenten, die Größe der Parteien und ihren enormen, aus einer Quelle kaum mehr stillbaren Finanzbedarf, durch den vom BVerfG eröffneten Zugang zu den öffentlichen Kassen24 und durch die Kompromißzwänge des parlamentarischen Regierungssystems. 2. Gehört das Mehrparteienprinzip zu den elementaren Voraussetzungen des grundgesetzlichen Prozesses staatlicher Willensbildung, dann schließt die Logik des Art. 21 tendenziell alle Arten von totalitären Parteien aus, die eben dieses Prinzip verneinen. Abs. 2 mit seiner Möglichkeit des verfassungsgerichtlichen Parteienverbots ist daher alles andere als ein „Fremdkörper" im Bonner Verfassungsgefüge.25 Anders wäre dies nur dann zu beurteilen, wenn das GG, ausweislich seiner Konkretisierungen des Demokratieprinzips, den Mehrheitswillen als solchen letztlich höher stellte als die verfassungsrechtlichen Bedingungen seiner Bildung und Ermittlung, samt den konstitutionellen Grenzen seiner Wirksamkeit. Davon kann angesichts der Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG indes keine Rede sein. Denn ist es auch richtig, daß diese Vorschrift über Art. 20 nicht alle grundgesetzlichen Konkretisierungen des Demokratieprinzips deckt, Vgl. dazu H. H. v. ARNIM, Parteienfinanzierung, 1 9 8 2 , S. 4 2 ff, 98 ff. Vgl. BVerfGE 8, 5 1 (63); 12, 2 7 6 (280); einschränkend allerdings seit BVerfGE 2 0 , 5 6 (102, 115); s. hierzu H. H. v. ARNIM, ANM.23, S. 17, 2 0 , 36ff, 5 4 ff, 9 4 ff; ders., Verfassungsfragen der Parteienfinanzierung, JA 1 9 8 5 , S. 121 (125). 2 5 So aber im Hinblick auf die Freiheitlichkeit des Grundgesetzes I. v. MÜNCH, in: ders., Grundgesetzkommentar, Bd. 2 , 1 9 8 3 2 , Art. 2 1 Rdn. 85. Richtig F. STOLLBERG, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Parteienverbots, 1 9 7 6 , S. 1 9 f. 23

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so bezieht sie sich andererseits doch nicht einfach bloß auf einen abstrakten oder in irgendeinem Sinne „klassischen" Begriff, sondern schließt die historisch-konkreten Grundbedingungen von Demokratie mit ein. Zu diesen aber gehört nach geschichtlicher Erfahrung der Mehrparteiengrundsatz des Art. 21 Abs. 1 GG. 2,5 Führt doch jede Umwälzung, die auf die Beseitigung des Mehrheitsprinzips, der Wahlen nach demokratischen Grundsätzen, der Herrschaft nur auf Zeit, der Gewaltenteilung und der (politischen) Grundrechte ausgeht, zwangsläufig über die Verneinung von Mehrparteienprinzip und organisierter Opposition. In unseren Zeiten und Breiten ist totalitäre Herrschaft ja nicht parteienlose Herrschaft, sondern Herrschaft einer Partei, welche die anderen Parteien unterdrückt. Zwischen dem die heutigen politischen Grundlagen parlamentarischer Willensbildung sichernden Art. 21 GG, den demokratischen Grundsätzen des Art. 20 GG und der Unantastbarkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG besteht folglich ein nicht nur durch die bestehenden Verhältnisse oder deren bloße Sanktion vermittelter, sondern wiederum ein verfassungskonstruktiver, also notwendiger Zusammenhang. 27 Das ändert freilich nichts daran, daß wir es hier mit einer paradoxen Grenzbestimmung zu tun haben (Schutz der Freiheit durch Negation von Freiheit). Doch ist derlei allemal unvermeidlich, wo eine Rechtsordnung sich selbst sanktioniert, indem sie zu diesem Zweck — wie sollte es anders sein? — das Gegenteil von Recht, nämlich Gewalt legitimiert.28 16 In diesem Sinne auch MAUNZ, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 21, Rdn.5, Art. 79, Rdn.47; vgl. dazu auch N. GEHRIG, Parlament - Regierung - Opposition, 1969, S. 108 ff. 27 Vgl. dazu den Bericht der Sachverständigenkommission des Bundesministeriums des Innern „Rechtliche Ordnung des Parteiwesens", 1958 2 , S. 127; K. HESSE, S. Anm. 15, S. 17, 46. Für die daraus folgende Unantastbarkeit des Art. 21 GG auch WERNICKE, in: Bonner Kommentar, Art. 21, Erl. II 1 b; W. GREWE, Zum Begriff der politischen Partei, Festschrift f. E. Kaufmann, 1950, S. 65 ff (68); dagegen v. MANGOLDT/KLEIN, Das Bonner Grundgesetz, Bd. 1, Nachdr. 1966, Anm. III 5 zu Art. 21 (S. 623 f) u. H.-U. EVERS, in: Bonner Kommentar, Zweitbearb., Art. 79 Abs. 3, Rdn. 190, der selbst jedoch die stärksten Zweifel an der Richtigkeit dieser Auffassung äußert; vermittelnd MAUNZ, S. Anm. 26, Art. 21, Rdn. 134 und 135. 28 Eine solche Paradoxie ist freilich - vgl. dazu N. LUHMANN, Die soziologische Beobachtung des Rechts, 1985 - etwas anderes als ein „theoretischer Widerspruch"; so aber W. HENKE in: Bonner Kommentar, Zweitbearb., Art. 21, Rdn. 53. Zunächst überraschend ähnlich H. RIDDER in: J. Mück (Hrsg.), Verfassungsrecht, 1975, S. 134: „Konstrukt antiliberalen und antidemokratischen Den-

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3. Die eben angestellten Überlegungen zeigen, daß in die Betrachtung der verfassungsrechtlichen Sicherungen der parlamentarischen Demokratie und ihres repräsentativ institutionalisierten Willensbildungsprozesses auch Art. 79 Abs. 3 GG einbezogen werden muß. Diese Unantastbarkeitsklausel schützt selbstredend nicht nur die Grundsätze des Mehrparteienprinzips und der Chancengleichheit der politischen Parteien, sondern natürlich auch und erst recht das Prinzip parlamentarischer Repräsentation. Dies kann auf zweierlei Weise demonstriert werden: Zum einen werden die demokratischen Grundsätze des Art. 20 GG, auf die Art. 79 Abs. 3 GG verweist und auf die sich das Homogenitätsgebot des Art. 28 GG stützt, durch Abs. 1 S. 2 dieser Bestimmung dahin präzisiert, daß das Volk eine demokratisch gewählte Vertretung haben muß. 29 Zu demselben Ergebnis führt es in einer differenzierteren Weise, wenn man die einzelnen Elemente des demokratischen Prinzips, welche Art. 79 Abs. 3 GG unstreitig garantiert 30 , zu einem Staatsaufbau zusammensetzt: die demokratische Legitimation allen staatlichen Handelns, das Mehrheitsprinzip, periodische Wahlen nach den demokratischen Prinzipien des Art. 38 GG, Herrschaft auf Zeit, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Respektierung des Wesensgehalts der (politischen) Grundrechte und das Recht auf Opposition. Nur bei Beteiligung eines Parlaments an den politischen Leitentscheidungen geben die genannten Einzelheiten insgesamt einen kohärenten und praktikablen Sinn. Das hier interessierende Schutzgut des Art. 79 Abs. 3 GG ist m.a.W. das demokratische parteienstaatliche Repräsentativsystem. Der Satz, „Demokratie (sei) auch in anderer Art denkbar", etwa „als unmittelbare Demokratie nach dem politischen Formprinzip der Identität" 31 , ist - bezieht man ihn auf die verstetigte, arbeitsteilige Organisation eines Flächenstaates — irreal. 32 Seine Berechtigung hat er nur punktuk e n s " , aber schon die nächste Seite lehrt, d a ß dies bloß für „ A n t i k o m m u n i s m u s " steht. Auf S. 138 fragt sich der Leser d a n n , wieso die „antisozialistische T e n d e n z " einer zugestandenermaßen nicht sozialistischen Verfassung ein („antiliberaler u n d a n t i d e m o k r a t i s c h e r " ) Selbstwiderspruch sein soll. 2 9 Diesen Z u s a m m e n h a n g wechselseitiger Information von Art. 2 0 u n d 28 G G hat R . HERZOG herausgearbeitet, in: M a u n z / D ü r i g , G r u n d g e s e t z - K o m m e n t a r , Art. 2 0 II. Abschn., R d n . 9 1 ff. 3 0 Vgl. K . HESSE, G r u n d z ü g e des Verfassungsrechts der Bundesrepublik D e u t s c h l a n d , 1 9 8 4 1 4 , R d n . 7 0 5 und 7 0 6 ( S . 2 6 3 ) . 3 1 TH. MAUNZ, in: M a u n z / D ü r i g , K o m m e n t a r z u m Grundgesetz, Art. 2 1 , Rdn. 1 3 4 . 3 2 Vgl. d a z u E.-W. BÖCKENFÖRDE, Mittelbare/repräsentative D e m o k r a t i e als

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eil für den Einbau einzelner plebiszitärer Entscheidungskompetenzen. Und in der Tat bedeutet die Festlegung auf das demokratische parteienstaatliche Repräsentativsystem nicht notwendig eine generelle Entscheidung gegen Volksbegehren und Plebiszite. Sie sind in der parlamentarischen Demokratie nicht a priori strukturwidrig. 33 Entsprechende Möglichkeiten können durch ihre bloße Existenz der notwendigen demokratischen Rückbindung des Repräsentativsystems dienen, außerdem auch als Verstärkung der parlamentarischen Opposition fungieren, u.U. aber auch die Parlamentsmehrheit entlasten. Entscheidend sind allein das Maß und die funktionale wie verfahrensmäßige Integration. Mag der Parlamentarische Rat die Volksgesetzgebung abgelehnt haben, für alle Zeit ausgeschlossen hat er sie nicht.34 Darauf wird zurückzukommen sein. Unklar ist allerdings, ob und inwieweit das garantierte Prinzip demokratischer Repräsentation das parlamentarische Regierungssystem einschließt. Das BVerfG hat dies früher rundheraus verneint35, später im Hinblick auf Art. 69 Abs. 2 GG indes gemeint, das parlamentarische Regierungssystem in den Ländern müsse lediglich nicht in allen Einzelheiten dem grundgesetzlichen Modell entsprechen.36 Nun läßt sich über diesen Punkt schon deswegen trefflich streiten, weil der Begriff des parlamentarischen Regierungssystems nicht einheitlich gehandhabt wird. Der Grund hierfür liegt darin, daß — neben der Teilhabe des Parlaments an der Staatsleitung — Parlamentsabhängigkeit der Regierung vorausgesetzt wird, worunter man indes durchaus Verschiedenes verstehen kann. 37 Dies weiter zu verfolgen, ist hier nicht der Ort. Auch würde es zu eigentliche Form der Demokratie, Festschrift f. K. Eichenberger, 1982, S.301 ff; s. auch die interessante schweizerische Fallstudie von L. NEIDHART, Repräsentative Formen in der direkten Demokratie, Festschrift f. E. Gruner, 1975, S. 299 ff (314 ff). 33 S. insbes. U. SCHEUNER, Das repräsentative Prinzip in der modernen Demokratie, zit. n. d. Wiederabdruck, in: H. Rausch (Hrsg.), Zur Theorie und Geschichte der Repräsentation und Repräsentatiwerfassung, 1968, S. 386 ff (404 ff). 34 Mit Recht hat es A. HAMANN (GG-Kommentar, 1961 2 , B 6 zu Artikel 20) als „abwegig" bezeichnet, „die Nichtzulassung von Plebisziten als wesentlichen und tragenden Grund unserer Verfassungsordnung anzusehen". 35 BVerfGE 9, 268 (281). 36 " BVerfGE 27, 44 (55 f); dagegen P. HÄBERLE unter Berufung auf die frühere Entscheidung des Gerichts: „Landesbrauch" oder parlamentarisches Regierungssystem? JZ 1969, S. 613 ff (616). 37 Dazu schon U. SCHEUNER, Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems, AöR 52, 1927, S. 228 ff.

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weit führen, das Problem vom Gegenbegriff des Präsidialsystems her anzugehen. Denn da gibt es kaum weniger zweifelhafte Varianten, wie etwa das „parlamentarisch-präsidentielle Zwittergebilde" des Regierungssystems der V. Französischen Republik.38 Deshalb sei besser konkret gefragt, wie weit die mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung garantierte Verantwortlichkeit der Regierung und das damit gleichfalls verbürgte Recht auf Opposition reichen.39 Ist damit gemeint, daß das Parlament das Recht haben muß, die Regierung (oder wenigstens den Regierungschef) zu wählen und/oder die Regierung insgesamt und/oder einzelne Regierungsmitglieder zu stürzen? Meint das Recht auf Opposition ausschließlich jene parlamentarische Opposition, wie sie sich erfahrungsgemäß nur bei solchen parlamentarischen Abhängigkeiten der Regierung entwickeln kann? Diese Fragen sind zu verneinen.40 Dem demokratischen Postulat des GG genügt eine Regierung auch dann, wenn sie einem volksgewählten Präsidenten verantwortlich ist. Dies wird durch die Entstehungsgeschichte bestätigt.41 Damit ist nun freilich nicht gesagt, daß jedes beliebige Präsidialregime mit dem GG vereinbar wäre. Denn andererseits reserviert das demokratische Prinzip parlamentarischer Repräsentation der Volksvertretung nicht nur das Budgetrecht und die Kontrolle der auswärtigen Gewalt, sondern vor allem — im Rahmen der Bundeszuständigkeiten, versteht sich — gemäß Art. 20 GG gesetzgeberische Allzuständigkeit, garantiert zu3 8 K. v. BEYME, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, 1 9 7 3 2 , S.381. 3 9 Ähnlich schon N . GEHRIG, Gewaltenteilung zwischen Regierung und parlamentarischer Opposition, DVB1. 1 9 7 1 , S. 6 3 3 ff (636). 4 0 Ebenso P. HÄBERLE, S. Anm. 3 6 ; TH. MAUNZ, in: Maunz/Dürig, Komm. z. GG, Art. 2 8 , R d n . 2 7 u. 3 2 , Art. 7 9 , R d n . 4 7 , Fn. 1; R. HERZOG, ebd., Art. 2 0 , Rdn. 8 1 f; TH. OPPERMANN, Das parlamentarische Regierungssystem des Grund-

g e s e t z e s , W D S t R L 3 3 , 1 9 7 5 , S . 9 f f ( 1 8 ) ; K . STERN, S. A n m . 5 , § 1 9 III 5 ( S . 7 0 6 ) ;

B.-O. BRYDE, in: I. v. Münch, GG-Komm., Bd. 3 , 1 9 8 3 2 , Art. 7 9 , Rdn. 4 0 ; vgl. aber auch Rdn. 4 ; H.-P. SCHNEIDER, Das parlamentarische System, in: E. Benda, W. Maihofer, H. J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1 9 8 3 , S. 2 3 9 (252). 4 1 Der allg. Redaktionsausschuß hatte vorgeschlagen, statt einer früher vorgesehenen Bestimmung über die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der Volksvertretung dem heutigen Art. 2 0 II 2 den weiteren Satz anzufügen: „Die Regierung ist dem Volke verantwortlich" und dazu bemerkt: „ D a (dieser Satz) auch für die Länderverfassungen gelten soll, darf er nicht zu eng gefaßt sein: es soll dem Volk überlassen bleiben, ob es die Regierung durch die Volksvertretung oder auf andere Weise (z. B. durch unmittelbare Wahl) beruft und auf welche Weise es die Kontrolle ausübt." Vgl. v. DOEMMING U. a., Anm. 1, S. 1 9 9 .

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dem Vorrang w i e Vorbehalt des Gesetzes. Eine Beschränkung der parlamentarischen Gesetzgebung auf bestimmte Gegenstände, w i e in Art. 3 4 der Verfassung der V. Französischen Republik mit der Folge einer genuinen Verordnungsgewalt der Exekutive, wäre mit d e m G G sonach nicht vereinbar. 4 2 D a die Bundesländer sich jedoch allesamt für Spielarten des parlamentarischen Systems entschieden haben, so folgt daraus, daß sie hierin gegenüber der grundgesetzlichen Systemvariante natürlich erst recht frei sind. Schwerer als solche Gedankenspielereien über die Einführung v o n Präsidialsystemen wiegt freilich die Frage, w a s die eben behandelte normative Sicherheitskette, zu der außer der Art. 2 1 Abs. 2 und 7 9 Abs. 3 n o c h die Art. 9 Abs. 2 , Art. 18 und am Rande auch Art. 5 Abs. 3 G G zu rechnen sind 4 3 , wirklich wert ist. Diese Frage drängt sich v o n zwei Seiten her auf: Z u m einen ist es zweifelhaft, o b die Verbotsnorm des Art. 2 1 Abs. 2 GG, nach so langer Abstinenz der antragsberechtigten Organe, trotz massiver Herausforderungen, heute noch geltendes, d . h . durchsetzbares Verfassungsrecht dar42

Vgl. R. HERZOG, Anm.29, Art. 20, II. Abschn., Rdn. 96; s. dazu auch H.

MAURER,

F. E.

SCHNAPP, D e r

Verwaltungsvorbehalt,

WDStRL

43,

1985,

S. 135 ff. Die Einführung eines nach Art. 28 Abs. 1, 79 Abs. 3 GG zulässigen Präsidialsystems auch im Bund würde freilich die historisch-konkrete Identität des Bonner Verfassungssystems berühren. Demzufolge stellt sich die Frage, ob die Grenzen der Verfassungsänderung durch jene Klausel abschließend definiert sind oder ob darüber hinaus auch der Gesichtspunkt einer dem pouvoir constituant vorbehaltenen Totalrevision verfassungswahrend zu berücksichtigen wäre. 43 Dazu K. HESSE, Anm. 30, Rdn. 695 (S. 258). Über diesen Zuammenhang und die damit apostrophierten Begriffe der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der wehrhaften Demokratie im einzelnen aus der neueren Literatur v. MANGOLDT/KLEIN, Das Bonner GG, Bd. III, 1974, Art. 79, Anm. IV 2 b/bb (S. 1 8 8 3 f); H . - U . EVERS, S. A n m . 2 7 , R d n . 1 1 3 f f , 1 2 6 f f ; K. STERN, S. A n m . 5

(Staatsrecht I), § 16 (S. 555 ff); A. SATTLER, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, 1982, sowie in weiterer Perspektive noch immer C. J. FRIEDRICH, Die Staatsräson im Verfassungsstaat, 1961, S. 116 ff. Die innerhalb dieses Konzeptes strittigen Detailfragen berühren den skizzierten Zusammenhang ebensowenig wie der Umstand, daß seine leider nicht selten kleinkarierten Ausmünzungen immer wieder Anstoß erregen. Vgl. dazu E. DENNINGER, Verfassungstreue und Schutz der Verfassung, W D S t R L 37,1979, S. 7ff. Die (nur) normlogisch ansprechende Fundamentalkritik von H. RIDDER, AK-GG, Bd. 2, 1984, Art. 79, Rdn. 35 ff, welche Art. 79 III auf das (eher schon selbstverständliche) Verbot der Änderung von Art. 1 und 20 GG zu reduzieren versucht, übergeht geflissentlich den Umstand, daß Art. 79 III GG nicht Art. 1 und 20 GG als solche für unantastbar erklärt, sondern deren „Grundsätze" zu „berühren" verbietet. Erwägenswerte Kritik an der „Technik" des Art. 79 GG bei B.-O. BRYDE, S. A n m . 4 0 , R d n . 5 1 - 5 3 , u . in: V e r f a s s u n g s e n t w i c k l u n g , 1 9 8 2 , S. 2 2 4 ff.

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stellt.44 Und zum anderen legt die Abhörentscheidung des BVerfG45 und sein Urteil im Organstreit um die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages46 die Vermutung nahe, daß das Gericht eine offene Konfrontation mit verfassungsändernden Mehrheiten kaum wagen würde. 4. Keine Vorsorge haben die Verfassungsväter gegen die dem institutionellen politischen Willensbildungsprozeß von Splitterparteien drohenden Gefahren getroffen. Nach der im Parlamentarischen Rat vertretenen Auffassung47 müßte wegen des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) jede Sperrklausel gegen Splitterparteien mangels besonderer verfassungsgesetzlicher Grundlage sogar als verfassungswidrig angesehen werden. Indessen ist zu bedenken, daß das GG zwar demokratische Wahlrechtsgrundsätze, aber keine Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem enthält. 48 Ohne eine solche Entscheidung für das Mehrheits- oder das Verhältniswahlrecht bleibt der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit einstweilen jedoch von formaler Blässe. Auch besteht andererseits noch keine Veranlassung, der Frage von Sperrklauseln näherzutreten, die ja nur für das Verhältniswahlrecht eine Rolle spielen. Wird das Wahlrecht aber ganz oder doch im wesentlichen auf das Prinzip proportionaler Repräsentation gegründet, dann rechtfertigen, ja nötigen übergreifende verfassungsrechtliche Zusammenhänge parlamentarischer Willensbildung zur Modifikation der Wahlgleichheit. „Beim Verhältniswahlsystem", sagt das BVerfG (E 34, 81/99), „würde eine strikt durchgeführte Wahlrechtsgleichheit es auch kleinen Gruppen mit zerstreuter Wählerschaft oder reinen Interessenorganisationen ermöglichen, in das Parlament einzuziehen, die Gefahr einer übermäßigen Parteienzersplitterung heraufbeschwören und — wie die Erfahrungen unter der Weimarer Reichsverfassung gelehrt haben — eine Regierungsbildung erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen." In diesen als „staatspolitisch" qualifizierten Gefahren sieht das Gericht in ständiger Rechtsprechung49 besonders gewichtige 4 4 So schon TH. OPPERMANN, Anm.40, S. 23. Zu den Vollzugsproblemen dieser Vorschrift F. STOLLBERG, Anm. 25, S. 26 ff. 4 5 BVerfGE 30, S. 1. 4 4 BVerfG Urt. v. 1 6 . 2 . 1 9 8 3 - 2 BvE 1/83 - u. a. in NJW 1983, S. 735. 4 7 Vgl. v. DOEMMING U. a., Anm. 1, S. 204. 4 8 Hierzu und zum folg. die grundlegende Studie von H. MEYER, Wahlsystem und Verfassungsordnung, 1973. 4 9 Zusammenfassend BVerfGE 51, 222 (233 ff). — Zur einschlägigen Diskus-

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Gründe, die den Gesetzgeber ausnahmsweise berechtigen, in bestimmten engen Grenzen „vom Grundsatz der formalen Wahlrechtsgleichheit abzuweichen" (BVerfGE aaO). Und diese Gründe liegen eben in der Funktion des Parlaments als einer Wahlkörperschaft und in der Notwendigkeit handlungsfähiger Parlamentsmehrheiten als Teil eines den alten Gewaltenteilungsschematismus übergreifenden Regierungssystems. Letztlich also hat das BVerfG mit seiner Rechtsprechung zum Schutz der Entscheidungsfähigkeit des Parlaments eine Konsequenz gezogen, die eine weitere Implikation des in der Kanzlerwahlbestimmung des Art. 63 GG zentrierten Bonner parlamentarischen Systems entfaltet. 5. Eine andere, in unserem Zusammenhang zu behandelnde und gleichfalls — wenn auch in bescheidenerem Maße — wirksame sowie unverzichtbare „Schutznorm" ist das Prinzip des freien Mandats i. S. des Art. 38 Abs. 1 S . 2 GG. Daß der Satz, wonach die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen (sind)", hier unter die wirksamen Schutznormen des parlamentarischen Willensbildungsprozesses gerechnet wird, mag nach gewissen Erfahrungen manchem als Provokation erscheinen. Der Grund des Ärgernisses liegt indes weniger in Wortlaut und Sinn dieser Vorschrift als in einer doppelten Fehldeutung, der sie unterliegt. 50 Zum einen wird sie in prinzipieller Opposition zu Art. 21 GG gesehen und als Relikt eines „altväterlichen Honoratioren-Parlamentarismus" (Ridder) bespöttelt, und zum anderen entzünden sich die immer wiederkehrenden Schmähungen an der altliberalen Ideologie, mit der so viele Interpreten das Prinzip des freien Mandats betrachtet haben. Diese Belastung besteht in einer sion im p a r l a m e n t a r i s c h e n R a t H . MEYER, S. A n m . 4 8 , S. 3 1 , 4 5 ; M . ANTONI,

Grundgesetz und Sperrklausel, ZParl 11,1980, S. 93 ff. Antoni hält die Sperrklausel für verfassungswidrig (ablehnend auch schon HAMANN/LENZ, GG-Komm., 1970 3 , B 5 d zu Art. 38, krit. zuletzt FRIESENHAHN, S. Anm. 5, S. 29 f). Antoni versucht nachzuweisen, daß die Weimarer Parteiverhältnisse durch eine solche Sperrklausel nicht stabilisiert worden wären (s. aaO, S. 102 ff). Das ist trotz aller Rechenexempel natürlich Spekulation; vgl. dazu H. MEYER, Anm. 48, S. 225 ff. Zum folg. S. MAGIERA, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 83 ff, 228 ff. 5 0 Vgl. hierzu und zum folgenden v. a. CH. MÜLLER, Das imperative und freie Mandat, 1966, P. BADURA, BK, Zweitbearb., 1966, Art. 38; Schlußbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform, BT-Drucksache 7/5924, Kap. 2, Ziff. 3 = Zur Sache, 3/76, S.75ff; ferner B. GUGGENBERGER u.a., Parteienstaat und Abgeordnetenfeiheit, 1976.

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idealisierenden Überhöhung. Sie setzt die deutsche Parlamentarismuskritik von Carl Schmitt bis Agnoli und Brückner mit den historischen Verhältnissen gleich, um von daher eine Verfallsgeschichte zu konstatieren, mit der die heutige Wirklichkeit von vornherein ins Unrecht gesetzt wird.51 In Wahrheit haben wir es bei Art. 21 und 38 GG — von dem Kollisionsfall des Parteiverbots abgesehen — nicht mit gegenläufigen Prinzipien52, sondern mit verschiedenartigen Regelungen auf verschiedenen Ebenen zu tun, die auf eine Verdoppelung der Repräsentation hinauslaufen. Die politischen Parteien samt allen politisch agierenden Interessengruppen bilden mit ihrem Beziehungsgeflecht innerhalb der politischen Öffentlichkeit eine weithin informelle Sub-Verfassung. Dieses politische Unterfutter des Verfassungsgesetzes ist zwar nicht ausschließlich, aber doch in hohem Maße selbst oligarchisch, korporativ und föderal, kurz: repräsentativ strukturiert. Wenn nun das Grundgesetz jene Sub-Verfassung mit dem Repräsentationsprinzip des Art. 38 staatsrechtlich überformt, so bedeutet dies, daß die gewählten Parteivertreter, unbeschadet ihrer durch Parteidisziplin vermittelten fortdauernden Teilhabe an der Repräsentationsfunktion der Partei und an deren freiem politischen Mandat, nunmehr für ihre Person zusätzlich — und im Konfliktfall vorrangig — der andersartigen verfassungsrechtlichen Disziplin eines öffentlichen Amtes unterworfen werden.53 Das Prinzip des freien Mandates hat also die verhältnismäßig einfache rechtstechnische Bedeutung, jeden einzelnen Abgeordneten, trotz des je partikulären Wahlvorgangs und ungeachtet der jeweiligen politischen Loyalitäten, in gleicher Weise 5 1 Kleine Dokumentation neuerer dt. Parlamentarismuskritik (die bekanntlich älter ist als der dt. Parlamentarismus) bei H . WASSER, Parlamentarismuskritik vom Kaiserreich zur Bundesrepublik, 1 9 7 4 . - Zur Auseinandersetzung damit statt aller

TH. OPPERMANN, S. A n m . 4 0 , S. 1 0 ff, 3 5 ff; H . MEYER, S. A n m . 1 0 , S. 6 9 ff. 5 2 So aber wiederholt das BVerfG (das anfänglich sogar von der „prinzipiellen Unvereinbarkeit" der beiden Vorschriften gesprochen hat: E 2 , 1 / 7 2 ) unter dem Einfluß der bekannten Lehre von Leibholz; vgl. Anm. 18, S. 6 3 ff, 7 1 ff; zusammenfassend H.-J. RINCK, Der verfassungsrechtliche Status der politischen Parteien in der Bundesrepublik, Festschr. f. G. Leibholz, Bd. II, 1 9 6 6 , S. 3 0 5 ff ( 3 1 7 f). Gegen diese Antithese mit Recht H.-P. SCHNEIDER, in: AK-GG, Bd. 2 , 1 9 8 4 , Art. 3 8 , Rdn. 18. Im einzelnen dazu W. MANTL, Repräsentation und Identität, 1 9 7 5 , S. 1 4 9 ff, u. die in Anm. 18 zit. Arbeit des Verf. Vgl. ferner MAGIERA, S. Anm. 4 9 , S. 1 0 9 ff. 53 Vgl. BVerfGE 4 0 , 2 9 6 ; TH. MAUNZ, in: Maunz/Dürig, Kommentar z. GG, A r t . 3 8 , Rdn. 8 ff, 2 1 ; H . MEYER, S. Anm. 10, S . 9 4 f ; U. K. PREUSS, in: AK-GG, Bd. 2 , 1 9 8 4 , Art. 2 1 Abs. 1, 3 , Rdn. 5 3 ff.

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zum Teil eines gesamtstaatlichen Organs mit gesamtstaatlicher Verantwortung zu machen. Wer im Parteienstaat hierin etwas in sich Widersprüchliches sehen zu müssen meint, der hätte etwa auch das Amt des Bundeskanzlers für ein überlebtes Relikt vergangener Zustände zu halten, da doch auch hier ein Parteimann, meist sogar ein Parteiführer, eine gesamtstaatlich wirksame Kompetenz in gesamtstaatlicher Verantwortung wahrzunehmen hat. Gewiß: das Verbot des imperativen Mandats überläßt der Parteiräson und dem im parlamentarischen Prinzip gegründeten Gefolgschaftsanspruch der jeweiligen Fraktionsführung ein weites Feld des Einflusses und der Lenkung. 54 Aber in seinen engen Grenzen ist es wie die Konfliktfälle lehren — wirksam und fungiert so parlamentsintern als ein gewisses Gegengewicht, wie es andererseits jeden Versuch externer Bindung heilsam verunsichert. Daß der Fraktionszwang verboten, daß weder Ungehorsam gegenüber der Partei und Parteiausschluß noch Parteiaus- und -übertritt den (sofortigen) Mandatsverlust zur Folge haben, daß alle Abmachungen des Abgeordneten über die Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung seines Mandats rechtlich unwirksam sind — dies alles hat nach wie vor seinen guten Sinn. Hier liegt auch der richtige Kern der heute aus gegebenem Anlaß eifrig propagierten These, daß die Rotation von Abgeordneten während der Legislaturperiode verfassungswidrig sei. 55 Denn in der Tat sind alle Arten von Abmachungen darüber, ein parlamentarisches Mandat zu irgendeinem Zeitpunkt aufzugeben und damit einem anderen Platz zu machen, mit Art. 38 GG unvereinbar und daher rechtsunwirksam. Wenn aber ein Abgeordneter diese — im übrigen politisch ziemlich törichte — Praxis für richtig hält, dann hat nach eben diesem Art. 38 auch niemand das Recht, ihn an der Aufgabe seines Mandates zu hindern — und zwar auch dann nicht, wenn diese seine Überzeugung sich mit dem nachdrücklichen Willen seiner Partei deckt. Andernfalls müßten wir konsequenterweise künftig von allen Abgeordneten bei allen Abstimmungen den Nachweis verlangen, daß sich ihr Abstimmungsverhalten mit der jeweiligen Parteilinie nur zufällig deckt, weil das Abstimmungsverhalten andernfalls als erzwungen angesehen werden müßte.

54

V g l . d a z u W . H E N K E , S. A n r n . 1 6 , S . 1 4 8 f f ; H . M E Y E R , S. A n m . 1 0 , S . 9 5 f ; K .

STERN, S. A n m . 5 , § 2 4 I V 2 u . 3 ( S . 1 0 7 3 f f ) ; E . - W . B Ö C K E N F Ö R D E , D i s k u s s i o n s b e i -

trag, in: Deutsch-Spanischer Verfassungsrechts-Kolloquium, s. Anm. 5, 103 ff. 5 5 Vgl. R. SCHOLZ, Krise der parteienstaatlichen Demokratie? 1 9 8 3 , S. 17 ff, 41.

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6. Die im GG entworfene Ordnung des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses, welche das Parlament in den Mittelpunkt rückt, hat ihren Schlußstein — es war bereits die Rede davon — im voll ausgebildeten parlamentarischen Prinzip. Hat dieser Grundsatz, wie ebenfalls schon erwähnt, auch nicht in allen seinen Konsequenzen teil an der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, so hat er doch auf der Ebene des „einfachen" Verfassungsrechts, wenn diese Wendung erlaubt ist, wegen seiner zentralen Bedeutung in Art. 68 GG eine besondere Absicherung erfahren. Denn nach richtiger Auffassung dient diese Regelung der Folgen einer negativen Antwort auf die Vertrauensfrage des Kanzlers nicht (wie das Reichstagsauflösungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 25 WRV 5 6 ) primär dem Einbau direktdemokratischer Entscheidungen in den politischen Prozeß oder der Herstellung einer Gleichgewichtslage zwischen Präsident und Kanzler einerseits und dem Parlament andererseits. Vielmehr schließt Art. 68 Abs. 2 S. 2 GG den Appell an das Volk gegen eine regierungsbereite Parlamentsmehrheit aus und erweist die ganze Vorschrift so als eine Vorkehrung, welche die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems sicherstellen soll. Die Einschaltung des Volkes durch Neuwahlen ist lediglich das letzte Mittel zur Erreichung dieses Zieles. 57 Infolgedessen kann es auch nicht als verfassungswidrig angesehen werden, wenn Regierungsfraktion(en) und Bundesregierung gemeinsam auf eine Verneinung der Vertrauensfrage hinarbeiten, um nach dem Abbröckeln oder Brüchigwerden der bisherigen Mehrheit über Neuwahlen wieder eine breitere parlamentarische Basis zu gewinnen. Insbesondere ist es nicht der Sinn des Art. 68 GG, parlamentarische Pattsituationen zu zementieren. Sollten Bundesregierung und Regierungsfraktion(en) diesen Weg allerdings nur beschreiten, um zu Lasten der Opposition die politische Gunst der Stunde für eine Verbreiterung ihrer parlamentarischen Mehrheit und eine Verlängerung des Regierungsmandats zu nutzen, so bleibt als Korrektiv die Prärogative

Vgl. dazu E. R. HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6, S. 3 5 4 ff. U. SCHEUNER, S. Anm. 3 3 , hat Art. 63 IV und 68 I GG als „wenig reale Notausgänge bei Verfassungsstillstand" bezeichnet (S. 4 0 3 , Fn. 56). H.-J. TOEWS, Verfassungsreform und Parlamentsauflösung, Festschrift f. W. Weber, 1 9 7 4 , S. 2 6 9 ff (272 ff), betont, daß es sich hier weder um plebiszitäre Elemente noch um Waffen gegen ein unbotmäßiges Parlament, sondern um „helfende Regulative" handelt. 56

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des Bundespräsidenten, über die Bundestagsauflösung zu entscheiden. 58 Etwas anderes ist es freilich, wenn Bundesregierung und Regierungsfraktion(en) im Besitz einer sicheren parlamentarischen Mehrheit die Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG betreiben, um durch Volkswahl die Legitimation einer neuen Regierung zu verstärken, die über ein geglücktes Mißtrauensvotum nach Art. 67 GG ins Amt gelangt ist. Folgt so die Wahl der Regierungsbildung, statt die Regierungsbildung der Wahl, wird auf diese Weise aus dem Remedium für eine parlamentarische Krise ein Plebiszit über einen verfassungsrechtlich durch Art. 67 GG dem Parlament vorbehaltenen Entscheidungsvorgang. In diesem Punkte haben wir nun allerdings seit der Organstreitentscheidung des BVerfG vom 16. Februar 1983 ein neues, dem Geist der Zeit entsprechend stärker plebiszitär orientiertes Verfassungsrecht. 59 7. Damit sind wir zugleich beim gegenwärtig in diesem Zusammenhang wohl aktuellsten Problem, der Frage nämlich, ob und inwieweit das GG über den Fall des Art. 29 hinaus Volksbefragungen, Volksbegehren und Volksentscheide zuläßt. 60 Bis vor wenigen Jahren war die ganz unangefochten h. M . die, daß das GG Plebiszite auf Bundesebene prinzipiell verbiete. Zur Begründung verwies man auf die Entstehungsgeschichte des GG, also auf die bereits erwähnte dreimalige Ablehnung der Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung, ferner auf den Charakter der grundgesetzlichen Demokratie als einer parlamentarischen, sowie hauptsächlich darauf, daß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die unmittelbare Mitwirkung des Volkes an der staatlichen Willensbildung auf Wahlen und auf Abstimmungen i. S. des Art. 29 GG beschränke. Eine gewisse Schwierigkeit ergab sich für die h. L. indes von Anfang 5 8 Vgl. H. C. F. LIESEGANG, in: I. v. Münch, GG-Komm., Bd. 2, 1983 2 , Art. 68, Rdn. 8 m.N. 5 9 Vgl. dazu die Dokumentation von W. HEYDE, G. WÖHRMANN (Hrsg.), Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht, 1 9 8 4 ; K. STERN, S. Anm.5, § 2 2 III 3 (S.995). 6 0 Art. 118 GG ist mit der Gründung des „Südweststaats" gegenstandslos geworden. Nach der Beseitigung der Kleingemeinden durch die Gebietsreformen hat auch Art. 28 I 3 GG praktisch seine Bedeutung verloren. - Den folgenden Punkt hat der Verfasser unter dem Titel „Bundesstaatliche Spaltung des Demokratiebegriffs unter dem Grundgesetz?" eingehender ausgearbeitet. Für alle Einzelheiten einschließlich der Belege darf auf diesen demnächst in der Festschrift f. K. H. Neumayer erscheinenden Beitrag verwiesen werden.

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an aus folgendem: Kaum hat man aus dem Zusammenhang von Art. 20 Abs. 2 S.2 und 29 GG einen sehr engen grundgesetzlichen Begriff repräsentativer Demokratie stilisiert, so muß man, was nach dem GG angeblich dem Begriff der Demokratie immanent ist, bei der Auslegung des Homogenitätsgebots des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG, nämlich bei der Interpretation der für die Länderverfassungen verbindlichen Grundsätze der Demokratie „im Sinne dieses Grundgesetzes", gleich wieder als offenbar doch bloß akzidentiell preisgeben. Denn daß die in den Länderverfassungen reichlich vorhandenen Vorschriften über Volksentscheide und Volksbegehren mit dem GG unvereinbar seien, hat im Ernst noch niemand zu behaupten gewagt. Vermittelnde Begründungen dafür werden kaum angeboten. Das ist verständlich. Denn jeder Versuch, die Vereinbarkeit der fraglichen landesverfassungsrechtlichen Normen mit den demokratischen Prinzipien des GG nachzuweisen, läuft aus Gründen der Logik unvermeidlich auf eine Erschütterung des alten Dogmas von der prinzipiellen Unzulässigkeit von Plebisziten auf Bundesebene hinaus. Wenn der den Ländern durch Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG vorgegebene Grundsatz der Demokratie „im Sinne dieses Grundgesetzes" die verschiedensten Formen direkter Demokratie zuläßt, so kann es sich in Art. 20 und 28 GG nur um ein in dieser Richtung variables Prinzip handeln. Die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG genannten „Abstimmungen" dürfen demnach nicht von vornherein ausschließlich auf die entsprechenden Neugliederungsregelungen des Art. 29 GG bezogen werden. Der behauptete Verfassungsvorbehalt für die bundesrechtliche Einführung direkt-demokratischer Entscheidungen müßte folglich allein auf einen Umkehrschluß aus Art. 29 und auf das methodisch jedoch nachrangige historische Argument gestützt werden. Aber zum einen betrifft Art. 29 GG die föderalen Grundlagen des Verfassungsaufbaues und gehört deswegen gar nicht unmittelbar in den Problemkreis von repräsentativer und unmittelbarer Demokratie. Und zum anderen nimmt diese Regelung nicht denselben Rang ein wie die (ihrerseits aber offenbar modifikationsfähige) Grundentscheidung des Art. 20 GG. Volksbefragung, Volksbegehren, Volksentscheid auf Bundesebene — alles das ist mithin (im Rahmen der Annex-Kompetenzen des Bundes) einerseits nur ein Problem der in Art. 76—78 GG enthaltenen institutionellen Ordnung des Gesetzgebungsverfahrens und andererseits eine Frage der Wahrung des nach Art. 20 und 79 Abs. 3 GG unantastbaren Prinzips parlamentarischer Repräsentation. Das Ergebnis: Ohne Verfassungsänderung könnte eine dem Wahl-

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gesetz vergleichbare allgemeine Regelung nur für rein konsultative Volksbefragungen getroffen werden. Punktuell wäre es darüber hinaus möglich, den Willen des Bundesvolkes in bestimmten Sachfragen durch Gesetz zu erfragen, wobei der Bundestag sich in vorgängiger freier Entscheidung diesem Votum sogar unterwerfen dürfte. Eine ganz andere, hier nicht zu diskutierende Frage ist die, ob es verfassungspolitisch sinnvoll wäre, diese Möglichkeiten auszuschöpfen.

IV. Das GG hat sich mit seiner Entscheidung für die repräsentative Demokratie in einer besonders nachdrücklichen und sehr konsequenten Weise für die Institutionalisierung des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses ausgesprochen. Damit verknüpft das GG den Demokratiebegriff auf eine besonders enge Weise mit dem Amtsgedanken. Dies hat wohl nicht nur in den Erfahrungen der jüngeren deutschen Vergangenheit seinen Grund, sondern weist weit zurück in die vordemokratischen Anfänge deutschen Nachdenkens über die Souveränität des Volkes. Institutionalisierung des politischen Prozesses, Verstetigung in einer Ämterordnung bedeutet die Herausbildung eines besonderen Systems — eben des „Repräsentativsystems". Ein solch ausgegrenztes System existiert kraft der bewußten und ständigen Unterscheidung von der Offenheit und Formlosigkeit seines politischen Umfeldes und dessen Bestrebungen, Meinungen, Stimmungen und Impulsen. Aber zugleich reproduziert sich das System im und aus dem Bezug zu seinem Umfeld. Stabilisierung und Sicherung des institutionalisierten Prozesses bedeutet daher nicht dessen Abschottung. Das großstaatliche Repräsentativsystem lebt m.a.W. nicht nur aus der Unterscheidung von, sondern auch aus der Einbettung in ein weiteres, offenes System politischer Kommunikation, das seine notwendige demokratische Rückkoppelung vermittelt. Zu seinen Lebensgrundlagen gehören daher unabdingbar auch die politischen Grundrechte der Art. 5, 8 und 9 GG.

Zur Legitimität politischen Entscheidungshandelns Vom Mehrheits- zum Minderheitsprinzip?

WALTER LEISNER

I.

Das Mehrheitsprinzip ist die zentrale Legitimation aller Volksherrschaft1, der einzige Grundsatz vielleicht, der sämtlichen Formen dessen gemeinsam ist, was man heute Demokratie nennt. Daß Mehrheit entscheide — das ist ein demokratisches Axiom 2 , ja ein Tabu, es bedeutet demokratische Ideologie im eigentlichen Sinne des Wortes; und hier zeigt sich eben, daß keine Staatsform ohne derartige ideologische Grundlagen auszukommen vermag. Die legitimitätsschaffende Stärke des Mehrheitsprinzips liegt vor allem in einem Doppelten: — Zunächst in der politik-philosophischen Begründung, welche ihm Rousseau3 in klassischer Weise gegeben hat; Mehrheit als eine Form der Einstimmigkeit. Denn daß Einstimmigkeit Legitimität schafft, daß der volle Konsens sie bringt, ist eindeutig. Bekanntlich 1 Vgl. zum Mehrheitsprinzip als Grundlage der Demokratie u. a. H. KRÜGER, Allgemeine Staatslehre, 1954, S. 283 f; R. HERZOG, Allgemeine Staatslehre, 1971,

S . 2 9 3 f, 4 0 9 f; DERS., „ M e h r h e i t s p r i n z i p " , Ev S t L e x , 1 9 7 5 2 , Sp. 1 5 4 7 ; zur ge-

schichtlichen Entwicklung des Mehrheitsprinzips insbesondere O.GIERKE, Über die Geschichte des Majoritätsprinzips, Schmollers Jahrbuch 39, S. 565 ff; F. ELSENER, Zur Geschichte des Majoritätsprinzips, ZRG Kan. Abt. 42 (1956), S. 73 ff; M. HECKEL, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 1983, insbes. S. 118 f, 206 f. 2 Zum Verhältnis Mehrheit-Demokratie vgl. R. ZIPPELIUS, Allgemeine Staatslehre, 1985', S. 121 f; neuerdings noch W. LEISNER, Der Gleichheitsstaat - Macht durch Nivellierung, 1980, insbes. S. 89 f, 216 f; DERS., Die demokratische Anarchie - Verlust der Ordnung als Staatsprinzip, 1982, S. 108 ff; DERS., Der Führer: Persönliche Gewalt — Staatsrettung oder Staatsdämmerung, 1983, u. a. S. 273 f. 3 Dazu R. ZIPPELIUS, aaO; DERS., Geschichte der Staatsideen, 1976, S. 102 f.

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hat die polnische Einstimmigkeitsproblematik des 18. Jahrhunderts vor allem Rousseau angeregt, Mehrheit als Form der Einstimmigkeit zu begründen: Die Überzahl handelt eben auch für die Minderzahl; sie erkennt das „gemeinsame Beste", das „im Grunde" auch die Minderheit will — in diesem geheimnisvollen mehr Willens- als Erkenntnisprozeß schafft sie den „allgemeinen Willen", dessen Ausdruck dann das Gesetz ist.4 — Doch zu dieser philosophischen Legitimitätsgrundlegung kommt die vielleicht entscheidende praktische: Mit keinem Staatsprinzip läßt sich leichter Politik betreiben als mit dem der Mehrheit, es ist der einfachste Grundsatz, nahezu wertungsfrei kann er angewendet werden, sanior-pars-Probleme5 treten nicht auf, vom wertenden Entscheiden zum einfachen Zählen — was könnte leichter sein? Das Mehrheitsprinzip liegt nicht nur der Demokratie zugrunde, es gibt ihr auch eindeutiges Profil, hebt sie ab von den anderen Staatsgrundformen, selbst von der Oligarchie. Und dieses Prinzip hat schließlich den Vorteil, daß es überall eingesetzt werden kann, in Staat wie Gesellschaft, vom Parlament bis in die letzte Vereinsversammlung, über unzählige Kommissionen, Arbeitsgruppen und Räte. Hier lag das Zentrum dessen, was einst als die große Errungenschaft einer „Demokratisierung der Gesellschaft" gepriesen wurde, ebenso allgemein und mächtig erscheint dieser Grundsatz wie jenes Führerprinzip 6 , in welchem eine Verbindung von Monarchie und Oligarchie ebenfalls in die letzten Verästelungen des Gemeinschaftslebens getragen werden sollte. Und wie das Führerprinzip, so soll auch das Mehrheitsprinzip jene Einheit von Staat und Gesellschaft wenigstens an der höchsten Spitze bringen, in einer Lawinenbewegung von Staat zu Gesellschaft und zurück soll Demokratie „hochgeschaukelt" werden. Doch nun nähern wir uns, nach einigen Jahrzehnten Demokratie in Deutschland, vielleicht bereits den Grenzen des Mehrheitsprinzips. Wenn es etwas gibt wie die vielberufene Krise der Demokratie, so wird sie vor allem dort sichtbar, wo ihr oberster Grundsatz in Zweifel gezogen wird - oder doch nicht mehr so begeistert wie früher verehrt, denn mit dieser Macht allein könnte er die Staatsform tragen. 4

Klassische staatstheoretische Darstellung bei R. CARRÉ DE MALBERG, La loi expression de la volonté générale, 1931. 5 Dazu für viele F. ELSENER, Anm. 1; H. KRÜGER, Anm. 1, S. 981. 6 Zum Verhältnis dieses Führertums zur mehrheitsgetragenen Demokratie siehe etwa E. R. HUBER, Verfassungsrecht des Deutschen Reiches, 1939 2 , insbes. S. 209 f.

Zur Legitimität politischen Entscheidungshandelns

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Die alte Kritik seit dem Dichterwort von der Vernunft der wenigen hat sich nie widerlegen lassen, ebensowenig wie die demokratische Gegenthese vom gesunden Volksempfinden der Mehrzahl. Doch in unserem Staatsrecht und in unserer Staatspraxis hat sich, von vielen noch gar nicht bemerkt, eine Gegenbewegung wider das Mehrheitsprinzip entfaltet, welche den provozierenden Titel dieses Vortrages wenigstens als Frage rechtfertigt: Setzt heute nicht eine Umkehrbewegung ein — vom Mehrheits- zum Minderheitsprinzip? Wir wollen es im folgenden an einigen Beispielen verdeutlichen, vor allem prinzipiell am anti-mehrheitlichen Grundrechtsschutz und, mehr im praktischen Funktionieren verhaftet, beim sich verstärkenden Minderheitenschutz. Doch diese reinen Schutzrichtungen vermögen das Mehrheitsprinzip wohl zu schwächen, nicht aber den Staatsorganisationsgrundsatz in sein Gegenteil zu verkehren. Dieses letztere beginnt erst dort, wo wieder, vor allem praktisch, das Bedürfnis nach der agierenden und zugleich dirigierenden Minderheit hervortritt.

II. Grundrechte als individualistischer Minderheitenschutz — das liegt in den Freiheitsrechten von ihren Anfängen an. 7 Selbst dort, wo einzelne Adelige geschützt wurden gegen königliche Willkür, war bereits ein Minderheitenproblem gestellt, und sei es auch nur darin, daß die Machtträger im Staat eben eine Minderheit darstellten. Weit deutlicher tritt dieser Aspekt seit dem 18. Jahrhundert hervor: Wenn die Freiheitsrechte das Individuum gegen den Staat schützen sollen, wenn sie als Schranke aufgerichtet werden auch gegen den allmächtigen allgemeinen Willen, werde er nun vom Monarchen oder von der Mehrheit gebildet, so tritt eben der einzelne — die Minderheit par excellence — der „Mehrheit" entgegen, zunächst der größeren Macht des Monarchen, sehr bald aber ganz deutlich der Mehrheit seiner Mitbürger, welche nach Rousseau „auch für ihn mitentscheiden wollen". „Der einzelne als Minderheit und sein Schutz in den Grundrechten" — das war das große, wenn auch als solches nur selten angesprochene Thema der vor allem in Frankreich geführten Diskussion 7 Zum Minderheitenschutz als einem „ordungspolitischen Hintergrund der Grundrechte" vgl. etwa R.HERZOG, Allgemeine Staatslehre, 1971, S . 3 6 3 f .

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„Grundrechte wider Demokratie" 8 : Französisch-revolutionärer Radikaldemokratismus erkannte richtig, daß es nicht nur galt, die Zwischengewalten zu brechen, um den Mehrheitswillen legitimierend durchzusetzen, daß ebensowenig der einzelne, die „ganz kleine Minderheit", sich der Mehrheit in den Weg stellen dürfe, geschützt von Grundrechten. Und als ein Widerspruch zum Mehrheitsprinzip, konkret: zum allgemeinen Wahlrecht in seiner Ausprägung der Verhältniswahl, wurde denn auch Grundrechtlichkeit in Frankreich bis in die neueste Zeit hinein stets überzeugt und erfolgreich bekämpft - und man war dennoch demokratisch, allen angelsächsischen Verbindungsversuchen von Grundrechtlichkeit und Demokratie zum Trotz. Heute ist die Grundrechtlichkeit, in Deutschland vor allem, so hoch entwickelt, so selbstverständlich geworden durch Erfahrungen der Vergangenheit, daß diese große Diskussion gar nicht mehr aufgenommen worden ist; damit aber wurde auch die gesamte Problematik des „einzelnen Grundrechtsträgers als Minderheit" verschüttet, der hier dem Mehrheitswillen Widerstand leistet, und zwar nicht nur dem der einfachen Parlamentsmehrheit, sondern möglicherweise sogar einer verfassunggebenden Mehrheit. Wagt es doch heute kaum mehr ein Verfassungsgesetzgeber, bei Grundrechtskatalogen mehr anzubringen als freiheitsverstärkende Randkorrekturen. 9 Entscheidend gesteigert wird all dies noch im Verbändestaat 10 , der großen Realität unserer heutigen Volksherrschaft. Hier sind die Zwischengewalten in anderer Form, häufig aber sogar in zünftische Gestaltungen zurücklenkend, wieder entstanden: in Vereinen, Gewerkschaften, in den Medien. Der Verbändestaat ist an sich schon etwas wie ein „Minderheitenstaat", eine Staatlichkeit eben, die weithin von agierenden Minderheiten beherrscht, jedenfalls aber ständig 8 Darstellung der Entwicklung bei J. LEMASURIER, La constitution de 1 9 4 6 et le contrôle juridictionnel du Législateur, 1 9 5 4 , S. 1 8 0 f; zur Ablehnung der Grundrechtsgeltung aus der Doktrin der demokratischen Souveränität heraus grundlegend R. CARRÉ DE MALBERG, Contribution a la Théorie générale de l'Etat, 1 9 2 0 , II, S. 5 7 9 ff. 5 Bezeichnend ist etwa, daß der Minderheitenschutz in der staatsrechtlichen Behandlung einen Platz im Organisationsteil findet, nicht bei den Grundrechten, siehe etwa K. HESSE, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 8 4 1 4 , Rdnrn. 153 ff, 2 2 5 , 2 7 6 , 6 7 9 . 10 Vgl. dazu K. STERN, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 7 7 , Bd. 1, S . 3 4 4 f f ; R.ZIPPELIUS, aaO, A n m . 2 , S . 2 2 1 ff; R.SCHOLZ, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 9, Rdn. 1 ff, 1 0 0 ff; W. LEISNER, Organisierte Opposition in Verbänden und Parteien? in: Z R P 1 9 7 9 , S. 2 7 5 ff, sowie noch DERS., Der Gleichheitsstaat, 1 9 8 0 , S. 2 0 4 ff.

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angestoßen wird. Nachdem so häufig das erste Wort auch das letzte ist, gerade im parlamentarischen Verfahren, kann diese Kraft gar nicht unterschätzt werden. Die Verbände als Macht organisierter Interessen werden rasch zur Gewalt organisierter Minderheiten. Wie immer diese Machtzellen der Demokratie intern organisiert sein mögen — wir kommen noch darauf zurück - , ihre Existenz und ihr Gewicht als solche schon schaffen den vielberufenen Gruppenstaat, die pluralistische Demokratie nicht nur der Individual-Minderheit, sondern der Gruppenminderheit. Daß all dies verfassungsrechtlich noch kaum verankert ist, darf nicht verwundern: Hier sperrt sich eben doch die organisierte Großdemokratie noch gegen die offene Anerkennung ihres Gegenprinzips, des Grundsatzes der agierenden Minderheit. Aktive Minderheiten sind auch die Kirchen mit ihren traditionellen Rechten gegen den Staat: Kaum je werden sie als Minderheitenprivilegien verstanden, doch sie sind im Grunde gerade dies: Die Absage an die Staatsreligion 11 bedeutet in erster Linie das Nein zu einer Mehrheitsreligion, die sonst ja der Logik der Volksherrschaft durchaus entspräche; frühe Beispiele der amerikanischen Demokratie belegen es. Das geltende Staatskirchenrecht ist also ein weiterer und sehr bedeutsamer Ansatzpunkt organisierten Minderheitenschutzes in der heutigen Mehrheits-Volksherrschaft. Dies alles mag man nun zu relativieren versuchen: Hier würden doch überall nur schützende Schranken um einzelne Bereiche errichtet, hier werde doch letztlich privacy allein geschützt, nicht aber ein Hineinwirken der Minderheiten in die politische Großentscheidung, welche nach wie vor allein vom Mehrheitsprinzip beherrscht sei, und damit könne sich die Minderheit außerhalb dieser individualschützenden Schranken letztlich nicht staatsgestaltend durchsetzen. Doch diese Sicht trügt, das Minderheitsprinzip ist schon viel weiter vorgedrungen:

in. Die Minderheit wird in unserer Verfassung nicht deshalb geschützt, damit sie Minderheit bleibe, sondern vor allem, damit sie Mehrheit 11

Vgl. dazu etwa BVerfGE 19, S . 2 0 6 , 2 1 6 ; 24, S . 2 3 6 , 2 4 6 ; 33, S.23, 28 f;

T H . M A U N Z / R . ZIPPELIUS, D e u t s c h e s S t a a t s r e c h t ,

198525,

S. 2 3 0 f f ;

TH.MAUNZ,

in: Maunz/Dürig, GG, Art. 140, Rdn. 4 3 ff; R. ZIPPELIUS, in: Komm, zum Bonner Grundgesetz, Art. 4, 1 9 6 6 (Zweitbearb.), Rdn. 18 ff.

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werden könne, zu jeder Zeit. 1 2 Aus dieser Chance zum Machtwechsel, aus einer sehr aktiven Einwirkungsmöglichkeit also, mag sie auch in der Zukunft liegen, kommt daher zuallererst die Legitimation des politischen Grundrechtsschutzes überhaupt. Dogmatisch gesehen läßt es sich so formulieren: Die Minderheit von heute wird in erster Linie als Mehrheit von morgen geschützt, Minderheiten- und Mehrheitsrechte sind insoweit untrennbar verbunden. Hier nun hat das geltende Verfassungsrecht einige gebündelte Instrumentarien des „Minderheitenrechts als Mehrheitsrecht" entwickelt, zum Schutze der Minderheitsrechte als echter Herrschaftsrechte: Die Periodizität 13 der Wahlen steht dabei an erster Stelle, die immer neue Chance der Minderheit, die Spitze des Staates zu besetzen; die weitergehenden Parteienprivilegien 14 , nicht zuletzt auch im Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht, zeigen die Minderheiten geradezu als „zentrale Verfassungsorgane". Das Recht, Untersuchungsausschüsse zu beantragen, damit aber wahrheitsfindend politisch mitzuregieren, bedeutet eine effektive parlamentarische Unterstützung — wir sehen es gerade heute. Hier aber herrscht nicht allein mehr die Mehrheit, rechtlich wie politisch setzt sich eben die Minderheit weithin durch. 15 Was immer an Meinungsfreiheit gesichert wird in Staat und Gesellschaft, es hat doch nicht nur den Charakter von Schranken, die ein stilles Kämmerlein umgeben sollen, hier wird in erster Linie Aktionismus 16 geschützt, der den Staat besetzen will. Die Mehrheit entscheidet — aber was ist sie, wenn man in die Zukunft blickt? Vielleicht nur mehr die Minderheit? 12

K. HESSE, Anm. 9, Rdn. 1 5 3 .

Vgl. BVerfGE 1 8 , S. 1 5 1 , 1 5 4 ; 4 4 , S . 1 2 5 , 1 3 8 f; TH.MAUNZ, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 3 9 , Rdn. 16 ff; G. KRETSCHMER, in: Bonner Komm, zum Grundgesetz, Art. 3 9 , 1 9 7 9 (Zweitbearb.), Rdn. 1 ff; K. STERN, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 8 0 , Bd. II, S . 7 4 f f . 1 4 BVerfGE 1, S. 2 0 8 , 2 2 5 ff; 2, S. 1, 73 f; 11, S. 2 6 6 , 2 7 3 ; 17, S. 1 5 5 , 1 6 6 f; 2 0 , S . 5 6 , 1 0 0 f f ; TH.MAUNZ, in: Maunz/Dürig, GG, A r t . 2 1 , R d n . 3 9 ; K.STERN, Staatsrecht I (Anm. 10), S. 173 f, 3 3 8 ff. 15 Vgl. TH. MAUNZ, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 4 4 , Rdn. 4 f f , 8 ; H . RECHENBERG, in: Bonner Komm, zum Grundgesetz Art. 4 4 , 1 9 7 7 (Zweitbearb.), Rdn. 3 4 ; K. STERN, Staatsrecht I (Anm. 10), S. 7 7 9 . 1 6 Zur Meinungsfreiheit in diesem Sinne vgl. z.B. R.HERZOG, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 5 Abs. 1, 2, Rdn. 5 6 ff; K. G. WERNICKE, in: Komm, zum Bonner Grundgesetz, A r t . 5 , S . 3 ; I.V.MÜNCH, in: ders., GG, Bd. 1, 1 9 8 1 2 , A r t . 5 , Rdn. 11 ff; H . K. J. RIDDER, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte II, S. 2 7 4 . 13

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Der ethnische Minderheitenschutz ist in Deutschland noch nicht zum Problem geworden, denn die Frage ist eine insgesamt bewältigte Randerscheinung. Doch wenn größere, agierende Ausländergruppen 17 als Minderheiten, in welcher Form immer, anerkannt werden, so entsteht etwas, was in anderen großen Demokratien schon zu beobachten ist: Staaten im Staat, die ihren eigenen Mehrheitsgesetzen entsprechen; diese kleinere Mehrheit aber ist nichts anderes als eine Minderheit in der größeren Demokratie, wieder verwandelt sich das Mehrheitsprinzip in ein Minderheitenprinzip, und vor allem in Deutschland könnte es ja leicht so kommen, daß auf diese Weise dann die „echten, großen Mehrheiten" hergestellt würden. Auf diesem Wege des „Staates im Staat" haben wir uns ohnehin von jeher in Deutschland besonders leicht bewegt, in unserem Föderalismus 18 wie in der hochgesteigerten Kommunalisierung. All diese Gestaltungen sind ja, aufs Ganze gesehen, nichts anderes als institutionelle Räume, in denen die Minderheit im Gesamtstaat die Mehrheit in Teilbereichen der Staatlichkeit werden kann, so weitgehend vielleicht, daß der weitaus größte Teil der Staatsbürger einer gestuften Herrschaft unterliegt, in welcher vom Zentralstaat her die Mehrheit des Gesamtvolkes, in den Ländern aber dessen Minderheit Herrschaftsmacht ausübt. Was für den Staatsbürger aber eigentlich bedeutsam ist, kann so sehr leicht die Minderheit werden, wenn er in Gemeinde, Landkreis, Regierungsbezirk und Land von der Minderheit regiert wird, während nur im fernen Bonn die Mehrheit noch entscheidet. In vielen Bezügen, vor allem in der Verwaltungswirklichkeit und im schulischen, kulturellen Bereich, ist damit das nationale Mehrheitsprinzip bereits teilweise außer Kraft gesetzt, es regieren die Minderheiten, und, was ganz erstaunlich ist, darin glaubt die Demokratie als solche in Deutschland auch noch ihre Legitimation zu finden, daß eben „Demokratie auf allen Ebenen sei", ohne daß man sich darüber Gedanken macht, daß damit das zentrale Legitimationsprinzip der Staatsform — in sein Gegenteil verkehrt wird. Man mag dies billigen, aber man muß es doch sehen und deutlich gewichten! In neuester Zeit haben sich allenthalben Formen einer „Betroffenendemokratie" entwickelt 19 , welche diese Grundstrukturen des Föderalismus und Kommunalismus noch auf tiefere Ebenen verlagern, bis 1 7 Zum Ausländer-Grundrechtsschutz grundlegende J. ISENSEE, W D S t R L 32, S. 4 9 ff. 18 Klar erkannt von K. HESSE, Anm. 9, Rdn. 225. 19 Als Beispiele für den Einbau plebiszitärer Bürgerbeteiligung in Gesetze seien nur genannt § 2a BBauG, § § 6 6 ff, 73 VwVfG.

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in die „Gesellschaft" vollends hinein. Da stimmen Kindergartenbenutzer ab und Studenten im Hörsaal — und was ist dies alles anderes, als die Entwicklung „kleinerer Mehrheitsprinzipien", welche aber das große, nationale Mehrheitsprinzip immer mehr aushöhlen, häufig in sein Gegenteil verkehren. Bei all dem kann nicht mehr nur die Rede sein von einem „Schutz passiver Freiheit" — hier werden Instrumentarien aktiver Machtbeeinflussung, ja Herrschaftsausübung gewährt, und das alles noch auf dem Hintergrund der „Minderheit als künftiger Mehrheit", welche jetzt bereits den „Aufstand proben" darf, in ihren kleinen Mehrheitsentscheidungen eben. Von einem auch nur einigermaßen reinen Mehrheitsprinzip kann in der deutschen Demokratie also schon heute nicht mehr entfernt die Rede sein, wir stehen vor einem Geflecht vielfacher Kombinationen von Mehrheits- und Minderheitenrechten, passiv und aktiv werden sie geschützt wie gefördert, und dies gilt im jetzigen Augenblick ebenso wie in der Zukunftsperspektive der Minderheit als Mehrheit.

IV. Dies alles aber beschreibt die Entwicklung „vom Mehrheits- zum Minderheitenprinzip" nur unvollständig. Immer mehr, auf allen Ebenen und auch an der Spitze der Demokratie, zeigen sich Entwicklungen, welche etwas näherrücken, was man nennen könnte: „Macht der aktiven Minderheit", einer „Aktiv-Bürgerschaft" in einem neuen Sinn. Vieles daran ist seit langem bekannt und von Demokraten beklagt, doch die Entwicklung fügt Neues hinzu: Die Wahlbeteiligung ist ein Legitimationsproblem, gerade im Mehrheitsstaat: Ist die Mehrheit der abgegebenen Stimmen nicht mehr identisch mit der Mehrheit der Stimmen der Wahlberechtigten, so entsteht, daran gibt es gar nichts zu rütteln, eben doch letztlich ein Legitimitätsproblem, mag es auch in den Medien nur gelegentlich und sehr vorsichtig als solches bezeichnet werden. Das amerikanische Beispiel zeigt es: Wenn bei einer Wahlbeteiligung um 5 0 % sich nicht die jetzigen triumphalen Wahlergebnisse durchsetzen, sondern sich nur eine sehr knappe Mehrheit ergibt, so wird eben das Geschick von drei Viertel der Amerikaner von einem Viertel, einer deutlichen agierenden Minderheit bestimmt. Und ähnliche Entwicklungen bahnen sich ja bereits im deutschen Kommunalrecht mit Wahlbeteiligungen unter 6 0 % an, wo ebenfalls dann zwei Drittel von einem Drittel „regiert" werden.

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Daß wir dem nicht mit staatlichem Wahlzwang entgegentreten20, ist eine politische Grundentscheidung, die Entscheidungsqual wird geachtet, doch damit kann das Mehrheitsprinzip legitimitätsmäßig ins Zwielicht geraten. Die kleine, oft geradezu verschwindend kleine Minderheit als Zünglein an der Waage nimmt das Mehrheitsprinzip in Kauf, sie ist in der deutschen politischen Realität eine Tageserscheinung. Unproblematisch mag sie noch grundsätzlich erscheinen, wo ein Zweiparteienregime besteht. Doch wenn nun zwei große Blöcke, einigermaßen statisch, sich traditionell die Waage halten, die eigentlichen Ausschläge der Politik aber von kleinen politischen Gruppen bewirkt werden, so vollzieht sich bei ihnen eine unverhältnismäßige Konzentration der politischen Macht und des politischen Interesses der Gemeinschaft; in den vergangenen Jahrzehnten haben wir es in Deutschland erlebt, und es könnte leicht weiter so bleiben. Daran gibt es nichts zu deuteln: Hier wird das Mehrheitsprinzip letztlich unterlaufen, die wahren Entscheidungen werden in erster Linie von einer kleinen Gruppe getroffen; oder doch zumindest hat diese deutliche Minderheit dieselben Möglichkeiten wie eine Quasi-Mehrheit — und auch dies muß ja auf die Legitimationskraft des Mehrheitsprinzips ausstrahlen. Verständlich ist es daher, daß die „Zünglein an der Waage"-Praxis aus demokratischen Legitimitätsgründen immer wieder beklagt worden ist. Die agierenden Minderheiten finden aber, von all dem abgesehen, noch ganz andere und viel weitergehende Aktionsräume, allenthalben in Staat und Gesellschaft, vor allem im Verbändestaat im weitesten Sinne, unserer eigentlichen Regierungsform. Hier unterscheiden sich Parteien, Wirtschaft, Gewerkschaften, andere Verbände und Medien nur wenig: Die Konzentration von riesigen Apparaten, welche immer noch anhält, ja sich verstärkt, führt mit Notwendigkeit zur Herrschaft der Wenigen, und zwar meist geradezu alternativlos. In Parteien, Verbänden und Medien mag es Minderheiten geben, am deutlichsten sichtbar noch in den ersteren, doch nirgends können wir eine fest organisierte „Opposition innerhalb der Verbände" 21 feststel-

20 Zum Nichtbestehen einer Wahlpflicht vgl. z.B. TH.MAUNZ, in: Maunz/ Dürig, GG, Art.38, Rdn.32; I.V.MÜNCH, in: ders., GG, Bd.2, 1983 2 , Art.38, Rdn.30. 2 1 Vgl. W. LEISNER, Organisierte Opposition..., aaO (Anm 10).

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len, noch weniger erzwingt das geltende Recht hier eindeutige institutionelle Gestaltungen. Damit aber ist das Mehrheitsprinzip in diesen staatsentscheidenden Bereichen eben doch, faktisch wenigstens, weitgehend außer Kraft gesetzt: Denn eine Mehrheit hat nur dort Sinn, wo es auch eine einigermaßen organisierte Minderheit gibt, welche Mehrheit werden möchte; so aber stellt sich die Frage nur sehr selten in Parteien und Verbänden, kaum je in den Medien. Akklamationsmehrheiten sind zwar auch eine Mehrheitsform, sie lassen sich aber mit der institutionell verfestigten Mehrheit nicht ohne weiteres vergleichen, und auch nur dann kommen sie ihr nahe, wenn sie nicht auf Dauer in Passivität lediglich Zustimmungsträger sind, wenn nicht aus der Akklamationsmehrheit die übliche Ratifikationsmehrheit unserer Vereinslandschaft wird. Wieviel „echte Abstimmungen" gibt es denn in unserem Verbändestaat schon, horcht man nicht geradezu auf, wenn einmal eine derartige Schilderhebung stattfindet, steht sie denn nicht schon der verbandsinternen Revolution näher als einem normalen institutionellen Vorgang? Etwas ganz anderes ist also Realität in unserem Verbändestaat: nicht das demokratische Mehrheitsprinzip, sondern eine sich auf laufende Zustimmung stützende Oligarchie von Zirkeln aktiver Minderheiten, welche versuchen, den Kontakt zur schweigenden Mehrheit nicht zu verlieren. Dieses ist überhaupt ein Kernwort, diese schweigende Mehrheit im Grunde ist es keine Mehrheit mehr, nimmt man das Ethos der Demokratie ernst. Welchen Sinn hat es, die gegängelte Masse Mehrheit zu nennen? Hier brechen also auf breiter Front Oligarchismus und Aristokratismus in unsere demokratische Ordnung ein, ohne sie könnte die Demokratie gar nicht mehr funktionieren. Früher herrschte die Minderheit offen im aristokratischen Feudalismus, heute übt sie die mehrheitsverbrämte Macht aus, in vielleicht noch weit schärfer oligarchischer Form als in der alten Zeit. Nun zeigt sie sich ja nicht mehr in Schlössern und Karossen offen dem Volk, in Clanbildungen bis hin zu Mafia-ähnlichen Erscheinungen ist sie unter die Decke des Mehrheitsprinzips, unter die schweigende Mehrheit hinabgetaucht. Daran wird sich in absehbarer Zeit auch gar nichts ändern lassen, wir haben nach außen hin das Prinzip der Mehrheit und damit Demokratie, im Inneren verfestigt sich etwas, was man Oligarchie nennen mag oder, wenn die Wertung positiv ausfällt, als Aristokratie bezeichnen wird.

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Von höherer Warte aus betrachtet, aus der Sicht der Staatsformenlehre, erscheint dies als eine ganz natürliche und im Grunde auch begrüßenswerte Entwicklung; Kassandrarufe werden nur enge Radikaldemokraten ausstoßen. Jede Ordnung braucht eben „ihr eigenes Minderheitenprinzip", in diesem Sinn ist es dann auch richtig, daß bei dieser Minderheit stets allein die Vernunft sein wird. Die parlamentarische Demokratie des Grundgesetzes hat verschiedene Formen der Anerkennung dieses Minderheitsprinzips entwickelt: Schutz wird den Minderheiten in weitem Sinne geboten, vor allem über die Grundrechte. Diese sozusagen „passive Anerkennung" wird jedoch durch einen „aktiven Minderheitenschutz" entscheidend verstärkt, welcher nicht nur Chancen zur Machtergreifung bietet, sondern bereits vielfache Formen einer Mitregierung zusammen mit der Mehrheit oder gar einer Unterwanderung der Mehrheit durch agierende Minderheiten zuläßt. Die Staatsformenlehre zeigt, daß hier Verschränkung 22 , nicht aber Trennung oder Gegensätzlichkeit das Entscheidende ist. Jedes Grundprinzip ruft, gerade wenn es mit einer gewissen Ausschließlichkeit postuliert wird, sogleich gewissermaßen sein Gegenprinzip ins Haus. Und daher können wir hier feststellen: Je mehr in der Demokratie das Mehrheitsprinzip betont wird, desto mehr setzt sich in der Wirklichkeit das Minderheitsprinzip durch, ohne das es vielleicht ein Mehrheitsprinzip gar nicht geben kann. An einem Punkt zeigt sich dies besonders deudich: Die Vertreter des Mehrheitsprinzips müssen ja stets versuchen, Voraussetzungen der Mehrheitsentscheidung durch laufende Atomisierung zu schaffen, denn nur möglichst Gleiche können dann in Mehrheitsbildungen zusammengefaßt werden. Doch gerade durch diese Einebnung bereitet die Radikaldemokratie den Weg zu immer stärkerem Aufstieg der Minderheiten. In tausend Formen vollzieht er sich, vor allem aber in zwei Großphänomenen: in einer Minderheit, die der Mehrheit gegenübersteht und sie in ihre Schranken weist in einer Form, welche man „Regierung der Minderheit" nennen könnte, insbesondere aber in jener „Minderheit in der Mehrheit", in der sich das Gegenprinzip im Herzen des demokratischen Zentralprinzips einrichten kann. 2 2 Vgl. für viele R. ZIPPELIUS, aaO (Anm. 2), S. 148 f. Die Notwendigkeit dieser „Verbindung" zeigt sich hier nicht nur in der Kombination der „klassischen Staatsformen" (Monarchie oder Demokratie), sondern auch in der „Verschränkung der Gewalten", welche jene heute „repräsentierten" — Parlament etwa und Regierung. Zu dieser Relativierung der Gewaltenteilung vgl. etwa BVerfGE 3, S.225, 247; 7, S. 183, 188; 30, S. 1, 28; 34, S.52, 59.

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Wieder einmal bewährt sich die aristotelische Grunderkenntnis, daß nicht „reine Staatsformen" die besten sind, sondern daß nur in vielfachen Verbindungen der Grundtypen eine gute Staatsform zu finden ist. Und dies ist eben keine Gefahr für die Demokratie, sondern ihre große Chance: daß hinter dem Mehrheitsrausch die Minderheitswirklichkeit steht — nicht eine schutzbedürftige Randgruppe, sondern eine heimliche Regierung. Dann führt der Weg von der schweigenden Mehrheit zur schweigenden Minderheit, die weniger redet und abstimmt — weil sie handelt.

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I. Ich schulde meinem Vorredner, Herrn Leisner, großen Dank. Nach dem, was er gesagt hat, dürfte für mich nicht viel übrig bleiben. Er hat schon vorweggenommen, was ich in der Konzeption dieses Kongresses hätte leisten sollen: die in der ersten Gesprächsrunde nackt dargestellte Schönheit des Grundgesetzes mit einem ornamental-kritischen Feigenblatt zu verzieren. Wissenschaft soll plural und abgewogen sein. Nun hat also Leisner das Feigenblatt geliefert — nur in einer ganz anderen Richtnug als der möglichen meinen. Der Beifall der mutmaßlich eher kritischen Zuhörer mag der Offenheit seiner Aussage gegolten haben. Meinte er aber den Inhalt, so läge Selbsttäuschung oder Mißverständnis vor. Leisners Thesen, daß im Zeichen des Grundgesetzes nicht der demos, sondern Minderheiten herrschen, wollte wohl nicht Mißstände denunzieren, sondern Zustände bejahen: eine Laudatio der Wirklichkeit, verbunden mit der beruhigenden Zusicherung, daß die Bundesrepublik sich keineswegs auf unmittelbar-demokratischen Abwegen befände. Bei der Feststellung der wirklichen Lage des gemeinen Volks wurde derart die Lebenslüge enthüllt, die in der Präambel unseres Jubilars enthalten ist: das deutsche Volk habe sich sozusagen vollverantwortlich ein Grundgesetz gegeben und also von Anfang an seine, des Volks und seiner Mehrheit, Souveränität vollzogen. Mitnichten, weder durch die direkte Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, noch durch die direkte Abstimmung über einen dem Volk vorgelegten Verfassungsentwurf. Das will heißen, daß unser Jubilar in Wirklichkeit vom Volk weder gegeben noch gewollt wurde, vielmehr einen klassischen Fall von oktroyierter, verfassungsähnlicher politischer Ordnung darstellt; was über die Qualität derselbigen fraglos nichts aussagt und ebensowenig ausschließt, daß das Grundgesetz später die

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Zustimmung der Bevölkerung erfahren hätte. Die nachträgliche Legitimation wurde reichlich eingebracht, bis hin zu einem beinah total zu nennenden Konsensus. Sollte es jetzt mit dem Konsens zu Ende gehen, sollte sich eine ebenso totale Konfliktualität anmelden, die Unmittelbarkeit durchbrechen? Bei der Behandlung des Themas — die zugleich eine Kritik am Grundgesetz einschließen sollte — empfinde ich doch eine gewisse Verlegenheit. Wenn ein geschichtliches Institut Geburtstag hat, sollte korrekterweise nur Lob gespendet werden, wie bisher in der Tat schon geschehen, wenn auch in der Form des Repetitoriums längst bekannter ideologischer Positionen. Ich habe keine Schwierigkeiten, ins allgemeine Lob einzustimmen. Das Geburtstagskind scheint mir sich der besten Gesundheit zu erfreuen. Ich wundere mich eher über all das, was so nebenbei und kassandrisch über Verfallserscheinungen, Krankheitssymptome und alternative Abgründe dahergeredet wurde. Man stand knapp vor dem magischen Wort der Unregierbarkeit. In Wirklichkeit leben wir in einem politischen System, das in einem ziemlich hohen Grad funktionstüchtig und funktionsfähig ist. Also: das Grundgesetz hat sich in dieser Hinsicht bewährt. Allen Befürchtungen zum Trotz garantiert das von ihm bestimmte „Ordnungsgefüge" (so heißt es wohl) genau das, wozu es strategischinstitutionell da ist. Nicht etwa die Menschenrechte. Diese gewiß auch, sofern sie seinem funktionsgerechten Handeln dienlich sind1 — in erster Linie aber die geordnete, friedliche, soweit wie möglich von destruktiven Konflikten frei gemachte Reproduktion unserer Gesellschaft. Da bleibt mir jeder Versuch, gewissermaßen Weimar herbeizuprojizieren, gänzlich unverständlich. Wie kann jemand, der nicht bloß fiktive Gefahren an die Wand malt, um seine Forderung nach dem starken Staat zu begründen und durchzusetzen, auf den Gedanken einer erneuten „Krise des Parlamentarismus" und einer real vorhandenen Gefährdung des grundgesetzlichen Systems kommen, nur weil einer vorläufig unbotmäßig sich gebenden Bewegung es gelungen ist, das heilbringende Hindernis des 5%-Quorums zu überspringen, oder gar weil APO-Reminiszenzen immer noch im Hinter- oder Untergrund Geschichte zu machen drohen — oder zu machen scheinen. Von einer, durch außerinstitutionelle Kräfte und Gruppen verursachten Krise des politischen Systems mögen die Innenminister und das 1

Vgl. V. PARETO, Economia e demagogia, in: Giornale economico vom

10.10.1923.

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Bundeskriminalamt sprechen. Die Bevölkerung nimmt das kaum zur Kenntnis — und hat ohnehin andere Sorgen.

II. Über diese Sorgen will ich versuchen, Anschluß an mein Thema zu finden, ohne übrigens den erwarteten Rahmen des politologischen Raisonnements zu verlassen, ohne also Ausflüge in die Tiefe sozioökonomischer Bedingtheiten zu unternehmen — also mit Goethe gesprochen, ohne in die Basis, zu den Müttern, hinabzusteigen. Erstens: Ist es Ulk, Scherz oder hat es eine tiefere Bedeutung, daß manchenorts an der Freien Universität der Titel des schönen Kongreßplakats „Konsens und Konflikt" überklebt wurde mit dem Satz „Flick und Nonsens"? Ist die Bevölkerung der Bundesrepublik wirklich beunruhigt von der Möglichkeit, daß im Spannungsfeld zwischen Konflikt und Konsens sich Risse in der politischen Ordnung auftun oder gilt die Sorge anderen Problemen? Ich meine hier nicht die Arbeitslosigkeit und deren Folgen, die atomare Aufrüstung und deren Gefahren. Vielmehr und formell im Politischen verbleibend, denke ich an die, für viele von uns brüchig gewordene Glaubwürdigkeit der politischen Klasse, an die in brutaler Form offenkundig gewordene Verfilzung von Geld und Macht, von Kapital und Staat. Daraus kann die Glaubwürdigkeit des Verfassungsstaats eher Schaden nehmen als aus den ebenso spektakulären wie vernunftlosen Bombaroladen. Zweitens: Eben darum ist an meinem Thema nur das Fragezeichen richtig. Wenn wir uns überlegen, was unmittelbare Demokratie bedeuten könnte im allgemeinen Verstände des Wortes (über mein eigenes Verständnis später ganz kurz kritisch): mehr Partizipation der Bürger, größeres Gewicht der Bedürfnisse der „Betroffenen" (ein Ausdruck, der inzwischen zur normalen Bürokratensprache verkommen ist), Beteiligung an Entscheidungsprozessen (an welchen freilich: ob eine Straße nach Ernst Thälmann oder sagen wir nach Ludwig Erhard benannt werden soll) — so fragt sich, ob dies alles überhaupt Aktualität und Substanz zeigt und in der Lage ist, politische Glaubwürdigkeit wiederherzustellen. Erhöhte Partizipation findet in der Tat schon allenthalben statt, aber in der Form der Informatik, der elektronischen Datenverarbeitung, der Computerisierung der Bevölkerung, des fälschungssicheren Ausweises, also in der Form zunehmender Partizipation des staatli-

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chen Machtapparats an gesellschaftlichen Prozessen und am Alltag eines Jeden. Ohne die Grundrechte prinzipiell und formell in Frage zu stellen, beteiligen sich der Staat, die Rechtsordnung, das Polizeiwesen und diverse Schutzinstanzen an unserem Leben, greifen permanent in unsere „unmittelbaren" Entscheidungen ein. Die Omnipräsenz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und deren Macht- und Amtsträger weitet sich aus zur zunehmenden Verstaatung der Gesellschaft: zur berühmten „Landnahme", emblematisch und hautnah erfahrbar an den Universitäten, denen im gleichen Atemzug größere Autonomie und verordnete Strukturierung gegeben werden. Wir sind also auf dem Weg der vermittelten Verstaatung — durch jene Minderheiten vermittelt, von denen Leisner sprach. Sie scheint mir um so interessanter und durchgreifender zu sein, als sie sich nicht als Idealisierung und Potenzierung des Staats ausgibt (da wäre sie nämlich handgreiflich faßbar); vielmehr und erstaunlicherweise unter der politisch-ideologischen Parole des „Abbaus des Staats" daherkommt. Aber es liegt hier kein Widerspruch vor. In der institutionellen Strategie bürgerlicher Staaten bedeutet Abbau des Staats nie dessen Abschwächung. Der starke Staat deckt sich durchaus mit dem „schmalen" Staat, der gerne Entscheidungskompetenzen an (eben verstaatete) gesellschaftliche intermediäre Instanzen weitergibt, sofern es sich um Entscheidungen in sekundären Bereichen handelt. Das Primäre bleibt beim Staat. Erst dadurch werden Basis-Wildwuchs und Zugang der Massen zu den Machtzentren verhindert: zu Brot und Spielen kommen noch die Bürgerinitiativen hinzu.

