Konfuzianische Ethik und Legitimation der Herrschaft im alten China: Eine Auseinandersetzung mit der vergleichenden Soziologie Max Webers [1 ed.] 9783428491582, 9783428091584

Der Webersche Ansatz der vergleichenden Soziologie richtet sich vor allem auf die Besonderheit der okzidentalen Kulturen

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Konfuzianische Ethik und Legitimation der Herrschaft im alten China: Eine Auseinandersetzung mit der vergleichenden Soziologie Max Webers [1 ed.]
 9783428491582, 9783428091584

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DUAN LIN

Konfuzianische Ethik und Legitimation der Herrschaft im alten China

Soziologische Schriften Band 64

Konfuzianische Ethik und Legitimation der Herrschaft im alten China Eine Auseinandersetzung mit der vergleichenden Soziologie Max Webers

Von

Duan Lin

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Lin, Duan: Konfuzianische Ethik und Legitimation der Herrschaft im alten China : eine Auseinandersetzung mit der vergleichenden Soziologie Max Webers / von Duan Lin. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Soziologische Schriften; Bd. 64) Zugl.: Heidelberg, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-09158-2

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Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-09158-2 Gedruckt auf aIterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Für Ay-Wha

Vorwort Die vorliegende Studie ist eine leicht überarbeitete Fassung meiner Arbeit, die Anfang Oktober 1994 von der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Universität Heidelberg als Dissertation angenommen wurde. Meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Prof. Dr. Wolfgang Schluchter, danke ich besonders für seine freundliche Anregung und Betreuung. Mein Dank gilt jedoch auch Herrn Holger Saalfeld, der nach Abschluß des Promotionsverfahrens meine Arbeit stilistisch überprüft und korrigiert hat. Nicht zuletzt danke ich Herrn Prof. Dr. iur. h.c. Norbert Simon und Herrn D. H. Kuchta für die gute verlegerische Hilfe sowie der Friedrich-Naumann-Stiftung, die meine Forschung durch ein großzügiges Promotionsstipendium gefördert hat.

Taipei Taiwan, im November 1996

Duan Lin

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung

1. Die Charakterzüge der Weberschen vergleichenden Soziologie ............. 1

2. Um die Eigentümlichkeit der chinesischen Kultur zu artikulieren: Begriffsarbeit und Prüfung des historischen Gehalts .......................... 4 3. Die Gliederung der vorliegenden Arbeit....................................... 7

11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik und die Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit). Eine Synthese von Universalismus und Partikularismus

1. Universalismus und Partikularismus ............................................ 9 a) Intrakultureller Vergleich: Gnadenuniversalismus < -- > Gnadenpartikularismus ..................... 10 b) Interkultureller Vergleich: Universalismus < -- > Partikularismus ...................................... 13 c) Universalismus im chinesischen Sinne: Eine Synthese von Universalismus und Partikularismus ......................................... 18

2. Die Entstehung des Konfuzianismus und die Bedeutung der Kardinaltugend Jen ........................................................................... a) Die Lehre des Konfuzianismus im allgemeinen ............................ b) Konfuzius (551-479 v. Chr.) und die Achsenzeit in China .............. c) Der Begriff Li bei Konfuzius .................................................. d) Der Begriff Jen bei Konfuzius und seine Beziehung mit Li .............. e) Die Charakterzüge des Begriffs Jen beim Konfuzianismus ..............

23 23 23 26 30 32

x

Inhaltsverzeichnis

aa) Jen als universale und fundamentale Tugend ........................... 32 bb) Jen als Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezogenheit .......................... 33 cc) Jen als moralische und ontologische Basis der Selbst-Kultivierung: Innerweltliche Transzendenz oder Selbsttranszendenz ................. 35 dd) Jen als sozialethische Grundlage: Reziprozität und die Goldene Regel ........................................................................... 40 ee) Jen als Synthese von Universalismus und Partikularismus ........... 44 3. Zusammenfassung: Konfuzianismus gegenüber Puritanismus. "Kontextualisierter Universalismus" gegenüber "dekontextualisiertem Universalismus" ..................... 56

IH. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik unter dem Regelaspekt und dem Motivationsaspekt: Magische Ethik, Normenethik (ritualistische Ethik und Gesetzesethik) oder Gesinnungsethik?

1. Die typologischen Entwicklungskonstruktionen der religiösen Ethik Webers ................................................................................ 59 2. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie ................................................................. 64 3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik: Magische Ethik, Normenethik (ritualistische Ethik und Gesetzesethik) oder Gesinnungsethik? ................................................................................. 70 a) Die chinesische vorkonfuzianische religiöse Ethik im allgemeinen ..... 71 aa) Die religiöse "Ethik" in der Shang-Zeit (16. Jh.-l1. Jh. v. Chr.) .................................................... 71 bb) Die religiöse Ethik in der vorkonfuzianischen Chou-Zeit (11. Jh.-551 v. Chr.) ........................................................ 73 b) Die konfuzianische Ethik: Magische Ethik, Normenethik (ritualistische Ethik und Gesetzesethik) oder Gesinnungsethik? .................... 81 4. Zusammenfassung .................................................................. 88