III. An dieser Stelle verdeutlicht sich der grundgesetzkonforme Charakter der heute praktizierten und verlangten Basisdemokratie und des heute geforderten Plebiszits. Beide sind instrumentell in den gegebenen Verfassungsstaat einbringbar, sie lassen sich mühelos in das System einbinden (System übrigens systemisch und nicht weimarerisch gemeint) und tragen zum besseren Funktionieren eines, mit Randproblemen nicht weiter belasteten Staats bei. Befürchtungen gegenüber der Delegierung sekundärer Entscheidungen nach unten und gegenüber dieser Form der unmittelbaren Demokratie sind widersinnig: da wird keine Republik verändert, die bestehende eher befestigt und verfestigt in ihrer Funktion, die politische Energie auf den Zuwachs der innen- und außenstaatlichen Macht zu konzentrie-

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ren, wie auf die Aufrechterhaltung bürgerlich-kapitalistischer Strukturen — bekanntlich auch eine „Basis". Das wäre eine erste, längst fällige kritische Bemerkung zum Thema. Nun eine zweite Bemerkung — auf die andere Richtung hin, im Hinblick auf schon praktizierte Unmittelbarkeit. Was sich in der Forderung nach Basisdemokratie konkretisiert und das Entgegenkommen des Staats schon findet (von den Deponiefragen über den Umweltschutz bis hin zu den Frauenhäusern und der Neuen Frauenpolitik der Alten Parteien), erscheint beim ersten Zusehen als Ausweitung der gesellschaftlichen Autonomie („es wird immer mehr von unten her entschieden"). In der Wirklichkeit verwandelt sich die Autonomie in die eingegliederte Subsidiarität. Die Beteiligung wird institutionalisiert, in eine rechtliche Form gegossen und zu einem geregelten und kontrollierbaren Institut des Staats gemacht. Sie verliert mit anderen Worten genau ihre Qualität, staatsfreie, machtpolitisch nicht tangierbare Räume zu schaffen und auszuweiten. Ein Beispiel, wie diese Strategie funktioniert, wie also eine von unten gebildete Form gesellschaftlicher Selbstentscheidung und Selbstbestimmung durch eine Verrechtlichung vom Staat förmlich übernommen und von der politischen Klasse aufgesogen wird, liefern uns die Vorgänge um die italienischen „Zonenräte" — consigli di zona. Die consigli di zona, aus den revolutionären Umtrieben der 60er Jahre und aus dem heißen Herbst des italienischen Klassenkampfs entstanden, bildeten in ihren Anfängen die Fortsetzung der autonomen Fabrikräte in die Gesellschaft hinein. Sie entsprachen auch organisatorisch den Fabrikräten und waren durch die gleichen Strukturen charakterisiert, die die hegemoniale Stellung der Fabrikräte gegenüber dem Kapital und ebenso gegenüber den traditionellen Arbeiterorganisationen ausmachten. Es handelte sich um die gleichen Strukturen, die die basisdemokratischen Vorstellungen hierzulande bestimmen: freie Listen, Rotation, jederzeitige Abwählbarkeit der Delegierten, jederzeitige Einberufung der Zonenversammlungen und dergleichen mehr. Die Zonenräte hatten nicht nur die Aufgabe, die Probleme der Wohnviertel vor Ort zu erkennen und zu lösen; genau so vertraten sie als außerinstitutionelle Instanzen die Interessen und die Bedürfnisse der Zonenbevölkerung gegen die städtische Verwaltung, gegen den Staat und nicht zuletzt gegen die Staatsparteien. Letztere blieben organisatorisch draußen vor der Tür; Eingang fanden sie nur in der Profilierung als Personen und in der Klassengebundenheit. Es wurden also „staatsfreie" gesellschaftliche Organe geschaffen — und phantasiereiche Interpreten verglichen die Zonenräte mit der

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außerinstitutionellen Instanz der römischen tribuni plebis. Was ist inzwischen daraus geworden? Sobald sie gesellschaftliche Wirksamkeit und Aktionsfähigkeit zeigten, wurden sie nicht mehr vom Staat als illegal betrachtet und von den Parteien als regelwidrige Konkurrenz bekämpft. Man fing vielmehr an, sich um sie zu „bemühen", ihnen Anerkennung zu zollen und sie in einen langsamen institutionellen Prozeß der Landnahme (der Verstaatung) hereinzuziehen, an dessen Ende — das rechtlich geregelte Staatsinstitut stand, dessen Wahlen zum Beispiel schlicht an die Kommunalwahlen gekoppelt wurden. Einmal staatsrechtlich und rechtsstaatlich formalisiert, sind sie inzwischen nichts weiteres als bürgernahe, betroffenheitsorientierte Unterabteilungen der ganz normalen Stadtverwaltungen, in denen sich die Parteien herumtummeln und sich Klientele schaffen, ganz nach dem normalen Bild des (natürlich italienischen) Verfassungsstaates. Die unmittelbare Demokratie kehrte - gewiß unfreiwillig — in das Prinzip der Parteienvermittlung und der staatlich vorgegebenen Repräsentation zurück.

IV. Dieser Vorgang: die Reintegration der autonom gewordenen Gesellschaft in den Staat, die zweifellos einen Sieg des parlamentarischen Regimes und des Parteiensystems gegen verändernde Umtriebe darstellt, gibt Anlaß zu einer dritten kritischen Bemerkung über westdeutsche Projekte und Wünsche, die eine anders geartete Politik herbeiführen möchten. Sie scheitern (und lassen sich ohne große Mühewaltung wieder vereinnahmen) schon auf der Ebene des Bewußtseins. Die unmittelbare Demokratie weiß selber nicht, was sie ist oder sein soll. Besser gesagt: die unmittelbaren Demokraten, so sie parteiförmig organisiert und parlamentarisch präsent sind, verfügen nur über sehr unklare Vorstellungen ihrer eigenen Pläne, Hoffnungen, Bedürfnisse. Es fehlt ihnen am Begriff, da die harte Wirklichkeit nicht erkannt wird, die Erkenntnis zuweilen ohnehin durch dumpfe Gefühle ersetzt wird. Emblematisch dabei ist die Verwirrung in den entsprechenden Diskussionen und Klärungsversuchen, mit der die Basisdemokratie und das Plebiszit durcheinander geworfen werden. Daß es sich um ähnliche Forderungen handelt: die Bevölkerung soll direkt entscheiden, will ich gar nicht bestreiten. Dennoch geht es dabei um zwei Formen des politischen Lebens und zwei Formalisierungen des Entscheidungsprozesses, die dem Programm nach und von

Auf dem Weg zur unmittelbaren Demokratie?

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der Formseite her durchaus in Widerspruch zueinander geraten. Denn Basisdemokratie bedeutet im wesentlichen die Möglichkeit des gemeinen Volkes, an der Basis der Gesellschaft — und diese Basis ist in sich strukturiert, bildet keine konturlose Ebene, auf der sich individuelle Atome tummeln, sondern ist organisatorisch und materialiter verbandlich und lokal gegliedert — ohne Einmischung staatlicher, übergeordneter, das große Ganze verkörpernder Organe die eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln. Daß institutionell auch ein Weg zu den allgemeinen Angelegenheiten, zur Republik gesucht werden muß, steht außer Frage. Fundamental bleibt aber, daß zur Basisdemokratie auch eine sehr weitgehende Dezentralisierung gehört. Eine zentralistische Basisdemokratie ist ein schwarzer Schimmel. Und da liegt der Punkt, an dem die Basisdemokratie sich mit der plebiszitären beißt: plebiszitäre Demokratie ruft die ganze plebs auf den Plan, und nicht nur die unmittelbar Betroffenen; läßt das ganze Volk über die Startbahn-West entscheiden, und nicht nur die Frankfurter Ausflügler. Sie ist also eine zentralistische Institution. Die Schwierigkeiten der unmittelbaren Demokratie, diese zwei Formen miteinander zu koppeln (eine wahrhaft geschichtliche Aufgabe), besteht für eine reformfreudige repräsentativ-bürokratische Demokratie nicht. Auf dem Weg zum starken Staat ist es durchaus möglich, sich beider zu bedienen, sie zu Verfassungsinstituten zu machen. Was ich vorhin über die Verlegung sekundärer Entscheidungen auf die untere Ebene sagte, gilt auch für die Einführung eines unverbindlichen Volksbegehrens. Auch hier finde ich die Kassandrarufe widersinnig — abgesehen davon, daß sie von der Legende (um nicht zu sagen: von der Lüge) leben, die Volksentscheide hätten die Weimarer Republik zerstört. Ob das eine oder andere verwirklicht wird, liegt nicht im Wesen des Grundgesetzes, sondern in der machtpolitischen Opportunität, mit dem entsprechenden parlamentarischen Quorum über die Ergänzung, Ausweitung und Änderung des besagten Wesens zu beschließen. Und das Quorum wird gegen die hier vorgetragenen Bedenken von Hofmann2 sehr schnell erreicht, wenn die von Leisner so plastisch analysierten Machtminderheiten sich kluge Gedanken machen über die staatspolitisch-wertmoralische Nützlichkeit eines plebiszitären Ventils. Genau so wie bei der Basisdemokratie, kommt es auch in diesem zweiten Fall der Unmittelbarkeit nicht auf das Plebiszit an, sondern auf dessen institutionelle Eingrenzung und Instrumentalisierbarkeit, 2

Vgl. den Beitrag von H. HOFMANN in diesem Band.

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Johannes Agnoli

vor allem in der Sicht, die Wähler bei einem Referendum dennoch unter Kontrolle zu halten. Italia docet.

V. Damit hätte ich mein Thema abgehandelt. Die unmittelbare Demokratie, auf deren Weg sich die Bundesrepublik angeblich befindet, steht weder als solche auf der Tagesordnung noch ist sie, sofern formell verwirklicht, eine solche. Es bleibt aber noch ein Punkt, eine ganz anders geartete, jenseits des Themas und des Jubliäums sich entwickelnde Möglichkeit. Basis- und gesellschaftliche Autonomie, Unmittelbarkeit und Zwangsfreiheit der Reproduktion mögen in ihrer politischen, genauer gesagt, politikkritischen Übersetzung heute noch allerhand Fehler aufweisen, unsichere und ungesicherte Perspektiven eröffnen. Sie stellen indes gegen die Organisationsform des Verfassungsstaates eine durchgängige Alternative dar. Insofern ist es durchaus richtig, in ihnen eine künftige Gefährdung des grundgesetzlichen Systems zu sehen - die eigentliche Konfliktquelle und die wirkliche Aufkündigung des Konsenses. Aus solchen, ich betone: alternativ, und nicht systemkonform erhobenen Forderungen (wie sagte doch eine grüne Abgeordnete: sie haben „den alten Kasten", also den Bundestag, inzwischen richtig lieb gewonnen) können Prozesse entstehen, die zur Destabilisierung führen, die Destabilisierung zu einer Strategie machen können, um eine — wie man so zu sagen pflegt — andere Republik aufzubauen. Oder am Ende eine richtige res publica, eine öffentliche Sache ohne „politischen Charakter", ohne Staat. Daß aber diese andere Republik schon gegeben sei, wie bei einer unlängst im Wildbad Kreuth stattgefundenen Tagung behauptet, wenn im Hessischen zeitweise die grüne Parlamentsfraktion eine sozialdemokratische Regierung unterstützt oder gar mit der SPD koaliert (das famose rot-grüne Bündnis, bei dem ich mich zuweilen frage, wo denn da das Rote sei), das halte ich für eine Legende, für einen propagandistischen Einfall oder schlicht für das, was Lessing in seiner „Minna" eine Korrektur der fortune nannte: der weiteren Rede nicht wert. Eine wirklich alternative, den bestehenden Verfassungsstaat gefährdende Form kann die Forderung nach Unmittelbarkeit und Autonomie nur unter bestimmten Vorraussetzungen gewinnen, die bei den heutigen „neuen" sozialen Bewegungen wenn schon, dann nur am

Auf dem Weg zur unmittelbaren Demokratie?

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Rande reflektiert werden. Jede organisatorische Form ist immer Form eines spezifischen gesellschaftlichen Inhalts. Sie kann nicht beliebig einem jeden ökonomisch-sozialen Verhältnis übergestülpt werden. Daher übrigens auch das Scheitern eines jeden Versuchs, die römischen republikanischen Institute etwa in der italienischen Renaissance oder im Verlauf der französischen Revolution wieder zum Leben zu erwecken — also in Gesellschaften, die nicht mehr auf der Grundlage der bäuerlichen einfachen Reproduktion existierten. Kann der Verfassungsstaat des Grundgesetzes zurecht und ohne jeden pejorativen Sinn bürgerlich-kapitalistisch genannt werden, da er die formelle Synthese einer Gesellschaft darstellt, die politisch, kulturell und ideologisch bürgerlich ist und sein will und die kapitalistisch („marktwirtschaftlich") produziert und verteilt, produzieren und verteilen will, so leuchtet es ein, daß eine ganz anders sein sollende, alternative gesellschaftliche Formation auch einer anders funktionierenden (anders produzierenden und die Reproduktion anders organisierenden) sozialen und ökonomischen Basis, anderer gesellschaftlicher Produktions- und Reproduktionsverhältnisse bedarf. Wer also ernsthaft nach einer anderen Ordnung der öffentlichen Sache (und übrigens der privaten auch) verlangt, muß die Konsequenzen ziehen und die liebliche Vorstellung fallen lassen, die Alternative ließe sich nach vorgegebenen, einer anderen Rationalität zugeordneten Regeln verwirklichen. Hic Rhodos, hier haben wir alle zu tanzen — wie Hegel zu sagen pflegte. Gewiß: Solches zu fordern, selbst in der Bescheidung sich mit dem Prinzip einer solchen Hoffnung zu begnügen, klingt heute utopisch, da wir bekanntlich in einer der besten politischen Welten leben. Wozu denn Veränderung, wozu — horribile dictu — Revolution, wenn der ökonomischen Krise und der ökologischen Bewegung zum Trotz das politische System hält, Abschwächungen der Legitimation durch offensichtliche (oder auch nur propagierte) Erfolge neutralisiert und — um auf den Anfang zurückzukommen - von förmlicher Gesundheit strotzt, ebenso förmlich verkörpert in der, die Stabilität und das Wahre und das Gute ausstrahlenden Gestalt des Kanzlers. Der Begriff also, hier täte Umwälzung gut und das Volk täte recht, die Revolution zu machen, wäre gar kein Begriff, sondern nur abwegiges Wunschdenken. Guterweise gibt es auch ein Andererseits. Denn andererseits frage ich mich in der Stille meines gesellschaftlichen Hinterkopfes, ob im Wunschdenken doch Begriff und Wirklichkeit sich anmelden; ob in der Welt, in der wir heute leben, ohne geographisch-politische Diffe-

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Johannes Agnoli

renzierungen, die sogenannte Utopie in Wirklichkeit den einzig realen Ausweg zeigt aus der Inhumanität, in der wir uns befinden. Verbleiben wir in der vorfindbaren Welt: Der Einbau demokratischerer Elemente in den Staat des Grundgesetzes könnte durchaus das politische Leben bereichern, es interessanter machen und „bürgernah" gestalten; und am Ende aus der Bundesrepublik einen noch freieren Staat machen, als sie nach kompetentem Urteil schon heute ist. Aber wir werden dadurch bestimmt keine freiere Gesellschaft mit freieren Menschen haben.

Colloquium 4

Die verfassungsrechtliche Bändigung der Gewalt und die aktuelle Gewaltdebatte

Zur Einführung

PETER H Ü B N E R

Vor 4 0 Jahren wurde staatlich ausgeübte, faschistische Gewaltherrschaft in Deutschland von außen her gewaltsam beendet. Vor 35 Jahren erhielt mit der Rekonstruktion staatlicher Souveränität das Gewaltmonopol des Staates der Bundesrepublik Deutschland eine grundgesetzgemäße und zugleich auch verfassungsmäßige Form in der Gestalt des demokratisch rechtsstaatlichen und sozialen Bundesstaates. Wenn nun hier von der verfassungsrechtlichen Bändigung der Gewalt gesprochen werden soll, so geschieht dies unweigerlich im Angesicht unserer spezifischen historischen Erfahrung mit dem Nazismus; denn, was gebändigt werden soll, ist zuerst und vor allem die im staatlichen Monopol zusammengefaßte Möglichkeit physischer Gewaltsamkeit. Dabei scheint wie selbstverständlich vorausgesetzt, daß der innere Frieden und die Ordnung menschlichen Zusammenlebens in Gesellschaft nur um den Preis einer aus der Gesellschaft herausgestellten und im Staat verankerten Gewalt sichergestellt werden könne. Denn dies ist die Idee der neuzeitlichen europäischen Staatstheorie seit Thomas Hobbes. Nicht, daß die Gewalt unter den Menschen wie in ihren gesellschaftlichen Beziehungen je wirklich zum Verschwinden gebracht werden könnte, sondern daß vielmehr durch die institutionelle Zusammenfassung der Gewalt im Staat die je partikularen gesellschaftlichen Beziehungen der Mitglieder untereinander als gewaltfreie begründet und so zugleich auf Dauer befriedet werden können, ist der Glaube. Und daß der Staat grundsätzlich die Möglichkeit auch zu physischer Gewaltsamkeit behalten muß, wenn er dies soll sichern können. Denn nicht, weil die Menschen gut sind, sind sie friedfertig. Sie sind es, weil sie gegenüber der so herausgestellten Staatsgewalt alle gleich ohnmächtig sind. In diesem Verstände auch sind sie alle Gleiche. Dies gilt im Grundsatz für alle neuzeitlichen

Zur Einführung

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Staatskonstruktionen, gleichgültig, ob es sich um demokratische handelt oder nicht. Sie alle rechtfertigen die Existenz des Staates gegenüber der Gesellschaft und also auch seine Möglichkeit zur physischen Gewaltsamkeit nur und insoweit, als das staatliche Handeln seine Funktionalität für die Friedenssicherung nach außen wie nach innen sowie die Ordnungssicherung nach innen belegen kann. Nur insoweit auch kann der Staat hierfür den Einzelnen in Anspruch nehmen. Diese dürre rationalistische Konstruktion verbirgt leicht, welcher Schrecken hier gebändigt werden soll. Ebenso aber unterschlägt sie, daß es immer auch auf die Art des Friedens ankommt, daß es immer auch um den Inhalt der gesellschaftlichen Ordnung und nicht nur um deren bloße Form geht. In der Demokratie ist vielmehr der Staat bloße Form. Staatliches Handeln ist das Ergebnis eines freien politischen Diskurses, in dem die je partikularen gesellschaftlichen Kräfte durch Mehrheitsbildung dem staatlichen Handeln seinen Inhalt geben sollen. Die Institutionalisierung dieses demokratischen Prozesses ist aber selbst eine Voraussetzung des inneren Friedens, weil nur dadurch sichergestellt ist, daß die Gesamtheit der Mitglieder einer Gesellschaft sich als die souveränen Subjekte auch des staatlichen Handelns erleben können. Einer solchen Konstruktion drohen in der Wirklichkeit jedoch mindestens von zwei Seiten her Gefahren und es ist durchaus möglich, daß sie an ihnen scheitern kann, wo doch alles darauf ankäme, die Balance zwischen ihnen zu halten und sie beide zugleich zu vermeiden: 1. Es könnte sein, daß der demokratische politische Prozeß, zwar auf Mehrheiten fußend, dauerhaft und dauernd die legitimen Interessen von Minderheiten blockiert, daß staatliches Handeln durch einseitig selektive politische Entscheidungsprozesse einen Inhalt im Interesse von Wenigen erhält. In einem solchen Fall kann staatliches Handeln selbst dann als Gewalt erlebt werden, wenn es die Eigenschaften des direkten physischen Zwanges gar nicht hat. Dies ist deshalb der Fall, weil ein solches staatliches Handeln die legitimen Interessen und Lebenschancen unter Umständen auch der Mehrheit zu vernichten droht. Ein Indikator hierfür ist die sublime Rede von der strukturellen Gewalt. Es ist dann nur folgerichtig, daß die Rede von der Gegengewalt dieser ihr Recht bzw. ihre Legitimation zu geben verspricht mit Rekurs auf die immer schon vorhandene Gewalt in Staat und Gesellschaft, die die guten Zwecke hindert, also mit Rekurs auf diese guten Zwecke selbst. In Paranthese gesprochen: hier wäre auch der Frage nachzugehen,

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Peter Hübner

was dies für die auf diese Weise zuwege gebrachte Rückkehr des moralischen Arguments in die Politik bedeutet, wenn dadurch die Verallgemeinerungsfähigkeit des moralischen Urteils und die Wahrhaftigkeit des politischen Entscheidens von Prozessen der Mehrheitsbildung abgekoppelt würde. Würde damit nicht die in die Gesellschaft zurückgekehrte Gewalt auch noch legitimierbar? 2. Auf der anderen Seite droht eine Verselbständigung des Staates als Institution, also die Abkoppelung des staatlichen Handelns von den gesellschaftlichen Willensbildungs- und politischen Entscheidungsprozessen. In diesem Fall besteht die Gefahr, daß die Gesellschaft zum bloßen Mittel und zugleich zur Bestandsvoraussetzung des Staates zu werden droht und staatliches Handeln zum Selbstzweck. Hier wäre es dann nur folgerichtig, wenn, wiederum aus den Traditionsbeständen der Sozialphilosophie gespeist, der Staat zu einer sittlichen Entität überhöht würde, deren Existenzsicherung letztlich alle Zumutungen an die Mitglieder der Gesellschaft rechtfertigte. Im übrigen gibt es gute Gründe anzunehmen, daß beide Gefahrenquellen sich gegenseitig bedingen. In jedem Fall aber muß, wenn wir beide nicht zugleich vermeiden können, die Bändigung der Gewalt mißlingen. Abschließend: Verhalten wir uns aufgrund unserer historischen Erfahrung gegenüber dem Gewaltpotential des Staates mit hoher Sensibilität und entdecken wir in seinem Handeln — nicht zuletzt auch in seiner Elaborierung von präventiven Strategien der Verbrechensbekämpfung, vor allem gegenüber politisch motivierten Verbrechen — die unsere Freiheit und Integrität als Personen gefährdende staatliche Gewalt, so gilt umgekehrt eine gewisse Unbefangenheit, ja Naivität gegenüber möglichen Gewaltpotentialen in der Gesellschaft und deren je partikularen Trägern. Es ist so, als hätte unsere Geschichte die Erinnerung an den Schrecken ausgelöscht, der als Motiv der Hobbesschen Staatsidee zugrunde liegt: der wirkliche Schrecken im Angesicht der Religionskriege des 17. Jahrhunderts, den er letztlich, wenigstens theoretisch, zu bannen hoffte.

Die Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates DIETMAR WILLOWEIT

I. Das methodische Problem Mit den folgenden Überlegungen soll der Versuch unternommen werden, den Begriff des staatlichen Gewaltmonopols 1 und einige der mit ihm zusammenhängenden aktuellen Probleme historisch zu verstehen. Es wird uns die Frage beschäftigen, wo im Rahmen größerer rechtshistorischer Entwicklungszusammenhänge der geschichtliche Ort dessen, was der Begriff des staatlichen Gewaltmonopols meint und reflektiert, aufzusuchen ist. Nicht juristische Argumente dogmatisch-staatsrechtlicher Art sind vorzutragen, sondern geschichtliche Relativierungen. Dazu bedarf es der Distanz gegenüber der Gegenwart, die, so unvollkommen sie immer gelingen mag, doch zu einer Beobachterposition zwingt, unter Verzicht auf ein ausdrückliches politisches Engagement und unter Beiseitelassen aller juristischen, weil zeitgebundenen Richtigkeitskriterien. Die auf diesem Wege begegnenden Quellenzeugnisse vermitteln zunächst den nachhaltigen Eindruck, daß sich dem Gewaltmonopol des neuzeitlichen Staates fast in jeder Generation Gewalt „von unten" entgegengestellt hat, sei es in Gestalt gewalttätigen Widerstands gegen die Staatsmacht, sei es als konkurrierende Gegenmacht großer Herren oder revolutionär inspirierter gesellschaftlicher Gruppen. Von den Haufen des Bauernkrieges und den um ihre Standesvorrechte kämpfenden Rittern des 16. Jahrhunderts führt über konfessionell moti1 J. u. W.GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd.IV/I 3, 1911, S p . 4 9 1 0 - 5 0 9 4 ; H. FENSKE, Gewaltenteilung, in: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, 1981, S. 9 2 4 ; J. HOFMANN, Anmerkungen zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Gewaltbegriffs, in: A. Schöpf (Hrsg.), Aggression und Gewalt, 1985, S. 2 5 9 - 2 7 2 .

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vierte Widerstandsaktionen und gewalttätige Rechtsverfolgung bäuerlicher Kreise in vielen europäischen Staaten, auch im Heiligen Römischen Reich, eine nur zeitweise unterbrochene Spur von Untertanengewalt in die gesellschaftlichen Konflikte des 19. Jahrhunderts, die als neue Formen nicht-staatlicher Gewaltanwendung entstehen, z.B. in Gestalt des Streiks. Einer solchen Betrachtungsweise würde es nicht an Stoff mangeln. Ihr Ergebnis indessen wäre banal: angesichts immer wieder neu aufbrechender Gewalttätigkeit nichtstaatlicher Urheber müßte deren geschichtliche Permanenz und der bloße Anspruchscharakter des staatlichen Gewaltmonopols konstatiert werden. Geschichtliche Einsicht würde sich einmal mehr als Rechtfertigungsideologie moderner politischer Zielsetzungen und Konfliktstrategien anbieten. Die Gefährdungen des staadichen Gewaltmonopols können dieses selbst als Faktum und Rechtssatz jedoch nicht erklären. Noch weniger ist eine bloße Beschreibung der historischen Erscheinungsformen staatlicher Macht in der Lage, auch nur annäherungsweise Aussagen über den geschichtlich bedingten immanenten Sinn — oder die Sinndefizite — des staatlichen Gewaltmonopols in der Gegenwart zu machen. Die konsequente Kriminalisierung privater Gewalttätigkeit und der Aufbau staatlicher Sicherheitsapparate sind der komplexen, höchst verletzlichen Gesellschaft der Gegenwart derart plausibel, daß der unvermittelte Blick in die Historie zu einer Selbstbestätigung führen muß, die sich am Ende dann doch als voreilig erweisen könnte. Ein Versuch, die geschichtliche Bedeutung dessen, was mit dem staatlichen Gewaltmonopol heute gemeint sein kann, zu bestimmen, muß daher bei einer Begriffsreflexion ansetzen, die sich einer ideologiekritischen Besinnung nicht verschließt. Auszugehen ist dabei vom Selbstverständnis der Kategorie, wie es sich in der Staatstheorie des 20. Jahrhunderts niederschlägt. Dieser Befund wird sodann mit den wichtigsten Entwicklungsstufen des Gewaltproblems zu konfrontieren sein. Mutmaßlich muß dieses Verfahren, wenn der Staat nur überhaupt eine Geschichte hat, Einsicht in den spezifischen Charakter des Gewaltmonopols in der Gegenwart vermitteln.

II. Begriff und Begründung des staatlichen Gewaltmonopols in der allgemeinen Staatslehre des 20.Jhdt. Schon eine oberflächliche Durchsicht der einschlägigen Standardliteratur aus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts fördert den bemerkenswerten Sachverhalt zutage, daß nicht nur aus juristischer, son-

Begriff des staatlichen Gewaltmonopols

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dem auch aus soziologischer Sicht das Gewaltmonopol als Kriterium moderner Staatlichkeit schlechthin betrachtet wird. Es genügt, an Georg Jellinek und Max Weber zu erinnern, deren Werke für unser Problem dieses Einverständnis normativer und empirischer Staatsinterpretationen bezeugen. Der erstere sah bekanntlich die Besonderheit staatlicher Gewalt gegenüber allen anderen Verbandsgewalten darin, daß sie „unwiderstehliche Gewalt" sei: „Herrschen heißt unbedingt befehlen und Erfüllungszwang üben können. Jeder Macht kann sich der Unterworfene entziehen, nur der Herrschermacht nicht." Diese aber ist in neuester Zeit im Staate konzentriert: „Der Staat wird der große Leviathan, der alle öffentliche Macht in sich verschlingt." 2 Mit diesen Feststellungen stimmt Max Weber in seiner Rede „Politik als Beruf" fast vollständig überein. Die um einiges präziseren, auch heute noch gern herangezogenen Kernsätze Max Webers lauten: „ M a n k a n n . . . den modernen Staat soziologisch letztlich nur definieren aus einem spezifischen Mittel, das ihm, wie jedem politischen Verband, eignet: der physischen Gewaltsamkeit...". — „Gewaltsamkeit ist natürlich nicht etwa das normale oder einzige Mittel des Staates..., wohl aber: das ihm spezifische". — „Staat ist diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebiet e s . . . das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht. Denn das der Gegenwart Spezifische ist: daß man allen anderen Verbänden oder Einzelpersonen das Recht zur physischen Gewaltsamkeit nur soweit zuschreibt, als der Staat sie von ihrer Seite zuläßt: er gilt als alleinige Quelle des Rechts auf Gewaltsamkeit". 3 An diesen sich fast tautologisch um sich selbst drehenden Formeln hat die Staatslehre der neuesten Zeit festgehalten, zugleich jedoch der Frage nach den Gründen dieses staatlichen Spezifikums größere Beachtung geschenkt. Zwei Aspekte stehen dabei im Vordergrund. Zum einen ist es die Betonung des Zusammenhangs zwischen Gewaltmonopol und Rechtsstaatlichkeit: Nach Zippelius können Rechtsfrieden und Rechtssicherheit nur durch „das Monopol physischer Gewaltsamkeit gegen nichtstaatliche Gewalttätigkeiten" gesichert werden. Der Rechtsstaat könne als „Gemeinwesen nur funktionieren, wenn in ihm die Staatsgewalt zur Durchsetzung des Rechts bereitsteht". 4 Ganz ähnlich stellt Merten das Gewaltmonopol in den G. JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 1914 3 , 5. Neudr., S . 4 2 9 , 4 3 1 . M.WEBER, Politik als Beruf, in: ders., Gesammelte politische Schriften, 1 9 5 8 2 , S. 4 9 4 . 4 R. ZIPPELIUS, Allgemeine Staatslehre (Politikwissenschaft), 1 9 8 5 ' , S. 4 9 4 . 2

3

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Zusammenhang des Rechtsstaatsgedankens, denn: erst „durch die Monopolisierung der Gewalt wird der Staat zum Friedensverband". 5 Ein anderes Begründungselement hat Krüger in den Vordergrund gestellt: Er begreift die Staatsgewalt als eine „General- und Blankovollmacht", die sich aus dem „Schluß vom Zweck auf das Mittel" ergebe: „Soll die Staatsgewalt... jeder neuen Lage in einer sich unablässig und immer schneller verändernden Welt sofort, vollständig und wirksam entsprechen können, dann darf sie nicht als ein fester Bestand gegebener Einzelrechte verstanden, sie muß vielmehr als die Rechtsmacht des Staates konstruiert werden, sich einseitig jede Möglichkeit schaffen zu dürfen, deren er zur erfolgreichen Erledigung der angesichts der Lage gestellten Aufgaben bedarf, und zwar einschließlich der Möglichkeit, Leben und Gut der Untertanen in Anspruch zu nehmen". 6 Unter den Staatstheoretikern der Gegenwart scheint das staatliche Gewaltmonopol unangefochtener denn je etabliert zu sein. M a x Webers Spezifikum moderner Staatlichkeit ist danach nicht nur als Faktum, sondern als sinnvolles, vitalste Lebensinteressen der Gesellschaft schützendes Machtinstrument zu begreifen. Die Frage, welche sich dem Verfassungshistoriker allerdings aufdrängt, lautet: Welchen Staat meint die „Allgemeine Staatslehre", wenn sie vom staatlichen Gewaltmonopol spricht? Nach Georg Jellinek geht es dieser Disziplin um „die Erscheinung des Staates überhaupt". Sie gewinne ihre Resultate „nicht durch Untersuchung einer staatlichen Einzelindividualität, sondern vielmehr der gesamten geschichtlich-sozialen Erscheinungsform des Staates". 7 Daraus hat Krüger in unseren Tagen den Schluß gezogen, „daß die Staatsgewalt... zum Unterschied von der Landeshoheit, überall und immer dieselbe sein muß. Die Staatsgewalt ist insbesondere nicht verschieden je nach dem Staatstyp: Ob Monarchie, Aristokratie oder Demokratie — wenn es sich überhaupt um einen Staat handelt, ist die Staatsgewalt in allen Fällen die gleiche". 8 Herzog hat dazu ergänzend klargestellt, daß es die Gemeinsamkeiten aller Staaten, „unabhängig von ihrem Ort, ihrer Zeit und ihrem gesellschaftlichen Hintergrund" zu erforschen gelte. 9 Die wissenschaftsgeschichtlichen Ursprünge dieses streng systematischen Erkenntnisinteresses liegen im vernunftrechtlichen Denken 5 6

D.MERTEN, Rechtsstaat und Gewaltmonopol, 1975, S . 3 3 . H. KRÜGER, Allgemeine Staatenlehre, 1966 2 , S. 8 2 8 ff.

7

G . J E L L I N E K , S. A n m . 2 , S . 9 f .

8

H . KRÜGER, S. A n m . 6 , S. 8 2 9 .

9

R. HERZOG, Allgemeine Staatslehre, 1971, S. 35.

Begriff des staatlichen Gewaltmonopols

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der Aufklärung. Die damals entstehende Disziplin des „Allgemeinen Staatsrechts" wollte die zeitlos gültigen Merkmale und Strukturen des Staates aufhellen und zugleich „für alle gesitteten Nationen eine gemeinschaftliche Richtschnur" bieten. 10 Dieses ahistorische Programm konnte das Zeitalter des Historismus nur überleben, weil es tatsächlich aus der Anschauung der europäischen Staatenwelt im 19. und frühen 20. Jahrhundert ein relativ homogenes Erscheinungsbild bot. Die seitdem eingetretene Entwicklung unterschiedlicher Staatstypen, das Nebeneinander demokratisch-parlamentarischer, faschistischer und sozialistischer Systeme hat dazu geführt, daß auch der Anspruch der Allgemeinen Staatslehre, „die Erscheinung des Staates überhaupt" zu beschreiben, reduziert werden mußte. Nur der demokratische Staat soll Gegenstand neuerer Darstellungen sein 11 oder sogar die „Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland". 12 Die historische Bedingtheit „allgemeiner" Aussagen über den Staat, welcher sich jüngere Autoren bewußt geworden sind, zwingt aber dazu, auch die traditionellen inhaltlichen Aussagen über den Staat einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Offenkundig sind Zweifel angezeigt, ob dem Gewaltmonopol im demokratischen, im totalitären oder konstitutionellen Staat des 19. Jahrhunderts derselbe Sinn und dieselbe Funktion zukommt. Die Frage nach der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols wird also zu berücksichtigen haben, daß nicht nur der Weg zur Monopolisierung der Gewalt als ein geschichtlicher Prozeß zu begreifen ist, sondern auch das Verständnis dieses Prinzips geschichtlichem Wandel unterliegt.

III. Geschichtliche Genese Drei Entwicklungszeiträume verdienen zunächst unsere Aufmerksamkeit: Erstens die Gewaltverhältnisse in der altständischen Gesellschaft des späten Mittelalters vor der Durchsetzung des Ewigen Landfriedens, zweitens die Monopolisierung der Gewalt im Obrigkeitsstaat des 16. Jahrhunderts und drittens die Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols im aufgeklärten Denken und durch das monarchische Prinzip. 10

T. K. HARTLEBEN, Methodologie des deutschen Staatsrechtes, 1 8 0 0 , S. 1 1 2 f ;

G . J E L L I N E K , S. A n m . 2 , S. 6 0 ff; D . WILLOWEIT, R e c h t s g r u n d l a g e n d e r T e r r i t o r i a l -

gewalt, 1 9 7 5 , S. 3 6 4 ff. 11 R.HERZOG, S. A n m . 9 , S . 3 7 ; M.KRIELE, Einführung in die Staatslehre, 19812, S . U . 1 2 H. H. v. ARNIM, Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 8 4 , S. 1 ff.

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Die verbreitete Überzeugung, es seien Zeiten diffuser Gewaltanwendung von solchen einer staatlichen Monopolisierung der Gewalt klar zu unterscheiden und schroff voneinander abzusetzen, hält einer näheren Nachprüfung nicht stand. Jedem organisierten Gemeinwesen, das Mechanismen regulärer gerichtlicher Konfliktbeilegung kennt, ist die Gewaltbeschränkung bekannt. Auch unter den Bedingungen mittelalterlicher Herrschaft steht die Gewaltausübung nicht jedermann zu. Zwar gibt es kein Gewalt-„monopol", wohl aber ein Gewalt-„oligopol" des Adels, auch der Stadtobrigkeiten, die ihre eigenen Konflikte untereinander — in gewissen Grenzen — gewalttätig austragen dürfen, im übrigen aber insofern durchaus einem monopolistischen Gewaltdenken huldigen, als sie allein berechtigt sind, ihren Gerichtsunterworfenen oder Untertanen gegenüber Gewalt zu üben. Anders als es der moderne Beobachter gerne glauben will, beherrscht nicht chaotische Gewaltusurpation das Bild der spätmittelalterlichen Gesellschaft, sondern eine durch Standesrechte und Standespflichten geprägte Gewaltordnung. Diese berechtigt im vertikalen Verhältnis gegenüber den Untertanen zur Urteilsvollstreckung und zur Durchsetzung eigener Herrschaftsrechte. Im horizontalen Nebeneinander der einzelnen Herrschaftsträger ist gewalttätige Rechtsdurchsetzung im Wege der formgerecht anzukündigenden Fehde erlaubt, wo Recht und Ehre verletzt sind. Dabei steht in solchen Fällen der Entschluß zur Gewaltanwendung wohl nicht immer zur freien Disposition des Fehdeberechtigten. Unsere bisherigen, recht unvollkommenen Kenntnisse über die Geschichte des Fehderechts legen die Annahme nahe, daß die Art der geschehenen Verletzung und das Maß der Demütigung die Fehdeansage gebieterisch fordern konnten. 13 Das Ansehen unter den Standesgenossen durch Passivität gegenüber einer Ehrverletzung aufs Spiel zu setzen, konnte größere soziale Nachteile zur Folge haben als der im Verlauf einer Fehde entstehende Schaden. Ständisches Denken scheint das eigentliche Steuerungselement des spätmittelalterlichen Fehdewesens gewesen zu sein. Es vermag die Gewaltanwendung dort zu vermeiden, wo die Gefährdung von Ehre und Ansehen auf anderen Wegen, etwa durch schiedsrichterliche Streitschlichtung von Standesgenossen, abgewendet werden kann. Doch führten die tiefgreifenden politischen und sozialen Veränderungen im späten Mittelalter zu Rechtsunsicherheiten, für deren Bewältigung oft keine allseits akzeptierten Standesregeln mehr zur Verfügung standen. Der Vorwurf 13

O. BRUNNER, Land und Herrschaft, 1985 5 , S. 1 ff, 14, 4 8 f.

Begriff des staatlichen Gewaltmonopols

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unrechtmäßigen Friedebruchs wurde daher ebensooft erhoben wie zurückgewiesen. Als Ausweg bot sich an: gewaltsame Rechtsdurchsetzung ganz zu verbieten. Die Landfriedensgesetzgebung und insbesondere der Ewige Landfriede König Maximilians von 1495 wollen daher mit dem völligen Verbot der Fehde neue Verhaltensmaßstäbe und Verhaltensnormen durchsetzen, welche die Schaffung einer neuen Sozialmoral zum Ziel haben. Die Ursprünge der Landfrieden sind bekanntlich im kirchlichen Raum zu suchen; ihr Inhalt ist stärker, als uns das heute noch bewußt ist, christlich geprägt. Denn der von Stand und Geburt aufgegebene Verhaltenskodex verträgt sich nun einmal nicht mit dem jetzt geltenden Friedensgebot. Insofern dieses für alle gilt, ist es Ausdruck einer zunehmenden Tendenz zur Egalisierung der Untertanen. Insofern das Friedensgebot durch vorbeugende Ordnungsvorschriften polizeilichen Charakters gesichert werden mußte, führt es aber auch zur Disziplinierung der Untertanen. Landfriedens- und Polizeigesetzgebung sind zwei Seiten derselben Politik. 14 Weil Fluchen, Spiel, Zutrinken, Luxus und anderes mehr zu Streit führt, ja Gottes Zorn in großen Katastrophen hervorrufen kann, deshalb ist die Obrigkeit verpflichtet, diese Ursachen von Unfrieden und Not zu unterdrücken. Sie allein darf nicht nur zum Wohle aller Gewalt ausüben, sie muß dies tun, wenn sie ihr Amt nicht verfehlen soll. Der Staat ist zwar am Ende das Ergebnis eines weltgeschichtlichen Säkularisierungsprozesses, wie einmal Böckenförde treffend feststellte. Er entsteht jedoch noch im Rahmen des alten religiösen Weltbildes als ein magisch und christlich, schließlich konfessionell bestimmtes Gebilde. Die Reformation und die mit ihr verbundene 1 4 In der Forschung ist dieser Zusammenhang noch nicht genügend thematisiert. Vgl. aber die paradigmatischen Formulierungen in der Bairischen Landesordnung von 1 5 5 3 , denen der Abdruck des Reichslandfriedens folgt: „ . . . w i e w o l . . . zu Erhaltung Friden, Rechtens, christenlicher Zucht und Erbarkait, auch zu Fürderung gmains Nutz allerlai erbarer guter O r d n u n g e n . . . aufgericht s e i n d . . . , so ist doch offenlich in Erfarung und am Tag, daß dieselben in vii Weg übertreten w o r d e n , . . . daraus allerlai Mißbreuch, auch zwischen den Landsässn und Inwonern unsers Fürstentums vii Gezenk, Hader und Beschwerung der armen Undertanen e n t s t a n d e n . . . " , in: Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Bd. II, 1: Polizei- und Landesordnungen, hrsg. v. W. KUNKEL/G. K. SCHMELZEISEN/ H. THIEME, 1 9 6 8 , S. 1 6 1 ; vgl. auch G. IMMEL, in: H . Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. II, 2, 1 9 7 6 , S. 7 7 f; ferner D.WILLOWEIT, in: K.G.A.Jeserich/H.Pohl/G.-Chr. v.Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. I, 1 9 8 3 , S. 121 ff.

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Territorialisierung der Religion haben den Prozeß der internen Friedenssicherung stabilisiert und die gesellschaftliche Disziplinierung durch Polizei- und Kirchenordnungen intensiviert. Das Gewaltmonopol des Obrigkeitsstaates, welches seit dem frühen 16. Jahrhundert ausgebildet vor uns steht, ist nicht jenes Abstraktum, das uns moderne Staatslehren einzureden suchen. Es hat eine bestimmte historische Gestalt und es tritt in die Geschichte ein als ein Herrschaftsinstrument neuer Qualität. Denn die Staatsgewalt dient der frühneuzeitlichen Obrigkeit nicht mehr nur zum Schutz individueller Interessen und eigener Herrschaftsrechte, sondern vorrangig zur Durchsetzung rigider sozialer Verhaltensnormen, in welchen die Verantwortung des Herrschers vor Gott für das zeitliche und ewige Wohl der Untertanen seinen Ausdruck findet. Das staatliche Gewaltmonopol ist in seiner frühesten historisch greifbaren Form nicht lediglich Konsequenz einer fortgeschrittenen Organisation des Gemeinwesens, sondern Folge eines politisch-konfessionellen Programms. An dieser Selbstgewißheit des Staates ändert sich im Prinzip nichts, als die Herrschaftstechniken des Obrigkeitsstaates seit den 60er und 70er Jahren des 17. Jahrhunderts durch die perfektionierten Herrschaftsmittel des Absolutismus ersetzt werden. Legitimiert und getragen wird das staatliche Gewaltmonopol nun jedoch nicht mehr durch Konfession und gute Polizei, sondern durch die naturrechtlichen Gedankenkonstrukte des Unterwerfungsvertrages und der vernünftigen Erkenntnis. Die Konzeption des Konfessionsstaates war in den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts prinzipiell gescheitert. Die Konsequenzen, welche Bodin mit seiner Definition des Souveränitätsbegriffes daraus gezogen hatte, führten nicht geradewegs zu einer Befreiung der Staatsgewalt von aller sozialen Programmatik und allen materialen Wertvorstellungen. Vielmehr erfuhr die Konzentration aller legitimen Gewalt in der Hand des Staatsoberhauptes ihre innere Rechtfertigung aus dem Glauben der Zeit, daß Recht und Politik vernünftiger Erkenntnis zugänglich seien. Nicht mehr Konfessionalität und noch nicht private Meinung, nicht Pragmatik und alternative Konzepte bestimmen das politische Denken des 18.Jahrhunderts, sondern Logik und Berechenbarkeit, Gewißheit und überlegene Fürsorge gegenüber einem Volk, das sich nur in seinen adeligen und bürgerlichen Spitzen politisch artikuliert und dies, um an eben demselben rationalen Diskurs zur Auffindung des politisch Richtigen mitzuwirken. Dieses Verständnis der Politik als eine Sache der Erkenntnis, nicht alternativer politischer Programme, liegt auch dem monarchischen Prinzip im Sinne der konser-

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vativen Staatslehre des frühen 19. Jahrhunderts zugrunde. Schon vor Hegel, doch in seiner Metaphysik kulminierend, gewinnt der Staat im Denken der zu Ende gehenden alteuropäischen Epoche also die Gestalt eines mit einem Bewußtsein und einem "Willen ausgerüsteten Wesens.15 Es bedarf keiner besonderen Begründung, daß dem staatlichen Gewaltmonopol vor diesem Hintergrund ein außerordentliches Maß innerer Folgerichtigkeit und äußerer Durchschlagskraft zukommen muß.

IV. Das staatliche Gewaltmonopol im demokratisch organisierten Gemeinwesen Die geschichtlichen Wurzeln, aus denen das staatliche Gewaltmonopol hervorgegangen ist, sind offensichtlich nicht geeignet, die auch vom demokratischen Staat in Anspruch genommene Gewalt zu legitimieren. Die Staatsgewalt von allen ihren konkreten geschichtlichen Erscheinungsformen und Begründungen abstrahieren zu wollen, wie dies in neuerer Zeit noch Krüger versucht hat, heißt nichts anderes, als die geschichtlichen Hypotheken mit ihrem doch problematischen Potential unreflektiert weiterzutragen. Die mit der Geschichtlichkeit verbundene Relativierung des Staatsdenkens hat noch jeden Versuch zeitlos gültiger Abstraktion eingeholt. Da die Staatszwecke geschichtlichem Wandel unterliegen, ändern sich auch Aufgaben und Inhalte der Staatsgewalt. So gab und gibt es Staatsformen, die den hoheitlichen Zugriff auf den Glauben und andere persönliche Uberzeugungen der dem Staatsverband angehörigen Individuen eröffnen. Dazu gehören, bei allen tiefgreifenden Unterschieden im übrigen, etwa die konfessionellen Obrigkeitsstaaten des 16. und die faschistischen sowie sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts, die muslimischen Republiken der Gegenwart nicht zu vergessen. Eine Phänomenologie der Staatsgewalt, die diesen Sachverhalt vernachlässigt, bescheidet sich mit blutleeren Abstraktionen von sehr beschränktem Sinngehalt. Im Gegensatz zum alteuropäischen Staatswesen und modernen 15 Vgl. z. B. das Kapitel „Von der Politik" im Politischen Testament Friedrichs des Großen von 1768, in: R. DIETRICH (Hrsg.), Politische Testamente der Hohenzollern, 1981, S.331; C.G.SVAREZ, Über den Zweck des Staates, in: ders., Vorträge über Recht und Staat, hrsg. v. H. Conrad/G. Kleinheyer, 1960 (= Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 10), S. 639 ff; G. W. F. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, § 301.

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totalitären Staatskonzepten verkörpert der demokratische Staat nicht selbst ein politisches Programm, sondern eine durch Verfahrensregeln und rechtsförmliche Kontrollmechanismen geprägte Legalordnung, die Raum für politische Alternativen bietet und den Kampf der politischen Kräfte um Einfluß und Macht kanalisiert. Mit der Entwicklung des politischen Pluralismus kann das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr einem „an sich" existierenden Staatswillens dienen. Diese fundamentale Divergenz gilt es zunächst festzuhalten: dem demokratischen Staat steht der Zugriff auf die Gedankenwelt der Bürger nicht offen. Daß die Gedanken frei sind, hat aber unmittelbare Konsequenzen für die Konkretisierungen der Staatsgewalt. Denn wo der Staat den Anspruch erhebt, Hüter der Wahrheit zu sein, umfaßt das Gewaltmonopol auch weitergehende Regelungsbefugnisse, z.B. hinsichtlich Meinungsfreiheit und Bildungswesen, Freizügigkeit, Persönlichkeitsentfaltung und öffentlicher Moral. Dies aber sind Bereiche, in denen die demokratisch legitimierte Staatsgewalt rasch auf den Grundrechtsschutz der Individualsphäre stößt. Daher enthält das Gewaltmonopol per se keine Zuständigkeitsvermutung zu Gunsten des Staates, und es ist ebensowenig geeignet, Kompetenzerweiterungen zu rechtfertigen. In der Demokratie dient das Gewaltmonopol dazu, die jeweils demokratisch legitimierte Politik durchzusetzen, die Legalordnung selbst zu schützen und, damit zugleich, den Schutz der politischen Kräfte voreinander zu gewährleisten. Eine Aufgabenbestimmung dieser Art muß in einem auf das Prinzip der Volkssouveränität gegründeten Staat jedenfalls am Anfang aller Überlegungen über das Gewaltmonopol stehen. Damit wird auch sogleich ein Spezifikum dieses Prinzips im Rahmen einer demokratischen Ordnung sichtbar. Es geht darum, den legitimen, von Natur aus jedoch unbegrenzten Machtwillen politischer Parteien und Bewegungen zu zügeln. Das Gewaltmonopol des Staates ist im Grunde das einzige dazu taugliche Instrument. So gesehen, kommt ihm in der Demokratie sogar eine besondere Bedeutung zu. In der pluralistischen, gegenüber individuellen Sinnentwürfen offenen Gesellschaft ist nur das Gewaltmonopol des Staates in der Lage, Frieden zu stiften. 16 In dieser Interpretation erscheint es nicht als kryptomonarchisches Fossil, sondern als Ausdruck politischer Kultur. Es ist einzuräumen, daß die hier versuchte historische Relativierung und Differenzierung des staatlichen Gewaltmonopols einen allen 16

W.Süss, Friedensstiftung durch präventive Staatsgewalt, 1 9 8 4 , S. 3 8 ff.

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konkreten Ausformungen des Prinzips gemeinsamen Kern unberührt läßt. Da die Demokratie, wenn sie sich nicht selbst in Frage stellen will, der Wertorientierung und eines konsensbegründeten Gemeinwohldenkens bedarf 17 , verbleibt auch dem Gewaltmonopol des demokratischen Staates ein von den jeweiligen politischen Kräfteverhältnissen unabhängiger Handlungsraum. Dieser muß freilich auf den Schutz elementarer Grundwerte begrenzt sein. Er darf nicht zum Spiel- und Experimentierfeld der Verwaltungen werden, denen ein eigener politischer Wille nicht zukommt. Die Handhabung staatlicher Gewalt zwischen demokratischer Legitimation und moralisch gebundener Eigenkompetenz genauer zu bestimmen — dies ist das Problem, das zu lösen uns die Geschichte aufgibt.

17

H.H.V.ARNIM, S. Anm. 12, S. 124ff.

Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt im Verfassungsstaat der Bundesrepublik DETLEF MERTEN

I. Einleitung Die Zeichnung der Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt im Verfassungsstaat der Bundesrepublik mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Weist doch gerade der Staat des Grundgesetzes eine potenzierte Individualfreiheit und eine pointierte Rechtsstaatlichkeit auf, wobei die Verfassung die Freiheit, wenn schon nicht über alles andere in der Welt, so doch zumindest vor alles andere in der Bundesrepublik gestellt und die Rechtsstaatlichkeit zu einer deutlichen und deutschen Apotheose gesteigert hat. In des Grundgesetzes heiligen Hallen dürfte man Gewalt eigentlich nicht kennen, und so hat man sich auch gegen das Institut des Besonderen „Gewalt"verhältnisses gewandt und versucht, es mit dem Argument zu verbannen, der Staat dürfe nicht — auch nicht in Teilbereichen — Gewalt über seine Bürger haben. Naiver Malerei fehlen jedoch im allgemeinen die richtigen Perspektiven. Sie bringt Zerrbilder, keine Abbilder hervor, und das bisher skizzierte Bild ist allenfalls ein Vexierbild. Es offenbart bei näherer Betrachtung zwei schillernde Probleme: den Begriff der Gewalt sowie das Spannungsverhältnis von Recht und Freiheit einerseits, zum Zwang andererseits.

II. Zum Begriff der „Gewalt" Über den Begriff der Gewalt herrscht Unklarheit — sowohl interdisziplinär als auch innerdisziplinär. Widmen wir uns daher zunächst dem Balken im juristischen Auge, bevor wir uns der Splitter in der Sicht einiger Sozialwissenschaftler annehmen.

Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt im Verfassungsstaat

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Die Verfassung selbst handelt von der „Staatsgewalt", von der „staatlichen" und „öffentlichen", von der „verfassungsgebenden" und „gesetzgebenden", der „rechtsprechenden" und der „vollziehenden" Gewalt; sie kennt die „Befehls- und Kommandogewalt". In Art. 2 0 Abs. 2 G G läßt sie alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen, verpflichtet in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG alle staatliche Gewalt zur Achtung und zum Schutze der Menschenwürde und gewährt in Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG Gerichtsschutz, falls die öffendiche Gewalt rechtswidrig und rechtsverletzend bzw. grundrechtsverletzend ausgeübt wird. Die soeben geschilderte Staatsgewalt wird jedoch in der Regel nicht durch Zwang betätigt, die hier vorgestellte staatliche Gewalt handelt grundsätzlich nicht physisch gewaltsam. Die juristische Terminologie ist in diesem Punkte also weder sauber noch rein. Der Begriff „Gewalt" vermengt Herrschaft oder Funktion mit Zwang — romanistisch gewendet ,potestas' oder ,imperium' mit ,vis' oder ,violentia'. Das wie so oft glücklichere Österreich hat es auch hier besser. Im Besitz der Reinen Rechtslehre Kelsens und getreu der Erkenntnis, daß dem Reinen alles rein sein muß, vermeidet es jede Verfassungs-Verschmutzung und ersetzt den Begriff der Staatsgewalt durch die Synonyme „Funktion" oder „Recht". 1 Aber mitunter hat man doch „darauf vergessen", und so taucht an versteckter Stelle auch in der österreichischen Verfassung die „Gewalt" auf. 2 Der juristische Begriff der Gewalt ist also ambivalent — vergleichbar dem Wetterhäuschen, bei dem sich je nach der Situation die milde Figur der Funktion oder die herbere der physischen Gewalt zeigt. So kann auch das wiederentdeckte staatliche Gewaltmonopol in einem weiteren Sinne als die alleinige Innehabung öffentlicher Herrschaft, d. h. der Berechtigung und Fähigkeit, sich aus eigener Zuständigkeit gegenüber anderen Personen durchzusetzen, charakterisiert werden. In der üblichen und zugleich engeren Terminologie bezeichnet das Gewaltmonopol des Staates das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit. Farbe bekennt die Rechtsordnung nur, wenn sie von „Zwang" spricht: beim Bundeszwang in Art. 37 A b s . 2 G G , dem Verbot der Zwangsarbeit in Art. 12 Abs. 3 GG oder den Gesetzen über die „Anwendung unmittelbaren Zwanges". 3 1 KELSEN, FRÖHLICH, MERKL, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1 9 2 0 , S. 6 5 . 2 Vgl. Art. 7 9 Abs. 2 B-VG („gesetzmäßige zivile Gewalt") und Art. 8 0 Abs. 3 B-VG (Befehlsgewalt"). Hierzu auch H.ZEIZINGER, JB1. 1 9 7 3 , 1 9 2 . 3 Vgl. z . B . § § 1 , 4 Abs. 1 des Gesetzes über den unmittelbaren Zwang bei

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Wenden wir uns dem Sprachgebrauch in den Nachbardisziplinen zu, so liegt für den Juristen in seiner Bescheidenheit ein a-maioreSchluß nahe: Wenn ihm schon klare Begrifflichkeit mangelt, wie sollte es dann anderen gehen. Und in der Tat ist es insbesondere der Begriff der „strukturellen Gewalt", der Konturen verwischt und Verständigung erschwert. Sicherlich steht jeder Disziplin eine eigenständige Terminologie frei, zumal Begriffe nur eine Frage der Praktikabilität oder Plausibilität, seltener schon der Originalität und sicher nicht der Verität sind. Sagt man sich aber vom traditionellen Sprachgebrauch los und ersetzt man den üblichen Terminus der „Gewalt" durch einen gänzlich anders definierten, so schafft man sich einen „KuckucksBegriff", mit dem man fröhlich polemisieren, aber kaum noch wissenschaftlich argumentieren kann, wie dies eine bestimmte Richtung der Friedensforschung wohl auch gar nicht will. Bejaht man Gewalt schon dann, „wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre tatsächliche und geistige Selbstverwirklichung hinter ihrer möglichen Selbstverwirklichung zurückbleibt", und definiert man „strukturelle Gewalt" als einen Zustand, der sich „in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen" äußert 4 , so wird Gewalt als „strukturelle", „politische", „technologische" oder „ökonomische" Gewalt allmächtig und allgegenwärtig, läßt sie sich je nach Bedarf und Belieben beschwören und im Orwell-Jahr zum Großen Bruder hochstilisieren. Friedensforscher und Oberlehrer — der Begriff der „strukturellen Gewalt" hat inzwischen in einem Bundesland Eingang in die Deutsch-Richtlinien gefunden - mögen sich gegen ungleiche Machtverhältnisse wenden und sie als „Gewalt" brandmarken. Für den Juristen taugt diese Verallgemeinerung und Verflachung der Gewalt, die noch hinter Max Weber zurückführt, nicht. Er muß — nicht zuletzt wegen der Differenzierungen des positiven Rechts — zwischen bloßer Macht und effektiver Gewalt, zwischen Herrschaft und Zwang unterscheiden. Dabei ist auch ihm geläufig, daß es Personen und Personengruppen, Verbände und Institutionen gibt, die über Macht, d. h. über die Chance verfügen, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetAusübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG) vom 10. März 1961 (BGBl. I S. 165) sowie das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und die Ausübung besonderer Befugnisse durch Soldaten der Bundeswehr und zivile Wachpersonen (UZwGBw) vom 12. August 1965 (BGBl. I S. 796). 4 J. GALTUNG, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, in: D. Senghaas (Hrsg.), Kritische Friedensforschung, 1971, S . 5 7 ; S. PAPCKE, Progressive Gewalt, 1973, S . 5 1 ; kritisch hierzu K.KRÖGER, JUS 1984, S. 172ff.

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zen". 5 Gewalt im engeren Sinne wird aber erst ausgeübt, wenn diese Durchsetzung mit physischem Zwang erfolgt. Auch gewaltige Macht macht noch keine Gewalt. Anderenfalls müßten alle Männer, die durch die äußere Macht ihrer Persönlichkeit oder die innere Macht ihrer Brieftasche spezifische Frauengunst erringen, wegen „struktureller Vergewaltigung" bestraft werden. Staatliche Gewalt im Sinne des Themas meint Gewalt im engeren Sinne, Gewalt als physische Gewalt. Für die Darstellung der Staatsgewalt als Staatsfunktion oder Staatsherrschaft wäre eine zeitraubende Rundreise durch das gesamte deutsche Staatsrecht erforderlich.

III. Einzelne Konstruktionsprinzipien 1. Das staatliche Gewaltmonopol als Basis Suchen wir nach den Konstruktionsprinzipien der staatlichen Gewalt im engeren Sinne, so finden wir als Basis die ebenso simple wie fundamentale Erkenntnis, daß der Reichsrest Bundesrepublik sich als Staat verfaßt hat, sich Bundes- und Rechtsstaat nennt und das Grundgesetz — wie es in der Präambel heißt — „dem staatlichen Leben für eine Übergangszeit eine neue Ordnung" geben will. Was als Staat gegründet werden sollte, mußte konsequenterweise die essentiellen Staatsmerkmale aufweisen. Eines dieser konstituierenden Staatselemente ist das Gewaltmonopol, das seit der Souveränitätslehre Bodins in entscheidender Weise den Staat der Neuzeit umschreibt und ihn von mittelalterlichen Herrschaftsverbänden abgrenzt. 6 Staat ist nach M a x Weber „diejenige menschliche Gemeinschaft, welche innerhalb eines bestimmten Gebietes... das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht." 7 Charakteristisch für den Souverän und den souveränen Staat ist die Unabhängigkeit nach außen, die im Falle einer Bindung an das Gesetz eines Höherrangigen oder Gleichrangigen fehlt. Begriffliches Merkmal für die Souveränität ist die Fähigkeit, innerhalb eines abgegrenzten Herrschaftsbereichs, des Staatsgebiets, Gesetz und Befehl durchzusetzen. Diese Durchsetzung verlangt, daß der Souverän keine andere Befehls- und Zwangsgewalt neben sich duldet. Daher gehört das Gewaltmonopol zu den vitalen Lebensinteressen des Staates. Jede Beeinträchtigung ist mit einer Gefährdung der Staatlichkeit S 6 7

M.WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, 1976 5 , S . 2 8 . Vgl. H. QUARITSCH, Staat und Souveränität, 1970, S. 234. H. QUARITSCH, s. Anm. 6, S. 822.

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verbunden. Verliert der Souverän die alleinige Zwangsgewalt und bilden sich unabhängige Träger eigener Befehlsmacht, so sind diese gleichgeordnet und souverän mit der Folge, daß sich die innerstaatlichen Beziehungen in völkerrechtliche verwandeln. Auf der Basis des aus der Staatlichkeit folgenden Gewaltmonopols gründen sich als Überbau pfeilerartig eine Reihe spezieller Verfassungsbestimmungen, die die Gewaltanwendung sowohl nach außen als auch im Innern reglementieren, aber auch limitieren. 2. Der Schutz nach außen Das Überleben des Staates, aber auch der Schutz der Freiheit seiner Bürger machen es erforderlich, sich gegen gewaltsame Angriffe von außen zu verteidigen. In der sog. Wehrnovelle hat das Grundgesetz hierfür die verfassungsrechtlichen Grundlagen geschaffen, nachdem die Schutzglocke der Besatzungsmächte entfernt worden war. Dabei ist die Aufgabe der Streitkräfte von vornherein auf die Verteidigung begrenzt — wie auch aus dem früheren Kriegsminister über den Wehrminister ein Verteidigungsminister geworden ist. Nur an versteckter Stelle — in Art. 96 Abs. 2 GG — findet sich noch der Begriff „Kriegssschiffe", die Sprach-Puristen eigentlich in Verteidigungsschiffe umrüsten müßten. Der Angriffskrieg wird im Grundgesetz, das sich in der Präambel und in Art. 1 Abs. 2 zum Frieden bekennt, in Art. 26 geächtet. Dieses Verfassungsgebot ist durch § § 8 0 , 80a StGB strafbewehrt, soweit durch die Aufstachelung zum Angriffskrieg oder dessen Vorbereitung eine Kriegsgefahr für die Bundesrepublik Deutschland entsteht. Darüber hinaus ist die Gewaltanwendung nach außen auch völkerrechtlich eingegrenzt. Nach Art. 2 Abs. 4 der Charta der Vereinten Nationen ist in den internationalen Beziehungen die Drohung mit oder die Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder die politische Unabhängigkeit eines Staates verboten, was jedoch gemäß Art. 51 nicht das „natürliche Recht" der individuellen oder kollektiven rechtmäßigen Verteidigung gegen einen „bewaffneten Angriff" beeinträchtigt. Daraus erhellt, daß der Primat des Rechts für die Gewaltanwendung im Verhältnis zu anderen Staaten gilt und Gewalt nur nach Maßgabe des Völkerrechts und des Staatsrechts anwendbar ist, insbesondere um Angriffskriege abzuwehren. Die Wehrpflicht, die das Grundgesetz nicht als Grundpflicht statuiert, sondern deren einfach-gesetzliche Einführung es nur zuläßt, ist gleichsam die Gegenleistung des Bürgers für die vom Staat gewährte Sicherheit — in den Worten von Schillers Wilhelm Teil: Denn dieses ist

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der Freien einz'ge Pflicht, das Reich zu schirmen, das sie selbst beschirmt. 3. Das Rechtsstaatsgebot Zu den tragenden Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt sowohl nach außen, aber insbesondere im Innern gehört das Rechtsstaatsprinzip. Rechtsstaatlichkeit bedeutet die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt auf das Recht. Im Rechtsstaat wird die Staatsgewalt kanalisiert und in feste, weil gesetzliche Bahnen gelenkt. Damit wird zugleich das staatliche Gewaltmonopol entschärft. Denn die Menschen sind nicht länger dem subjektiven Willen von Menschen, sondern dem objektiven Sinn von Normen unterworfen, wie René Marcie formuliert. 8 Staatliche Eingriffe und staatlicher Zwang dürfen wegen des rechtsstaatlichen Vorbehalts des Gesetzes die Freiheitsund Eigentumssphäre des Bürgers nur berühren, wenn hierfür eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist. Da im parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaat — idealtypisch gesehen — eine Identität von Herrschenden und Beherrschten besteht, legt sich der Bürger, durch Volksvertreter repräsentiert, die gesetzliche Ordnung gleichsam selbst auf, gehorcht er gewissermaßen nur sich selbst. 9 Deshalb kann gerade der demokratische Rechtsstaat die Befolgung der Gesetze verlangen, weil — wie schon Suarez 10 gesagt hat — der willigste Gehorsam gegen die Gesetze von dem zu erwarten ist, der sie sich selbst gegeben hat. Der Gesetzesgehorsam wird nicht um seiner selbst, sondern im Hinblick darauf gefordert, daß die gesetzlichen Regelungen im Interesse der Allgemeinheit und/oder einzelner für erforderlich gehalten werden. Wegen der von der Rechtsstaatlichkeit umfaßten Rechtssicherheit muß das für alle geltende Gesetz auch allen Normadressaten gegenüber gleichmäßig durchgesetzt werden, so daß Normverstöße zu ahnden sind, wenn das Rechtsbewußtsein nicht Schaden nehmen soll. Staatliche Sanktionen bei Gesetzesverletzungen sind keine „Rache des Rechtsstaats", wie eine Wochenschrift kürzlich „zeit"gemäß gemeint hat. 11 Es handelt sich nur um die nüchterne und vorhersehbare, von Rechtsbrechern auch einkalkulierte Konsequenz für Zuwiderhandlungen. 8 In: M. IMBODEN, Gedanken und Gestalt des demokratischen Rechtsstaates, 1965, S. 58. 9 So J. v. SONNENFELS, Ober die Liebe des Vaterlandes, 1771, S. 83. 10 C. G. SUAREZ, Vorträge über Recht und Staat, 1960, S.471. 11 Vgl. Die Zeit, Nr. 49, vom 3 0 . 1 1 . 1 9 8 4 , S. 17.

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In der parlamentarischen Demokratie kann der Gesetzgeber auf Dauer nicht am Rechtsbewußtsein des Volkes vorbeilegeferieren und erst recht kann die Staatsgewalt nicht permanent gegen die Rechtsüberzeugung der Bürger mobilisiert werden. Andererseits können insbesondere die auf Dauer angelegten Gesetze nicht schwankenden Tagesmeinungen angepaßt und täglich erneut zur Diskussion gestellt werden. Vorteil des parlamentarisch-demokratischen Rechtsstaats ist es gerade, daß der Gesetzgeber sowohl der Mehrheitsansicht vorauseilen und Zukünftiges vorwegnehmen als auch Zeitströmungen hemmen und Bewährtes erhalten kann. Nicht jedes Gesetz muß von der Mehrheit des Volkes gebilligt werden, und nicht alles, was die Mehrheit begehrt, muß auch Gesetz werden. Gesetzesgehorsam wird geschuldet, wenn eine Norm als verfassungsmäßiges Gesetz gilt, und nicht nur dann, wenn ihr Inhalt den Normunterworfenen konveniert. Daher kann niemand eine inhaltliche Unrichtigkeit — außerhalb der dafür vorgesehenen Verfahren — mit Erfolg rügen oder die Verbindlichkeit einer Norm unter Hinweis auf die öffentliche Meinung oder eine angeblich fehlende Akzeptanz leugnen. Wer im parlamentarischdemokratischen Staat den Erlaß oder die Änderung von Gesetzen begehrt, muß die Vordertreppe zum Parlament benutzen und darf nicht über die Hintertreppe der Gewalt zum Ziel kommen wollen. Gerade weil die parlamentarische Demokratie nur eine Herrschaft auf Zeit gewährt und damit sachliche und personelle Diskontinuität sicherstellt, weil sie auch der Minderheit die Chance einräumt, Mehrheit zu werden, und der Bürger durch Wahlen über die Zusammensetzung der Legislative und mittelbar über die Bildung der Gubernative entscheidet sowie im übrigen durch den Gebrauch seiner Grundrechte auf die öffentliche Meinung und damit auch auf das Parlament einwirken kann, ist es legal und legitim, ihn auf die verfassungsrechtlich vorgesehene demokratische Willensbildung zu verweisen und ihm insbesondere jede Gewaltanwendung zu untersagen. Nur mit Hilfe der Hoheitsgewalt und letztlich auch der Zwangsgewalt, also der Fähigkeit, andere auch gegen ihren Willen rechtlich zu verpflichten und die Pflichterfüllung mit eigenen Mitteln, notfalls mit physischer Gewalt durchzusetzen, kann der Staat die Beachtung der Rechtsordnung, die zugleich Friedensordnung ist, sichern. Der Staat muß rechtswidrige Gewaltanwendung Dritter brechen, weil er nur so die rechtmäßigen Freiheiten anderer garantieren kann. Nur die Rechtsordnung ermöglicht ein zivilisiertes Miteinander der Menschen, bei dem nicht das Faustrecht des Stärkeren als Zeichen vorstaatlicher Primitivität, sondern das Gesetzesrecht, nicht das Recht

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des Mächtigen, sondern das mächtige Recht gilt. Nur der Staat kann das Recht gewährleisten, weil nur er in der Lage ist, ihm auch Geltung zu verschaffen. Das ist letztlich der Sinn des Grillparzer-Wortes: „Der Staat kann nichts geben als Recht, denn sein einziges Mittel ist der Zwang." 1 2 Dadurch wird der Staat weder zu einer „Zwangsanstalt zur Verwirklichung des Rechts" 13 , noch zu einem Kasernenhof. Denn die zwangsweise Rechtsdurchsetzung ist Ausnahme, nicht Regel. Das Gewaltarsenal des Staates ist ultima ratio, und grundsätzlich werden die staatlichen Gebote freiwillig, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen befolgt. Zunächst versucht der Staat, Rechtsgehorsam durch nicht-physische Einwirkungen auf den Bürger, insbesondere durch Überzeugung zu erreichen. Nur in pathologischen Fällen der Gesetzesmißachtung muß das Gesetz dem Rechtsbrecher gegenüber notfalls im Wege des Vollstreckungszwanges realisiert werden oder muß — falls dies nicht mehr möglich ist — die Zuwiderhandlung zur Kompensation und/oder zur Bestrafung führen. Während für die einzelne Norm der Vollstreckungs- und/oder Strafzwang nur charakteristisch ist, ist er für die Rechtsordnung als Ganzes essentiell. Durch die Möglichkeit, zum Zwecke des Rechtsgehorsams notfalls in legaler Weise physische Gewalt einzusetzen, unterscheidet sich die Rechtsordnung von allen anderen Sollensordnungen. 4. Die Schranken-Schranke der Verhältnismäßigkeit Die Anwendung staatlichen Zwanges wird im Grundgesetz nicht nur durch die bekannten rechtsstaatlichen Sicherungen der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des Vorbehalts des Gesetzes beschränkt. Darüber hinaus wird die Zwangsgewalt durch den schon aus den Tagen des Preußischen Allgemeinen Landrechts bekannten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, insbesondere das aus dem Polizeirecht überkommene Prinzip des mildesten Mittels limitiert. Diese SchrankenSchranke stellt — um im Bilde des Themas zu bleiben — gleichsam ein Widerlager bei der Konstruktion staatlicher Gewalt dar. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat im Grundgesetz seine verfassungsrechtliche Überhöhung gefunden. Es ist aus dem Verhältnis grundsätzlicher Freiheitsverbürgung und spezieller Beschränkungsermächtigung, also aus dem Regel-Ausnahme-Verhältnis im grundge12

GRILLPARZERS Sämtliche Werke, hrsg. v. A. Sauer, Bd. 13, 1893, S. 103. Vgl. GNEIST, Der Rechtsstaat und die Verwaltungsgerichte in Deutschland, 1879 2 , S.29. 13

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setzlichen Freiheitsbereich abzuleiten. Falsch verstandene Verhältnismäßigkeit kann jedoch zu Unklarheiten führen, so daß Isensee dieses Prinzip zu Recht als den großen Weichmacher des Verfassungsrechts bezeichnet hat. Insbesondere vermag das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder das Übermaßverbot den Staat nicht zu hindern, die Rechtsordnung aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, wenn hiergegen Widerstand von Rechtsbrechern geleistet oder angekündigt wird. Würde man auch in diesem Falle die Zweck-Mittel-Relation anwenden wollen, dann wäre die Wiederherstellung des Rechts unmöglich, falls Normverletzer Widerstand androhen. Das Recht dürfte dann nur noch gegen Schwache oder gegen diejenigen durchgesetzt werden, die dem Staat loyal gegenüberstehen und sich staatlicher Gewaltanwendung fügen wollen. Umgekehrt würde das Vorgehen der Exekutive um so eher rechtswidrig werden, je größer die Zahl der sich Widersetzenden und je entschlossener und intensiver ihr Widerstand wäre. Gerade weil für den Rechtsstaat die lex optima rerum ist, muß er — unbeschadet des polizeirechtlichen Opportunitätsprinzips — die Beachtung der Rechtsordnung sicherstellen, weil jede Verletzung einer Rechtsnorm zugleich die öffentliche Sicherheit gefährdet. Hinsichtlich der Gewaltträger hat das Grundgesetz nicht zuletzt aus historischen Erfahrungen sorgfältig differenziert und insbesondere den Einsatz von Bundesgrenzschutz und Streitkräften an enge Verfassungstatbestände geknüpft. So darf der Bundesgrenzschutz beispielsweise nur zur Abwehr drohender Gefahren für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung in Bund und Ländern eingesetzt werden und dürfen die Streitkräfte gemäß Art. 87a A b s . 4 G G nur auf Anordnung der Bundesregierung organisierte und militärisch bewaffnete Aufständische bekämpfen. Der Staat des Grundgesetzes ist nicht nur auf Grund seines Sicherungszweckes gehalten, „für die Sicherheit seiner Unterthanen, in Ansehung ihrer Personen, ihrer Ehre, ihrer Rechte und ihres Vermögens, zu sorgen" 1 4 , wobei dies an die überkommene Formel erinnert, daß nur der Gesetzesgehorsam beanspruchen kann, der auch Schutz zu gewähren vermag. Der Staat kann auch wegen der Freiheitsrechte seiner Bürger verpflichtet sein, staatliche Hilfe und notfalls auch staatliche Zwangsgewalt bei Übergriffen Dritter zu gewähren. So werden aus den Grundrechten zu Recht sog. Schutzpflichten abgeleitet, insbesondere bei so wichtigen Individualgütern wie Leben und Gesundheit, Freiheit und Eigentum. Isensee spricht in diesem Zusam14

§ 1 II 17 ALR.

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menhang von einem „Grundrecht auf Sicherheit". 15 Auf diese Weise wird auch das polizeirechtliche Opportunitätsprinzip verfassungsrechtlich überlagert und eingegrenzt. 5. Die Ächtung der Privatgewalt Das Staatsmonopol physischer Gewaltsamkeit muß konsequenterweise zu einer Achtung unerlaubter Privatgewalt führen, von der schon das Preußische Allgemeine Landrecht gesprochen hatte. 16 Ausdrückliche verfassungsgesetzliche Friedlichkeitsgebote dokumentieren sich nicht nur in Art. 8 GG, der die Versammlungsfreiheit auf friedliche Zusammenkünfte Unbewaffneter beschränkt. Ein Verbot der Privatgewalt liegt auch der Meinungsäußerungsfreiheit zugrunde, die nur das Recht gewährleistet, eine Meinung kundzugeben und auf andere mit rein geistigen Mitteln einzuwirken. Die Kraft geistiger Argumente darf auch dort, wo sie fehlt, nicht durch körperliche Gewalt ersetzt werden. Auf geistig-seelische Wirkung bleibt ferner das Grundrecht der Religionsfreiheit beschränkt, das keine gewaltsame Religionsausübung und keinen Bekehrungszwang erlaubt. Ebensowenig berechtigt die Koalitionsfreiheit zur Anwendung körperlichen Zwangs, so daß sich Streikposten auf wörtliche Appelle an Arbeitswillige zu beschränken und sich jeder zwangsweisen Einwirkung zu enthalten haben. Nach allem kann für die Grundrechte eine allgemeine Grundrechtsschranke der Friedlichkeit und Gewaltlosigkeit abgeleitet werden, die sich allerdings nicht zu einer Grundpflicht verdichtet. 17 Aus dem staatlichen Gewaltmonopol folgt, daß nicht-staatliche Gewaltanwendung nur aufgrund einer staatlichen Gewaltgestattung erfolgen darf. Diese Gewaltgestattung kann als Gewaltübertragung erfolgen, wobei der Beliehene hoheitliche Kompetenzen im eigenen Namen wahrnimmt. Häufiger ist sie als Gewaltermächtigung vorgesehen. Hierbei kann der Bürger aufgrund gesetzlicher Vorschriften, aber nicht-hoheitlich handelnd, Gewalt gegen andere anwenden. Diese Gewaltanwendung unter Privaten ist nur als letztes Mittel, insbesondere in den Fällen der Notwehr, der Nothilfe, der Selbsthilfe, des Notstands und der vorläufigen Festnahme gestattet. Es handelt sich 15 J . ISENSEE, Das Grundrecht auf Sicherheit; Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft Berlin, Heft 7 9 , 1983. 16 Vgl. § 96 I 7 ALR: „Durch Handlungen unerlaubter Privatgewalt kann der Besitz einer Sache niemals erlangt werden". 1 7 Hierzu H. BETHGE, Problematik der Grundpflichten, JA, 1 9 8 5 , S. 2 4 9 ff (256).

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hierbei um Ausnahmesituationen, um die Abwehr von Gefahren, in denen obrigkeitliche Hilfe nicht zu erlangen ist, oder um Gefahr im Verzug. Der Staat kann nicht am Gewaltmonopol festhalten, wenn er selbst nicht rechtzeitig helfen kann oder wenn sich der Bürger in einer extremen Situation befindet. Diese Überlegung führt zurück auf die schon erwähnten Schutzpflichten, die den Staat bei wichtigen Individualgütern zur Hilfsgewährung verpflichten. Kann der Staat diese Fremdhilfe nicht erbringen, so muß er in Ausnahmesituationen Selbsthilfe gesetzlich gestatten. Der Vollständigkeit halber ist noch die Freigabe der Privatgewalt im Eltern-Kind-Verhältnis gemäß Art. 6 Abs. 2 GG zu erwähnen, der das Erziehungsrecht garantiert und das Züchtigungsrecht einschließt. Da das Erziehungsrecht positives Verfassungsrecht ist, handelt es sich auch bei dem elterlichen Züchtigungsrecht nicht um originäre, sondern um vom Staat gestattete Gewalt, wobei dahinstehen kann, ob das Verfassungsanerkenntnis aufgrund autonomer Selbstbeschränkung oder heteronomer Verpflichtung des Verfassungsgesetzgebers auf das Naturrecht abgegeben wurde. 18 Als weiteren Fall bürgerlicher Gewaltgestattung verleiht Art. 2 0 Abs. 4 GG allen Deutschen das Recht zum Widerstand gegen denjenigen, der es unternimmt, die Verfassungsordnung zu beseitigen, jedoch nur unter der Voraussetzung, daß andere, also insbesondere obrigkeitliche Hilfe, nicht möglich ist. Bei der Schaffung dieser Vorschrift hat der Verfassungsgesetzgeber das alte Problem des Widerstandsrechts in einer eher unglücklichen Weise positiviert 18a . Tatsächlich stellt Art. 20 Abs. 4 G G nicht in erster Linie ein Widerstandsrecht, sondern ein Recht der qualifizierten Nothilfe für den Staat, einen Fall der „Verfassungshilfe" 19 dar. Es hat konservierenden 20 , nicht revolutionierenden Charakter. Art. 2 0 Abs. 4 GG ist kein Ermächtigungsgesetz für die Anwendung von Einzel- oder Gruppengewalt, keine Fehdeberechtigung für politische Auseinandersetzungen, kein Aufruf, vermeintlich demokratische oder soziale Ideen im Wege der Selbsthilfe zu verwirklichen, keine Befugnis zu „bürgerlichem Ungehorsam". Die Verfassungsvorschrift eröffnet lediglich einen letzten Ausweg im Fall der Handlungsunfähigkeit der Staatsorgane und hat 18 Vgl. zu diesem Problem TH.MAUNZ, Das Elternrecht als Verfassungsproblem, in: FS für U. Scheuner, 1973, S. 419 ff, insbes. sub I. 1Sa Nach O.BACHOF, DÖV 1984, 221, handelt es sich bei Art. 20 Abs. 4 GG um eine „gründlich mißglückte Vorschrift". " So H.SCHNEIDER, Widerstand im Rechtsstaat, 1969, S. 13. 20 Vgl. hierzu schon BVerfGE 5, 85 (377).

Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt im Verfassungsstaat

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daher von vornherein nur eine äußerst enge Wirkung. Im Umkehrschluß zeigt die Bestimmung, daß bürgerlicher Widerstand in allen anderen Fällen ausgeschlossen ist. Nach Kant 21 führen Gesetz und Freiheit ohne Gewalt zur Anarchie; Gewalt ohne Freiheit und Gesetz zur Barbarei. Der Überblick über die Konstruktionsprinzipien staatlicher Gewalt unter dem Grundgesetz hat gezeigt, daß die freiheitlich-rechtsstaatliche Bändigung und Kontrolle der Gewalt Barbarei ausschließen und die limitierte Anwendung staatlichen Zwangs als ultima ratio Anarchie verhindern kann.

21 Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 2. Teil, E, in: Werke in sechs Bänden, hrsg. von Weischedel, Bd. VI, S. 686.