Inhaltsverzeichnis

XI

IV. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik unter dem Sanktionsaspekt: Die konfuzianische Ethik und die Synthese von Autonomie und Heteronomie

1. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (1): wiederum die Beziehung von Li und Jen ............................................................... 90 2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2): Der Kontrast und die Gemeinsamkeit von Menzius (ca. 371-289 v. Chr.) und Hsün-tzu (298-238 v. Chr) .................................................................... 97 a) Die Überzeugung des Menzius: Die menschliche Natur sei gut (Hsing-shan) ...................................................................... 97 b) Die Ethik des Menzius als eine Ethik der Autonomie ................... 102 c) Die Behauptung des Hsün-tzu: Die menschliche Natur sei böse (Hsing -0) ......................................................................... 106 d) Die Ethik des Hsün-tzu als eine Ethik der Heteronomie ............... 111 3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik unter dem Sanktionsaspekt: Die konfuzianische Ethik und die Synthese von Autonomie und Heteronomie .................................................................. 124 a) Die Ethik des Menzius als eine Gesinnungsethik und seine Synthese von Autonomie und Heteronomie .................................... 125 b) Die Ethik des Hsün-tzu als eine Gesinnungsethik und seine Synthese von Autonomie und Heteronomie .................................... 129 4. Zusammenfassung ................................................................ 137

V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und die konfuzianische (moralische) Rollentheorie

1. Pietät, patria potestas und Hsiao ................................................ 140

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie .... a) Soziologische Rollentheorien als analytische Grundlage: ................ b) Die Entstehung der konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie ..... c) Richtigstellung der sozialen Positionen (Cheng-ming) ...................

144 145 148 150

XII

Inhaltsverzeichnis

d) Die konfuzianische Triade: Soziale Differenzierung, soziale Arbeitsteilung und moralische Unterscheidung ..................................... 153 e) Reziprozität (Shu) bzw. Menschlichkeit (Jen) gegenüber Pietät (Hsiao?); Fünf-Beziehungen (Wu-lun) gegenüber Drei-Hauptleinen (San-Kang) ....................................................................... 158 aa) Die Beziehung zwischen dem Herrn (Chün) und den Untertanen (Ch'en) bzw. dem Volk (Min): Das Legitimationsprinzip der Herrschaft Shu (Reziprozität) bzw. Jen (Menschlichkeit) ........... 158 bb) Die Beziehung zwischen dem Vater (Fu) und dem Sohn (Tzu): Die eigentliche Bedeutung der Tugend Hsiao innerhalb der "Fünf-Beziehungen" (Wu-lun) ............................................ 165 cc) "Drei-Hauptleinen" (San-kang) und die abweichende Entwicklung des Han-Konfuzianisms ............................................. 169 dd) Das fragwürdige Buch "Hsiao-ching" und die Politisierung des Han-Konfuzianismus ....................................................... 173 ee) "Fünf-Beziehungen" (Wu-lun) und "Drei-Hauptleinen" (San-kang); patria potestas, Pietät und die zwei Interpretationen der Tugend Hsiao ........................................................... 179 3. Zusammenfassung ................................................................. 184

VI. Schlußbemerkung

Literaturverzeichnis ................................................................ 191

I. Einleitung In der vorliegenden Arbeit soll nicht hauptsächlich versucht werden, den gesamten Ansatz der vergleichenden Soziologie Max Webers zu untersuchen und seine China-Studie l vollständig zu überprüfen, sondern durch eine Auseinandersetzung mit der Weberschen vergleichenden Soziologie die besondere historische Realität der konfuzianischen Ethik und des ihr entsprechenden Legitimationsprinzips der Herrschaft im alten China sorgfältig darzulegen. Es ist im wesentlichen eine Kulturanalyse im Sinne der Weberschen vergleichenden Religionssoziologie, weil auch die chinesischen Ideen in dem "religiös"ethischen Bereich am deutlichsten verwirklicht worden sind 2• 1. Die Charakterzüge der Webersehen vergleichenden Soziologie

Der Webersche Ansatz der vergleichenden Soziologie richtet sich vor allem auf die Besonderheit der okzidentale Kulturentwicklung. Im Gegensatz dazu wird hier die Eigentümlichkeit der chinesischen Kultur bzw. der konfuzianischen Ethik und der Legitimation der Herrschaft im alten China erläutert. Um diesen Unterschied der Erkenntnisinteressen zu überbrücken und unsere eigene Kulturanalyse zu artikulieren, versuchen wir zunächst, die Webersche vergleichende Soziologie unter vier ausgewählten Aspekten zu betrachten: 1. Durch eine Verbindung von Typen- und Stufenbegriff konstruiert sie einen intrakulturellen Vergleich der religiösen Ethiken im Okzident (z.B. der Gnadenuniversalismus des mittelalterlichen Katholizismus gegenüber dem