Zur Legitimation staatlicher Gewaltanwendung in der Bundesrepublik Deutschland ULRICH M A T Z

Streng genommen ist das mir vorgegebene Thema asymmetrisch formuliert: Die Legitimation staatlicher Gewaltanwendung ist an sich ein allgemeines Problem der politischen Theorie, das sinnvoll gar nicht auf ein einzelnes Land wie die Bundesrepublik beschränkt werden kann. Die Frage lautet: Kann man, und wenn ja, wie kann man staatliche Gewaltsamkeit rechtfertigen, und das heißt: zugleich begründen und — unter Umständen — begrenzen? Das Ergebnis der theoretischen Ableitungen beansprucht dann notwendig Geltung für den Staat schlechthin. Damit ist zwar die Theorie von Bedeutung für jeden einzelnen Staat, aber nur als exogener Maßstab einer Systemkritik, die z.B. prüfen könnte, inwieweit die staatliche Praxis der Gewaltanwendung den normativen Anforderungen der Theorie entspricht. Bei der Systemanalyse wird dann das Legitimationsproblem als gelöst vorausgesetzt. Dies kann hier jedoch nicht gemeint sein. Das Thema könnte stattdessen die Frage im Auge haben, wie denn in der Bundesrepublik staatliche Gewaltanwendung gerechtfertigt wird. Wir hätten es dann mit einer faktisch Geltung beanspruchenden Legitimationsdoktrin eines politischen Systems1 zu tun, die z. B. aus Rechtstexten zu erheben wäre. Aber auch auf dieser zweiten — empirischen — Ebene faktisch geltender Legitimationsdoktrinen werden wir kaum auf Sonderfälle einzelner politischer Systeme stoßen, sondern allenfalls auf Systemtypen. Tatsächlich hat denn auch die deutsche Bundesrepublik selbstverständlich kein besonderes Legiti1 Der Begriff der Legitimität, auf den der Begriff Legitimation zurückverweist, ist also doppeldeutig: einmal ein Konzept der politischen Theorie, das andere Mal eines der politischen Soziologie. Vgl. dazu U. MATZ, Zur Legitimität der westlichen Demokratie, in: Die Rechtfertigung politischer Herrschaft - Doktrinen und Verfahren in Ost und West, 1978, S. 33.

Legitimation staatlicher Gewaltanwendung in der Bundesrepublik

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mationsprinzip für staatliche Gewaltanwendung. Sie fügt sich vielmehr ein in den allgemeinen Typus des neuzeitlichen Staates, und hier wiederum in den Unterfall der rechtsstaatlichen Demokratie. Auch in dieser Version ist unser Thema daher weder länderspezifisch noch bezogen auf die aktuelle innere Situation der Bundesrepublik zu behandeln, sondern nur im Rahmen der Geltungen des westlichen Kulturkreises. Trotzdem hat es Sinn, den Bezug zur konkreten Situation in der Bundesrepublik zu wahren, denn bei uns gibt es seit längerer Zeit in Theorie und Praxis, im wissenschaftlichen Disput wie in der politischen Auseinandersetzung Probleme der Akzeptanz staatlicher Gewaltanwendung, die es geboten erscheinen lassen, sich des allgemeinen Themas in der einen oder anderen Version anzunehmen. Der Zusammenhang zwischen der aktuellen Debatte in der Bundesrepublik und der abstrakten Rechtfertigung staatlicher Gewaltanwendung ergibt sich etwas umwegig aus Wandlungen im Bereich politischer Aktionsformen: Seit der sogenannten Studentenrevolte der späten 60er Jahre hat sich die Skala der Formen politischer Artikulation deutlich erweitert. In unserem Zusammenhang sind dabei nur jene spektakulären „Demonstrationen" von Bedeutung, die einen gleitenden Übergang von der Beteiligung am demokratischen Meinungsund Willensbildungsprozeß zu Manifestationen demonstrativen Widerstands gegen die Staatsgewalt als Mittel innenpolitischer Auseinandersetzung darstellen. Die politische Soziologie spricht hier gerne euphemistisch von „unkonventionellem" politischem Verhalten2, während es tatsächlich um bewußt illegale Strategie geht, die auf die Provokation der Recht sichernden und durchsetzenden staatlichen Instanzen abzielt. Ein Schauspiel wird in Mobilisierungs- und Propagandaabsicht in Szene gesetzt, das wesentlich zwei „Mechanismen" der Demokratie ausnutzt: den Zwang zu informieren, dem die Massenmedien gehorchen zu müssen glauben, und die Gesetzesbindung von Polizei und Justiz, die auf Rechtsbruch amtspflichtgemäß zu reagieren gehalten sind. Diese Entwicklung hat vor allem die Polizei vor neue - jedenfalls für die Bundesrepublik neue - Probleme gestellt. Bei dem Versuch ihrer Lösung wurde auf die andersartigen Bedingungen staatlicher Gewaltanwendung mit neuen Strategien der gewaltsamen Durchsetzung von Recht geantwortet. Damit einher ging eine intensive Diskussion der „Gewaltfrage" 2 Vgl. etwa S.H.BARNES, M.KAASE U.A., Political Action: Mass Participation in Five Western Democracies, 1979.

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Ulrich Matz

sowohl in der politischen Auseinandersetzung als auch in der wissenschaftlichen Debatte. Behauptungen eines Rechts zum begrenzten Rechtsbruch 3 , zum zivilen Ungehorsam und zur „Gegengewalt" gegen staatliche Gewalt hatten dabei ihre Kehrseite in einer offenen oder impliziten Delegitimierung staatlicher Gewaltsamkeit.4 Am deutlichsten wird dies bei Sprachstrategien, die einerseits staatliche Gewalt als „militaristisch" disqualifizieren, während Gewaltanwendung von fälschlich so genannten Demonstranten mit dem Begriff „aktive Gewaltlosigkeit" in ihr genaues Gegenteil umgedeutet wird. 5 Die sich in solchen Symptomen andeutende Lage ist Ausgangspunkt der folgenden allgemeinen Erörterung der Legitimation staatlicher Gewaltanwendung.

I. Allgemeine Legitimation staatlicher Gewaltanwendung Mit einer schlichten Feststellung ist zu beginnen, ohne daß man auf die bisweilen allzu feinsinnigen Erörterungen des Gewaltbegriffs6 einzugehen braucht: Gewalt ist ein Übel, mehr noch: eines der schwersten Übel, das zur Disposition menschlichen Handelns steht. Die Anwendung von Gewalt steht daher unter extremem Rechtfertigungszwang, dem man weder durch terminologische Kunststückchen noch durch Fixierung auf den guten Zweck der Gewaltanwendung entkommen kann. Das gilt nochmals verstärkt für den Staat, der sich die Sicherung und Förderung des menschlichen Zusammenlebens zur Aufgabe macht und daher einen besonders hohen Rang als Kulturschöpfung beansprucht. Die folgende Rekonstruktion der Rechtfertigung staatlicher Gewaltanwendung im demokratischen Verfassungsstaat benutzt als Ma3 In einer Repräsentativumfrage aus dem Jahre 1981 fühlt sich z. B. ein Viertel der Bevölkerung „auf Seiten der Hausbesetzer" (26%), und weitere 27% sind unentschieden (Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1978-1983, S. 316). 4 Immerhin bestreiten - vgl. Allensbacher Jahrbuch, Anm. 3, S. 316 - im Jahre 1982 38% der Bevölkerung der Polizei das Recht zur Gewaltanwendung, weitere 18% sind unentschieden. 5 Vgl. W.GAGEL, Gewalt in der Politik, in: Gegenwartskunde, 31.Jg., 1982, S. 69. Diese Sprachlüge ist ein hübsches Beispiel für totalitäres „Neusprech" im Sinne Orwells. 6 Vgl. dazu U.MATZ, Politik und Gewalt. Zur Theorie des demokratischen Verfassungsstaates und der Revolution, 1975, S. 25 ff; W. Süß, Friedensstiftung durch präventive Staatsgewalt: Eine Untersuchung zu Theorie und Praxis staatlicher Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland, 1984.

Legitimation staatlicher Gewaltanwendung in der Bundesrepublik

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terial sowohl die politische Theorie als auch die politikwissenschaftliche Systemanalyse. Dies ist insofern möglich, als wir eine relativ enge Wechselbeziehung zwischen politischer Theorie und real geltenden Rechtfertigungsdoktrinen annehmen dürfen. Es geht um eine Doktrin von geradezu klassischer Einfachheit und Stringenz. Auf die knappste Formel gebracht, lautet ihre Argumentationskette folgendermaßen: 1) Gewalt ist allgemein — d.h. gleichgültig, ob es sich um Individuen, Gruppen oder staatliche Instanzen handelt — nur zu rechtfertigen für den Fall der Wahrung bzw. Wiederherstellung des Rechts. Damit wird Gewaltanwendung zum Zweck der Änderung der geltenden Rechtsordnung ausgeschlossen. 2) Dies gilt jedoch nur, soweit das geltende Recht seinerseits gerechtfertigt, d.h. „gerechtes Recht" ist, das anerkennbare Güter schützt. (Vgl. dazu unter Ziff. 6.) 3) Der Bruch des Rechts ist immer möglich bis wahrscheinlich, und damit auch Gewaltanwendung zur Durchsetzung eigener Interessen. Die gewaltfreie Gesellschaft ist, auch wenn heute wieder von einem prominenten Grünen propagiert 7 , eine gefährliche Illusion, die nur dem Gegenteil, dem „Kampf aller gegen alle" Vorschub leistet. Das Recht muß daher gesichert werden durch möglichst effektive Prävention bzw. wiederherstellende Sanktion. 4) Effektive Rechtssicherung bedarf der politischen Institutionen. Im Angebot verschiedener institutioneller Möglichkeiten ist die Institution des modernen Staates konkurrenzlos im wahrsten Sinne des Wortes. Der Staat gründet sich in allererster Linie auf das allgemeine Gewaltverbot: Niemand darf grundsätzlich8 mehr sein Recht als Richter in eigener Sache verfolgen, das Recht zur rechtssichernden Gewaltanwendung wird vom Staat monopolisiert. Die Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols beruht auf der optimalen Gewährleistung der allgemeinen Rechtssicherheit und des inneren Friedens („Rechtsfriede"). Das Gewaltmonopol besteht also im Interesse aller Bürger. 7 Vgl. D. BURGMANN, Das Gewaltmonopol des Staates verhindert die gewaltfreie Gesellschaft, in: Die Grünen, Ausg. 43 vom 23. Oktober 1982, S. 3. 8 Die wenigen, eng umschriebenen Ausnahmen (Notfälle) müssen von der Rechtsordnung ausdrücklich zugelassen sein (im deutschen Recht z. B. §§229, 859 BGB [Selbsthilfe] oder §§227 BGB, 32 StGB [Notwehr]).

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5) Der Staat als Gewaltmonopolist ist die segensreichste Erfindung auf dem Gebiet politischer Institutionen, aber zugleich auch die gefährlichste. Damit seine Bindung an das vitale Interesse aller wirksam bleibt, sind weitere Institutionen erforderlich. Die erste dieser Institutionen ist der Rechtsstaat: Der Staat selbst unterstellt sich Rechtsregeln, insbesondere auch in seiner Eigenschaft als Gewaltmonopolist: Justiz und Polizei unterliegen besonders strenger Rechtsbindung, die Gewalt wird dadurch domestiziert; mehr noch, sie gewinnt einen anderen Charakter als willkürliche oder strategisch kalkulierte Gewalt: Verfahrensrechte machen aus potentiellen Opfern der Staatsgewalt verteidigungsfähige Subjekte; unabhängige Gerichte können gegen vermuteten staatlichen Rechtsbruch angerufen werden; und last but not least: die staatliche Regelungskompetenz und damit auch das Gewaltmonopol werden generell durch Grundrechte beschränkt. 6) Die zweite Institution, die das Risiko des Gewaltmonopols akzeptabel macht, ist die Demokratie. Da die Handhabung des Gewaltmonopols und das Feld seines potentiellen Einsatzes vom Recht abhängen, ist letztlich entscheidend, wer über das Recht beschließt. In der Demokratie haben die Betroffenen den maximal möglichen Einfluß darauf, was Recht wird und bleibt, was also als schützenswertes Gut Anerkennung finden soll. Die Betroffenen bestimmen insoweit u. a. auch die Bedingungen und die Art des Einsatzes des Gewaltmonopols. Neben der Sicherung des formalen Rechtsfriedens wird das Gewaltmonopol auf diese Weise auch noch inhaltlich an den Willensbildungsprozeß der demokratischen Mehrheit gebunden. Was auf diesem Wege entschieden wird, muß mangels besserer Alternativen zur Feststellung des Gerechten als „gerechtes Recht" gelten. Auch die Akzeptanzchancen des geltenden Rechts und damit der gewaltfrei sich herstellende innere Friede sind in diesem Typ von politischem System vergleichsweise am größten. Damit ist die Legitimation staatlicher Gewaltanwendung unter den Bedingungen des demokratischen Verfassungsstaates vollendet. Wie schon eingangs gesagt, ist nun diese klassische Legitimitätsdoktrin bei uns zunehmend unter Beschuß geraten. Dies gibt Anlaß, die Problematik an einigen Beispielen grundsätzlicher Kritik erneut zu überprüfen:

Legitimation staatlicher Gewaltanwendung in der Bundesrepublik

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II. Dämonisierung des Gewaltmonopols in der aktuellen Diskussion Erstes Beispiel: Ist alle Staatsgewalt Gewalt? Ein prominenter Politikwissenschaftler hat z. B. kürzlich behauptet: „Das Muttermal des Staates, das physische Gewaltmonopol, (prägt) jede Funktion des Staates bis ins letzte Detail." 9 Mehr noch: „Wer über solche physische Vernichtungsgewalt gesellschaftlich verfügt, bestimmt, was letztlich geschieht."10 Dies ist wahrscheinlich eine Auffassung, die in dem Milieu der Protestbewegungen mehr oder weniger bewußt verbreitet ist. Beide Behauptungen sind gleichwohl Unsinn. Das Gewaltmonopol ist, wie gezeigt, ausschließlich im Bereich der Exekutive, bei der Vollstreckung des bereits politisch Entschiedenen, wirksam. Weder die Gesetzgebung noch das ihr vorgelagerte Feld der politischen Meinungs- und Willensbildung dagegen sollen gerade nicht durch Gewalt, und bliebe sie auch „in der Kulisse", beeinflußt werden. Das in letzter Zeit so häufige Bild der massiven Konfrontation von Polizei und sog. „Demonstranten", die mit ihren Anliegen den Willensbildungsprozeß beeinflussen wollen, scheint allerdings auf den ersten Blick dafür zu sprechen, daß das Gewaltmonopol bei uns doch massiv als Faktor im politischen Willensbildungsprozeß eingesetzt wird. In Wirklichkeit versuchen aber auch hier die staatlichen Instanzen nur, den Rechtsregeln, die den öffentlichen Meinungs- und Willensbildungsprozeß gewaltfrei halten sollen, gegen politisch motivierten Rechtsbruch Geltung zu verschaffen. Darüber hinaus läßt sich feststellen, daß solche „Demonstrationen" häufig die Durchführung bereits gefällter politischer Entscheidungen verhindern sollen. In diesen Fällen geht es offensichtlich gar nicht mehr um Willensbildungsprozesse, sondern um die Nicht-Akzeptanz demokratischer Entscheidungsregeln, die die Polizei zu sichern hat. Zweites Beispiel: Allwirksamkeit der Gewalt? Man hat - historisch unzutreffend - behauptet 11 , daß die staatliche Polizei erst mit der nach-absolutistischen Entwicklung eines Raumes für den innenpolitischen Diskurs entstanden sei — insinuierend, daß 9 W.-D. NARR, „Physische Gewaltsamkeit", ihre Eigentümlichkeit und das Monopol des Staates, in: Leviathan 8. Jg., 1980, S.553 (Hervorh. von mir). 10 W.-D. NARR, S. ANM. 9, S.551. 11 W.-D. NARR, Anm. 9, S. 570.

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der Gewaltapparat von vornherein innenpolitisch disziplinierend wirken, die neu errungene politische Freiheit gleich wieder kompensieren soll. Dazu paßt die noch sehr viel weiter gehende Ansicht12, das Gewaltmonopol bewache nicht nur die formalen Regeln wie ein Grenzwächter, sondern pflüge durchaus das Feld innerhalb dieser Grenzen, reiche „bis in die letzten Nischen des Alltagsverhaltens" und mache schon durch psychische Konditionierung jede „herrschaftsfreie Kommunikation" unmöglich. In der Tat soll das Gewaltmonopol disziplinieren, aber nicht im Hinblick auf den Inhalt der Kommunikation, sondern wieder nur im Hinblick auf ihre Formen. In diesem Sinne hat das Gewaltmonopol auch historisch tatsächlich zivilisierend gewirkt. Der moderne Staat ist damit ein ganz wesentliches Element des „Prozesses der Zivilisation", wie ihn Norbert Elias soziologisch beschrieben hat.13 So können wir die Unterstellung, das Gewaltmonopol solle Innenpolitik obrigkeitlich determinieren, geradezu umkehren: Es soll Innenpolitik als Kommunikation in einem gewaltfreien Raum ermöglichen. Drittes Beispiel: Das Gewaltmonopol —ein Unterdrückungsinstrument? Auch die alte marxistische These vom Staat als Klassenherrschaftsinstrument wiederholt sich, allerdings ohne jeden Unterbau marxistischer Theorie: „Das Gewaltmonopol des Staates bleibt auch in der Demokratie das Mittel der Beherrschung für die herrschenden Kräfte." 14 Diese These von der prinzipiellen Parteilichkeit des Gewaltmonopols geht zweifellos an den Nerv der Legitimation staatlicher Gewaltsamkeit. Aber sie ist für einen Staat wie die Bundesrepublik empirisch widerlegbar: Die demokratischen Verfahren gewährleisten eine erhebliche Abhängigkeit der Eliten von öffentlicher Zustimmung, sei es über das formelle Institut der allgemeinen Wahl15, sei es über die permanente W.-D.NARR, A n m . 9 , S . 5 6 9 . N . ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation, 1 9 6 9 2 . 1 4 D . BURGMANN, S. Anm. 7. 1 5 Vgl. U. K. PREUSKER, Politiksteuerung und allgemeine Wahlen Untersucht anhand einer Fallstudie über das Zustandekommen des Einkommensteuerreformgesetzes vom 5. August 1 9 7 4 , Studien zur Politik, Bd. 5 , 1 9 8 0 ; B. SCHENKLUHN, Konjunkturpolitik und Wahlen. Eine fallanalytische Langzeituntersuchung der konjunkturpolitischen Regierungsentscheidungen in 7 Wahlperioden (von 1949-1976), 1985. 12

13

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öffentliche Debatte.16 Und was speziell die staatliche Gewaltsamkeit angeht, so kann sie unter den Bedingungen einer Demokratie auf die Dauer nur in einer Weise ausgeübt werden, die hinreichende öffentliche Unterstützung hat. An diesem Punkt stoßen wir allerdings auf eine Problematik, die möglicherweise besondere Bedeutung in der Bundesrepublik hat. Dort, wo es nicht mehr nur um die abstrakte Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols geht, sondern um Zustimmung zu tatsächlicher Gewaltsamkeit staadicher Instanzen, kann ein Paradox entstehen: Das Gewaltmonopol kann in dem Maße, in dem es historisch prägend geworden ist, also zivilisierend gewirkt hat, zwar nicht als Monopol, aber als Gewaltmonopol selbst in Akzeptanzschwierigkeiten kommen. Der Garant politischer Gesittung erscheint selbst als brutaler Barbar, und dies insbesondere dann, wenn eine psychologisch geschickte Strategie planmäßiger Regelverletzung staatliche Gewaltsamkeit im Medienspektakel entweder erschreckend oder lächerlich, in jedem Falle unverhältnismäßig wirken läßt. Die Polizei kann dann — zumal wenn mit den „Demonstranten" sympathisierende Medien unter Mißbrauch des Markenzeichens „liberal" flankierende Angriffe vortragen - vor einem zivilisierten Publikum leicht archaisch wirken. Weit davon entfernt, Unterdrückungsinstrument in der Hand von Oligarchien zu sein, kann dann das Gewaltmonopol an Legitimität und damit an Einsatzfähigkeit verlieren. Wenn nicht alles täuscht, dann können wir in der Bundesrepublik seit den späten 60er Jahren Änderungen im Verhalten der Polizei feststellen, nämlich den Übergang von strikter Gesetzesanwendung nach Maßgabe „pflichtgemäßen Ermessens" im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu strategischem Verhalten nach Maßgabe politischer Opportunität, die als defensive Anpassung an stimmungsmäßig verschärfte Legitimationsbedingungen für staatliche Gewaltanwendung gedeutet werden können.

III. Direkte Kritik am staatlichen Gewaltmonopol Jeder Versuch, mit dem Staat konkurrierende Gewaltrechte oder auch nur den politisch motivierten Regelbruch zu rechtfertigen, läuft auf eine direkte Delegitimierung des Gewaltmonopols hinaus. Seit längerem schon gibt es in der Bundesrepublik solche Versuche mit 16

E . TRAUGOTT,

Anm. 1 5 .

Die

Herrschaft

der

Meinung,

1970;

B . SCHENKLUHN,

S.

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einem gewissen theoretischen Anspruch, die von wachsendem Einfallsreichtum zeugen und sich zunehmender Resonanz erfreuen. Zu erwähnen sind hier vor allem: — die These vom Ausnahmerecht für Minderheiten bei irreversiblen Entscheidungen von existenzentscheidender Bedeutung; — die Theorie des Primats des „sozialen Friedens" vor dem Rechtsfrieden und — die Lehre vom grundrechtlich geschützten zivilen Ungehorsam. Die These vom Ausnahmerecht für Minderheiten ist demokratietheoretisch sehr ernst zu nehmen. Das Ausnahmerecht soll sich auf jene besonderen Politikfelder wie z. B. Energie- und Sicherheitspolitik beschränken, auf denen angesichts des heutigen Standes der Technologie „Entscheidungen jenseits einer korrigierbaren und überschaubaren Größenordnung"17 anstehen, Entscheidungen jenseits aller „Normalität". In diesen Fällen soll der Satz greifen: Es „darf für die Minderheiten letztlich nie etwas auf dem Spiel stehen, das schwerer wiegt, als der... gestiftete Friedenszustand selbst." 18 Zu dieser Position ist folgendes zu sagen: Es ist richtig, daß die technische Entwicklung inzwischen der Politik Wirkungsmöglichkeiten ungeheuren, und d.h. auch ungeheuerlichen Ausmaßes zur Verfügung stellt. Aber diese Lage ist heute, ob wir wollen oder nicht, das Normale geworden. Wir können die Entwicklung weder umkehren, noch als kleineres Land, wie es die Bundesrepublik nun einmal ist, aus ihr aussteigen. Denn Technik bedeutet nicht nur Wohlstand und Bequemlichkeit, sie ist auch wirtschaftliche und politische Macht. Aus diesem Grunde würde das System internationaler Konkurrenz dafür sorgen, daß ein aus der Entwicklung der technischen Zivilisation aussteigendes Land als Macht ausgeschaltet, aber keineswegs aus dem Bannkreis der technischen Zivilisation entlassen würde. Vielmehr geriete es unweigerlich in eine Abhängigkeit von den technologisch mächtigen Staaten, die ihm den Status einer Kolonie neuer Art verleihen müßte. Wie die Dinge liegen, würde das postulierte Ausnahmerecht gerade die heute zentralen Politikfelder aus dem vom Gewaltmonopol geschützten innenpolitischen Prozeß ausklammern. (Daran scheitert 17 B. GUGGENBERGER, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, in: ders./ C. Offe, An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, 1984. 18 B. GUGGENBERGER/C. OFFE, Einleitung: Politik an der Basis - Herausforderung der parlamentarischen Demokratie, in: DIES., S. Anm. 17.

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übrigens auch der Versuch19, den „Öko-Konflikt" mit den Konfessionskriegen des 16./17. Jahrhunderts gleichzusetzen, d.h. als unlösbaren Fundamentalkonflikt zu entpolitisieren!) Ein absolutes Vetorecht von Minderheiten gegen die Durchführung von verfassungsmäßig zustandegekommenen Entscheidungen ist daher aus vitaler Indikation abzulehnen. Dieser apodiktische Schluß gilt selbstverständlich nur für die aufgeworfene prinzipielle Frage. Welche praktischen Folgerungen zu ziehen sind, falls Minderheiten in dem Glauben, sie hätten ein solches Vetorecht, Widerstand leisten, ist u.U. ein sehr schwieriges Problem der politischen Güterabwägung. Wenn der Einsatz staatlicher Gewalt zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen würde, so mag es opportun erscheinen, das Prinzip nicht um jeden Preis zu exekutieren. Ein Ausweis für einen gesunden Gesamtzustand der demokratischen Kultur wäre die Nötigung zu solch kluger Mäßigung freilich nicht. Zum Primat des sozialen Friedens vor dem Rechtsfrieden: Die Unterscheidung von sozialem und Rechtsfrieden hat nur Sinn, wenn „sozialer Friede" nicht mittels Recht und Gewaltmonopol hergestellt werden soll. Sozialer Friede könnte also nur im rechtsfreien Raum zwischen Machtgruppen, die womöglich noch über beliebige Machtmittel verfügen können, ausgehandelt werden. Das Primat des sozialen Friedens würde damit allerdings eine Prämie auf den Rechtsbruch und das ungezügelte Recht des Stärkeren setzen. Das wäre das Ende der politischen Zivilisierung, die das Gewaltmonopol gebracht hat, und der Anfang vom Ende des inneren Friedens. Dieser Rückfall ins Mittelalter wäre die Quittung dafür, daß der Rechtsfriede von den Verfechtern des sozialen Friedens nicht als die Form des sozialen Friedens erkannt wurde. Schließlich zum grundrechtlich geschützten zivilen Ungehorsam20, der die innenpolitische Szene bei uns nun schon seit längerem prägt und der die logische Folge des oben diskutierten Minderheitenrechts darstellt. Kein Geringerer als Jürgen Habermas hat hier im Widerspruch zu der hier aufgestellten These vom Zusammenhang von politischer Zivilisation, Rechtsgeltung und Gewaltmonopol die These formuliert, daß es das Kennzeichen einer reifen politischen Kultur der rechtsstaatlichen (!) Demokratie sei, wenn sie den zivilen Ungehorsam 19 I. FETSCHER, Wieviel Konsens gehört zur Demokratie? in: An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Anm. 17, S. 2 0 2 f. 2 0 Vgl. R. DREIER, Widerstandsrecht im Rechtsstaat? in: Staat und Recht im sozialen Wandel. FS für H.U.Scupin, 1 9 8 3 ; J.HABERMAS, „Die Zeit" vom 2 3 . September 1 9 8 3 .

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als Verfassungsinstitut akzeptiere. Die Argumentation setzt mit der nicht unbegründeten These ein, daß Legitimität durch demokratische Verfahren (Luhmann) grundsätzlich nur erzeugt werden könne dank moralischer Prinzipien, die dem Verfassungsstaat und seinen Regeln zugrundeliegen. An diese Prinzipien müsse unter Umständen eine moralisch sensibilisierte Minderheit gegen legal zustandegekommene Entscheidungen appellieren können, dann nämlich, wenn die „repräsentative Verfassung vor konkreten Herausforderungen, die die Interessen aller berühren, versagt." Wegen der stets lauernden Gefahr „legaler Verletzungen der Legitimität" schütze der „reife" Rechtsstaat das Mißtrauen gegen sich selbst, begrenze von sich aus den Rechtsgehorsam durch Grundrechte und vollende sich erst darin. Gegen diese geradezu raffinierte Argumentation seien hier nur zwei knappe Einwände gesetzt: Erstens. Habermas verkennt den unlösbaren Zusammenhang zwischen den Legitimitätsprinzipien des Verfassungsstaates und den daraus abgeleiteten institutionellen Arrangements. Das komplizierte Gefüge der politischen Institutionen und Verfahren des Verfassungsstaats erhebt den Anspruch, den Legitimitätsprinzipien nach Menschenmöglichkeit durchgehende Geltung zu verschaffen. Die von Habermas angenommene ethische Illegitimität konkreter politischer Entscheidungen, die im Rahmen der verfassungsstaatlichen Ordnung gefallen sind, ist damit natürlich noch nicht ausgeschlossen. Statt von „Illegitimität" wird bei uns in einem solchen Fall von „Verfassungswidrigkeit" gesprochen. Auch für die Klärung dieser Fragen gibt es bekanntlich wiederum (Rechts-)Verfahren, die gewaltsame Auseinandersetzungen ersetzen sollen. Das „kleine Widerstandsrecht für die Normallage" (!) (Dreier) hat wegen sich darin ausdrückender „Ethik des inneren Friedens", die dem demokratischen Verfassungsstaat zugrundeliegt, gerade keinen Platz im verfassungsstaatlichen System. Zweitens. Die Überantwortung des Rechtsgehorsams an das private ethische Urteil beliebiger Gruppen vernichtet die Rechtsgeltung im Ansatz und vollendet damit den Rechtsstaat nicht, sondern nimmt ihn einfach nicht ernst. Nicht ernst genommen wird aber auch der Charakter der innenpolitischen Auseinandersetzungen, die Anlaß für die Entwicklung dieser seltsamen Theorie der rechtsstaatlichen civil disobedience waren: Habermas tut so, als wenn die Atomenergiepolitik gegen das Leben gerichtet war, die Nachrüstungsentscheidung für den Krieg optiert hätte usw. In Wahrheit gingen die Auseinandersetzungen um die richtige Strategie zur Sicherung der künftigen Energie-

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Versorgung und damit des Lebens, bzw. um die bessere Strategie zur Friedenssicherung. In dieser Lage der der eigenen politischen Meinung entgegengesetzten Meinung kurzerhand die Moralität abzusprechen, genügt den minimalen Anforderungen an eine Ethik des öffentlichen Diskurses nicht.

Zum Recht auf Widerstand nach dem Grundgesetz R U D O L F WASSERMANN

Widerstand scheint heute im Verständnis vieler die Normallage zu sein, so häufig ist davon die Rede. Eine Untersuchung über diesen Gegenstand hat kürzlich nicht weniger als zehn Widerstandsdebatten in der Bundesrepublik seit 1945 ermittelt 1 , und das ist eher zu niedrig als zu hoch gegriffen. Der inflationär gebrauchte Begriff ist zur kleinen Münze im politischen Alltagsgeschäft geworden. Jedermann will seinen Widerstand haben, und man ist versucht, Rilke zu modifizieren: „Wer spricht von Siegen, widerstehn ist alles". Wird auf diese Weise ein großer Begriff der abendländischen Geistesgeschichte verhökert? So sehen es jedenfalls die einen. Die anderen preisen den alltäglichen Widerstand als Gewinn an demokratischer politischer Kultur. Den zum Widerstand Entschlossenen geht es freilich nicht nur darum, faktisch Widerstand zu üben; man möchte auch zum Widerstand berechtigt sein, d. h. das Recht haben, das Recht zu verletzen. Es gehört gerade zu den hervorstechenden Merkmalen der seit Mitte der 60er Jahre anhaltenden Gewaltdebatte, daß die Befürworter von Gewalt wie von gewaltfreiem Widerstand sich nicht mit ideologischen Rechtfertigungen für ihr Verhalten begnügen, sondern auch nach rechtlichen Legitimationen suchen. Man will sich gewissermaßen durch die herausgeforderte Rechtsordnung das Recht bestätigen lassen, sich rechtswidrig verhalten zu dürfen. Die Rechtsverächter erweisen in dieser Weise dem Recht, das sie doch brechen wollen, gleich1 So P. STEINBACH in seinem Vortrag Widerstand und politische Sensibilität, Widerstandsdiskussion im politischen und generationsbedingten Wandel, am 3 . 1 1 . 1 9 8 4 auf der internationalen Tagung „Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein", veranstaltet von: Minister für Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, der Landeszentrale für politische Bildung und der Universität Bielefeld, Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZIF).

Zum Recht auf Widerstand nach dem Grundgesetz

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sam ihre Reverenz. Zeigt sich darin einmal mehr, wie rührend legalitätsbedürftig die Deutschen sind? Wie dem auch sei: Daß man bei der Suche nach Rechtfertigungen für private — das heißt: nichtstaatliche — Gewalt im Arsenal des Rechts nicht an dem grundgesetzlichen Widerstandsrecht vorüberging, ist nichts weniger als überraschend. Die Frage ist nur, ob die Norm das hält, was man sich von ihr verspricht, oder ob Ernüchterung die unausbleibliche Folge der näheren Bekanntschaft ist. Bei vielen, die einst Hoffnungen auf dieses Grundrecht setzten, ist denn auch bereits die früher gehegte Euphorie verflogen. Die folgenden Ausführungen sind nicht angetan, solche Hoffnungen wiederzubeleben. Ich sage das sogleich, um keine Erwartungen aufkommen zu lassen, die ich weder erfüllen kann noch will. Andererseits will ich mich nicht mit einer rein juristischen Analyse und Interpretation begnügen, sondern versuchen, den politischen und sozialen Hintergrund der Problematik in die Erörterung miteinzubeziehen. I. Das Widerstandsrecht des Art. 2 0 A b s . 4 G G 2 gehört nicht zum Inhalt der Verfassungsurkunde von 1949, sondern ist erst 1968 bei der Einfügung von Notstandsregelungen dem Grundgesetz hinzugefügt worden. 3 Handelte es sich bei diesem Akt um eine politische und rechtsgeschichtliche Haupt- und Staatsaktion, stieg man hinab zu den Müttern, um aus dem Urgrund des Normativen das demokratische Urrecht heraufzuholen? Oder haben wir es mit politischer Romantik zu tun, sozusagen mit einem romantischen Rückfall? Oder bloß mit politischem Opportunismus? Das ist die erste Frage, der hier nachgegangen werden soll. Ein kurzer geschichtlicher Rekurs ist dabei unvermeidlich. Die sozialen Grundformen des Widerstandes sind Ungehorsam und Gewalt, sein bestimmendes Merkmal ist die Auflehnung gegen das geltende Recht. Charakteristikum des Widerstandsrechts ist infolgedessen die Entpflichtung vom Rechtsgehorsam, also die Befreiung vom Zwang, die für alle verbindlichen Normen des Rechts zu befol2 Sein Wortlaut ist: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Hilfe nicht möglich ist". 3 Durch das 17. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 24.6.1968 (BGBl. I, 709).

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gen. Es handelt sich um Entstrickung, um Entfesselung menschlichen Verhaltens von den Fesseln der Rechtsordnung. Bürger Laokoon entwindet sich gewissermaßen der ihn umschlingenden Paragraphen. Der Urzustand kehrt zurück, gegen die im Staat verfaßte Gewalt darf private Gegengewalt aufgeboten und geübt werden. Das Anliegen ist uralt. Bis in den absterbenden Feudalismus hin ist in der Geschichte immer wieder ein Recht zum Widerstand gegen ungerechte Herrschaft gefordert und auch beansprucht worden. Dennoch hat Ridder 4 recht, wenn er in Abrede stellt, daß es eine Geschichte des Widerstandsrechts gibt, die die mehr oder weniger systematische Entwicklung „des" Widerstandsrechts zu einem Institut der politischen und rechtlichen Ordnung erkennen ließe. Rekapitulieren wir: Das germanische Widerstandsrecht, wie es die Edda und der Sachsenspiegel überliefern, beruhte auf der Idee eines übernatürlichen Rechts, das der Verfügung durch irdische Gewalten entzogen war. Einem undifferenzierten Rechtsgefühl entstammend, lieferte es Maßstäbe für eine Kritik des jeweils geltenden Rechts aus der Vorstellung eines goldenen Zeitalters, in dem es gutes und vor allem altes Recht gegeben hatte. Es war eine rückdatierte Utopie. 5 Im Christentum stand das Widerstandsrecht in der Spannung zwischen Rom. 13, l 6 und der Clausula Petri Apg 5, 29. 7 Dem leidenden Gehorsam des Märtyrers gegenüber dem heidnischen Herrscher wurde in der mittelalterlichen Tyrannislehre der zulässige Widerstand gegen den christlichen Herrscher gegenübergestellt, der sich gegen die Kirche auflehnt oder gegen göttliches oder natürliches Recht verstößt. Von den Reformatoren lehnt Luther das Recht zum Widerstand weitgehend ab, während Calvin zwar den Untertanen das Recht zum Widerstand abspricht, aber für die populäres magistratus eine aus dem Amt folgende Widerstandspflicht konstruiert. Während der Religionskriege sind es die Monarchomachen 8 , die das ständische Wider4 Kommentar zum Grundgesetz, Reihe Alternativkommentare, Art. 2 0 Abs. 4, Rdn. 1. 5 So zu Recht F. BAUER, Widerstandsrecht und Widerstandspflicht, in: A. Kaufmann (Hrsg.), Widerstandsrecht, 1 9 7 2 , S. 4 8 2 ff, 4 8 4 . 6 .Jedermann sei den vorgesetzten Obrigkeiten Untertan; denn es gibt keine Obrigkeit außer von Gott, die bestehenden aber sind von Gott eingesetzt". 7 „ M a n muß Gott mehr gehorchen als den Menschen". 8 Es handelt sich um eine Gruppe von Pamphletisten aus dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts, die teils für die protestantische (F. Hotmann, Th. Beza, G. Buchanan, Stefan Junius Brutus), teils für die katholische Seite (M. Salomonius, J. Boucher, G. Rossaeus) eintraten.

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standsrecht herausbilden, als ein geregeltes, strikt bewahrendes Recht der ständischen Amtsträger (am deutlichsten ausgeformt im ius resistendi et exauctorationis des Althusius).9 Ständisch-elitäre Demokratien wie die englische, später auch und vor allem die amerikanischen Verfassungen bieten dem Widerstandsrecht politische Heimstatt. Denker wie Milton und Locke identifizierten die durch das Widerstandsrecht geschützten Werte mit den Menschenrechten (wobei daran erinnert sei, daß Schillers berühmte RütliSzene Formulierungen von Locke 10 nahezu wörtlich übernimmt), die Virginia Bill of Rights rechnete das Recht, eine Regierung, die ihren Pflichten nicht nachkommt, abzusetzen, zu den natürlichen, vor- und überstaatlichen Menschenrechten. Zwiespältig ist jedoch die Haltung der französischen republikanischen Verfassung von 1793. Einerseits wird das Recht zur permanenten Revolution proklamiert, indem es heißt 11 : „Wenn die Regierung die Rechte des Volkes verletzt, so ist die Erhebung des Volkes und jedes einzelnen Teiles desselben das heiligste seiner Rechte und die höchste seiner Pflichten". Andererseits bestimmt nun das souverän gewordene Volk qua Gesetz, was Recht ist. Erlaubte Artikel 11 der Verfassung noch, die gewaltsame Ausführung ungesetzlicher Maßnahmen mit Gewalt zurückzuweisen, so führt der Ausbau des Rechtsstaates dazu, daß für die Ausübung des Widerstandsrechts kein Raum mehr ist, besser: es wird aufgespalten, legalisiert und in Beschwerde- und Gerichtsverfahren institutionalisiert. Garantie der Grundrechte, Gewaltenteilung, Bindung der öffentlichen Gewalt an die Verfassung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Mißtrauensvotum des Parlaments, Ministeranklage und ein ausgebautes Rechtsschutzsystem sind die Stichworte einer Entwicklung, die das Widerstandsrecht zunächst domestiziert und dann überflüssig macht. Mit der politischen Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft erlischt also das Widerstandsrecht. Was Kant 12 bei ihrer Her' Dazu P.J.WINTERS, Die Politik des Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen, 1 9 6 3 ; s . a . den Artikel von P.J.WINTERS über das Widerstandsrecht in dem von A.Görlitz herausgegebenen Handlexikon der Rechtswissenschaft, 1 9 7 2 , S . 5 2 6 , 5 2 7 ff. 1 0 Aus der zweiten Abhandlung über den Staat. Lohn Locke, 1 7 7 6 . 11 Art. 3 5 . 1 2 „Der Grund der Pflicht des Volkes, einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen Mißbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen, liegt darin, daß sein Widerstand wider die höchste Gesetzgebung selbst niemals anders als gesetzwidrig, ja als die ganze gesetzliche Verfassung verwirkend gedacht werden m u ß " , zit. n. der Ausgabe von W. Weischedel: KANT, Die Metaphysik der Sitten, in: Werke in zwölf Bänden, Bd. VIII, 1 9 5 6 , S . 4 4 0 .

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aufkunft schon ausgesprochen hatte, fassen die Spätergeborenen in die Formel, daß im Rechtsstaat Legitimität und Legalität zusammenfallen. Aus dem iure resistendi erwächst das konstitutionelle Staatsrecht. 13 Aus dem subjektiven Widerstandsrecht wird ein objektives Strukturprinzip, aufgefächert in Opposition, Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Rechtsschutz. Außer Frage dürfte stehen, daß es in Deutschland zur Wiederbelebung des Widerstandsrechts nicht gekommen wäre, wenn es den Hitler-Staat nicht gegeben hätte. Angesichts einer entarteten politischen Gewalt, die keine der überkommenen religiösen und sittlichen Bindungen anerkannte, sondern nach den Gesetzen des Darwinismus dachte und handelte, tauchte die Frage des Tyrannenmordes auf, und dabei griff die Opposition gegen Hitler, der es an der machiavellistischen Skrupellosigkeit echter Verschwörer fehlte, auf die Vorstellung über- und vorstaatlicher Rechte zur Rechtfertigung der Tyrannentötung zurück. Bekannt sind die Diskussionen im Kreis des 20. Juli. Auch die Sätze, mit denen Professor Huber im Schlußwort des Prozesses gegen die Geschwister Scholl in München an die sittlichen Grenzen der Staatsgewalt erinnerte 14 , sind in die Geschichte eingegangen. Ich stimme Richard Löwenthal 15 in der Ansicht zu, daß das Phänomen des Widerstandes gegen das NS-Regime die sittliche Grundlage für den Konsens unter den am Aufbau der Bundesrepublik beteiligten politischen Eliten war und daß das Vermächtnis der Widerstandskämpfer den Neuaufbau der Demokratie in der Bundesrepublik wesentlich mitbestimmt hat. Hessen, Berlin und Bremen trugen dem auch äußerlich dadurch Rechnung, daß sie das Widerstandsrecht in ihre Verfassungen aufnahmen. 16 Im Grundgesetz entstammt das Bekenntnis zu vorstaatlichen, überpositiven Werten naturrechtlichen Gedankengängen. Um so bemerkenswerter ist, daß die Verfassungsväter die Inkorporierung des 1 3 Vgl. K. WOLZENDORFF, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, 1 9 1 6 (Neudruck 1 9 6 8 ) . 1 4 Text bei U.CARTARIUS, Deutscher Widerstand 1 9 3 3 - 1 9 4 5 , 1 9 8 4 , S. 2 2 0 ff, 2 2 3 ff. 15 S. seinen einleitenden Aufsatz: Widerstand im totalitären Staat, in: R. Löwenthal/P. zur Mühlen (Hrsg.), Widerstand und Verweigerung in Deutschland 1933-1945, 1982, S . l l , 24. 1 6 Vgl. Art. 1 4 7 der hessischen, Art. 2 3 Abs. 4 der Berliner und Art. 19 der bremischen Verfassung.

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Widerstandsrechts in das Grundgesetz strikt ablehnten. 17 Explizit war dafür vor allem der Ausbau des Rechtsstaates mit der unbedingten Rechtsschutzgarantie des Art. 19 A b s . 4 G G und mit der Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit maßgebend. Während die Befürworter des Widerstandsrechts auf den Kapp-Putsch aus dem Jahre 1920 hinwiesen und vor allem die Beamten für die Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung in Pflicht nehmen wollten, sahen die sich in der Mehrheit befindenden Gegner darin die Gefahr demagogischen Mißbrauchs und der Aufforderung zum Landfriedensbruch (so wörtlich Carlo Schmid 18 , der damals Justizminister von Württemberg-Hohenzollern war). Man tut gut daran, nicht allein auf den Ausbau der Rechtsstaatlichkeit hinzuweisen, wenn man nach den Gründen sucht, weshalb sich die Verfassungsväter strikt weigerten, das Widerstandsrecht zu positivieren. Die Ablehnung des Widerstandsrechts muß auch im Zusammenhang mit der Abneigung des Verfassungskonvents in Herrenchiemsee gegen unmittelbar demokratische Elemente in der Verfassung gesehen werden. Hätte jedermann das Recht oder gar die Pflicht zum Widerstand erhalten, so wäre dadurch die Position des einzelnen Bürgers verstärkt und das Repräsentativsystem geschwächt worden. Zudem spielte der Zweifel an der Effizienz des Widerstandsrechts eine Rolle. Der immer wieder als Beleg herangezogene Generalstreik von 1920, an dem der Kapp-Putsch scheiterte, wurde seinerzeit ausgerufen und praktiziert, obwohl die Verfassung keinen politischen Streik legitimierte. Andererseits hätte auch ein legalisiertes Widerstandsrecht den Untergang der Weimarer Republik nicht aufhalten und Hitler nicht den Weg zur Macht verlegen können. So hatte die Hochkonjunktur naturrechtlichen Denkens es nicht vermocht, das Widerstandsrecht im GG zu etablieren. Es war daher einigermaßen verblüffend, daß es rund 20 Jahre später, nachdem die Naturrechtsrenaissance längst wieder skeptischerer Betrachtungsweise Platz gemacht hatte, doch noch zu dessen Installierung kam. Allerdings ist es nicht richtig, wenn man darin lediglich eine unbedachte Konzession an den Gewerkschaftsflügel der SPD erblickt, mit deren Hilfe die breite parlamentarische Zustimmung zu den Not1 7 S. dazu vor allem CHR. BOCKENFÖRDE, Die Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz, JZ, 1979, S. 168 ff. 18 Vgl. Verhandlungen des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates, 4 4 . Sitzung vom 1 9 . 1 . 1 9 4 8 , Stenographische Berichte S.590, und vorher das Protokoll der 5. Sitzung des Unterausschusses „Grundsatzfragen" des Herrenchiemseer Verfassungskonvents vom 1 9 . 8 . 1 9 4 8 , S. 140.

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standsgesetzen sichergestellt werden sollte. Tatsache ist, daß diese Gruppe 19 , nachdem sie mit der Verankerung des politischen Streikrechts im GG gescheitert war, sich zunächst in der SPD und dann auch, trotz anfänglicher Ablehnung durch den Rechtsausschuß und durch die CDU/CSU-Fraktion, im Parlament durchsetzte. Verhaltensleitend war dabei das Motiv, ein Äquivalent zur unpopulären Notstandsregelung zu schaffen 20 , die in weiten Kreisen nicht als rechtsstaatliche Bändigung der staatlichen Ausnahmegewalt, sondern als deren Entfesselung angesehen wurde. Es sollte sozusagen die Stärkung der Staatsgewalt durch die Notstandsgesetze mit ihrer gleichzeitigen Schwächung durch das Widerstandsrecht kompensiert werden. In der CDU/CSU-Fraktion, die in dem Abgeordneten Even einen entschiedenen Befürworter der Inkorporierung des Widerstandsrechts in ihren Reihen hatte, wuchs das Interesse, als 1967/68 der Studentenprotest zu Gewalttaten eskalierte. 21 Man glaubte im Widerstandsrecht ein Instrument gegen die Infragestellung der Staatsmacht durch Unruhestifter gefunden zu haben, das in merkwürdigem Gegensatz zu den Erwartungen stand, die gerade die Protestbewegungen in das Widerstandsrecht des Art. 2 0 A b s . 4 G G setzten. Eine bemerkenswerte Rolle im Argumentationshaushalt der Befürworter spielte schließlich die Vorstellung, daß die Kodifizierung des Widerstandsrechts im Grundgesetz einen wertvollen Beitrag für die staatsbürgerliche Erziehung und Bildung leisten könne, indem sie dem Staatsbürger seine unmittelbare Verantwortlichkeit für den Bestand der freiheitlichen Grundordnung vor Augen führe. Je mehr die juristische Ergiebigkeit des Widerstandsrechts angezweifelt wurde, um so häufiger versteifte sich die Argumentation auf diesen erhofften volkserzieherischen Nutzen. 22 Und bedurften die Deutschen — obrigkeitsfromm, wie 19 Es handelt sich um die Abgeordneten Gscheidle, Kaffka, Matthöfer und Lenders. 2 0 Den Gewerkschaftsabgeordneten ging es vor allem um die Gewährleistung von politischen Streiks zur Rettung des demokratischen Systems nach dem Vorbild des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch. 2 1 S. dazu C. BOCKENFÖRDE, S. Anm. 17, S. 170 ff. 2 2 Neben dem Abg. Even hat insbesondere außerhalb des Parlaments auch der hessische Generalstaatsanwalt F.Bauer die erzieherische Bedeutung des Widerstandsrechts betont, vgl. F.BAUER, S. A n m . 5 , S . 4 7 6 f f . Dort heißt es ( S . 4 9 8 ) : „Normales Instrument des Widerstandes sind eine unerschrockene öffentliche Meinung, politische, soziale und kulturelle Kritik und eine wache O p p o s i t i o n . . . Die wichtigste Aufgabe ist zunächst einmal, Existenzberechtigung und Existenzverpflichtung von Kritik und Opposition einzuhämmern. Dies ist in einem Lande notwendig, in dem paradoxerweise ganz im Widerspruch zu der historischen

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sie erzogen waren —, denn nicht der Ermutigung zum Nonkonformismus, der Ermunterung zur Zivilcourage? In der Tat machte damals vielen jenes Phänomen Sorge, das man sozialen Defaitismus nennt 23 , das mangelnde Interesse für die Behauptung und Verteidigung staatsbürgerlicher Rechte, die Bereitschaft, innere und äußere Unfreiheit auf sich zu nehmen und sich den Mächtigen auszuliefern. Das war keineswegs falsch gesehen. Die gesamtgesellschaftlichen Trends liefen und laufen darauf hinaus, die individuellen Verantwortungsbereiche zu vermindern und die Menschen mehr und mehr in ein Netz von Abhängigkeiten zu verstricken. Mit dem Schwinden der Verantwortungsbereiche mindert sich aber, so wurde gefolgert, auch die Bereitschaft, sich gegen Übergriffe der politischen und sozialen Machtzusammenballungen zur Wehr zu setzen. War es da nicht sinnvoll, Gegengewichte zu schaffen, und sei es nur symbolisch durch die Einfügung des Widerstandsrechts in die Verfassung? Müßte man nicht alles tun, um jedem den Rücken zu stärken, der sich in der Tretmühle des Alltags gegen Übergriffe der Behörden zur Wehr setzt und um jeden Quadratmeter persönlicher Freiheit und privaten Eigenlebens streitet? Die Furcht, mit solchen Aufforderungen über das Ziel hinauszuschießen, bedrückte damals nur wenige. Notwendig erschien es, den Menschen jener Jahre, deren Ruhebedürfnis und Hang zur Einordnung als sprichwörtlich galten, eine heilsame Unruhe zu verordnen, um aus Untertanen demokratische Bürger zu machen.

II. So waren es denn — dieses Resümee dürfte unausweichlich sein — vielfältige und nicht zu Ende gedachte Gründe, denen das Widerstandsrecht seine Positivierung in Art. 2 0 Abs. 4 GG verdankt. Wen-

Realität „Zwietracht" als Erbübel betrachtet wird, während einträchtiger Konformismus und Verzicht auf individuelles Engagement einer tiefverwurzelten Erziehung entspricht". Zur Persönlichkeit Bauers s. meinen biographischen Beitrag bei P. GLOTZ/W. R. LANGENBUCHER (Hrsg.), Vorbilder für Deutsche, 1974, S. 2 9 6 ff; zu seiner Rolle in der Diskussion um den 2 0 . Juli die Abhandlung: Der 20. Juli 1 9 4 4 aus der Sicht des Braunschweiger Remerprozesses, in: R. WASSERMANN, Recht, Gewalt, Widerstand, 1985, S.36ff. 2 3 S. dazu etwa O. STAMMER, Soziologie und Demokratieforschung, 1965, S . 2 8 1 ff; zum Nonkonformismus aus juristischer Sicht: W.GEIGER, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus, 1963, S. 118 ff.

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den wir uns dem rechtlichen Gehalt 24 dieses Grundrechts zu, so verringert sich die Skepsis nicht; sie nimmt eher noch zu: Das in das GG inkorporierte Widerstandsrecht wirft zwar eine Fülle interpretatorischer Probleme auf, ist aber rechtlich wenig ergiebig. Das wird einsichtig, sowohl wenn man das Ziel des Widerstandsrechts als auch wenn man dessen Voraussetzungen betrachtet. Es war nichts anderes als „politischer Illusionismus" (Ridder), wenn die politische Protestbewegung der 60er Jahre das Widerstandsrecht als Vehikel für Veränderung in Anspruch nehmen wollte. Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes dient der Erhaltung des status quo. Sein Ziel ist der Schutz der bestehenden Staatsform, es ist also Instrument des Verfassungsschutzes. Zur Besserung des Rechts, zur Durchsetzung eines anderen politischen Konzepts kann es nicht eingesetzt werden, und dies auch dann nicht, wenn es um die Erfüllung von Staatszielbestimmungen wie etwa der Rechts- und/oder der Sozialstaatlichkeit geht. Die Revolution kann sich selbstverständlich naturrechtlich begründen. Das Widerstandsrecht als Legitimationslieferanten zu benutzen, ist jedoch ein untauglicher Versuch. Die Staatsrechtslehre 25 hat recht, wenn sie von dem konservierenden und defensiven Charakter des Widerstandsrechts spricht, und das Bundesverfassungsgericht26 verdient Zustimmung, wenn es das Widerstandsrecht als Notrecht zur Bewahrung und Wiederherstellung der Rechtsordnung bezeichnet. Widerstand ist Reaktion — von „Konterrevolution" spricht Isensee 27 — und keine Revolution. Auch das nähere Befassen mit den Voraussetzungen des Widerstandsrechts in Art. 2 0 Abs. 4 GG, also mit der Widerstandslage oder dem Widerstandsfall, fördert Bedenkliches zutage. Noch auf gesichertem Boden bewegt man sich, wenn man das Schutzgut des Widerstandsrechts als deckungsgleich mit dem Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Art. 18 S. 1, 2 1 Abs. 2 S. 1, 91 Abs. 1 GG versteht 28 und die Grundlagen des Staates, insbesondere 2 4 Dazu insbes. J. ISENSEE, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1 9 6 9 , S. 13 ff; H. SCHOLLER, Widerstand und Verfassung, Der Staat, 1 9 6 9 , S. 19 ff; K.DOEHRING, Das Widerstandsrecht des Grundgesetzes und das überpositive Recht, Der Staat, 1 9 6 9 , S . 4 2 9 f f ; G.SCHEIDLE, Das Widerstandsrecht, 1 9 6 9 ; H.SCHNEIDER, Widerstand im Rechtsstaat, 1 9 6 9 ; sowie H. RIDDER, S. Anm. 4, Rdn. 8 ff. 2 5 Vgl. J. ISENSEE, S. Anm. 2 4 , S. 5 3 ff. 2 6 BVerfGE 5, S. 8 5 ( 3 7 7 ) . 2 7 J. ISENSEE, S. Anm. 2 4 , S . 5 3 . 2 8 Das Widerstandsrecht ist nur zulässig gegen die Beseitigung der Bestandteile der Verfassung, die in Art. 2 0 Abs. 1 - 3 GG bezeichnet sind, die die freiheitlich-

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sein Territorium und seine völkerrechtliche Unabhängigkeit, dazurechnet. Auslösende Bedingung des Widerstandsrechts ist nicht schon die Verfassungswidrigkeit, sondern erst die Tendenz, die Verfassungsordnung zu beseitigen. Erforderlich ist mithin ein Angriff auf die Verfassung selbst, denn nur dadurch wird das Merkmal des Beseitigens erfüllt. Wird im Einzelfall die Verfassung verletzt, aber nicht die Geltung des GG an sich in Frage gestellt, so greift das Widerstandsrecht nicht ein. Angriffsobjekt braucht aber nicht die Verfassung in toto zu sein; es genügt, wenn eines ihrer Wesensmerkmale — etwa das parlamentarische Prinzip oder die Gewaltenteilung - verworfen wird. Irrelevant sind rein geistige Angriffe auf die Verfassung. Die Auseinandersetzung mit Meinungen ist nicht Sache des Widerstandsrechts; sie fällt vielmehr in den Bereich des Art. 5 GG. Zudem muß eine konkrete Gefahr 29 bestehen. Erst wenn verfassungsfeindliche Aktionen in manifester Weise nach außen treten und konkret bevorstehen, kann das Widerstandsrecht eingreifen. Eine weitere bedeutsame Erschwerung liegt in dem Evidenzerfordernis. 30 Tritt die Verfassungswidrigkeit nicht offen zutage, sondern ist sie umstritten, etwa wegen der Unklarheit der Rechtslage, so kommt das Widerstandsrecht nicht zum Zuge. Auf die Stärke der subjektiven Überzeugung kommt es nicht an. Die Verfassungswidrigkeit muß sich jedem Verständigen aufdrängen. Damit aber fällt ein großer Bereich von verfassungswidrig angesehenen Handlungen aus dem Anwendungsbereich des Widerstandsrechts heraus, Nachrüstung und Raketenstationierung eingeschlossen. Gleich bleibt, ob der Angriff aus dem Staatsapparat selbst — als Staatsstreich von oben — oder aber von unten — durch Mobilisierung von Bürgern — unternommen wird. Idealtypisch ist auf der einen Seite an die Beseitigung von Verfassungsinstitutionen, auf der anderen an die Unterdrückung der Grundrechte zu denken. Die Nichterfüllung von Staatszielbestimmungen reicht dagegen grundsätzlich nicht aus; allenfalls dann, wenn Verfassungsaufträge vorsätzlich mißachtet werden, kann etwas anderes gelten. demokratische Grundordnung konstituieren und durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 7 9 Abs. 3 GG jeder Verfassungsordnung entzogen sind. S. a. MAUNZ/DÜRIG/ H E R Z O G / S C H O L Z , A r t . 2 0 A b s . 4 , R d n . 2 1 1 ff; K . HESSE, V e r f a s s u n g s r e c h t ,

198414,

S.282. 29

V g l . J . ISENSEE, S. A n m . 2 4 , S. 2 2 .

30

Vgl. BVerfGE 5, S. 85 f: „Widerstandsrecht gegen ein evidentes Unrechtsre-

g i m e " . S. a . J . ISENSEE, S. A n m . 2 4 , S. 2 3 ff.

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Daß auch der Staatsstreich aus der Gesellschaft heraus das Widerstandsrecht auslöst, ist eine Erweiterung des Instituts gegenüber den Vorstellungen nach 1949, die auf das NS-System rekurrierten, wo es die Staatsapparatur war, die das Unrecht beging. Das Widerstandsrecht des Art. 2 0 A b s . 4 G G legitimiert nun die verfassungstreuen Bürger, die Verfassung nicht nur gegen den sie mißachtenden Staat, sondern auch gegen solche Bürger zu verteidigen, die sie beseitigen wollen. Diese Situation gab es 1932/33. Der Blick auf diese Zeit läßt freilich auch keinen Zweifel daran, daß das Widerstandsrecht damit auch den Bürgerkrieg ins Auge faßt, bei dem eine verfassungstreue Minderheit einer Mehrheit gegenübersteht, die der Verfassung oder einzelner ihrer Institutionen überdrüssig ist. Das Trauma Weimar, das schon die Verfassungsväter von 1949 beherrscht hatte, äußert sich also auch 1968 noch in optimistischem Legalismus. In der politischen Realität kann man natürlich die Frage, ob eine Demokratie auch dann am Leben erhalten werden kann, wenn ihre Bürger sie nicht mehr haben wollen, nicht dadurch als gelöst betrachten, daß man ein Widerstandsrecht in die Verfassung hineinschreibt. Damit nähern wir uns einem weiteren heiklen Punkt. Die Widerstandslage tritt nur ein, wenn „andere Abhilfe" gegen verfassungsfeindliche Unternehmen nicht möglich ist. Diese Subsidiaritätsklausel 31 macht das Widerstandsrecht zur ultima ratio; nur im äußersten Fall darf das Recht mit illegalen Mitteln verteidigt und gerettet werden. Solange dagegen der Staat über ein Rechtsschutzsystem verfügt (auch wenn dieses teuer und langsam und deshalb wenig effektiv ist), solange die Gesetzgebungsorgane tätig sind (mögen sich in ihnen auch die Parteien blockieren), solange der Staatsapparat fähig ist, Angriffe abzuwehren (und sei es auch nur unter Ausnutzung der Vollmachten für den Notstand), fehlt es an der Voraussetzung für die Ausübung des Widerstandsrechts. Im Klartext bedeutet das, daß das Recht zum Widerstand überhaupt nur in einer Situation ausgeübt werden darf, in der die Gerichte und die anderen staatlichen Konfliktverarbeitungsinstanzen überhaupt nicht oder nicht mehr mit Aussicht auf „befolgungssichere Bescheidung" 32 angerufen werden können. Dies aber ist eine Situation, die als Bürgerkrieg oder als bürgerkriegsähnlich zu bezeichnen ist. Man kann nicht daran vorbeikommen, daß hier ein Widerspruch 3 1 Dazu eingehend J. ISENSEE, S. Anm. 24, S. 32 ff; zum ultima-ratio-Charakter s. a. BVerfGE 5, S. 85 ff. 32

V g l . e t w a J . ISENSEE, s. A n m . 2 4 , S . 3 6 , F n . 7 3 .

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erkennbar wird. Die Subsidiaritätsklausel erlaubt Widerstand erst dann, wenn die zu verteidigende Ordnung paralysiert, ausdrücklich oder im Wege der Umfunktionierung beseitigt ist. Daraus, daß sich der Widerstand nach dem Wortlaut der Norm gegen jeden richtet, der es „unternimmt", die Ordnung zu beseitigen, ergibt sich andererseits, daß sich das Widerstandsrecht nur in der der Beseitigung vorausgehenden Phase aktualisieren kann. Ist aber eine Ordnung beseitigt, kann es nicht mehr um die Verhinderung ihrer Beseitigung gehen. In der vorausgehenden Phase liegen aber die Voraussetzungen für das Eingreifen des Widerstandsrechts noch nicht vor, weil noch Abhilfe durch Konfliktverarbeitungsinstanzen möglich ist. Dieser Widerspruch33 deutet auf mehr als auf eine sprachliche oder begriffliche Fehlleistung des Verfassungsgesetzgebers hin. Es wird offenbar, daß mit der Etablierung des Widerstandsrechts das im Rechtsstaat Unmögliche versucht wurde. Man kann nicht in einem Atemzug die Gewalt durch positives Recht zähmen und dann wiederum die Gewalt durch positives Recht entfesseln. Steht Recht gegen Recht, so löst sich der Rechtsbegriff auf. Zwei verschiedene Auffassungen über den identischen Sachverhalt können innerhalb derselben Rechtsordnung nicht gleichermaßen Recht sein. Die Folgerung ist unausweichlich: Eine Rechtsordnung, die sich als friedliche Konfliktregelung begreift, würde sich selbst aufheben, wenn sie ihren Bürgern erlaubte, sie unter Berufung auf ein Recht außerhalb ihrer eigenen Normierung — und nichts anderes ist das überpositive Recht — zu bekämpfen.

III. Dieses Ergebnis führt weder zum politischen Kirchhofsfrieden noch zwingt es zu Duckmäusertum oder Resignation. Konflikte sind notwendig, und ich habe nach wie vor Vorbehalte gegen etatistische Befriedungsstrategien, auch wenn ich mich damit in Widerspruch zu dem in der Gesellschaft verbreiteten Bedürfnis nach Harmonie setze. Noch immer ist richtig, was Ralf Dahrendorf darüber in den 60er Jahren schrieb 34 : „Wer den Konflikt als eine Krankheit betrachtet, mißversteht die 33

V g l . H . R I D D E R , S. A n m . 4 , R d n . 9 ; K . H E S S E , S. A n m . 2 8 , S . 2 8 4 ( R d n . 7 6 0 ) ;

K . D O E H R I N G , S. A n m . 2 4 . 34

R. DAHRENDORF, Gesellschaft und Freiheit, 1961, S. 197 f.

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Eigenart geschichtlicher Gesellschaften zutiefst; wer ihn in erster Linie ,den anderen' zuschreibt und damit andeutet, daß er konfliktlose Gesellschaften für möglich hält, liefert die Wirklichkeit und ihre Analyse utopischen Träumerein aus. Jede ,gesunde', selbstgewisse und dynamische Gesellschaft kennt und anerkennt Konflikte in ihrer Struktur; denn deren Leugnung hat ebenso schwerwiegende Folgen für die Gesellschaft wie die Verdrängung seelischer Konflikte für den Einzelnen: Nicht wer vom Konflikt spricht, sondern wer ihn zu verschweigen sucht, ist in Gefahr, durch ihn seine Sicherheit zu verlieren." Mit der Bejahung des Konflikts als einer Grundtatsache des gesellschaftlichen Lebens ist freilich noch nichts darüber gesagt, wie Konflikte auszutragen sind. Während Diktaturen dahin tendieren, Konflikte zu unterdrücken, ist dieser Weg demokratisch-liberalen Systemen verschlossen, weil er mit den Wertvorstellungen, an denen diese sich orientieren, nicht vereinbar ist. Der in ihnen vorherrschende Glaube, wonach Widersprüche und Gegensätze, die mit Gewalt niedergehalten werden, nicht etwa verschwinden, sondern an potentieller Virulenz zunehmen, bis sie sich eines Tages gewaltsam entladen, ist zudem geschichtlich wie sozialwissenschaftlich untermauert. Zweifel sind auch gegenüber der Meinung anzumelden, man könne Konflikte „lösen", d.h. ein für allemal aus der Welt schaffen. 35 Endgültige Lösungen in politischen Fragen sind gleichsam von der Natur der Sache her unmöglich. Wo sie versucht werden, verfällt man in Utopien und läuft alsbald Gefahr, bei der Unterdrückung jener zu enden, die die ihnen aufoktroyierte „Lösung" nicht anerkennen. Einem freiheitlichen System angemessen ist nicht die Unterdrükkung, sondern die Regelung von Konflikten. Die Regelung bringt Konflikte nicht zum Verschwinden; sie hegt und kanalisiert sie jedoch. Von ihrer Intensität wird den Konflikten durch die Regelung nichts genommen. Sie verlieren jedoch ihren gewaltsamen Charakter und werden in dem Maße, in dem es gelingt, sie zu regeln, kontrollierbar. Ihre schöpferische Kraft wird in den Dienst einer allmählichen Entwicklung gestellt. Diese Erkenntnis gilt für alle Arten von Auseinandersetzungen, für soziale wie für politische. Gerade der politische Streit bedarf der Regeln, die das Erlaubte vom Unerlaubten abgrenzen. Bei diesem war Gewaltsamkeit früher an der Tagesordnung. Im Rechtsstaat — dem bundesrepublikanischen zumal - ist jedoch vorgeschrieben, daß sich 35

Dazu und zum folgenden R. DAHRENDORF, S. Anm. 34, S. 2 2 6 ff.

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die politische Auseinandersetzung nicht durch Brachialgewalt, sondern im Wege des Meinungskampfes vollziehen soll, wofür die Grundrechte der Meinungs-, Versammlungs- und — aus ihnen abgeleitet — auch der Demonstrationsfreiheit die rechtlichen Voraussetzungen schaffen. Wahlen, Abstimmungen und das Engagement als Parteioder Verbandsbürger ermöglichen Partizipation. Daß hier noch vieles zu tun ist, um die realen Möglichkeiten der Beteiligung zu verbessern, habe ich oft betont. Auch bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht verhehlen, welche Frustrationen die Entwicklung zu einem selbstzufriedenen Parteienstaat, der sich als Oligarchie einer zynisch-politischen Klasse darstellt, bei Bürgern hervorrufen muß, die die Postulate der Demokratie ernst nehmen und meinen, daß es gerade in der Bundesrepublik Politikern gut ansteht, mehr für die Politik als von der Politik zu leben. Die häufig ungenügenden Chancen für Minderheiten und einzelne Bürger für die politische Artikulation und Beteiligung an der Bildung und Formung des politischen Willens bedürfen dringend der Verbesserung. Es genügt nicht, daß Minderheiten die Chance der Artikulation nur auf dem Papier, nicht aber in der Realität gegeben ist. Ich habe darauf wiederholt an anderer Stelle hingewiesen. 36 Wenn der aufbegehrende Bürger das für alle verbindliche Recht verletzt, so kann ihm jedoch das Risiko, mit dem er handelt, von der Rechtsordnung nicht abgenommen werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob er als Partisan den Staatsapparat angreift und unterminiert, weil er ihn als Abtrünnigen sieht, der sich von den Menschenrechten abwendet, oder ob er, nach einem bekannten Wort, sozusagen als Freikorps des Verfassungsschutzes, den Staat gegen Widerstandskämpfer verteidigt. Der einzelne Bürger oder Gruppen von Bürgern mögen davon überzeugt sein, daß Staatsorgane diejenigen Werte mißachten, die ihnen als besonders bedeutsam, ja lebenswichtig erscheinen. Diese Uberzeugung kann so stark werden, daß sie zur Gewissensverpflichtung wird und den Betroffenen zum Handeln gegen das Gesetz zwingt, so wie Antigone gegen Kreons Gebot handelte, als sie den Bruder bestattete. Antigone wäre jedoch durch Art. 2 0 Abs. 4 G G nicht anerkannt worden. 3 7 Der uralte Konflikt von Recht und Ethik läßt sich auch im Rechtsstaat des Bonner Grundgesetzes 36 S. dazu R.WASSERMANN, Von der parlamentarischen zur Demonstrationsund Widerstandsdemokratie? ZfP, 1984, S. 1 ff, 8 ff; DERS., Ist die parlamentarische Parteiendemokratie überholt?, in: G. E. Hoffmann (Hrsg.), Schaffen wir das Jahr 2000?, 1984, S. 149 ff. 37

Insofern verfehlt: W.LEWALD, NJW 1968, S. 1616.

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nicht so auflösen, daß ethische Erwägungen die Rechtsordnung außer Kraft setzen können. Der Rechtsstaat mag mit seinen Rebellen pfleglicher umgehen als andere Staaten und damit nicht zuletzt sich und anderen seine Kultiviertheit beweisen. Lorbeerkranz und Heldendenkmal fallen dem Rebellen jedoch nach wie vor erst zu, wenn die Ordnung, gegen die er aufbegehrt und die er bekämpft hat, nicht mehr existiert.38 Muß so der Ertrag der Einfügung des Widerstandsrechts in das GG als rechtlich irrelevant angesehen werden, so ist auf der anderen Seite nicht zu übersehen, daß die erzieherische Saat, die die Schöpfer des Verfassungsartikels aussäten, aufgegangen ist, wenngleich vielleicht in anderer Weise, als es sich diese vorgestellt haben. Jedenfalls ist unübersehbar, daß der kritische — auch systemkritische — Geist in der Gesellschaft beträchtlich zugenommen hat. Mehr noch: Eine Protestbewegung löst die andere ab, und die Forderung, Rechtsverletzungen unter dem Markenzeichen des zivilen Ungehorsams wenn nicht als legal39, so doch als legitim anzuerkennen, findet Widerhall. Um so mehr erscheint es notwendig, hier ein kräftiges Fragezeichen zu setzen. Da die Voraussetzungen des Art. 2 0 Abs. 4 GG nach dem Vorstehenden zweifelsfrei nicht vorliegen, kommt nur eine Rechtferti-

3 8 Z u der sich seit 1 9 8 3 in der Bundesrepublik lebhaft entwickelnden Diskussion über den zivilen Ungehorsam s. neben meinem Beitrag: Gibt es ein Recht auf zivilen Ungehorsam? Gewaltfreier Widerstand und Rechtsordnung, ZfP 1 9 8 3 , S . 3 4 3 f f , S . 3 6 3 f f , insbesondere R.DREIER, Rechtsgehorsam und Widerstandsrecht, FS für R.Wassermann, 1 9 8 5 , S . 2 9 9 f f , und vorher: Widerstandsrecht im Rechtsstaat? FS für Scupin, 1 9 8 3 , S. 5 7 4 f f , der J.RAWLS, A Theory of Justice, 1 9 7 1 , dt. Taschenbuchausgabe: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1 9 7 9 , S. 4 0 1 ff, verarbeitet; sowie P. GLOTZ (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1 9 8 3 (mit Beiträgen u. a. von J . Habermas, R . Dreier, H . Schüler-Springorum, H . Simon, W . H u b e r ) ; C.ARNDT/H.JUROS/W.A.KEWENIG/I.V.MÜNCH, Widerstand in der Demokratie, 1 9 8 3 ; R.SCHOLZ, Rechtsfrieden im Rechtsstaat, N J W , 1 9 8 3 , S. 7 0 5 ff; M . KRIELE, Die Rechtfertigungsmodelle des Widerstands; T. RENDTORFF, Widerstand heute?, beide: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 3 9 , 1 9 8 3 , S. 1 2 ff, 2 5 ; U. KAUPEN, „Ziviler Ungehorsam" im demokratischen Rechtsstaat, G . FRANKENBERG, Ziviler Ungehorsam und Rechtsstaatliche Demokratie, beide: J Z , 1 9 8 4 , S. 2 4 9 ff, 2 6 6 ff. Gründliche Behandlung der Problematik findet sich bei U. K. PREUSS, Politische Verantwortung und Bürgerloyalität. Von den Grenzen der Verfassung und des Gehorsams in der Demokratie, 1 9 8 4 . 3 9 Eine klar die Legalität des zivilen Ungehorsams verneinende Position bezieht auch: W. HASSEMER, Ziviler Ungehorsam - ein Rechtfertigungsgrund? FS für Wassermann, 1 9 8 5 , S. 3 2 5 ff.

Zum Recht auf Widerstand nach dem Grundgesetz

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gung als Grundrechtsausübung 40 in Betracht. Auch für diese fehlen indessen tatbestandliche Erfordernisse, soweit der Bereich der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit verlassen wird. Insbesondere steht für die Gewaltausübung, zu der es bei den direkten Aktionen — möglicherweise gegen den Willen der Demonstrationsführung — regelmäßig zu kommen pflegt, die juristische Rechtfertigung aus. Unter keineswegs unzweifelhafter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips41 ist es schon viel und unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten höchst bedenklich, wenn der Polizei und der Justiz nahegelegt wird, sie möchten ihre Pflicht zur Durchsetzung des für alle geltenden Rechts bei politisch motivierten Rechtsverletzungen zurückstellen und gegen Widerständler nicht mit der sonst üblichen und in anderen Staaten auch gebräuchlichen Schärfe und Härte vorgehen. Wenn darüber hinaus verlangt wird, daß der Rechtsstaat Rechtsverletzungen vorsätzlich duldet, ist dies abwegig, weil der Rechtsstaat auf der grundsätzlichen Unverbrüchlichkeit seiner Normen beruht. Wer in der Praktizierung und Duldung von Rechtsverletzungen als legitimer Mittel der politischen Auseinandersetzung einen Fortschritt der politischen Kultur 42 sieht, verkennt, daß gerade die rechtliche Kanalisierung und Institutionalisierung der Gewalt progressiv ist, während deren Preisgabe den so erreichten Fortschritt aufhebt und regressiv ist, nämlich ein Rückfall in einen geschichtlich überwundenen Zustand. Der Rechtsstaat bändigt das natürliche Recht des Stärkeren und damit auch die Willkür der Machtanwendung durch Gewaltenteilung, Minderheitenschutz und wechselseitige Machtkontrolle. Dadurch erst schafft er, wie Karl-Dieter Bracher 43 richtig sagt, den Raum für Freiheit und das Agieren von Minderheiten, mit dem 4 0 Vgl. dazu insbes. G.SCHEIDLE, S. Anm.24, S.92ff; R.DREIER, S. Anm.38, S . 5 7 4 f f , 5 9 3 und DERS. bei P.Glotz (Hrsg.), s. Anm.38, S.60ff. 41 S. dazu jetzt M. CH. JAKOBS, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, DVB1., 1985, S. 9 7 ff. 4 2 So namentlich J.HABERMAS bei P.Glotz (Hrsg.), s. Anm.38, S . 2 9 f f ; u. in demselben Band auch: J.LEINEN, Ziviler Ungehorsam als fortgeschrittene Form der Demonstration, S. 23 ff. Unter den frühen Vorkämpfern des zivilen Ungehorsams in der Bundesrepublik ist vor allem O. K. FLECHTHEIM, Eine Welt oder keine? 1964, S. 64 ff zu nennen, der im Anschluß an Gandhis Lehre der Satyagrahi die ethische Verantwortung der Ungehorsam Leistenden hervorhebt. S. ferner TH. EBERT, Gewaltfreier Aufstand - Alternative zum Bürgerkrieg, 1970; DERS., Soziale Verteidigung, Bd. 1: Historische Erfahrungen und Grundzüge der Strategie, Bd. 2: Formen und Bedingungen des zivilen Widerstandes, beide 1981. 4 3 K.D. BRACHER, Geschichte und Gewalt, 1981, S.27.

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Ziel Mehrheit zu werden. Wer selektiven Rechtsgehorsam in Gestalt des sog. zivilen Ungehorsams übt, setzt daher gerade das System aufs Spiel, dem er es verdankt, daß er nicht zum Schweigen verurteilt ist. Im Verlauf der Geschichte sind bisher Perioden der Liberalität nur halkyonische Augenblicke gewesen. Der Wunsch, diesen Dauer zu verleihen, soweit dies nur möglich ist, sollte uns Verfassung und Recht hochschätzen und dafür sorgen lassen, daß das Rechtssystem funktionsfähig bleibt. Dazu bedarf es einer tatkräftigen Politik, die das geltende Recht den gesellschaftlichen Veränderungen anpaßt. Insofern gehört die Rechtsreform zu den Essentialien der Demokratie 44 : sie ist es, die das Auseinanderfallen von Legalität und Legitimität verhindert oder die, wenn sie sich getrennt haben, für die Wiederannäherung sorgt, Gewalt — tätiger Widerstand wie ziviler Ungehorsam - leisten dagegen letzten Endes nur Schützenhilfe für Entwicklungen, die den Zustand der Liberalität wieder zu einem vorübergehenden Moment in einer von Gewalt beherrschten Geschichte machen.

4 4 Zur Rechtsreform als Bestandteil der Demokratie s. a. den Beitrag des großen österreichischen Rechtsreformers C. BRODA, Rechtskontinuität und Rechtsreform, Recht und Politik, 1984, S. 1, 4.

Zum Verhältnis von Emanzipation und Gewalt in den außerparlamentarischen Oppositionen der Bundesrepublik WERNER SÜSS

I. Anmerkungen zum Umgang mit außerparlamentarischen Oppositionen 1. Die Thematisierung der Gewaltfrage gehört zum Kernbestand der verfassungspolitischen sowie staatsrechtlichen Kontroverse um die außerparlamentarischen Oppositionen der Bundesrepublik. 1 Gleichwohl ist die hier vorgeschlagene Begrifflichkeit dem gängigen Bearbeitungsrepertoire verfassungspolitischer Grundfragen fremd. Und dies mit einem gewissen Recht, denn während der Normenhaushalt der Verfassung weder den Emanzipationsbegriff, noch den der außerparlamentarischen Opposition kennt, hat sich die „Rede über die Gewalt" aus guten Gründen in die Randzone des verfassungspolitischen Sprachhaushalts verdrängen lassen. 2 Es ist eher eine Begrifflichkeit, wie sie sich im Verlauf der Protestbewegungen seit der Studentenrevolte der 60er Jahre ergeben hat. Es war die Studentenbewegung, die öffendich über die Gewalt als Mittel der Politik zu räsonnieren begann, die vor allem von Emanzipation sprach und die sich selbst zur außerparlamentarischen Opposition ernannte. 3 Und es sind Konzepte der 70er und 80er Jahre vom „gewaltfreien Wider-

S. W. Süss, Friedensstiftung durch präventive Staatsgewalt, 1984, S. 10. U.MATZ, Politik und Gewalt, 1975, S. 17ff. 3 Statt vieler: R. DUTSCHKE, Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt, in: Bergmann, Dutschke, Lefevre, Rabehl, Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, 1968. 1

2

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stand" und vom „zivilen Umgehorsam", in denen die Rede des Zusammenhangs von Gewalt und Befreiung modifiziert weiterlebt. 4 Allein der Umstand, daß sich über einen Zeitraum von nunmehr 20 Jahren eine mehr oder weniger in das Bewußtsein der Öffentlichkeit vorgedrungene Opposition erhalten hat, die im vor- und außerparlamentarischen Raum der politischen Willensbildung agiert, um von hier aus eine politische Gegenmacht mit dem Ziel der Gesellschaftsveränderung zu etablieren, gibt Anlaß zu einer eingehenden Beschäftigung mit den, hinter den Terminologien sich verbergenden, Konzeptionen. Die außerparlamentarischen Oppositionen und die von ihr vorgeschlagenen Problemdefinitionen gehören zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, so daß nicht sprachpolitisch über ihren Wirklichkeitsstatus, wohl aber über ihr verfassungspolitisches Gewicht zu streiten ist. Wir haben es zunächst mit einer Empirie des Faktischen und ihrer Rückwirkung auf die Normativität der Ordnung, mit der latenten Spannung zwischen Verfassungswirklichkeit und Verfassungsnorm zu tun. Die Auflösung dieses Spannungsverhältnisses kann sinnvoll nur aus der Perspektive des Grundgesetzes, seiner Leitprinzipien und Begrifflichkeit und nicht aus der seiner Herausforderer und ihrer Normenwelten geschehen. Allein an der Begriffswelt der verfaßten Ordnung können Legalität und Legitimität politischen Handelns ausgemessen und nachgewiesen werden, soll die in der Verfassung kodifizierte Macht des Normativen nicht einem Verschleißprozeß ausgesetzt werden. Es ist daher nur folgerichtig, daß in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um außerparlamentarische Oppositionen staatsund verfassungsrechtliche Abhandlungen sowie gerichtliche und einzelrechtliche Stellungnahmen und mit ihnen insgesamt die methodische Vorgehensweise der normativen Sachverhaltsermittlung dominieren. Im Ergebnis kann über die Notwendigkeit der methodischen Subsumtion politischer Sachverhalte unter die Normativität des Rechts kein Zweifel bestehen. Andererseits zeichnen sich rechtlich vorgefaßte Herangehensweisen an das Phänomen außerparlamentarischer Oppositionen durch das Bemühen aus, die aus dem Konsens der staatstragenden Kräfte ausbrechenden Oppositionen auf die verfaßte Ordnung und ihre ordnungspolitischen Parameter gewissermaßen zurückzuverpflichten. Es herrscht die Neigung vor, den Oppositionen zurückzugeben, woran 4 Statt vieler s. Th.Ebert, Gewaltfreier Aufstand, 1 9 8 1 4 ; W.BEER, Lernen im Widerstand, 1 9 8 0 ; P. GLOTZ (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat, 1 9 8 3 .

Gewalt und Emanzipation in den außerparl. Oppositionen

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sie nach ihrem Selbstverständnis gewachsen sind, wogegen sie fundamental oder radikal opponieren. Man mag über den Erfolg einer solchen Vorgehensweise angesichts seines ambivalenten Resultats streiten, denn es gilt gleichermaßen, daß die Oppositionen nie ihren Minderheitenstatus ablegen und sich zu einer mehrheitsbildenden politischen Kraft entfalten und daß sie sich — in einem nahezu strukturellen Sinne und trotz intensiver staatlicher Gegenwehr — als ein Faktor der politischen Szenerie etablieren konnten. 5 Wesentlicher als eine derartige Bilanzierung erscheint mir daher, gerade im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung, die Klärung der Frage, wie tief der Bruch zwischen den konsensstiftenden Kräften der pluralistischen Demokratie nach dem Grundgesetz und denen der außerparlamentarischen Opposition reicht, insbesondere, welche Dynamik der strukturell ausdifferenzierten außerparlamentarischen Opposition innewohnt, denn wir haben es mit einer Problematik zu tun, die an den Zentralnerv der verfaßten Ordnung nach dem Grundgesetz und der ihr zugrunde liegenden politischen Philosophie rührt. Hierfür steht mit der Gewaltfrage das außerparlamentarisch reklamierte Änderungsrecht, das systemüberwindend und insofern revolutionär verstanden sein will. Beide Problemdimensionen, die der Gewalt und die der Systemänderung, weisen auf eine Problematik zurück, die in der Gründungsgeschichte des Grundgesetzes eine, wenn nicht die wesentliche Rolle gespielt hat. 2. In seiner Frontstellung gegen die nationalsozialistische Vergangenheit nimmt das Grundgesetz eine politische Philosophie der Militanz oder Streitbarkeit in sich auf, die für das Selbstverständnis wie für die instrumenteile Ausgestaltung des Verfassungsstaates der Bundesrepublik als nachgerade konstitutiv anzusehen ist. 6 Die Philosophie der Verfassungsmilitanz zielt umfassend auf Erhalt und Stabilisierung des Typus der freiheitlichen Demokratie. Sie zeichnet für eine Akzentuierung starker politischer Führungsinstrumente und für die Aussöhnung dieser Führungsinstrumente mit den Instituten der parlamentarischen Demokratie und der gesellschaftlichen Körperschaften im Sinne eines prinzipiell zu verstehenden Konstruktivismus ebenso verantwortlich, wie für das Konzept einer mediativen Demokratie, die unter Verzicht auf jedwede plebiszitären Elemente alle politische 5 Vgl. U. BERMBACH, Anmerkungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik, in diesem Band S. 4 9 9 . 6 F.K.FROMME, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 1960.

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Macht in den institutionellen Raum der rechtsstaatlichen und repräsentativen parlamentarischen Demokratie zurückführt. Zugleich mündet die Philosophie der verfassungsstaatlichen Militanz in eine, die politischen Formprinzipien der freiheitlichen Demokratie substantiell schützende Wertlehre, die sicherstellt, daß keine mit der verfaßten Ordnung konkurrierende politische Ordnungskonzeption Anspruch auf legitime Geltung erheben kann. 7 Im Zusammenhang unserer Fragestellung nach der inneren Dynamik außerparlamentarischer Oppositionen und nach der Tiefe des Bruchs zwischen ihren Politikkonzeptionen und denen der konsensverpflichteten Kräfte der parlamentarischen Demokratie ist an die zentrale Grundlegung der verfassungsstaatlichen Militanzerklärung sowie an die daraus hergeleitete strategische Schlußfolgerung zu erinnern. Die Militanzkonzeption wird einer Auseinandersetzung mit dem Ende der Weimarer Republik abgewonnen, wobei der Spezifik dieses Endes eine geschichtlich neue, generalisierbare Problematik moderner Massendemokratien, ein Grundwandel des Politischen, entnommen wird: nämlich die der Existenz eines geschichtlich neuartigen Revolutionstypus und einer entsprechend neuartigen Immanenz der Gefährdung des demokratischen Verfassungsstaates. Es heißt, daß die traditionellen Umsturztechniken des Volksaufstandes oder des Barrikadenkampfes einerseits, der Tyrannis in ihren diktatoriellen Erscheinungsformen andererseits im Angesicht der Massendemokratie sich zur Symbiose einer legal und demokratisch getarnten, im Prinzip nicht auf physische Gewalt zurückgreifende Umsturztechnik transformiert hätten. 8 Es sei nicht länger die Form des Angriffs, als vielmehr die ihm innewohnende Inhaltlichkeit wie seine Intensität entscheidend, die Feindqualität oder die Möglichkeit zur Revolution, zur Beseitigung der verfaßten Ordnung, denn die moderne „Revolution neuer Art" zeichne sich gerade dadurch aus, daß sich ihre Träger auf die Formprinzipien der rechtsstaatlichen Demokratie beriefen, sei es durch Einwirkung von außen, sei es im Innern der demokratischen Institutionen selbst.9 Hiernach liegt in der Natur des demokratischen Rechtsstaates die Möglichkeit seiner revolutionären Beseitigung im7

Vgl. zum Ganzen W. Süss, Anm. 1, Teil I.

8

S. DERS., A n m . 1, S. 2 2 f f , 6 1 f f , g r u n d l e g e n d z u m P r o b l e m h o r i z o n t : M . J O L Y ,

Macht und Recht, 19792. 9 Im Zusammenhang von nach wie vor C. SCHMITT, Der Begriff des Politischen, 1963 2 .

grundsätzlicher

Bedeutung:

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manent begründet, so daß es entscheidend darauf ankomme, sich einer solchen Entwicklung schon in den Anfängen zu erwehren: „Das ,Wehret den Anfängen' der bundesrepublikanischen Verfassungs- und Politikdebatten hat entsprechend nicht nur die schon eingetretene Realität und die Träger der scheinlegalen (Revolution' vom Typus der Faschisten im Visier, es zielt tiefer und umfassender auf die verfassungsrechtliche Ausschaltung aller Bedingungen, die dem Entstehungsprozeß einer Revolution,moderner Art' förderlich sein könnten." 1 0 3. Der Grundlegung von Verfassungsmilitanz ist unschwer anzusehen, daß sie der allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, mit der Revolution faschistischer und kommunistischer Provenienz folgt. Sie hat ein Regime der „Gewalt- und Willkürherrschaft" 11 im Visier, in dem die Tyrannis der Diktatur, des charismatischen Führers oder der Klassenherrschaft, mitgedacht ist. Entsprechend wird die „Streitbare Demokratie" nach der Niederlage des Nationalsozialismus in ihren repressiven Aspekten gegen die KPD und ihre Ersatzorganisationen sowie gegen die kommunistische Ideologie ausgerichtet. Sie hat es, vor dem Hintergrund der stalinistischen Erfahrung, mit einem Gegner zu tun, der trotz aller bündnispolitischen Einlassungen und verfassungspolitischen Konformitätserklärungen auf die Verwirklichung eines anderen Systems und anderer politischer Legitimations- und Ordnungsmuster setzt. Die Systemfeindschaft ist einigermaßen präzise mit Blick auf die sozialistische Wirklichkeit und entlang der Programmatik von der Klassendiktatur ausmachbar. Mit der Studentenbewegung der 60er Jahre ändert sich die Situation insofern grundlegend, als hier eine Opposition entsteht, die mit ähnlicher Vehemenz wie die verfassungsstaatliche Streitbarkeit den Typus der zur Diktatur drängenden Revolution wie die sozialistische Wirklichkeit bekämpft, und die vor allem von keiner Parteiform oder einem sonstwie gearteten Organisationszentrum mehr gelenkt oder beherrscht wird und die schließlich über keine in sich einigermaßen geschlossene „Gegenideologie" im Sinne der Utopie einer konkret

W. Süss, s. Anm. 1, S . 2 4 . S. die verfassungsgerichtliche Definition der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie insgesamt die Argumentation des Gerichts im KPD-Urteil: BVerfGE 2, 5, abgedruckt in: E.Denninger (Hrsg.), Freiheitlichdemokratische Grundordnung, 1977, Bd. 1, S. 114, 119 ff. 10 11

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anderen Gesellschaft mehr verfügt. 12 Die außerparlamentarischen Oppositionen in der Bundesrepublik geben sich seit der Studentenrevolte eher diffus als radikale oder fundamentale Bewegungen der Kritik am Bestehenden aus, und sie experimentieren mit organisierenden Formprinzipien, deren politische Qualität im Sinne ihrer Machteigenschaft oder ihrer Systemnatur wenigstens nicht unmittelbar einsichtig ist. Wenngleich außer Zweifel steht, daß die außerparlamentarischen Oppositionen weder den konsensverpflichteten Kräften noch den Konstruktivitätsprinzipien der Verfassung zuzurechnen sind, so muß doch als offen angesehen werden, ob und inwieweit sie die Problematik der „Revolution neuen Typus" erneut aufgeworfen haben und noch aufwerfen. Gerade ihr kritischer Impetus signalisiert ja den Willen zur Konstruktivität, zu einer Systemänderung, die zwar auf der Folie einer deutlichen Systemabsage vorgetragen wird und die sich von Utopien einer anderen Gesellschaft nährt, die sich aber insgesamt als ähnlich offen für alle denkbaren Lösungen suggeriert, wie die verfaßte Ordnung und das Grundgesetz selbst in der Interpretationsperspektive des Bundesverfassungsgerichts zum KPD-Urteil. 13 Doch während das staats- und verfassungsrechtliche Offenheitspostulat vor der Wertlehre und damit insbesondere auch vor den politischen Formprinzipien der repräsentativen Demokratie Halt macht, setzen die außerparlamentarischen Oppositionen seit den 60er Jahren gerade hier an. Sie schlagen andere Wertdefinitionen vor, indem sie die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit der bundesrepublikanischen Ordnung einem ständigen Prozeß der Kritik aussetzen wollen. Ihr Offenheitsanspruch wird darin sichtbar, daß sie sich in erster Linie als Bewegungen mit einem sich ebensosehr bewegenden stark subkulturellen Unterbau verstehen. 14 Nun bricht sich die außerparlamentarisch reklamierte Offenheit während der 20jährigen Existenz des neuen Oppositionstypus immer wieder an gewaltförmigen Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht, ein Umstand, für den beide Seiten je ihre Erklärungen parat halten. Wird der Außenparlamentarismus des Politisierens als politi1 2 Zu den inhaltlichen und organisatorischen Unbestimmtheiten der außerparlamentarischen Oppositionen siehe H . J . HORCHEM, Extremisten in einer selbstbewußten Demokratie, 1 9 7 5 , sowie INFRATEST, Politischer Protest in der Bundesrepublik, 1 9 8 0 . 13 BVerfGE 5, (s. Anm. 11), S. 133. 14 S. D.HOFFMANN-AXTHELM U.A., Zwei Kulturen? sowie D.JÄNICKE, Bewegungen, 1980.

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scher Angriff auf die Verfassung gewertet, so erscheint die Repression der Protestbewegungen als selbstverständlich 15 , denn „die Lehre von der streitbaren Demokratie reklamiert ausdrücklich das Recht, jederzeit gegen Keimformen des Dissenses repressivstaatlich vorzugehen. Der staatliche Gewalteinsatz gegen den politischen Feind ist nachgerade ein demokratieimmanentes Qualifikationsmerkmal des bundesrepublikanischen Verfassungsstaates, nicht etwa die Schattenseite oder gar die Negation der Demokratie des GG, nicht ihr ,Abbau', sondern ihre Sicherung und Bestandteil ihrer Positivität und eines ihr entsprechenden materiell-rechtlichen Legalitätstypus". 16 Aus verfassungsstaatlicher Sicht sind gewaltförmige Auseinandersetzungen nur eine Konsequenz oppositionellen Handelns. Der staatliche Gewalteinsatz ist als souveränes Mittel zur gesellschaftlichen Friedensbehauptung begriffen. Anders stellt sich der Sachverhalt aus der Sicht der außerparlamentarischen Protestbewegungen dar, die gleichermaßen im staatlichen Gewalteinsatz eine Repression ihrer Anliegen sehen, wie sie für sich selbst ein Recht auf den Gebrauch von Gewalt als Mittel der Politik, wenn auch weit unterhalb des revolutionären Barrikadenkampfes und des Terrors, einfordern. Es ist diese Intoleranz, die auch ohne den Hintergrund der Totalitarismusproblematik weiterhin nach der Aktualität und Geltung der verfassungsrechtlichen Militanzerklärung fragen läßt, denn zweifellos bringt das Bekenntnis zur Protestgewalt eine gewisse Umwertung im Traditionsbestand der politischen Werte der Demokratie mit sich, so daß erneut der Problemhorizont eines zerstörerischen Relativismus aufscheint, dessen Anfängen sich das Grundgesetz erwehren will. Ist aber ein derartiger „Relativismus" nicht auch Zeichen für eine reife Demokratie, die des Konflikts und der Zivilcourage zu ihrer ständigen Erneuerung bedarf, soll sie nicht an Formprinzipien erstarren, die geschichtliche Änderungs- und Anpassungsprozesse kaum mehr zu tragen in der Lage sein könnten? 17 Und hat nicht der Rückgriff auf die Instrumente der Verfassungsmilitanz eher die Geister gerufen, die er

Vgl. aber zur „Ideologiegewalt" W.Süss, A n m . l , S.lOff, 5 7 f f , 78 ff. DERS., S. A n m . l , S . 7 3 . 17 J. HABERMAS, Ziviler Ungehorsam - Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, in: P. Glotz (Hrsg.), Anm. 4. 15

16

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zu bekämpfen vorgab? 18 . Denn allem Anschein nach sind die außerparlamentarischen Oppositionen, wenn nicht wesentlich angesichts der Verfassungsgewalt, so doch trotz ihrer gedeihlich weiter gewachsen bis hin zur Ausbildung der neuen parlamentarisch/außerparlamentarischen Kraft der Grünen? Die in der Verfassungsmilitanz angelegte Feinderklärung 19 mag sich als ein Anachronismus erweisen, der dem neuen Oppositionstypus kaum mehr angemessen erscheint und der insofern die Polarisation mit befördern mag. 4. Die Antwort auf diese Fragen hängt u. a. auch vom Zustand und der Reife der außerparlamentarischen Opposition selbst ab. 2 0 Dabei ist zu sehen, daß wir es über die Zeitspanne der vergangenen 2 0 Jahre statt mit „der" außerparlamentarischen Opposition mit einer Vielzahl von Teilbewegungen wie mit der Studenten-, der Sponti-, der Frauen-, der Ökologie-, der Bürgerinitiativen-, der Alternativ-, der Hausbesetzer- und schließlich der Friedensbewegung zu tun haben, in denen sich je unterschiedliche geschichtliche Erfahrungen, verschiedenartige Motivlagen, differierende innenpolitische Szenarien sowie disparate Ideologien und Politikvorstellungen ausgeprägt haben. 21 Jede Bewegung hat in einem gewissen Sinne für sich gestanden, eigene Dynamiken, Problemdefinitionen, Selbstverständnisse, Theorien und Moden ausgebildet. Und jede Bewegung war konkret-praxisorientiert und abstrakt-ideologisch zugleich, existierte im Nebeneinander von Alltagskritik und Projektarbeit, von Systemkritik und Ideologieproduktion. Die Bewegungen lösten einander ab, durchliefen jede für sich die ganze Erfahrungsstrecke der ihr gerade vorhergegangenen Bewegungen und wechselten im Rhythmus der Mode die Erklärungsmuster für ihr Handeln, ohne sich der Mühe gegenseitiger Kritik zu unterziehen. Von einer Höher- oder Weiterentwicklung in die eine oder andere Richtung kann keine Rede sein, so daß es auch schwerfällt, den Zustand und die Reife außerparlamentarischer Oppositionen in der Bundesrepublik etwa an einem registrierbaren Lernprozeß ausmachen zu wollen.

18 Vgl. etwa die Position der sozialliberalen Koalition zu Beginn der 70er Jahre, dargestellt bei W. Süss, s. Anm. 1, S. 201 ff, insbes. W. MAIHOFER, in der Debatte des Deutschen Bundestages vom 15. Nov. 1974, abgedr. in: E. Denninger (Hrsg.) s. Anm. 11, S. 5 6 7 ff. " S. W. Süss, Anm. 1, S.86. 2 0 S. den Beitrag Peter Waldmanns in diesem Band S. 399. 21 S. W. Süss, K. SCHROEDER, Theorieeinflüsse und Politikverständnisse von der APO zur Alternativbewegung, FU Berlin 1980.

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Der Befund läßt die Schlußfolgerung zu, daß wir es über die Verschiedenheit von Teilbewegungen hinaus vor allem mit einer Wiederholung sich ähnelnder Bewegungen zu tun haben, daß die Differenzen von Gemeinsamkeiten überlagert werden, die es rechtfertigen, die Charakterisierung der außerparlamentarischen Oppositionen an den Grundfiguren ihrer Handlungs- und Denkweisen vorzunehmen. In einer geschichtlichen Perspektive werden diese Grundfiguren an der immanenten Verhältnisbestimmung von Emanzipation und Gewalt sichtbar, denn die Programmatik der Befreiung ist ebenso durchgängig wie die Überzeugung, daß dies ohne die Thematisierung der Gewaltfrage nicht zu haben sein wird. Zu fragen bleibt, inwieweit der Verhältnisbestimmung von Emanzipation und Gewalt tatsächlich die Reife einer Konfliktkultur innewohnt, so daß die verfassungspolitische Militanzrede gewissermaßen an ihrem Gegenstand vorbeizielte.

II. Zum Emanzipationsbegriff außerparlamentarischer Bewegungen 1. Das Selbstverständnis, sich freizulassen, um sich und ggf. andere zu befreien, gibt jenes Gravitationszentrum ab, um das die verschiedenen Bewegungen und Teilbewegungen, die buntschillernden subkulturellen Milieus, die sich konjunkturell ändernden und sich personell erneuernden Protestszenarien, die sich abwechselnden politischen Fraktionen, die Kader der Bewegungen und die Mitläufer etc. kreisen. Was auch immer im einzelnen unter emanzipativer Befreiung vorgestellt sein mag, seit der Jugend- und Studentenrevolte der 60er Jahre verstehen die Mitglieder von außerparlamentarischen Oppositionen sich selbst und ihre Handlungsweisen per se als emanzipatorisch. Die Emanzipationsvorstellung leitet außerparlamentarische Oppositionen in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren an. 22 Im Unterschied etwa zum Begriff des Fortschritts, der sich aus dem geschichtlichen Kampf um die „soziale Frage" herleitet und der entsprechend auf die Verwirklichung von mehr sozialer Gleichheit zielt, will Emanzipation als Sieg über den Herrschaftssachverhalt in all seinen Verästelungen und Konkretionen verstanden sein. Besiegt werden soll die Herrschaft der Apparate über den Körper, der Institution über die Gruppe, der Ökonomie über die Ökologie, des Konsums über die personale Authentizität, des Politikers über die Gesellschaft, 22

S. GRIPS-THEATER BERLIN, hrsg.: Eine linke Geschichte, 1980.

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der Form über den Inhalt, der Mode über die Unkonventionalität, des Normalseins über das irrational Unbewußte, des Mannes über die Frau, der Technik über die Natur oder des Krieges über die Menschheit. 23 In dieser Vielfalt und Breite wird die Emanzipationsvorstellung unhinterfragbar positiv. Jede Äußerungsform von Kritik, Absage und Protest einerseits, von individueller Selbstveränderung oder kollektivem Experiment andererseits lasse aus Herrschaft frei oder bereite den Boden für die Befreiung von ihr. Zu registrieren ist zunächst und im Ganzen eine Rede der Evidenz, Jargon und Gestus, eher habituell als reflexiv vorgetragen, in und mittels der ein Prozeß der Identitätsstiftung der Oppositionen in Abgrenzung zum Normalbürger 24 in Gang gesetzt ist, die gleichermaßen das Projekt der Emanzipation in seinen Trägern als den „ganz Anderen" setzt und voraussetzt. 25 Die so verstandene Emanzipation wird als Selbstverständnisformel ohne Zweifel von einer gehörigen Portion an Willkür, an reiner Dezision getragen. 26 Und doch könnte das Emanzipationsverständnis die Rolle einer Vereinheitlichung und einer gewissen geschichtlichen Verstetigung in sich unterschiedlichster Teilbewegungen von der Studenten- bis zur Ökologie- und Friedensbewegung nicht übernehmen, würde es nicht tatsächlich ein bestimmtes „positives Programm" enthalten, auf das sich die vielen einzelnen, die die Bewegung ausmachen, immer wieder verständigen können. Zu klären ist, warum sich die vielfältigen Teilbewegungen seit nunmehr fast zwanzig Jahren im Sinne einer außerparlamentarischen Opposition halten, warum sich die Mitglieder und Sympathisanten von Protestbewegungen immer wieder sozusagen gegenseitig erkennen und sich als ihresgleichen anerkennen, warum ihre tatsächliche Verschiedenheit von der Gleichheit eines evidenten Emanzipationsverständnisses überlagert wird. Das hat, so meine These, mit dem Emanzipationsbegriff selbst zu tun, damit, was 23

So in etwa die geschichtliche Abfolge in der Kennzeichnung von Emanzipa-

tion. 24

S. H. M. ENZENSBERGER, Verteidigung der Normalität, in: Kursbuch 68,

1982. 2 5 S. W.F.HAUG, Das Ganze und das ganz Andere, in: J.Habermas (Hrsg.), Antworten auf Herbert Marcuse, 1 9 6 8 ; W. Süss, K. SCHROEDER, S. A n m . 2 1 , S. 3 5 f, 3 8 . 2 6 Vgl. insgesamt die Kritik von W. KRAUSHAAR, Thesen zum Verhältnis von Alternativ- und Fluchtbewegungen, in: ders. (Hrsg.), Autonomie oder Ghetto? 1978.

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er positiv an Erklärungskraft oder auch an „Sinnstiftung" leistet, worin er gegen andere Selbstverständnisse abgrenzt und was er in dieser Abgrenzung zusammenzubringen vermag. Dabei ist die Annahme, es gäbe den einen Emanzipationsbegriff, der alle Erfahrungs- und Erscheinungsweisen der subkulturellen Milieus und der Protestaktivitäten in sich aufnehmen könnte, eine Überspitzung und sie ist theoretischer Natur. Vielleicht ist sie auch nur eine Hilfskonstruktion, die den einheitlich verspürten moralischen Impetus oder, um mit Schelsky zu sprechen, 27 die gleichgerichtete Energie des Vielfältigen, festhält. Auf jeden Fall aber ist es unzureichend, das emanzipative Selbstverständnis in der Weise auf den Begriff bringen zu wollen, daß man ihm ausschließlich oder auch nur wesentlich gesellschaftstheoretische Entwürfe, also wissenschaftlich rationalisierte Selbstverständnisse subsumierte. Theorien, oder genauer, Elemente von Theorien, spielen in den Oppositionsbewegungen stets eine große Rolle. Sie liefern rationale Deutungsmuster; zumindest aber lassen sie Begriffe abfallen, die Kommunikation ermöglichen, die in der sprachlichen Benennung bestimmte Sehweisen durchsetzen. Doch wie die Verhaltensdispositionen und Denkweisen auch aller anderen sozialen Schichten zu einem Großteil von Irrationalismen bestimmt werden, von Ängsten und Sehnsüchten, von Zwängen und Wünschen, so werden auch Oppositionen von Irrationalismus angeleitet, zu denen sie sich im übrigen in der Regel dann auch bekennen; sei es in der schlichten Forderung nach Praxis oder sei es als intellektuelle oder therapeutische Bemächtigung des Irrationalen. Wenn von Emanzipation und einem Emanzipationsbegriff die Rede ist, so ist stets die Gleichwertigkeit der habituellen, handlungsmäßigen und intellektuellen wie der rationalen und irrationalen Komponenten, die ihn konstituieren, zu betonen. Dem Emanzipationsbegriff liegen stets reale Mißstände und insofern rationale Momente sowie Sehnsüchte und Ängste und insofern aus dem unbewußt Irrationalen herrührende Momente zugrunde. Es führt nicht weiter, wie insbesondere in der Terrorismusforschung geschehen, jeweils eines gegen das andere auszuspielen, etwa Sozialisationsweisen gegen Theorien, rationale Handlungskonzepte gegen irrationale Energien etc. 28

2 7 S. H. SCHELSKY, Systemüberwindung, Demokratisierung, Gewaltenteilung, 1973 3 . 2 8 Vgl. etwa I.FETSCHER, G. ROHRMOSER, Ideologien und Strategien, 1981.

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2. Nachdem deutlich geworden ist, daß sich das Emanzipationsverständnis aus verschiedenartigen Quellen zugleich speist, komme ich zur These zurück, daß sein Bedeutungszentrum und seine Bestimmtheit in einer in sich identischen Auffassung von Herrschaft und der Freilassung aus ihr liegt. Johann Galtung 29 hat diese Auffassung wohl am deutlichsten und auch am leichtesten vulgarisierbar im Begriff der strukturellen Gewalt zum Ausdruck gebracht, womit die Differenz zwischen den geschichtlich ausgebildeten Bedürfnissen und den Möglichkeiten ihrer Befriedung gemeint ist. Was die Bedürfnisbefriedigung hindert, ist strukturelle Gewalt oder eben Herrschaft. 30 Aus dieser Formel wird zunächst die neuartige, ganzheitliche Perspektive verständlich, in die der Herrschaftssachverhalt und mit ihm das Befreiungsmotiv gerückt werden kann, denn „das Bedürfnis" mag sich an der Totalität der gesellschafdichen Verhältnisse, so wie sie sind, brechen. Die Brechungen sind überall ausmachbar: im privaten Bereich, im Sozialgeschehen, im politisch-öffentlichen Raum, am Recht und an den Institutionen, an den vorherrschenden Wertmustern und Moralvorstellungen, im Verhältnis der Geschlechter oder im eigenen lebensgeschichtlichen Wachstumsprozeß. Die Erklärung des status quo zu einer strukturellen Gewalt oder zu einem Herrschaftsganzen erlaubt es, daß Emanzipation sich auf das gesellschaftliche Ganze und zugleich auf die Teilmomente als bloße Glieder des Ganzen beziehen kann. Und diese Vorstellung einer Herrschaftstotalität, die sich eigentlich nur in ihren Erscheinungsweisen vervielfältigt, die aber eine quasi ontologische Eigenexistenz hat, die ihrerseits den Teilmomenten stets vorausgesetzt ist und die sie verklammert, ist eine Art Basissatz aller Oppositionen seit 1968. Sie hat ihre stärkste Ausformung sicherlich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre erfahren, als die Formel von der Gesellschaftsmaschine 31 aufkam und als die Formel von „Tunix" gefunden wurde. Sie ist Zentrum der Kritik der instrumenteilen Vernunft durch Marcuse und die Studentenbewegung und der strategischen Formel vom „repressiven Ganzen", und sie findet sich in der Entdeckung des Patriarchats als eines welthistorischen Bewegungsprinzips ebenso wie in den gegenJ. GALTUNG, Strukturelle Gewalt, 1975. Vgl. die Argumentation Rohrmosers in diesem Punkt, G. ROHRMOSER, Ideologische Ursachen des Terrorismus, in: Fetscher/Rohrmoser, s. Anm. 28, S. 286, sowie aus kritischer Distanz auch W.-D. NARR, Gewalt und Legitimität, in: K. Horn u. a., Gewaltverhältnisse und die Ohnmacht der Kritik, 1974. 3 1 S. L. MUMFORD, Mythos Maschine, 1977; O. ULLRICH, Technik und Herrschaft, 1977. 29 30

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wärtigen Allmachtserklärungen der Militärtechnologie oder der Reagan-Administration. Daß sich in allem Herrschaft an sich zeige, als eine Seinswirklichkeit eigener Art, dies ist eine sehr bestimmte, wenn auch nur geahnte Vorstellung in den oppositionellen Gegenwelten. 32 3. Indessen hat die Frontstellung zur Herrschaft eine Zubereitung des Bedürfnisbegriffs selbst zur Voraussetzung. Ich vermute, daß diese Zubereitung im Kern existentialistischer Natur ist, auch wenn sie marxistische, neomarxistische, religiöse, anthropologische, feministische, strukturalistische, historiografische oder schlicht politisch moralische Begründungen erfahren hat. Stets ist die Bedürftigkeit des „sich schaffenden Menschen" gemeint, dem die Seinswerdung als Gattungswesen zur Daueraufgabe aufgegeben ist. Wenigstens ist der Bedürfnisbegriff zutiefst in einem personalen Sinne subjektzentriert. Er ist nur noch nebenher, nämlich bloß moralisch, auf die soziale Frage orientiert, die er ablöst. Ihm ist die Bedeutung etwa einer fortschrittlichen Klasse, die die Geschichte zu beherrschen hätte, weil sie über das technische Wissen verfügte, weil sie Kompetenz hätte oder weil sie der Träger allen materiellen Reichtums sei, wesensfremd. Das bedürftig sich selbst befreiende Subjekt kennt gewissermaßen keine Klassen und Schichten mehr. Es gibt sich relativ uninteressiert für sozial bestimmte, instrumentell eingefärbte Interessenslagen33, indem es den Begriff des Interesses aufhebt, um im Bedürfnis und der Bedürfnisverwirklichung das Schicksal aller als Utopie vom „neuen Menschen" wie als Anspruch auf Authentizität der Lebensweise auf sich zu nehmen. In seiner Personalität erinnert der Bedürfnisbegriff sehr an den Freiheitsbegriff, wie er der Rechtswissenschaft und dem Rechtsstaatsgedanken nach dem Grundgesetz zugrunde liegt. 34 Zwar sieht der demokratische Rechtsstaat mit dem Verband, der Versammlung, der Partei und den Organisationen der Meinungsbildung auch das Kollektive vor 35 , doch wird der Prozeß der Kollektivierung auch hier als 3 2 Vgl. auch die Bedeutung des Anarchismus für die westdeutschen Oppositionen. DEUTZ/SCHROEDER/SÜSS, Zum Problem einer zweiten Kultur, FU Berlin, 1 9 8 2 , S. 3 5 ff. 3 3 Vgl. W. KRAUSHAAR, s. Anm. 26. 3 4 S. M . KRIELE, Freiheit und Gleichheit, in: E. Benda, W. Maihofer, H. J . Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1 9 8 4 , S. 129 ff. 3 5 S. W. MAIHOFER, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: E. Benda u. a., s. Anm. 3 4 , sowie T. ELLWEIN, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 1973 3 , 4 . Kapitel; W.Süss, Anm. 1, S . 4 2 f f , 4 7 f f .

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freiheitliche Zusammenfassung personaler Subjektivität und nicht umgekehrt als bloße Betätigung schon vorausgesetzter Kollektive wie Klassen oder Schichten, Besitzende oder Besitzlose etc. konzipiert. Der oppositionell-emanzipative Begriff des Bedürfnisses oder der Bedürfnisbefriedigung setzt an diesem Konsensus über das Recht auf personale Subjektivität an. Dies wird insbesondere auch in der Formel, wonach das Individuell-Persönliche politisch sei, mit Nachdruck festgehalten. Die Individualsubjektivität ist nicht genötigt, sich auf Politik einzulassen, um sich zu verwirklichen, sich zu emanzipieren. Was sie aber im Verständnis der Oppositionen von dem konstitutionellen Freiheitsbegriff unterscheidet, ist ihre aktivistische, dynamische Einfärbung. Die emanzipative Subjektivität will sich beständig frei lassen; sie drängt nach Veränderung. Sie ist eine Bewegungssubjektivität und hierin liegt der eigentliche Existentialismus und jene identische Bestimmung, an der sich die unterschiedlichen Mitglieder der Oppositionen und Oppositionskulturen erkennen. Zentrum dieses existentialistischen Subjektbegriffes ist die Formel von der Selbstveränderung, die ebenso in der therapeutischen Erfahrung wie in der politischen Aktion liegen kann, und die auf die Befreiung des Subjekts von vorgegebenen psychischen und psychosomatischen Dispositionen, von Sozialisationsmustern und konventionellen Normenbeständen, kurz, von den repressiven Gehalten im Kulturbestand der westlichen Gesellschaften aus ist. Doch ist angesichts der fundamentalen Herrschaftskritik die Grenze zwischen einem personalen und einem gesellschaftlichen Konzept von Selbstveränderung schon immer fließend. Das Konzept der Gesellschafts- wird in das der Selbstveränderung hineingenommen. Auch der für die Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse eintretende Politiker der Oppositionen tritt nicht mehr primär für die Beseitigung der schlechten Lage sozialer Schichten oder Klassen ein, sondern dies nur über die Herstellung von Bedingungen für den Subjektwandel. Der subjektzentrierte Bedürfnisbegriff gibt dem Verständnis von Emanzipation eine zweite, präzis vermeinte Bestimmung. 4. Der sozial unbestimmte Herrschafts- und Subjektbegriff ist von der Sozialwissenschaft unschwer als selbst sozial bestimmt analysiert worden. Die Sozialwissenschaft rechnet ihn Teilen der Mittelschichten, der Intelligenz und ihren Kindern zu. Sie macht den Sozialisationstypus der Postadoleszenz aus, des Jugendlichen, der nie erwachsen wird, des Studenten, der zu spät in die gesellschaftlich geforderten

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Anpassungsprozesse eingegliedert wird. 36 Das hat eine gewisse Plausibilität für sich, erklärt aber z.B. nicht die „no-future-Haltung" der letzten Jahre. In solchen Thesen wird die reale Perspektivlosigkeit Vieler geleugnet. Wie dem auch sei — die soziale Lokalisierung ändert nichts an der universellen Natur und dem revolutionären Gehalt des Emanzipationsbegriffs: Eine total reflektierte Subjektivität steht einer total gedachten Herrschaft gegenüber. Der gesellschaftliche Konflikt wird als ein virtueller denkbar. Er kann zu jedem Anlaß und an jedem Ort aufbrechen. Die Veränderung ist im Kleinen wie im Großen. Die Freilassung geschehe aus den Verstrickungen des Privatdaseins, der Wohnweise, der Sexualität, der Freizeitgestaltung wie aus der sozialen Sphäre der Sozialisations-, Kommunikations- und Kulturagenturen. So wird in einem für privat und unpolitisch Geltendes politisiert und für politisch öffentlich Geltendes zur Privatsache gemacht. Doch ist es zu einfach, den politischen Gehalt des Emanzipationsbegriffs in der bloßen Gegenüberstellung der Subjekt- und Herrschaftsauffassung aufzuspüren. Diese Gegenüberstellung legt nur eine Grundstruktur zum Verständnis der sich letztlich einheitlich verstehenden Bewegungen als Kraft einer außerparlamentarischen Opposition frei. Ich bin überzeugt davon, daß sich entlang des hier referierten Herrschafts- und Subjektverständnisses die Teilbewegungen immer wieder erneuert haben. Ich bin überzeugt, daß das Grobraster der negativen Identität von Herrschaft und Subjektivität die Folie des Emanzipationsverständnisses abgibt, das die Oppositionen seit 1968 ausmacht. Doch kann dieses Grobraster den politischen Charakter der Bewegungen zu wenig erklären, denn dies scheint mir das Wichtigste zu sein, daß die gleichsam abstrakten wie konkretistischen Selbstverständnisse immer wieder in politisches Handeln ausmünden. Und erklärungsbedürftig ist auch, daß der substantielle Existentialismus der Bewegungen bis auf weiteres nach links ausgeschlagen ist und ausschlägt, daß er sich bisher resistent gegen rechtsextremistische Vereinnahmungen gezeigt hat. 37 Auch dies hängt, so meine These, mit Bestimmtheiten des Emanzipationsverständnisses zusammen. 5. Die links-politische Wendung im Verständnis von Emanzipation folgt noch nicht aus der theoretischen Konstruktion oder aus der 36

S. A.FISCHER, (Jugendwerk der deutschen Shell) (Hrsg.), Jugend '81, 1981.

37

G . E I S E N B E R G , W . T H I E L , F l u c h t v e r s u c h e , 1 9 7 5 ; vgl. J . F E S T , D a s D i l e m m a

des studentischen Romantizismus, in: H. Dollinger (Hrsg.), Revolte gegen den Staat? 1968.

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Erfahrung „struktureller Gewalt". Um dies zu verstehen, möchte ich zwei Ebenen unterscheiden, nämlich erstens, die Dimension der geschichtlichen Erfahrung, und zweitens, die Art der genaueren Vermittlung des Herrschafts- und Subjektzusammenhangs im Selbstverständnis der Oppositionen und mit ihr gewissermaßen die Vermittlungen des Emanzipationsprojekts. Geschichtlich ist ganz eindeutig, daß wir es zunächst mit einem Aufstand gegen die Väter zu tun haben, und dies in einem doppelten Sinne. Wenn ich es richtig sehe, werden im Verlauf der 60er Jahre allmählich die überkommenen Ordnungs- und Moralvorstellungen zu eng. Der rasante wirtschaftliche Wachstumsprozeß der 50er Jahre hat geradezu eine Revolutionierung der Gesellschaft zur Folge: Das Auto, Radio und Fernsehen, die Werbetechniken, die Verdrängung ländlicher Gebiete, das neue Selbstbewußtsein von Arbeitern, Angestellten und kleinen Selbständigen, die vielfältigen Konsumstrategien etc. wirbeln alte Gewohnheiten und überkommene Lebenweisen durcheinander; aber autoritär eingeübte Verhaltensweisen und autoritäre Ordnungskonzepte der Unterwerfung unter Institutionen und Machteliten wie überkommene sozio-kulturelle Wertbestände überleben. 38 Sie werden für die Nachwachsenden anachronistisch, da sich das Lebensgefühl der Wohlstandsgesellschaft darin nicht mehr auszudrücken vermag. So kündet sich bezeichnenderweise die Revolte in der Musikszene an, in der Massenfeste inszeniert werden, die Symbol des Aufbruchs wird und die vor allem in ihren Idolen habituell prägsame Identitätsmuster ausbildet. Hier wird die psychosoziale Dynamik aufbereitet, hier fallen die habituellen Abgrenzungen zur „Mehrheitsgesellschaft" an. 3 9 Der „zweite Aufstand" gegen die Väter hängt mit der Entdeckung zusammen, daß die Führungen der „Vätergesellschaft" mit den Diktaturen der Dritten Welt zusammenarbeiten oder sie wenigstens stützen. Imperialismuskritik wird von den politischen Avantgarden in die Revolte hineingetragen. Hier verallgemeinert sie — in der spezifischen Vermittlung des 2. Juni 1967 — sich und schlägt in einen generellen Faschismusvorwurf um. Die Herrschaftskritik wird in den Faschismusbegriff hineingenommen, der auf diese Weise die völlig 38

Vgl.

W.MOMMSEN,

Die

Last

der Vergangenheit,

und

D . WELLERSHOFF,

Deutschland - ein Schwebezustand, in: J. Habermas (Hrsg.), Stichworte zur Geistigen Situation der Zeit, 1 9 7 9 . 3 9 S. R. THIESSEN, It's only rock'n roll, but I like it, 1982.

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neue Dimension des „alltäglichen Faschismus" oder des „dispositiven Faschismus" erhält. 40 Die Verdrängung der faschistischen Vergangenheit, des Faschismus in seiner Massenbasis und in seinen Bündnissen mit den hergebrachten Eliten, diese Verdrängung durch die neuen Eliten und die schweigenden Mehrheiten läßt in der Kritik des Konservatismus an der Macht Mitte der 60er Jahre offenbar keine andere als eine linke Orientierung zu. Ich bin überzeugt, daß die große Bedeutung des Faschismusarguments in der APO der 68er Bewegung das politische und linke Selbstverständnis von Emanzipation so nachhaltig festgesetzt hat, wie es dann die nachfolgenden Bewegungen bis heute belegen. Beide Erscheinungsweisen — die subkulturelle und die antifaschistische — statten die neuen Oppositionen mit einem Höchstmaß von einem Gefühl der moralischen Überlegenheit aus. Sie haben, wenigstens in ihrem eigenen Selbstverständnis, unhinterfragbar das geschichtliche Recht der Vergangenheitsbewältigung und damit zugleich der Gesellschaftserneuerung auf ihrer Seite. Ich denke, daß die Wucht dieser doppelt verankerten moralischen Kraft so groß war, daß ihre Eindämmung über die Extremismus- und Radikalenüberwachung nur in das Gegenteil der Vertiefung und Verbreiterung der Opposition ausmünden mußte. Es ist geradezu absurd, einer Generation, die einen hochmoralisierten Antifaschismus im Gepäck weiß, und die einen freiheitlich eingefärbten Subjektbegriff zu ihrem Ausgangspunkt macht, mit einer Aufforderung zur „Staatsloyalität" beikommen zu wollen. Ein Drittes kommt hinzu: nämlich der intellektuelle Gehalt der ersten APO des neuen Typus. Er hat erst einmal für eine rasante Ausbreitung linker gesellschaftstheoretischer Kritikentwürfe gesorgt. Auch wenn anzumerken ist, daß die Theoriedebatten nur von den Eliten oder Esoterikern der Bewegung wirklich geführt worden sind, so ist doch festzuhalten, daß sich linkes Gesellschaftswissen in einer ungeheueren Schnelligkeit und in einer relativen Breite verallgemeinert hat. Die Nachfolgenden können hierauf noch lange zurückgreifen, auch wenn sie die Theorien kaum begriffen haben und eher beiläufig Marxisten geworden sind. Für sie werden die spontan durchbrechenden und sich schnell verallgemeinernden Denkbestände zur Selbstverständlichkeit.

40

S. C. F. MANSILLA, Faschismus und eindimensionale Gesellschaft, 1972.

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6. Damit komme ich zu den inneren Vermittlungen des Emanzipationsbegriffs, zu der Frage, wie die abstraktive Entgegensetzung von Herrschaft und Subjektivität in sich vermittelt gedacht ist. Meine These ist, daß der Emanzipationsbegriff, durch alle Metamorphosen der Oppositionsbewegungen hindurch, eine relativ eindeutige innere Vermittlungsstruktur aufweist. Dabei lasse ich hier den Wandlungsprozeß im Bedeutungsgehalt der einzelnen Begriffe weg, obgleich dies eine ganz entscheidende Spur ist. 41 Erneut ist daran zu erinnern, daß ich nicht von Begriffen oder Begriffsstrukturen spreche, daß ich nicht auf theoretische Konzepte, sondern auf einen handlungsmäßig, kognitiv und habituell strukturierten Handlungsdiskurs ziele. Die Einheit des Begriffs kann unterschiedlich zum Vorschein kommen: in den Spaltungen des Intellektuellen und des „street fighters", der Bürgerinitiative und der privaten Befreiung. Die Spaltungen werden in den evidenten Selbstverständnissen oder in den Demonstrationen oder neuerlich auch in Wahloptionen dann wieder aufgehoben. Im Spannungsfeld des ontologischen Herrschafts- und des existentialistischen Subjektbegriffs fallen die entscheidenden Aneignungsund Vermittlungsprozesse über das Verständnis von der Gesellschaft an, von und in der Emanzipation geschehen soll. Dabei ist eine Art Dreierstruktur ausmachbar, mittels der Politik, Gesellschaft und Subjektivität spezifisch ineinander verzahnt gesehen wird. Erstens ist negativ bewußt, daß staatliche und gesellschaftliche Großorganisationen für eine Entmachtung der gesellschaftlichen Subjekte verantwortlich zeichneten. 42 Mit Blick auf „die Großorganisation" wird Herrschaft lokalisier- und personalisierbar. Die abstraktive Herrschaftsbestimmung scheint hier gleichsam konkret und verstehbar zu werden, denn die „Herrschaft der Apparate" ist eindeutig hierarchisch und darin zugleich funktional zu entziffern; Herrschaft wird als Macht und Machterhaltung erkennbar, als ein „oben", dem die gesellschaftlichen Subjekte gegenüber stehen. Die Bestimmung von Emanzipation ist von deutschen Traditionsbeständen der Erfahrung mit „der Obrigkeit" oder der „Beamtendemokratie" (Hasso Hofmann) nicht frei. Zum Zweiten wird eine Ubereinstimmung zwischen den institutionellen Herrschaftsstrukturen und der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit der Bevölkerung angenommen, eine Ubereinstimmung, die über die Macht prinzipieller Vermittlungen hergestellt gedacht ist, wie 41

S. W . S ü s s , K . SCHROEDER, A n m . 2 1 .

42

S. statt vieler K. TRAUBE, Müssen wir umschalten, 1978.

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über die Macht der Technik, des Kapitals als eines rastlosen Subjekts, des Konsums, des Patriarchats, des Materialismus oder auch des Rationalismus. Der Rekurs auf Prinzipielles läßt Herrschaft in den mächtigen Institutionen und in den machtunterworfenen Subjekten sich gleich werden. Übergreifende Zurichtungen zeichnen für Eindimensionalität und Authentizitätsverlust, für Kultur- und Naturzerstörung, für die Oberflächlichkeit von Reichtumssucht und schließlich für das Heraufziehen der Apokalypse, des Krieges und des zivilisatorischen Untergangs verantwortlich. Als Prinzipien sind sie daseinsbeherrschend, von ungleich größerem Gewicht als die soziale Frage und die aus ihr emanierende Herrschaftsproblematik. Wenn auch ein Machtgefälle von Herrschern und Beherrschten und insofern soziale Ungleichheit festgestellt wird, so wird doch die Gleichheit der Lage zwischen Herrschern und Beherrschten, die Gemeinsamkeit ihrer Vorstellungen und Orientierungen, kurz, ihre kulturelle Identität, für weitaus wichtiger eingeschätzt. Neben die institutionelle Machtwirklichkeit tritt die Macht einer Kulturwirklichkeit, die die sozial definierte Herrschaft in einem Atemzug substantiiert wie aufhebt. Sie wird als Macht der Mehrheit im Sinne einer Übereinstimmung zwischen den Organisationsmächten und dem „Normalbürger" rezipiert. Die Einheit aus institutioneller und kulturell verfestigter Herrschaft, die Synthese aus Herrschaftspersonal und herrschender Lebensweise, münde, und dies ist die dritte Vermittlungsebene der negativen Identität von Herrschaft und Subjektivität, in eine Umzingelung der Individualsubjektivität. Das vereinzelte Individuum habe sich hiernach in einen globalen Entfremdungszusammenhang der Autorepression, des falschen Bewußtseins oder der verkehrten Lebensweise verstrickt: es ist Objekt der Eliten, der Massen und seiner selbst, so daß es nur noch das eine Entrinnen gibt — daß der Selbstveränderung. Grundpfeiler und Opfer von Herrschaft zugleich, erscheint das Subjekthafte in den Individuen als jene Ebene, auf der der Bruch zur „Mehrheitsgesellschaft" noch am ehesten möglich erscheint. Entsprechend fallen die positiven Bestimmungen von Emanzipation aus. Emanzipation muß auf allen drei Ebenen zugleich angreifen. 7. Emanzipation hat es zunächst mit der Frontstellung gegen die institutionelle Herrschaft zu tun, die dem Verständnis von Emanzipation zugleich einen unmittelbar politischen Gehalt verleiht, denn die antiinstitutionelle Frontstellung führt in die Herrschaftskritik die Kritik der politischen Formprinzipien der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates mit ihren bürokratischen Vermittlungs-

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komplexen ein. Die von Herbert Marcuse gelieferte Formel von der „Abriegelung des Politischen" faßt diesen Zusammenhang in sich zusammen. Gemeint ist mit der Formel, daß die politischen Institutionen und Instrumente Eliten dienen, daß sie für Mehrheiten im Sinne öffentlicher Transparenz nicht mehr zur Verfügung stehen. Die Großorganisationen der Verbände, der staatlichen Bürokratien, der Parteien und des Parlaments zielen, in dieser Sicht, auf die Herstellung eines passiven Untertanenbürgers ab. Entsprechend wird die Bestimmung neuer politischer Formprinzipien für das Programm der Emanzipation von entscheidender Bedeutung. Die politischen Formprinzipien sind dem Verständnis von Selbstveränderung anzupassen und sie sollen den dynamisch aktiven Komponenten der Veränderung Rechnung tragen. Für das Projekt der Emanzipation werden die Organisationsprinzipien der Dezentralität und der Öffentlichkeit, der Herstellung kleiner Handlungseinheiten und der Ausbildung flexibler Zentralisierungsformen, wie etwa der Großdemonstration oder der Vollversammlung, kennzeichnend. Die Dezentralität verbürgt die Entstehung eines informellen Organisations- und Handlungsnetzes, daß wenigstens dem Anspruch nach ohne Zentrum ist. Über die öffentlichkeitswirksamen Formen der Demonstration, des Protests, der Blockade etc. soll die Einheit der Vielen stets prozeßhaft gestiftet werden. Und in der Tat: emanzipative Kollektivität kommt durch Anlässe zustande und sie wird symbolhaft-rituell gestiftet, denn die spontanen Kollektivbildungen ermöglichen Gemeinschaftserfahrung und symbolisieren Stärke. Darunter solle sich ein basisdemokratisches und insofern authentisches, weil subjektbezogenes Formengeflecht ausbilden, in dem sich ein außerparlamentarisches Gegenmilieu entwickle, das den Eliten entgegenzusetzen ist und das selbst antielitär sein will. Zum Letzteren ist indessen anzumerken, daß die Bewegungen ohne Kader nie ausgekommen sind. Sie hatten in den 60er Jahren ihre charismatischen Führer und sind dann im Zuge der Ausbildung „bolschewistischer Kleinfürstentümer" durch die K-Gruppen in den 70er Jahren politisch zusammengehalten worden. Und politische Kader spielen auch bei der Partei der Alternativen und Grünen eine entscheidende Rolle. Vorerst hat sich die elitäre Binnenstruktur der Bewegungen erst einmal zur Parteienstruktur weiterentwickelt und es bleibt abzuwarten, wie der Konflikt zwischen subjektzentrierter Bewegung und ihren informellen Formen einerseits sowie der Parteiform und den Kadern andererseits ausgeht.

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Die Formbestimmungen von Emanzipation, die kleine Einheit, das Handlungsnetz und die flexiblen Instrumente der Vereinheitlichung stehen zugleich im Dienste der Kritik des Prinzipiellen von Herrschaft und der Aufhebung von Entfremdung. Während organisierte Herrschaft im Medium die Großen Subjektivität entqualifiziere und entmachte, weil sie in ihren Formbestimmungen die Lebenszusammenhänge undurchschaubar mache, komme für das Projekt der Emanzipation alles darauf an, einen Handlungsrahmen zu finden, der sich den Wirkungen der Anonymität zu widersetzen vermag, indem er Überschaubarkeit, Kommunikation, Konfliktaustrag wie Spontaneität und Dynamik garantiert. Die Form des Kleinen und des Spontanen setzt nicht auf die Organisation des Ganzen. Sie ist im Gegenteil an das Subjekt adressiert, das sich in der Teilmenge der anderen Subjekte existential erschafft. So steht die Form schließlich für die Befreiung von globaler Entfremdung ein, ohne als Form schon einen Inhalt dessen zu liefern, was das Nichtentfremdete sei. 8. An dieser Stelle springen die verschiedenen ideologischen Konzepte und vor allem auch die habituellen Präsentationsweisen, wie nicht zuletzt die konkret geschichtlichen Anlässe für Kritik ein. Was jeweils emanzipative Subjektivität positiv meint, wird konjunkturell, dezisionistisch und ideologisch bestimmt. Fest steht nur, daß es ein ganz anderes im Verhältnis zur Normalität der Bevölkerungsmehrheit ist. Fest steht, im Selbstverständnis der Oppositionen, daß diese Subjektivität eine überlegene ist, weil sie die Gewißheit der Selbstveränderung auf ihrer Seite hat, weil sie meint, sich der Herausforderung der Emanzipation zu stellen. Der Sieg über die Entfremdung wird immer auch Utopien abgewonnen, die sich ihrerseits wandeln. Doch gibt es eine für alle verbindlich geltende Utopie nicht, vielmehr bestehen unterschiedliche Entwürfe, zum Teil in harter Konkurrenz nebeneinander. Wenn man eine Gemeinsamkeit herausfiltern wollte, so käme nicht mehr als die Idylle einer Gesellschaft der Gleichen heraus, in der die Einzelsubjekte ihren Neigungen und Bedürfnissen nachgehen. Dies hat sehr viel von deutschem Romantizismus an sich und scheint mir insgesamt, wenigstens auf der Ebene der Utopie, wenig gesellschaftlich und geschichtlich durchdacht. Gezeichnet wird das Bild des Menschen als eines Naturwesens, ohne daß auch nur ansatzweise die Utopie eines Naturbegriffs im Angesicht der industriellen Massen- und Stadtgesellschaft ausgemalt worden ist. Immer wieder springen Erinnerungen an geschichtlich

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andere Gesellschaftsformationen und deren Kulturbestände wie ein Ersatz für die fehlende eigene Utopie ein. Während im Kontext der Imperialismuskritik der 60er Jahre die Revolutionshoffnung auf die Länder der „Dritten Welt", auf Lateinamerika und Südostasien, romantisch projiziert worden ist 43 , gelten südostasiatische Kultgemeinden oder Indianergesellschaften schon bald als Vorbilder der neuen, natürlichen Gesellschaft. In der Literaur- und Wissenschaftsproduktion haben im Verlauf der 70er Jahre strukturalistische Autoren, ethnologische und religiöse Darstellungen neben Reiseberichten und „Indianergeschichten" ebenso Konjunktur wie indische und lateinamerikanische Restaurants und Kleinkunst- sowie Konfektionsgeschäfte: Die Authentizität des Subjekts — das ist das Fremde, das Fremde auch in den industriellen Massengesellschaften selbst, wie die große Solidarität mit den „Ausgeschlossenen", insbesondere dem Irren, dokumentiert. Die Utopie des Naturhaften wird seit den 60er Jahren immer auch an der Figur des Irren, dieser Leibhaftigkeit des Irrationalen, zu kennzeichnen gesucht. Der Irre steht emblematisch für die Energie des Psychischen, die zur Freilassung drängt. Er figuriert als extremer Zurechnungspunkt einer im Begriff der Kulturrevolution nur mit programmatischer Schärfe zum Ausdruck gebrachten Befreiungsoptik, in der gesellschaftliche und soziale Bestimmungen von einer anderen Gesellschaft kaum mehr Platz finden. Die Utopie der Emanzipation, der Befreiung von Herrschaft durch Selbstveränderung, wird entsprechend nur äußerlich von Theorien angeleitet. Letztere werden immer wieder von Moden aufgesogen, in denen die Ausmalungen des Andersseins als die großen Utopien abfallen. Unterhalb der Utopien beherrschen vorerst die Praktiken der Selbstveränderung das Feld. Dem Emanzipationsbegriff ist ein Praxisverständnis inhärent, das inhaltlich undurchschaut und das für alle existentialen Deutungsmuster offen ist. Das Subjekt der Emanzipation bleibt theoretisch wie praktisch abstrakt bestimmt. Das Ziel kann dabei in der Abarbeitung an dem Politischen, an dem Individuellen oder an dem Gesellschaftlichen im Auge behalten werden. Es mangelt nicht an Kritikanlässen in der innenpolitischen Szenerie der Bundesrepublik wie in der Weltarena, von denen der abstrakt bestimmte Emanzipationsprozeß letztlich abzuhängen scheint.

4 3 S. B. RABEHL, Von der antiautoritären Bewegung zur sozialistischen Opposition, in: Bergmann u.a., s. Anm.3.

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III. Zum Gewaltverständnis außerparlamentarischer Oppositionen 1. Die Darstellung des Emanzipationsverständnisses hat erbracht, daß Emanzipation immer auch in der Kritik von Herrschaft negativ bestimmt ist. In dieser Negativität ist die Gewaltproblematik grundsätzlich angelegt, und es ist wohl mehr als ein Zufall, daß Galtungs's Differenzierung zwischen dem Bedürfnis und seiner Befriedigung, das, was beide trennt, begrifflich als strukturelle Gewalt gefaßt worden ist. Hier wird Herrschaft letztlich zum Gewaltzusammenhang erklärt; beides wird synonym. Der ontologische Herrschaftsbegriff, der nur noch Erscheinungen oder Verschiedenheiten einer in sich identischen Herrschaft kennt, verleitet offenbar dazu, Herrschaft in einem normativen Sinne als Gewalt auszugeben. Ich sage bewußt normativ, denn, wenn Gewalt und Herrschaft sich gleich sind, dann liefert der Gewaltbegriff nur noch eine wertende Steigerung zur Kennzeichnung des gleichen Sachverhalts. Er verleiht der Herrschaftskritik mehr Nachdruck, indem er deutlich machen will, daß die scheinbare Anonymität von Herrschaft Gewalt antut, daß sie eine bestimmte Qualität und Intensität hat, die im Herrschaftsbegriff offenbar nicht mehr zum Vorschein kommt. Herrschaft schneidet Möglichkeiten ab, sie begrenzt und richtet, sie fordert Anpassung oder Unterwerfung. Herrschaft beherbergt den Willen von Eliten, den Befehl, ohne daß sie dies unmittelbar zu erkennen gibt, denn sie wird als Verfahrenstechnik konkret, als ein komplexer Organisationsprozeß und ein rechtliches Regelungssystem 44 , als Anwendung von Technik und Sachzwängen oder als Zuteilung von Optionen, wie der zu konsumieren oder der, aus dem Angebot politischer Führungsgruppen auszuwählen. 45 In den letztgenannten Aspekten deckt sich der ontologische Herrschaftsbegriff im übrigen in weiten Teilen mit konservativen und positivistischen Auffassungen, wonach im Zeitalter der industrielltechnischen Gesellschaft der normativ-demokratische Prozeß in seiner Bedeutung zurückgedrängt wird. 46 Die beiden großen soziologischen Debatten zwischen Popper und Adorno einerseits, zwischen Habermas und Luhmann andererseits, kreisen um dieses Problem. Seine 4 4 Statt vieler W. SCHLUCHTER, Aspekte bürokratischer Herrschaft, 1 9 7 2 ; J.HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, 1 9 8 1 , S . 3 3 2 f f . 4 5 S. J. AGNOLI, Die Transformation der Demokratie, 1 9 6 8 . 4 6 Vgl. die kritische Darstellung von M . GREIFFENHAGEN (Hrsg.), Der neue Konservatismus der siebziger Jahre, 1974.

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Übersetzung in einen Zusammenhang struktureller Gewalt stellt in erster Linie eine Rebellion gegen diesen Versuch der Entpolitisierung von Herrschaft dar. Der existentialistische Subjektivismus gibt sich gerade mit diesem Angebot der Einwilligung in das PragmatischGegebene nicht zufrieden. Er scheint zunächst in die Auffassungen Gehlens, Forsthoffs, Poppers oder Luhmanns einzuwilligen, denn er teilt mit ihnen die Version von der sozial wie normativ qualitätslos werdenden Herrschaft — jedoch nur, um gegen sie das zwingende Gebot der Befreiung zu setzen. Dabei nutzt die Verwendung des Gewaltbegriffs zunächst nur die umgangssprachlich-konventionelle Bedeutung von Intensität aus, die der Gewaltvorstellung innewohnt, um auf diese Weise den bis in das Unbewußte verdrängten Herrschaftssachverhalt durch Verfremdung wieder kenntlich zu machen. Die Übersetzung von Herrschaft in Gewalt, des Ganzen in das repressive Ganze, der Gesellschaft und ihre Institutionen in die Disziplinar- und Gewaltmaschine ist auch polemischer Natur. Sie will provozieren, auch wenn sie ernst gemeint ist und im Medium von Theorien und Ideologien vorgetragen und untermauert wird. Die Verwendung des Gewaltbegriffs übersetzt die Herrschaftskritik in Revolutionstheorie oder in die Aufforderung zu aktionistischem Handeln, zur Tat. 47 Denn das Gewaltsame von Herrschaft wird ja gerade in dem Strukturellen gesehen, darin, daß das Gemenge aus Institutionen, Technik, instrumentell verkürzter Normativität etc. als Verhärtung und Starre ausgemacht wird, so daß ihm einzig durch Bewegung als Prinzip beizukommen ist. Die Gewalt des Systems — das sind dessen Trägheitsmomente, die sich geschichtlichen Veränderungen widersetzen, weil sie bewegungslos machten und darin den vorwärtsdrängenden Anspruch des Bedürfnisses einschnürten. Im Gewaltbegriff wird der Gegensatz von Herrschaft und Subjektivität konzentriert zusammengefaßt, um die Notwendigkeit der Revolutionierung beider durch eine Praxis der Bewegung zu verdeutlichen. 2. Ist zunächst die Gewaltenrede umgangssprachlicher Natur, Verfremdung des Gegebenen im Medium von Sprachpolitik, eine Definitionsstrategie, verfolgt sie entsprechend der Herrschaftskritik vor allem auch, wenn man so will, analytische Zwecke. Sie zielt noch in der Übersetzung von Herrschaft in Gewalt darauf, das hinter den Verfahrenstechniken und institutionellen Handlungs- und Normen47

S. W. Süss, Anm. 1, S. 96 ff.

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mustern sich Verbergende freizulegen wie die Führungseliten und deren Willen zur Macht, das Knechtschaftsverhältnis des Kapitals, den effektiven Nutzen des Mannes, die Ausschlußpraxis der Rationalität, den Vorteil der Atomindustrie oder der Hausbesitzer sowie, um die geschichtliche Reihe zu vollenden, den Vorteil der Militärindustrien. Die Herrschaftsträger mögen im Angesicht des ihnen vorausgesetzten Herrschaftszusammenhangs und seiner Prinzipien nur „Charaktermasken" sein, sie werden gleichwohl als Nutznießer und als mit Willen begabte Subjekte ausgemacht, die ihre Machtstellungen und Privilegien gegen das Projekt der Emanzipation verteidigen werden. Von der Geschlechterproblematik einmal abgesehen, kommt an dieser Stelle notwendig die Staatsfrage, d. h. die unmittelbare politische Problematik hinein. Der Staat wird, in seinen institutionellen Machtpotentialen und seinem Regulierungsmedium, dem Recht, als der zentrale Organisator und als die Schutzmacht der je Mächtigen und Privilegierten gesehen. Allen Angehörigen von Protestbewegungen ist die Auffassung gemeinsam, daß der Rechtsstaat und der demokratische Staat vor allem dazu da ist, den gesellschaftlichen Machteliten zu dienen. Indem sich der Staat den Prinzipien von Herrschaft verpflichte, stütze er die Machteliten, die er zugleich tatkräftig unterstütze. Die unterstützende Rolle des Staates komme vor allem, auch darin stimmen alle Mitglieder außerparlamentarischer Oppositionen überein, in dem Recht des Staates auf das Monopol an der Gewalt zum Ausdruck. Die staatliche Gewaltressource wird als die eigentliche Verteidigungsbastion des Establishments, einschließlich des staatlich-politischen Establishments selbst gesehen. Hiernach mündet die Personalisierung und Lokalisierung von Herrschaft mittels sprachpolitischer Verfremdung in eine Staatsbestimmung ein, die dazu tendiert, staatliche Machtund Gewaltausübung im Hinblick auf die Herrschaftssicherung gleichzusetzen. Die sprachpolitische Gewaltrede schlägt hier in die Aussage um, daß die staatlich-politisch vermittelte Herrschaft in der Substanz auf Gewalt aufbaue. Hinter den Institutionen und dem Recht lauere schon immer die Gewalt, auf die die Institutionen und das Recht aufbauten. 48 3. Die Auffassung, daß der Staat den Mächtigen und Eliten dient, um deren Willen er der Staat der Gewalt sei, strahlt in einem

48

Vgl. etwa J. HIRSCH, Der Sicherheitsstaat, 1980.

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besonderen Maße auf das Demokratieverständnis oder die politische Bewertung der Mehrheit und der Mehrheitsregel 49 aus. Hier schwanken die Ansichten zwischen einer Gleichsetzung des elitären und des Mehrheitsstaates mit der Folge, daß eine Minderheit sich radikal gegen den gesellschaftlichen und politischen Gewaltzusammenhang absetzt, und einer Auffassung, derzufolge die Bindung der Mehrheit an den Staat der Eliten nur eine sehr lockere sei, so daß die Staatsgewalt nicht etwa in Mehrheitsgewalt übersetzt werden dürfe und daß entsprechend ein taktischer Spielraum bestehe, den es auszunutzen gelte. Es besteht kein Zweifel, daß die letztgenannte Auffassung von den Provokationstaktiken der Studentenbewegung bis zu den Spielarten des zivilen Ungehorsams sich überwiegend durchgesetzt hat. In der Regel wird die Verbindung zwischen der Staatsgewalt und den Mehrheiten als ein Verblendungszusammenhang gesehen, als Manipulation von oben und als Desinteressiertheit oder falsches Bewußtsein von unten. Auf jeden Fall gilt als sicher, daß die Bevölkerungsmehrheit unpolitisch-desinteressiert und ohne reale politische Erfahrung sei, eine Annahme, die für das Gewaltverständnis außerparlamentarischer Oppositionen von zentraler Bedeutung ist. Die außerparlamentarischen Oppositionen setzen dem Herrschaftszusammenhang ihre eigenen positiven Vorstellungen und Entwürfe entgegen. In ihrer breiten Basis bilden sich neue soziokulturelle Milieus und politische Praxisweisen heraus wie Wohngemeinschaften, auf Authentizität abzielende Diskussionsstile, sozial motivierte Projektarbeit, egalitär und kollektiv verstandene Praxisprojekte sowie politische Kleingruppenarbeit. Vor allem aber melden die Bewegungen Anspruch auf politisches Gehör und auf die Umsetzung der positiven Entwürfe in die Gesellschaft und mittels der Politik an. An dieser Stelle wird nun die negative Definition von Emanzipation entscheidend. Die politischen Institutionen erscheinen verstellt, die Bevölkerungsmehrheit wird für passiv und verblendet eingeschätzt und in der Macht wird die Staatsgewalt gesehen. In dieser Lage wird es gleichermaßen aussichtslos, sich über die vorhandenen Institutionen im Sinne einer Bündnispolitik den Mehrheiten zuzuwenden, wie die Gesellschaft frontal nach alten Revolutionsmustern des Barrikadenkampfes oder des bewaffneten Aufstan4 9 Begriff nach U. K. PREUSS, Politische Ordnungskonzepte für die Massengesellschaft, in: J. Habermas (Hrsg.), Anm. 38.

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des zur Eroberung von Machtzentren anzugreifen. Dafür gilt der Herrschaftszusammenhang in seiner Maschinenartigkeit als zu fest. Und dafür werden die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Protestierenden für zu gering gehalten. Was geht, das ist die begrenzte Konfrontation, der bewußt kalkulierte Konflikt, die Provokation, die Karrikatur von Gewalt, die Waffen durch Tomaten, Kampfgruppen durch Spruchbänder oder den Angriff auf Personen durch die Sachbeschädigung ersetzt. Daß dabei die Taktik des begrenzten Konflikts in einen Gewaltzusammenhang gerückt wird, hat vor allem auch mit der sicheren Gewißheit zu tun, daß die Staatsgewalt, d.h. Polizei, Justiz und Verfassungsschutz, auf den Plan treten wird, sobald Aktionen wie Demonstrationen, Verkehrsblockaden oder radikale Meinungsäußerungen sichtbar werden. Die Lektüre der Straf- und Polizeigesetze oder einfach die Erfahrung, die Oppositionen machen, erlaubten es, die Reaktionsweisen der Staatsseite in die eigenen Handlungskalküle einzubauen. Das Grundschema ist einfach und hat bis heute Geltung: Die begrenzte Regelverletzung provoziert die Staatsgewalt. Beides zusammengenommen macht den kalkulierten Konflikt aus. 4. Was versprechen sich außerparlamentarische Oppositionen nun aus diesem Konflikt? Warum setzen sie bewußt auf die Herausforderung der staatlichen Gewalt? Die Antwort hierauf ist im Grunde einfach: nämlich um Aufmerksamkeit zu erlangen, um nicht im Gestrüpp der Bürokratien hängen zu bleiben und um das sich uninteressiert-unpolitisch gebende allgemeine Publikum zu erreichen. Gelingt die demonstrative Wirkung nicht, dann wird man kaum Chance auf Gehör und damit auf Verallgemeinerung und Durchsetzung des eigenen, nämlich emanzipatorischen Gedankenguts haben. Dabei ist die spektakuläre Aufwertung von Aktionen zu Gewaltakten nur zum Teil den außerparlamentarischen Initiativen selbst geschuldet, denn sie haben es nicht zu verantworten, in welcher Weise die Staatsgewalt auf Provokationen eingeht, ob sie mit unverhältnismäßiger Härte vorgeht, wie beispielsweise im Juni 1967, oder eher mit Bedacht, wie im Herbst des Jahres 1983. Der außerparlamentarische Protest verfügt nur zum Teil über das Gesetz des Handelns. Die polizeilichen Gegenstrategien, die häufig auf eine bewußte Demonstration von staatlicher Stärke angelegt sind, spielen in dem Ringen um Aufmerksamkeit eine nicht unbedeutende Rolle, die aber, wie schon gesagt, bewußt in Rechnung gestellt wird, denn auf die Provo-

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kation verzichten, hieße im Selbstverständnis von Protestierenden, auf den außerparlamentarischen Konflikt als Medium von Emanzipation zu verzichten. Die der begrenzten Konfrontationsgewalt zugedachte Funktion, Aufmerksamkeit zu wecken, wird als Möglichkeit der Politisierung des Herrschaftssachverhalts und seiner Manifestationen angesehen. Politik durch Gewalt, wenn auch durch eine begrenzte, karikative, ethisch eingehegte oder exakt in Regeln formalisierte Gewalt — so lautet die taktische Formel. Und doch will sie so nicht verstanden sein, da sie sich ja gegen einen umfassenden Gewaltgebrauch absetzt, indem sie sich begrenzt. Die Berührung mit der Gewalt wird vielmehr in einer regelrechten Katalysatorfunktion zur Steigerung des politischen Gewichts und zur Kompensation der realen Ohnmacht gesehen. Erst die Berührung mit der staatlichen Gewalt stattet hiernach die Aktionen mit jener Intensität aus, die sie erst politisch machten. Der Politikbegriff der Bewegungsopposition ist zwar nicht auf eine Krawallmentalität reduzierbar, die der Gewalt um der Gewalt willen huldigte, aber er kommt ohne „den Katalysator" Gewalt nicht aus, womit er gegen die Gefahr des Abgleitens in eine Propaganda der Tat nur schwer gefeit ist. 5. Die Tendenz zur Überhöhung der sich selbst beschränkenden Gewalt steckt vor allem auch in der ihm zugedachten Symbolfunktion. Gewiß ist, daß Aktionen wie Verkehrsblockaden, Platzbesetzungen oder gezielte Sachbeschädigungen nicht unmittelbare Resultate der Veränderung zur Folge haben werden. Denn dies hieße, daß die Protestierenden ins Recht gesetzt und daß ihnen nachgegeben würde. Dies hieße, die Rechtmäßigkeit ihrer Aktionen einzugestehen. Die außerparlamentarischen Oppositionen gehen entsprechend so ziemlich von der gegenteiligen Erwartungshaltung aus, nämlich von dem Herrschaftssachverhalt und von einem desinteressierten Publikum. So geht es ihnen darum, zu demonstrieren, daß Handeln außerhalb der vorgesehenen politischen Kanäle notwendig und auch möglich ist. Symbolisiert werden soll diese Fähigkeit zur Gegenwehr gegen hierarchisch verstopfte Kanäle. Symbolisiert werden soll, daß nur unter Umgehung der Institutionen der parlamentarischen und rechtsstaatlichen Demokratie auf verschwiegene gesellschaftliche Skandale, wie etwa die Unterstützung von Militärdiktaturen oder die Umweltzerstörung, aufmerksam gemacht werden kann. Dabei werden die verschwiegenen Skandale, denen der Protest gilt, in der Regel als wichtig für die Allgemeinheit angesehen. Der kalku-

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lierte Rückgriff auf Konfrontationsgewalt beansprucht stets, Konflikte von allgemeinem Interesse aufzugreifen und sie mittels der Konfrontation der Allgemeinheit zum Bewußtsein zu bringen. In dem Maße, in dem diese Symbolisation des Allgemeinen an den jeweiligen Konfliktfeldern und zugleich als Symbolisation der Möglichkeit von Gegenwehr gelingt, kann — und das ist die Hoffnung aller außerparlamentarischen Oppositionen — zugleich Einsicht in den Herrschaftscharakter staatlicher Politik vermittelt werden, da sich die hervorgelockte Staatsgewalt dem „allgemeinen Guten", der Aufdekkung des allgemeinen Schlechten und seiner Änderung widersetzen wird. Konfrontationsgewalt will so Herrschaftsgewalt bloßlegen. Sie wird als ein Element von Aufklärung begriffen, die einsichtig machen will, daß zwischen der Herrschaftsmächtigkeit von Eliten und der allgemeinen Passivität der Wahlbürger ein politisch ausfüllbarer Handlungsspielraum existiert, den es im Interesse der Allgemeinheit auszufüllen gelte. An diesem Punkt schlägt jedoch Symbolgewalt immer wieder in pure Gewalt um. Und dies nicht so sehr, weil sie sich etwa, wie bisweilen geschehen, zur regelrechten und handfesten Schlacht ausweitet, sondern vielmehr, weil das Symbol gewissermaßen durch das eingesetzte Mittel der Konfrontation zum Verschwinden gebracht wird, weil es — als symbolisierte Konfrontation und als Prozeß der Gemeinschaftsstiftung — statt zur Rationalisierung zur Irrationalisierung von Politik tendiert. Nur nebenbei sei bemerkt, daß staatliche Gegenstrategien gerade hier ansetzen, indem sie die irrationalen Elemente gegen die Opponenten selbst zu kehren versuchen. 50 Nach innen, und das heißt im Hinblick auf die Oppositionsbewegungen selbst, gerät der Gewaltgebrauch indessen zu einer ähnlich symbolhaften Irrationalisierung von Politik. Der Gewaltgebrauch stiftet kollektive Identität nach dem Muster situativer und spektakulärer Gemeinschaftserlebnisse. So erhärtet die Konfrontationsgewalt das Selbstverständnis, anders zu sein als der schweigsame „Normalbürger". Sie bestätigt in einer Art seif fullfilling prophecy, wovon Oppositionsbewegungen ausgehen: den Status von Ausgegrenzten. Und hierin steckt viel an Verhärtungen, an Möglichkeiten, individuell wie kollektiv negative Identität auszubilden, kurz: das Projekt der Emanzipation in Regressivität zu verkehren. In den gewaltaufgeladenen Gemeinschaftserlebnissen steckt die Gefahr, daß Identitätsstiftung als Freund-Feind-Verhältnis moralisch organisiert wird. Wie 50

S. W. Süss, Anm. 1, S. 2 3 1 ff, 2 5 6 ff.

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weit diese Internalisierung von Freund-Feind-Schemata geht, hängt nicht zuletzt von den Handlungsweisen der mit der Wahrung des gesellschaftlichen Friedens beauftragten staadichen Kompetenzorgane ab.

IV. Zum politischen Bedeutungsgehalt außerparlamentarischer Oppositionen 1. Der Leitbegriff der Emanzipation, aber auch die „Gewaltrede" bergen Rezeptionsmuster von Wirklichkeit und Handlungskonzepte, die in ihrem politischen Bedeutungsgehalt keineswegs eindeutig zu bewerten sind. Es werden Widersprüche sichtbar, aufgrund derer eine Lagermentalität in der Beurteilung kaum vertretbar erscheint. Zu ihnen gehören die Kennzeichnung und Wahrnehmung des politischen Systems als eines geschlossenen Ganzen bei gleichzeitiger Hoffnung auf die Ausbildung von Gegenmachtstrukturen und den Konfliktaustrag, die Aufwertung der personalen Subjektivität als Ort und Potenz geschichtlichen Handelns und die Zurechnungen der personalen Subjekte der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu einer selbstentfremdeten oder entmündigten Masse, die Ausmalungen utopischer Zustände — sei es in den Emblemen des neuen Menschen oder der authentischen Kulturen — und die Einlassungen auf die innenpolitischen Szenerien, die Hinwendung zu den „Alltagsdimensionen" des Lebens, zu dem „Privaten" und die hohe Ideologieanfälligkeit, die starke Betonung des Inhaltlichen sowohl auf einem intellektuellen wie auf einem praktischen Niveau und die Zentrierung auf Formfragen. In allem zeigt sich, daß die außerparlamentarischen Oppositionen noch in der Abgrenzung zu dem politischen System der Positivität der gegebenen Gesellschaft, ihrem Freiheitsbekenntnis, ihrer Konfliktfähigkeit und nicht zuletzt ihrer Alltäglichkeit — wenn auch uneingestanden oder unbewußt - verhaftet sind. Die höhere Gerechtigkeit, die Protestbewegungen für sich reklamieren, erinnert in Vielem an ein Rechtsbewußtsein, das aus Sorge und Empörung ergeht, das sich in der Auseinandersetzung beweisen und das in der Suche nach den Wurzeln von Problemen aufklären will. Es ist in der Substanz keine in unhinterfragbaren Wahrheitsentwürfen oder Heilslehren sich fundierende und insofern prinzipiell intolerante, weil die reine Negation verkörpernde Abgrenzung von den Prinzipien und Kräften des Konsensus. Die Protestbewegungen und subkulturellen Milieus sind Suchbewegungen, die sich im Medium des Öffentli-

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chen und auf dem Feld des Politischen gewissermaßen ständig neu erschaffen. Sie zeichnen sich nachgerade durch ihren politischen Bewegungscharakter aus, indem sich eher ein Konfliktverständnis im Sinne Dahrendorfs, als eine Umsturztechnik im Sinne Trotzkis oder Gramscis oder aber auch Che Guevaras und Mao tse-tungs äußert. Sie sind weit eher Ausdruck einer „unruhigen Gesellschaft" (Klages), denn Organisatoren eines freiheitsnegierenden Systems, wie es die Väter der Verfassungsmilitanz noch vor Augen hatten. 2. Allein — dem Konfliktbegriff ist so wenig seine politische Qualität anzusehen wie seinem Gegenüber, dem Ordnungsbegriff. Das „der Konflikt" dem gesellschaftlichen Wandel immanent ist, gehört ebenso sehr zur Grunderkenntnis der modernen Sozialwissenschaften wie die Einsicht in die Notwendigkeit seiner konstitutionellen Einhegung. Die Versuche, beide Komponenten systematisch aufeinander zu beziehen, wie dies insbesondere im Werk Ernst Fraenkels zum Ausdruck kommt 51 , gehören zu den Höhepunkten in der Ausbildung einer politischen Identität der zweiten Republik, wobei indes einzugestehen ist, daß sie angesichts der Polarisation des „Parteienstaates" und der Beschränkung des Pluralismus auf einen Pluralismus mächtiger Institutionen die Wirklichkeit der politischen Kultur der Bundesrepublik nur wenig erreicht und durchdrungen haben. Insofern werden die Bemühungen, im Angesicht der außerparlamentarischen Oppositionen das Faktum einer Erneuerung der politischen Kommunikation und ihrer Legitimationsmuster wenigstens forschungsstrategisch zu behaupten 52 verbindlich, doch scheint mir die Behauptung einmal mehr zu modisch vorgetragen, zu sehr von der politischen Konjunktur der ersten Hälfte dieses Jahrzehnts, von Gesichtspunkten der politischen Taktik im Umgang zwischen Sozialdemokraten und den Grünen einerseits, der Kritik an der konservativen Regierungsmacht andererseits, bestimmt. Sollte die hier vorgeschlagene methodische Vorgehensweise der Reduktion der vielen außerparlamentarischen Oppositionen auf einen Oppositionstypus stichhaltig sein, so ist die Gleichsetzung von Konflikt und Reifegrad der politischen Kultur aus einer Reihe von Gründen strikt zurückzuweisen. Stattdessen ist an den Form-, wie an den Inhaltsbestimmungen 51

S. P. MASSING, Interesse und Konsensus, 1979.

52

S. J. HABERMAS, A n m . 1 7 ; U . K. PREUSS, P o l i t i s c h e V e r a n t w o r t u n g u n d B ü r -

gerloyalität, 1984.

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außerparlamentarischer Oppositionen gleichermaßen ein großes Fragezeichen anzubringen. Nach der Formseite ist zwar die Ausbreitung einer sogenannten basisdemokratischen Kommunikationskultur in Ansätzen zu erkennen, doch haben die außerparlamentarischen Oppositionen politische Wirksamkeit stets in und mittels der Form des Massenprotests, einschließlich seiner provokativen Aspekte, entfaltet. Die „Bewegungsform" ist konstitutiv und sie hat sich im Verhältnis zu den Institutionalisierungsansätzen stets als dominant, weil einheits- und identitätsstiftend erwiesen. Und Bewegung ist immer auch formlos und für Formgebung wenig geeignet. Sie ist nicht imstande, den Mangel einer neuen Formkultur zu kompensieren, aus der sich die große Bedeutung der Bewegung erst ergibt. So ist es kein Zufall, daß die Überwindung der organisierenden Kraft der Bewegung in die Parteiform und in die Parlamentarisierung und damit insgesamt in die Form der Ausdifferenzierung von Wählern und Gewählten, von Basis und Kadern führt. An diesem Punkt aber geht es um die geschichtliche Existenz des neuen Oppositionstypus selbst. Seine Parlamentarisierung mag ihn zum Verschwinden bringen, während seine Bewegungsnatur ihn mit einem Mythos der Stärke umgibt, der weder einer sozialen, noch einer machtpolitischen Wirklichkeit entspricht. Nach der Inhaltsseite ist vor allem die wenig ausgebildete gesellschaftliche und soziale Reflexivität in den Bestimmungen von Emanzipation auffällig. Es wird zwar alles gedacht, wie Urs Jaeggi bemerkt 53 , nur kommt der gesellschaftliche Zusammenhang in seiner komplexen Vermitteltheit kaum in den Blickpunkt. Fragen der Arbeitswelt, der Ökonomie, der sozialen Schichtung, des Nebeneinander verschiedener Generationen, der Verschiedenheit zwischen individuellen und milieuhaften Moralbeständen, von einem Normenganzen, der Relevanz des Rechts und der Notwendigkeit zentralisierender Ordnungsfunktionen und -instanzen werden kaum angeschnitten oder stehen unverbunden neben den Großthemen Familie, Erziehung, Sexualität, Konsum, Freizeit, Umweltschutz, Technik, Krieg, Kultur und Psyche. Der Zustand dokumentiert nicht allein den begrenzten Erfahrungshorizont der außerparlamentarischen Oppositionen, sondern darüberhinaus und wesentlicher noch die große Distanz zu jener Wirklichkeit, in der sich die Mehrheit der Bevölkerung befindet. Die 53 U. JAEGGI, Notizen an Stelle eines Aufsatzes über die neuen französischen Theorien und ihre bundesdeutsche Rezeption, in: Konkursbuch 5, 1 9 8 0 .