I Es gibt viele verschiedene Bücher bzw. Tagungen, die sich direkt auf die Webersche ChinaStudie beziehen, z.B. Zingerle (1972), Schluchter([Hg.], 1983), Ku (1987), Tu ([Hg.], 1991), die von Schluchter geleitete Tagung in Bad Homburg (1990) usw. 2 Diese Ansicht stimmt nicht zufällig mit der Meinung des Lepsius überein, wenn er in seiner Interpretation über Webers Kulturssoziologie so erklärt: "... Am zugänglichsten für eine exakte Bestimmung von Kultur sind daher solche Ideen, die eine dogmatische oder rechtliche Konkretion erfahren, also Ideen in sozial verfaßten Religionsverbänden und in Rechtssystemen. Die Religionsund die Rechtssoziologie sind daher die traditionellen Felder der Kulturanalyse" (Lepsius, 1990, S. 32, Hervorhebung von mir). Da die Rechtssoziologie Webers wiederum ein kompliziertes, neues Thema ist, konzentriert sich unsere Kulturanalyse vor allem auf den Bereich der Religionssoziologie. Darüber hinaus wird ein Aspekt der Herrschaftssoziologie, nicht die Herrschaftssoziologie insgesamt, sondern nur der Aspekt der Legitimation bzw. des Legitimationsprinzips der Herrschaft, berücksichtigt.

2

I. Einleitung

Gnadenpartikularismus des Calvinismus). Dieser intrakulturelle Vergleich beinhaltet (trotz seiner Verbindung von Typen- und Stufenbegriff) im wesentlichen eine entwicklungsgeschichtliche Perspektive, die mit der genetischen Beziehung zusammenhängt 3 : Sie ist eine idealtypische (typologische) Entwicklungskonstruktion der okzidentalen religiösen Ethiken; d.h. von der Stufe der magischen "Ethik" über der Stufe der Normenethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) bis zu der Stufe der Gesinnungsethie. 2. Durch eine Verbindung von Typen- und Stufenbegriff konstruiert sie zugleich einen interkulturellen Vergleich der religiösen Ethiken (z.B. zwischen der okzidentalen calvinistischen Ethik und der chinesischen konfuzianischen Ethik). Dieser interkulturelle Vergleich beinhaltet (trotz seiner Verbindung von Typen- und Stufenbegriff) wesentlich eine typologische Perspektive, die mit der Gegensatzbeziehung verbunden ist 5 : Um die Besonderheit der calvinistischen Ethik darzustellen, wird die konfuzianische Ethik von Weber als ein Gegentypus behandelt; während die calvinistische Ethik im Okzident universalistisch ist und die Stufe der Gesinnungsethik erreicht hat, ist die konfuzianische Ethik in China partikularitisch und stets auf der Stufe der magischen "Ethik" oder der Normenethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) geblieben. 3. Sie zeigt zwar eine nicht ganz plausible, aber doch eine wahlverwandtschaftliehe Analyse zwischen der bestimmten religiösen Ethik und dem bestimmten Legitimationsprinzip der Herrschaft bzw. politischer Teilordnung in den verschiedenen "theoretischen 'Entwicklungsstufen' "6 der Gesellschaft bzw. Ordnungskonfiguration auf; z.B. gibt es für Weber in der "Entwicklungsstufe" der traditionalen Gesellschaft bzw. Ordnungskonfiguration eine Wahlverwandtschaft zwischen der religiösen Normenethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) und dem Pietätsprinzip der traditionalen Herrschaft bzw. des Patrimonialismus7 .

Schluchter, 1988, S. 93. Vgl. WuG, S. 348. , Vgl. Schluchter, 1988, S. 93. 6 Am deutlichsten hat Weber im Bereich des Rechts der Gesellschaft bzw. Ordnungskonfiguration eine Konstruktion der idealtypischen, "theoretischen 'Entwicklungsstufen'" dargestellt: In seiner Rechtssoziologie hat Weber (WuG, S. 504-505) die allgemeine Entwicklung des Rechts und des Rechtsgangs (im Okzident) in 4 "theoretische 'Entwicklungsstufen'" gegliedert, d.h. offenbartes Recht (charismatisches Recht)-- > traditionales Recht (patriarchale bzw. patrimoniale Justiz) -- > erschlossenes Recht (Naturrecht)-- > gesatztes Recht (positives Recht) (vgl. auch Schluchter, 1979, S. 131). 7 Vgl. Schluchter, 1979, S. 176-203. Ähnlich gibt es für Weber auch in der primitiven, charismatischen "Entwicklungsstufe" eine Wahlverwandtschaft zwischen der magischen "Ethik" und dem Sendungsprinzip, und in der modernen "Entwicklungsstufe" gibt es auch eine Wahlverwandtschaft zwischen der Gesinnungsethik bzw. der Verantwortungsethik und dem Legalitätsprinzip, vgl. Schluchter, 1979, S. 183 und 200. J