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Erfahrungsunreife macht sich als ein Erfahrungsgegensatz geltend oder als eine Verkürzung des Allgemeinen, für das die außerparlamentarischen Oppositionen einstehen, eine Verkürzung, die dann je ideologisch modisch und vor allem moralisch zu überdecken ist. In dieser widersprüchlichen Einheit aus selektiver Wirklichkeitswahrnehmung und der Tendenz zu ihren Kaschierungen liegt einigermaßen stringent der elitäre Grundzug, der den außerparlamentarischen Oppositionen seit den 60er Jahren anhaftet. 3. Die wenig ausgereiften Inhalts- und Formbestimmungen geben der außerparlamentarischen Opposition zunächst ein beinahe naives Gepräge, so daß wenig Anlaß bestünde, ihr ein allzu großes politisches Gewicht beizumessen. Mißt man die Oppositionen an ihren Selbsteinschätzungen als Kraft der Veränderung, der Authentizität und der Gegenmacht, so kann nur eine völlige Selbstüberschätzung festgestellt werden. Zudem sind die außerparlamentarischen Oppositionen den systemtragenden Kräften der Großparteien, des Staates und der Verbände hinsichtlich ihrer Politikfähigkeit, ihrer Organisations-, Thematisierungs- und Bindungspotenzen hoffnungslos unterlegen, obgleich sie von jenen Problemen zehren, die die Großinstitutionen aus Interessiertheit und Trägheit liegenlassen. Indessen erschöpft sich der politische Bedeutungsgehalt der Oppositionen nicht in der Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit und keineswegs in ihrem Minderheitenstatus. Als Minderheiten sind sie den Eliten und Funktionären anderer Definitionsmächte des Politischen insoweit strukturell verwandt, als sie im Konkurrenzkampf um Ideen und Konzepte, um Problemidentifizierungen und Meinungsbildungen teilnehmen; dies jedoch mit der entscheidenden Differenz, daß sie statt auf programmatische Abbildungen des Status quo und auf Teil- wie Zwischenlösungen sowohl auf die Änderung als Prinzip, als Prozeß der ständigen Negation, und darin zugleich auf eine Frontstellung gegen den Konsensus, auf eine Taktik der Desintegration aus sind, wenigstens so lange ein monistisches Gesellschaftsbild und eine existentialistische Bedürfnis- und Subjektkonzeption vorherrschen. Die abstraktiven und polaren Bestimmungen von Emanzipation weisen die Tendenz auf, daß sie die Kritik an schlechten Zuständen latent in die Revolutionsromantik eines Bewegungskultes verlängern, die sich vom „Gewaltzusammenhang des Ganzen" trennen will, indem sie sich dem Ganzen konfrontiert. Symptomatisch steht hierfür die mühelose Übersetzbarkeit von Herrschaft in Gewalt oder auch das Widerstandsselbstverständnis der letzten modischen

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Welle. Daß Gewalt als Moment der Emanzipation wie selbstverständlich genommen wird, statt als ihr — wenn vielleicht auch notwendiges — Gegenteil begriffen zu sein, dies stimmt skeptisch. Findet hiernach nicht doch das Konzept der „Friedensstiftung durch präventive Staatsgewalt" in seinen beiden Hauptkomponenten, dem starken Staat und der Friedloslegung von Feindschaft, gerade angesichts des neuen Oppositionstypus erneut eine unbedingte Bestätigung? Einmal abgesehen davon, daß angesichts der Machtrealität diese Frage rhetorischer Natur und von nur wissenschaftlichem Interesse ist, und daß der demokratische Rechtsstaat sehr viel komplexere Regularien bereitstellt, zögere ich, die Aufrechterhaltung des Militanzkonzeptes zu bejahen, da es mittels der Wertlehre jene Ideologisierungen und Polarisierungen stets mit hervorgebracht hat, die es bekämpfen wollte. Nicht zuletzt hat die Verfassungsmilitanz dazu verholfen, zwischen den politischen Hauptkräften der Bundesrepublik, dem Konservatismus und der Arbeiterbewegung, den Graben von Freund-Feind-Verdächtigungen, diesen Ursprung verhängnisvoller deutscher Geschichte, immer auf's Neue zu reproduzieren. Die Verfassungsmilitanz hat, trotz ihrer unbestreitbaren Erfolge, zu viele Narben hinterlassen, als daß es angemessen wäre, sie als Lösung für das Bestehen weiterer — und wie es scheint, angesichts von Massenarbeitslosigkeit und tiefen Identitätskrisen weitaus bedrohlicher — Herausforderungen zu empfehlen. Da aber vorerst eine Alternative fehlt und da es Grund gibt, sich verhängnisvoller Anfänge zu erwehren, bleibt mir nur die Empfehlung, die inhaltlichen und organisatorischen Herausforderungen der außerparlamentarischen Oppositionen ernstzunehmen, sie nicht in die taktischen Kalküle des Machterhalts aufzusaugen, sondern ihnen im Sinne einer Erweiterung der politischen Kommunikationskultur und der inhaltlichen Problemdefinitionen stattzugeben.

Wann schlagen politische Protestbewegungen in Terrorismus um? Lehren aus der Erfahrung der 70er Jahre

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I. Demokratie und Protestgewalt Der vergleichenden Forschung zur politischen Gewalt verdanken wir die Erkenntnis, daß Demokratien im allgemeinen anfälliger für illegale Gewaltausschreitungen sind als autokratische Herrschaftssysteme. Dies liegt nach E. Zimmermann, einem der deutschen Hauptvertreter dieses Ansatzes, an den günstigen Bedingungen, die rechtsstaatlich-parlamentarische Demokratien für die Mobilisierung, Organisation und Artikulation von Protestbewegungen bieten, sowie an dem sparsamen Gebrauch, den die Regierungen von den verfügbaren repressiven Zwangsmitteln machen. 1 Die schonungslose Unterdrükkung abweichender politischer Meinungen und jeder Art von Protest, die in autoritären Regimen praktiziert werde, sorge dafür, daß dort politische Konflikte nur selten offen ausbrächen, während sie in Demokratien eine chronische Begleiterscheinung des politischen Prozesses seien. Aufgrund dieser kontinuierlichen Entladung sich aufstauender Aggressionen könnten andererseits die Spannungen in demokratischen Systemen auf einem vergleichsweise niedrigen Niveau gehalten werden, das die grundlegenden politischen Konsens- und Legitimitätsmuster nicht berühre. Dagegen sei in autoritär regierten Staaten damit zu rechnen, daß die nur ausnahmsweise zutagetreten-

1 E. ZIMMERMANN, Demokratie und Protest, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd.LXVI, 1980, N o . 2 , S. 2 2 3 - 2 3 8 . Vgl. auch DERS., Massenmobilisierung. Protest als politische Gewalt, 1983, insbes. S. 9 0 ff.

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den Regungen politischen Unmuts sich rasch zu einem prinzipiellen, systemsprengenden Konflikt ausweiten würden. „Illegale Gewalt" meint dabei jede Art violenten politischen Aufbegehrens, auch den Terrorismus. So kam T. Gurr in einer insgesamt 87 Länder umfassenden Untersuchung in den 60er Jahren zu dem Schluß, diese extreme Form politischer Protestgewalt sei in den entwickelten europäischen und lateinamerikanischen Ländern mit einer rechtsstaatlich-demokratischen Verfassung häufiger anzutreffen als in den übrigen Teilen der Erde, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Insurgenten, was die Konsequenzen ihres radikalen Vorgehens betreffe (und hier unterscheidet sich ihre Situation grundlegend von der der Anarchisten Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts), kein großes persönliches Risiko eingingen.2 Im allgemeinen handle es sich um kleine Gruppen (Durchschnittsgröße: 5—25 Mitglieder), die keinen Rückhalt in breiteren Bevölkerungsschichten hätten, weshalb ihr verhängnisvolles Wirken auch meist zeitlich begrenzt sei. Der bekannte Terrorismusforscher W. Laqueur betont ebenfalls, terroristische Anschläge würden überwiegend von Kleingruppen ausgeführt, die für die jeweilige Gesellschaft in keiner Weise repräsentativ sein müßten. 3 Gurr, Laqueur und Zimmermann sind sich darin einig, daß der Terrorismus ein Übel sei, mit dem westliche Demokratien leben müßten, das man schwer vorhersehen und kaum effektiv bekämpfen könne. Je höher der allgemeine Pegel politischer Protestgewalt in einer Gesellschaft sei, desto eher müsse mit terroristischen Aktionen kleiner Splittergruppen gerechnet werden, die sich durch die allgemeine rebellische Stimmung zu besonders aggressivem Vorgehen ermuntert fühlten. Ein Blick auf die zurückliegenden 2 0 Jahre bundesrepublikanischer Geschichte scheint diese Auffassung zu bestätigen. Der westdeutsche Staat wurde Mitte der 60er Jahre zum Schauplatz einer vehement gegen die bestehende Ordnung aufbegehrenden Studentenbewegung (zu der es im autoritär regierten ostdeutschen Staat kein Pendant gab), der in den 70er Jahren eine anhaltende Serie terroristischer Überfälle, Attentate und Entführungen folgte. Gegenwärtig ist die politische Landschaft erneut durch eine Vielfalt 2 T. R. GURR, Some Characteristics of Political Terrorism in the 1960s, in: M. Stohl (Hrsg.), The Politics of Terrorism, 1983 2 , S. 2 3 - 4 9 ; s. auch M. STOHIV BELL/J. BOWYER, Terrorism and Revolution in America, in: H.D.Graham u. T. R. Gurr (Hrsg.), Violence in America. Historical und Comparative Perspectives, 1979, S. 3 2 9 - 3 4 7 . 3

W . LAQUEUR, T e r r o r i s m u s , 1 9 7 7 , S. 1 8 0 .

Wann schlagen politische Protestbewegungen in Terrorismus um?

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außerhalb der etablierten Institutionen operierender Gruppen und Bewegungen geprägt, denen eine äußerst kritische Haltung gegenüber den traditionellen Strukturen und Formen politischer Willensbildung gemeinsam ist. Kann es da nicht nur eine Frage der Zeit sein, bis sich erneut einige besonders radikale Individuen in kleinen Zirkeln zu dem Zweck zusammenfinden, mit bewaffneten Aktionen gegen ein in ihren Augen mit irreparablen Defiziten belastetes System vorzugehen, um es durch eine gerechtere, humanere etc. Ordnung zu ersetzen? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage bildet den Inhalt dieses Aufsatzes. Vorweg ist jedoch einzuräumen, daß, gleichviel wie unsere Antwort als Tendenzaussage ausfallen wird, in keinem Fall terroristische Einzelanschläge für die Zukunft definitiv auszuschließen sind. Ist es schon an sich ein schwieriges Unterfangen, mit dem Instrumentarium der Sozialwissenschaften Prognosen aufstellen zu wollen, so gilt dies vermehrt für den Bereich politischer Violenz, wo Zufälle und unvorhersehbare Entwicklungen eine Schlüsselbedeutung erlangen können und sich kollektive Emotionen mit individuellen Motiven in kaum nachvollziehbarer Weise kurzschließen. 4 Insoweit behält die Aussage der drei zitierten Autoren, terroristische Aktionen seien in rechtsstaatlich-liberalen Demokratien jederzeit möglich, auch für die Zukunft dieses Staates ihre uneingeschränkte Gültigkeit. Eine andere Frage ist hingegen, ob erneut eine ganze Serie von terroristischen Attentaten über uns hereinbrechen kann, ob also jederzeit mit einem zweiten terroristischen Feldzug gerechnet werden muß. Falls es zutrifft, daß Demokratien zu solchen Feldzügen gewissermaßen einladen, wie läßt es sich dann erklären, daß Länder mit demokratisch-pluralistischer Staatsordnung wie Schweden, Holland, Frankreich und England im vergangenen Jahrzehnt von Terrorkampagnen verschont geblieben sind, obwohl zwei von ihnen (Holland und Frankreich) eine stürmische Jugend- bzw. Studentenrevolte erlebten? Stellt der Terrorismus — worunter, es sei nochmals betont, im folgenden eine Reihe koordinierter Gewaltaktionen, nicht vereinzelte

4 Trotz der Zurückhaltung, die gegenwärtig in den Sozialwissenschaften hinsichtlich prognostischer Aussagen geübt wird, dürfte klar sein, daß sie sich auf die Dauer nicht einer solch zentralen Aufgabe entziehen können, ohne viel von ihrer wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit einzubüßen. Zur Bedeutung des Zufallselementes bei Gewaltanschlägen vgl. F. NEIDHARDT, Über Zufall, Eigendynamik und Institutionalisierbarkeit absurder Prozesse. Notizen am Beispiel einer terroristischen Gruppe, in: H. v. ALEMANN/H. P. THURN (Hrsg.), Soziologie in weltbürgerlicher Absicht, Festschrift für René König, 1981, S. 2 4 3 - 2 5 7 .

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Anschläge verstanden werden — wirklich ein über den Demokratien hängendes Damoklesschwert dar, das jederzeit herabfallen kann? Schon die zugespitzte Form der Frage deutet darauf hin, daß hier ein Standpunkt vertreten wird, demzufolge sich durchaus Bedingungen formulieren lassen, unter denen Terrorismus als Serienphänomen mehr oder weniger erwartbar ist. Dieser Standpunkt beruht auf gewissen theoretischen Vorentscheidungen, die über die Prämissen der Untersuchungen von Gurr und Laqueur hinausgehen. Erstens wird davon ausgegangen, daß terroristische Aktionen, selbst wenn sie nur auf den Entschluß einiger weniger zurückgehen, durchaus symptomatische Bedeutung für eine Gesellschaft haben. 5 Wenngleich Terroristen und ihre Anhänger sicher nicht repräsentativ für die Mehrheit einer Bevölkerung und deren Einstellung sind, so folgt daraus doch nicht, daß aus ihrem Verhalten keinerlei Rückschlüsse auf allgemeinere gesellschaftliche Spannungen und Problemlagen gezogen werden könnten. Warum sollte für diese Phänomene eine Ausnahme von der Regel gelten, daß gerade Krisen, Extremsituationen und die gesellschaftlichen Reaktionen darauf einen Blick auf die zentralen normativen Bestandsvoraussetzungen eines Gemeinwesens und — eng damit verbunden — auf Strukturschwächen und kollektive Unsicherheiten freigeben können, wie er in „normalen" Zeiten nicht möglich ist? Wenn aber Terrorkampagnen etwas über die Strukturprobleme einer Gesellschaft aussagen, dann sollte es umgekehrt auch möglich sein, aus gesellschaftlichen Konfliktverläufen Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Auftreten terroristischer Gruppen abzuleiten. Verschiedene Gesellschaftstypen bringen verschiedene Typen von Terroristen hervor, und auch der Zeitpunkt, zu dem mit terroristischer Gewalt gerechnet werden muß, ist nicht derselbe. Um ihn näher bestimmen zu können, ist es unumgänglich, Terrorismus von anderen Formen rebellischen politischen Verhaltens sorgfältig abzugrenzen. 6 Dies ist eine zweite Vorentscheidung, die wir treffen. 5 „Sozialwissenschaftlich ist der Terrorismus als Symptom interessant, das etwas über den Zustand der Gesellschaft aussagt, und als solches ist er aufzuschlüsseln." H. STEINERT, Sozialstrukturelle Bedingungen des „linken Terrorismus" der 70er Jahre, in: ders./F. Sack ((Hrsg.), Protest und Reaktion. Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/2, 1984, S. 3 8 8 . Ähnlich auch G. Schmidtchen, der vom Terrorismus als Anlaß zu einer politischen Selbstdiagnose spricht. G. SCHMIDTCHEN, Jugend und Staat, in: ders./U. Matz, Gewalt und Legitimität. Analysen zum Terrorismus, Bd. 4/1, 1983, S. 106 ff, 2 5 0 . 6 Typologien verschiedener Formen gewaltsamen politischen Protests werden

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Vor allem scheint es uns notwendig, eine klare Trennungslinie zwischen gewaltsamen Demonstrationen und vergleichbaren Varianten relativ „harmlosen" aufrührerischen Verhaltens einerseits und dem Terrorismus als klandestiner, hochorganisierter und extrem aggressiver Form revoltierender Violenz andererseits zu ziehen. Ihr Auftreten auf dieselben Bedingungen zurückführen zu wollen, wie dies gelegentlich geschieht, hieße alle jene Motivationsunterschiede vernachlässigen, welche Protestakteure zur Wahl der einen oder der anderen Gewaltstrategie veranlassen. Es fehlt dann nur noch ein kleiner Schritt zur Annahme eines fließenden Ubergangs zwischen ihnen: so, als sei die Bereitschaft zu außerlegalem Protestverhalten ein einmaliger Entschluß, der, wenn er einmal getroffen ist, auch die Anwendung äußerst brutaler, den Verlust von Menschenleben implizierender Durchsetzungsmethoden abdeckt. Demgegenüber wird in den folgenden Ausführungen unterstellt, daß Teilnehmer an Protestbewegungen durchaus zwischen verschiedenen Härtegraden der Vorgehensweise differenzieren und deshalb im Zuge der Gewalteskalation nicht allmählich in den Terrorismus hineinschlittern, sondern auch selbst diesen letzten Schritt als einen qualitativen Sprung empfinden. Die Frage der Beziehung zwischen Aufruhrbewegung und illegalen Demonstrationen einerseits, terroristischer Vorgehensweise andererseits führt direkt in die Diskussion über die Hintergründe und Entstehungsursachen des Linksterrorismus in der Bundesrepublik hinein. War doch einer der zentralen Streitpunkte, um den nicht nur Wissenschaftler, sondern aus durchsichtigen Schuldzuweisungsgründen vor allem auch Politiker rangen, der, ob der Terrorismus die zwangsläufige Konsequenz, das zu erwartende Produkt der Studentenbewegung war („Vollzugsthese"), oder ob er gerade auf das unverhoffte Scheitern derselben zurückzuführen war („Frustrationsthese"). 7 Für beide Ansichten gibt es gewichtige Gründe, die im einzelnen in den fünf Bänden „Analysen zum Terrorismus" nachzulesen sind, dem materialreichen Ergebnis einer vom Innenministerium in Auftrag gegebenen Untersuchung des Phänomens durch ein interdisziplinäres Wissenschaftlerteam. Ein wenig erinnert die Auseinandersetzung an jenen u. a. entwickelt in: T. R. GURR, Why men rebel, 1970; E. ZIMMERMANN, Krisen, Staatsstreiche und Revolutionen, 1981; P. WALDMANN, Politische Strategien der Gewalt, 1978. 7 Die beiden Begriffe stammen von U. Matz; vgl. U. MATZ, Über gesellschaftliche und politische Bedingungen des deutschen Terrorismus, in: ders./G. Schmidtchen, Gewalt und Legitimität, s. Anm. 5, S. 16—103, S. 28.

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über hundert Jahre zurückliegenden Disput zwischen K. Marx und A. Tocqueville darüber, ob Revolutionen als Folge extremer Verarmung (Frustrationsthese) oder stetig wachsenden Wohlstands und entsprechend steigender Erwartungen (Vollzugsthese) eintreten. Wir halten es in dieser Kontroverse mit J. C. Davies, der sich für keine der beiden Theorien entscheiden konnte, sondern sie zu einer Synthese verknüpfte 8 ; mit anderen Worten: unsere Hypothese lautet, daß der Terrorismus sowohl in der Studentenbewegung, und insbesondere in den durch sie geweckten Erwartungen, als auch in ihrem jähen Scheitern seinen Ursprung hat. Im nächsten Abschnitt wird folglich auf die Züge des Terrorismus eingegangen, die in der Studentenbewegung angelegt waren. Ein dritter Abschnitt spürt der Entstehung des Terrorismus aus dem Niedergang der Studentenbewegung nach. Abschließend wird zu überlegen sein, welche prognostischen Schlüsse sich aus der Untersuchung der APO der 60er Jahre hinsichtlich der Möglichkeit der Entstehung einer zweiten terroristischen Welle aus der aktuellen Protestbewegung ziehen lassen.

II. Kontinuitätslinien zwischen Studentenbewegung und Terrorismus Wenn nunmehr auf Merkmale der terroristischen Gruppen hingewiesen wird, die schon in der Studentenbewegung angelegt waren, so soll damit nicht behauptet werden, daß diese Merkmale durch die Aktivisten um Mahler und Meinhof oder die Bewegung 2. Juni direkt von den rebellierenden Studenten übernommen worden seien. Gegen die Annahme eines solch nahtlosen Übergangs spricht allein schon die übersteigerte, verzerrte Form, in der sie Eingang in die Parolen und das Verhaltensrepertoire der Terroristen fanden. Sie tauchten dort auf einer höheren Intensitätsebene auf und veränderten damit ihre Qualität. Deshalb halten wir es für angebracht, von Kontinuitätslinien oder Parallelen zu sprechen, was die Frage der Kausalzuschreibung offen läßt. Bei einer kritischen Durchsicht der psychologischen Theorien zum 8 Eine neuere Fassung der bereits zu Anfang der 60er Jahre entwickelten Theorie enthält der bereits erwähnte Sammelband über Gewalt in den USA. Vgl. J. C. DAVIES, The J-Curve of Rising and Declining Satisfactions as a Cause of Revolution and Rebellion, in: H. D. Graham/T. R. Gurr (Hrsg.), Violence in America, 1979, S. 415—436. Näheres dazu am Schluß des dritten Abschnitts.

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Terrorismus hat A. Schmidt vor kurzem auf den Schlüsselmechanismus der Identifikation aufmerksam gemacht. 9 Die Fragen, mit wem sich die Terroristen identifizieren und wer in der Bevölkerung dazu bereit ist, sich mit ihren Aktionen zu identifizieren, liefern ein gutes Ausgangskriterium, um die verschiedenen Typen des Terrorismus voneinander abzugrenzen. Vor allem läßt sich eine klare Unterscheidung treffen zwischen der Gewalt ethnischer Minderheiten, etwa der Nordiren und Basken, die auf die Befreiung der eigenen Bevölkerungsgruppe und Region von fremder Vorherrschaft abzielt, und dem Sozialrevolutionären Terrorismus studentischer und intellektueller Splittergruppen in hochentwickelten Industrieländern, der der Befreiung eines „als interessiert unterstellten Dritten" (Münkler) gelten soll, sei es der Arbeiterklasse des eigenen Landes, sei es der „unterdrückten und ausgebeuteten Massen" in der Dritten Welt. 10 Der Terrorismus der 70er Jahre in der Bundesrepublik ist eindeutig der zweiten Kategorie zuzuordnen. Seine Protagonisten empfanden bekanntlich nur Haß und Verachtung für den eigenen Staat; sie schämten sich Deutsche zu sein, wie Mahler es formulierte 11 , da in ihren Augen Deutschland und die Deutschen durch die Greueltaten des Nationalsozialismus eine kaum wiedergutzumachende Schuld auf sich geladen und es zudem nach dem Krieg versäumt hatten, sich hinreichend von der jüngsten Vergangenheit zu distanzieren (Faschismusvorwurf). Diese Negation der eigenen Gesellschaft und ihrer politischen Ordnung bildete die ins Extrem gesteigerte Wiederholung einer Haltung, die in Grundzügen bereits von den rebellierenden Studenten entwickelt worden war. Die konkreten Anlässe und Themen, an denen sich die zunehmend pointierte Ablehnung des eigenen Systems und seiner politischen Repräsentanten durch die Studenten entzündet hatte, waren in außenpolitischer Hinsicht der Vietnamkrieg und das Palästinenserproblem, in der Innenpolitik vor allem der Zusammenschluß der beiden großen Parteien zur Großen Koalition, 9 A. P. SCHMID, Political Terrorism. A Research guide to concepts, theories, data bases und literature, 1983, S. 195. Dieser Band, eine Kombination aus Nachschlagewerk, kommentierter Bibliographie und systematischer Studie, hebt sich durch seine Gründlichkeit und Unvoreingenommenheit vorteilhaft von den meisten Publikationen zum politisch belasteten Thema Terrorismus ab. 1 0 Zu dieser Unterscheidung siehe P. WALDMANN, Artikel „Terrorismus", in: M. G. SCHMIDT (Hrsg.), Westliche Industriegesellschaften, Bd. 2 des (von D. Nohlen hrsg.) Wörterbuchs zur Politik, 1983, S. 4 2 7 ff. Den Begriff des „als interessiert unterstellten Dritten" prägte H. Münkler, Guerillakrieg und Terrorismus, in: Neue politische Literatur, 25. Jg., 1980, Nr. 3, S. 2 9 9 - 3 2 6 .

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die geplante Notstandsgesetzgebung und der Tod eines demonstrierenden Studenten durch Schüsse aus einer Polizeipistole. Es war kein Zufall, daß ausgerechnet Berlin zum Experimentierfeld und Zentrum der neuen Bewegung wurde, jene Stadt, die aufgrund ihrer Lage am Schnittpunkt zwischen den beiden internationalen Machtblöcken nur partiell in den westdeutschen Staat integriert ist. Am Beispiel Berlins läßt sich allerdings auch deutlich machen, daß die Begeisterung, die die Anhänger der neuen Oppositionsbewegung für Ho Chi Minh, Che Guevara und andere Freiheitshelden ferner Länder der Dritten Welt entwickelten, nicht das Bedürfnis nach Anlehnung an eine nahe, konkret faßbare Bezugsgruppe ausschloß, die ihnen das Gefühl sozialer Zugehörigkeit und Geborgenheit vermittelte. Es entstand dort in einigen Stadtvierteln ein eigentümliches, unverwechselbares studentisches Milieu in Form eines subkulturellen Netzwerks von Wohngemeinschaften, Kneipen, Kinos und sonstigen Treffpunkten, die sich insbesondere den aus der Bundesrepublik zugezogenen Studenten als eine Art Ersatzheimat anboten. 12 Hier wurde ihr Bedürfnis nach Verortung und Orientierung auf handfestere Weise befriedigt als durch politische und ideologische Kampfparolen. Politische Protestbewegungen, dies ist eine gängige Ansicht bei Praktikern und Theoretikern, müssen wenigstens zwei Funktionen erfüllen: Sie müssen die offiziellen kollektiven Ziele zu erreichen suchen (instrumenteller Aspekt), und sie müssen den emotionalen Wünschen der Mitglieder Rechnung tragen (expressiver Aspekt). Die Koordination der beiden Handlungszwecke wirft oft Schwierigkeiten auf. 13 Im Falle der studentischen Protestbewegung war der Abstand 1 1 A.JESCHKE, W. MALANOWSKI (Hrsg.), Der Minister und der Terrorist. Gespräche zwischen Gerhart Baum und Horst Mahler, 1 9 8 0 , S. 1 4 ff; vgl. auch die Bemerkung „ B o m m i " Baumanns, eines ehemaligen Terroristen: „ . . . ich fühle mich immer noch als Teil einer Bewegung, die das Glück außerhalb dieser Gesellschaft sucht", in: DERS., Wie alles anfing, 1 9 7 5 , S. 1 0 9 . 1 2 Dies wird vor allem von D. Ciaessens und Karen de Ahna in einer sehr detaillierten Studie im Rahmen der Terrorismusanalysen herausgearbeitet. D. CLAESSENS, K. DE AHNA, Das Milieu der Westberliner „Scene" und die „Bewegung 2. Juni", in: W. v. Baeyer-Katte u. a., Gruppenprozesse. Analysen zum Terrorismus, Bd. 3, 1 9 8 2 , S. 2 0 - 1 8 1 . 1 3 Vgl. etwa J. Wilson, Introduction to Social Movements, 1 9 7 3 , S. 1 9 4 ff und S. 3 0 0 f, der an anderer Stelle (S. 3 0 3 ) darauf hinweist, daß auch das Überengagement einiger Mitglieder zum Problem für die Bewegung werden kann. Sicher kann man heute aus der Rückschau sagen, das terroristische „Überengagement" habe sich als eine schwere Hypothek für die Linke in der BRD erwiesen.

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zwischen den proklamierten Zielen — Engagement für die Dritte Welt und gegen den faschistischen Staat - und den uneingestandenen — Befriedigung des Bedürfnisses nach Gemeinschaft, Zusammenhalt und Bestätigung — so groß, daß die Aufrufe und Ansprachen ihrer Führer oft merkwürdig zweideutig, fast unwahrhaftig wirkten. Demselben Zwiespalt begegnen wir erneut, in grotesk übersteigerter Form, in den Verlautbarungen und dem Handeln der Terroristen: in ihrem Anspruch, den Imperialismus bekämpfen, sich als Störfaktor im Kopf des „kapitalistischen Ungeheuers" 14 einnisten zu wollen, um den um ihre Befreiung ringenden Völkern der Dritten Welt zu Hilfe zu kommen, einem Anspruch, von dem die Realität weit entfernt war, da sich alle ihre Energien darauf konzentrierten, getötete Genossen zu rächen oder inhaftierte Genossen freizupressen, also die eigene Gruppe zu erhalten. Erst mit der Erklärung der eigenen Gruppe zum „revolutionären Subjekt" fand eine gewisse Versöhnung der beiden Pole statt, fielen Motiv und Zielsetzung der Anschläge zusammen. Die Diskrepanz zwischen propagierter Fremdgruppenorientierung und faktischer Hinwendung zur Eigengruppe wurde zugedeckt durch ein kompliziertes Gebäude von Theorien und Schlagwörtern, die die Begründung für das Aufbegehren gegen Staat und Gesellschaft lieferten. Auch in diesem Punkt besteht eine unübersehbare Kontinuität zwischen der Studentenbewegung und dem Terrorismus, den Neidhardt einmal als eine besonders redselige Form der Kriminalität bezeichnet hat. 15 Gemeinsam waren ihnen zunächst die Themen und Perspektiven: der Faschismusvorwurf an die Adresse des bundesrepublikanischen Staates, die Kritik am Imperialismus der Industrieländer und der Ausbeutung der Dritten Welt, die Zurückweisung der Leistungsgesellschaft, die Aufwertung von Randgruppen und Intellektuellen zur revolutionären Avantgarde, Einstellungsmuster und Hand-

1 4 Die genaue Formulierung lautet: „Wenn wir den Kapitalismus als menschenfressendes Ungeheuer erkannt haben, müssen wir, die wir im Kopfe dieses Ungeheuers hausen, zu allererst und unter allen Umständen seine Nervenzentren durcheinanderbringen und dürfen nicht darauf warten, bis ihm jene die Zähne ausgebrochen haben, die gerade gefressen werden", zit. n. K. HOBE, Zur ideologischen Begründung des Terrorismus, 1 9 7 9 , S. 2 5 . 1 5 F. NEIDHARDT, Große Wirkungen kleiner Reize - symbolisch vermittelt. Zur Soziologie des Terrorismus. Vortrag auf dem Deutschen Soziologentag in Dortmund, 1 1 . Okt. 1 9 8 4 . Z u r Ideologie der terroristischen Gruppen vgl. vor allem die ausgezeichnete Analyse von I.FETSCHER U.A., Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders./G. Rohrmoser, Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus, Bd. 1, S. 16—270.

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lungsimperative, die ihren integrierenden Rahmen in der intensiven Neubeschäftigung mit den Lehren von K. Marx fanden. Bemerkenswerter als die Übereinstimmung in den Inhalten scheint uns, sowohl bei den Studenten als auch später bei den Terroristen, die Art und Weise zu sein, wie marxistisches Gedankengut ausgelegt wurde, da sie eine zunehmende Radikalisierung und Abschottung gegenüber der Realität begünstigte. Zur Radikalisierung der studentischen Oppositionsbewegung trug ein allmählich immer deutlicher zutagetretendes Denken in undifferenzierten Schwarz-Weiß-Schablonen bei, das zu einer einseitigen Negativporträtierung der politischen Gegner führte, weiterhin die Neigung, politische Auseinandersetzungen zu Wertkonflikten hochzustilisieren, bei denen Prinzipien, nicht Interessen auf dem Spiel stünden, weshalb jeder Kompromiß abzulehnen sei. Vor allem in der Eskalationsphase nach dem Tod des Studenten B. Ohnesorg (Juni 1967) häuften sich Äußerungen von Studentenführern, in denen Reformangebote der Gegenseite als Defensivmanöver des in die Enge gedrängten kapitalistischen Staates interpretiert wurden, der einer drohenden Revolution zuvorkommen wolle. Die Neigung zur Abschottung gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit läßt sich an den damals gängigen Schlagworten von der „repressiven Toleranz", der „demokratisch-rechtsstaatlichen Fassade" des Staates oder vom „manipulierten Bewußtsein" der Arbeiter erkennen, die sich durchweg auf empirisch nicht überprüfbare Phänomene beziehen. Einzelne staatliche Reaktionen, die geeignet waren, die eigene Sichtweise zu stützen (z. B. brutale Übergriffe der Polizei bei Demonstrationseinsätzen) wurden verallgemeinert, während politische Maßnahmen und Strukturen, die nicht zu dem vorgefertigten Bild von Staat und Gesellschaft passen wollten, als Verschleierungsakt oder vordergründiger Schein abgetan wurden. Die eigenen Einsichten wurden im Stile eines elitären Heilswissens verkündet, das keinen Widerspruch duldete und auf allgemeinverständliche Begründungen verzichten konnte. Es kann angenommen werden, daß der Terrorismus von Studenten und Intellektuellen, die aus einem Mittelschichtmilieu stammen, in dem Gewaltanwendung hochgradig tabuisiert ist, in besonderem Maße einer rechtfertigenden Ideologie bedarf. 16 Wenn dies zutrifft, dann hat die Studentenbewegung mit der Reduzierung komplexer Strukturen auf ein dichotomes Freund-Feindschema und der Uminterpretation der historischen Lage der BRD zu einer vorre16

I . F E T S C H E R , S. A n m . 1 5 , S . 2 2 f .

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volutionären Situation den nachfolgenden Terroristengruppen einen wichtigen Vorbereitungsdienst erwiesen. Die in der Ideologie der Studentenbewegung angelegte Möglichkeit der Immunisierung gegenüber der gesellschaftlichen Wirklichkeit war u.a. bedingt durch die weitgehende Isolierung eines Großteils der Studenten von der übrigen Bevölkerung. Wie bereits angedeutet, war dieser Zug besonders ausgeprägt in Berlin, wo sich eine regelrechte studentische Gegenkultur herausbildete, doch auch in anderen bundesdeutschen Universitätsstädten war es üblich, daß Studenten überwiegend untereinander verkehrten und nur sporadisch soziale Kontakte mit anderen Schichten und Gruppen pflegten. 17 Dies führte zu einer weitgehenden Abschirmung der jeweils in der Studentenschaft vorherrschenden Meinungsströmungen und Stimmungen gegen Einwände von außerhalb der Universität. Doch auch innerhalb derselben sorgte ein komplizierter Jargon der Aktivisten der Bewegung dafür, politisch Andersdenkende abzuschrecken, so daß die ohnedies bereits Engagierten durch zirkuläre Kommunikation ständig in ihren Ansichten bestätigt wurden. Paradoxerweise leitete die Studentenbewegung einen Gutteil ihrer Legitimation als Oppositionsgruppe aus dem Umstand her, in ihrem Widerstand gegen den angeblich drohenden faschistischen Unrechtsstaat relativ isoliert dazustehen, ohne nennenswerte Unterstützung durch andere soziale Gruppen — auch dies ein Denkmuster, das bei den Terroristen in übersteigerter Form wiederkehren sollte. Die Parallelen zwischen Studentenbewegung und terroristischen Gruppen erstrecken sich weiter auf die von beiden gewählte Taktik der Provokation, wobei sogleich auf die qualitativen Unterschiede in der Reizintensität der jeweiligen Aktionen hinzuweisen ist: im einen Fall handelte es sich um Verbalangriffe, individuelle und kollektive Demonstrationen, Sachbeschädigungen, die gelegentlich zu körperlichen Konfrontationen mit der Polizei ausarteten, im anderen um gezielte Angriffe auf Leib und Leben Dritter. Die jeweils zugrundeliegende Logik des intendierten Vorgehens war jedoch die gleiche. In beiden Fällen ging es darum, den Gegner durch die Verletzung bestimmter Schutz- und Verhaltensnormen aus seiner Reserve herauszulocken, ihn zu Überreaktionen zu veranlassen und damit bloßzustellen. 18 1 7 K. R . ALLERBECK, Soziologie radikaler Studentenbewegungen. Eine vergleichende Untersuchung in der Bundesrepublik Deutschland u. den Vereinigten Staaten, 1 9 7 3 , S. 2 2 4 ff. 18 Zur Taktik der begrenzten Regelverletzung (einschl. der Gefahr ihrer „Ent-

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Auch der Stellenwert der eingesetzten Mittel, waren es nun Spruchbänder oder Attentate, ist vergleichbar. Ihre Wirkung war primär als eine symbolische gedacht und zwar in doppelter Hinsicht: zum einen zielten sie generell gegen die Legitimität der bestehenden politischen und gesellschaftlichen Ordnung, auch wenn vordergründig einzelne Richter, Polizisten oder Politiker angegriffen wurden; zum anderen sollte ein Signal für ein mit den gegenwärtigen Verhältnissen zutiefst unzufrieden vorgestelltes Publikum gesetzt und dieses zu Widerstand und Aufruhr ermuntert werden. Die Vergleichbarkeit läßt sich sogar auf die Haltung der Provokateure ausdehnen, sobald der Staat tatsächlich die erwarteten und erhofften repressiven Maßnahmen ergriff, sich also in ihren Augen als „Gewaltstaat" entpuppte. Sowohl Studenten als auch Terroristen reagierten mit großer Entrüstung darauf, daß sie im Zuge der Auseinandersetzung mit dem staatlichen Sicherheitsapparat wiederholt Verletzungen und Verluste in den eigenen Reihen hinnehmen mußten. Ihr Verhalten erweckt den Eindruck, als hätten sie mit der „Strategie der Herausforderung" vor allem sich selbst überfordert, ein Befund, der Steinert in seiner vergleichenden Untersuchung dazu veranlaßt, von einem typisch deutschen Hang zur „Empfindlichkeit" zu sprechen (wobei er sich allerdings nicht nur auf die Studenten, sondern auch auf die Polizei und die öffentliche Meinung bezieht). 19 Die herausgestellten Parallelen zwischen rebellierenden Studenten und Terroristen mögen nicht zuletzt daher rühren, daß es zwischen ihren Rollen, rein formal betrachtet, einige auffällige Gemeinsamkeiten gibt. 20 Dazu zählt u.a. deren ganzheitlicher, die Wahrnehmung von Nebenrollen weitgehend ausschließender Charakter, die freie Disposition über die eigene Zeit, die weitgehende Reduzierung der Beziehungen auf gleichartige Rollenträger, all dies Züge, die für arbeitsteilige Industriegesellschaften durchaus untypisch sind. Handelt es sich dabei auch nur um äußerliche Merkmale, so darf ihre Bedeutung doch nicht unterschätzt werden. Wenn unter den Terroristen in der westlichen Hemisphäre Studenten weit überrepräsentiert sind und sich ihnen Fabrikarbeiter nur sublimierung") vgl. die subtilen Ausführungen bei H. STEINERT, s. Anm. 5, S. 4 3 9 ff. Zur Eigenart terroristischer Vorgehensweise siehe D.FROMKIN, Die Strategie des Terrorismus, in: M. Funke (Hrsg.), Terrorismus. Untersuchungen zur Strategie und Struktur revolutionärer Gewaltpolitik, 1977, S. 83—99. 15

H . STEINERT, S. A n m . 5 , S . 5 4 9 .

Die für Industriegesellschaften untypischen Züge der studentischen Rolle wurden vor allem von K. R. ALLERBECK, S. Anm. 17, S. 2 2 1 ff, herausgearbeitet. 20

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ausnahmsweise anschließen, so liegt das sicher auch daran, daß es für einen an den industriellen Leistungs-, Kontroll- und Zeitrhythmus gewöhnten Arbeiter kaum möglich ist, den Absprung in die ganz anders strukturierte Rolle des Untergrundkämpfers zu finden. Als Folge dieser einseitigen Zusammensetzung weisen terroristische Gruppen, insbesondere jene in entwickelten Industriegesellschaften, zahlreiche Stilelemente einer ins Pathologische überspitzten, studentisch-intellektuellen Teilkultur auf. Dazu zählen u. a. geistige Abkapselung und ein genereller Hang zum Elitären, ein ausgeprägter Voluntarismus und bis zum Anarchismus gehender Individualismus sowie hohe moralische Ansprüche, die sowohl an das eigene Verhalten als auch an das der Umwelt gestellt werden. Die beschriebenen Züge der studentischen Rebellion, an die der Linksterrorismus anknüpfen konnte, waren weder in der vielgestaltigen, sich dezentral entfaltenden Studentenbewegung durchgängig vorhanden, noch bildeten sie eine Konstante studentischen Handelns. Vielmehr stellten sie ein Potential dar, das sich je nach Situation und Gang der Ereignisse unterschiedlich entwickelte. Damit es in übersteigerter Form Eingang in den Terrorismus fand, bedurfte es eines doppelten Prozesses: Zunächst der Eskalierung der studentischen Protestwelle als Resultat teils ihrer Erfolge, teils des "Widerstandes, dem sie begegnete, und dann ihres jähen Stillstands und allmählichen Niedergangs, der die Aktivisten zwang, sich andere Tätigkeitsfelder zu suchen. Diese zweifache Dynamik bildet den Gegenstand des nächsten Abschnitts.

III. Der Terrorismus, ein Zerfallsprodukt der Studentenbewegung Am raschen Aufschwung und der Radikalisierung der Studentenbewegung hatte, wie inzwischen allgemein gesehen wird, das Verhalten der Polizei einen maßgeblichen Anteil. Wie ein Teilnehmer der eskalierenden Ereignisse vom Juni 1967 in Berlin es ausdrückte: „Daß der Staatsapparat linke Studenten zum Gegner machte, ermächtigte sie, sich als Subjekte des Aufruhrs zu begreifen. Zuvor waren die Rempeleien auf dem Kurfürstendamm fast noch familiär. Doch plötzlich war der Schleier zerrissen, politische Kategorien wurden zurechtgerückt und traten aus ihrer Blässe in das grelle Licht der Alltagsrealität — Konterrevolution, Machtgesichtspunkte, Klassenfeind. Das war in seiner Klarheit neuartig. Es rief bei den Linken mehr Verblüffung als

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Schock hervor." 2 1 Während das intendierte Ziel der harten polizeilichen Maßnahmen die rechtzeitige Eingrenzung der Bewegung durch Abschreckung von Mitläufern und noch Unentschiedenen war, bewirkten sie tatsächlich das Gegenteil, nämlich die Solidarisierung immer breiterer Teile der Studentenschaft mit den Protestierenden. 22 Die studentische Opposition griff ab Sommer 1967 von Berlin auf andere Universitätsstädte in der Bundesrepublik über und gewann an öffentlicher Resonanz. Dem spontanen Engagement der Studenten lag ein Gefühl der Betroffenheit zugrunde sowie der moralischen Empörung über die UnVerhältnismäßigkeit der Mittel, mit denen die staatlichen Sicherheitskräfte gegen unterlegene Demonstranten vorgingen. Es bestach die Plausibilität der von den Studentenführern beschworenen Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, darüberhinaus schien diese Art der Parteinahme für die akademische und berufliche Zukunft des einzelnen ein geringes Risiko mit sich zu bringen. Auch hatte die rasch um sich greifende rebellische Stimmung Züge eines Modetrends; viele schlössen sich an, weil sie das Gefühl der Macht oder eines bislang nicht gekannten Zusammenhalts genossen. Die Wortführer der Bewegung hatten angesichts der raschen und unkontrollierten Expansion derselben zusehends Koordinierungsschwierigkeiten. Zugleich ließen sie sich jedoch, beeindruckt von dem mühelosen Erfolg und den sich damit eröffnenden Perspektiven, zu immer radikaleren Formulierungen und weiterreichenden Forderungen hinreißen. Um so deprimierender wirkte auf sie und alle übrigen Protagonisten das plötzliche Abebben der Protestwelle ab Sommer 1968 und die generelle Lähmung, die die Bewegung von diesem Zeitpunkt an erfaßte. 23 Dabei ist dieser scheinbar grundlose Niedergang nicht so überraschend, wenn man sich einige strukturelle Begrenzungen ins Gedächtnis ruft, die studentischer Politik allgemein und damit auch 21

Z i t . n . D . CLAESSENS U. K . DE AHNA, S. A n m . 1 2 , S. 7 8 .

Allgemein wird dieser Eskalierungsmechanismus angesprochen bei S. KARSTEDT-HENKE, Soziale Bewegung und Terrorismus: Alltagstheorien und sozial wissenschaftliche Ansätze zur Erklärung des Terrorismus, in: E. Blankenburg (Hrsg.), Politik der inneren Sicherheit, 1980, S.201 ff; vgl auch J.WILSON, Social Protest and Social Control, in: Social Problems, Vol. 2 4 , 1976/77, S. 4 6 9 - 4 8 1 . 2 3 Zu den verschiedenen Phasen der Studentenbewegung und insbes. ihrer Entwicklung nach 1968 siehe G. LANGGUTH, Die Protestbewegung in der Bundesrepublik Deutschland 1 9 6 8 - 1 9 7 6 , 1976, S. 3 9 ff. Ein Phasenschema der Entwicklung des Linksterrorismus enthält der Aufsatz von H.HESS, Terrorismus und Terrorismus-Diskurs, in: Kriminologisches Journal, Jg. 1983, Nr. 2, S. 8 9 - 1 0 9 , S. 101 f. 22

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einer von Studenten getragenen Oppositionsbewegung gesetzt sind. Dazu gehört die Tatsache, daß Studenten diese Rolle nur transitorisch, allenfalls 5—8 Jahre lang, innehaben, und daß zudem während dieser Zeit Phasen aktiven Studiums mit Phasen alternieren, in denen diese Rolle „ruht". Eng damit zusammen hängt eine hohe Fluktuation der Führer, deren Mandat schon deshalb zeitlich begrenzt ist, da auch sie eines Tages daran denken müssen, sich auf einen akademischen Abschluß vorzubereiten. Der hohe Mitgliederumsatz in der Studentenbewegung wirkt sich insgesamt hinderlich auf ihre Institutionalisierung aus; die ausgebliebene institutionelle Verfestigung macht sich wiederum besonders nachteilig bemerkbar, wenn das eigentliche Mobilisierungsstadium vorüber ist. Auch spielt hier erneut herein, daß das politische Engagement der Studenten im allgemeinen weniger hochschulinternen Problemen als Themen von übergreifender politischer und moralischer Relevanz gilt. Ist dieser „selbstlose" Zug auch einerseits sympathisch und vielleicht zu begrüßen, so liefert doch andererseits der fehlende Konnex zu manifesten Eigeninteressen und deren Durchsetzung studentische Bewegungen vermehrt flüchtigen, emotionsgeprägten kollektiven Stimmungen aus. Schließlich fällt in diesem Kontext, zumindest für die Bundesrepublik, die relative Isolierung der studentischen Opposition ins Gewicht. Die mangelnde Einbindung in ein Netzwerk von Allianzen ließ die APO, als ihre mobilisierende Kraft erlahmte, schnell in sich zusammensinken. Insgesamt kann man sagen, daß gerade jene Züge, welche der Studentenbewegung besondere Vitalität und Attraktivität verliehen, nämlich Spontaneität und Einfallsreichtum, fehlende zentrale Steuerung und Flexibilität, zugleich ihre Verwundbarkeit begründeten und in der Niedergangsphase die Tendenzen zur Zersplitterung und Selbstentmachtung beschleunigten. Die Vermutung, Studentenbewegungen tendierten, strukturell bedingt, zu Instabilität und jähem Zerfall, bestätigt sich durch einen Blick auf andere westliche Länder, in denen die studentische Opposition ebenfalls genauso schnell abebbte, wie sie zunächst zugenommen hatte. Dennoch haben weder Frankreich und Holland noch Großbritannien oder Spanien ein terroristisches Nachspiel zu den Studentenunruhen erlebt. 24 2 4 S. hierzu den vergleichenden Sammelband von K. R. ALLERBECK U. L. R o SENMAYR (Hrsg.), Aufstand der Jugend? Neue Aspekte der Jugendsoziologie, 1971. In Spanien entstand zwar ebenfalls 1 9 6 9 eine terroristische Bewegung (die ETA),

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Was also ist das Besondere an der deutschen Situation, das neben vielen anderen Versuchen, aus der Sackgasse des Scheiterns herauszufinden („Marsch durch die Institutionen", d. h. Eintritt in die Verwaltung oder eine der etablierten Parteien, Gründung neuer linker Kaderparteien, Rückzug in die Alternativszene, Werben und Wirken für linke Ideen im privaten Kreis), eine kleine Gruppe der Dissidenten den Weg in den bewaffneten Untergrund nehmen ließ? Bei der Beantwortung dieser Frage sollen individual-psychologische Gesichtspunkte zunächst ebenso vernachlässigt werden wie „zufällige" Ereignisse und situative Faktoren. Wir konzentrieren uns auf die strukturellen Gründe, die das insbesondere vom politischen System ausgehende Reintegrationsangebot (1969 wurde die sozial-liberale Koalition gebildet) für einige besonders tatendurstige und ungeduldige Mitglieder der Protestbewegung als wenig attraktiv erscheinen ließ. Es handelt sich teilweise um dieselben Gründe, die bereits das Aufkommen und Anwachsen der Studentenrebellion begünstigt hatten, nur daß sie, angesichts der enorm gesteigerten negatorischen Intensität des terroristischen Vorgehens, eine zusätzliche Brisanz gewannen. Vor allem drei sind zu nennen: Der erste ist eine — inzwischen durch das Auftreten der Grünen etwas aufgelockerte — Rechtslastigkeit des politischen Parteienspektrums in der Bundesrepublik, die linken Dissidenten die Möglichkeit versperrte, sich in einer für sie akzeptablen, nicht völlig im Abseits stehenden Partei zu engagieren. 25 Vergleichende Untersuchungen zur politischen Protestgewalt bestätigen, wie sehr die Radikalisierung politischer Außenseitergruppen davon abhängt, ob ihnen die Chance einer legalen Mitwirkung am politischen Prozeß gewährt wird oder nicht. Es darf nicht vergessen werden, daß die Karriere des SDS als Führungskraft innerhalb der außerparlamentarischen Opposition in dem Augenblick begann, als seine Mitglieder aus der SPD ausgeschlossen wurden. Ein anderes Beispiel aus Südamerika: Die Gründung der uruguayischen Guerillaorganisation „Tupamaros" geht auf eine der Sozialistischen Partei Uruguays nahestehenden Gruppe von Studenten und Intellektuellen zurück, die sich erst dann zum bewaffneten Kampf entschloß, als jede verfassungskonforme Möglichkeit politischer Einflußnahme durch das von den beiden führenden ParTrägergruppe waren jedoch nicht die Studenten, sondern die unter Franco besonders hart unterdrückten Basken. 2 5 F. NEIDHARDT, Soziale Bedingungen terroristischen Handelns. Das Beispiel der „Baader-Meinhof-Gruppe" (RAF), in: W. v. Baeyer-Katte u. a., s. Anm. 12, S. 3 1 8 - 3 9 1 , S. 3 3 4 f ; K . R . A L L E R B E C K , S. A n m . 1 7 , S. 2 1 5 ff.

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teien gebildete Machtkartell von vornherein ausgeschlossen war. 26 Andererseits beweist der Fall Frankreich, daß starke Linksparteien auch bei einem sehr vehement sich äußernden studentischen Protest ein Korrektiv bilden, mit dessen Hilfe die Aktivisten abgeschöpft und die Entstehung eines anarchistischen Terrorismus verhindert werden kann. Ein zweiter Grund für das Abgleiten einiger Mitglieder der studentischen Opposition in den Terrorismus war das Fehlen eines tragfähigen intellektuellen und politischen Gegenmilieus, das die Ungeduld und Verzweiflung der besonders auf eine „Propaganda der Tat" drängenden Rebellen abgeschwächt und neutralisiert hätte. 27 Gewiß, es gab in den Universitätsstädten eine linke Szene, in der ein gesellschaftskritischer Jargon üblich und fast obligatorisch war, von der Ciaessens und Neidhardt zu recht sagen, sie hätte die Aktivisten gebremst, ein Ausbrechen in reine Gewalttätigkeit tendenziell verhindert. Es gab daneben eine durch das Zusammenwirken bestimmter Schriftsteller, Wissenschaftler und Massenmedien (wobei vor allem der „Spiegel" zu nennen ist) sich herausbildende, kritische öffentliche Meinung, die das aufmüpfige Verhalten der Studenten mit Anteilnahme und Beifall verfolgte. Insgesamt fehlte dem allmählich Konturen annehmenden Substrat eines gesellschaftlichen Gegenmilieus aber noch die Festigkeit, Kohäsion und vor allem die Selbstsicherheit, die erforderlich gewesen wäre, um die auf bewaffneten Widerstand abzielenden Impulse radikaler Splittergruppen aufzufangen und das Geschehen nicht nur zu kommentieren, sondern indirekt, durch Beschneidung von Auswüchsen, zu steuern. Man wird einwenden, es hieße die gesellschaftlichen Bindekräfte überfordern, wollte man ihnen die Verantwortung dafür aufbürden, daß keine mit Gewalt gegen den eigenen Staat sich wendenden Splittergruppen entstehen. Dagegen würden wir noch einmal ins Feld führen, daß sich die Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft besonders in extremen Situationen und gegenüber extremistischen Gruppen beweist. Dieses Argument scheint uns auch für den dritten Grund einschlä26 P. WALDMANN, Vergleichende Bemerkungen zu den Guerillabewegungen in Argentinien, Guatemala, Nicaragua und Uruguay, in: K. Lindenberg (Hrsg.), Lateinamerika. Herrschaft, Gewalt und internationale Abhängigkeit, 1982,

S. 1 0 3 - 1 2 4 , S. 1 1 9 .

27 So auch H. STEINERT, s. Anm. 5, S. 545; tendenziell eher die gegenteilige Auffassung vertritt H. M. KEPPLINGER, Gesellschaftliche Bedingungen kollektiver Gewalt, in: KZfSS, Jg. 1981, Nr. 3, S. 469-503.

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gig zu sein, der hier für die Aussonderung des Terrorismus als Differenzierungsprodukt der Studentenbewegung angeführt wird: die Legitimitätsdefizite des westdeutschen Staates, hinter denen letztlich ein schwaches Selbstbewußtsein, fehlende Sicherheit und fehlende Souveränität der politisch-gesellschaftlichen Eliten der BRD stand. 28 Die Ursachen dieser Schwächen sind bekannt und sollen deshalb nur stichwortartig aufgezählt werden: Traditionsmangel, Diskreditierung der Führungsschichten durch den Nationalsozialismus, die Teilung Deutschlands nach dem Weltkrieg. Nur mühsam ließ sich das entstandene Identitäts- und Legitimitätsvakuum durch die Übernahme einer repräsentativ-demokratischen Verfassung, die enge Anlehnung an die westliche Schutzmacht USA (verbunden mit einem rigorosen Antikommunismus), die Betonung von Wohlstand, Sicherheit und Friedenswillen überbrücken. Bedeuteten diese politisch-gesellschaftlichen Wertorientierungen für jene, die selbst das Hitlerregime, die Weltkriegskatastrophe und die anschließende materielle Not miterlebt hatten, verdienstvolle Errungenschaften, so ließen sie die bereits in wirtschaftlich sicheren Verhältnissen aufgewachsene Nachkriegsgeneration weitgehend „kalt". 2 9 Ihr fiel vor allem die einseitige Ausrichtung der Bundesrepublik auf die westliche kapitalistische Ordnung sowie die teilweise Diskrepanz zwischen propagierten Leitwerten und politischem Realverhalten auf. Wir haben bereits darauf hingewiesen, daß für die deutschen Terroristen, mehr noch als für andere westliche Terroristengruppen, die Negation ihrer nationalen Identität und die Übernahme einer Sprecherrolle für Drittgruppen kennzeichnend war. Darin spiegelte sich eine Störung der Beziehung zu dem Gemeinwesen, aus dem sie stammten, wie sie in vergleichbar scharfer Ausprägung nicht in Frankreich, wohl auch nicht in Italien gegeben war. Wenn sich eine Splittergruppe angesichts der Alternative, einzulenken oder den Kampf mit brutaleren Mitteln fortzuführen, für den letzteren Weg entschied, so brachte sie damit vor allem unzweideutig zum Ausdruck, daß sie sich innerlich völlig von Staat und Gesellschaft gelöst

2 8 Dieser Sachverhalt wird in fast allen Untersuchungen der Ursachen des Terrorismus herausgestellt, Vgl. etwa die kurzen, treffenden Bemerkungen S.SCHEERERS zur Hypostasierung der inneren Sicherheit, in: F. Sack/H. Steinert (Hrsg.), s . A n m . 5 , S. 4 6 9 ff. 2 9 Der Gesichtspunkt des Generationskonflikts wurde vor allem herausgearbeitet von H . FOGT, Politische Generationen. Empirische Bedeutung und theoretisches Modell, 1 9 8 2 , insbes. S. 1 3 5 ff.

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hatte und folglich durch nichts mehr davon abzuhalten war, mit aller Energie auf deren Zerstörung hinzuwirken. Fehlte es an Bindekräften, um die in den Untergrund abdriftenden Gewaltakteure in der Gesellschaft zu halten, so gab es andererseits eine Reihe von Stimuli, die sie auf einen Kurs zunehmender Radikalisierung drängten. An erster Stelle sind hier die nach dem raschen Anschwellen der Protestbewegung hochgeschraubten Erwartungen zu nennen, man stehe unmittelbar vor einer Revolutionierung der bestehenden Verhältnisse. Diese Erwartungen als Illusion erkennen, einsehen, daß man den von der Bewegung ausgehenden Veränderungsdruck überschätzt hatte, hätte einen Rückfall in Perspektivenlosigkeit, „den alten bürgerlichen Sumpf" (H.J. Klein), bedeutet, was auf alle ehemals Engagierten abschreckend wirken mußte, einigen von ihnen aber geradezu unerträglich war. 30 Diesen wenigen mochte es um so wichtiger erscheinen, sich nicht in der Weiterverfolgung der ursprünglichen hochgesteckten Ziele beirren zu lassen, als die politischen Führungseliten zahlreiche ihrer einstigen Gesinnungsgenossen durch Reform- und Karriereversprechungen abwarben. Zu dem Stolz, sich durch Kompromißangebote nicht korrumpieren zu lassen, gesellte sich die Überzeugung, in einer Phase allgemeinen Abbröckeins das idealistische Banner hochhalten zu müssen. Die von der Studentenbewegung benützte Taktik begrenzter Regelverletzungen war offenbar an ihre Grenzen gestoßen, eine allgemeine Völkserhebung nicht in Sicht 31 ; deshalb blieb in den Augen dieser radikalen Splittergruppe nur die Option des bewaffneten Kampfes aus dem Untergrund heraus übrig, um eine rasche Zuspitzung der Lage zu erreichen. An Ressourcen und Vorbildern mangelte es nicht, die diesen Kampf nicht von vornherein aussichtslos erscheinen ließen. Zum einen gab es die breite Schar von linken Mitstreitern in der Bewegung, von denen anzunehmen war, daß sie entweder unmittelbar an den Gewaltanschlägen mitwirken oder diese zumindest durch die Gewährung von Unterschlupf, Übermittlung von Information und 3 0 H . J . KLEIN, Rückkehr in die Menschlichkeit. Appell eines ausgestiegenen Terroristen, 1979, S. 28. Zur abrupten Enttäuschung der hochfliegenden Erwartungen siehe auch die Passagen im Aufsatz von J. BECKER, Case Study I: Federal Germany, in: D. Carlton/C. Schaerf (Hrsg.), Contemporary Terror, Studies in SubState Violence, 1981, S. 1 2 2 - 1 3 8 , S. 124. 31 Wie M . Murck nachwies, wurde das Vorgehen des Staates gegen die Terroristen von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt, die eher noch härtere Maßnahmen befürwortet hätte. M . MURCK, Soziologie der öffentlichen Sicherheit, 1980, S. 148 ff.

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ähnlichen logistischen Hilfsleistungen unterstützen würden. Zum anderen gab es ein weitverzweigtes Netz von Guerillagruppen anderer Länder, auf deren Erfahrungen und Modellen man aufzubauen hoffte. Weltweit beobachtbare Entwicklungen, wie die Maiunruhen in Frankreich von 1968, die Black-Panther-Bewegung in den USA, vor allem die zahlreichen, teil- und zeitweise mit beträchtlichem Geschick operierenden Guerillaorganisationen in Lateinamerika, schienen die Gangbarkeit und Erfolgsträchtigkeit des eingeschlagenen Gewaltweges zu bestätigen. Es fehlt noch an überzeugenden Versuchen, die Entstehung des Terrorismus als Ausfallprodukt der Studentenbewegung durch ein allgemeineres theoretisches Modell zu erfassen, was sicher auch daran liegt, daß der Niedergang und Zerfall von Protestbewegungen bislang generell sehr stiefmütterlich in der Literatur behandelt wurde. 32 Immerhin ist es erstaunlich, daß die Verbindung von Aufschwung und plötzlichem Abschwung der Bewegung noch niemanden auf den Gedanken gebracht hat, die bekannte Revolutionstheorie (J-KurvenTheorie) von J. C. Davies auf sie anzuwenden. 33 Dieser Politikwissenschaftler geht, verkürzt gesagt, davon aus, daß mit Gewalteruptionen vor allem dann zu rechnen sei, wenn auf eine längere Phase kontinuierlichen "Wirtschaftswachstums und entsprechender Steigerung des allgemeinen Wohlstands eine jähe Rezession folge. Denn, so sein Argument, der Prosperitätszuwachs erzeuge die Erwartung, man werde sich künftig immer mehr materielle Wünsche erfüllen können. Würden diese Erwartungen durch die wirtschaftliche Entwicklung durchkreuzt, so entstehe ein Frustrationsstau, der sich in aggressivem Verhalten Luft mache. Nun ist eine expandierende Bewegung nicht ohne weiteres mit einer expansiven Wirtschaft vergleichbar, auch ist zu bedenken, daß die eigentliche Aufschwungphase der Studentenbewegung relativ kurz dauerte (Juni 1967 bis Sommer 1968) und keineswegs kontinuierlich 3 2 H. FOGT, S. Anm. 29, S. 154. Die meisten allgemeinen Arbeiten über soziale Bewegungen schließen mit einem Kapitel über deren Institutionalisierung. Vgl. etwa O. RAMMSTEDT, Soziale Bewegung, 1978, S. 167 f. Da gescheiterte Bewegungen, wie das Beispiel der Studentenbewegung in der BRD beweist, ein für die Gesellschaft gefährliches Nachspiel haben können, verdient dieser Aspekt mehr Aufmerksamkeit. Einer der wenigen Autoren, die darauf eingehen, ist A. OBERSCHALL in dem Aufsatz: The Decline of the 1960s Social Movements, in: L. Kriesberg (Hrsg.), Research in Social Movements, Conflicts and Change, Bd. 1, 1978, S. 2 5 7 - 2 9 1 . 3 3 S. Anm. 8. Die deutsche Übersetzung einer früheren Fassung enthält K. v. BEME (Hrsg.), Empirische Revolutionsforschung, 1973, S. 1 8 5 - 2 0 4 .

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verlief, sondern von markanten Erfolgs- und Mißerfolgsereignissen geprägt war, weiter, daß die ersten terroristischen Aktionen erst geraume Zeit nach dem Scheitern der Bewegung durchgeführt wurden und schließlich, daß sie nur die Reaktion einer verschwindend kleinen Minderheit darstellten, während das Gros der Mitglieder der Bewegung die Enttäuschung auf andere Weise verarbeitete. Gleichwohl hat der beschriebene Prozeß ein entscheidendes Merkmal mit den von Davies studierten Fällen des Aufruhrs gemeinsam: auch hier wurden Erwartungen geweckt, deren Nichteinlösung in Gewaltaktionen mündete. Allerdings müßte das Davies-Modell, um auf Bewegungen, wie die hier untersuchte, anwendbar zu sein, hinsichtlich der Phaseneinteilung etwas modifiziert werden. 34 Kennzeichnend für die Studentenrebellion war, wie gesagt, eine schnelle Ausdehnung des Protestes, gefolgt von einer längeren Zerfallsphase, in deren Verlauf es u. a. zu terroristischen Anschlägen kam. Das Modell eines langen Aufschwungs und kurzen Abschwungs (deshalb die Bezeichnung J-Kurve = ^ T ) wäre folglich in Fällen dieser Art durch ein Modell des kurzen Aufschwungs und längeren Abschwungs zu ersetzen Zugleich müßte in Kauf genommen werden, daß der Zeitpunkt des Gewaltausbruchs weniger eindeutig bestimmt werden kann als in der klassischen Theorie von Davies, wo er kurz nach dem Abschwung liegt. Exkurs: Determinanten

der Selbstauslese

Obwohl terroristische Episoden, wie eingangs dargelegt, symptomatische Bedeutung für eine Gesellschaft haben und sich deshalb aus ihren Strukturen und Entwicklungen herleiten lassen, wird damit keineswegs ausgeschlossen, daß sie zugleich das Resultat individueller Karrieren und Entscheidungen sind. Daher ist zu fragen, ob Persönlichkeitskriterien auszumachen sind, die Aufschluß darüber geben, wie aus der Vielzahl enttäuschter Mitglieder der Protestbewegung der kleine harte Kern gewalttätiger Aktivisten hervorging. Bei den Bemerkungen zu dieser Frage konzentrieren wir uns erneut auf die Niedergangs- und Stagnationsphase der Studentenbewegung; frühere Erfahrungen und biographische „Belastungen" der Terroristen bleiben also außer Betracht. 35 3 4 Der Versuch, die Revolutionstheorie von Davies auf eine terroristische Vereinigung und ihre Anschläge anzuwenden, wurde von M. Laurendeau in Bezug auf den FLQ von Québec unternommen. Vgl. M. LAURENDEAU, Les Québécois violents, 1973 2 , S. 159 ff. 3 5 Sie werden eingehend untersucht in H.JÄGER U.A., Lebenslaufanalysen. Analysen zum Terrorismus, Band 2, 1981.

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Als Ausgangspunkt wird das Modell des Kalküls von Risiken und Belohnungen für Mitglieder sozialer Bewegungen genommen, wie es u. a. von A. Oberschall entwickelt wurde. 36 An sich ist die Erkenntnis trivial, daß jeder, der sich einer Gruppe bzw. Bewegung anschließt, dabei bewußt oder unbewußt Kosten und Nutzen dieses Schrittes miteinander vergleicht. Oberschall wies nun darauf hin, daß sich die Relation von Risiken und Belohnungen, die mit der Mitgliedschaft in einer Bewegung verbunden sind, je nach dem Entwicklungsstadium, in dem diese sich befindet, verändern kann. Beispielsweise hätten Bewegungen kurz nach ihrer Entstehung Mitgliedern in der Regel nur wenig zu bieten, würden aber viel von ihnen verlangen; später würde sich dieses Verhältnis zugunsten der an die Mitgliedschaft geknüpften Vorteile verändern usf. Dies hat zur Folge, daß Bewegungen in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung jeweils unterschiedliche Typen von Mitgliedern anziehen. 37 Wendet man dies auf die terroristischen Gruppen als Differenzierungsprodukt der Studentenbewegung an, so kann es jetzt nicht mehr erstaunen, daß sie nur wenige der in der Bewegung Engagierten für sich gewinnen konnten: Das Risiko, das die Teilnahme an terroristischen Anschlägen mit sich brachte (Leben im Untergrund, ständiger Verfolgungsdruck, Todesgefahr, drohende lange Gefängnisstrafe), war, gemessen an der Beteiligung am studentischen Protest, enorm gestiegen, während Sinn und Nutzen der Gewaltkampagne vielen nicht einleuchteten. Das Problem der Selbstauslese der Terroristen spitzt sich somit auf die Frage zu, welche „Belohnung" der Ubergang zum Terrorismus für die Aktivisten bereithielt, durch die sie für das eingegangene Risiko entschädigt wurden. Dabei dürfte klar sein, daß „Belohnung" nicht zu eng zu fassen ist, sondern auch soziale Bedürfnisse und ideelle Aspirationen miteinschließt. Wir erkennen wenigstens fünf Motive terroristischen Handelns (wahrscheinlich gibt es mehr), die als Streben nach „Belohnung" im eben beschriebenen Sinn zu interpretieren sind. Das erste ist der Wunsch, unmittelbar, ohne langes Zögern, eine Initiative zu ergreifen, die den Stillstand der Bewegung zu überwinden, die revolutionäre Sache voranzubringen verspricht. Es wurde 3 6 Zum Folgenden s. A. OBERSCHALL, Social Conflict and Social Movements, 1973, S. 157. 3 7 Daß dies auch für Studentenbewegungen gilt, hat, ohne sich direkt auf Oberschall zu beziehen, J.Maravall am Beispiel der spanischen Studentenbewegung unter dem Francoismus nachgewiesen. J. MARAVALL, Dictatorship and political Dissent, Workers and Students in Franco Spain, 1978, 5., 6. u. 7. Kap.

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wiederholt auf die hohen Veränderungserwartungen hingewiesen, die durch den raschen Aufschwung der Studentenbewegung geweckt worden waren. Andererseits scheint ein für alle Terroristen kennzeichnender Zug ihre Ungeduld gewesen zu sein. 38 Erwartungsstau und revolutionäre Ungeduld fanden ein Ventil in der Planung und Durchführung von Gewalttaten, die — nicht zuletzt wegen der hektischen staatlichen Reaktion — jene eskalierende Dynamik in Gang setzten, die sich die Terroristen erhofft hatten. Ein zweiter, ebenfalls als „belohnend" empfundener Aspekt terroristischer Anschläge war, daß sie klare Konturen in eine bis dahin offene Situation brachten. Nach dem unverhofften Scheitern der Studentenbewegung herrschte innerhalb des linken Lagers Ratlosigkeit, wie es weitergehen sollte. Spaltungstendenzen, verbunden mit Erfahrungen der Stagnation oder gar Regression in Teilen der Bewegung, warfen akute Orientierungsprobleme auf. 39 Das „Abtauchen" in den Untergrund und die Teilnahme an bewaffneten Aktionen beseitigten mit einem Schlag diese Unsicherheit. Nun mußte man sich nicht mehr fragen, ob man von der Polizei und den Sicherheitsdiensten als gefährlich eingestuft wurde, da man diese direkt angriff. Der polarisierende Effekt der Gewalttaten legte fest, wer Freund und Feind war, auf wen man zählen konnte, auf wen nicht. Dritte „Belohnung": In der Literatur werden oft positive, in der terroristischen Gruppe erstmals gemachte Erfahrungen, wie die der sozialen Bestätigung, der Verläßlichkeit, des gegenseitigen Vertrauens und der Wärme, als wesentliche Gründe für die Bindung des einzelnen an die Untergrundgemeinschaft genannt. 40 Dabei bleibt allerdings teilweise unklar, ob es sich insoweit um echte Beitrittsmotive oder nicht vielmehr um das ursprünglich nicht primär intendierte Resultat des Zusammenwirkens und Aufeinanderangewiesenseins in der Illegalität handelte. Jedenfalls ist es verständlich, daß gesellschaftliche Außenseiter — und dies waren die späteren Terroristen sowohl aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur APO als auch innerhalb derselben - besonders dankbar auf die Akzeptanz durch eine Gruppe reagierten. Dies erklärt u. a. die Hartnäckigkeit, mit der sie, auch unter den widrigen Gefängnisbedingungen, den Zusammenhalt zu wahren suchten. D. CLAESSENS, K. DE AHNA, S. Anm. 12, S. 138 ff. G. LANGGUTH, S. Anm. 2 3 , S. 4 6 ff, 5 2 ff. 4 0 Dies geschieht vor allem bei H.JÄGER, Die individuelle Dimension terroristischen Handelns, in: ders., u. a., Lebenslaufanalysen, S. Anm. 35, S. 1 2 0 - 1 7 4 , S. 148 ff. 38

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Ein viertes Motiv bildete das Streben nach Macht und Anerkennung, das einherging mit der Überzeugung, eine historische Mission zu erfüllen. Für den ausgeprägten Geltungsdrang der Terroristen gibt es viele Belege, angefangen bei der resümierenden Feststellung einer Psychologin, ihr auffallendster gemeinsamer Zug sei ein überzogenes Anspruchsniveau, dem sie nicht genügten41, bis hin zu den Selbstzeugnissen von „Aussteigern", in denen in gebrochener Form immer noch der Glauben durchscheint, als revolutionäre Avantgarde einen Entwicklungsprozeß von universaler Tragweite eingeleitet zu haben. An dieser Uberschätzung der eigenen Rolle waren die Massenmedien nicht unschuldig, die wegen des „Unterhaltungswerts" terroristischer Aktionen diesen von Anfang an größte Aufmerksamkeit zollten und damit bei den Gewaltakteuren den Eindruck erwecken konnten, eine Art politischer Gegenelite zu sein.42 Gerade hier tritt die Attraktivität der terroristischen Alternative im Vergleich zur abflauenden Studentenbewegung klar zu Tage: Im einen Fall die Frustration des Niedergangs, das Versinken in Anonymität sowohl für die Bewegung als auch für den einzelnen; im anderen die Chance einer immens gesteigerten negativen Reputation aufgrund der Bedrohung, die man scheinbar für den Staat darstellt. Eine letzte „Belohnung" ist in der identitätsverbürgenden Funktion der Gewaltanschläge zu sehen. In nicht seltenen Fällen vermittelten sie offenbar das Gefühl, in einem befreienden Akt die Angst, die einen verfolgte, abgeschüttelt und damit sowohl die eigene Würde wie auch die Würde des Kollektivs gerettet zu haben. Der Gedanke der „emanzipatorischen" Gewalt stammt von dem algerischen Arzt F. Fanon, der sie als Mittel für die Kolonialisierten anpries, die psychischen Fesseln imperialistischer Herrschaft zu zerreißen, den Kampf gegen das Joch externer Unterdrückung mit einer mentalen Selbstreinigung zu verbinden. 43 41 L. SÜLLWOLD, Stationen in der Entwicklung von Terroristen, in: H.Jäger u.a., Lebenslaufanalysen, s.Anm.35, S.80-116, insbes. S.91 u. 114. 42 Diese Überzeugung findet sich nicht erst bei den Terroristen, sondern bereits bei besonders avantgardistischen Gruppen der Studentenbewegung. So berichtet „Bommi Baumann" von der Kommune I in Berlin, deren Mitglied er einige Zeit war, ihre Hauptbeschäftigung während des Tages habe darin bestanden, ein Archiv über die Resonanz anzulegen, die ihre Aktionen in der Presse gefunden hatten. B. BAUMANN, S. Anm. 11, S. 21 ff. 43 F. FANON, Les damnés de la Terre, 1961. Die Hauptideen Fanons werden dargestellt und diskutiert in dem sehr lesenswerten Aufsatz von H. MÜNKLER, Perspektiven der Befreiung. Die Philosophie der Gewalt in der Revolutionstheorie Frantz Fanons, in: KZfSS, 33. Jg., 1981, Nr. 3, S. 437-468. Zur Hoffnung, die von

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Es ist schwer, diesen Belohnungsaspekt präzise zu fassen, da er unmittelbar mit dem Gewaltakt selber verbunden ist, der Bestätigung des Selbst im aggressiven Handeln. Gleichwohl kann an seiner zentralen Bedeutung als Motiv, auch im Fall der bundesdeutschen Terroristen, kein Zweifel bestehen. Ihr oft erwähnter moralischer Rigorismus, das Gefühl, sich und die Bewegung vor Perspektivenlosigkeit und Verfall zu retten, der ursprünglichen Idee treu bleiben zu müssen, auch der Drang nach Führerschaft und Anerkennung, all dies verweist auf die erlösende, Zweifel aller Art ausräumende Wirkung, die den Gewalttaten selbst zugedacht war.

IV. Eine zweite terroristische „Welle"? Abschließend ist zu prüfen, ob die neuen sozialen Bewegungen in der Bundesrepublik den Nährboden für eine zweite linksterroristische Kampagne abgeben könnten. Schon zu Beginn des Aufsatzes wurde darauf hingewiesen, wie problematisch sozialwissenschaftliche Prognosen im allgemeinen und speziell im von Unwägbarkeiten bestimmten Feld der Gewaltinteraktionen sind. Gleichwohl soll hier der Versuch einer Prognose gewagt werden, wobei wir uns allerdings mit einer sehr rudimentären, holzschnittartigen Charakterisierung der neuen Protestbewegung begnügen müssen.44 Ist die bisherige Analyse im Großen und Ganzen zutreffend, so hängt es von zwei Voraussetzungen ab, ob es zu einer Wiederholung der terroristischen Erfahrung kommen wird: a) von der Struktur und Orientierung der neuen sozialen Bewegungen, verglichen mit der Studentenbewegung der den deutschen Terroristen in die befreiende Wirkung der Tat gesetzt wurde, vgl. die Bemerkung des „Aussteigers" V. Speitel: „Einer brachte es mal auf die Formel, daß seine Angst vor dem Handeln jeden Tag größer werde, deshalb möchte er jetzt handeln, um nicht länger Angst zu haben." V. SPEITEL, Wir wollten alles und gleichzeitig nichts, in: Der Spiegel, 34. Jg., 1980, Nr. 31, S . 3 6 f f , S.48. 44 Für diese Charakterisierung wurden aus der rasch anschwellenden Literatur vor allem folgende Studien benützt: K.-W. BRAND U. A., Aufbruch in eine andere Gesellschaft. Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik, 1983; K.W. BRAND, Neue soziale Bewegungen. Entstehung, Funktion u. Perspektive neuer Protestpotentiale, 1982; B. GUGGENBERGER, Bürgerinitiativen in der Parteiendemokratie, 1980; J. RASCHKE, Politik und Wertwandel in den westlichen Demokratien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Zeitung Das Parlament, N r . 3 6 , 1980, S . 2 3 - 4 5 ; M.G.SCHMIDT, Demokratie, Wohlfahrtsstaat und neue soziale Bewegungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage..., Nr. 11, 1984, S. 3—14; Jugendprotest im demokratischen Rechtsstaat (II). Schlußbericht (1983) der ENQUETE-KOMMISSION des 9. Deutschen Bundestags.

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60er Jahre, die (wie gezeigt) relativ gewaltträchtig war; b) von ihrer mutmaßlichen weiteren Entwicklung, insbesondere der Gefahr eines plötzlichen Niedergangs und den gesamtgesellschaftlichen Auffangbedingungen in diesem Fall. a) In gewissem Sinne könnte man die neuen sozialen Bewegungen als Erben der Studentenrebellion der 60er Jahre bezeichnen, mit der sie mehrere Züge teilen, z. B. den starken Rückhalt in der Studentenschaft, einen emanzipatorischen Zug und die globale Perspektive. Wenn es um die Frage geht, inwieweit in ihnen die Neigung zu Radikalismus und gewalttätigen Exzessen angelegt ist, fallen jedoch mehr die Unterschiede ins Auge: — Kennzeichnend für die Mitglieder der Studentenbewegung war die Negation der eigenen Gesellschaft und des eigenen Staates. Ihre Identifikation galt Drittgruppen, vor allem den Völkern der Dritten Welt, während sie das gesellschaftlich-politische System, in das sie hineingeboren und in dem sie großgeworden waren, verachteten und zerstören wollten. Demgegenüber nehmen die neuen sozialen Bewegungen in weit stärkerem Maße Interessen ihrer Mitglieder in dieser Gesellschaft wahr. Lokale Bürgerinitiativen, Alternativgruppen, Ökologie- und Friedensbewegung — sie alle entstanden aus der dringlichen Sorge um die zunehmende Belastung und Gefährdung insbesondere des zentraleuropäischen Raums. Diese Sorge impliziert, bei aller Kritik an den bestehenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen, ein Engagement für die Gesellschaft, das deren radikale Zurückweisung und Bekämpfung ausschließt. — Die Studentenbewegung orientierte sich am Neomarxismus, einer Ideologie, aus der einerseits schwer widerlegbare, relativ abstrakte Erkenntnisse über Strukturdefizite der westdeutschen Gesellschaft abgeleitet wurden und die andererseits einer Eskalierung des Konflikts mit den Vertretern des politischen und gesellschaftlichen Status quo Vorschub leistete. Dagegen liegt den neuen Protestbewegungen die Betroffenheit über konkret faßbare Mißstände und Gefahren zugrunde. Sie gehen nicht von einer fiktiven, konstruierten Beschwernis (durch Konsumterror, repressive Toleranz usw.) aus, sondern setzen, punktuell oder global, bei Problemen und nachteiligen Entwicklungen an, die für jedermann nachvollziehbar sind. Ein übergreifender theoretisch-ideologischer Lösungsentwurf fehlt. Dementsprechend ist auch die Versuchung und Möglichkeit für militante Kleingruppen geringer, eine ideologische Heilsbotschaft mit Gewalt durchzusetzen.

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— Die Studentenbewegung entwickelte sich vor dem Hintergrund eines ziemlich kontinuierlichen wirtschaftlichen Aufschwungs sowie generell verheißungsvoller Zukunftsaussichten. Die günstige Arbeitsmarktsituation für Akademiker, der rasche technologische Fortschritt in den vorangegangenen Jahrzehnten, das liberale Diskussionsklima an den Hochschulen, all dies nährte den Fortschrittsoptimismus und ermunterte zu Forderungen nach weitreichenden gesellschaftlichen Reformen. Die mühelosen Mobilisierungserfolge der studentischen Rebellen bei ihren Kommilitonen trugen ein übriges dazu bei, die Erwartungen ins Unermeßliche zu steigern. Demgegenüber können die neuen Protestströmungen als Suchbewegungen charakterisiert werden. Aus einer existentiellen Verunsicherung und Zukunftsangst geboren, fehlt ihnen eine klare Orientierung. Ihre Sprecher kennen keine eindeutigen Feindbilder, wie sie die Studentenführer vor fünfzehn Jahren lieferten, sondern halten jedermann in irgendeiner Form für beteiligt an den gegenwärtigen Fehlentwicklungen. Dieser reflexive Zug hemmt ihre Aggressivität. Hinzu kommt, daß die schlechte Arbeitsmarkdage für Akademiker, die rigorose Kontrolle linker Dissidenten und der vermehrte Selektions- und Disziplinierungsdruck an den Universitäten die Aufruhrbereitschaft der Studenten erheblich gedämpft hat. — Zwar rekrutieren die Protestbewegungen der Gegenwart immer noch einen Großteil ihrer Anhänger aus den Jugendlichen der Mittelschicht mit höherer Schulbildung, insbesondere Studenten. Diese bilden jedoch keineswegs mehr ihre einzige Unterstützungsbasis, vielmehr setzen sie sich aus Angehörigen aller Altersgruppen und aller sozialer Klassen zusammen. Dies nimmt ihrer Kritik an den überkommenen Strukturen die belastende Note eines Generationskonflikts, die der Studentenbewegung anhaftete, und ihren Forderungen den utopischen Beigeschmack der Forderungen vor fünfzehn Jahren. Die breite soziale Streuung der Mitglieder der neuen sozialen Bewegung begründet trotz unbestreitbarer fundamentalistischer Tendenzen deren insgesamt pragmatischere Ausrichtung und stärkere Verankerung in breiten Bevölkerungsschichten, Züge, die ebenfalls eine weniger radikale Vorgehensweise nahelegen. — Die Studentenbewegung der 60er Jahre bediente sich der Methode der Provokation, die von den Terroristen in einer extrem übersteigerten Form übernommen wurde. Den begrenzten Regelverletzun-

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gen (später Gewaltanschlägen) kam dabei primär symbolische Bedeutung zu. Sie sollten, Signalen gleich, allgemeine Mißstände bloßlegen, was zugleich bedeutete, daß ihr manifester Stör- und Zerstörungseffekt verharmlost wurde. Auch von den Mitgliedern der neuen sozialen Bewegung werden oft legale Normen mißachtet, Gewaltausschreitungen nicht immer vermieden. Dabei schwingt jedoch nicht die Absicht mit, den Gegner zu reizen und die Auseinandersetzung zu schüren. Konfliktanlaß sind meistens abgegrenzte, politisch umstrittene Projekte und Objekte. Die Konzentration auf ein bestimmtes Anliegen verkürzt die symbolischen Bezüge und verringert die Möglichkeit einer unkontrollierbaren Ausdehnung und Eskalierung der Konfrontation. — Mit ihren elitären Ansprüchen, der Neigung zu Personenkult und voluntaristischem Denken übernahm die Studentenbewegung, ungewollt, einige Züge der von ihr abgelehnten autoritäts- und leistungsorientierten Gesellschaftsordnung. Vor allem die These, Studenten und Intellektuelle seien die neue revolutionäre Avantgarde, enthielt eine explosive, verhängnisvolle Dynamik, ermunterte sie doch kleine, radikal gesinnte Gruppen zu einem kompromißlosen Vorgehen. In den neuen sozialen Bewegungen haben sich hingegen verstärkt basisdemokratische Vorstellungen durchgesetzt, das Stellvertreterprinzip wird durchweg abgelehnt. Vollziehen sich deshalb Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse auch z. T. äußerst umständlich und langsam, so ist doch die Gefahr, daß Splittergruppen durch Gewaltinitiativen eine Führungsrolle an sich reißen und Teile der Bewegung unter Solidarisierungszwang setzen, weitgehend gebannt. Selbst wenn wir den einen oder anderen Unterschied zwischen alter Bewegung und neuen Bewegungen idealtypisch überzeichnet haben sollten, bleiben immer noch genügend Differenzen übrig, um die generelle Aussage zu tragen, die neuen Protestströmungen eigneten sich von ihrer Struktur und Ausrichtung her weit weniger als Nährboden eines wiederkehrenden Linksterrorismus als die studentische Rebellion der 60er Jahre. Die, verglichen mit damals, verringerte Gefahr einer Gewalteskalation bestätigt sich, wenn wir die Möglichkeit eines plötzlichen Niedergangs der neuen sozialen Bewegung ins Auge fassen. b) Generell erscheint es unwahrscheinlich, daß den neuen sozialen Bewegungen eine plötzliche Lähmung ähnlich jener droht, die die Studentenbewegung ab 1968 befiel. Doch selbst im Fall ihres mehr

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oder minder rapiden Niedergangs wären die gesellschaftlich-politischen Auffangbedingungen für enttäuschte Aktivisten und versprengte Restgruppen günstiger als damals. — Ein jähes Zurückgehen der neuen sozialen Bewegung ist deshalb unwahrscheinlich, weil sich die Palette der von ihr aufgegriffenen Themen immer mehr diversifiziert hat. Wie die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre gezeigt hat, wendete sich die Aufmerksamkeit sukzessiv neuen Problemen zu, und es entstanden dadurch jeweils neue, zusätzliche Gravitationszentren des Protests. Mittlerweile gibt es nicht mehr nur eine neue Bewegung, sondern eine Vielzahl in sich verschachtelter und teilweise miteinander vernetztet Teilbewegungen. Niederlagen und Stagnation in einem Bereich werden durch Mitgliederfluktuation und vermehrte Initiativen in anderen Bereichen neutralisiert. Aus der zunehmenden Kohärenz und Stabilität der Bewegungen ergibt sich deren geringere Konjunkturanfälligkeit. — Das generell pessimistische Vorzeichen, unter dem die Geburt der neuen Bewegung stand, sorgt dafür, daß keine übertriebenen Erwartungen aufkommen. Sollte unter dem Druck von Protestgruppen in einem Bereich aber eine zu Hoffnungen Anlaß gebende politische Entwicklung in Gang kommen, die plötzlich blockiert würde, so scheint unsere Gesellschaft besser präpariert zu sein als vor fünfzehn Jahren, um die daraus resultierenden Enttäuschungen aufzufangen und Verzweiflungstaten zu verhindern. Denn das in den 60er Jahren erst im Entstehen begriffene linksintellektuelle Oppositionsmilieu hat sich mittlerweile zu einer zahlreiche Gruppen, Organisationen und Medien umfassenden Alternativ- bzw. Gegenöffendichkeit ausdifferenziert, die in vielerlei Hinsicht als Widerlager zur offiziellen Politik fungiert. — Die großen Parteien stehen weiterhin verhältnismäßig weit rechts im politischen Spektrum. Inzwischen haben aber auch linke Dissidenten und Alternative eine Möglichkeit, abweichende Vorstellungen in erfolgversprechender Weise in den gesellschaftlichen und politischen Willensbildungsprozeß einzubringen: sei es über die Vereinigungen und Organisationen, die den institutionellen Niederschlag der neuen sozialen Bewegungen im gesellschaftlichen Bereich bilden — auch in dieser relativ erfolgreichen Organisation liegt ein wichtiger Unterschied zur Studentenbewegung, die nie aus dem organisatorischen Chaos herausfand —, sei es über die Partei der „Grünen". Wenn unsere Analyse des Zusammenhangs zwi-

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sehen blockierter Möglichkeit der legalen Artikulation von politischem Dissens und dem Aufkommen gewaltsamen Protests zutrifft, dann bildet die Grüne Partei eine kaum zu überschätzende Versicherungspolice gegen die Neuauflage eines Linksterrorismus. c) Eine letzte Bedingung spricht ebenfalls gegen eine Wiederholung der terroristischen Episode in absehbarer Zeit: das Trauma, das der gescheiterte Linksterrorismus der 70er Jahre bei all jenen zurückgelassen hat, die dem Anliegen der Terroristen, die Gesellschaft revolutionär zu verändern, grundsätzlich positiv gegenüberstanden. Wie die Erfahrung anderer Länder lehrt, pflegt dieses Trauma tief zu sitzen und lange anzuhalten. 45 Erst wenn eine neue Generation heranwächst, die nicht Zeuge der frustrierenden, nutzlosen Tragödie war, kann sich eine veränderte Haltung herausbilden.46 Das wird in der Bundesrepublik noch einige Zeit dauern.