4

1. Die Charakterzüge der Weberschen vergleichenden Soziologie

3

4. Diese Wahlverwandtschaft gilt nach Weber nicht nur für die okzidentale Sonderentwicklung, sondern auch für die chinesische (gegensätzliche) Entwicklung; z.B. die Wahlverwandtschaft zwischen der religiösen Normenethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) und dem Pietätsprinzip der traditionalen Herrschaft (des Patrimonial ismus) gilt nach Weber nicht nur für das Fürstentum und die Theokratie im okzidentalen Mittelalter, sondern auch für das Kaisertum in China. Dadurch hat Weber die Perspektive des intrakulturellen Vergleichs mit der des interkulturellen Vergleichs verwechselt. Durch eine solche Verwechslung wird die "Entwicklungsstufe" des kaiserlichen Chinas methodisch unvermeidlich von Weber mit der des okzidentalen fürstlichen und theokratischen Mittelalters gleichgesetzt. Der obige erste und der zweite Aspekt zusammen beziehen sich auf einen Charakterzug der Weberschen vergleichenden Soziologie: Sie ist ein doppelter Vergleich. Um seine Analyse der Sonderstellung der okzidentalen Kulturentwicklung zu ermöglichen, hat Weber in seiner vergleichenden Soziologie einen doppelten Vergleich, den intra- und den interkulturellen, durchgeführt 8 . In diesem Sinne ist sie zunächst nicht normativeurozentrisch, sondern heuristisch

eurozentrisch 9 •

Der dritte und der vierte Aspekt zusammen beziehen sich auf einen anderen Charakterzug der Weberschen vergleichenden Soziologie: Sie ist ein mehrdimensionaler Vergleich lO • Durch eine Wahlverwandtschaft zwischen den verschiedenen Teilordnungen (Religion, Wirtschaft, Politik, Recht usw.) innerhalb jeder "Entwicklungsstufe" der Gesellschaft bzw. Ordnungskonfiguration wird die Mehrdimensionalität seiner vergleichenden Soziologie erzielt. Sowohl intrakultureller als auch interkultureller Vergleich versuchen nicht nur aus der religiös-ethischen Dimension, sondern auch aus den institutionellen (ökonomischen, politischen, rechtlichen) Dimensionen heraus, die verschiedenen "Entwicklungsstufen" der Gesellschaften bzw. Ordnungskonfigurationen einander gegenüberzustellen ll . Die vier Aspekte insgesamt beziehen sich auf einen weiteren Charakterzug der Weberschen vergleichenden Soziologie: Sie hat den Unterschied zwischen dem intra- und interkulturellen Vergleich vernachlässigt und ständig diese zwei Perspektiven im Wechsel verwendet 12 • Daraus ist eine Gefahr unvermeidlich entstanden: Die Grenzlinie zwischen seinem heuristischen Eurozentrismus und

, Schluchter, 1988, S. 90. Schluchter, 1988, S. 87. 10 Roth, 1987, S. 300. 11 Dabei konzentrieren wir uns in dieser Arbeit vorwiegend auf die Wahlverwandtschaft zwischen der religiösen Ethik und dem Legitimationsprinzip der Herrschaft. 12 Vgl. Schluchter, 1988, S. 93. 9

4

1. Einleitung

dem nomativen Eurozentrismus wird durch diese Verwechslung nach und nach verwischt und die Unterschiede zwischen ihnen sind schrittweise geringer geworden. Eigentlich ist der Webersehe heuristische Eurozentrismus, wie Schluchter richtig formuliert, für den "Alternativenvergleich offen, bei dem eine andere Kultur zur eigenen in einen Gegensatz gebracht, nicht aber als ihre Vorstufe behandelt wird" 13. Aber in der Entwicklung seiner vergleichenden Soziologie hat er ständig die Perspektive des interkulturellen Vergleichs mit der des intrakulturellen Vergleichs verwechselt und dadurch zwar unabsichtlich, aber methodisch unvermeidlich die gegensätzliche Entwicklung einer anderen Kultur mit der Vorstufe der Entwicklung der okzidentalen Kultur gleichgesetzt. In Bezug auf unser Thema gilt nach Weber die Wahlverwandtschaft zwischen der religiösen Normenethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) und dem Pietätsprinzip der traditionalen Herrschaft (des Patrimonialismus) nicht nur für das Fürstentum und die Theokratie des okzidentalen Mittelalters, sondern auch für das Kaisertum in China: Die "Entwicklungsstufe" des kaiserlichen Chinas wird methodisch unvermeidlich von Weber mit der des okzidentalen fürstlichen und theokratischen Mittelalters gleichgesetzt. Um sich mit der Webers ehen vergleichenden Soziologie auseinanderzusetzen, seine falsche Anordnung der chinesischen Kultur, d.h. Gleichsetzung mit der Kultur des okzidentalen Mittelalters, zu korrigieren und dadurch eine Analyse der Eigentümlichkeit der chinesischen Kultur zu ermöglichen, sollte man notwendigerweise zunächst diese beiden (intra- und interkulturellen) Perspektiven der Webersehen vergleichenden Soziologie sauber voneinander trennen.