45 Wir denken etwa an den Fall Argentinien, wo nach der harten, blutigen Unterdrückung zweier Guerillabewegungen durch das Militär in den Jahren 1975/ 76 keine neue gewaltsame Protestbewegung entstand, obwohl sich die politischen und ökonomischen Bedingungen Ende der 70er Jahre, Anfang der 80er Jahre rapide verschlechterten. Zum Linksterrorismus in Argentinien vgl. P. W A L D M A N N , Ursachen der Guerilla in Argentinien, in: Jahrbuch für die Geschichte von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Lateinamerikas, Bd. 15, 1978, S. 295-348. 46 Der Gedanke, Terrorismus sei ein zyklisches, an den Generationenrhythmus gebundenes Phänomen, ist bisher nicht systematisch verfolgt worden. Andeutungen in dieser Richtung finden sich bei W. LAQUEUR, S. Anm. 3, S. 84.

Colloquium 5

Politische Kultur und das Gefüge sozialer Bündnisse

Z u r Einführung

GESINE SCHWAN

Ich begrüße Sie zum heutigen letzten Colloquium unseres gesamten Symposions über das Grundgesetz. Das Thema des heutigen, abschließenden Colloquiums heißt politische Kultur und das Gefüge sozialer Bedürfnisse'. Wir wollen in diesem Abschnitt die theoretischen und empirischen Voraussetzungen für die Geltung und für die Wirkung von Verfassungen erörtern, also in diesem Fall unseres Grundgesetzes. Diese Frage hat eine lange Tradition, die sich beschäftigt mit dem Zusammenhang zwischen den Verfassungen und den historischen sowie den philosophisch-anthropologischen Bestimmungen der Menschen, die in ihr leben, sie zum Leben bringen und sich in ihr verhalten. Um Ihnen wenigstens einen kleinen Geschmack von dieser Tradition zu geben, will ich kurz einführend drei Autoren nennen und dann zu den aktuellen Fragen überleiten. Ich beginne mit einem Zitat: „Und du weißt doch, daß es auch von Menschen ebenso viele Arten der Ausprägungen geben muß wie von Verfassungen. Oder meinst du, daß die Verfassungen von der Eiche oder vom Felsen entstehen und nicht aus den Gesinnungen derer, die in den Staaten sind?" So fragt Sokrates Glaukon, den Bruder Piatons, in Piatons „Staat" 1 , und er fährt gedanklich fort: Wenn sich Verfassungen ändern, so liegt dies daran, daß sich die Menschen ändern; um den besten Staat zu schaffen, muß man daher zunächst die besten Menschen erziehen. Hier finden wir schon den Zusammenhang von Werten, Erziehung und Verfassung. Aristoteles bleibt in seinen Zielen vorsichtiger, viele sagen realistischer, als Piaton. Ich zitiere: „Die meisten, die sich über Verfassungen geäußert haben, haben ausgezeichnete Dinge gesagt, aber keine brauchbaren." 2 In seiner Analyse vorfindlicher Verfassungen stößt er 1 2

Piaton, Politeia, 8. Buch, 544e, 1-6. Aristoteles, Politik, 4. Buch, 1288b.

Zur Einführung

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präzise zum Zusammenhang zwischen der politischen Verfassung und ihren psychischen und sozialen Voraussetzungen vor. Dazu ebenfalls aus dem vierten Buch der Politik von Aristoteles: „In allen Staaten gibt es drei Teile: die sehr Reichen, die sehr Armen und die Mittleren. Wenn nun das Maß und die Mitte anerkanntermaßen das Beste sind, so ist auch in Bezug auf die Glücksgüter der mittlere Besitz von allen der beste." 3 Und nun überlegt sich Aristoteles etwas zur Psychologie: „Denn in solchen Verhältnissen gehorcht man am leichtesten der Vernunft. Schwierig ist es dagegen, wenn man übermäßig schön, kräftig oder reich ist, oder umgekehrt, übermäßig arm, schwach und gedemütigt. Die einen werden leicht übermütig und schlecht im Großen, die anderen bösartig und schlecht im Kleinen."4 Und ein wenig später schreibt Aristoteles: „Offensichtlich ist also die auf diese Mitte aufgebaute staatliche Gemeinschaft die beste. Und solche Staaten haben eine gute Verfassung, in denen die Mitte stark und den beiden Extremen überlegen ist. . . . So ist es auch für den Staat das größte Glück, wenn die Bürger einen mittleren und ausreichenden Besitz haben; wo dagegen die einen sehr viel haben und die anderen nichts, entsteht entweder die äußerste Demokratie, oder eine reine Oligarchie, oder aus beiden Extremen eine Tyrannis." 5 Mehr als zweitausend Jahre später schließlich unterscheidet Montesquieu im dritten Buch seines großen Werkes „Vom Geist der Gesetze" zwischen der Natur der Regierung und ihrem Prinzip. Er schreibt: „Zwischen der Natur der Regierung und ihrem Prinzip besteht folgender Unterschied: Ihre Natur macht sie zu dem, was sie ist, ihr Prinzip bringt sie zum Handeln. Das eine ist ihre besondere Struktur, das andere sind die menschlichen Leidenschaften, die sie in Bewegung setzen." 6 Das Prinzip nun der Republik ist die Tugend. Im fünften Buch bezeichnet Montesquieu sie näher: Tugend heißt Liebe zur Republik. „Liebe zur Republik ist in einer Demokratie Liebe zur Demokratie. Liebe zur Demokratie bedeutet Liebe zur Gleichheit."7 Im achten Buch nennt Montesquieu diese Liebe den Geist der Gleichheit. Er ist „vom Geist der übertriebenen Gleichheit so weit entfernt wie der Himmel von der Erde. Der erstere besteht nicht einfach darin, daß alle Leute befehlen bzw. daß keiner sich etwas befehlen läßt, 3

AaO 1295b. AaO. 5 AaO 1295bf. 6 Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, eingel., ausgewählt und übersetzt von Kurt Weigand, Redam Stuttgart 1965, III.Buch, l.Kap. S.117. 7 AaO V.Buch, 3.Kap., S.139. 4

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Gesine Schwan

vielmehr darin, daß man Gleichgestellten gehorcht und befiehlt. Er strebt nicht danach, ohne Herren zu leben, sondern niemand außer seinesgleichen zum Herren zu haben." 8 Und schließlich noch ein Zitat: „Die Demokratie hat also zwei Ausartungen zu vermeiden: Den Geist der Ungleichheit, der zur Aristokratie oder zur Ein-MannRegierung führt, sowie den Geist übertriebener Gleichheit, der sie zum Despotismus eines einzelnen führt. Genauso, wie der Despotismus eines einzelnen schließlich durch die Eroberung endet."9 Ich habe Ihnen hier aus der Geschichte der politischen Theorien als eine Art Kostprobe Kernaussagen von drei berühmten Theoretikern vorgetragen. Auf die Tradition zweier Theoretiker, nämlich Aristoteles' und Montesquieus — nicht jedoch Piatons — stützt sich das Grundgesetz, eine Form der gemischten Verfassung; und auf diese Tradition gehen auch die Schöpfer des modernen Konzeptes der politischen Kultur zurück, als deren Urheber man im zwanzigsten Jahrhundert die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba mit ihrem berühmten Buch „The Civic Culture"10 nennen kann. Sie berufen sich ausdrücklich darauf. In ihrem Verständnis bedeutet „politische Kultur" einer Gesellschaft das Gefüge der politischen Wertüberzeugungen, der politischen Einstellungen, der Verhaltensweisen und der Kenntnisse, die in einer Gesellschaft vorhanden sind. Wenn ein Thema so alt ist wie das heutige, kann man einerseits daraus schließen, daß es eine gewisse Bedeutung hat. Man kann andererseits daraus folgern, daß wir das Problem hier heute mit Sicherheit nicht lösen werden. Das sage ich, um von vornherein einen realistischen Erwartungshorizont für die heutige Diskussion zu zeichnen. Um das Verhältnis von gegenwärtiger deutscher politischer Kultur und Grundgesetz näher zu bestimmen, sollten wir, so scheint mir, drei Fragebündel im Blick haben. Die will ich noch nennen, um die traditionelle Problematik für die heutige Zeit zu aktualisieren: 1. Gibt es in der Bundesrepublik Deutschland einen Wandel des Weitebewußtseins? Wenn ja, auf welche Werte bezieht er sich, bei welchen Gruppen, Schichten oder Kreisen ist er zu beobachten? Worauf ist er zurückzuführen — etwa auf die Entwicklung der Industriegesellschaft, des Wohlfahrtsstaates, der Bildungsexpansion oder AaO VIII. Buch, 3. Kap., S. 183. AaO. VIII. Buch, 2. Kap., S. 182. 10 Gabriel Almond, Sidney Verba, The Civic Culture, Princeton N . J . Princeton Univ. Press 1 9 6 3 . 8 9

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auf spezifisch deutsche Traditionen? Welchen Verlauf nahm er bisher, ist er eindimensional fortschreitend, ist er zyklisch, ist er generationsspezifisch? Und bestimmt denn das Wertebewußtsein auch das faktische Verhalten der Menschen? 2. Welche Folgerungen ergeben sich aus der Bestandsaufnahme über das Wertebewußtsein für das politische System der Bundesrepublik und für die Bedeutung des Grundgesetzes. Sind dauerhafte neue politische Organisationen oder Bündnisse zu erwarten? Wo gibt es Übereinstimmungen, wo Konfliktfelder zwischen dem gegenwärtigen bzw. dem zu erwartenden Wertebewußtsein, den entsprechenden Verhaltensweisen und den Verhaltensanforderungen des Grundgesetzes? 3. Was wird sich, was muß sich ändern? Wir, das Grundgesetz, beides, keines? In welcher Richtung wird es, muß es gegebenenfalls Änderungen geben? Werden die Prinzipien des Grundgesetzes das Jahr 2000 überdauern? Auf diese Fragen werden in den kommenden sechzig Minuten meine sechs Kollegen antworten.

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität H E L M U T KLAGES

I. Der Wert- oder Wertewandel in der Bevölkerung der Bundesrepublik hat in letzter Zeit zunehmende Aufmerksamkeit gefunden. Er wurde — ganz sicherlich zu Recht — für eine Fülle gesellschaftlicher Veränderungen verantwortlich gemacht. Dies alles soll im Augenblick nicht erörtert werden. 1 Vielmehr soll das, was „Wertwandel" fundamental bedeutet, einer kritischen Vergegenwärtigung unterzogen werden. Die These hierzu lautet, daß sich diesbezüglich Vorstellungen festgesetzt haben, die der empirischen Überprüfung nicht standhalten, ja daß sich, noch weitergehend, außerhalb der Wert- und Wertwandlungsforschung eine Ideologie des Wertwandels entwickelt hat, durch die das, was sich wissenschaftlich feststellen läßt, auf eklatante Weise verzeichnet wird, so daß wir heute anfangen, mit einem Begriffsgespenst des Wertwandels zu leben, das uns in den Treibsand falscher Vorstellungen über uns selbst zu locken droht. Dies beginnt damit, daß man sich den vielberufenen „Wert(e)wandel" als einen linearen Veränderungstrend vorstellt, der von der Vergangenheit über die Gegenwart geradewegs in die Zukunft hineinführt. Zu dieser einen Vorstellung tritt — wo sie vorhanden ist — meist auch die zweite hinzu, daß es sich bei diesem Wertwandel um einen Veränderungsprozeß handeln soll, der im Begriffe ist, die gesamte Gesellschaft mit der Gewalt eines Naturvorganges zu ergreifen und umzuformen, mit einer Gewalt, hinter der man dann noch fundamentalere Kräfte eines Weltgeistes der Aufklärung, des Fortschritts oder auch — je nach der unterlegten Bewertungstendenz — der Desintegra1 Vgl. hierzu H. KLAGES, Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen. 1985 2 , passim.

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität

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tion und der Zerstörung vermuten kann. Es ändert am ideologischen Gehalt nichts Grundsätzliches, wenn diese Reihenfolge umgedreht wird, wenn man also einer da und dort erkennbaren Wertwandlungstendenz eine geistig-moralische und gesellschaftliche Superiorität zurechnet, die gewissermaßen noch auf ihre Machtgrundlage wartet. Zu den Annahmen einer Linearität des Wertwandels und seiner Irreversibilität kommt dann gewöhnlich noch - das ideologische Instrumentarium abrundend — die weitere Annahme hinzu, daß ein eindeutiger, in klaren Gegenüberstellungen beschreibbarer Wertaustausch stattfinde, der von einem tiefschwarzen Minuspol zu einem goldenen Pluspol hinführe, oder der ggf. auch die umgekehrte und dann Kassandrarufe rechtfertigende Richtung nehme. Insbesondere der Amerikaner Ronald Inglehart hat — wahrscheinlich unwillentlich — dazu beigetragen, dieser Interpretationstendenz zu einem wissenschaftlichen Heiligenschein zu verhelfen. Ihm zufolge verläuft der Wertwandel ohne wenn und aber von sog. „materialistischen" Werten zu „postmaterialistischen" Werten hin, d. h. also auf einer weltgeschichtlichen Fortschrittslinie, derer man in den letzten Jahren immer wieder (oft schon von den bloßen Bezeichnungen her und ohne genauere Kenntnis des Inglehartschen Beobachtungsinstrumentariums) vergewissert sein zu dürfen glaubte.2 Wenn nachfolgend versucht wird, der Ideologie des Wertwandels seine empirische Realität entgegenzustellen, so soll zunächst ein Punkt hervorgehoben werden, an welchem sich diese beiden so gegensätzlichen Sphären einen Augenblick lang begegnen: Gegenüber den da und dort antreffbaren dogmatischen Wertwandlungsverleugnern ist mit Nachdruck zu betonen, daß es das Phänomen, um das es geht, den Wertwandel eben, in der Tat gibt — oder vielmehr: gegeben hat (man sieht, daß die Abgrenzungserfordernisse schon beim Aussprechen von Übereinstimmungen beginnen). Wir können feststellen, daß die Wertausstattung breiter Bevölkerungsteile der Bundesrepublik zwischen der ersten Hälfte der 60er Jahre und der Mitte der 70er Jahre einen sehr starken Veränderungsschub erfahren hat, der seitdem allerdings abgeflaut ist. Gegenüber der Wertwandlungsideologie ist dementsprechend zu sagen, daß — jedenfalls bei einer mittelfristigen, aufs Zeitgeschichtli2

Vgl. als eine von vielen Arbeiten: R. INGLEHART, Wertwandel in den westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten, in: H. Klages/P. Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, 1981 2 , S. 279 ff.

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Helmut Klages

che konzentrierten Betrachtung — von einem „linearen" Vorwärtsrollen des Wertwandels in die Zukunft hinein gar keine Rede sein kann. Der Wertwandel kam als ein „Schub", ohne daß mit völliger Sicherheit gesagt werden kann, ob und wann der nächste Schub erfolgt und ob er, falls er stattfindet, wiederum in dieselbe Richtung, oder vielleicht auch in eine andere Richtung verläuft.3 Die Qualität derjenigen Werte, die auf- oder abgestiegen sind, wird mit Bezeichnungen, wie „alte" und „neue", „traditionale" und „progressive", „materialistische" und „postmaterialistische" Werte nur sehr vage und letztlich irreführend bestimmt. Es ist zwar richtig, daß der Gelderwerb als Lebenszielsetzung — zumindest relativ — an Bedeutung verloren hat. Viel wichtiger als dies ist jedoch, daß zahlreiche „Pflicht- und Akzeptanzwerte" Einbrüche erlebt haben, unter denen so geschichtsträchtige Tugenden wie „Disziplin", „Gehorsam", „Bescheidenheit" und „Treue" eine Rolle spielen. Solange man nicht einsieht, daß das Zentrum des Werteschwunds hier und nicht beim sog. „Materialismus" liegt, kann man nicht verstehen, wieso allenthalben — und dies ist das schlechthin Entscheidende — die Bereitschaft zur Hinnahme von Autoritäten und sozialen Konventionen und zur routinemäßigen Fügsamkeit ihnen gegenüber rückläufig geworden ist. Man versteht dann nicht, warum ein Zustand eingetreten ist, dessen Wesen sich — ungeachtet der zu Recht im Rampenlicht stehenden Erscheinungen des Protests, der Verweigerung und des Aussteigertums - sehr sinnfällig z.B. schon an den jugendlichen Radfahrern ohne Licht enthüllt, denen offenbar noch die risikobewußte Einsicht in den Überlebenswert der Leuchte mangelt, die sich aber darüber erhaben fühlen, der Straßenverkehrsordnung nachzukommen, nur weil diese „gilt" und Respektierung abfordert. Es ist nun zwar wahr, daß solche Tendenzen durch nachweisliche Bodengewinne von Werten verstärkt werden, die man als „Selbstentfaltungswerte" ansprechen kann. 4 Allerdings darf man sich die Zusammenhänge zwischen der Rangminderung einer Gruppe von Werten und der Rangerhöhung einer anderen Gruppe von Werten keinesfalls als eine Art von Wachablösungsautomatismus vorstellen. Geschieht dies dennoch, unterstellt man also einen Ablösungsautomatismus der Werte, was gegenwärtig noch ganz überwiegend der Fall ist, dann befindet man sich abermals — und nunmehr endgültig — in den Fangzähnen der Ideologie. Man übersieht und verdrängt dann etwas 3 4

Vgl. H. KLAGES, S. Anm. 1, S.20ff. Idem, S. 17 ff.

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität

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ganz Wesentliches, nämlich diejenige faktische Richtungsoffenheit auch des bisherigen Wertwandels, die bei einer empirischen Betrachtung mit unmißverständlicher Eindeutigkeit sichtbar wird. Wir befinden uns hier an einem Kreuzungspunkt der Interpretation, an dem wir uns von allzu glatten und gängigen Vorstellungen darüber, was „Wertwandel" bedeutet, auf Nimmerwiedersehen verabschieden müssen. Rein statistisch betrachtet, im Durchschnitt gesehen und über die gesamte Bevölkerung hinweg berechnet, haben die Pflicht- und Akzeptanzwerte im Wertwandlungsschub abgenommen, während die Selbstentfaltungswerte zugenommen haben. Diese Verschiebung kann nun aber nicht als Ausgangspunkt verwendet werden, wenn man verstehen will, was im Einzelfall wirklich vor sich gegangen ist. Die empirische Untersuchung enthüllt vielmehr unmißverständlich, daß in der Bevölkerung heute mindestens vier scharf unterscheidbare Typen von Kombinationen von Pflicht- und Akzeptanz- und von Selbstentfaltungswerten vorhanden sind, die höchst verschiedenartige Richtungen markieren, die der Wertwandel nehmen konnte und genommen hat, Richtungen, die durch das statistische Gesamtbild eher verdeckt als sichtbar gemacht werden. 5 Solange man in den Bahnen eines Wachablösungsschematismus der Werte denkt, kann man logischerweise nur zu einem Dualismus reiner Typen von Wertausprägungen gelangen: Es gibt diesem Denken zufolge dort, wo die „alten" Werte noch vorherrschen, den Typus des „Werttraditionalisten" und dort, wo die „neuen" Werte schon vorherrschend geworden sind, den Typus des „Wertmodernisten". In der Tat hat man im Hinblick auf den Wertwandel bis heute ganz überwiegend so gedacht — mit allen Konsequenzen, die dies gehabt hat, so z.B. auch mit der Konsequenz, sich gesellschaftspolitisch immer wieder vor die prekäre Entscheidung zugunsten oder zuungunsten der scheinbar den Wertfortschritt exklusiv verkörpernden, sprach- und protestmächtigen jugendlichen Stürmer und Dränger gestellt zu sehen. 5 Diese Typologie wurde - aufgrund empirischer Analysen - erstmals vorgestellt in: H. KLAGES/W. HERBERT, Wertorientierung und Staatsbezug. Untersuchungen zur politischen Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, 1983, passim. Die Bemühung um die typologische Erfassung und Differenzierung der in der Gesamtbevölkerung vorhandenen Wertstrukturen wird - auf der Grundlage dieser Arbeit - weitergeführt (d. h. erhärtet und mit vielfältigen Fakten angereichert) in: G.FRANZ/W.HERBERT, Werte, Bedürfnisse, Handeln und politische Steuerung. Theoretische und empirische Beiträge zu einer situativen Werttheorie (bisher noch unveröffentlichtes Manuskript).

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Helmut Klages

Die Ergebnisse der empirischen Analyse widerlegen die Vorstellung einer Wertaustausch- und -ablösungsautomatik. Es erweist sich vielmehr, daß die Pflicht- und Akzeptanzwerte und die Selbstentfaltungswerte alle nur erdenklichen Verknüpfungen einzugehen vermögen, so daß der scheinbare Entscheidungszwang bezüglich eines ganz bestimmten, äußerst unbequemen aber scheinbar „fortschrittlichen" Menschentypus entfällt. Im eklatanten Unterschied zu dem, was heute noch öffentlich von verschiedenen Seiten her gedacht und geschlußfolgert wird, hat der Wertwandel nicht nur Traditionalisten und progressive Aufmüpfige produziert, sondern gleichzeitig auch Gruppen von Menschen, bei denen beide Werteflügel gleich stark ausgeprägt sind, wie andererseits auch Gruppen, bei denen beide Werteflügel nur schwache Ausprägungen aufweisen. Neben dem Werttraditionalismus und dem Wertumsturz stehen als reale Entwicklungs- und -veränderungspfade der Wertausstattung der Bevölkerung also der generelle Wertzuwachs und der generelle Werteverlust. Das Entscheidende an dieser Erkenntnis ist, daß der Wertwandel ganz offenbar ein Phänomen ist, das in Wirklichkeit viel breiter und reicher als derjenige eindimensionale Wertwandlungsausschnitt ist, den die gängige Wertwandlungsideologie ins Licht rückt und auf den die Politik und die gesellschaftlichen Kräfte bislang primär reagiert haben. Während die Achse Werttraditionalismus — Wertprogressismus Furore macht, bleibt das quergelagerte Alternativenspektrum, das zwischen dem Wertzuwachs und dem Wertverlust ausgespannt ist, weitgehend außer Betracht. Diese Einäugigkeit des Blicks auf den Wert(e)wandel ist insofern sehr überraschend, weil der generelle Wertzuwachs, wenn man ihn genauer analysiert, den eigentlich unwahrscheinlichen Glücksfall der „Wertsynthese", d.h. der verhältnismäßig widerspruchslosen Vereinigung und Harmonisierung beider kontrastierenden Werteflügel repräsentiert.6 Diejenigen Menschen, bei denen die Pflicht- und Akzeptanzwerte und die Selbstentfaltungswerte hohe Ausprägungen aufweisen, besitzen, empirisch betrachtet, die „guten Eigenschaften" der Werttraditionalisten und der Wertprogressiven alle zusammen. Sie sind ebenso disziplin- und einfügungsfähig, wie auch zum kritischen politischen Engagement bereit und fähig. Sie sind ebenso politisch interessiert, wie auch familien- und berufsorientiert. Sie sind ebenso zur Respektierung von Gesetz und Ordnung, wie auch zur Verteidigung ihrer 6

V g l . H . K L A G E S , S. A n m . 1 , S. 1 6 4 f f .

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität

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Rechte und Interessen und zur Innovation in allen Lebensbereichen disponiert. Sie sind darüber hinaus ebenso „stark" im Bereich des Denkens, Urteilens und Meinens, wie auch im Bereich des alltäglichpraktischen Handelns. Es handelt sich bei dieser Gruppe, mit einem Wort, tendenziell um denjenigen „mündigen Staatsbürger" konstruktiver Art, den die Demokratietheorie seit langem postuliert hat und den man - unter dem Eindruck eines scheinbar alles beherrschenden Schismas zwischen den stillen Rückständigen und den aufmüpfigen, schwer integrierbaren Progressiven — in letzter Zeit bereits vielfach als bloße Utopie abzuschreiben bereit war.

II. Es kann nicht beabsichtigt sein, an dieser Stelle einen repräsentativen Überblick über diejenigen umfangreichen Forschungsergebnisse zu geben, auf denen die vorstehenden Feststellungen beruhen. Jedoch sollen einige wenige ausgewählte Daten zu den vorgenannten vier Werteinstellungstypen vorgelegt werden mit der begrenzten Zielsetzung, die ungewöhnliche Eindeutigkeit und Prägnanz der empirischen Gegebenheiten zu demonstrieren. 7 Die nachfolgenden drei Tabellen konzentrieren sich darauf, das Einstellungspotential der vier Typen von verschiedenen Seiten her zu beleuchten. „Typ 1 " bezeichnet dabei in allen Fällen den Werttraditionalisten mit hoher Pflicht- und Akzeptanzbereitschaft und niedrig ausgeprägten Selbstentfaltungswerten. „Typ 4 " meint den Gegentypus des Wertmodernisten, bei welchem sich gewissermaßen ein Wertumsturz in Richtung der Selbstentfaltungswerte ereignet hat. Unter dem Pseudonym „Typ 2 " versteckt sich der vorstehend so nachdrücklich hervorgehobene Fall der Wertsynthese, d. h. also der gleichermaßen hohen Ausprägung der Pflicht- und Akzeptanz- und der Selbstentfaltungswerte. „Typ 3 " endlich steht für den Kontrastfall der gleichermaßen niedrigen Ausprägung beider Wertegruppen (wir haben uns aufgrund der analysierten Eigenschaften dieses Typus angewöhnt, ihn als den „perspektivenlosen Resignierten" anzusprechen). Wenn wir uns nunmehr fragen, welche auf das Leben in der Bundesrepublik bezogenen Einstellungen (oder „Handlungsorientierungen") mit denjenigen Wertkonstellationen verbunden sind, durch

7

Vgl. hinsichtlich einer weiterführenden Darstellung insbes. G . FRANZ/W. HER-

BERT, s. A n m . 5, passim.

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die sich die Typen charakterisieren, dann erhalten wir sehr eindrucksvolle Antworten. In der folgenden Tabelle 1 ist zunächst eine Reihe von Einstellungen festgehalten, die sich primär auf das Leben in der „Arbeitsgesellschaft" beziehen, die teils aber auch die politische Kultur betreffen (alle Angaben beruhen auf Befragungsergebnissen und geben Selbsteinschätzungen der Befragten wieder; die Plus- und Minuszeichen kennzeichnen die Richtung und die Stärke der jeweiligen Abweichungen vom Gesamtdurchschnitt aller Befragten).

Tabelle 1 Typenspezifische Profile: Einstellungen und Bereitschaften Wertetypen Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4 Zufriedenheitsdisposition Anpassungsbereitschaft = Autonomieverzicht Durchsetzungsfähigkeit Eigeninitiative Selbstzuschreibung hoher Arbeitsleistung Interesse an vermehrter Leistung Interesse an sinnvoller Arbeit Bereitschaft z. Mehrarbeit bei erhöhter Bezahlung Interesse an verkürzter Arbeitszeit bei verminderter Bezahlung Interesse an handlungsfähiger, kompetenter Führung Gesellschaftspolitisches Engagement Interesse an gesellschaftl. Änderungen ( + Bereitschaft, hierfür einzutreten) Bereitschaft, aktiv f. eigene Interessen zu kämpfen Interesse an sozialer Sicherheit

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Quelle: H. Klages/G. Franz/W. Herbert: Wertwandel in der Jugend. Neue Herausforderungen für die Unternehmensführung, in: PERSONAL 2/85, S. 5 0 ff.

Der sehr hohe Informationsgehalt der Tabelle soll und kann hier nicht im Detail kommentiert werden. Was zunächst auffällt, ist die

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität

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ausgeprägte Unterschiedlichkeit, sodann aber auch die Individualität und interne Stimmigkeit der typenspezifischen Eigenschaftsprofile. Weiterhin sind es dann allerdings auch die charakteristischen „Ausfallerscheinungen", die sich bei den Typen 1, 3 und 4 im Unterschied zum Typus 2 finden. Der Typ 1 ist — schroff ausgedrückt — passiv, kümmert sich vor allem um sein persönliches Wohlergehen, ist nur ungern bereit, Verantwortung für neue, ungewohnte Aufgabenstellungen zu übernehmen, hat wenig Informationsinteressen und ist nicht besonders kontaktfreudig. Der Typ 4 ist häufig unzufrieden, weil die Realität allzu oft hinter seinen stets hochgespannten, an idealistischen Vorstellungen orientierten Erwartungen zurückbleibt, ist höchst empfindlich gegenüber faktischen oder nur vermuteten Autonomieeinschränkungen und neigt zu „Frustrations"-Erlebnissen, die sich leicht mit Ohnmachtsempfindungen und mit pessimistischen Zukunftserwartungen verbinden. Im Kern seiner Realitätserfahrung steht die Polarität zwischen dem Selbst und einer oft als feindlich eingeschätzten Umwelt. Der Typ 3 sieht sich endlich als „gebranntes Kind", hat sich in ein privates Schneckenhaus zurückgezogen, erwartet nicht viel vom Leben und ist in einer resignativen und diffusen, irrationale Ausbrüche nicht ausschließenden Weise unzufrieden. Er tritt seiner Umwelt mit dem Bedürfnis nach minimalem Kräfteeinsatz entgegen, vermeidet jegliches Engagement und will möglichst „in Ruhe gelassen" werden. Er hat außerdem ein schwach entwickeltes Selbstbewußtsein und neigt zum Konformismus als der meist bequemeren Lösung.8 Die nachfolgende Tabelle 2 verdeutlicht und ergänzt diese Charakterisierungen, indem sie kennzeichnende Unterschiede des Umweltbezugs der vier Typen, anhand der von den Befragten vorgenommenen Einschätzung der Wichtigkeit unterschiedlicher gesellschaftlich-politischer Problemfelder, ausweist.

8 Vgl. hierzu bereits H. KLAGES. Die unruhige Gesellschaft. Untersuchungen über Grenzen und Probleme sozialer Stabilität, 1975, S. 121 ff.

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Tabelle 2 Gewichtung von Problemen in der Bundesrepublik Inhumanität der Gesellschaft — Kinderfeindlichkeit — Entmenschlichung der Arbeitswelt Automatisierung und Technisierung - Hektik, Streß - Konkurrenzkampf, jeder gegen jeden Zerfall von Werten und politischem Bewußtsein - Mangel an Werten und Idealen - Mangel an politischem Bewußtsein — Mangel an Gemeinschaftsgefühl Solidarität - zu großes Wohlstandsdenken — kulturelle Verarmung Deviante Verhaltenstendenzen — Gewaltanwendung - Drogenabhängigkeit, -mißbrauch - Alkoholabhängigkeit, -mißbrauch - Jugendkriminalität, -Verwahrlosung - Orientierungslosigkeit der Jugend Verhältnis von Bürger und Staat — Ausufern des öffentlichen Dienstes, des Beamtenstaates — staatliche Bevormundung, fehlendes Mitspracherecht des Bürgers bei öffentlichen Entscheidungen und Gesetzgebung „rechts"- und „linksorientierte" 'Wahrnehmungen einer Gefährdung von gesellschaftlicher Ordnung - Mangel an „starken" Männern in der Politik - zu viele Ausländer - Anzeichen eines neuen Faschismus

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der Gesellschaft

Wirtschaft und Umwelt — Arbeitslosigkeit - ständig steigende Preise — Umweltverschmutzung, -Zerstörung Ungerechte VermögensSteuerpolitik Angst vor der

Zukunft

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Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4

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Quelle: G.Franz u. W.Herbert: Werte, Bedürfnisse, Handeln und politische Steuerung. Theoretische und empirische Beiträge zu einer situativen Werttheorie, (bisher noch unveröffentlichtes Manuskript)

Vergleichen wir zunächst die Kontrasttypen 1 und 4, so können wir feststellen, daß sie gleichermaßen hochselektive Problemzüge aufweisen, die sich mit mehr oder weniger dicht anliegenden „Scheuklappen" für diejenigen Realitätsbereiche verbinden, die von den jeweiligen Wertspektren nicht erreicht werden. Wir können weiterhin bemerken, daß die Interessenfelder der beiden Typen strikt gegensätzlich gelagert sind und daß der Wertpolarisierung somit — in exakter Abbildlichkeit — eine Interessenpolarisierung entspricht. Auf eine schlagend eindeutige Indifferenz gegenüber sämtlichen erfaßbaren gesellschaftlich-politischen Problembereichen stoßen wir demgegenüber bei dem resignativen Typ 3, zu welchem jedoch der wertsynthetische Typus 2 einen Kontrast von erstaunlicher Klarheit liefert: Ohne jegliche Selektionstendenz liegen bei ihm alle erfaßten Problembereiche im Lichtkegel einer breit ausgreifenden Aufmerksamkeitszuwendung. Die Steuerung der betreffenden Einstellungen durch Werte folgt, wie man sieht, einer sehr einfachen Formel: durch die Wertorientierungen werden Sensibilitäten für „entsprechende" thematische Muster hervorgerufen. Je umfassender die Wertspektren sind, desto einschränkungs- und lückenloser sind also auch die Aufmerksamkeitsbereiche gelagert. Die dritte und letzte Tabelle wendet sich einem einzelnen Problembereich von besonderer Aktualität, dem Bereich Energie und Umwelt zu und analysiert die ihm zuzurechnenden Einstellungen auf eine eingehendere Weise. Es werden hierbei die — auf einer relativ handlungsfernen Ebene — liegenden Bewußtseins- und Bedürfnisorientie-

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rungen allgemeiner Art („Umweltbewußtsein"; „Bedürfnis, umweltbewußt zu leben") von konkreten Handlungsbezügen unterscheidbar, wobei sich nochmals sehr eindeutige typenspezifische Unterschiede einstellen, die hinsichtlich der Durchleuchtung der Typen einen sehr wichtigen abschließenden Schritt gestatten. Tabelle 3 Problembewußtsein und Verhalten im Bereich Energie und Umwelt Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4 Umweltproblembewußtsein Bedürfnis, umweltbewußt zu leben Tätigung energiesparender Investitionen Energiesparendes Verhalten Umweltfreundliche Pkw-Nutzung (nur Autofahrer) Umweltfreundliches Konsumverhalten



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Quelle: G. Franz u. W. Herbert: aaO

Wendet man sich - zum Zweck der Interpretation — zunächst noch einmal der vorhergehenden Tabelle 2 zu, dann kann man erkennen, daß der Typus 4 im Problembereich „Umweltverschmutzung" einen höheren Aufmerksamkeitswert erreicht als der Typus 2. Eben dieses Ergebnis bestätigt sich, wenn man in der vorstehenden Tabelle 3 diejenigen Zuwendungsniveaus vergleicht, welche die beiden Typen bei den allgemeinen Bewußtseins- und Bedürfnisorientierungen zur Schau stellen. Dieses Verhältnis kehrt sich jedoch auf eine höchst eindrucksvolle Weise um, sobald man sich den konkreten Handlungsbezügen zuwendet: In drei von vier Fällen liegen nunmehr die „Wertsynthetiker" vor den „Wertmodernisten". Während die konstitutionell „Aufmüpfigen" zwar eine hochgradige Sensibilität für die Umweltproblematik „als solche" zur Schau stellen, sind es in erster Linie die „Synthetiker", die sich als aktive Problemlösungsrealisten entpuppen, d. h. die ihnen verfügbaren Handlungschancen nutzen, um selbsttätig und mit eigenen Kräften Verbesserungsbeiträge zu erbringen. Es steht dem nichts im Wege, eben dieses Ergebnis auch auf vielfältige andere Problemzuwendungen zu übertragen, da hier ein allgemeines, mit der jeweiligen Wertausstattung zusammenhängendes

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität

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Dispositionsmuster vorliegt. 9 Während beim wertsynthetischen Typus 2 kritisches Engagement, Eigeninitiative und Verantwortungsbereitschaft zusammenfallen, schieben sich bei dem wertmodernistischen Typus 4 zwischen die Einzelelemente dieses Einstellungs- und Haltungsverbundes Trennlinien, Barrieren und Hemmungen ein. Das Erkennen von Problemen führt hier in einem viel stärkeren Maße zum Gefühl des Bedrohtseins durch äußere Mächte, bei denen es sich dann typischerweise um gesellschaftlich-politische Mächte handelt. Das eigene Handeln bleibt hierbei zwar nicht ausgeklammert, aber der in Betracht gezogene Handlungs- und Wirksamkeitsraum wird in eine gänzlich andere Ebene — in die Ebene politischer Optionen — verlagert. „Praxis" bedeutet dann in erster Linie die politische Praxis des Protests und nur in einem viel geringeren Maße z.B. die Praxis energiesparender persönlicher Verhaltensweisen. Politisch-gesellschaftliche Oppositions- und Protestpraxis geht somit vor persönliche Lebenspraxis — eine Relation, die erst dann umgekehrt zu werden vermag, wenn angesichts mangelnder politischer Einwirkungsmöglichkeiten Frustration aufkommt und das Aussteigen in Richtung alternativer Ökonomieprinzipien zum Leitbild wird.

III. Es kann ohne allzu langes Zögern davon ausgegangen werden, daß der in seinem Einstellungs- und Verhaltensprofil ebenso aktive wie realistische wertsynthetische Typus den Anforderungen und Chancen, die unsere „moderne" Gesellschaft bietet, in einem ganz besonderen Maße entspricht, während sich bei den anderen Typen Gefahren und Probleme sozialpsychologischer Fehlsteuerungen und -anpassungen nicht übersehen lassen. Dieser Typus stellt einerseits, wie schon gesagt, deutliche Annäherungen an diejenigen Eigenschaften zur Schau, die man seit dem 18. Jahrhundert bis heute dem „mündigen Bürger" zugeschrieben hat. Er verkörpert aber gleichzeitig auch in einem hohen Maße dasjenige Einstellungs- und Verhaltenspotential, das den Lebens- und Arbeitsverhältnissen in einer „post-industriellen Gesellschaft" angemessen ist. Es muß angesichts dessen als ein Paradox angesehen werden, daß dieser „Silberstreif am Horizont der politischen Kultur" in den gesell' V g l . H . KLAGES/W. HERBERT, S. A n m . 5 , S. 7 7 ff; G . FRANZ/W. HERBERT, S.

Anm. 5, passim.

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schaftspolitischen Erörterungen der letzten Jahre ohne Publizität geblieben ist, ja daß er ungeachtet einer unablässigen Suche nach Interessantem und Neuem, die man bei den Medien beobachten kann, mehr oder weniger unentdeckt, fast schon wie ein anonymer Eingeborenenstamm im tiefsten Landesinneren Borneos, existiert, der seiner Auffindung harrt. Während die der Wertwandlungsideologie verhafteten Schlachten der öffentlichen Pro- und Contra-Debatten um die Traditionalisten und die aufmüpfigen Modernisten toben, blieb dieser entscheidend wichtige Kerntypus der Gegenwartsgesellschaft im Dunkelfeld des scheinbar Uninteressanten, Grauen und Banalen. Was sich angesichts der skizzierten Forschungsergebnisse weiterhin aufdrängt, ist die Frage, inwieweit die Bedingungen unserer Gesellschaft, denen dieser Typus in hohem Maße angemessen ist, zu seiner Hervorbringung und Förderung beitragen oder nicht, inwieweit unsere Gesellschaft also denjenigen Menschentypus, den sie eigentlich benötigt, auch „produziert". Man wird bei der Beantwortung dieser Frage insgesamt gesehen zu einem ambivalenten Ergebnis gelangen müssen. Es ist hierbei zunächst an das Phänomen des Wertwandlungsschubs selbst zu denken, der zwar die vorher „unterrepräsentierten" Selbstentfaltungswerte aufgewertet hat, wobei aber offensichtlich weniger die Wertsynthese als vielmehr der einseitige Wertmodernismus und - bei breiten Bevölkerungsgruppen — eine unentschiedene „Mischung" von Werten profitierte. Nach einer eigenen Erhebung im Jahre 1980 gehörten dem Typus 1 etwa 2 0 % , dem Typus 4 jeweils etwa 1 0 % und dem von uns herausgestrichenen Typus 2 ca. 1 5 % der Befragten an. Etwa 4 5 % der Befragten wiesen „gemischte" Werte mit einem hohen Variabilitätsoder Schwankungspotential auf, ließen also keine „gefestigte" Wertstrukturierung erkennen. Der Rest von etwa 10% der Befragten war dem Typus 3, d. h. also derjenigen resignativen Gruppe zuzurechnen, bei der alle erfaßten Werte niedrig ausgeprägt waren, die also einen generellen Wertverlust verkörperte. Leider haben wir viel zu wenige Daten zur Verfügung, um die Wertausstattung der Bevölkerung der Bundesrepublik vor dem Beginn des Wertwandlungsschubs rekonstruieren zu können. Es spricht aber vieles dafür, daß im Wertwandlungsschub der sechziger und siebziger Jahre insgesamt gesehen der Werttraditionalismus abgenommen hat, während der Wertmodernismus, die Wertemischung und der Wertverlust zugenommen haben und die Wertsynthese in einer mehr oder weniger stationären Lage verblieben ist. Geht man davon aus,

Wertwandel in der Bundesrepublik: Ideologie und Realität

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daß der in Richtung der Wertsynthese verlaufende gesellschaftliche „Bedarf" zugenommen hat und weiterhin anwächst, dann gelangt man zu einem eher negativen Bewertungsresultat. Eingehendere Analysen der „soziodemographischen" Bestimmungsmerkmale der Werttypen lassen erkennen, daß der einseitige Wertmodernismus in einem besonders hohen Maße der noch bindungsfreien Jugendphase der Menschen zuzurechnen ist. Die Tendenz ist eindeutig, daß diese Wertorientierung im weiteren Verlauf des Lebenszyklus insbesondere dort abnimmt, wo im Rahmen der Familiengründung, der beruflichen Entwicklung und der Tätigkeit in Parteien, Verbänden und Vereinen „Verantwortungsrollen" übernommen werden. Überall dort, wo dies der Fall ist, bestehen Chancen zu einer „Werttransformation", zu einem lebensgeschichtlichen Aufbau der Wertsynthese und der mit ihr verbundenen Befähigung zu aktiv-realistischen Lebenseinstellungen und Handlungsdispositionen. Es läßt sich nun aber auf der anderen Seite nicht verkennen, daß durch den Wertwandlungsschub und die Bedingungen, die ihn herbeigeführt haben, die Bereitschaften zur Übernahme von Verantwortungsrollen eingeschränkt worden sind. Erstens hat das durch die erhöhte Verweildauer in Bildungseinrichtungen begünstigte Aufkommen der „Post-Adoleszenz", d. h. der Beibehaltung einer jugendlichunselbständigen Lebenssituation bis in die Phase fester Partnerbindungen unter Hinausschiebung der Berufseinmündung, per se in diese Richtung gewirkt. Zweitens hat die Art und Weise, in welcher die Bildungsrevolution ablief, eine — „objektiv" gesehen keinesfalls unumgängliche — kognitive Abwendung von der Berufswirklichkeit während der verlängerten Ausbildungszeit mit sich gebracht. 10 Drittens hat die Revolution der Geschlechtsrollenleitbilder, die mit dem Wertwandlungsschub vielfältig verknüpft war, zu „Emanzipations"Vorstellungen geführt, innerhalb welcher — insbesondere auch bei den Frauen — für die Familie (mit Kindern) vorerst wenig Raum zu sein scheint. Und viertens hat letztlich — teils in Verbindung hiermit - die generelle Abwertung „traditionaler" Lebensformen und -leitbilder, die durch Politik und Publizistik kräftig gefördert wurde, die Neigung zur Ausschöpfung von anstrengungs- und opferentlasteten und unmittelbar lustvollen Konsum- und Freizeitchancen sehr stark erhöht. Man könnte nun zwar meinen, daß die neben der konkreten Lebensführung auf die lebensgeschichtliche Weiterentwicklung Ein10 Vgl. H. KLAGES, Bildung und Wertewandel, Referat beim 21. Deutschen Soziologentag 1 9 8 4 (bisher noch unveröffentlichtes Manuskript).

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fluß nehmende gesellschaftliche „Grundstimmung" in letzter Zeit Wandlungen erlebt habe, die eine Wende fort vom einseitigen Wertmodernismus begünstigen. In der Tat ist die Wirksamkeit solcher „Periodeneffekte" unverkennbar. Man hört allenthalben von Kindern und Jugendlichen, die eine erhöhte Lernwilligkeit zur Schau stellen, wobei Motive der Anpassung an schwieriger gewordene Bedingungen des Berufs- und des Stellenzugangs eine Rolle spielen. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß in Verbindung hiermit eine Pragmatik zu verstärkter Geltung gelangt, die in der Zeit der ungebrochenen Prosperität und der „leergefegten" Arbeitsmärkte geradezu auszusterben schien. Es kann darüber hinaus ebenso wenig einen Zweifel daran geben, daß diese Pragmatik, die zunächst ja „von außen her" bedingt ist, eine verstärkte Bereitschaft zum Selbstzwang und zur Selbstkontrolle erfordert, die um so leichter fallen wird, je mehr noch vorhandene Reste und Reserven an Pflicht- und Akzeptanzwerten gewissermaßen entmottet und „reaktiviert" werden können. Insgesamt gesehen begünstigt also die Erfahrung einer verstärkten Knappheit der Lebenschancen die Erhaltung und ggf. auch die Wiederaufwertung von Pflicht- und Akzeptanzwerten. Ob hierbei nur auf das ohnehin bei großen Bevölkerungsgruppen vorhandene Potential an „Wertopportunismus" zurückgegriffen wird, das sich insbesondere mit dem Vorhandensein „gemischter" Werte und ihrer Schwankungsfähigkeit verknüpft, oder ob hier umgekehrt ein Prozeß der dauerhaften Rücksteuerung der Werte und ihrer Einbalancierung in ein längerfristig tragfähiges und produktives Gleichgewicht stattfindet, das den gesellschaftlichen Wandlungen und Zukunftserfordernissen angemessen wäre, vermag allerdings im Augenblick noch niemand mit ernstzunehmender Verbindlichkeit sagen. Skepsis ist diesbezüglich wohl eher angebracht als ein unbesorgter Optimismus, der sich dem Glauben hingibt, daß irgendeine höhere Macht die erforderliche Entsprechung zwischen den Werten, den Bedingungen ihrer Hervorbringung und den Chancen ihrer Verwirklichung schon irgendwie bewerkstelligen werde. Zu einem solchen unbesehenen Evolutionsvertrauen besteht — aus der Perspektive der Wertforschung gesehen — kein Anlaß. Eher besteht Anlaß dazu, der verantwortungsvoll gestellten Frage nach den Bedingungen der Intaktheit und Angemessenheit der „Wertkultur" endlich denjenigen Rang einzuräumen, den sie schon lange verdient.

Thesen zum Zusammenhang von Wertwandel, alter versus neuer Politik und politischen Institutionen U D O BERMBACH

Die folgenden Überlegungen* thematisieren — wenn auch in einer außerordentlich verkürzten und selektiven Weise — einen Zusammenhang, der innerhalb der Wertewandel-Diskussion, wie sie während der vergangenen Jahre vornehmlich in den Sozialwissenschaften geführt worden ist 1 , selten angesprochen wurde, auf den deshalb hingewiesen werden soll, ohne freilich eine ins Detail gehende Analyse damit verbinden zu können: den Zusammenhang von veränderten gesellschaftlichen Werte- und Verhaltensmustern in ihrer Wirkung auf das vorherrschende Politik-Verständnis sowie die Selbst- und Fremdinterpretation politischer Institutionen. Meine These ist - um dies vorweg zu sagen —, daß die teilweise erheblichen Veränderungen der gesellschaftlichen Wertpräferenzen auch zu einem veränderten Politik-Verständnis geführt haben, das seinerseits wiederum nicht ohne tiefgreifende Folgen für die Funktionsfähigkeit wie Legitimier* Der folgende Beitrag ist die stilistisch überarbeitete, sonst aber wesentlich unveränderte Fassung meines Diskussionsbeitrages zum Colloquium 5: Politische Kultur und das Gefüge sozialer Bündnisse. Ich habe darauf verzichtet, diesen Beitrag nachträglich so auszubauen, daß er die Form eines umfangreicheren, wissenschaftlichen Aufsatzes annimmt. Daraus folgt, daß die Anmerkungen nicht - wie üblich - als Nachweis der aufgearbeiteten, einschlägigen Literatur gelten können; der Hinweis auf Literatur erfolgt vielmehr nur dann, wenn im Text auf eine bestimmte Publikation implizit oder explizit Bezug genommen wird. 1 Vgl. zur Wertwandel-Diskussion vor allem R. INGLEHART, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among Western Publics, 1977; H. KLAGES, P. KMIECIAK (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, 1979; H. KLAGES, Wertorientierung im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen, 1984; P. KMIECIAK, Wertstrukturen und Wertwandel in der Bundesrepublik Deutschland, 1976.

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barkeit der zentralen politischen Institutionen der parlamentarischen Demokratie bleiben kann. I. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist die in den Sozialwissenschaften vorherrschende Überzeugung, daß in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik — wie in den meisten westlichen Industriegesellschaften mit allerdings unterschiedlicher Reichweite — ein Wertewandel stattgefunden hat, der - mit Inglehart2 zu reden — von materialistischen zu postmaterialistischen Wertorientierungen tendiert. Man mag die von Inglehart vorgeschlagene Terminologie aufgrund ihrer speziellen inhaltlichen Suggestion problematisch finden und - wie etwa Klages 3 - lieber von der Entgegensetzung der Pflichtund Akzeptanzwerte einerseits, der Selbstentfaltungswerte andererseits sprechen; daß Meinungen (beliefs), Einstellungen (attitudes) und Werte (values) — so Rokeach 4 — insbesondere bei der jüngeren, akademisch gebildeten Generation eine Umorientierung erfahren haben, ist weithin unumstritten. Und Übereinstimmung herrscht auch in bezug auf die generellen Trends dieser Umorientierung: von der bisherigen Konzentration auf unmittelbare, materielle Bedürfnisbefriedigung, auf Sicherheit und Ordnung hin zu einer stärkeren Entfaltung individueller Autonomie und der Eigengestaltung lebensweltlicher Abläufe; von der eher positiven Einschätzung tradierter politischer Institutionen und damit verbunden einem eher passiven politischen Verhalten hin zu einer institutionenkritischen Position, die mit erhöhter Engagementbereitschaft und einem eher aktiven politischen Verhalten einhergeht. Gewiß: solche Veränderungen betreffen zunächst vornehmlich kleinere Bevölkerungsgruppen. Aber deren zumeist herausgehobene soziale Position verleiht ihnen, nicht zuletzt aufgrund ihrer besseren Bildung und höheren Informiertheit, eine meinungsprägende Kraft. Über die öffentlichen Medien sind diese Einstellungsänderungen dann — häufig vielleicht sogar überproportional - so verbreitet und diskutiert worden, daß sie immer stärker die Bevölkerungsmehrheit erreichten und so die Gesellschaft insgesamt betreffende Folgen nach sich zogen, die über die ursprünglichen sozialen Trägergruppen hinaus zu langfristigen strukturellen Veränderungen führen müssen. 2

R . INGLEHART, S. A n m . 1.

3

H . KLAGES, S. A n m . 1 , S . 1 8 f f .

4

M. ROKEACH, The Nature of Human Values, 1973.

Thesen zum Zusammenhang von Wertwandel

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Für die Bundesrepublik lassen sich in der Konsequenz dieses seit Jahren sich vollziehenden Wertewandels zwei wichtige Einsichten vorerst festhalten: zum einen die Feststellung, daß die Veränderungen der Werte- und Verhaltensmuster in Schüben erfolgt ist — und möglicherweise weiterhin erfolgt —, deren strukturelle Konsequenzen allerdings gegenwärtig noch nicht voll absehbar sind; zum anderen die Tatsache, daß der Wertewandel inzwischen die große Mehrheit der Bevölkerung zumindest intellektuell, nicht unbedingt habituell erreicht hat 5 , so daß in Übereinstimmung mit den neueren sozialwissenschaftlichen Untersuchungen davon ausgegangen werden kann, daß sich die unterschiedlichen Wertpräferenzen, die sich scheinbar gegenseitig ausschließen, in der gesellschaftlichen Realität bei der Mehrheit der Bevölkerung überlagern und durchdringen. Die diskursive Popularisierung postmaterialistischer Wertorientierungen ist offensichtlich von der Bevölkerungsmehrheit, und sei's diffus, rezipiert worden, ohne daß damit freilich zugleich eine sofortige dramatische Veränderung des konkreten Alltagsverhaltens einhergeht. Aber diese Rezeption prägt doch langfristig die praktische Urteilskraft, und sie hat Auswirkungen auf das Verhalten und die Einschätzung von Politik und politischen Institutionen.

II. Parallel zur Entwicklung des Wertewandels vollzieht sich, induziert durch die strukturellen Veränderungen der westlich-kapitalistischen Industriegesellschaften infolge der neuen Technologien, zugleich auch ein Uminterpretations- und Neudefinitionsversuch von Politik. Spätestens seit dem Entstehen und der politisch erstaunlichen Behauptung von Ökologie- und Friedensbewegung ist deutlich, daß es innerhalb der Bundesrepublik — und nicht nur hier — offensichtlich zwei miteinander konkurrierende Verständnisse und Auffassungen von Politik gibt, die nicht ohne weiteres kompatibel sind. Stark vereinfacht und typologisch gesprochen, läßt sich ein ,altes, traditionelles und enges' Politikverständnis einem ,neuen' und sehr ,weiten' Politikbegriff gegenüberstellen. Dabei sollen hier unter ,alter' Politik jene Vorstellungen verstanden werden, aus denen sich die in der modernen europäischen Politik-Traditionen verankerten, liberalen Interpretationsmöglichkeiten des Grundgesetzes speisen, die also beispielsweise politisches Handeln - in Abgrenzung zu privatem 5

H . K L A G E S , S. A n m . 1 , S. 8 5 ff.

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einer allgemeinen Öffentlichkeit zuweisen, die Politik einbinden in einen im großen und ganzen unproblematisierten sozio-kulturellen Wertekonsens sowohl der Ziele, wie etwa Wirtschaftswachstum, Arbeits- und Leitungsethos, als auch der Verfahren, wie etwa Mehrheitsentscheidung, persönliche Zurechenbarkeit von politischer Verantwortung und Revidierbarkeit von Entscheidungen — um einige wenige Hinweise zu geben; die schließlich Politik auch immer an Institutionen gebunden verstehen und politische Institutionen ihrerseits wieder auf abgrenzbare Politikfelder ausrichten, in denen sich jede generell verbindliche Willensbildung und Entscheidungsfindung vollzieht. Diesem Typus ,alter' Politik steht - nicht zuletzt aufgrund der Ausbildung des modernen Interventionsstaates — ein ,neues' Politikverständnis gegenüber, das etwa die Trennung von ,öffentlich' und ,privat' nicht mehr in der überkommenen Weise nachvollzieht, sondern gefährdet sieht durch Entwicklungen wie die Ausweitung der Informations- und Kommunikationstechnologien, durch Probleme der Datensammlung, des Anwachsens von Arbeitsplatz- und Lebensrisiko als Folge der Elektronisierung unterschiedlichster Tätigkeitsfelder, durch Kernenergie und die sich abzeichnenden Möglichkeiten der Genmanipulation. Die dadurch mitverursachte Politisierung' nahezu aller Lebensbereiche, auch der bislang privaten, führt zu einer zunehmenden Problematisierung des zuvor relativ unproblematischen Wertekonsens, aber auch zur Unmöglichkeit, überkommene politische Institutionen weiterhin umstandslos auf tradierten, altbekannten Politikfeldern anzusiedeln. Subjektive wie objektive Faktoren wirken hier zusammen: der moderne Interventionsstaat politisiert' immer neue Aktivitätsfelder, die nach altem Politikverständnis eher dem privaten Handeln zugeordnet waren, und er verschränkt, indem er interveniert, diese Bereiche immer stärker miteinander — Stichwort: Politikverflechtung —, was aus der Perspektive der betroffenen Subjekte überwiegend als Abbau ihrer privaten Handlungsmöglichkeiten und gleichzeitige Zunahme genereller politisch-gesellschaftlicher Einbindung und Beschränkung ursprünglich privat interpretierter Lebenszusammenhänge empfunden und begriffen wird. Daß diese Ausweitung staatlicher Zuständigkeit und Handlungskompetenzen, daß Ausbau von Bürokratie und Tendenzen umfassender Verrechtlichung nicht die Folgen machtlüsterner Führungseliten sind, sondern sich aus den strukturellen Entwicklungen spätkapitalistischer Industriegesellschaften ergeben, versteht sich von selbst -

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auch wenn es hier nicht ausgeführt werden kann: der Hinweis auf die ökonomischen wie politischen Restriktionen infolge genereller Ressourcenverknappung, auf die Probleme der Umwelterhaltung wie die Gefahren einer militärischen Globalkatastrophe mag andeuten, worin die gleichsam,objektiven' Bedingungen der Einschränkung von privaten Entfaltungsmöglichkeiten bestehen. Aber solche Einschränkungen ergeben sich auf der Folie eines traditionellen Politikverständnisses, das die dysfunktionalen Konsequenzen moderner Industriegesellschaften mittels Ausweitung des staatlich-administrativen Handelns zu bewältigen sucht, das dabei freilich die normativen Grundlagen der politischen Institutionen wie den gesellschaftlichen Wertekonsens überdehnt und zunehmend infragestellt und so indirekt die postmaterialistischen Wertorientierungen wie die Herausbildung eines neuen Politikbegriffs fördern hilft. Denn jene Tendenzen des Interventionsstaates provozieren den Widerstand der betroffenen Bürger, leiten die Gegenbewegung mit ein, die sich eben in den angezeigten Veränderungstendenzen konkretisiert.

III. Wertewandel einerseits und neues Politikverständnis andererseits tragen jeweils dazu bei, daß es zugleich auch zu einer Neuformierung überkommener Konfliktfelder in Gesellschaft und Politik kommt. Während die traditionellen, materialistischen Wertorientierungen zusammen mit dem ,alten' Politik-Begriff, wie er vor allem in der liberalen Politik-Theorie formuliert worden war, die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der bürgerlichen Demokratien vorwiegend entlang der sozialen Interessenslinien und ökonomischer Klassenkonflikte organisierten, ist die Eindeutigkeit dieses alten ,linksrechts'-Schemas inzwischen nachhaltig aufgelöst worden. Die Rezeption neuer, postmaterialistischer Wertpräferenzen seitens der Mehrheit der Bevölkerung, die damit veränderte Einstellung zu Politik und Gesellschaft, die Ausweitung des Politik-Begriffs und seine strukturell-institutionelle Entgrenzung erschweren eine eindeutige soziale Zuschreibung politischer Lösungsvorschläge und Programmatik und führen — wie Inglehart neuerdings plausibel gezeigt hat 6 — zu 6 R. INGLEHART, Traditionelle politische Trennungslinien und die Entwicklung der neuen Politik in westlichen Gesellschaften, in: PVS, 1983, S. 139 ff.

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tiefgreifenden strukturellen Veränderungen im Bereich der politischen Interessenvertretungen. Überlagerung und Durchdringung differenter Wertorientierungen labilisieren aber auch die Eindeutigkeit der Haltung und Einstellung der Bevölkerung zum politisch-institutionellen Umfeld, so daß Tendenzen entstehen, neue Formen der politischen Artikulation zu entwickeln — wie etwa die Bürgerinitiativen oder die zahlreichen Basisgruppen innerhalb der Ökologiebewegung —, und zugleich die überkommenen politischen Organisationen im Sinne der neuen Werte umzustrukturieren. Das hat, etwa für politische Parteien und Gewerkschaften, weitreichende Folgen: sie sehen sich mit der Gefahr konfrontiert, in materialistisch und postmaterialistisch orientierte Flügel auseinanderzufallen und entsprechend schwierige und komplizierte Ausgleichsverfahren entwickeln zu müssen, zudem auch hinsichdich der Mobilisierung und Organisierung ihrer traditionellen Klientel durch die Berücksichtigung der neuen Wertorientierungen in größte Schwierigkeiten zu geraten. Daß ein solcher Umstrukturierungsprozeß in praxi nur sehr langsam und schwerfällig vonstatten geht, hängt nicht nur damit zusammen, daß alte, eingefahrene Handlungsmuster nur ungern aufgegeben werden, zumal wenn neue noch nicht zweifelsfrei zur Verfügung stehen, sondern auch damit, daß unklar bleibt, wessen Interpretation der bevorstehenden Veränderungsprozesse sich am Ende als richtig erweisen wird. Hinzu kommt die Umpriorisierung von traditionellen Politikfeldhierarchien, die sich aus dem Wertewandel zwangsläufig ergibt: etwa Umweltschutz vor Umverteilung, Erweiterung privater Lebensgestaltung vor beruflicher Karriere — um zwei, durch Umfrageergebnisse belegbare Beispiele anzuführen. Auch hierauf müssen sich die politischen Interessensorganisationen und Parteien erst noch einstellen, wenngleich freilich nicht zu verkennen ist, daß der Prozeß der Neuhierarchisierung von politisch-gesellschaftlichen Präferenzen und entsprechender Umpriorisierung der Politikfelder bereits in vollem Gange ist. IV. Die Institutionen der parlamentarischen Demokratie, wie sie sich auch in der Bundesrepublik nach 1949 entwickelt haben, basieren auf einem Gefüge aufeinander bezogener Werte, die ihrerseits wiederum auf das engste mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Geschichte verbunden sind. Parlamentarische Regierung hat sich historisch nur

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dort herauszubilden vermocht, wo im Rahmen weithin unproblematisch verstandener, lebenspraktisch geteilter Wertvorstellungen die Organisation des politischen Systems in ihren fundamentierenden Wertprämissen denen des sie politisch tragenden Bürgertums dominant entsprach oder mit ihnen sogar identisch war. Diese enge Verbindung von gesellschaftskonstitutiven Wertvorstellungen und der Ausbildung und Entwicklung darauf bezogener Institutionen wird verdeutlicht durch die Überlegung, daß Institutionen hinsichtlich ihrer Anerkennung wie ihrer dauerhaften Stabilität darauf angewiesen sind, gesellschaftliche Verbindlichkeit für die in ihnen angelegten, sie zugleich strukturierenden Handlungsmuster strikt einzufordern, unabhängig davon, ob die zugrundeliegenden Rechtfertigungen, Motive und politischen Funktionen außerhalb ihrer selbst immer bekannt sind und durchschaut werden. Zwischen gesellschaftlichen Wertorientierungen und den diesen je zugehörigen politischen Institutionen besteht daher ein unmittelbarer historischer wie systematischer Zusammenhang, der die politischen Institutionen einer Gesellschaft auch beliebiger Manipulationen wie Interpretationen beraubt, und der es in aller Regel unmöglich macht, beide Bereiche voneinander ohne legitimationsmindernde Wirkung zu entkoppeln. So fordern die politischen Institutionen des parlamentarischen Regierungssystems einen normativen Bezugsrahmen, der sich im Horizont der ,alten' Politik bewegt und der — trotz einer gewissen interpretativen Offenheit — sich doch nicht bruchlos den neuen, postmaterialistischen Wertorientierungen einfügen läßt. Es muß an dieser Stelle genügen, statt eines historisch-systematischen Beweises an zwei Beispielen den gemeinten Zusammenhang zu verdeutlichen. So etwa ist das der liberalen Repräsentationsidee implizite ,freie' Mandat nur dann ein politisch sinnvolles Organisationsprinzip, wenn gleichzeitig mit seiner Geltung gewährleistet wird, daß die politischen Repräsentanten in ihren Entscheidungen den normativen Fundamentalkonsens ihrer Wählerbasis nicht verletzen; anders formuliert: das freie Mandat des modernen Parlamentarismus als Institut politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung setzt relative ökonomische, soziale und kulturelle Homogenität von Wählern und Gewählten voraus, weil anders die Übertragung politischer Entscheidungskompetenzen vom Wähler auf den Repräsentanten ein zu hohes Risiko für den Wähler beinhalten würde. Der Repräsentierte muß sicher sein können, daß seine fundamentalen Interessen wie seine grundsätzlichen Wertorientierungen nicht verletzt und mißbraucht

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werden, und er findet diese Sicherheit in der potentiellen Übereinstimmung seiner eigenen Interessen und Wertorientierungen mit denen des von ihm gewollten politischen Repräsentanten. Wo dieser Fundamentalkonsens verletzt ist oder nicht mehr besteht — etwa aufgrund starker sozialer Unterschiede und den daraus resultierenden Interessensgegensätzen —, kommt in aller Regel die Forderung nach Instruktionen bzw. dem imperativen Mandat auf. Ähnliche Vorbedingungen lassen sich auch für das die parlamentarische Regierungsweise konstituierende Prinzip der jederzeitigen Auswechselbarkeit von Regierung und Opposition ausmachen. Die Intention der Ausbildung einer systembezogenen Opposition, die als potentielle Regierung auftreten kann, hat zu ihrer Vorbedingung die generelle Akzeptanz grundlegender gesellschaftlicher Wertorientierungen durch beide, Regierung wie Opposition. Verletzt einer der beiden Kontrahenten diesen Fundamentalkonsens, so macht das Prinzip des Auswechseins von Regierungsmehrheiten kaum mehr Sinn, weil die Revidierbarkeit zuvor getroffener Entscheidungen nicht mehr gegeben ist. Auf solche Revidierbarkeit freilich zielt der parlamentarische Dualismus, und sie wird — entsprechend dem ,alten' Politikverständnis — vornehmlich dadurch garantiert, daß die fundamentalen gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Werte politisch nicht zur Disposition stehen, sondern lediglich deren jeweilige Umsetzung in konkrete Politik Gegenstand der politischen Auseinandersetzung und Konkurrenz sein kann. Es ließen sich hier leicht weitere Beispiele für die oben formulierte These vortragen, daß die Institutionen des modernen Parlamentarismus ihre Legitimation aus dem Wertbestand einer im Rahmen der ,alten' Politik sich bewegenden Gesellschaft ziehen. Das soll nicht heißen, daß mit der heute sich vollziehenden Problematisierung dieses Wertbestandes durch erhebliche Teile der Gesellschaft selbst die tradierten politischen Institutionen notwendigerweise dysfunktional werden müßten, wohl aber bedeutet es die Problematisierung ihrer Legitimationsbasis, verbunden mit der Gefahr eines wachsenden Legitimationsentzugs. Für die Bundesrepublik kann, in bezug auf die wechselweise Durchdringung und Rezeption von materialistischen und postmaterialistischen Wertorientierungen, von einer „Schwebelage" 7 hinsichtlich der Wertausstattung der Bevölkerung gesprochen werden, und dieser Situationseinschätzung entspricht eine parallele Beurteilung auch der 7

H . K L A G E S , S. A n m . 1 , S. 1 4 6 .

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Institutionen des parlamentarischen Systems: sie bleiben einerseits bezogen auf jene sie legitimierenden Wertbestände der ,alten' Politik, sehen sich aber zugleich hinsichtlich ihrer Handlungsorientierungen und Entscheidungsanforderungen mit Zielperspektiven konfrontiert, die sich aus dem Wertewandel ergeben. Aus diesem, hier außerordentlich verkürzt formulierten Befund, resultieren äußerst unterschiedliche, ja oft widersprüchliche Anforderungen, denen das politische Organisationsgefüge gelegentlich nur noch mit Mühe gewachsen scheint. Dem ständig drohenden Legitimationsschwund begegnen die meisten Politiker dadurch, daß sie die bestehenden Institutionen und ihre Leistungen im Rahmen eines konventionell verstandenen Normenbestandes interpretieren, sie damit nicht nur verteidigen, sondern sie auch durch immer wiederholten Rückgriff auf historische Rechtfertigungsmuster gegenüber prinzipieller Kritik zu immunisieren suchen. Ziel einer solchen Strategie — die freilich nicht nur von Berufspolitikern verfolgt wird, sondern auch von all denen, die am status quo ante interessiert bleiben — ist es sicherlich auch, neue institutionelle Bedürfnisse, die sich aus den geänderten Wertorientierungen und den diese Wertorientierungen forcierenden neuen sozialen Bewegungen ergeben, möglichst abzublocken, sie vielleicht sogar als nicht systemkonform in eine nichtakzeptable Minderheitenposition drängen zu können. Freilich: eine solche Strategie, die materialistische Wertpräferenzen, ,altes' Politikverständnis und traditionale Institutionenrechtfertigung zusammenzufügen sucht, um Wertewandel, ,neues' Politikverständnis und neue institutionelle Bedürfnisse nach Möglichkeit aus dem gesellschaftlichen Mehrheitskonsens ausgrenzen zu können, kann allenfalls partielle, vorübergehende Erfolge zeitigen; denn der schlichte Rückgriff auf historische Traditionsbestände, die nur noch sehr vermittelt mit der konkreten Alltagspraxis der meisten Bürger in Beziehung gesetzt werden können, bricht sich an der sozialen Realität. Eine Gesellschaft — wie die der Bundesrepublik —, die im Zustand unausgetragener, vor allem auch unentschiedener Wertekonflikte lebt, deren rascher ökonomischer, sozialer und kultureller Wandel von den Betroffenen als mit den traditionalen Wertorientierungen kontingent erfahren wird, läßt sich kaum durch ritualisierte Beschwörungen eines unbeschädigten Wertekosmos konsensuell entschärfen. Und insoweit der öffentliche Appell der ,Traditionalisten' ernst genommen wird, führt er kaum zur politischen Sanierung beschädigter Insitutionen; im Gegenteil, die Konsequenzen bestehen eher in extern induzierten Delegitimationsprozessen, verstärkt durch interne De-

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struktion der Institutionen seitens derer, die in diesen Institutionen und durch diese handeln und sich dabei angeblich einer vorherrschenden Institutionenethik verpflichtet fühlen, diese in der Praxis allerdings mit ihren jeweiligen konkreten Entscheidungen desavouieren. Drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit der Bundesrepublik mögen diesen Sachverhalt illustrieren: zum ersten die ,Generalsaffäre' von 1983/84, aus der der verantwortliche Verteidigungsminister, trotz schweren Fehlverhaltens, keine persönlichen Konsequenzen zog, das Prinzip der ,Ministerverantwortlichkeit' also suspendiert wurde; zum zweiten die Affäre ,Buschhaus' im Sommer 1984, bei der der Bundestag auf einer eigens einberufenen Sondersitzung entgegen einem kurz zuvor einstimmig getroffenen Beschluß auf nunmehrigen Druck der Regierung die Inbetriebnahme dieses Kraftwerks beschließen mußte, wodurch das Prinzip der ,Parlamentssouveränität' verabschiedet wurde; zum dritten schließlich die seit längerem schon schwelende ,Flick-Affäre', die — unabhängig davon, wie die Gerichte der Bundesrepublik in dieser Sache am Ende entscheiden werden — zumindest soviel bereits jetzt gezeigt hat: daß der Verweis auf den Rechtsstaat' in den Reden der Politiker und die Ausrichtung des eigenen Handelns an dessen Normen entschieden differieren können, eine grundsätzliche Problematisierung der allgemeinen Geltung rechtsstaatlicher Prinzipien also. Man mag die Gemeinsamkeiten solcher Beispiele, die sich gewiß beliebig vermehren ließen, in der „Privatisierung der öffentlichen Moral" (Tenbruck) sehen, aber es bleibt doch darauf hinzuweisen, daß solche Privatisierung' selbst wiederum nur Folge von Veränderungsprozessen ist, angesichts derer die Erhaltung von politischer Macht nur um den Preis einer widersprüchlichen, gemessen am ,alten' Politikverständnis moralisch unglaubwürdigen und strukturell eben selbstdestruktiven Strategie zu haben ist. Für die politischen Institutionen bedeutet eine solche Strategie aber zugleich noch ein weiteres: eine objektive Überforderung, insofern ihnen Entscheidungsleistungen abverlangt werden, auf die hin sie sich nicht entwickelt haben, für die sie nicht konstruiert worden sind und die sie — mit Rückgriff auf ihre ursprüngliche Legitimationsgrundlage — auch nicht überzeugend rechtfertigen können. Die neuerdings wieder entbrannte Diskussion um die ,Mehrheitsregel' 8 hat nachdrücklich deutlich gemacht, daß angesichts erheblicher 8 B. GUGGENBERGER, C. OFFE (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, 1984.

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Infragestellung von Geltungsvoraussetzungen, wie etwa der ausschließlichen Anwendung dieser Regel nur im öffentlichen Bereich, der Nichtproblematisierung des hier geltenden Wertekonsens sowie der Revidierbarkeit der Entscheidungen, jeder Versuch, Legitimität durch Verfahren' (Luhmann) sichern zu wollen, in der politischen Praxis auf das stärkste gefährdet ist. Denn in die Verfahrensregeln, auf die Gesellschaften sich zur Regulierung ihrer Konflikte einigen, sind deren fundamentale Wertvorstellungen eingelassen, und im Konfliktfalle hilft die Konzentration auf Verfahren als Möglichkeit der Konfliktentschärfung oder gar als Lösung allenfalls temporär. Wo existentielle Überzeugungen mit Hilfe überlieferter Verfahrensregeln aus den prävalierenden Wertorientierungen ausgegrenzt und damit politisch wirkungslos gemacht werden, wird zwangsläufig das Verfahren selbst zur Disposition gestellt, auch dann, wenn alternative oder komplementäre Verfahrensmuster noch nicht zur Verfügung stehen. In der Konsequenz einer solchen Situation liegt die Gefahr der Blockade aller wichtigen, die grundlegenden Lebensinteressen einer Gesellschaft betreffenden Entscheidungen — so lange, bis Verfahrensregeln und Wertorientierungen durch Mehrheitskonsens wieder harmonisiert werden können. V. Ich habe — in sicherlich ungebührlicher Kürze - versucht, einen Zusammenhang von Wertewandel, sich änderndem Politikverständnis und politischen Institutionen zu skizzieren, aus dem sich bei genauerer Betrachtung einige weitreichende Folgerungen ziehen lassen, von denen ich hier allerdings nur drei noch kurz andeuten möchte. Eine erste Konsequenz der sich wandelnden gesellschaftlichen Gesamtsituation mag in einer erweiterten Neuinterpretation vornehmlich der im Grundgesetz verankerten Grundrechte liegen. Eine solche Neuinterpretation hätte vom Faktum der sich durchdringenden materialistischen wie postmaterialistischen Wertorientierungen auszugehen und die allmähliche Umpriorisierung der gesellschaftlichen Wertehierarchien auf der Ebene der Rechtsprechung nachzuvollziehen. Es liegt nahe, das ,Recht' auf saubere Luft und auf sauberes Wasser, auf eine möglichst unbeschädigte Umwelt wie den Schutz der eigenen Gesundheit vor externen Gefährdungen etwa in die Interpretation der Artikel 1 (Würde des Menschen) und 2 (freie Entfaltung)

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des Grundgesetzes miteinzubeziehen. Insofern der Wertewandel auch die sozialen Lebens- und Kommunikationsformen tangiert, könnten entsprechende Grundrechtsauslegungen verändert und ergänzt werden; um ein Beispiel zu geben: Artikel 6 GG (Schutz der Familie) ließe sich erweitern auf den Schutz von Lebensgemeinschaften überhaupt, wobei die Formen solcher Lebensgemeinschaften allenfalls nur noch von sekundärer Bedeutung wären. Allgemein gesprochen: unter dem Druck des sich vollziehenden Wertewandels wird die Gesellschaft es kaum vermeiden können, die tradierten Vorstellungen von bürgerlicher Subjektivität, wie sie seit der frühen Neuzeit als konzeptionelle Grundlegung der bürgerlichen Gesellschafts- und Staatstheorien fungieren, neu zu überdenken und im Sinne postmaterialistischer Wertpräferenzen partiell zu revidieren, sie den Bedingungen einer sich rasch wandelnden Industriegesellschaft anzupassen und in ihren sozialen Bezügen mit neuen Inhalten zu füllen. Aus solcher Veränderung der Sozialbezüglichkeit des bürgerlichen Subjektes' ergeben sich Folgerungen für die gesellschaftliche Organisationsebene. Die sich im ,neuen' Politikverständnis andeutende ,Politisierung' bislang privater Lebensbereiche führt auf der Ebene des subjektiven Bewußtseins unter anderem zur Ausweitung politischer Partizipationsansprüche, infolge sowohl erhöhter subjektiver politischer Betroffenheit wie auch der Neuformierung von Politikfeldern, in denen verstärkt aktiv zu werden dem subjektiven Bewußtsein vor allem jener entspricht, die den Postmaterialismus dominant vorantreiben und sozial tragen. Daß dieses Auswirkungen auf Programmatik wie Organisationsstruktur sowohl der Parteien wie anderer gesellschaftlicher Interessenvertretungen hat, liegt auf der Hand; in dem Maße, wie postmaterialistische Werthaltungen sich in der Gesellschaft mehr und mehr erfolgreich durchzusetzen vermögen, werden Parteien wie Gewerkschaften gezwungen sein, ihre bisherigen Programme den neuen Wertpräferenzen zumindest soweit anzugleichen, daß eine Synthetisierung von ,alter' und ,neuer' Politik gelingen kann. Und sie werden darüber hinaus auch durch die neuen, konkurrierenden ,Bewegungen' weiter gezwungen, ihre eigenen Organisationsstrukturen einem sich wandelnden Politik-Verständnis anzupassen, weil andernfalls ihre Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit, und damit letztendlich ihre Politikfähigkeit überhaupt, zu Schaden kommen könnte. Das könnte langfristig zu einer organisatorischen Öffnung an der Basis hin zu den neuen sozialen Bewegungen führen, zu einer Stärkung unmittelbarer

Thesen zum Zusammenhang von Wertwandel

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Partei-Demokratie und Partei-Partizipation, zu weniger scharfer Abgrenzung der Parteiorganisation gegenüber ihr sympathisierend angelagerten ,Vorhöfen' direkter politischer Betätigung. Schließlich könnte eine vielleicht bedeutsame Konsequenz des oben festgestellten Wandlungsprozesses darin liegen, daß nachgedacht werden muß über die institutionelle Entkoppelung von unterschiedlichen Politikbereichen und Politikfeldern. Gemeint ist damit einmal eine verstärkte Dezentralisierung von gegebenen Entscheidungsstrukturen — wie sie in den unterschiedlichen Modellen von direkter Demokratie bereits zur Verfügung stehen, also sinngemäß übernommen werden könnten —, gemeint ist aber auch eine ,Regionalisierung' von Politik, etwa dergestalt, daß in unterschiedlichen Politikfeldern je eigene, den Sachproblemen adäquate Willensbildungs- und Entscheidungsmodelle zur Verfügung stehen. Es läßt sich denken, daß bei Konfliktlösungen lokaler Provenienz nach anderen Verfahren entschieden wird als etwa im Bereich der Außenpolitik. Das bedeutet die Akzeptanz und Einbindung neuer institutioneller Mitspracheformen — von Bürgerinitiativen bis hin zu Formen der Selbstorganisation — in den vom Grundgesetz vorgezeichneten, übergreifenden Institutionenzusammenhang, eine Pluralisierung und Variabilisierung von Partizipations- und Entscheidungsformen, in die die konkurrierenden Wertsysteme jeweils eingehen können und sich gegeneinander behaupten und durchsetzen müssen. Gemeint ist aber auch eine gelegentlich vielleicht zeitliche Aussetzung von Entscheidungen und die Einschränkung überkommener Entscheidungsverfahren dort, wo eine gesamtgesellschaftlich verbindliche Entscheidung die entscheidungsleistende Institution überfordert' und betroffene gesellschaftliche Gruppen aus dem Mehrheitskonsens definitiv ausschließt. In diesem Falle könnten alternative bzw. ergänzende Formen ,kooperativer Konsensfindung' (Offe), wie sie auch in neueren konsenstheoretischen Gesellschaftstheorien (Habermas) angelegt sind, an die Stelle der alten Verhaltens- und Verfahrensmuster treten. Es versteht sich von selbst, daß damit die Konsequenzen der eingangs formulierten These bei weitem nicht wirklich umfassend vorgestellt sind; und es sei unbestritten, daß viele dieser Konsequenzen zu politischen Institutionalisierungsvorschlägen führen mögen, die selbst nicht als historisch neu auftreten können. Es ist leicht nachweisbar, daß nahezu alle denkbaren gesellschaftlichen und politischen Organisationsmodelle zumindest theoretisch schon durchgespielt worden sind. Was freilich neu ist, ist die Kombination solcher Institutionen und Organisationselemente im Kontext und bezogen auf

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je spezifische Abschnitte gesellschaftlicher Entwicklung, die ihrerseits allerdings als historisch neu auftreten können: denn man wird kaum behaupten wollen, die gegenwärtig beobachtbaren Veränderungsprozesse spätkapitalistischer Industriegesellschaften seien irgendwann in theoretischen Modellen schon vorab durchgespielt worden. Darauf zu reagieren, war Sinn dieser kurzen Skizze.

Zur Legitimität des politischen Systems in den westlichen Demokratien M A X KAASE

I. Vorbemerkung 1975 schrieb D. Easton: „Given its long and venerable history as a central concept in political science, legitimacy has yet to receive the attention it merits in empirical research. If additional analytic clarification of a concept is a normal dividend from efforts at application, this poverty in research limits the extent to which existing theoretical analysis can be amplified or improved." 1 Zehn Jahre nach diesem bitteren, aber zutreffenden Verdikt muß man feststellen, daß sich an dieser unbefriedigenden Situation — der fehlenden gegenseitigen Befruchtung von Theorie und empirischer Forschung im Bereich der Legitimitätsüberzeugungen — immer noch nichts grundlegendes geändert hat. Immerhin, und davon wird im folgenden noch ausführlicher die Rede sein, zeichnen sich sowohl Anstrengungen zu einer theoretisch-konzeptionellen Klärung als auch zu einer systematischen Aufarbeitung bereits vorhandener Daten in historischer Perspektive ab. So scheint die Hoffnung nicht völlig unbegründet, daß die lange Phase theoretischer Spekulationen über die Akzeptanz demokratisch-liberaler Regierungsweise, die sich mit dem Begriff der Legitimitätskrise auf den Punkt bringen läßt, nun durch den von Easton gewünschten Dialog zwischen theoretischen Positionen und empirischen Befunden langsam abgelöst wird. Der Winston Churchill zugeschriebene Truismus, daß von allen schlechten Regierungsformen die liberale Demokratie immer noch die beste sei, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Ambivalenz gegenüber einer Regierungsform, in deren Natur — wie später noch zu argumen1 D. EASTON, A Re-Assessment of the Concept of Political Support, in: British Journal of Political Science, Vol.5, 1975, S . 4 3 5 - 4 5 7 , S.451.

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Max Kaase

tieren sein wird — die systematische Erzeugung dieser Ambivalenz liegt. Selbst die unabweisbare Tatsache, daß von den ca. 160 heute existierenden Nationalstaaten bestenfalls 20, vielleicht auch 30 als Demokratien im Sinne von auf freien kompetitiven Wahlen beruhenden politischen Herrschaftsverhältnissen bezeichnet werden können 2 und die wirtschaftlichen wie sonstigen Lebensverhältnisse in diesen Ländern unvergleichlich besser als in allen anderen Gesellschaften dieses Erdballs sind, hindert viele Mitglieder dieses exclusiven Clubs offenkundig nicht daran, ihrer politischen Gemeinschaft mit tiefer Skepsis und großer innerer Distanz gegenüberzutreten. Schon an dieser Stelle wird deutlich, wie wichtig die angemessene analytische Durchdringung des Problembereichs ist. Ein System von institutionell fixierten Gewichten und Gegengewichten, wie es in der amerikanischen Verfassung verankert ist, trägt dem Gedanken Rechnung, daß auch unter der — unrealistischen — Annahme der grundsätzlichen Gutheit aller Menschen nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden kann, daß einmal gewonnene Macht korrumpiert. Gerade hier liegt die Stärke einer demokratisch-liberalen Verfassungsordnung, die politische Macht institutionell vielfältig beschränken will. Überträgt man diesen Gedanken, wie Sniderman3 dies getan hat, normativ auf das Idealbild eines demokratischen Bürgers, so ergibt sich ein Bild, in dem Elemente von aktiver Zuwendung zur Demokratie untrennbar mit der Sorge um den Machtmißbrauch der herrschenden politischen und gesellschafdichen Eliten und damit notwendigerweise mit einer inneren Distanz zum System verbunden sind und — um hier bewußt normativ zu argumentieren — im Interesse der Aufrechterhaltung demokratischer Regierungsweise verbunden sein müssen. Eine ganz andere — und demokratietheoretisch höchst umstrittene — Frage ist, inwieweit der einzelne Bürger der demokratischen Politik überhaupt verbunden sein muß, um deren Überleben zu sichern. Vorstellungen, daß es hier nur auf das Maß an aktiver Abwendung, nicht aber an aktiver Zuwendung4 ankomme, daß die politische Rolle des — mutmaßlich unzuverlässigen — Bürgers möglichst klein und die der Eliten möglichst groß gestaltet werden solle, aber auch, daß ohne umfassende aktive Zuwendung des Bürgers keine demokratische, d. h. auf freier individueller Zustimmung begründete Politie auf Dauer bestehen könne, geben nur im gröbsten das Spektrum der möglichen 2 G. B. POWELL JR., Contemporary Democracies. Participation, Stability and Violence, 1982. 3 P. M. SNIDERMAN, A Question of Loyalty, 1981. 4 J. D. WRIGHT, The Dissent of the Governed, 1976.

Zur Legitimität des polit. Systems in den westlichen Demokratien

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Argumente wider. Gerade wenn man dieses Fortbestehen wünscht, ist eine systematische Analyse auf empirischer Grundlage der hierzu förderlichen und hinderlichen Bedingungen eine unverzichtbare Voraussetzung. Der Frage, ob es so etwas wie eine demokratische Persönlichkeit, ein der Herrschaftsform der Demokratie besonders gut entsprechendes Syndrom von individuellen Eigenschaften und Fähigkeiten gibt, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. 5 Sie wurde nur aufgeworfen, um zu zeigen, daß selbst unter einer solchen Perspektive nicht gleichsam selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, daß gute Demokraten nur solche sein können, die „das System" vorbehaltlos unterstützen. Zu fragen ist jedoch, was dem makropolitischen Datum der institutionellen Differenzierung — etwa im Sinne der Gewaltenteilung oder des Förderalismus — auf individueller Seite, auf der Seite des Bürgers, entspricht und entsprechen kann, wenn es um die Akzeptanz des politischen Systems, um — mit Max Weber - die Geltung einer politischen Ordnung als legitim geht. 6

II. Zur theoretischen Orientierung Einerseits wird in diesem Aufsatz die Legitimität der politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland untersucht. Andererseits kann eine solche Analyse Sinn und Reichweite nur in bezug auf einen definierten Ankerpunkt gewinnen. Zwei solcher Ankerpunkte bieten sich an: der Vergleich mit anderen Ländern ähnlicher politischer Organisationsform und die Betrachtung in der historischen Zeit im Sinne einer Längsschnittanalyse. Hier sollen beide Aspekte thematisiert werden, wenn auch dem internationalen Vergleich ein etwas größeres Gewicht beigemessen wird. Nach der Weber'schen Konzeptualisierung können liberale Repräsentativdemokratien dem Typus der rationalen Herrschaft zugerechnet werden, wobei offen bleiben kann, inwieweit die Begründungen für die Legitimität dieser Herrschaft sowohl wert- als auch zweckrationale Elemente aufweisen mögen. Kielmansegg7 hat schon früh auf ein wichtiges Mißverständnis bei der Rezeption der Weber'schen Herrschaftssoziologie hingewiesen: Die drei Idealtypen legitimer S. dazu etwa P. M . SNIDERMAN, Personality and Democratic Politics, 1 9 7 5 . M.WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe in 2 Bänden, 1 9 5 6 . 7 P.GRAF KIELMANSEGG, Legitimität als analytische Kategorie, PVS, 12.Jg., 1 9 7 1 , S. 3 6 7 - 4 0 1 , S. 3 7 6 ff. 5 6

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Max Kaase

Herrschaft unterscheiden sich nicht in der Grundstruktur der Herrschaftsüberzeugungen der beherrschten Bürger, sondern in den jeweiligen Herrschaftsstrukturen, also Merkmalen der Makroebene. Der zentrale Aspekt jeder Herrschaftsordnung, nämlich für Entscheidungen und Anordnungen der Herrschenden bei den Beherrschten Gehorsam zu finden, übersetzt sich in das politische System als dessen Fähigkeit, die autoritative Allokation von Werten (Easton) erfolgreich vorzunehmen. Die Eigenart moderner liberaler Demokratien besteht nun gerade darin, bei diesem Allokationsprozeß auf die freiwillige Zustimmung der Bürger angewiesen sein zu müssen, die in institutionalisierter Weise, insbesondere durch das Verfahren der allgemeinen und gleichen Wahl von Parlamenten, regelmäßig eingeholt wird. Die höchst kontroverse Diskussion in der Bundesrepublik über die vielfältigen Aspekte von Legitimität ist an anderer Stelle aufgearbeitet worden, so daß darauf hier verzichtet werden kann.8 In diesem Beitrag soll vielmehr ein Element des Themenkomplexes „Legitimität" herausgegriffen werden, das in dieser Diskussion eigenartigerweise (oder sollte man besser sagen: typischerweise9) praktisch überhaupt keine Rolle gespielt hat: die Orientierungen und Uberzeugungen der einzelnen Bürger hinsichtlich der politischen Ordnung des Landes, in dem sie leben. Nicht alle politischen Herrschaftsformen sind gleichermaßen von der Einstellung der Bürger zu ihnen abhängig; wo staatlicher politischer Zwang bis hin zum Terror institutionell verankert ist und durch hinreichende Ressourcen Glaubwürdigkeit gewonnen hat, kann man im Notfall auf freiwilliges Einverständnis sehr wohl verzichten. Die Beschwörung der Unregierbarkeit der westlichen Demokratien, die in den späten siebziger Jahren die Runde machte, gewann ihre themenstrukturierende Kraft jedoch nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß man glaubte, eine zunehmende Abwendung und Entfremdung der in den liberal-repräsentativen Demokratien lebenden Bürger von dieser Herrschaftsform ausmachen zu können. Diese Abwendung, so die These, dokumentierte sich augenfällig in der zunehmenden Neigung der Bürger, sich protestorientierter Formen der direkten politischen Beteiligung zu bedienen.10 8 S. dazu H.VORLÄNDER, Verfassung und Konsens, 1981; J.HEIDORN, Legitimität und Regierbarkeit. Studien zu den Legitimitätstheorien von Max Weber, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas und der Unregierbarkeitsforschung, 1982. 9 S. dazu W. HENNIS, Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, 1957; W.-D.NARR, C.OFFE (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat und Massenloyalität, 1975. 10 Für eine international vergleichende Analyse dieser Erscheinungen siehe

Zur Legitimität des polit. Systems in den westlichen Demokratien

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In der empirischen Forschung war die Vermutung eines Legitimitätseinbruchs in westlichen Demokratien erstmals in einer Analyse von Miller 11 für die USA geäußert und dokumentiert worden, nicht ohne allerdings sofort auf Widerspruch zu stoßen, was die Interpretation der Daten anging. 12 Im Kern ging es bei dieser Kontroverse um die Frage, auf welche Elemente der demokratischen Ordnung sich die empirisch konstatierte Krise bezog, auf (lediglich) die Inhaber der politischen Herrschaftspositionen oder auch auf zentrale Elemente der demokratischen politischen Ordnung insgesamt. Wie dies häufig bei interessanten wissenschaftlichen Kontroversen geschieht, wurde auch in diesem Fall lediglich ihr attraktiver Kern — nämlich die These des Legitimitätsverlusts — aufgenommen und in der nachfolgenden Diskussion bereits als Faktum konstatiert. 13 Muller und Jukam 1 4 wiesen aber bereits früh darauf hin, daß über die Reichweite der vermuteten Krise aufgrund der nach theoretischen Kriterien unzureichenden Qualität der amerikanischen Daten keinerlei verbindliche Aussagen gemacht werden könnten. Diese Auffassung belegten sie u. a. mit dem Hinweis auf Easton 15 , der in systemtheoretischer Perspektive einen analytischen Rahmen für die angemessene empirische Untersuchung von Legitimitätsüberzeugungen erarbeitet habe. Eine differenzierte Behandlung der Easton'schen Überlegungen würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. 16 Für die Bewertung der später berichteten empirischen Daten genügt es jedoch, auf zwei zentrale Elemente des Ansatzes von Easton hinzuweisen. Erstens ist der von ihm als relevant angesehene Orientierungstypus, den Bürger als politische Wesen besitzen (oder nicht bzw. nur zum Teil besitzen), der der politischen Unterstützung (political support). Unterstützung ist stets objektspezifisch und weist zwei Formen auf: Spezifische S. H. BARNES, M. KAASE et al., Political Action. Mass Participation in Five Western Democracies, 1979. 11 A. H. MILLER, Political Issues und Trust in Government 1964—1970, American Political Science Review, Vol. 68, 1974, S. 951-972. 12 J. CITRIN, Comment: The Political Relevance of Trust in Government, American Political Science Review, V0I68, 1974, S. 973-988. 13

S. z . B . M . C R O Z I E R , S . P . H U N T I N G T O N , J . W A T A N U K I , T h e C r i s i s o f D e m o -

cracy, 1975. 14 E. N. MULLER, T. O. JUKAM, On the Meaning of Political Support, in: American Political Science Review, Vol. 71, 1977, S. 1561-1595. 15 D. EASTON, A Systems Analysis of Political Life, 1965 sowie ders., s. Anm. 1. 16 Eine ausführliche Darstellung leistet B. WESTLE, Zur Theorie und Messung politischer Legitimität, unveröff. Mskr., Mannheim, 1984.

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Max Kaase

Unterstützung (als instrumentelle Orientierung) richtet sich auf das, was Objekte tun — also deren Output —, diffuse (generalisierte) Unterstützung richtet sich auf die symbolische Totalität des Objekts, das, was ein Objekt ist und darstellt. 17 Zweitens existiert nach Easton eine Hierarchie von drei politischen Objektebenen, auf die sich die Orientierungen der Bürger beziehen können: die Inhaber der politischen Herrschaftspositionen (authorities), das Regime (mit seinen Normen, Werten und Strukturen) und schließlich die politische Gemeinschaft. Der für die Stabilität demokratischer Gesellschaften bedeutsame Gesichtspunkt der Easton'schen Konzeptualisierung liegt in der Tatsache, daß über die Unterscheidung in outputabhängige und outputunabhängige Unterstützung differenzierungstheoretisch verständlich gemacht werden kann, warum die in den westlichen Wettbewerbsdemokratien institutionell gewollte und empirisch nachweislich erzeugte Unzufriedenheit zumindest eines Teils der Bürger (nämlich: der Anhänger der Oppositionsparteien) mit den Ergebnissen der Politik nicht bald in eine grundsätzliche Unzufriedenheit mit „dem System" umschlägt. Natürlich führen die institutionellen Arrangements und entsprechenden Orientierungen der Bürger nicht zu Ultrastabilität in dem Sinne, daß überhaupt kein grundsätzlicher Wandel, bis hin zum Wechsel der Regierungsform, mehr Zustandekommen kann. Für die empirische Forschung und die politische Praxis der Demokratie sind ja gerade die Fälle von besonderem Interesse, wo ein solcher Wandel insbesondere der Übergang von einem demokratischen zu einem totalitären oder autoritären Regime - stattfindet bzw. stattgefunden hat. Dennoch verdienen auch die Fälle unsere Aufmerksamkeit, in denen es trotz erheblicher und gelegentlich langanhaltender Unzufriedenheit mit der Regierung nicht zu einer Abwendung von der demokratischen politischen Ordnung, gemessen an dem Ausmaß an Unterstützung dieser Ordnung, kommt. Für Easton als Systemtheoretiker ist der Gesichtspunkt der Interdependenz von Systemelementen absolut selbstverständlich. Durch einen historischen kollektiven Prozeß des politischen Lernens, der auf individueller Ebene durch Sozialisationsmechanismen umgesetzt wird, erwerben Bürger in „normalen" politischen Zeiten einen Grundbestand an diffuser politischer Unterstützung, insbesondere des Regimes, aber auch der politischen Gemeinschaft. Dieser Grundbe17

D . EASTON, v g l . A n m . 1 , S . 4 4 4 .

Zur Legitimität des polit. Systems in den westlichen Demokratien

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stand ist zwar nicht unantastbar, hält aber wegen seiner großen Reichweite erhebliche Beeinträchtigungen der outputabhängigen, spezifischen Unterstützung der politischen Herrschaftsträger aus und kann bei andauernder positiver Entwicklung — wie z. B. in Deutschland in den fünfziger Jahren — sogar durch eine generalisierte, diffuse Unterstützung der politischen Herrschaftsträger — im Sinne der personenunabhängigen Herrschaftsrollen — erweitert werden. Nur in Parenthese soll hier zusätzlich angemerkt werden, daß die in der Hierarchie am höchsten plazierte Objektdimension der politischen Gemeinschaft für kurzfristige Störungen noch weniger anfällig ist als die Dimensionen der politischen Ordnung. Dies gilt zumindest so lange, wie für diese Gemeinschaft attraktive und realistische Alternativen nicht verfügbar sind.18 Für die Forschung ergibt sich aus dem Interdependenzaxiom allerdings eine weitreichende Folgerung: die nach Längsschnittuntersuchungen. Nur die Analyse über Zeit kann nämlich Aufschluß darüber geben, in welcher Weise und nach welcher Systematik sich spezifische und diffuse Unterstützung der verschiedenen Objektdimensionen verändern und wie sie sich gegenseitig bedingen. Aus dem Interdependenzaxiom folgt jedoch noch eine zweite, weit gravierendere Forderung. Zwar sind Individuen Träger von politischen Orientierungen; diese Orientierungen können deshalb beim Individuum optimal gemessen werden. Dieser einfache Sachverhalt darf jedoch nicht davon ablenken, daß die Entstehung, Stabilisierung und Veränderung individueller Orientierungen nicht nur ein intra-individueller Prozeß, sondern das Ergebnis vielfältiger Individuum-Umwelt-Interaktionen ist. Zur theoretisch fundierten Erklärung der individuellen Orientierung bedarf es entsprechend theoretischer und forschungstechnischer Ansätze der Mehrebenenanalyse, die die Interaktionen zwischen verschiedenen Systemebenen über Zeit abbilden können (ein Beispiel ist die nach einer Zeit der theoretischen und methodischen Stagnation wieder an Impetus gewinnende Kontextanalyse19). Für den empirisch-analytisch orientierten Forscher handelt es sich bei den gerade angestellten Überlegungen um Forderungen, die die Grenzen der vorhandenen Konzeptualisierungsfähigkeit und empirischen Forschungsmethodologien deutlich erkennen lassen. Dies ist S. dazu auch P. M. SNIDERMAN, S. Anm. 3. S. dazu L. H. BOYD JR., G. R. IVERSEN, Contextual Analysis. Concepts and Statistical Techniques, 1 9 7 9 ; R. R. HUCKFELDT, The Social Context of Political Change: Durability, Volatility, and Social Influence, in: The American Political Science Review, Vol. 7 7 , 1 9 8 3 , S. 9 2 9 - 9 4 4 . 18

19

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Max Kaase

keine nationale Eigentümlichkeit, sondern spiegelt den Stand der Wissenschaft wider. Weitaus weniger Verständnis kann jedoch finden, daß — wie schon eingangs ausgeführt - selbst im Lande der „Erfinder" der „Legitimitätskrise" bisher so gar keine Anstrengungen unternommen worden sind, dem konstatierten Phänomen analytischempirisch auf den Leib zu rücken. 20 Insgesamt koexistiert zur Zeit — manche mögen das für die weitere wissenschaftliche Entwicklung durchaus als Vorteil ansehen - eine Vielzahl von Legitimitätskonzepten, so daß die folgende Ergebnisdarstellung sehr eklektisch ausfallen muß. Zweifelsohne von Nachteil ist, daß nur für wenige dieser Konzepte Zeitreihendaten und — noch seltener — international vergleichende Daten vorliegen, wobei gelegentlich, vor allem hinsichtlich der deutschen Daten, der theoretische Status der aus Einzelfragen resultierenden Informationen ungeklärt ist. In meiner Konzeptualisierung besitzt der Bereich der Legitimitätsüberzeugungen, die objekt- und typenspezifisch als mehrdimensional aufgefaßt werden, den Status einer eigenständigen Überzeugungs- und Orientierungsdimension (belief system), die systematisch insbesondere von ihren Antezedenzbedingungen (z.B. tatsächlicher Output des Systems, insbesondere des Wirtschaftssystems bzw. dessen Wahrnehmung 21 ) sowie ihren Folgen, vor allem den konkreten individuellen Verhaltensiolgen, analytisch unterschieden werden muß.

III. Legitimitätsüberzeugungen in den westlichen Demokratien Grundsätzlich wäre es wünschenswert, für eine möglichst große Zahl von Ländern über eine möglichst lange Periode empirische Informationen über die Einstellung der Bevölkerung und relevanter Teilgruppen zu den diversen Elementen des politischen Systems zu gewinnen. Je mehr solcher differenzierter Informationen vorliegen würden, desto wahrscheinlicher könnte man systematisch relevante Faktoren für die Entstehung und Veränderung von Legitimitätsüberzeugungen identifizieren, darunter auch Faktoren, die der Makroebene des politischen Systems zugehören und die Aufschluß über die Angemessenheit bestimmter Strukturelemente von Demokratie in 20 Für einen ersten Versuch siehe M. KAASE, Legitimitätskrise in westlichen demokratischen Industriegesellschaften: Mythos oder Realität, in: H. Klages, P.KMIECIAK (Hrsg.), Wertewandel und gesellschaftlicher Wandel, 1979, S. 328-350. 21 S. dazu G. A. ALMOND, S. VERBA, The Civic Culture, 1963.

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ihren je gegebenen Ausprägungen geben könnten (so z. B. das Wahlsystem22). Tatsächlich ist gegenüber dem gezeichneten Informationsideal die Realität der vorhandenen Daten mehr als unbefriedigend. Im Kern läßt sich sagen, daß longitudinal und vergleichend nur Daten aus den Europabarometer-Studien vorliegen; das sind von der Europäischen Gemeinschaft regelmäßig halbjährlich seit 1974 in Auftrag gegebene Repräsentativbefragungen in den jeweiligen Mitgliedsländern der EG. Neben den Problemen Undefinierter methodischer Qualitäten der Befragungen (es stehen jeweils nur geringe finanzielle Mittel zur Verfügung) und einer minimalen Zahl relevanter Indikatoren bestehen die Schwierigkeiten, daß Länder wie Japan, Kanada, USA, Norwegen, Finnland, Schweden, Schweiz und Österreich nicht erfaßt sind und daß die Daten in die wichtige Phase des Umbruchs politischer Orientierungen während der sechziger Jahre nicht zurückreichen. Soweit dem Verfasser bekannt, existiert eine zeitlich ausreichende Datenbasis im Bereich des Legitimitätseinverständnisses nur für zwei Länder: die USA und die Bundesrepublik Deutschland. In beiden Fällen ist die Verfügbarkeit der Daten — die übrigens konzeptionell hohen Ansprüchen nicht genügen — der Tätigkeit und dem individuellen Forschungsengagement jeweils einer Institution zuzuschreiben: in den USA dem Survey Research Center (heute: Center for Political Studies) des Institute for Social Research in Ann Arbor, in Deutschland dem Institut für Demoskopie Allensbach. Im folgenden werden wir uns nun der Darstellung der empirischen Befunde zuwenden. Aus den oben bereits ausführlich diskutierten Gründen erfolgt eine Beschränkung auf Längsschnitt- und/oder Vergleichsdaten zwischen Ländern. 1. Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie Die beiden folgenden Tabellen 1 und 2 enthalten Informationen über die Zufriedenheit mit a) dem Leben, das der Befragte allgemein führt, und b) dem Funktionieren der Demokratie im jeweiligen Lande. Zwischen beiden Angaben wird keine theoretische Beziehung postuliert. Die allgemeine Lebenszufriedenheit dient vielmehr als Kontrast, um die Angaben zur Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Perspektive zu rücken. In den beiden Tabellen 22

S. dazu und zu den anderen Faktoren G. P. POWELL JR., vgl. Anm. 2.

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handelt es sich bei den Eintragungen um arithmetische Mittelwerte, die jeweils zwischen 1 (sehr zufrieden) und 4 (überhaupt nicht zufrieden) variieren können. Die Daten entstammen den halbjährlichen Eurobarometer-Befragungen. Eine solche Vielzahl von Zahlen läßt sich ohne Suchraster nicht angemessen verarbeiten. Drei solcher Suchraster werden hier vorgeschlagen: der Vergleich zwischen allgemeiner und politischer Zufriedenheit, die Veränderungen über Zeit und der Ländervergleich. Tabelle 1 Zufriedenheit mit dem Leben, das man insgesamt führt Land

Belgien Dänemark Deutschland Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande England (UK) Griechenland

Jahr und Monat der Befragung 1 1976

1977

1978

1979

1980

1981

1982

1983

(X-XI)

(X-XI)

(X-XI)

(IV)

((IV)

(IV)

(X)

(X)

1>72 1,6 2,0 2,2 1,8 2,5 1,8 1,7 1,9

1,7 1,5 1,9 2,2 1,7 2,4 1,7 1,7 1,8

1,7 1,5 1,9 2,2 1,8 2,4 1,8

1,8 1,5 2,0 2,3 1,8 2,4 1,7 1,6 1,9

-

-

-

-

1,8 1,5 2,0 2,2 1,8 2,3 1,7 1,7 1,9 2,5

2,0 1,5 2,0 2,2 1,9 2,4 1,7 1,6 1,8 2,4

2,0

1,7 1,8

1,7 1,5 1,9 2,3 1,8 2,4 1,7 1,6 1,9

-

1,5 2,1 2,2 2,0 2,4 1,7 1,7 1,9 2,3

Quelle: Eurobarometer Nr. 2 0 , Dezember 1 9 8 3 , S . A 1 5 - A 2 4

Hinsichtlich des ersten Kriteriums bestätigt sich umfassend ein bereits aus den Forschungen zur Lebensqualität bekanntes Ergebnis 23 , daß nämlich die allgemeine Lebenszufriedenheit stets über der politischen Zufriedenheit liegt. Dem entspricht auch der fest etablierte wahlsoziologische Befund, daß Bürger ihre eigene wirtschaftliche Lage stets wesentlich besser als die allgemeine wirtschaftliche Lage einschätzen.24 Ein Teil der Erklärung dieser Diskrepanz mag in der 2 3 Gerade wieder dokumentiert in W. GLATZER, Zufriedenheitsunterschiede zwischen Lebensbereichen, in: ders./W. Zapf (Hrsg.), Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, 1 9 8 4 , S. 1 9 2 - 2 0 5 . 2 4 D. R. KINDER, Presidents, Prosperity and Public Opinion, in: Public Opinion Quarterly, Vol.45, 1 9 8 1 , S. 1 - 2 1 ; ders., D.R.KIEWIET, Sociotropic Politics: The American Case, in: British Journal of Political Science, Vol. 11, 1 9 8 1 , S. 129—161.

Zur Legitimität des polit. Systems in den westlichen Demokratien

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Tabelle 2 Zufriedenheit mit der Funktionsweise der Demokratie Land 1976 (X—XI) Belgien Dänemark Deutschland Frankreich Irland Italien Luxemburg Niederlande England (UK) Griechenland

Jahr und Monat der Befragung 1 1979 1980 1981 1977 1978 (X-XI) (X-XI) (X) (X) (X)

2,4 2 2,5 2,1 2,6 2,4 3,3 1,7 2,3 2,5

2,4 2,3 2,1 2,5 2,2 3,1 2,0 2,3 2,3

2,6 2,3 2,1 2,7 2,3 3,1 2,2 2,4 2,5

2,5 2,1 2,0 2,7 2,4 3,1 2,0 2,4 2,5

2,8 2,3 2,2 2,8 2,6 3,1 2,1 2,5 2,5

-

-

-

-

-

2,7 2,2 2,2 2,4 2,3 3,1 2,1 2,4 2,5 2,4

1982 (X)

1983 (X)

2,6 2,4 2,2 2,6 2,6 3,2 2,3 2,6 2,4 2,2

2,5 2,0 2,2 2,6 2,7 3,1 2,3 2,5 2,3 2,2

Fundstelle und Angaben wie unter 1; der Anteil der fehlenden Werte schwankt zwischen 5 und 1 0 % , in Belgien zwischen 10 und 2 0 %

Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten, in der Distanz zum Öffentlichen sowie der sich daraus zwangsläufig ergebenden Abhängigkeit von das Fehlen eigener unmittelbarer Erfahrung kompensierenden Informationsquellen, insbesondere der Massenmedien, liegen. Weitere Analysen der Daten deuten jedoch auch auf einen wichtigen konzeptionellen Schwachpunkt des Indikators „Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie" hin. Es zeigt sich nämlich, daß in diesem Indikator die Dimensionen von spezifischer und diffuser Unterstützung, deren Trennung analytisch so bedeutsam ist, empirisch hoffnungslos konfundiert, miteinander vermischt sind (diese Analyse ist hier nicht in Zahlen ausgewiesen). Dieser analytisch so ärgerliche Sachverhalt verweist allerdings, jetzt inhaltlich interpretiert, auf das Funktionieren der demokratischen Logik des „voting the rascals out". Die Bürger, deren Parteien die 1

2

Die Daten stammen aus repräsentativen Stichproben der Wahlbevölkerung der Länder; die Stichprobengröße schwankt in der Regel zwischen 9 0 0 und 1100 Befragten. Mittelwerte (1 = sehr zufrieden; 2 = ziemlich zufrieden; 3 = nicht sehr zufrieden; 4 = überhaupt nicht zufrieden). Fehlende Werte sind von der Berechnung ausgeschlossen; ihr Anteil übersteigt selten 1 - 2 % .

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jeweilige Regierung bilden, sind offenbar stets mit der Demokratie zufriedener als die Anhänger der Oppositionsparteien. Dies dürfte zwar weniger mit objektiven Gegebenheiten als mit selektiver Wahrnehmung und der Herstellung kognitiver Konsonanz zu tun haben. Dennoch gewinnt dieser Mechanismus — über die natürlich ganz selbstverständlichen Aspekte des partiellen Austauschs von Herrschaftseliten und der Veränderung politischer Zielvorgaben bei Regierungswechseln hinaus — seine Bedeutung bei regelmäßigem Auftreten aus der Verhinderung einer dauerhaften Entfremdung eines mehr oder weniger gleichbleibenden Teils der Bevölkerung von den politischen Herrschaftsträgern. Er erweist sich somit zweifelsohne als demokratiestabilisierendes Verfahrenselement. Abschließend zu diesem Teil der Analyse noch zwei weitere Beobachtungen (Analysen zahlenmäßig nicht ausgewiesen). Bei einer Regression auf die abhängige Variable „Demokratiezufriedenheit" erweist sich von einer Vielzahl unabhängiger Variablen zeitlich und länderübergreifend konsistent die Variable „allgemeine Lebenszufriedenheit" als die bedeutsamste. Geht man in Ubereinstimmung mit den Forschungen zur Lebensqualität davon aus, daß die allgemeine Lebenszufriedenheit die kausal vorgelagerte Variable ist, so bedeutet dies einerseits, daß zufriedene Menschen auch die Politik mit freundlicheren Augen anschauen als unzufriedene. Andererseits wäre es naiv, die objektive Bedeutung der Politik für die Herstellung akzeptabler Lebensbedingungen zu negieren. Daraus folgt, daß eine Politie einerseits auf eine gewisse Pufferfunktion der privaten Lebensumstände des Bürgers hinsichtlich seiner Bewertung von Politik bauen kann, andererseits jedoch bei gravierender Verschlechterung der Lebensumstände davon gleich doppelt — direkt wie indirekt — betroffen sein wird. Bei eben dieser Regression wie auch bei zur Kontrolle zusätzlich durchgeführten Tabellenanalysen erweisen sich die drei soziodemografischen Variablen Alter, Geschlecht und Schulbildung sämtlich als nicht sonderlich erklärungsfähig für Demokratiezufriedenheit, obgleich die schon bei vielen anderen Analysen ähnlicher Zielrichtung hervorgetretene Gruppe der jungen Menschen mit überdurchschnittlicher Schulbildung auch in diesem Falle eine deutlich höhere Demokratieunzufriedenheit aufwies. Hinsichtlich des zweiten Suchrasters - der Veränderungen über Zeit — würde man vielleicht, nicht zuletzt wegen der erheblichen wirtschaftlichen Probleme der EG-Länder seit Mitte der siebziger Jahre, einen deutlichen Trend zum Schlechteren hinsichtlich der

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Demokratiezufriedenheit erwartet haben. Tatsächlich läßt sich ein solcher durchgängiger Trend aber nicht feststellen. Zwar ist das Zufriedenheitsniveau insgesamt nicht gerade überwältigend, doch wirkt hier mit Sicherheit die Vermischung der Dimensionen diffuser und spezifischer Unterstützung erschwerend, die stets rund die Hälfte der Bevölkerung strukturell zur Unzufriedenheit prädisponiert. Dieses Indikatorproblem stellt übrigens auch die Ergebnisse einer an sich sehr interessanten Simulationsanalyse von Widmaier für fünf westliche Demokratien unter teilweiser Verwendung der Eurobarometerdaten in Frage.25 In dieser Analyse unterstellt er eine Steigerung der Arbeitslosenzahlen bis zum Jahre 2000 auf 20% der Erwerbstätigen und simuliert dann unter Verwendung von Teilen des am Wissenschaftszentrum Berlin entwickelten Welt-Simulationsmodells „GLOBUS" die Entwicklung über Zeit von Zufriedenheit mit den Herrschaftsträgern, mit der politischen Ordnung (leider unzureichend operationalisiert für die EG-Länder mittels des eben diskutierten ,,Demokratiezufriedenheit"-Indikators) und der politischen Gemeinschaft. Zurück zur Analyse der Europabarometer-Daten. Während zumindest für die untersuchte Periode eine durchgängige Verringerung der Demokratiezufriedenheit in den zehn untersuchten Ländern nicht festzustellen ist, sondern wohl überwiegend dem jeweiligen Wahlzyklus (Frankreich) oder spezifischen politischen Ereignissen (England: Falkland-Krieg) zuzuordnende Fluktuationen, springen im Ländervergleich erhebliche Niveauunterschiede der Demokratiezufriedenheit ins Auge. Eine Erklärung dieser Unterschiede setzt analytische Anstrengungen voraus, die den Rahmen dieses Kapitels sprengen würden. Erwähnenswert erscheint zumindest, daß die Bundesrepublik zu den Ländern gehört, in denen die Demokratiezufriedenheit kontinuierlich (relativ) hoch ist. Ob die minimale Verschlechterung des Mittelwerts um 0,1 Punkte, bezogen auf den Ausgangspunkt 1976, bereits einen negativen Trend indiziert, wie dies Berger et al.26 unter Verwendung anderer Daten vermuten, scheint zumindest fraglich, zumal ihr Indikator einen ähnlichen Konfundierungseffekt wie die Eurobarometer-Frage aufweist. 2 5 U. WIDMAIER, The Decline of Regime Legitimacy in Western Democratic Political System, Wissenschaftszentrum Berlin 1984, als Mskr. vervielfältigt, erscheint in: K. W. Deutsch/M. Dogan (Hrsg.), Polygonal Politics: Comparing Similarities and Contrasts Among Nations, i. E. 26

M . BERGER, W . GIBOWSKI, D . R O T H , W i e z u f r i e d e n s i n d d i e D e u t s c h e n m i t

ihrem Staat? in: Liberal, 1984 2 6 . Jg., Heft 1, S. 7 9 - 8 2 .

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2. Die Entwicklung der Legitimitätsüberzeugungen in der Bundesrepublik Deutschland: eine Sonderanalyse Die Einführung von Methoden der Empirischen Sozialforschung im Nachkriegsdeutschland ist entscheidend durch die amerikanische Besatzungsmacht befördert worden. Kaum sechs Monate nach der Kapitulation wurde beim Office of Military Government for Germany, United States (OMGUS), im Oktober 1945 eine Opinion Survey Section eingerichtet, die eine Vielzahl von größeren Umfragen in der amerikanischen Besatzungszone durchführte. Auch nach der Gründung der Bundesrepublik wurden diese Arbeiten, nun beim U.S. High Commissioner for Germany (HICOG) im Reactions Analysis Staff, bis 1955 fortgeführt. 27 Die Informationen aus diesen Umfragen — so begrenzt sie in ihrer Reichweite (im doppelten Sinne) waren — zeichnen das Bild eines von den traumatischen Erfahrungen des Dritten Reiches zutiefst verunsicherten Volkes, das seine Identität u.a. durch politische Abstinenz und Ausweichen vor der Realität des Nationalsozialismus („Der Nationalsozialismus war eine gute Idee, die nur schlecht ausgeführt wurde" 28 ) zurückzugewinnen versuchte. Auf dem Hintergrund dieser Einstellungen und Meinungen muß man die politische Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland nach ihrer Gründung zunächst als völlig offen ansehen; sehr deutlich wird diese Offenheit durch ein vom Institut für Demoskopie in Allensbach stammendes und von Conradt 29 zitiertes Datum charakterisiert: 98% einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung gaben 1951 an, daß es Deutschland zu irgendeiner anderen als zu der damaligen Zeit besser gegangen sei. Dank der zahlreichen vom Institut für Demoskopie seit 1949 durchgeführten Repräsentativbefragungen, deren Ergebnisse auch in der deutschen wissenschaftlichen Forschung in den letzten Jahren

2 7 Für Einzelheiten s. A.J. MERRITT, R. L. MERRITT, Public Opinion in Occupied Germany. The OMGUS Surveys 1 9 4 5 - 4 9 , 1970; M. KAASE, W. OTT, E. K. SCHEUCH, Empirische Sozialforschung in der modernen Gesellschaft - eine Einführung, in: dies., Empirische Sozialforschung in der modernen Gesellschaft, 1983, S. 9 - 2 6 ; H. BRAUN, S. ARTICUS, Sozialwissenschaftliche Forschung im Rahmen der Amerikanischen Besatzungspolitik 1 9 4 5 - 1 9 4 9 , in: KZfSS, 1984, 3 6 . Jg.,

S. 7 0 3 - 7 3 7 . 28

A . J . M E R R I T T , R . L . M E R R I T T , s. A n m . 2 7 , S. 3 0 - 3 2 .

D. P. CONRADT, The Changing German Political Culture, in: G. A. Almond, S. Verba (Hrsg.), The Civic Culture Revisited, 1980, S. 2 1 2 - 2 7 2 , hier: S . 2 2 6 . 29

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zunehmend rezipiert worden sind30, läßt sich der Prozeß der Etablierung der westdeutschen Demokratie bei ihren Bürgern im Detail nachvollziehen. In einer für diese Thematik grundlegenden Analyse konnten Boynton und Loewenberg31 anhand der Akzeptanz der Institution „Parlament" in der Periode 1951-1959 zeigen, wie dieser Prozeß vermutlich verlaufen ist. Mit dem Wahlerfolg von Adenauer 1953 und dem in dieser Zeit beginnenden Wirtschaftswunder gewann die CDU/CSU eine outputabhängige, spezifische Unterstützung zunächst bei ihren Anhängern, später — mit wachsenden politischen Erfolgen - zunehmend auch bei Anhängern anderer politischer Parteien. Besonders wichtig ist die Tatsache, daß sich diese zunehmende Akzeptanz nicht nur auf junge, nachwachsende Alterskohorten bezog, sondern daß auch Konversionseffekte bei älteren, grundsätzlich der Demokratie eher skeptisch gegenüberstehenden Bürgern festzustellen waren. Hier liegt also ein interessantes Beispiel für den von Easton postulierten Prozeß vor, in dessen Verlauf eine positiv-stabile politische Lage ein Surplus von spezifischer Unterstützung erzeugt, das in Form von diffuser Unterstützung der politischen Autoritäten schließlich auch in eine Stärkung der diffusen Unterstützung für das Regime einmündet. Wenn man die insgesamt vorliegenden Daten bewertet (für einen Ausschnitt siehe das dem Aufsatz von Pappi32 entnommene Schaubild 1, S.478), so läßt sich wohl sagen, daß zwischen 1955 und 1960 der Prozeß der Etablierung der Demokratie im Sinne der Akzeptanz durch die Bürger der Bundesrepublik weitgehend abgeschlossen war. Daß es 3 0 F. U. PAPPI, Die politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland: Z u m Legitimitätseinverständnis der Bevölkerung, in: Außerschulische Bildung, 3 . J g . , 1 9 8 2 , S . B 7 1 - B 7 9 ; D.FUCHS, Zur Entwicklung der Unterstützung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, unveröff. Mskr. (Köln), 1 9 8 3 ; R. A. ROTH, Zur Problematik der politischen Kultur der Jungwähler in der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 8 4 . 3 1 G. R. BOYNTON, G. LOEWENBERG, Der Bundestag im Bewußtsein der Öffentlichkeit 1 9 5 1 - 1 9 5 9 , in: PVS, 14. Jg., 1 9 7 3 , S . 3 - 2 5 . 3 2 F.U.PAPPI, S. A n m . 3 0 , S . B 7 3 ; ferner siehe D. P. CONRADT, A n m . 2 9 ;

D . FUCHS, A n m . 3 0 ; INSTITUT FÜR DEMOSKOPIE, D e m o k r a t i e - V e r a n k e r u n g in d e r

Bundesrepublik Deutschland. Eine empirische Untersuchung zum 30jährigen Bestehen der Bundesrepublik, 1 9 7 9 ; F.D.WEIL, Post-Fascist Liberalism. The Development of Political Tolerance in West Germany since World War II (Diss.), 1 9 8 1 ; M . KAASE, Die Orientierungsfrage im gesellschaftlichen Bewußtsein. Zur Struktur der Grundeinstellungen und Erwartungen der Bevölkerung gegenüber Politik, in: Evangelische Akademie Loccum (Hrsg.), Die Orientierungskrise unserer Gesellschaft und die Rolle der Parteien, Loccumer Protokolle, 8 / 1 9 8 0 , S. 94—120.

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sich dabei um eine überwiegend passive, detachierte Akzeptanz handelte, verdeutlicht zum einen die Tatsache, daß zwischen 1952 und 1960 der Anteil der Bürger, die sich als an Politik interessiert zu erkennen gaben, mit 2 7 % unverändert blieb, bevor dann der inzwischen umfassend dokumentierte Anstieg des politischen Interesses begann. 33 Zum zweiten fiel in diese Zeit der Termin der Feldarbeit (1959) für die Civic-Culture-Studie von Almond und Verba. 34 Diese Studie stellte bekanntlich wegen der diagnostizierten Outputabhängigkeit der in der Bundesrepublik bestehenden Demokratiezufriedenheit eine skeptische Prognose für die Standfestigkeit der Demokratie unter verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen, eine Prognose, die mit dem Erscheinen der NPD auf der politischen Bühne zum Entsetzen in- und ausländischer Beobachter einzutreffen schien. Die Einzelheiten der weiteren Entwicklung müssen hier nicht erörtert werden. Spätestens mit den Daten der international vergleichend angelegten Political-Action-Studie von 1974/75 3 5 , aber auch auf anderer Grundlage 36 konnte gezeigt werden, daß die passive Politikorientierung zunehmend durch eine Haltung des aktiven Engagements an der Politik abgelöst wurde. Wichtig war dabei besonders, daß dieses aktive Engagement, so häufig es auch von den Zeitgenossen als systemfeindlich interpretiert wurde, sich im Kern nicht gegen die Demokratie richtete, sie allerdings offensiver interpretierte und die demokratische Realität der Bundesrepublik mit demokratietheoretisch abgeleiteten partizipationsorientierten Idealen konfrontierte. 37 Träger dieser Entwicklung war allerdings ganz eindeutig die junge Bildungsschicht, die sich damit erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik als eigene Generationseinheit etablierte. 38 . Im Vergleich westlicher Demokratien nehmen die Bürger der Bundesrepublik Mitte der siebziger Jahre hinsichtlich ihres politischen Aktivitätsniveaus nunmehr eine mittlere bis überdurchschnittliche INSTITUT FÜR DEMOKSKOPIE, S. Anm. 3 2 , S. 2 2 . G. A. ALMOND, S. VERBA, vgl. Anm. 2 1 . 3 5 S. H. BARNES, M . KAASE ET AL., S. Anm. 10. 36 Z . B . M.KAASE, Demokratische Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, in: R. Wildenmann et al., (Hrsg.), Sozialwissenschaftliches Jahrbuch für Politik, Band 2 , 1 9 7 1 S. 1 1 9 - 3 2 6 ; ders., s. Anm. 3 2 ; INSTITUT FÜR DEMOSKOPIE, s. Anm. 3 2 ; INFRATEST, Politischer Protest in der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 8 0 ; F.D.WEIL, S. A n m . 3 2 . 3 7 S. dazu auch U. MATZ, G. SCHMIDTCHEN, Gewalt und Legitimität, Band 4/1 der Schriftenreihe „Analysen zum Terrorismus", S. 1 2 9 - 1 3 5 , 2 5 1 , 2 5 7 f. 3 8 M . KAASE, Jugend und Politik, in: H. Reimann/H. Reimann (Hrsg.), Die Jugend, 1 9 8 5 (i.E.). 33

34

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Stellung ein. Ihren schon in der Almond-Verba-Studie von 1959/60 aufgezeigten Vorsprung im politischen Wissen haben sie nunmehr auch in Partizipation umgesetzt. Hinzu kommt eine offenkundige Erhöhung der Identifikation mit den politischen Institutionen des Systems. Während bei Almond/Verba 1959 auf eine offene Frage nur 7% der Deutschen angaben, auf ihr politisches System stolz zu sein, waren dies 1978 schon 31%. Die Vergleichszahlen 1959/60 der USA (85%), von Großbritannien (46%) und Mexico (30%) zeigen allerdings — konzeptionelle Probleme mit der zugrundeliegenden Frage, worauf man a l s . . . (Nationalität) besonders stolz sei, einmal beiseitegelassen —, daß in Deutschland auch heute noch eine erhebliche Distanz zum Politischen gegeben ist, ein angesichts der deutschen Geschichte und der bestehenden Teilung Deutschlands nicht ganz unerwartetes und auch nicht unverständliches Ergebnis. Paradox muß allerdings erscheinen, daß gerade in Deutschland, wo die These von der Legitimitätskrise westlicher Demokratien geboren wurde, die Daten ein unwiderlegbares Zeugnis von der zunehmenden Etablierung der demokratischen politischen Ordnung ablegen. Daß diese Etablierung gelang, muß systematisch einer Vielzahl von Faktoren zugerechnet werden: Konrad Adenauer und seiner Westpolitik, dem „Wirtschaftswunder", der Einbettung Deutschlands in das europäische Umfeld und die EG, der Existenz der DDR als „Gegengesellschaft", der Qualität der im Grundgesetz festgeschriebenen politischen Institutionen und Verfahrensregeln, um nur einige besonders wichtige Einflußgrößen zu nennen. Dieser Weg ist Ende der siebziger Jahre abgeschlossen, der Einzug in den Kreis der etablierten Demokratien gelungen. Fuchs39 ist allerdings zuzustimmen, wenn er darauf verweist, daß sich die Bundesrepublik nunmehr derselben Klasse von Problemen und Schwierigkeiten gegenüber sieht wie alle anderen westlichen Demokratien: politische Gewalt, die wirtschaftliche Situation, insbesondere Arbeitslosigkeit, die Militärpolitik, die Forderung nach Veränderung von politischen Strukturen zur Sicherung erhöhter Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger, usw. Wie die westlichen Demokratien mit diesen Herausforderungen umgehen, und welche Folgen sich für das Ausmaß an Unterstützung der Demokratie als politische Idee durch die Bürger ergeben, ist nicht abzusehen. Einige diesbezügliche Überlegungen werden am Schluß dieses Aufsatzes kurz aufgegriffen werden. Der Verlauf manch aktuel39

D . F U C H S , S. A n m . 3 0 .

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ler Diskussion in Deutschland, z. B. über die Geltung des Mehrheitsprinzips40, läßt allerdings befürchten, daß deutsche philosophische Traditionen wie die des Idealismus — im Vergleich etwa zum angloamerikanischen Pragmatismus — den Deutschen und ihrer Demokratie erneut im Weg stehen könnten. Auch die ungelöste deutsche Frage mag sich als schwere Hypothek erweisen, worauf Pappi zurecht hinweist.41 3. Die Entwicklung der Legitimitätsüberzeugungen in den USA Die Einzeldarstellung für die USA erfolgt nicht aus systematischen Gründen, sondern in erster Linie wegen der Verfügbarkeit von Zeitreihendaten für dieses Land. Interessant sind die USA für unsere Fragestellung allerdings auch, weil es sich um die einzige Demokratie handelt, deren Legitimitätsentwicklung das große Wort von der Legitimitätskrise rechtfertigen würde. Erfreulicherweise liegen für die Fragestellung dieses Aufsatzes zwei Gesamtdarstellungen vor, so daß auf die Einzelheiten der amerikanischen Legitimitätsdiskussion nicht weiter eingegangen werden muß.42 Vor der Diskussion der amerikanischen Ergebnisse ist jedoch eine kurze theoretisch-analytische Bemerkung angebracht. Auch die beiden gerade zitierten Arbeiten nähern sich ihrem Thema nicht aus theoretischer Sichtweise, sondern arbeiten mit den verfügbaren Daten, die sie weitgehend in bezug auf ihren manifesten Inhalt analysieren. Insofern gilt für beide das von Muller und Jukam 1977 gefällte Urteil weiter, daß die amerikanischen Daten keine eindeutige Beantwortung der Frage zulassen, inwieweit die amerikanische Legitimitätskrise die Dimensionen spezifischer und diffuser Unterstützung gleichermaßen berührt hat und berührt. Nur am Rande sei vermerkt, daß es Muller, Jukam und Seligson43 offenbar gelungen ist, endlich eine überzeugende Operationalisierung von diffuser Unterstützung zu entwickeln. Daß diese Arbeiten für den Zweck dieses Aufsatzes keine Rolle spielen, versteht sich angesichts der Zeitdimension von selbst. 4 0 B. Guggenberger, C. Offe (Hrsg.), An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie. Politik und Soziologie der Mehrheitsregel, 1 9 8 4 . 4 1 F. U. PAPPI, S. Anm. 3 0 , S. B 7 8 - B 7 9 . 4 2 P. R. ABRAMSON, Political Attitudes in America. Formation and Change, 1 9 8 3 ; S.M.LIPSET, W.SCHNEIDER, The Confidence Gap. Business, Labor and Government in the Public Mind, 1 9 8 3 . 4 3 E. N. MULLER, T. O. JUKAM, M . A. SELIGSON, Diffuse Political Support and Antisystem Political Behavior: A Comparative Analysis, in: American Journal of Political Science, Vol. 2 6 , 1 9 8 2 , S. 2 4 0 - 2 6 4 .

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Hinsichtlich der diffusen Unterstützung unterscheidet Easton in die Teilaspekte von Vertrauen (trust) und Legitimität (legitimacy), wobei Vertrauen sich darauf bezieht, daß das politische System oder Elemente davon auch ohne ständige Kontrolle und Beeinflussungsversuche von den Bürgern erwünschte Ergebnisse erzielen. Legitimität bedeutet hingegen, daß das politische System und seine Elemente Gefolgschaft verdienen, weil diese Objekte sich in der Politik gemäß den moralischen Prinzipien der Bürger verhalten.44 In der laufenden Diskussion hat sich herausgestellt, daß die in den USA verfügbaren Zeitreihendaten nach einer von Gamson 4 5 vorgeschlagenen Differenzierung zum einen der Inputdimension — im Sinne der eigenen politischen Einflußmöglichkeiten (internal efficacy) — und zum anderen der Outputdimension — im Sinne der eben beschriebenen Vertrauensdimension (external efficacy; system responsiveness) zuzurechnen sind. 4 ' Die Daten zeigen hinsichtlich der Einschätzung der eigenen Einflußmöglichkeiten (für Einzelheiten siehe das folgende Schaubild 2) zwischen 1952 und 1968 einen deutlichen Anstieg, danach bis 1980 verbleiben sie in etwa auf dem erreichten Niveau. In einer sehr differenzierten Analyse weist Abramson nach, daß mehrere, sich teilweise in ihren Effekten gegenseitig aufhebende Prozesse zu dem beschriebenen Gesamtbild beigetragen haben. Wichtig ist, daß man aus strukturellen Gründen eigentlich nach 1968 eine weitere Erhöhung der internen Effektivität der amerikanischen Bürger hätte erwarten müssen. Warum sie nicht eintrat, wird auf dem Hintergrund der im folgenden berichteten Analysen einsichtig. Den Daten der Political-Action-Studie für diese Dimension (1974/ 76) läßt sich entnehmen, daß die USA von den acht untersuchten Ländern (USA, Bundesrepublik, Großbritannien, Niederlande, Österreich, Italien, Finnland, Schweiz) den höchsten Durchschnittswert aufweisen, obgleich auch die Mehrheit der restlichen Länder in ihrer internen Effektivität nicht wesentlich unter dem amerikanischen Befund liegt. 47 44

D . EASTON, S. A n m . 1 , S . 4 4 7 , 4 5 1 .

W.A. GAMSON, Power and Discontent, 1968. 44 Für Einzelheiten, auch der Operationalisierung, siehe P. R. ABRAMSON, S. Anm. 42, S. 135-145, sowie M. KAASE, Trends in Political Aliencation and Political Protest: Empirical Evidence from Western Democracies, 1984 (als Mskr. vervielfältigt: erscheint in: K. W. Deutsch/M. Dogan (Hrsg.), Polygonal Politics: Comparing Similarities and Contrasts Among Nations, i. E.). 45

47

M . KAASE, S. A n m . 4 6 .

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Von größerem Interesse — weil der Legitimitätsproblematik näherstehend — sind die Daten zur externen Effektivität und zum politischen Vertrauen (siehe Schaubild 2, S. 484). Für externe Effektivität ist zwischen 1960 und 1980 in allen Bildungskategorien ein etwa gleicher Verlust in Höhe von ca. 20 Prozentpunkten festzustellen.48 Der Ländervergleich auf der Grundlage der Political-Action-Studie für die Periode 1974/1976 zeigt übrigens, daß auf dieser Dimension alle Länder eng zusammenliegen und die USA keine Ausnahmestellung einnehmen.49 Der spektakulärste Beleg für eine Legitimitätskrise in den USA sind die Befragtenreaktionen auf Items, die politisches Vertrauen messen sollen. Wie dem Schaubild 2 zu entnehmen ist, reduziert sich unter Weißen politisches Vertrauen von einem Hoch (1964) von fast 75% auf den absoluten Tiefpunkt von unter 30% (1980); man wird in der Umfrageforschung lange nach Parallelen für einen so ausgeprägten Trend suchen müssen. Auch hier erlaubt die Political-Action-Studie für 1974/1976 zumindest einen begrenzten Strukturvergleich.50 In diesem Vergleich liegt nur noch Italien unter den USA, während die anderen Länder zum Teil wesentlich höhere Werte aufweisen. Diese Ergebnisse gestatten die Schlußfolgerung, daß die amerikanische Vertrauenskrise kein für alle Demokratien gleichermaßen zutreffendes Phänomen war und veranlaßt zur Suche nach den für die amerikanische Entwicklung entscheidenden Einflußgrößen. Die in ihrer Reichweite begrenzte Analyse von Abramson51 wird durch die Arbeit von Lipset/Schneider52 bestätigt und in wichtigen Aspekten ergänzt. Zentral dabei ist die Beobachtung, daß in den USA zwischen etwa 1965 und 1980 das Vertrauen nicht nur in politische Akteure und Institutionen, sondern in praktisch alle „großen" gesellschaftlichen Institutionen, einschließlich der Industrie und der Gewerkschaften, gleichermaßen erodiert ist. Lipset und Schneider schlußfolgern, daß mehrere Faktoren gemeinsam diesen Vertrauensverlust bewirkt haben: traumatische Ereignisse wie der Vietnamkrieg und Watergate; eine schwere wirtschaftliche Rezession; eine grundsätzliche Veränderung des Make-up des politischen Prozesses von den ruhigen fünfziger Jahren hin zu den konfliktreichen sechziger Jahren 48

P . R . ABRAMSON, S. Anm. 4 2 , S. 1 7 5 - 1 8 2 .

49

M . KAASE, S. A n m . 4 6 .

50

M . KAASE, S. A n m . 4 6 .

51

P. R . A B R A M S O N , S. A n m . 4 2 .

52

S . M . L I P S E T , W . S C H N E I D E R , S. A n m . 4 2 .

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mit erhöhten unerfüllbaren Erwartungen bezüglich der Ergebnisse der Politik; die Verstärkung negativer Einstellungen und Erwartungen der Bürger durch die Struktur der massenmedialen Berichterstattung, vor allem des Fernsehens (Video-malaise); der Rückgang der internationalen Bedeutung und Akzeptanz der Vereinigten Staaten. 53 Lipset und Schneider interpretieren ihre Daten nicht als Hinweis auf einen grundlegenden Legitimitätseinbruch auf der Dimension der diffusen Unterstützung, sondern sehen ihn überwiegend auf die die individuellen und korporativen/kollektiven Akteure betreffende Dimension der spezifischen Unterstützung begrenzt. Daß die USA die Abfolge von höchst schwierigen Ereignissen und Entwicklungen nicht mit einer umfassenden Systemkrise bezahlen mußten, begründen Lipset und Schneider zum einen — wie auch Sniderman s4 - mit der tiefen, historisch gewachsenen Bindung der Amerikaner an ihre sozialen und politischen Institutionen und mit der Überzeugung von deren grundsätzlicher Bonität. Zum anderen sprechen sie von dem ungebrochenen Optimismus bezüglich der eigenen Lebenssituation der Bürger und schließlich dem anhaltenden Glauben an die Macht des Wahlzettels, d. h. den durch einen Wechsel in der politischen Führung zu erzielenden Effekt. 55 Zusammenfassend halten sie die Interpretation der berichteten Daten im Sinne einer tiefgreifenden Legitimitätskrise der soziopolitischen Ordnung für verfrüht und übertrieben; man läßt ihnen wohl kein Unrecht angedeihen, wenn man aus ihrer Analyse die Hoffnung und die Erwartung heraushört, die Ereignisse der vergangenen zwanzig Jahre möchten Demokratie und Gesellschaft in den USA am Ende gestärkt und nicht geschwächt haben. Es versteht sich von selbst, daß jeder interessierte USA-Beobachter in den nächsten Jahren mit Spannung den Verlauf der in diesem Abschnitt diskutierten Zeitreihen beobachtet wird. 4. Politische Parteien im Spannungsfeld der Legitimitätsüberzeugungen In den letzten Jahren hat die Rolle der politischen Parteien im demokratischen politischen Prozeß eine zunehmend skeptische Würdigung erfahren. 56 In der Easton'schen Systematik besitzen politische S.M.LIPSET, W.SCHNEIDER, S. Anm.42, S.396-412. P. M. SNIDERMAN, S. Anm. 3. 55 S.M.LIPSET, W.SCHNEIDER, S. Anm.42, S . 3 8 4 - 3 9 2 . 56 P. MAIR, Party Politics in Contemporary Europe: A Challenge to Party, in: West European Politics. Vol. 7, 1984, S. 1 7 0 - 1 8 4 . 53 54

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Parteien keinen überragenden Stellenwert; dies läßt sich vermutlich mit der im Vergleich zu den europäischen Demokratien wesentlich geringeren Stellung von Parteien im politischen System der USA erklären. Dennoch gehören sie sicherlich als zentrale Akteure dem Bereich der Herrschaftsträger an und können sowohl spezifische als auch diffuse Unterstützung auf sich ziehen. Als dauerhafter Fokus institutionalisierter politischer Partizipation kann man Parteien und die an sie geknüpften Bewertungen in kausaler dynamischer Perspektive sowohl als Determinanten als auch als Folgen von Legitimitätsüberzeugungen ansehen; der Frage der kausalen Ordnung soll hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Vielmehr geht es lediglich darum, parteibezogene Orientierungen und Aktivitäten als Hinweis dafür zu benutzen, inwieweit sich im Objekt „Partei" Spuren eventuellen Legitimitätsverlustes auffinden lassen, wobei drei parteibezogene Aspekte untersucht werden. a) Wahlbeteiligung Es ist hinreichend bekannt, daß in extremen Aggregatzuständen des politischen Systems die Höhe der Wahlbeteiligung ein sehr unzuverlässiger, weil in seiner Bedeutung unklarer Indikator sein kann. Solche extremen vorrevolutionären Situationen waren jedoch in den westlichen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht gegeben. Dementsprechend würde eine Hypothese naheliegen, nach der sich eine Legitimitätskrise auch in einer deutlichen Verringerung der Wahlbeteiligung, zumindest bei der Mehrzahl der westlichen Demokratien, ausdrücken könnte (dies ist bewußt vorsichtig formuliert). Entsprechende Analysen für die Zeit zwischen 1945 und 1978 57 lassen jedoch ganz eindeutig keinen solchen Trend erkennen, sondern weisen sowohl Länder mit einer Erhöhung der Wahlbeteiligung als auch solche mit einer Verringerung aus. b) Fluktuationen im Wahlerverhalten Die Frage, inwieweit die Zahl von Personen, die von Wahl zu Wahl ihre Parteipräferenz ändern, zugenommen hat (voting volatility), steht ähnlich wie die im folgenden behandelte Frage nach dem Ausmaß an Parteiidentifikation in einem wesentlich indirekteren Verhältnis zu 5 7 K.DITTRICH, L.N.JOHANSEN, Voting Turnout in Europe, 1 9 4 5 - 1 9 7 8 : Myths and Realities, in: H. Daalder/P. Mair (Hrsg.), Western European Party Systems. Continuity and Change, 1 9 8 3 , S. 9 5 - 1 1 4 ; P. MAIR, S. Anm. 5 6 .

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der Legitimitätsproblematik als die Höhe der Wahlbeteiligung. Indirekter ist dieses Verhältnis, weil ein häufiger Wechsel von Parteipräferenzen ja noch nicht eo ipso eine Distanzierung von der Institution „Partei" beinhalten muß. Von Pedersen, Maguire und Mair 5 8 vorgelegte Aggregatanalysen des Wählerverhaltens zeigen, daß die Fluktuation zwischen Parteien von den fünfziger Jahren an tatsächlich deutlich zugenommen hat. Bedenkt man jedoch, daß ein solcher Anstieg kaum noch festzustellen ist, sobald man von der Analyse der Wählerfluktuation zwischen Einzelparteien zu der zwischen Partei blocken übergeht (eine solche Analysestrategie entspricht z. B. der zunehmenden Neigung zum taktischen Koalitionswählen in Deutschland), so ist auch in diesem Fall ein eindeutiger möglicherweise legitimitätsrelevanter Befund nicht festzustellen. c) Höhe und Intensität von Parteiidentifikation Parteiidentifikation bezeichnet das subjektive Gefühl von Bindung des Bürgers an eine politische Partei. Daraus wird bereits deutlich, daß entsprechende Daten — anders als bei 4.1. und 4.2., wo auf offizielle Wahlstatistiken zurückgegriffen werden konnte — persönlicher Befragungen bedürfen. Über die Bedeutung des Konzepts der Parteiidentifikation und seine Übertragbarkeit von amerikanischen auf deutsche Verhältnisse ist in der Vergangenheit bereits das Nötige gesagt worden 59 , so daß darauf hier verzichtet werden kann. Entscheidend ist, daß ausreichend lange Zeitreihen nur für wenige Länder, darunter vor allem die USA vorliegen, so daß die Reichweite dieses Teils der Analysen begrenzt bleiben muß. Für die USA dokumentiert Abramson 60 zwischen 1964 und 1980 5 8 M. N. PEDERSEN, Changing Patterns of Electoral Volatility in European Party Systems, 1 9 4 8 - 1 9 7 7 : Exploration in Explanation, in: M. Daalder/P. Mair (Hrsg.), Western European Party Systems. Continuity and Change, 1983, S. 2 9 - 6 6 ; M. MAGUIRE, IS There Still Persistence? Electoral Change in Western Europe, 1 9 4 8 - 1 9 7 9 , in: H. Daalder/P. Mair (Hrsg.), s. oben, S. 6 7 - 9 4 ; P. MAIR, S. Anm.56. 5 9 M. BERGER, Stabilität und Intensität von Parteineigung, in: M. Kaase (Hrsg.), Wahlsoziologie heute. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1976, PVS, 18. Jg., 1 9 7 7 , S . 5 0 1 - 5 0 9 ; J.W.FALTER, Einmal mehr: Läßt sich das Konzept der Parteiidentifikation auf deutsche Verhältnisse übertragen, in: M. Kaase, wie oben,

S. 4 7 6 - 5 0 0 . 60

P. R. ABRAMSON, S. Anm.42, S. 9 9 - 1 3 1 .

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einen dramatischen Rückgang des Umfangs und der Intensität der Parteiidentifikation. Dieser Rückgang wird im wesentlichen durch das zunehmend niedrigere Niveau der Parteiidentifikation bei den in das Elektorat hineinwachsenden Alterskohorten bedingt, die in besonderer Weise während ihrer politisch formativen Jahre den weiter vorn beschriebenen Einflüssen, die den großen Vertrauensverlust bewirkt hatten, ausgesetzt waren. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, daß zwischen 1964 und 1980 — anders als zwischen 1952 und 1964 — kein lebenszyklusbedingter Anstieg der Parteiidentifikation in diesen Alterskohorten zu beobachten war. 61 Insgesamt ist also die ohnehin schwache Stellung der politischen Parteien im politischen System der USA noch weiter erodiert. Zu diesem Prozeß dürfte im übrigen seitens der Massenmedien nicht nur die bereits erwähnte Video-malaise, sondern auch das immer größer werdende Gewicht des Fernsehens in den amerikanischen Wahlkämpfen einen Beitrag geleistet haben. Das zweite Land, für das vor kurzem eine Längsschnittanalyse des Wählerverhaltens vorgelegt wurde, die auch die Entwicklung der Parteiidentifikation einschließt — England 62 — weist einen ebenfalls nach unten gerichteten, aber weniger spektakulären Trend als die USA auf. Während sich 1964 92% der Wahlberechtigten mit einer der drei etablierten britischen Parteien identifizierten, waren dies 1979 noch 85%. Weitaus auffälliger ist der Rückgang hinsichtlich der Intensität der Parteibindung: 1964 identifizierten sich noch 43% des Elektorats sehr stark (very strong) mit einer der drei Parteien, während dies 1979 nur noch 21% taten. Auch in England haben die Parteien also deutlich an Bindekraft verloren. Für die Bundesrepublik hat Kaase gezeigt63, daß in den siebziger Jahren kein Auswaschen des Umfangs und der Intensität der Parteiidentifikation festzustellen war. Spätere, nichtveröffentlichte Daten lassen allerdings einen leichten Rückgang des Umfangs und einen etwas stärkeren Rückgang der Intensität der Parteiidentifikation erkennen. Beide sind jedoch in keinem Falle mit den Entwicklungen in den USA und auch England vergleichbar. Obgleich Längsschnittdaten für andere Demokratien nicht bzw. nur rudimentär 64 vorliegen, ist eine Schwächung der Stellung der 61

P. R . ABRAMSON, S. A n m . 4 2 , S. 1 3 0 .

61

B. SÄRLVIK, I.CREWE, Decade of Dealignment, 1983, S. 3 3 3 - 3 3 6 .

63

M . KAASE, S. A n m . 2 0 .

S. für Belgien, Frankreich und die Niederlande mit Eurobarometer-Daten für die Zeit von 1 9 7 5 - 1 9 8 1 , also für eine viel zu kurze Periode, P. MAIR, S. Anm. 56, 64

S. 1 7 6 - 1 7 9 .

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M a x Kaase

Parteien bei den Bürgern der westlichen Demokratien kaum zu bestreiten. Was diese Ergebnisse für den politischen Prozeß in diesen Ländern insgesamt bedeuten, kann im Rahmen dieser Betrachtung nicht angemessen diskutiert werden. 5. Politischer Protest und unkonventionelles politisches Verhalten Es würde naheliegen, wie in einem System kommunizierender Röhren, die Schwächung der Parteien in einem interaktiven Prozeß sowohl als Ursache als auch als Wirkung bezüglich des Aufkommens unkonventioneller, nichtinstitutionalisierter Beteiligungsformen wie z.B. der Bürgerinitiativen aufzufassen. Daß diese Partizipationsformen einerseits an Bedeutung gewonnen haben, daß sie überwiegend als Ergänzung des politischen Verhaltensrepertoires verstanden werden können und damit in der Regel keinen antidemokratischen Impetus aufweisen, hat die Forschung zweifelsfrei nachgewiesen. Daß sie andererseits deutliche plebiszitäre Elemente besitzen, häufig von Personen mit dogmatischen Uberzeugungssystemen angewendet werden, eine gewisse Gewaltaffinität aufweisen und nicht selten expressiv-hedonistisch motiviert sind - mit allen problematischen Folgen für den politischen Prozeß —, hat die Forschung ebenfalls thematisiert. 65 Ob das Aufkommen neuer Partizipationsformen die Legitimität demokratischer politischer Ordnungen mittel- und langfristig eher erhöht oder schwächt, vermag an dieser Stelle nicht gesagt werden, zumal hierzu Längsschnittdaten fast völlig fehlen. Es scheint jedoch nicht uninteressant, auf die von Taylor und Jodice 66 veröffentlichten Ereignisdaten zum politischen Protest und zu politischer Gewalt hinzuweisen. Auch diese Daten zeigen für die Zeit zwischen 1948 und 1977 in den westlichen Ländern keinen zunehmenden Trend, der als Ergebnis einer durchgängigen Legitimitätskrise interpretiert werden könnte. 67

65

S . H . BARNES, M . KAASE e t a l . , s. A n m . 1 0 ; M . KAASE, P o l i t i s c h e B e t e i l i g u n g

in den 80er Jahren: Strukturen und Idiosynkrasien, in: J . W. Falter, Ch. Fenner, M . T h . Greven (Hrsg.), Politische Willensbildung und Interessenvermittlung, 1 9 8 4 , S . 3 3 8 - 3 5 0 ; INFRATEST, S. A n m . 3 6 ; U . M A T Z , G . S C H M I D T C H E N , S. A n m . 3 7 . 6 6 CH.L. TAYLOR, D . A . JODICE, World Handbook of Political and Social Indicators, 3. Ed., Volume 2 : Political Protest and Government Change, 1 9 8 3 . 67

M . KAASE, S. A n m . 4 6 .

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IV. Befunde und Perspektiven In der deutschen Diskussion der vergangenen 15 Jahre zur Legitimitätsproblematik sind große Anstrengungen unternommen worden zu zeigen, aus welchen strukturellen Gründen eine Krise von Legitimität und Legitimation in liberal-repräsentativen Demokratien mit kapitalistischer Wirtschaftsordnung unausweichlich war. Dazu den demokratischen Souverän — den Bürger — zu hören, schien den Apologeten der Krisenthematik stets unnötig, ja irreführend; dies muß man jedenfalls schlußfolgern angesichts der Tatsache, daß von jener Seite nie der ernsthafte Versuch unternommen worden ist, genau zu bezeichnen, wie sich denn die Krise in den Köpfen und den Handlungen der Bürger ausgedrückt hat. Nun gibt es eine ausreichende Zahl von Entwicklungsdilemmata moderner Industriegesellschaften, die angesichts der gegenseitigen Durchdringung gesellschaftlicher Teilsysteme durchaus negative Folgen für den politischen Prozeß erwarten lassen würden. Für den analytisch-empirisch orientierten Forscher stellt sich damit die Aufgabe, Untersuchungsansätze zu entwickeln, deren Komplexität ausreicht, um ein derart schwieriges Untersuchungsthema in den Griff zu bekommen, und deren Datenbasis insbesondere den Verlaufs- und Interaktionscharakter solcher Prozesse abbilden kann. Wo überall es an solchen Forschungsansätzen fehlt, ist in diesem Beitrag angesprochen worden und muß nicht wiederholt werden. Die These von der Legitimitätskrise gehört ohne Zweifel zu den komplizierteren Forschungsfragen, wenn sie seriös untersucht werden soll. Jenseits aller Desiderate bezüglich fehlender empirischer Informationen und aller Klagen bezüglich des dubiosen konzeptionellen Status der verfügbaren Informationen haben die bislang erarbeiteten Analysen wenig Hinweise auf die Existenz einer durchgreifenden systemdestabilisierenden Krise von Legitimität und Legitimation erbracht. Auf relativ guter Datenlage für die USA und die Bundesrepublik konnte gleichzeitig der gelegentlich gehörten Behauptung die Grundlage entzogen werden, die zu Analysen dieser Art verwendeten Daten seien schon ihrer Natur nach gar nicht in der Lage, feinere Ausschläge und Entwicklungen der öffendichen und privaten Befindlichkeiten der Bürger angemessen zu erfassen. Im Gegenteil: Ist nur der Beobachtungszeitraum lang genug und das theoretische Suchraster valide, kann den aus Befragungen bei der Bürgerschaft allgemein oder bei Teilgruppen — hier liegt übrigens ein höchst bedeutsames und nicht leicht korrigierbares Kenntnisdefizit vor — gewonnenen Infor-

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mationen durchaus seismographische Qualität und analytische Kraft zugebilligt werden. Es ist deutlich geworden, daß die Bevölkerung auf sie in ihrer Lebenssituation beeinträchtigende Ereignisse und Entwicklungen wahrnehmungsmäßig höchst empfindlich reagiert 68 ; dies kann allerdings angesichts der umfassenden Einbindung aller Bürger in personale und technische Kommunikationsnetzwerke, insbesondere des Fernsehens, auch nicht überraschen. Ob und in welchem Umfang sich daraus Verhaltenskonsequenzen sowie - mittel- bis langfristig Veränderungen auch der Überzeugungssysteme ergeben, ist von einer Reihe zusätzlicher Faktoren abhängig. Aus Revolutionstheorien weiß man, daß insbesondere rapide Veränderungen einer Situation, weitgehend unabhängig von ihrer Richtung, am ehesten systemdestabilisierende Kraft entfalten können. Der eklatante Vertrauensverlust, den die amerikanischen politischen und sozialen Institutionen zwischen 1965 und 1980 hinnehmen mußten, ist dennoch bisher ohne erkennbare gravierende Folgen für das politische System der USA geblieben. Eine solche Beobachtung gibt Anlaß, noch einmal auf die Auffassung von Wright 69 hinzuweisen, eine umfassende aktive Unterstützung der gesamten Bevölkerung in den westlichen Demokratien für ihre politische Ordnung habe zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte dieser Länder bestanden und sei darüber hinaus auch gar nicht notwendig. Worauf es ausschließlich ankomme, sei, die Zahl der aktiven Gegner des politischen Systems klein zu halten, und dies sei den westlichen Demokratien in aller Regel bisher auch gelungen. In ähnlicher Weise argumentiert Widmaier70, wenn er für Italien darauf hinweist, daß Legitimität nur verloren werden könne, wenn sie vorhanden sei. Sei dies jedoch nicht der Fall, wie eben in Italien, dann könne das Nichtvorhandensein auch keinen Systemzusammenbruch verursachen. Auch bei Überlegungen dieser Art wird man theoretisch und empirisch ohne die genaue Offenlegung der häufig nur mitgedachten Zusatzbedingungen für deren Geltung keinen Erkenntnisfortschritt erreichen; höhere Komplexität der Variablenbeziehungen im Sinne von mehr Variablen und höherer Variablenvernetzung ist unabdingbar. Eine grundsätzliche Schwierigkeit bezüglich der Legitimitätspro68 S. dazu jüngst G.FRANZ, Zeitreihenanalysen zu Wirtschaftsentwicklung, Zufriedenheit und Regierungsvertrauen in der Bundesrepublik Deutschland, Zeitschr. f. Soziologie, 14. Jg., 1985, S. 6 4 - 8 8 . 49

J . D . W R I G H T , S. A n m . 4 .

70

U . WIDMAIER, S. A n m . 2 5 ,

S.15.

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blematik besteht zusätzlich darin, daß krisenhafte Systemtransformationen (als Übergang von einer demokratischen zu einer nichtdemokratischen Regierungsform) seit 1945 in den etablierten Demokratien seltene Erscheinungen sind, so daß empirisch gehaltvoll generalisierende Aussagen in bezug auf einen Faktor wie „Legitimitätsüberzeugungen" und deren Rolle in einem eventuellen Prozeß der Systemtransformation nicht möglich sind. Dies mag mit zu dem Eindruck beitragen, daß die politischen Überzeugungen der Bürger im demokratischen Prozeß angesichts der Dominanz der kollektiven Akteure und des gegebenen Institutionengeflechts ohne Bedeutung seien. Einer solchen Aussage werden viele schon aus normativen Gründen nicht beipflichten wollen. Darüber hinaus beweisen Ergebnisse der Wahlsoziologie und der Partizipationsforschung auch auf empirisch gesicherter Grundlage, wie bedeutsam der Einfluß des Bürgers in der Politik häufig ist. Insgesamt scheinen vielmehr die westlichen Industriegesellschaften zumindest mittelfristig über eine zur Behandlung der unterschiedlichen Problemlagen ausreichende Anpassungsflexibilität zu verfügen, scheint die Integrationskraft des politischen Systems zur Kompensation des fortschreitenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses bisher auszureichen. 71 Huntington, aber auch Barnes, Kaase et al. 72 sehen in der „partizipatorischen Revolution" die eigentliche Herausforderung der Demokratie. Ihre Bedeutung gewinnt sie, weil sie sich notwendigerweise in erster Linie in überschaubaren, d. h. lokalen Kontexten entfalten muß und damit der Prozeß der Interessenaggregation und des Interessenausgleichs auf der Ebene des Nationalstaates und den supranationalen Entscheidungsebenen behindert und unmöglich gemacht wird. Ohne einen institutionell erzwungenen Blick auf die Vielfalt von Interessen und den Zwang zum Kompromiß dürfte die Akzeptanz von auf diesen Systemebenen getroffenen Entscheidungen zunehmend fraglich werden. Die Bedeutung der Partizipationsproblematik für die Gesellschaften der Zukunft wird auch in vielen Schriften zur postindustriellen Gesellschaft unterstrichen. Da sich der Verfasser dazu bereits an anderen Stellen mehrfach geäußert hat, wird auf eine Wiederholung der Argumente hier verzichtet. Wichtig erscheint allerdings der HinAnders N.LUHMANN, Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat, 1981. S. P. HUNTINGTON, Postindustrial Politics: How Benign Will It Be? in: Comparative Politics, Vol.6, 1 9 7 4 , S. 1 6 3 - 1 9 1 ; S.H.BARNES, M.KAASE, S. Anm. 10, S. 5 2 3 - 5 3 6 . 71

72

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weis auf Albert O. Hirschman, der — sozialpsychologisch und historisch gut fundiert — der Erwartung eines Trends zu mehr Partizipationsforderungen und Partizipation die These einer zyklischen Bewegung der Bürgerpräferenzen zwischen öffentlichen und privaten Angelegenheiten entgegenstellt; er sieht ein baldiges Nachlassen des Partizipationsdrucks voraus. Die in diesem Beitrag aufgearbeiteten Daten und Materialien rechtfertigen hinsichtlich der Legitimitätsgeltung der bestehenden liberaldemokratischen Regierungsformen keine pessimistische Bestandsprognose. Sicherlich verdienen Phänomene wie — möglicherweise (!) zunehmende — Gewaltaffinität und Gewaltakzeptanz sowie Attraktivität von politisch wie gesellschaftlich extremen Positionen große Aufmerksamkeit. Andererseits muß endlich auch der Logik des Thematisierungs- und Themenstrukturierungsprozesses, in dem hochselektiv negativ bewertete und damit aufmerksamkeitsheischende Ereignisse hochstilisiert und damit zum Teil dialektisch erst verstärkt werden, mehr analytisches Interesse zugewendet werden. Wenn dabei die Rolle der (elektronischen) Massenmedien besonders betont wird, sollte dies nicht mit einer billigen Medienschelte verwechselt werden; viele Medienvertreter sind sich dieser Problematik längst bewußt. Die wirtschaftlich schwierige Lage der letzten Jahre mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit in fast allen Industrieländern des Westens hat bisher nicht — was vor nicht allzu langer Zeit von vielen Zeitgenossen vorhergesagt worden wäre — zu einer nennenswerten Intensivierung der sozialen und politischen Konflikte geführt. Man kann dies durchaus als indirekten Hinweis darauf auffassen, daß ein erheblicher Bestand an diffuser, regimeorientierter Unterstützung der Politik zur Verfügung steht. Solange die Bürger in großer Zahl mit ihrem Leben zufrieden sind, wie die Eurobarometer-Umfragen nachweisen, wird auch das politische System von dieser Zufriedenheit profitieren (dieser empirische Zusammenhang wurde weiter vorne angesprochen). Darüber hinaus scheint insgesamt zu gelten, was Sniderman für die USA formuliert hat: „The disaffected are politically suspicious, resentful, disillusioned; given the right chance, they will translate their feelings into actions, and sometimes violent ones at that. And the point I have meant to make is this: one can be alienated, genuinely so, and yet identify with the political order — as the disaffected do. . . . Time has witnessed the eclipse of alternative conceptions of a political order in America." 7 3 73

P. M . SNIDERMAN, S. A n m . 3 , S. 1 4 1 .

Die ökologische Herausforderung: Bewußtseinswandel, Konflikt und Konsensbildung auf der Ebene der parlamentarischen Demokratie FRITZ VILMAR

Mein Thema ist derart umfangreich, daß auch ich mich — wie andere Referenten — entschließe, mich auf eine zentrale Fragestellung zu konzentrieren: Welche soziale und politische Konstellation kann einen demokratischen, insbesondere parlamentarisch-demokratischen Ausweg bieten aus der tiefen ökonomischen, ökologischen und Friedenskrise unserer Gesellschaft? Ich werde im I. Teil zu zeigen versuchen, daß und warum nur ein rot-grünes Reformbündnis auf parlamentarischer Ebene in der Lage zu sein scheint, eine Politik zur Uberwindung der sozialökologischen Krise zu verwirklichen. Im II. Teil werde ich einen Lösungsansatz programmatischer Art vorstellen, der tendenziell geeignet sein könnte, durch Konsensbildung das Konfliktpotential zu bewältigen, das im Verhältnis zwischen SPD und Grünen, vor allem aber auch innerhalb der sozialökologischen Fraktionen besteht. Vorab sei ausdrücklich auf die vorgelegten Ergebnisse eines Forschungsprojekts zum Thema verwiesen, das ich gemeinsam mit KlausJürgen Scherer durchgeführt habe; ausführliche Belege und Detailerörterungen zu den folgenden Analysen und normativen Aussagen sind dort zu finden1. Sie beruhen auf diesen 1979—85 unternommenen Studien.

1 Kl.-J. Scherer, Fr. Vilmar, Ökosozialismus? Grün-rote Bündnispolitik, Berlin 1985. Bereits 1983 (2. Aufl. Berlin 1984) wurden die Ergebnisse der Arbeit einer Projektgruppe unter Leitung der Autoren in einem fast 7 0 0 Seiten starken Sammelband („Perspektiven des Ökosozialismus") publiziert.