2. Um die Eigentümlichkeit der chinesischen Kultur zu artikulieren: Begriffsarbeit und Prüfung des historischen Gehalts Wie Schluchter zutreffend formuliert, muß ein produktiv-kritisches Verhältnis zum Webersehen Werk beides einschließen: Begriffsarbeit und Prüfung des historischen Gehalts 14. Man kann diesen Vorschlag annehmen und durch diese zwei Methoden versuchen, die oben genannten beiden (intra- und interkulturellen) Perspektiven der Webersehen vergleichenden Soziologie sauber voneinander zu trennen. Durch eine Verwendung dieser beiden Methoden kann man zugleich das Hauptziel dieser Arbeit verfolgen, die Eigentümlichkeit der chinesischen Kultur bzw. die besondere historische Realität der konfuzianischen Ethik und des ihr entsprechenden Legitimationsprinzips der Herrschaft im alten China sorgfältig darzulegen.

iJ

I
Partikularismus Wie gesagt, wäre es zutreffend für Weber, mit diesem begrifflichen Kontrast

(universalism < -- > particularism) den Unterschied zwischen der asketischen

protestantischen Ethik und der konfuzianischen Ethik darzustellen. Aber er hat niemals wie Parsons direkt diesen begrifflichen Kontrast dazu verwendet, diese beiden Ethiken so zu vergleichen: Die "universalistische" asketische protestantische Ethik gegenüber der "partikularistischen" konfuzianischen Ethik. Sein direkter interkultureller Vergleich zwischen diesen beiden Ethiken wird vor allem in Kapitel VIII (Resultat: Konfuzianismus und Puritanismus) des "Konfuzianismus und Taoismus" durchgeführt. Aufgrund des intrakulturellen Vergleichs in seiner Protestantismusstudie hat er hier in erster Linie seinen interkulturellen Vergleich formuliert: "Kein Mittelglied führte aber vom Konfuzianismus und seiner ganz ebenso fest wie das Christentum verankerten Ethik zu einer bürgerlichen Lebensmethodik hinüber. Auf diese allein kam es aber an. Sie hat der Puritanismus--durchaus gegen seinen Willen--geschaffen. Die Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen: --Mensch und Schicksal (Schicksal die Folge seines HandeIns gegenüber seiner Absicht) in diesem Sinn: Das kann uns diese nur auf den allerersten oberflächlichen Blick seltsame scheinbare Umkehr des 'Natürlichen' lehren" 19. Für ihn ist zunächst der Konfuzianismus wie der asketische Protestantismus auch eine Religion mit den Charakterzügen des Rationalismus. Aber mit den folgenden zwei miteinander verbundenen Maßstäben hat er "die Stufe der Rationalisierung" dieser beiden Religionen weiter vergleichend analysiert: "Einmal der Grad, in welchem sie die Magie abgestreift hat. Dann der Grad systematischer Einheitlichkeit, in welche das Verhältnis von Gott und Welt und demgemäß die eigene ethische Beziehung zur Welt von ihr gebracht worden ist"2o. In der ersten Hinsicht stellt der asketische Protestantismus nach Weber eine letzte Stufe der Rationalisierung dar: "Die gänzliche Entzauberung der Welt war nur hier in allen Konsequenzen durchgeführt ... während der Konfuzianismus die Magie in ihrer positiven Heilsbedeutung unangetastet ließ, war hier alles Magische teuflisch geworden, religiös wertvoll dagegen nur das rational Ethische geblieben .. "21. Im Gegensatz zur letzten Stufe der Rationalisierung des asketischen Protestantismus ist für ihn der Konfuzianismus nach wie vor auf einer Stufe der magischen Religiosität geblieben: "Diejenige (der Absicht nach) rationale Ethik, welche die Spannung gegen die Welt, sowohl ihre religiöse Entwertung wie ihre praktische Ablehnung, auf ein absolutes

19

20 21

RS I, S. 524. RS I, S. 512. RS I, S. 513.

14

II. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Minimum reduzierte, war, wie wir gesehen haben, der Konfuzianismus ... Die innere Voraussetzung dieser Ethik der unbedingten Weltbejahung und Weltanpassung war der ungebrochene Fortbestand rein magischer Religiosität. .. '022. Weiterhin besteht nach Weber zunächst eine ständige Spannung zwischen dem überweltlichen Schöpfergott und der Kreatur bei dem asketischen Protestantismus; gegenüber dem Fehlen irgendwelcher Spannung zwischen Gottheit und Natur bei dem Konfuzianismus 23 . Demgemäß wurden die Gegensätze zwischen ihnen von dem Bereich der religiösen Ethik auf den der sozialen Ethik übertragen: "Während die religiöse Pflicht gegen den überweltlichen, jenseitigen Gott im Puritanismus alle Beziehungen zum Mitmenschen: Auch und gerade zu dem in den natürlichen Lebensordnungen ihm nahestehenden, nur als Mittel und Ausdruck einer über die organischen Lebensbeziehungen hinausgreifenden Gesinnung schätzte, war umgekehrt die religiöse Pflicht des frommen Chinesen gerade nur auf das Sichauswirken innerhalb der organisch gegebenen persönlichen Beziehungen hingewiesen "24. Während der Dualismus zwischen der Binnen- und Außenmoral von der aufVersachlichung der kreatürlichen Aufgaben hinauslaufenden puritanischen Ethik konsequent durchbrochen wird, wird eine personalistische Schranke bzw. eine Schranke der objektivierenden Rationalisierung von der konfuzianischen Ethik, die mit der auf dem Geisterglauben ruhenden Familienpietät verbunden ist, nach wie vor verfestigt25 • Die endliche Entwicklung dieser beiden Ethiken ist auch gegensätzlich: Die puritanische Ethik "schafft eine systematische Orientierung der Lebensführung an einem Wertmaßstab von innen heraus, der gegenüber die 'Welt' als das nach der Norm ethisch zu formende Material gilt. Der Konfuzianismus war umgekehrt Anpassung nach außen hin, an die Bindungen der 'Welt'. Ein optimal angepaßter, nur im Maße der Anpassungsbedürftigkeit in seiner Lebensführung rationalisierter Mensch ist aber keine systematische Einheit, sondern eine Kombination nützlicher Einzelqualitäten"26. Für Weber ist es ein grundlegender Kontrast zwischen der systematischen Einheit einer (von innen heraus stammenden) Lebensführung (d.h. methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes) und der unsystematischen Verbindung der verschiedenen Einzelpflichten einer (nach außen hin orientierten) Lebensweise (d.h. Leben als eine Serie von Vorgängen); es ist auch ein Kontrast zwischen der Gesamt-

22 23

24 25

2.

RS RS RS RS RS

I, I, I, I, I,

S. 514-515. S. 522. S. 522-523. S. 523. S.520.

1. Universalismus und Partikularismus

15

qualität einer Persönlichkeit und der Kombination verschiedener nützlicher Einzelqualitäten27 . Am Ende ist der Gegensatz zwischen ihnen nach Weber so dargestellt: Einerseits gilt bei dem Puritanismus eine Versachlichung (Verunpersönlichung) und Rationalisierung der Welt, trotz oder vielmehr gerade in der Form asketischer Weltablehnung, andererseits gilt bei dem Konfuzianismus eine Verpersönlichung und Traditionalisierung der Welt, gerade in der Form der optimalen Weltanpassung28 . Für Weber haben beide Ethiken ihre irrationale Verankerung: "Dort die Magie, hier die letzlieh unerforschlichen Ratschlüsse eines überweltlichen Gottes,,29. Während die konfuzianische Ethik die Menschen höchst absichtsvoll in ihren naturgewachsenen persönlichen Beziehungen (vor allem FünfBeziehungen) beläßt und die durch solche Fünf-Beziehungen geschaffenen menschlichen Pietätspflichten verklärt, sind bei der puritanischen Ethik allzu intensive, kreaturvergötternde Beziehungen zu Menschen rein als solchen unbedingt zu meiden30 . Daraus folgen nach Weber "praktisch sehr wichtige Unterschiede beider ethischen Konzeptionen, ohwohl wir doch beide in ihrer praktischen Wendung als 'rationalistseh' bezeichnen werden und obwohl sie beide 'utilitarische' Konsequenzen zogen"3l. Unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeiten der politischen Herrschaftsstruktur folgt nach Weber sehr wesentlich aus jener sozialethischen Stellungnahme die Erhaltung der Sippengebundenheit in China (d.h. der durchaus an persönliche Beziehungen geknüpfte Charakter der politischen und ökonomischen Organisationsformen)32. Zusammenfassend wird der obige interkulturelle Vergleich zwischen Puritanismus und Konfuzianismus Webers im folgenden Schema dargestellt 33 :

27 RS I, S. 2. Vgl. RS 29 RS I, S. 30 RS I, S. 31 RS I, S. 32 RS I, S. 33 RS I, S.

516, 518 und 521; vgl. auch RS II, S. 373-374. I, S. 525. 527. 527. 528. 528. 512-536; vgl. auch Schluchter, 1979, S. 238.

16

11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Schema: Die Gegensätze zwischen Puritanismus und Konfuzianismus nach Weber Art der Religion

Puritanismus

Konfuzianismus

Heilsgrundlage

theozentrisch

kosmozentrisch

Heilsmethodik

asketisch

mystisch

Heilmittel

spirituell

magisch

Typus des Rationalismus

Rationalismus der Weltbeherrschung (von innen nach außen)

Rationalismus der Weltanpassung (von außen nach innen)

idealer Mensch

Berufsmensch (Mensch als Werkzeug, Fachmensch)

Kulturrnensch (Gentleman, kein Werkzeug)

irrationale Verankerung

Ratschlüsse eines überweltlichen Gottes

Magie

Stufe der Rationalisierung

letzliche Stufe (Entzauberung der Welt)

die Stufe der magischen Religiosität

Beziehung zwischen Gott und Menschen

Gefälle und Spannung

keine Spannung

moralische Stellungnahme

Überwindung des Dualismus zwischen Binnen- und Außenmoral

der Dualismus zwischen Binnen- und Außenmoral

Beziehungen zum Mitmensehen

Versachlichung und Verunpersönlichung (ohne Ansehung der Person)