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I. Die Tiefe der sozialökologischen Krise und die Notwendigkeit einer rot-grünen Reformpolitik Es ist erforderlich, die „ökologische Herausforderung" im Sinne einer soz/tf/ökologischen Krise zu verstehen, also nicht im engen Sinne bloßer Naturschädigungen, sondern der sozialen Prozesse insgesamt, die zu einem Unbewohnbarwerden unserer Erde führen. Die sozialökologische Herausforderung ergibt sich aus einer sehr tiefgreifenden Krise, die insbesondere drei Aspekte hat: Ökonomisch zeigt sie sich in einer in der westlichen Welt zu dreißig Millionen Arbeitslosen führenden strukturellen Massenarbeitslosigkeit, die politisch gefährliche Ausmaße annehmen wird, wenn nichts dagegen geschieht; ökologisch im spezielleren Sinne zeigt sich das schleichende Unbewohnbarwerden der zivilisierten Teile der Welt, und drittens erleben wir eine akute Friedensbedrohung: die zunehmende Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges in Europa, der unsere Zivilisation unbewohnbar macht und wahrscheinlich auf die ganze Welt übergreift. Wir haben es also zu tun mit einer Krisensituation, die eine schmerzhafte, tiefgreifende politisch-ökonomische Wende erfordert, und zwar eine Wende ganz anderer Art als die, die wir „in diesem unseren Land" seit 1981 vorgeführt bekommen. Diese Wende hat folgende Zielsetzungen: Die Ausbildung einer stabilen, nicht planetenzerstörenden, ökologischen Kreislaufwirtschaft statt der bisherigen blinden Wachstumsökonomie, die systematische Verkürzung der Wochen-, Jahres- und Lebensarbeitszeit als dem einzigen, langfristig haltbaren und noch tragfähigen Konzept gegen die Arbeitslosigkeit bei notwendigerweise und faktisch kaum noch wachsender Weltwirtschaft, und schließlich einen Abbau der gegenwärtigen atomaren Rüstungsprozesse. Dieses sind Neuorientierungsaufgaben, die eigentlich ein klassisches Aufgabenfeld darstellen für eine Große Koalition. Wenn eine Gesellschaft in eine so tiefgreifende Krise gelangt, dann wird, und ich glaube demokratietheoretisch mit einem gewissen Recht, der Ruf laut, daß sämtliche demokratischen Kräfte sich zusammentun um diese Neuorientierung in Politik umzusetzen. Die policy-Analysen - etwa auch in England und den USA - zeigen aber, daß dieses Konzept einer Großen Koalition irreal ist wegen der hochgradigen Politikunfähigkeit des politischen Konservatismus, nicht nur in unserem Land. Es läßt sich zeigen, daß die konservativen Regierungen, Programmatiken etc. nirgends in der Welt, ganz besonders aber bei uns nicht, auch nur ansatzweise eine Lösung dieser drei großen Krisen und damit eine

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Abwendung der sozialökologischen Gesamtkatastrophe erkennen lassen. Hier erleben wir Politikunfähigkeit, die sich etwa exemplarisch erwiesen hat in der Art und Weise, wie die Regierung der Bundesrepublik in der Auseinandersetzung über die Arbeitszeitverkürzung, also bei einem relevanten Schritt zur Verminderung der Massenarbeitslosigkeit, völlig kritiklos die Parolen der Kapitalseite reproduziert hat. (An dieser Stelle sei mir zum Gesamtthema ein Querverweis gestattet: Es wird häufig mit Blick auf die GRÜNEN von Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gesprochen, von Politikunfähigkeit, von mangelnder demokratischer Zuverlässigkeit. Angesichts der hilflosen Hinnahme der Massenarbeitslosigkeit zeigt sich, daß Politikunfähigkeit nicht durch allzu idealistische oder falsch verstandene Demokratievorstellungen einer kleinen grünen Partei bewirkt wird, sondern von der Unfähigkeit der etablierten politischen und ökonomischen Machteliten, zentrale Probleme zu lösen.) Wir haben auf der anderen Seite eine nur begrenzte Politikfähigkeit der politischen und gewerkschaftlichen Linken in der Bundesrepublik und Westberlin, da diese gesellschaftspolitische Gruppierung noch in hohem Maße am technokratischen, industrialistischen Paradigma, am Wachstumsdenken und an den Nachwehen der Helmut Schmidt'schen militärischen Anpassungspolitik an die US-Strategie leidet. Allerdings darf man sagen, daß es einen Silberstreifen am politischen Horizont insofern gibt, als es in dieser Linken immerhin Lernprozesse in den drei Bereichen Ökologie, Ökonomie und Friedenspolitik gibt. Und man muß feststellen, daß diese Lernprozesse nicht zuletzt durch die neuen sozialen Bewegungen ausgelöst worden sind. Insofern würde ich die Periodisierung etwas anders setzen als Herr Kaase und doch meinen, daß im Gesamtsystem mit den neuen sozialen Bewegungen sich etwas grundlegend Neues bereits seit Ende der sechziger Jahre ergeben hat, das gewachsen ist. Die neuen sozialen Bewegungen, deren Kern mit diesem fürchterlich synthetischen Begriff „Ökopax" bezeichnet worden ist, haben weit über ihre eigenen Bereiche hinaus Lernprozesse, auch im parlamentarischen System — ich gebe gerne zu: bis hin zu Herrn Zimmermann — ausgelöst. Und diese Bewegung hat sich nun glücklicherweise parlamentarisch institutionalisiert — das war ja keineswegs selbstverständlich, und viele Länder beneiden uns um diesen Prozeß — in Gestalt der Etablierung und des Wachstums der Partei der GRÜNEN. Diese haben bei weitem nicht nur, wie oft so herablassend-schulterklopfend gesagt wird, die richtigen Fragen gestellt; sie haben auch bei weitem die präzisesten und

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adäquatesten Lösungsansätze in ihren Programmen und Gesetzesvorlagen präsentiert. Ich darf nur an das jüngste Beispiel erinnern: das Arbeitszeitgesetz, das die GRÜNEN im Bundestag vorgelegt haben, geht konstruktiv weit über alles hinaus, was CDU oder SPD in dieser Richtung vorgelegt haben. Wir haben es also mit dem Glücksfall zu tun, daß es in der Bundesrepublik Deutschland nicht bei einer diffusen und anarchischen außerparlamentarischen Ökopax-Bewegung geblieben ist, sondern die außerparlamentarische Bewegung hat (gegen den Widerstand antiparlamentarischer Gruppen in ihren eigenen Reihen) zu einer parlamentarischen Institutionalisierung gefunden. Nun gibt es aber große Schwierigkeiten mit einer neuen sozialökologischen Politik auf der Basis dieser neuen Parteienkonstellation. Denn wir haben nur eine sehr langsam umlernende „alte", sozialdemokratische soziale Bewegung und eine „neue" soziale Bewegung, die aufgrund negativer Erfahrungen mit der SPD, aber auch tiefsitzender ideologischer Vorurteile gegen deren „Reformismus" zögert, eine für die notwendige gesellschaftspolitische Wende unabdingbare Bündnisstrategie zu entwickeln. Aus unseren Analysen der grün-roten Bündnisprobleme ergibt sich, daß es einerseits durchaus Annäherungsprozesse zwischen diesen beiden politischen Gruppierungen gibt, auch programmatisch, daß die Gegensätze keineswegs so groß sind, wie sie oft hochstilisiert werden, daß es andererseits aber bei den Politikmachern der Sozialdemokratie noch drückende, technokratisch-industrialistische „Hypotheken" gibt, die die Bündnisfähigkeit behindern, und daß es bei den Grünen noch eine bisher unüberwundene interne Widersprüchlichkeit gibt zwischen außerparlamentarischer Protestbewegung und ökologischer Partei. (Petra Kelly hat mal gesagt, wir sind eine nichtparlamentarische Partei. Das ist natürlich ein Widersinn.) Ob unter demokratischen, verfassungsmäßigen Bedingungen eine Bewältigung der schweren Gesellschaftskrise gelingt, hängt also, zumindest auf der parlamentarischen Ebene, davon ab, ob die Sozialdemokratie die sozialökologische Herausforderung in ihrer Programmatik und vor allem in ihrer politischen Praxis endlich realisiert im Sinne einer grundlegenden öko-sozialen und ökosozialistischen Neuorientierung, und zweitens, ob die Grün-Alternativen lernen, daß Wählerstimmen kein Spielmaterial sind, sondern zur ernsthaften parlamentarischen Mitarbeit zwingen, auch im Sinne von notwendiger Kompromiß- und Konsensfähigkeit. Außerparlamentarische Protestpartei zu bleiben, wird ihr allerdings zur Zeit sehr erleichtert von einer Sozial-

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demokratie, die versucht, sie zum Beispiel in Hessen bei Vereinbarungen und trotz Vereinbarungen „über den Tisch zu ziehen", oder sie, wie in Berlin, a priori auszugrenzen. Fazit allerdings bleibt, daß unsere parlamentarische Demokratie auf die tiefe sozialökologische Gesellschaftskrise, in der wir stecken, politikfähig nur wird reagieren können, wenn es gelingt, eine Bündnisstruktur der ökologischen und sozialdemokratischen Kräfte parlamentarisch zu konsolidieren.

II. Sozialökologische Essentials und Schwierigkeiten grünalternativer Konsensbildung; ein programmatisches Modell Im folgenden ist das hiermit umrissene Konfliktpotential und der schwierige — vielleicht scheiternde — Weg einer reformpolitisch-parlamentarischen Konsensbildung etwas genauer darzustellen — durch Vorstellung des in unserem Forschungsprojekt erarbeiteten Entwurfs „ökosozialistischer Essentials" sowie — durch Darstellung der strukturellen Konflikte im grün-alternativen Parteienspektrum und ihrer möglichen Überwindung auf der Basis einer Operationalisierung der fundamentalen Essentials. Vorab sei jedoch ausdrücklich betont, daß von einer allseits anerkannten, in jeder Hinsicht „konsensfähigen" Theorie des Ökosozialismus gegenwärtig noch keine Rede sein kann. Das Folgende ist lediglich ein erster Versuch, diejenigen Zielvorstellungen systematisch zusammenfassend darzustellen, die sich mit einem relativ hohen Grad an Übereinstimmung in theoretischen Ausarbeitungen „grüner Linker" wie Flechtheim, Galtung, Ebert, Traube, Strasser, Eppler, Gorz, Huber, Nenning und (teilweise) Bahro sowie in den grundsatzprogrammatischen Äußerungen der Grünen finden. Die sozialökologischen Essentials Die im folgenden versuchte Systematik der wichtigsten Zielvorstellungen der Ökosozialisten beansprucht nicht, bereits ein abschließendes „System" zu bieten — allerdings aber ist sie das theoretische Fazit unserer vierjährigen praktischen und theoretischen Arbeit in „grünroten" Zusammenhängen1. Demnach ergeben sich für uns folgende sozialökologische Essentials: 1. In Übereinstimmung mit dem Demokratischen Sozialismus: Orientierung an sozialökologisch ausgeweiteten und radikalisierten

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Grundwerten statt an objektiv gegebenen (historisch-materialistisch erkennbaren) gesellschaftlichen Tendenzen; 2. Selbstveränderung als Element sozialistischer Transformation, d.h. die sozialethische, existentielle Umsetzung von ökosozialistischen Grundwerten im persönlichen Leben, mit dem Anspruch, in solidarischen Formen des Zusammenlebens und -arbeitens Elemente einer klassenlosen, ökologisch verantwortlichen Gesellschaft bereits hier und jetzt zu realisieren — nicht zuletzt durch: 3. Abschaffung des Patriarchats, d. h. sämtlicher Herrschaftspositionen der Männer gegenüber den Frauen in allen persönlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Bereichen — konstituiert durch eine radikale Veränderung des zwischengeschlechtlichen Verhaltens; darüber hinaus: Abbau des gesamten, auf „Dominanz" beruhenden männlichen Sozialverhaltens. 4. Radikalisierung des demokratischen Prinzips: Entgegen allen Vorstellungen einer „notwendigen" diktatorischen Durchsetzung des Sozialismus in Übereinstimmung mit der demokratisch-sozialistischen Tradition das Bestehen auf dem demokratischen Prinzip der Mehrheitsentscheidung als Basis jeglicher gesellschaftlicher Transformation — damit auch die Anerkennung der parlamentarischen Demokratie und der verfassungsmäßigen Menschen- und Bürgerrechte wie auch die Forderung nach Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche — auf dieser Basis aber der Versuch, eine qualitativ höhere Form von Demokratie, von wirklicher „Herrschaft des Volkes" zu realisieren: durch die Prinzipien der Rotation, des imperativen Mandats, des Konsenses statt bloßer Mehrheitsentscheidung, der optimalen basisdemokratischen und direkt-demokratischen (plebiszitären) Entscheidung und der weitestmöglichen Dezentralisierung politischer Entscheidungsstrukturen; dabei vor allem 5. Forderung einer ökologischen Wirtschaftsdemokratie, d. h. (in Übereinstimmung mit dem Demokratischen Sozialismus) einer Demokratisierung ökonomischer Macht- und Führungsstrukturen durch demokratische Rahmenplanung, Kontrolle unternehmerischer Macht (einschließlich Sozialisierung ökonomischer Schlüsselpositionen) und gleichberechtigter Mitbestimmung der Arbeitenden, der Konsumenten und der Gesellschaft — ergänzt und qualitativ erweitert durch die Prinzipien einer ökologischen Kreislaufwirtschaft (Recycling-Prinzip), einer Gesetzgebung zur ökologisch verträglichen Produktgestaltung und insgesamt einer Kritik des Industrialismus-Prinzips im Sinne weitestmöglicher Begrenzung (Selektion) des Wachstums, Auflösung industrieller Ballungszentren zugunsten dezentraler Energie- und Wa-

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renproduktion etc. sowie Abbau aller strukturell imperialistischen Austauschbeziehungen zur Dritten Welt; 6. Forderung nach einem Umbau des Sozialstaats, d. h. (gemäß der Tradition des Demokratischen Sozialismus) nach einer Aufrechterhaltung des Netzes der „sozialen Sicherheit", jedoch - im Gegensatz zur etatistischen Tradition des Sozialismus — nicht durch immer weiteren Ausbau staatlicher Sozialbürokratien und -einrichtungen, sondern durch dezentrale Organisation und zunehmende Übertragung von Aufgaben der Jugend-, Alten- und Gesundheitspflege, des Bildungsund Kulturangebots etc. auf autonome gesellschaftliche Träger (freie soziale Selbsthilfegruppen); 7. Forderung nach einer prinzipiell gewaltfreien Politik nach außen und innen sowohl was die Gesellschaftsreform betrifft wie vor allem die Sicherheitspolitik: Fähigkeit eines Volkes zur sozialen statt militärischen Verteidigung, Abbau von Feindbildern sowie — als Übergangslösung — Vereinbarung atomwaffenfreier Zonen, strikt defensiver militärischer Verteidigungssysteme und einseitiger, vertrauensbildender Maßnahmen der Rüstungsbegrenzung. Wenn wir diese sieben Wesenszüge des Ökosozialismus näher zu bestimmen versuchen, so ist dabei jederzeit zu beachten, daß sie nicht isoliert voneinander, im Sinne einer Addition einzelner Forderungen, zu betrachten sind, sondern wesentlich miteinander zusammenhängen, sich ergänzen und aufeinander beziehen. So findet sich beispielsweise der Grundsatz der Selbstveränderung, der unmittelbaren Verwirklichung sozialistischer Lebens- und Arbeitsformen in der Forderung wieder, hier und jetzt patriarchalische Beziehungsstrukturen abzubauen und — etwa im hauswirtschaftlichen und genossenschaftlichen Bereich — hier und jetzt anders zu arbeiten und zu wirtschaften. Und das radikaldemokratische ökosozialistische Prinzip optimaler Machtaufteilung durch weitestmögliche Dezentralisierung und Föderation erscheint sowohl in dem politischen Essential einer radikaldemokratischen Reform der parlamentarischen und staatlichen Strukturen wie auch in den wirtschaftsdemokratischen Essentials im Prinzip optimaler Entflechtung bzw. Dezentralisierung des Industriesystems — wie ebenso in der Zielvorstellung eines Umbaus des Sozialstaats im Sinne möglichst vieler dezentraler autonomer gesellschaftlicher Einrichtungen der Selbsthilfe und Selbstorganisation.

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III. Konfliktlösungsmodell: Realpolitischer Fundamentalismus Die Entwicklung der grün-roten parteipolitischen Beziehungen 1983—85 wie auch die Wahlergebnisse haben gezeigt, daß die oben genannten Konfliktpotentiale erhebliche Hindernisse auf dem Weg zu einem sozialökologischen parlamentarischen Reformbündnis darstellen. Dabei zeigt sich nun, daß weniger die (abnehmende) Wachstumsoder NATO-Fixiertheit der SPD und ihre (abnehmende) Arroganz gegenüber den Grün-Alternativen als deren eigene innere Gespaltenheit das Haupt-Konfliktpotential darstellt: Dogmatischer Fundamentalismus, oft noch durch allzu pragmatische „Realpolitiker" in den grünen Reihen provoziert, verurteilt die grün-alternativen Parteien mit Hilfe von Maximalforderungen und anti-sozialdemokratischen Abgrenzungs-Dogmen zur parlamentarischen Handlungsunfähigkeit („Politikunfähigkeit"), die von den potentiellen Wählern — nach Umfragen immerhin bis zu 2 0 % der unter 35jährigen! — zunehmend durch Abwendung von der ökologischen Partei beantwortet (werden) wird. Bevor ich auf die Alternative — einen realpolitischen Fundamentalismus oder fundamentalistischen Realismus! — konkreter zu sprechen komme, muß das Phänomen des „unpolitischen Fundamentalismus" etwas genauer analysiert werden. 4 0 bis 60 Prozent in den Mitgliederversammlungen versteifen sich derart auf das Festhalten an den maximalen, „fundamentalen" Forderungen des Ausstiegs aus der hochgerüsteten, umweltzerstörenden Industriegesellschaft und fürchten, innerhalb einer grün-roten Bündnispolitik durch die SPD derart vom Ziel dieses radikalen Ausstiegs abgedrängt zu werden, daß sie die reine Oppositions- und Protestposition auch innerhalb des parlamentarischen Systems jeder Bündnisstrategie vorziehen. Diese Haltung ist angesichts des Substanzverlustes der SPD im parlamentarischen Prozeß der vergangenen hundert Jahre - vor allem aber: der vergangenen vierzig Jahre! — nur zu verständlich. Aber die Konsequenz aus der Skepsis der Fundamentalisten ist falsch. Sie bewirken das Gegenteil des von ihnen so kompromißlos Gewollten: Indem sie Bündnispolitik von vornherein ablehnen und/oder Maximalforderungen aufstellen, die eine Tolerierungsvereinbarung mit der SPD von vornherein unmöglich machen, schließen sie sich selbst als radikalökologischen, kritischen Faktor aus der Politik aus, nehmen dem rational handelnden (d.h. nicht nur auf emotionalen Protest bedachten) Wähler jegliche Perspektive einer Mehrheitsbildung links von der CDU/FDP und bewirken in Zukunft das Scheitern der ökologischen Partei in einem Protestghetto von 3 - 7 Prozent.

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Fragt man sich, wieso den „Fundaméntalos" der durch ihre Totalverweigerung vorprogrammierte Marsch ins politische Abseits nicht auch selbst vorab bewußt wird, so muß man — nach gebührender Würdigung des abschreckenden Verhaltens der SPD seit vielen Jahren! - allerdings auch über die beiden Formen von Politikunfähigkeit reden, die in den Fundamentalo-Reihen der Grün-Alternativen bestimmend sind. Da sind erstens jene altmarxistischen ideologischen Restbestände, die noch immer glauben machen, daß man das Machtpotential der parlamentarischen Demokratie nicht besonders ernst nehmen müsse (festgemacht in dem irreleitenden Spiel- und Standbein-Bild) in dem noch immer nicht ausgestorbenen Glauben, „das Eigentliche" werde durch irgendwelche Massenbewegungen außerhalb des Parlaments bewirkt. Und zweitens sind da die Leute aus den Bürgerinitiativen und den „Neuen Sozialen Bewegungen", die Politik — oft mit erheblichem Einsatz und Erfolg — durch direkte Aktionen, Proteste, Selbsthilfeinitiativen gemacht haben und weder die Mühsal noch die (Lebens-)Notwendigkeit der „zweiten Ebene": der schwierigen, kompromißvollen Bündnispolitik im parteipolitisch-parlamentarischen Institutionengefüge psychisch wie geistig zu ertragen gelernt haben. Die Konsequenz aus alldem kann nun keineswegs sein, fundamentalistische — d. h. radikale sozialökologische — Positionen abzulehnen und aufzugeben. Vielmehr kommt es darauf an, an ihnen festzuhalten — aber eben nicht unpolitisch-abstrakt, irreal, sondern realpolitisch, d.h. vermittelt und breiteren (Wähler-)Schichten vermittelbar durch die Ausarbeitung und bündnisfähige Vorlage von realisierbaren Schritten in die richtige Richtung: in die des konsequenten Ausstiegs aus dem selbstzerstörerischen staatszentralistischen Industrie- und Verschwendungssystems. Nur diese sorgfältige politische Vermittlungsarbeit führt hinaus aus der Krise der — inneren wie äußeren — grün-alternativen Entwicklung: die Zielsetzungen der grundlegenden ökosozialistischen Wende nicht zu verraten, sondern im Gegenteil glaubwürdiger werden zu lassen durch realpolitische Aktionsprogramme, die Schritt für Schritt zu ihnen hinführen. Nur so wird sowohl die innere Spaltung in den grünen Parteien konstruktiv aufhebbar wie auch der Ausbruch aus dem Wählerghetto der 3 bis 7 Prozent realisierbar. Abschließend soll nun exemplarisch deutlich gemacht werden: wie „grüne Essentials" artikuliert werden müßten, die klar machen, welches die festzuhaltenden mittel- und langfristigen Ziele einer radikalen ökosozialistischen Neuorientierung sind und welches die parla-

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mentarischen und außerparlamentarischen Schritte bzw. die Stufenpläne und Prozesse sind, die konsequent zu diesen Zielen hinführen. Oben habe ich die wichtigsten sozialökologischen Zielsetzungen in sieben Essentials zusammengefaßt: — Das Prinzip Leben, d. h. die Sicherung der ökologischen Existenzgrundlagen wird zum obersten politischen Grundwert; — Selbstveränderung, d.h. existentielle Umsetzung der Forderung nach einer solidarischen und ökologischen Gesellschaft im eigenen Lebensbereich; — Befreiung der Frau und damit der gesamten Gesellschaft von den aggressiven patriarchalen Herrschaftsstrukturen — allgemein: Integration statt Ausgrenzung Benachteiligter, Behinderter, Nicht-„Normaler" in unserer Gesellschaft; — basisdemokratische Radikalisierung demokratischer Strukturen durch imperatives Mandat, Rotation, Plebiszit, optimale Dezentralisierung, Konsensprinzip; — ökologische Wirtschaftsdemokratie im Sinne einer demokratisch kontrollierten ressourcenschonenden Kreislaufwirtschaft mit streng selektivem Wachstum, Abbau industrieller Ballungszentren und Verschwendungsproduktion, optimaler Arbeitszeitverkürzung und Eigenarbeit, solidarischer Kooperation mit der Dritten Welt; — Umbau des Sozialstaats durch optimale „Vergesellschaftung" sozialer und kultureller Aufgaben durch Formen autonomer sozialer Selbsthilfe und Selbstorganisation; — Entwicklung gewaltfreier Politik im Innern (Humanisierung des staatlichen Gewaltmonopols) und in den internationalen Beziehungen wie der Sicherheitspolitik (gewaltfreie bzw. strikt defensive Verteidigung). Denkt man über die Verwirklichung dieser Ziele nach, die in der Tat eine fundamentale Neuorientierung und -gestaltung unserer Gesellschaft — als Überlebensnotwendigkeit — beinhalten, so zeigt sich, daß keineswegs „realpolitische" Abstriche an diesen fundamentalen Prinzipien zur Realisierung einer rot-grünen Bündnispolitik erforderlich sind, wohl aber die Wiederaneignung der klassischen Doppelstrategie: die Notwendigkeit, beide Beine zu benutzen, das parlamentarische wie das außerparlamentarische - von denen keines ein bloßes „Spielbein" ist! Mit andern Worten: Es gilt erstens, die fundamentalistische Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus konstruktiv aufzuheben durch die in den ökosozialistischen Essentials angelegte strategische Einsicht, daß wesentliche Schritte der Veränderung vom parlamentarischen Machthebel einer ökosozialen Reformgesetzgebung gar

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nicht bewirkt, bestenfalls unterstützt werden können, daß sie vielmehr primär durch autonomes politisches Handeln zunehmender kritischer Minderheiten selbst getan werden müssen: durch ökologischen Wertwandel, Selbstveränderung, Antikonsumismus, durch partnerschaftliche statt patriarchaler Geschlechts- wie auch Generationenbeziehungen, durch soziale Selbsthilfegruppen, zunehmende Eigenarbeit, selbstorganisierte (genossenschaftliche) Betriebe, durch Leben in großzügigen, kooperativen Wohngemeinschaften (statt im Kleinfamilienghetto) — bis hin zu kibbuzförmigem Miteinanderleben und -arbeiten, zu Bürgerinitiativen gegen Kapital-Staatspolitik, zu autonomen gewaltfreien Bewegungen vor allem gegen die atomare Selbstmordrüstung und für die Emanzipation unterdrückter Gruppen. Diese ungeheure und langfristig anwachsende Bedeutung des Selbermachens, das sich durch alle oben genannten Essentials zieht und einige gänzlich prägt, macht einen der grundlegenden Unterschiede zu allen traditionellen Sozialismuskonzepten aus — und ganz besonders zu dem der (immer noch) hochgradig etatistisch und parlamentarischlegalistisch fixierten Sozialdemokratie. Der fundamentale Irrtum der dogmatischen Fundamentalisten — allen voran Bahros - ist es, diese außerparlamentarische Formen autonomen politischen Handelns als allein angemessene zu verabsolutieren. Man kann großen Respekt haben vor Bahros Entscheidung, mit Gleichgesinnten einen radikalökologischen Kibbuz in der Bundesrepublik aufzubauen - aber man muß es als fatales Abrutschen ins Sektierertum ablehnen, mit solchem selbstorganisierten Ausstieg aus dem Industrialismus sich zugleich aus jener ebenfalls notwendigen Politik zu verabschieden, die auf parlamentarische Mehrheiten, also auf Bündnisse, also Kompromisse angewiesen ist — ja, diese Bündnispolitik ganz altmarxistisch als sozialdemokratischen Reformismus zu diffamieren. Damit kommen wir zurück zur rot-grünen Bündnispolitik als unabdingbarer anderer Seite der Doppelstrategie: Ohne parlamentarische Reformpolitik bleiben radikalökologische Selbstveränderung und Selbstorganisation Oasen in einer wachsenden industrialistischen Wüste — wie umgekehrt ohne sich verändernde „Basis" Reformmehrheiten, aber auch Reformgesetze unrealisierbar bleiben. Und in diesem dialektischen, doppelstrategischen Zusammenhang spielen dann die mehrheits- und bündnisfähigen realpolitischen Zwischenschritte, die perspektivischen Stufenpläne eine konstitutive Rolle. Sie müssen auf die genannten ökosozialistischen Essentials hin orientiert zielbewußt bleiben, gleichzeitig aber überschaubar — kein radikalökologi-

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scher Warenhauskatalog wie die (mit 121 Detailforderungen auf 26 Seiten) total verunglückte „Kurzfassung" des teilweise ausgezeichneten, aber insgesamt noch chaotischer ausschweifenden 350-SeitenAL-Programms zur Berliner Wahl 1985. Nur beispielhaft kann hier — durch bewußte Selektion wichtiger Einzelforderungen — gezeigt werden, was realpolitischer Fundamentalismus in diesem Sinne zu leisten hätte; in unsere Arbeit über Ökosozialismus1 wird detailliert auf die hier aufgelisteten Vorschläge eingegangen: 1. Im Blick auf das radikalökologische Ziel des Ausstiegs aus dem Natur und Menschheit vernichtenden Verschwendungs-Industrialismus eine Gesetzgebung — zur konsequenten schrittweisen Befreiung von der SachzwangDiktatur des „Weltmarktes": ökologischer Protektionismus im Interesse einer stabilen, d.h. tendenziell autarken europäischarabisch-afrikanischen Region mit optimalen Handelswegen und nicht-imperialistischen Austauschbedingungen; — zur radikalen Verminderung der Wegwerf-Produktion und der antiökologischen Produktionsmethoden, damit des Schadstoffausstoßes (insbesondere: des Automobilismus) und des Ressourcenverbrauchs u. a. durch Einführung hoher Abgaben für Umweltverbrauch und -Schädigung; Aufbau einer ökologischen Kreislaufwirtschaft (Recycling-Prinzip) und ökologischer Massenverkehrssysteme; — zur radikalen Anpassung des Arbeitsangebots an das sich ständig vermindernde gesellschaftliche Arbeitsvolumen durch Förderung der Arbeitszeitverkürzung, sozial abgesicherte freiwillige Teilzeitarbeit und Überstundenverbot; — zum Stop sämtlicher AKW-Vorhaben und der frühestmöglichen Stillegung vorhandener Nuklearkraftwerke bei maximaler Entwicklung von alternativen Energiequellen und -sparmethoden; — zur konsequenten Dezentralisierung von Industrieanlagen, Verkürzung von Transport- und Arbeitswegen, Entwicklung ökologischer Genossenschaftsunternehmen. 2. Im Blick auf das sozialökologische Ziel der Gewaltfreiheit ist — im sicherheitspolitischen Bereich - im Einklang mit großen Teilen der Friedensbewegung ein mehrheitsfähiges Konzept der Abkoppelung von der strukturell offensiven, allein an den Interessen der USA orientierten NATO-Rüstungsstruktur des begrenzten europäischen Atomkriegs („flexible response") vorzulegen: — Stopp der Raketenstationierung, Abbau der Raketendepots in der BRD;

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— Einfrieren der Rüstungsausgaben; — Umbau der Bundeswehrstruktur auf das Konzept strikt defensiver Verteidigung-, damit impliziert: — unilateraler dauerhafter Verzicht auf Panzer- und Luftwaffen sowie auf die meisten Einheiten der Kriegsmarine; gleichzeitig auf der vertrauensbildenden Basis einer solchen — inzwischen auch von der SPD geforderten — strukturell nicht angriffsfähigen westdeutschen Verteidigungsstruktur: — Vorantreiben energischer gesamteuropäischer Verhandlungen zur Schaffung zunehmender atomwaffenfreier und schließlich entmilitarisierter Zonen; gleichzeitig: — ständige Verstärkung der gesamteuropäischen Kooperation auf allen Gebieten. Zu der anderen, der innenpolitischen Dimension des Ziels einer gewaltfreien Gesellschaft muß hier eine (aus Raumgründen nur sehr knappe) kompromißlose Kritik an die Adresse der Grün-Alternativen formuliert werden: Ihre fundamentalistische Fraktion, die aufgrund einer für die Ökopax-Bewegung unerträglichen Unklarheit ihres politischen Denkens Formen der „Gegengewalt" gegen „den Staat", „das Schweinesystem" gerechtfertigt sieht oder zumindest „verständlich" findet, macht das von den Grünen bei ihrer Gründung ja ausdrücklich beschworene Gewaltfreiheits-Prinzip unglaubwürdig — oder sie verleugnet es geradezu wie die Berliner AL, die es in ihrem Kurzprogramm (1985, S. 7) einfach wegläßt. Diese nicht zweifelsfreie Haltung zur Gewalt und zum staatlichen Gewaltmonopol, die auch den Protest gegen inhumane staatliche Formen der Gewaltausübung unglaubwürdig macht, erzeugt einen permanenten Verlust an öffentlicher Glaubwürdigkeit und Wählerbasis! 3. Im Blick auf die Ziele sozial-ökologischer Selbstveränderung, dezentraler sozioökonomischer Selbstorganisation und soziokultureller Selbsthilfe auf Kosten der kapitalistischen und wohlfahrtsstaatlichen Megamaschine ist schwerpunktmäßig u. a. zu fordern — die öffentliche moralische wie materielle Unterstützung jeglichen Sozialengagements von Einzelpersonen und von Selbsthilfeinitiativen, insbesondere — statt der bloßen Kosteneinsparung durch Schließung von (z.T. tatsächlich überflüssigen!) Sozial- und Kultureinrichtungen (Heimen, Krankenhäusern, Schulen, Fachbereichen...) Umwidmung der freiwerdenden Budgetmittel durch Schaffung großer Budgets zur Förderung von soziokulturellen Selbsthilfe-Initiativen; — grundlegende Reform des Genossenschaftsrechts und der Subven-

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tionierung von Unternehmensgründungen im Interesse der gezielten Förderung genossenschaftlicher und ökologisch vorbildlicher Unternehmen wegen ihres Vorrangs vor privaten Profitunternehmen. 4. Was schließlich die radikaldemokratische („basisdemokratische") Utopie der Grün-Alternativen betrifft, so können die teilweise bitteren Erfahrungen, die die Weimarer und die Schweizer Demokratie mit ihren Urabstimmungen, die Jugoslawen mir ihrer Arbeiterselbstverwaltung, fast alle Demokratisierungsmodelle mit ihrer Basisbeteiligung und nicht zuletzt die Grünen mit ihrer Zweijahresrotation, ihrer „Voll"-versammlungs-Demokratie, ihrem imperativen Mandat und ihrem Konsensprinzip gemacht haben, doch keineswegs zur Rechtfertigung derer dienen, die es auf alle Ewigkeit beim reduzierten Demokratiemodell des Repräsentativsystems belassen wollen, das man mit Recht als Modell „demokratischer Eliteherrschaft" abqualifiziert hat. Die bitteren Erfahrungen können doch wiederum nur bedeuten, daß realisierbare Zwischenziele und -stufen gefunden werden müssen. So kann doch keine Rede davon sein, daß das Rotationsprinzip — demokratietheoretisch unabdingbar, will man Oligarchien- bzw. Kaderherrschaft nicht verewigen! — „gescheitert" ist, wenn sich der Zweijahresrhythmus als unrealistisch erweist. Es wird sich zeigen, daß ein Vierjahres- oder äußerstenfalls Achtjahresrhythmus dem Rotationsprinzip ebenso Genüge tut und es mit dem Gebot notwendiger Kompetenz und Kontinuität in der Politik zu versöhnen vermag. Ahnliches gilt für das Prinzip der direkten (Vollversammlungs-)Demokratie: Wenn von 4000 Mitgliedern der Berliner AL (ebenso wie anderswo) nurmehr 10 Prozent erscheinen, so signalisiert dies, daß wichtige Entscheidungen z.B. eines Quorums oder einer brieflichen Möglichkeit des Mitstimmens bedürfen.

Brauchen wir eine neue Identität? Deutsche Nation, bundesrepublikanische Staatsräson, europäische Perspektive —12 Thesen

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I. Es ist ein Signum der ungefestigten politischen Kultur der Bundesrepublik, d a ß i m Z u g e des Auftretens der „ F r i e d e n s b e w e g u n g " u n d der Auseinandersetzung mit ihr allenthalten „die deutsche Frage neu gestellt", verstärkt die „nationale Identität der D e u t s c h e n " b e s c h w o ren, die „Suche n a c h D e u t s c h l a n d " propagiert, „ M u t zur Einheit" gefordert u n d das „deutsch-deutsche Verhältnis" in den M i t t e l p u n k t des politischen Interesses, ja geradezu in die M i t t e der Verständig u n g s b e m ü h u n g e n z w i s c h e n O s t u n d West gerückt wird. 1 Darin

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Schon die Titel einiger neuerer einschlägiger Beiträge zu dieser Diskussion sind signifikant: G.-K. KALTENBRUNNER (Hrsg.), Was ist deutsch? Die Unvermeidlichkeit, eine Nation zu sein, 1 9 8 0 ; G. K N O P P (Hrsg.), Die Deutsche Einheit. Hoffnung, Alptraum, Illusion? 1981; W. WEIDENFELD, Die Frage nach der Einheit der deutschen Nation, 1981; K. MOERSCH, Sind wir denn eine Nation? Die Deutschen und ihr Vaterland, 1982; H. PROSS, Was ist heute deutsch? Wertorientierungen in der Bundesrepublik, 1982; D. BLUMENWITZ, Was ist Deutschland? Staats- und völkerrechtliche Grundsätze zur deutschen Frage und ihre Konsequenzen für die deutsche Ostpolitik, 1 9 8 2 ; KÖRBER-STIFTUNG (Hrsg.), Die deutsche Frage — neu gestellt. 7 4 . Bergedorfer Gesprächskreis, 1 9 8 3 ; K . L A M E R S (Hrsg.), Suche nach Deutschland. Nationale Identität und die Deutschlandpolitik. 1983; MINISTERIUM FÜR KULTUR UND SPORT BADEN-WÜRTTEMBERG ( H r s g . ) , D e u t s c h -

land — die geteilte Nation. Mit einer einführenden Betrachtung von Golo Mann, 1 9 8 3 ; W. WEIDENFELD (Hrsg.), Die Identität der Deutschen, 1 9 8 3 (Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung); K.WEIGELT (Hrsg.), Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen, 1984; Mut zur Einheit.

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bekundet sich einerseits, daß auch nach nun fast vierzigjähriger staatlicher Teilung Deutschlands die deutsche Nation, ihre Zusammengehörigkeit und Einheit und die Frage ihrer politischen Wiedervereinigung virulente Probleme — Sachverhalte, Bedürfnisse, Sehnsüchte, Zielsetzungen — der Politik geblieben sind, die nicht abgeschoben werden können. Dies entspricht dem hohen Wert der Heimat und der nationalen Identität für ein Volk und dem grundlegenden Recht der Völker auf Selbstbestimmung über ihre nationalen Belange. Insofern ist die gegenwärtige Wiederbelebung der „nationalen Frage" zu würdigen und konstruktiv aufzunehmen.

II. Andererseits und zugleich aber ist die damit im linken wie im rechten gesellschaftlichen Spektrum aufgekommene Renationalisierung der gesamten Perspektive deutscher Politik — seien es die Vorstellungen von einem „deutschen Sonderweg", die Forderungen nach einer neutralen Stellung Deutschlands zwischen Ost und West, der emphatische Ruf nach einer „neuen" deutschen Identität jenseits der Machtblöcke und über die politischen Systeme hinweg, seien es die forscher werdenden Ansprüche auf die integrale Wiederherstellung des Deutschen Reiches unter den Voraussetzungen und in den Grenzen der Vorkriegszeit — zutiefst problematisch. Die Renationalisierungsperspektive ist Folge einer Relativierung oder Ablehnung der Westorientierung, der atlantischen und westeuropäischen Option und der sie tragenden Wertbindung der Bundesrepublik, ja zuweilen ihrer Staatsordnung überhaupt, d. h. der freiheitlichen, pluralistischen, parlamentarischen Demokratie, wie sie nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus in Westdeutschland mit Hilfe der Westalliierten errichtet und entwickelt werden konnte. Der Ruf nach einer neuen deutschen Identität impliziert die Infragestellung der demokratischen politischen Kultur des Westens und enthält zumeist eine aggressive Spitze gegen die „Siegermächte", die inzwischen unsere Bündnispartner geworden sind, nun aber wieder als „Besatzungsmächte" apostrophiert werden, unter deren „Protek-

FESTSCHRIFT für Johann Baptist Gradl zum 80. Geburtstag, 1984. - Für weitere Ausführungen verweise ich auf meinen Aufsatz: Nationale Identität in Deutschland und Europa. Zum nationalen Selbstverständnis des deutschen Volkes und seiner Nachbarn, in: K.Weigelt (Hrsg.), aaO, S. 189-205.

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torat" die Bundesrepublik angeblich steht.2 Dieser Ruf verdient insofern deutliche Zurückweisung.

III. Die Renationalisierungstendenzen knüpfen — teilweise unbewußt und ungewollt, dennoch signifikant — an Traditionsstränge der deutschen Geschichte an, die das deutsche Volk und Europa ins Unglück gestürzt haben. Der Staat der „verspäteten Nation", das Deutsche Reich von 1871, stand dominant nicht mehr im Zeichen des mittelalterlichen christlichen Reichsgedankens und auch nicht der liberalen Paulskirchen-Bewegung, sondern preußischer und deutsch-nationaler Machtpolitik und war weithin (ungeachtet eines hohen Maßes an Rechtsstaatlichkeit und föderativer Struktur) von einer hypertrophen nationalistischen Grundstimmung antiwestlicher und antidemokratischer Prägung bestimmt, die auch durch das stets gefährdete Zwischenspiel der Weimarer Republik nicht entscheidend gemildert wer2 Vgl. dazu u . a . H.-J. ARNDT, Die Besiegten von 1 9 4 5 . Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, 1 9 7 8 ; J . HABERMAS (Hrsg.), Stichworte zur „Geistigen Situation der Z e i t " , Bd. 1: „Die nationale Frage, wiederaufgelegt", mit Beiträgen von M . Walser, H . E h m k e , D . Wellersdorf und I.Fetscher, 1 9 7 9 ; P.BRANDT u. H. AMMON (Hrsg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1 9 4 5 , 1 9 8 1 ; W. VENOHR (Hrsg.), Die deutsche Einheit kommt bestimmt, 1 9 8 2 ; B. WILLMS, Die deutsche Nation. Theorie - Lage - Zukunft, 1 9 8 2 ; G. GAUS, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, 1 9 8 3 ; U. ALBRECHT/J. GRAALFS/D. LEHNERT/R. STEINKE (Hrsg.), Deutsche Fragen - Europäische Antworten, 1 9 8 3 ; B. WILLMS, Die Zukunft der deutschen Identität, in: Studienzentrum Weikersheim (Hrsg.), Deutsche Identität heute, 1 9 8 3 . — Als neueste Zeugnisse der genannten Tendenz sind die Bundestagsrede der Grünen-Abg. Antje Vollmer am 12. September 1 9 8 4 (mit Zustimmung von Teilen der SPD-Fraktion; vgl. das Bundestagsprotokoll dieser Sitzung) oder der Rundbrief Nr. 2 8 der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz Berlin vom September 1 9 8 4 mit dem Thema „Deutsche Frage? Nationale Identität?" charakteristisch. - Kritisch sehr gut: B. FAULENBACH, „Deutscher Sonderweg". Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Zeitung Das Parlament, N r . 3 3 , 1 9 8 1 , S.3—21; H.SCHULZE, Die Versuchungen des Absoluten. Zur deutschen politischen Kultur im 19. und 20.Jahrhundert, ebd., N r . 7 , 1 9 8 4 , S . 3 - 1 0 ; H.L.MÜLLER, Der „dritte W e g " als

d e u t s c h e G e s e l l s c h a f t s i d e e , e b d . , N r . 2 7 , 1 9 8 4 , S . 2 7 - 3 8 ; INSTITUT FÜR Z E I T G E -

SCHICHTE (Hrsg.), Deutscher Sonderweg - Mythos oder Realität? 1 9 8 2 ; B. KÖNITZ, Gefahren eines deutschen Sonderweges. Deutschlands Zukunft zwischen Ost und West? 1 9 8 4 , hrsg. von der Deutschen Atlantischen Gesellschaft.

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den konnte, vielmehr mit der nationalsozialistischen Herrschaft verheerende Auswirkungen für das deutsche Volk selbst wie für die meisten europäischen Nachbarvölker zeitigte. Angesichts dieser schwerwiegenden Traditionsbelastung ist mit jeder Wiederbelebung deutschen Nationalbewußtseins im Ausland verständliche Sorge verbunden, auf die wir Rücksicht nehmen müssen, ist zugleich um unserer selbst willen besondere politische Wachsamkeit geboten. Die Diskussion um deutsche Nation und Identität bedarf deshalb tunlichster Vorsicht, Nüchternheit, Differenzierung, Verständnisfähigkeit und Verständigungsbereitschaft.

IV. Es kommt vor allem darauf an, das Problem der deutschen Identität in den Zusammenhang anderer wesentlicher Beziehungen, Bindungen, Optionen und daraus resultierender Verantwortlichkeiten — für das deutsche Volk, soweit es in Freiheit seine Politik bestimmen kann, also heute für die Bundesrepublik Deutschland — einzuordnen. Daraus ergibt sich eine Mehrzahl von Perspektiven und Identifikationen, innerhalb deren die „nationale" Identität der Deutschen eine bedeutsame, aber eben nicht die einzige ist, die folglich nicht verabsolutiert werden darf. Diese Perspektiven und Identifikationen können als die inhaltlichen Grundbestimmungen der außenpolitischen Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland angesehen werden. a) Ideell, verfassungs- und sicherheitspolitisch ist die Bundesrepublik, solange sie ihre demokratische Ordnung und damit ihre Freiheit festhält, in den Westen eingebunden. Dies ist unsere allem anderen vorrangige Identität. Allein im Bündnis mit den westlichen Nationen, nicht zuletzt den USA, ist die Sicherheit und Entwicklungsmöglichkeit unserer Freiheit gewährleistet, nicht nur machtpolitisch, sondern auch geistig. In konkreten Fragen muß sich die Kooperation der Bündnispartner in konstruktiver Auseinandersetzung stets von neuem bewähren. b) Eine engere Identität regionaler — z. B. wirtschaftlicher, sozialer und rechtspolitischer — Interessen verbindet uns innerhalb der westlichen Welt mit den Staaten der EG. Auch eine stärkere gemeinsame außenpolitische Profilierung der Westeuropäer wäre erforderlich, jedoch nicht in Konkurrenz zur atlantischen Partnerschaft, sondern zu deren Stärkung, Belebung und Differenzierung.

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c) Eine geschichtlich-kulturelle Sonderidentität, an der die Bundesrepublik teilhat, ergibt sich — immer noch und angesichts solcher Vorgänge, wie z.B. der in Polen, aktualisiert — in ganz Europa, überlagert allerdings durch die politischen Systemgegensätze. Es kann dann auch ein gemeinsames Interesse an „Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" geben. Diese „europäische Identität" ist jedoch gegenwärtig nur im Einvernehmen mit den beiden Vormächten in West und Ost, also zwischen den Machtblöcken, zu realisieren, infolgedessen von vorerst begrenzter politischer Tragweite. d) Unsere geschichtliche Verantwortung aus dem Erbe der nationalsozialistischen Herrschaft besagt auch, daß der freie Teil Deutschlands, die Bundesrepublik, zum Frieden verpflichtet ist, jedoch zu einem Frieden um der Freiheit willen, der also die Verteidigungsfähigkeit der Freiheit zur Voraussetzung hat. Der Friedenswille begründet unter dieser Voraussetzung die Bereitschaft zur Verständigung und zum Ausgleich mit allen Staaten, besonders mit den in der engeren und weiteren Nachbarschaft existierenden, darunter nicht zuletzt auch mit der Sowjetunion. e) Mit anderen europäischen Völkern teilen wir Deutschen aus dem Zeitalter eines hypertrophen Nationalismus das belastende Erbe kolonialistischer Beherrschung der Völker der „Dritten Welt". Es abzutragen und in den Dienst am Wohle der gesamten Menschheit zu verwandeln, verlangt von uns ein besonderes Engagement in der Hilfe für die Entwicklungsländer. Es muß aus der Identifikation mit den existentiellen und sozialen Nöten der armen Völker bis zu echter materieller Opferbereitschaft gehen und erfordert einen erheblich höheren Stellenwert in der Politik der Bundesrepublik als bisher. f) Spezielle moralisch-politische Verpflichtungen binden uns an solche Völker, denen während der nationalsozialistischen Herrschaft im deutschen Namen schwerstes Unrecht und Leid zugefügt wurde und die von den Folgen dieser verbrecherischen Politik bis heute — in unterschiedlicher Weise — betroffen sind. Diese Verantwortung für die Wohlfahrt, für die Förderung humaner Verhältnisse und für die Freiheit solcher Völker gilt vornehmlich gegenüber Israel und Polen. Im Nahen Osten sind der Bundesrepublik die Hände stärker gebunden als anderen Staaten. Jede politische Option muß den Einsatz für das Existenzrecht Israels in gesicherten Grenzen mitenthalten. Was Polen betrifft, so hat z.B. jede Behandlung der „deutschen Frage" ebenfalls gebührende Rücksicht auf das (in der Geschichte immer

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wieder gerade auch von deutscher Seite verletzte) Recht des polnischen Volkes auf seine staatliche Existenz innerhalb dauerhaft gesicherter und als solche anerkannter Grenzen zu nehmen. g) Schließlich unsere nationale Identität mit den Deutschen in der DDR: Sie legt uns im freien Teil Deutschlands eine strikte Verantwortung dafür auf, um die Intensivierung der menschlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen, nicht zuletzt aber auch um mehr Freiheitsräume für unsere Landsleute — d.h. eine Zielsetzung der langfristigen Veränderung des ihnen gegenwärtig auferlegten kommunistischen Systems — besorgt zu sein. Alle unsere Bemühungen um den anderen Teil Deutschlands, auch die zugunsten einer engeren politischen Einheit des ganzen deutschen Volkes, haben humanen Sinn nur, wenn sie — behutsam, beharrlich und mit betont friedlichen Mitteln (vgl. d) — auf die Förderung und Durchsetzung politischer Freiheit zielen. Für sie bleibt folglich unsere ideelle, verfassungs- und sicherheitspolitische Identität mit dem demokratischen Westen, vor allem mit den USA, conditio sine qua non ihrer Legitimität (vgl. a).

V. Steht unsere nationale Identität mit den Deutschen in der DDR derart im Zusammenhang anderer wesentlicher Bindungen, Verpflichtungen und Identifikationen, so ist „Nation" nicht mehr in erster Linie — gleichsam auf Biegen und Brechen — eine Frage der staatlichen Einheit des deutschen Volkes, sondern seiner menschlichen und kulturellen Zusammengehörigkeit. Dem entspricht, daß die „Nation" der Deutschen in der mehr als tausendjährigen deutschen Geschichte vor der Reichsgründung 1871 kein staatlich und territorial klar umrissener Begriff war. Deutschland war immer wieder in mehrfachem Sinne — staatlich, landsmannschaftlich, sozial, konfessionell — geteilt und doch stets eine geistig-kulturelle Größe in Europa, die es in ihrer unverzichtbaren Bedeutung unter veränderten Bedingungen zu erhalten und weiter zu entwickeln gilt. Die Wiedervereinigung der beiden gegenwärtigen deutschen Staaten ist damit nicht verneint, aber relativiert zugunsten des Vorrangs einer anderen Art nationaler Einheit, die stärker in der freiheits- und friedensorientierten kulturellen Aufgabe und Rolle des deutschen Volkes, in dem darin maßgeblich bestehenden Dienst der Deutschen füreinander, für Europa und für die Welt, gründet. Das Maß der deutschen Einheit ist folglich von der geistigen Leistung abhängig, die

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die Deutschen unter schwierigen — durch die eigene Vergangenheit mitgeprägten — politischen Bedingungen im Dialog mit den anderen Völkern (also gerade nicht in dem Sinne, am „deutschen Wesen" könne „die Welt genesen") erbringen.

VI. Der Nationalstaat ist heute keine absolute Größe mehr. Das Signum nicht nur der komplizierten Situation, in der wir Deutschen angesichts unserer Geschichte und der Teilung unseres Landes zu leben haben, sondern der pluralistischen Gesellschaft und ihrer freiheitlichen Ordnung überhaupt ist es, daß wir mit mehreren Loyalitäten und Identifikationen leben — leben müssen, aber auch leben können. Für uns existiert nicht die eine schicksalhafte Notwendigkeit schlechthin, welche immer dafür ausgegeben werden mag (die Nation, der Staat, die Rasse, die Klasse, die Ehre oder dergl.), sondern eine Mehrzahl von gleichzeitigen, aufeinander bezogenen, aber auch miteinander konkurrierenden Bindungen und Anforderungen: z.B. gegenüber der Familie, der beruflichen Umwelt, der engeren Heimat, dem Staat, supranationalen Gemeinschaften, den Bundesgenossen, schließlich allen Völkern im Geiste der Partnerschaft, Hilfsbereitschaft und Friedenspflicht. Darin besteht die Last, darin gründet aber auch die Chance unserer verantwortungsgebundenen Freiheit. Heute treten verständlicher- und notwendigerweise zunehmende Tendenzen zum Regionalismus einerseits, zu spranationalen Integrationsformen andererseits auf, die die nationalstaatliche Entscheidungsebene ergänzen, entlasten, auch einschränken. Ihnen kommen der föderative Charakter der Bundesrepublik, ihr partieller Souveränitätsverzicht und ihre Disposition zur Unterstützung der europäischen Einigung entgegen. Diese Grundlagen verdienen gefestigt und tunlichst weiterentwickelt zu werden. Sie stellen keinen Gegensatz zur „deutschen Frage" dar, sondern bieten auch für deren Behandlung die unerläßliche Voraussetzung.

VII. Intensivierte deutsch-deutsche Beziehungen sind unterstützenswert, die das Bewußtsein der nationalen Identität der Deutschen verstärken, solange sie die freiheitliche Gesellschafts- und Staatsordnung der Bundesrepublik nicht antasten, sie vielmehr als unaufgebbare Grund-

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läge jeder weiteren Behandlung der „deutschen Frage" verstehen. Die Deutschlandpolitik der Bundesrepublik bedarf in jeder Phase der Einbettung in die atlantische Bündnispolitik und namentlich in die zu forcierende europäische Integrationspolitik. Nur Westeuropa als Ganzes, konkret also die EG, kann durch eine wesentlich verbesserte Koordination der Politik seiner Länder (EPZ) langfristig zu den osteuropäischen Staaten solche politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen herstellen, die Europa insgesamt unter freiheitlichen und friedlichen Bedingungen zu einem eigenständigen politischen Faktor machen, der die heutigen Militärblöcke an Bedeutung zurücktreten lassen kann, ohne die legitimen sowjetischen wie amerikanischen wie west- und osteuropäischen Sicherheitsinteressen zu verletzen. Damit wäre erst der Kontext für eine freiheitliche und friedliche Lösung der „deutschen Frage" gegeben, der die Nachbarvölker von Angst und Sorge zu befreien vermag. In diesem Kontext wäre auch gesichert, daß „deutsche Nation" und Demokratie in Zukunft keine Gegensätze mehr, sondern einander integral zugehörige Größen darstellen.

VIII. Der Europagedanke sollte der Vernutzung zu nationalistischen Zwecken entwunden und wieder zu seiner tieferen geistigen Bedeutung für demokratische Politik gebracht werden. Daß Europa seine Stellung in der Welt, gerade auch in der durch den Ost-West-Gegensatz und die Nord-Süd-Spannungen nach wie vor mit Explosivstoffen angefüllten Weltpolitik, zukünftig wieder deutlicher, eigenständiger bestimmen muß, als ihm das seit der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges gelungen ist, dürfte unabweisbar sein.

IX. Voraussetzung dafür ist die geistige Rückbesinnung auf die großen kulturellen Errungenschaften der europäischen Geschichte — namentlich auf die in Europa geborenen Ideen der Menschenwürde, Freiheit, Toleranz, sozialen Gerechtigkeit und eines durch Recht, Freiheitsgewähr und Interessenausgleich gesicherten Friedens. Voraussetzung ist aber auch die Würdigung der leidvollen politischen Erfahrungen dieser Geschichte, in der diese Errungenschaften durch weltanschaulich, völkisch, sozial und ökonomisch begründeten Egoismus, Haß,

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Machtwahn und Krieg bis zur fast vollständigen (Selbst-)Vernichtung im 20. Jahrhundert immer wieder pervertiert wurden. Aus solchen Reflexionen resultiert, daß Freiheit nur im Frieden, Friede nur mit und für Freiheit sinnvoll, menschenwürdig und dauerhaft realisierbar sind. Diesen genannten Ideen muß in der modernen Lebenswelt mit Engagement, zugleich in sorgsamster Abwägung der jeweils angemessenen Mittel und Wege zur möglichst umfassenden politischen Durchsetzung verholfen werden; deren konkrete Formen bleiben nach aller europäischen Erfahrung jedoch immer relativ und der Kritik und stets neuer Bemühung ausgesetzt. Dazu einen energischen, aber betont unmilitanten Beitrag zu leisten, ist die europäische Aufgabe gegenüber der Welt (der Welt der Supermächte, der Dritten Welt, aber auch der eigenen Innenwelt).

X. Vorerst kann nur Westeuropa diese Aufgabe in freier, aktiver Politik übernehmen. Es ist dafür generell recht gut, konkret jedoch sehr schlecht ausgestattet: Die westeuropäischen Staaten haben ihre „Erbfeindschaften" begraben, stimulierenden kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und — nicht zuletzt — touristischen Austausch zustandegebracht, Freizügigkeit und Mobilität in beträchtlichem Maß hergestellt usw. Dennoch liegt in der EG vieles im Argen, fehlt es vor allem an einer klaren politischen Koordination, ja Zielsetzung überhaupt. Immer wieder erfährt das Werk der (west-)europäischen Einigung gravierende Rückschläge durch ein Überhandnehmen nationaler Egoismen, wird die wertvolle, unverzichtbare europäische Pluralität mit nationaler Partikularität verwechselt.

XI. Erst wenn Westeuropa seine darin beruhende Schwäche überwunden hat, wenn es als große freiheitliche Solidargemeinschaft innere und äußere Probleme konzentriert anzugehen und für sie Lösungsmodelle zu entwickeln vermag (die Arbeitslosigkeit, das Ausländerproblem, die eigene militärische Verteidigungsfähigkeit, strukturelle Hilfsmaßnahmen für die Dritte Welt usw. betreffend), ist es ein glaubwürdiger und effizienter politischer Faktor in der Welt. Ein solcher vermag es auf absehbare Zeit nur im Bündnis mit der großen demokratischen Vormacht USA zu werden: eine Konstella-

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tion, in der Abhängigkeit fortschreitend in echte Partnerschaft übergehen kann und muß. Partnerschaft ermöglicht vertrauensvolle Abstimmung in der Wahrnehmung unterschiedlicher, aber einander zugeordneter Aufgaben, führt also zu produktiver Arbeitsteilung (statt für beide Seiten schädlicher Konkurrenz) zwischen Westeuropa und Nordamerika.

XII. Es ist nicht zuletzt eine vorrangige Aufgabe der Bildungs- und Erziehungsarbeit in der Bundesrepublik, die Bürger, namentlich die heranwachsenden Generationen, in nüchterner, differenzierter, engagierter Beschäftigung mit der deutschen, europäischen und universalen Geschichte auf dieses Verständnis und diese Zielsetzung deutscher Identität im Zusammenhang der anderen wesentlichen Bindungen und Optionen, die der Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland entspringen, vorzubereiten. Die Frage ist, ob nicht — trotz aller Unterschiede in der Ausgangslage für das Problem der nationalen Identität - bei anderen europäischen Völkern, so z. B. bei den Briten und Franzosen, die europabezogene Ausrichtung der Bildungsarbeit ähnlich zu definieren ist und sich als Aufgabe dringlich stellt, m. a. W.: ob nicht in dieser Hinsicht bedeutend mehr getan werden müßte, ohne daß deshalb die Pflege nationaler Besonderheiten, namentlich der jeweils besonderen politischen Kultur, zu leiden hätte. Die Stärke eines einigeren Europa liegt gerade in der reichen kulturellen Vielfalt seiner Völker. So können die jeweils nationale und die europäische „Identität" zur Deckung gebracht werden. Wir brauchen keine „neue" Identität, aber den konsequenten Willen zu dieser Verknüpfung.

Der auferstandene Epikur Erfahrungen mit akademischer Jugend H E R B E R T SCHNÄDELBACH

Daß er einmal auferstehen würde, hätte Epikur selbst nicht für möglich gehalten. „Wir sind ein einziges Mal geboren, . . . eine ganze Ewigkeit werden wir nicht mehr sein dürfen." (Ausspr. 5) Seiner Lehre zufolge sind wir nichts als ein zufälliges Aggregat von im unendlichen Raum ins Unendliche fallenden Atomen. Dieses Fallen hat keinen Anfang und kein Ziel; es geschieht nach physikalischen Gesetzen, aber gleichwohl gibt es Ausnahmen. Daß die Atome grundlos „um ein Kleinstes" von ihren Bahnen abweichen, ist der Grund unserer Existenz sowohl wie der unserer Freiheit. Ohne dieses Abweichen fielen die Atome immer nebeneinander her, ohne zu den Klumpen zusammenzuschießen, die wir und die Welt sind; zugleich ist dies ein Durchbrechen des universellen Kausalnexus, das uns die Chance offenhält, frei zu sein. So steht nach Epikur niemand höher als der, „der das Schicksal verlacht, das manche Leute als unumschränkte Herrin hinstellen, und der erklärt, daß einiges mit Notwendigkeit, anderes aus Zufall geschehe, einiges aber auch durch uns, weil augenscheinlich die Notwendigkeit unumschränkt, der Zufall unbeständig sei und es bei uns stehe, ob wir uns einem Herrn unterwerfen wollen." (Brief an Menoikeus) Dazu besteht freilich kein Anlaß; zwar gibt es Götter, aber die sind weit weg und kümmern sich nicht um uns, was uns vom Aberglauben befreien sollte. Darum brauchen wir uns auch nicht um sie zu kümmern, es sei denn, um nicht mit bestehenden Konventionen in Konflikt zu geraten. In unserer Welt ist das Gute nichts Metaphysisches, sondern bloß eine positive Lustbilanz im jeweils individuellen Leben, für die Klugheit unentbehrlich und Philosophie nützlich ist. Die Klugheit gebietet: „Lebe im Verborgenen!" (Fragmente), „Befreien muß man sich aus dem Gefängnis des Alltagsgetriebes und des

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Herbert Schnädelbach

Staatslebens." (Ausspr. 41), Pflege deine Freundschaften und deinen Garten! Ich behaupte, der Zeitgeist ist Epikureer — zumindest dort, wo ich ihn aus eigener Erfahrung identifizieren kann: bei der akademischen Jugend. Unsere Studierenden leben in der Gegenwart, ja im Augenblick, ohne große Ziele und mit minimalen Erwartungen, was ihre Zukunft betrifft. Der Traum von der großen Karriere, den die Jungen von einst einmal träumten, erscheint ihnen heute geradezu als Alptraum. Auch im großen Ganzen fehlt der „große Sinn", die welthistorische Perspektive, die Vision; unsere jungen Intellektuellen haben sich mit Epikur von der objektiven Teleologie des Weltlaufs verabschiedet. An das Gegenstück, die große Determination, wird ebenfalls nicht mehr geglaubt; daß „die" Gesellschaft oder das Kapital an allem schuld sein sollen, erzeugt bei den meisten dasselbe Lächeln, mit dem die „Schweine aus der Herde des Epikur" die stoische Rede vom Fatum stets zu quittieren pflegten. Die Stoiker belächeln und das Schicksal verlachen — das ist ein freundlicher Abschied vom Aberglauben: vor allem vom Glauben an die ganz große Politik, die Napoleon meinte, als er sie zum Schicksal machte. Freilich gibt es sie, aber sie ist weit weg; der Ost-WestGegensatz, der Kampf der Ideologien und Wertordnungen, die FdGO, die etablierten Parteien mit ihren Programmen, die Regierung in Bonn usf. — dies sind die Götter samt ihren Querelen, die erst dann bedrohlich werden, wenn sie anfangen, sich für uns zu interessieren. Aus all dem folgt eine defensive Ethik klug reduzierter Lebensansprüche. Die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen, die hier zugrunde liegt, kommt dabei ohne den allgemeinen sozial- und ideologiekritischen Kontext aus, in dem sie in den 60er Jahren einmal getroffen worden war; was man wirklich braucht, liegt beim Einzelnen, und da ist man tolerant. Gelebt wird dieses Ethos „fern vom Gefängnis des Alltagsgetriebes und des Staatslebens", in den Gärten alternativer Kultur und der sozialen Beziehungen mittlerer Reichweite, d.h. in Gruppen, die zwar der einen oder anderen Bewegung nahestehen mögen, aber auch dann ebenso „autonom" bleiben wollen wie die vielen Selbsterfahrungs-, Therapie-, Arbeitsund Wohngruppen, die es so gibt. Daß die Wohngemeinschaften nicht „Wohngesellschaften" heißen, ist nicht zufällig. Daß das einmal verdächtige Wort „Gemeinschaft" wieder auflebt, verdeutlicht ein starkes Bedürfnis nach familienähnlichen, informellen und konkretüberschaubaren Formen des Zusammenlebens; eine weitergehende Gemeinschaftsideologie vermag ich darin nicht zu entdecken. (Neben-

Der auferstandene Epikur

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bei: mit Wohngemeinschaften sind eigentlich Wohnfreundschaften gemeint...) Damit scheint das Bild bestätigt zu sein, das sich manche ältergewordene Aktivisten von 1968 von ihren jungen Zeitgenossen machen: sie seien naiv, unpolitisch und apathisch, egoistisch, privatistisch und unsolidarisch mit den Massen. Aber dieses Bild trügt. Sie sind nicht naiv, denn was ist naiver: die großen kämpferischen, revolutionären Sprüche von damals oder ihre ironischen Persiflagen, die allenthalben unsere Universitätswände zieren? (Daneben mag dann stehen: „Anarchie ist machbar, Herr Nachbar", aber das ist auch nicht naiv, denn es könnte stimmen.) Was als unpolitisch erscheinen mag, steht für alternative Politk in alternativen politischen Feldern; Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung sind Beispiele dafür, und hier ist von Apathie nichts zu spüren — nur von ein bißchen Resignation. Man ist überzeugt: wo es um die Bündelung und Organisation nachvollziehbarer Bedürfnisse und Interessen geht, können wir etwas erreichen; die Globalziele der Weltpolitik, von der wir nur hoffen wollen, sie möge nie stattfinden, haben mit uns nichts zu tun und warten nicht auf uns. Damit bin ich beim „Wertewandel". Unsere neuen Epikureer sind nicht unpolitisch und amoralisch; sie trauen nur den herkömmlichen Vorstellungen von Politik und politischer Moral nicht mehr. Wenn man sie als Anarchisten bezeichnet, kann man sie leicht mit denen verwechseln, die die Menschheit von der Politik erlösen und sonst alle Dinge sich selbst überlassen möchten. So etwas vertreten sie nicht; in Wahrheit stehen ihre Ideen alternativer Politik für ein alternatives Modell von Politik überhaupt: das einer Politik ohne Macht. (Nicht zuletzt spricht dafür der hohe Rang, der der Gewaltfreiheit in diesem Bereich zugemessen wird.) Die öffentlichen Dinge sollen auf anderen als auf den herkömmlichen Wegen geregelt werden, d.h. vor allem ohne die übliche Unterscheidung zwischen Beteiligten und Betroffenen. (Dies — und nicht ein bestimmtes Rätemodell — ist wohl mit „basisdemokratisch" gemeint.) Mag man auch, was die Einzelheiten solcher Regelungsmechanismen betrifft, ziemlich ratlos sein: Politik ohne autoritative Machtentscheidungen erscheint als fraglos richtiges Leitbild, und wenn man sicher sein kann, daß das gemeinsame Handeln Chancen hat, ihm zu entsprechen, ist man auch bereit, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen — oft mit beträchtlichem Einsatz. Stehen die Resultate dieses Wertewandels im Konflikt mit dem Konsens unseres Grundgesetzes und dem „Wertesystem", das es

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verkörpert? Meine These ist, daß der Wertewandel im Bereich der Vorstellungen von Politik und politischer Moral, auf den ich hinzuweisen versuchte, deswegen so gewaltig überschätzt zu werden pflegt, weil er selbst auf einer ziemlich hartnäckigen Zustimmung zu jenem Konsens beruht. Die Konflikte zwischen den herkömmlichen und den neuen Vorstellungen von Politik und politischer Moral betreffen gar nicht den demokratischen Grundkonsens als solchen, sondern nur die Frage, was er — abgesehen von Sonntagsreden — in der wirklichen Politik bedeutet und bedeuten könnte. (So zeigt z. B. die Diskussion der Grünen über die Rotation von Abgeordneten, daß es ihnen nicht darum geht, das Prinzip der Repräsentation abzuschaffen, sondern darum, ihm einen neuen Sinn zu geben.) Was als politischer Wertewandel erscheinen mag, halte ich für den Ausdruck des Bedürfnisses nach einer neuen politischen Kultur, das aber gerade nicht der Ablehnung demokratischer Prinzipien, sondern dem prinzipiellen und nachdrücklichen Einverständnis mit ihnen entspringt. Etwas Anderes ist ja nach 35 Jahren grundgesetzlicher Selbstverständlichkeit (oder selbstverständlicher Grundgesetzlichkeit) auch nicht zu erwarten gewesen. Man sollte nur endlich diesem tiefsitzenden Konsens einmal vertrauen und ihn nicht dauernd verbal beschwören. Genau das macht unsere neuen Epikureer mißtrauisch: wer Selbstverständlichkeiten im Munde führt, will etwas damit erreichen. (Als in einer Beratung der Studienordnung vorgeschlagen wurde, bei der Bestimmung von inhaltlichen Studienzielen einmal vom Grundgesetz auszugehen, wurde dem von Studenten heftig mit dem Argument widersprochen, dies sei nur Wasser auf die Mühlen der Berufsverbote.) Überhaupt sollte man auf alle Versuche der Konsens-Erzwingung verzichten: sei es durch Verdächtigung, Inquisition, Bekenntniszumutung oder auch nur durch Belehrungen über den Totalitarismus von links und rechts. Im übrigen ist es widersinnig, jemanden anzuforden, „staatstragend" zu sein, und ihm im selben Atemzug zu verstehen zu geben, daß man ihn gar nicht brauche, weil es schon viel zu viele Exemplare von ihm gebe; welches Angebot steht denn der Erwartung gegenüber, die Studenten und die jungen akademischen Arbeitslosen sollten den Staat „tragen"? Was unseren politischen Konsens gefährdet, ist nicht der neue Epikureismus, sondern ein drohender Verfall der politischen Kultur in unserem Land; nicht die jungen Intellektuellen haben ihn zu verantworten, sondern die Politiker, die mit aggressivem verbalen Moralis-

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mus ihre moralfreie Machtpolitik moralisch aufzurüsten versuchen. Daß mit Epikureern wenig Staat zu machen ist, mag besorgt stimmen; mich beunruhigt etwas anderes. Da sind einmal die falschen Gärten, d. h. die Jugendsekten und die vielen abgeschotteten Biotope der „Szene", die das Licht der Öffentlichkeit meiden und von ihm nicht mehr erreicht werden. Sie verweisen auf einen neuen Pluralismus isolierter Lebenswelten, der nicht mehr — wie der herkömmliche - die Idee der Toleranz des Besonderen in einem allgemeinen Raum verkörpert, sondern nur die Verdrängung von lauter unausgetragenen Konflikten. Dieser Pluralismus entsteht, wenn alle aus dem Feld gehen, sich aus dem Weg gehen und in die Gehege zurückziehen, in denen man gerade noch relativ konfliktfrei weiterleben kann. Eine andere Besorgnis betrifft das Risiko, daß das, was als alternative Politik gemeint ist, zu einem bloßen Komplementärphänomen des ohnehin Bestehenden geraten könnte. Man kann zentralisierte politische Macht nicht „alternativ" kontrollieren, und alternative politische Kultur ist noch keine politische Gegenmacht. Nicht die affirmative, sondern die kritische Sorge um das politische Ganze ist heute in Gefahr, wenn ich recht habe. Im übrigen empfehle ich, den Konsens „tiefer zu hängen", und dies ist kein Plädoyer für Konfliktpolitik, sondern nur für etwas bessere Nerven.

Verzeichnis der Autoren AGNOLI, JOHANNES v . A R N I M , HANS H E R B E R T

BENDA, ERNST

BERMBACH, U D O BÖLLING, KLAUS BÜTOW, HELLMUTH DELBRÜCK, J O S T

DENNINGER, ERHARD ENGELS, WOLFRAM FIJALKOWSKI, JÜRGEN GREWE, WILHELM G .

GRÜHN, DIETER HARTWICH, HANS-HERRMANN HECKELMANN, D I E T E R

HERZOG, DIETRICH

Dr. phil., Prof. für Theorie der Politik an der FU Berlin Dr. jur., Dipl. Volkswirt, Prof. für Öffentliches Recht, insbes. Kommunal- und Haushaltsrecht und Verfassungslehre an der Hochschule für Verwaltungswissenschaft in Speyer Dr. jur., h. c., Prof. für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg, Bundesverfassungsgerichtspräsident a. D. Dr. phil., Prof. für Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg Staatssekretär a . D . , z . Z t . freier Schriftsteller in Berlin Dr. phil., Prof. für Soziologie und Politologie, Vizepräsident der FU Berlin Dr. jur., LL. M., Prof. für Öffentliches Recht, Staats- und Völkerrecht und Allgemeine Staatslehre an der Universität Kiel, Richter am Oberverwaltungsgericht Lüneburg (beurlaubt), Präsident der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Dr. jur., Prof. für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Universität Frankfurt Dr. rer. pol. Dip. Kfm., Prof. für Betriebswirtschaftslehre, Universität Frankfurt. Dr. phil., Prof. für Politikwissenschaft und Politische Soziologie an der FU Berlin Dr. jur., Dr. h. c., em. Prof. für Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Völkerrecht an der Universität Freiburg, Botschafter a. D. Dr. rer. pol., Dipl. Soz., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FU Berlin Dr. rer. pol., Prof. für Politische Wissenschaft, Regierungslehre an der Universität Hamburg Dr. jur., Prof. für Bürgerliches Recht, Handelsund Gesellschaftsrecht, Arbeitsrecht und Zivilprozeßrecht an der FU Berlin, Präsident der FU Berlin Dr. rer. pol., Prof. für Politische Soziologie an der Universität Berlin

526 HIRSCH, BURKHARD HOFMANN, HASSO

HÜBNER, PETER KAASE, M A X W I L L Y

KLAGES, HELMUT

LEISNER, WALTER M A T Z , ULRICH M E R T E N , DETLEF

N O L T E , ERNST OBERREUTER, HEINRICH O F F E , CLAUS RANDELZHOFER, ALBRECHT

SCHILY, O T T O SCHOLZ, RUPERT

SCHMUDE, JÜRGEN SCHNÄDELBACH, H E R B E R T SCHROEDER, KLAUS SCHWAN, ALEXANER SCHWAN, GESINE

Süss, WERNER VILMAR, FRITZ

Verzeichnis der Autoren Dr. jur., Staatsminister a. d., MdB Dr. jur. utr., Prof. für Rechtsphilosophie, Staatsund Verwaltungsrecht an der Universität Würzburg Dr. rer. pol., Prof. für Soziologie, Vizepräsident der FU Berlin Dr. rer. pol., Prof. für Politische Wissenschaft und International Vergleichende Sozialforschung an der Universität Mannheim Dr. rer. pol., Dipl. Volkswirt, Prof. für Soziologie, insbes. Organisationssoziologie und Verwaltungssoziologie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer Dr. jur., Prof. für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht an der Universität Erlangen-Nürnberg Dr. jur., Prof. für Politische Wissenschaft an der Universität zu Köln Dr. jur., Dr. rer. pol., Prof. für Öffentliches Recht an der Hochschule für Verwaltungswisssenschaften Speyer Dr. phil., Prof. für Neuere Geschichte an der FU Berlin Dr. phil., Prof. für Politikwissenschaft an der Universität Passau Dr. rer. pol., Prof. für Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Bielefeld Dr. jur., Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht, Völkerrecht und Verfassungsgeschichte an der FU Berlin Rechtsanwalt, MdB Dr. jur., Prof. für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre und Finanzrecht an der Universität München, Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten des Landes Berlin Dr. jur., Bundesminister a. D., MdB Dr. phil., Prof. für Philosophie, insbes. Sozialphilosophie an der Universität Hamburg Dr. rer. pol., Dipl. Pol., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der FU Berlin Dr. phil., Prof. für Geschichte der politischen Theorie an der FU Berlin Dr. phil., Prof. für Theorie der Politik an der FU Berlin Dr. rer. pol., Dipl. Pol., Wiss. Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der FU Berlin Dr. phil., Prof. für Politische Wissenschaften, Innenpolitik an der FU Berlin

Verzeichnis der Autoren

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VITZTHUM, WOLFGANG GRAF Dr. jur., LL. M., Prof. für Öffentliches Recht einschließlich Völkerrecht an der Universität Tübingen VOGEL, KLAUS Dr. jur., Prof. für Öffentliches Recht, Öffentliches Wirtschafts- und Steuerrecht an der Universität München WALDMANN, PETER Dr. jur., Prof. für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialkunde an der Universität Augsburg WASSERMANN, RUDOLF Dr. jur. h. c., Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig und des Niedersächsischen Landesjustizprüfungsamtes, Mitglied des Niedersächsischen Staatsgerichtshofs WILLOWEIT, DIETMAR Dr. jur., Prof. für Deutsche Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Bürgerliches Recht an der Universität Würzburg

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G

Walter de Gruyter Berlin-New York Friedrich Scholz

Berlin und seine Justiz Geschichte des Kammergerichtsbezirks 1945 bis 1980 Oktav. XII, 3 0 5 Selten mit 8 S. Abbildungen. 1982. Ganzleinen DM 4 2 , Dieses Buch ist viel mehr als nur die Geschichte der Berliner Justiz nach dem zweiten Weltkrieg. Sie ist eingebettet in eine Darstellung der Nachkriegsgeschichte Berlins überhaupt, die, lebendig und spannend geschrieben, jeden in ihren Bann schlägt, der sich für die jüngste Vergangenheit interessiert. Wer diese schwere Zeit erlebt hat, in der aus bitterster Not zunächst jeder an Brot und Kohle dachte, wird hier die miterlebte Geschichte nachvollziehen können, die Berlin damals und später mit seiner aufregenden politischen Entwicklung über Jahrzehnte genommen hat. An vieles wird er sich erinnern können, manche Zusammenhänge mögen ihm in jener Zelt unbekannt geblieben sein. Die jüngere Generation wiederum wird mit Erstaunen erfahren können, mit welcher Dramatik sich die Berliner Rechtspflege parallel zum politischen Schicksal der Stadt entwickelt hat - teilweise aber eben auch völlig anders. So ist dieses Buch einerseits für alle Juristen geschrieben, die sich für die Geschichte der Berliner Justiz Interessieren; andererseits aber nicht nur für die Juristen Berlins - diese Geschichte der Berliner Justiz spiegelt deutlich wider, um wieviel schwerer die alte Reichshauptstadt bis in die jüngste Zeit an den Folgen des „Dritten Reiches" zu tragen hatte als die übrige Bundesrepublik. Dieses Buch wird also nicht nur den Juristen, sondern ebensogut auch jeden anderen fesseln; er wird erkennen, welche Leistung der Berliner Justiz gerade in jener Zeit abverlangt wurde und als welch bemerkenswerter Beitrag dies zur Rückgewinnung der Bürgerfreiheiten nach dem Krieg erscheinen muß. Friedrich Scholz kann selbst auf einen reichen Erfahrungsschatz für die Darstellung zurückgreifen. Er hat der Berliner Justiz seit seiner Rückkehr aus sowjetischer Gefangenschaft angehört und war bis 1976 Vorsitzender Richter am Kammergericht. Aus seiner Tätigkeit in zahlreichen justizpolitischen Gremien ist er mit vielen Vorgängen auch persönlich vertraut und nicht auf die Darstellung aus der Sicht des unbeteiligten Betrachters angewiesen. Daneben hat er in zahlreichen Gesprächen mit Zeugen aus der früheren Zeit die eigenen Kenntnisse zuverlässig ergänzen können. Das Werk enthält in einem Anhang u. a. die Abbildungen aller Wirkungsstätten des Kammergerichts, dessen 500jährige Geschichte auch in einem kurzen Überblick umrissen wird. Preisänderung vorbehalten

Handbuch des VerfassungsP A A K T C • W w l

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der Bundesrepublik Deutschland

Herausgegeben von Emst Benda • Werner Maihofer • Hans-Jochen Vogel Unter Mitwirkung von Konrad Hesse Lexikon-Oktav. XII, 1448 Seiten. 1983. Dünndruckpapier. Ganzleinen. DM 268,Studienausgabe: 2 Broschüren. XVI, 1448 Seiten. 1984. DM 78,Aus einer Besprechung: .Die Herausgeber - Ernst Benda. Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Werner Maihofer. weiland Bundesminister des Innern, und Hans-Jochen Vogel, Fraktionsvorsitzender im Deutschen Bundestag - sind Personen des öffentlichen Lebens, die unterschiedlichen politischen Richtungen zuneigen, die aber alle den Umgang mit der Verfassung im Hauptberuf gelernt haben. Auch sie laufen nicht, um einen schon historischen Ausspruch zu zitieren (.Spiegel-Affäre' 1962), .ständig mit dem Grundgesetz unterm Arm herum', doch, besser noch, sie haben das Grundgesetz im Kopf oder

immer zur Hand. In diesem Handbuch betreuen sie die Arbeit eines vielköpfigen Bearbeiter-Teams, die sich in einem ausgewogenen und homogenen Gesamtwerk niedergeschlagen hat, an dem die Herausgeber ebenfalls als Mitverfasser beteiligt s i n d . . . Der Leser spürt das Engagement der Autoren, die zu verfassungspolitisch aktuellen Problemen entschieden Stellung nehmen (.Parteienfinanzierung'; .plebiszitäres Defizit1) . . . Was galt? Was besteht? Was muß geschehen? Das anregende, aufregend gute Buch sagt es." s « Kasier in Siaaisanietger für Baden-Württemberg

Inhalt: 1. Kapitel Grundlagen

5 Kapitel

1. Das Grundgesetz in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland; Aufgabe und Funktion der Verfassung (Konrad Hesse). - 2. Die Rechtslage Deutschlands und der Status Berlins (Jochen Abr. Frowein). - 3. Verfassungsmäßige Ordnung und europaische Integration (Werner von Simson).

1. Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes (Hans-Jochen Vogel). - 2. Bund und Länder nach der Finanzverfassung des Grundgesetzes (Franz Klein). - 3. Der Bundesrat und seine Bedeutung (Diether Posser).

2. Kapitel Grundrechte 1. Bestand und Bedeutung (Konrad Hesse). - 2. Die Menschenwürde (Emst Benda). - 3. Freiheit und Gleichheit (Martin Kriele). 3 Kapitel

Die demokratische Ordnung des Grundgesetzes

1. Prinzipien freiheitlicher Demokratie (Werner Maihofer) - 2. Das parlamentarische System (Hans-Peter Schneider). - 3. Wahlrecht (Eckart Schiffer). - 4. Politische Parteien (Dieter Grimm). - S. Verbände (Dieter Grimm). - 6. Massenmedien (Wolfgang HoffmannRiem).

4. Kapitel Die rechts- und soziaistaatliche Ordnung des Grundgesetzes 1. Der soziale Rechtsstaat (Ernst Benda). - 2. Ehe und Familie (Wolfgang Zeidler), - 3. Grundgesetz und Wirtschaftsordnung (Hans-Jürgen Papier). - 4. Eigentum (Peter Badura). - S. Unternehmensverfassung. Mitbestimmung und Grundgesetz (Albrecht Krieger). - 6. Tarifautonomie (Anke Fuchs). - 7. Sozialrecht, Sozialpolitik (Detlef Merten).

Die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes

6 Kapitel Kult urstaatliche Elemente der verfassungsmäßigen Ordnung 1. Kulturelle Aufgaben des modernen Staates (Werner Maihofer). 2 Richtlinien und Grenzen des Grundgesetzes für das Bildungswesen (Peter Glotz/Klaus Faber). - 3. Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften (Paul Mikat).

7. Kapitel Staatliche Funktionen 1 Gesetzgebung, Regierung. Verwaltung (Thomas Ellwein). 2. öffentlicher Dienst (Josef Isensee). - 3. Die Rechtsprechung (Wolfgang Heyde) - 4. Verfassungsgerichtsbarkeit (Helmut Simon).

a Kapitel Der Schutz der Verfassung (Erhard Denninger)

9. Kapitel Abschließende Äußerungen der Herausgeber (Ernst Benda, Werner Maihofer. Hans-Jochen Vogel).

Walter de Gruyter - Berlin • New York