Verpersönlichung (in Ansehung der Person)

Beziehung zur Tradition

Rationalismus gegen Traditionalismus

Traditionalismus aufgrund des Geisterglaubens

sozial ethische Grundlage

Unpersonalismus (Verständnis des Nächsten als eines Anderen)

organischer Personalismus (Pietätspflichten, FünfBeziehungen)

Lebensführung

bürgerliche Lebensmethodik

Kombination unsystematischer Einzelpflichten

Persönlichkeit

einheitliche Gesamtqualität einer Persönlichkeit

keine einheitliche Persönlichkeit (Leben als eine Serie von Vorgängen)

Gegensätze

I. Universalismus und Partikularismus

Gemeinschaftshandeln

versachlicht und unpersönlieh

rein persönlich

Charakter der politischen und ökonomischen VergeseIlschaftung

abstrakter transpersonaler Zweckverband (Gemeinde und Betrieb)

Sippengebundenheit der politischen und ökonomischen Organisationsformen

Charakter der geschäftlichen Norm

rationales Recht und rationale Vereinbarung

allmächtige Tradition. lokale Gepflogenheit und konkrete persönliche Beamtengnade

17

Man kann an diesem Schema erkennen, daß die Gegensätze zwischen ihnen für Weber nicht nur auf die religiöse Teilordnung beschränkt sind. Diese Gegensätze stellen sich genauso bedeutsam in den politischen, rechtlichen und ökonomischen Teilordnungen dar. Unter Berücksichtigung der Eigengesetzlichkeit dieser anderen Teilordnungen folgt nach Weber aus der konfuzianischen sozialethischen Stellungnahme im wesentlichen die Erhaltung der Gebundenheit des Personalismus in China (d.h. der an persönliche Beziehungen geknüpfte Charakter der politischen, rechtlichen und ökonomischen Organisationsformen). Im Gegensatz dazu folgt aus der puritanischen sozialethischen Stellungnahme die Durchsetzung des Unpersonalismus im Okzident (d.h. der versachlichte und unpersönlisierte Charakter der politischen, rechtlichen und ökonomischen Organisationsformen) . In diesem Sinne wird der grundlegende vergleichende Aspekt Webers klar: Als hauptsächlichen Gegensatz zwischen beiden Ethiken betont Weber deshalb nicht den Unterschied zwischen dem Rationalismus der Weltbeherrschung und dem Rationalismus der Weltanpassung; Vielmehr ist der hauptsächliche Gegen-

satz zwischen dem Puritanismus und Konfuzianismus ein Gegensatz zwischen Unpersonalismus und Rationalismus einerseits, Personalismus und Traditionalismus andererseits.

Im Sinne der Interpretation von Parsons ist es ein Gegensatz zwischen dem ethischen Universalismus und dem ethischen Partikularismus: "Secondly, another of the fundamentals of our modern Western social order is its ethical 'universalism' . To a very high degree both in theory and in practice our highest ethical duties apply 'impersonally' to all men .. .In this respect the Puritan ethic represents an intensification of the general Christian tendency ... To this the Confucian ethic stands in sharp contrast. Its ethical sanction was given to an individual 's personal relations to particular persons-- and with any strong ethical emphasis only to these. The whole Chinese social structure accepted and sanctioned by Confucian ethics was a predominantly 'particulari-

18

H. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

stic' structure of relationships"34. Obwohl Weber niemals wie Parsons direkt diesen begrifflichen Kontrast (Universalismus < -- > Partikularismus) dazu verwendet hat, um diese beiden Ethiken zu vergleichen, trifft die Zusammenfassung von Parsons, d.h. die "universalistische" asketische protestantische Ethik gegenüber der "partikularistischen" konfuzianischen Ethik, trotzdem nach der obigen Analyse für die Stellungnahme Webers richtig zu. c)

Universalismus im chinesischen Sinne: Eine Synthese von Universalismus und Partikularismus

Aber bei näherer Betrachtung kann man nicht ohne Vorbehalt die These von Weber und Parsons über den Konfuzianismus (die konfuzianische Ethik sei "partikularistisch") akzeptieren. Um ein vollständig von (normativem) Eurozentrismus befreites Verstehen zu vollziehen, ist es für uns zweckmäßig und notwendig, diese These von Weber und Parsons über den Konfuzianismus tiefgehend zu korrigieren. Unsere These lautet wie folgt: Kulturell gesehen stellt die konfuzianische Ethik geradezu einen elementaren Charakterzug der Chinesen dar, d.h. eine

Synthese von Universalismus und Partikularismus.

Bodde hat nachdrücklich darauf hingewiesen: " ... Die typische und fundamentale chinesische Denkweise versucht stets, die gegensätzlichen Dinge, die miteinander in Konflikt geraten, zu vereinheitlichen. In der chinesischen Philosophie gibt es zwar viele verschiedenartige Dualismen, aber die beiden Einheiten jedes Dualismus sind nie als gegeneinandergestanden oder auseinandergekommen zu behandeln, sondern als miteinander ergänzend und begünstigend anzuerkennen" 35 • In einer solchen Denkweise gibt es nicht den absoluten Gegensatz bzw. Entweder-Oder von Yin und Yang, Subjekt und Objekt, Ich und Welt (Menschen

und Himmel), Sein und Nicht-Sein, Eins und Vieles, dem Guten und dem Bösen, Substanz und Funktion, Wissen und Handeln USW. 36 . Diese chinesische

Philosophie hat konsequent alle ihre Kräfte angestrengt, eine Synthese der beiden Einheiten jedes solchen Dualismus herzustellen. In Bezug auf die vorliegende Arbeit ist vor allem die Synthese von "Eins und Vieles" (m.a.W.

Parsons, 1968, S. 550-551. Bodde, 1953, S. 54, Hervorhebung von mir. Auf Englisch hat er folgendeIWeise dargelegt: "By now it show be evident that basic among Chinese thought patterns is the desire to merge seemingly conflicting elements into a unified harmony. Chinese philosophy is filled with dualisms in which, however, their two component elements are usually regarded as complementary and mutually necessary rather than as hostile and incompatible". 36 Vgl. Chan, 1967; T'ang, 1967. 34

3S

1. Universalismus und Partikularismus

19

von "Monismus und Pluralismus" oder von "Universalismus und Partikularismus") hervorgehoben. Weber und Parsons haben zwar die partikularistische Dimension der konfuzianischen Ethik erkannt und erforscht, aber sie haben gleichzeitig ihre universalistische Dimension vernachlässigt. Um diese Einseitigkeit der Interpretation zu überwinden und wenn möglich ein interkulturelles Verstehen durchzuführen, wollen wir im folgenden zunächst die universalistische Dimension des Konfuzianismus weiter betrachten und dadurch versuchsweise diesen chinesischen kulturellen Charakterzug (d.h. die Synthese zwischen Universalismus und Partikularismus) verdeutlichen. Dieser Charakterzug manifestiert sich nicht nur in der religiösen Teilordnung; sondern auch in den Teilordnungen von Politik, Ökonomie und auch von Recht und Justiz. Während sich in der abendländischen christlichen Tradition eine religiöse universalistische Brüderlichkeit entwickelt, die nach und nach alle naturgegebenen sozialen Verbände (innerweltliche Pietätsverbände, Familie, Sippe usw.) relativiert und entwertet, entsteht aus der chinesischen konfuzianischen Tradition eine andersartige "religiöse" universalistische Brüderlichkeit, die umgekehrt die naturgewachsenen persönlichen Verhältnisse (vor allem Fünf-Beziehungen) bewußt verklärt und zugleich auf ihnen beruht. Die Idee des Konfuzianismus stellt den Anspruch eines bestimmten "Universalismus" an den Menschen: Konfuzianische Ethik ist "universalistisch", weil sie für alle menschlichen Beziehungen und für alle Menschen gilt; sie ist gleichzeitig "partikularistisch" (in Ansehung der Person), weil sich ihr Anspruch auf die natürlichen sozialen Beziehungen gründet. Der Konfuzianismus reduziert alle gesellschaftlichen Beziehungen (sowohl die persönlichen als auch die nicht -persönlichen auf die "Fünf-Beziehungen": Die Beziehung zwischen Vater und Sohn, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder, Herrn und Untertan, Freund und Freund. Es wird angenommen, daß man das Prinzip, das sich aus den "Fünf-Beziehungen" entwickelt, auf alle anderen sozialen Beziehungen anwenden kann. Alle anderen sozialen Beziehungen sollten sich an diesem Prinzip orientieren. Damit stellt die Idee des Konfuzianismus eine andersartige Brüderlichkeit dar: "Die Menschen in der ganzen Welt sind (meine) Brüder "3? Weber hat zwar diese Absicht der Universalisierung der konfuzianischen Ethik bemerkt, aber er hat sie lediglich als einen "partikularistischen" Personalismus und eine Übertragung organischer Pietäts beziehungen auf andere behandelt: "Die Wirkung der Erhaltung dieses Personalismus zeigt vor allem die Sozialethik. Es fehlte in China bis in die Gegenwart das Verpflichtungs-

37

Lun-yü, XII, S. 95.

20

II. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

gefühl gegenüber 'sachlichen' Gemeinschaften, seien sie politischer oder ideeller oder welcher Natur immer. Alle Sozialethik war hier lediglich eine Übertragung organischer Pietäts beziehungen auf andere, die ihnen gleichartig gedacht wurden. Die Pflichten innerhalb der fünf natürlichen sozialen Beziehungen: Zum Herrn, Vater, Ehemann, älteren Bruder (einschließlich des Lehrers) und Freund enthielten den Inbegriff aller unbedingt bindenden Ethik"38. Hier kann man deutlich Webers Motive für seinen interkulturellen Vergleich und seinen Vergleichspunkt erkennen. Er interessiert sich vorrangig nicht für eine umfassende chinesische Kulturanalyse, sondern für "in jedem Kulturgebiet ganz geflissentlich das, was im Gegensatz stand und steht zur okzidentalen Kulturentwicklung"39. Um die Charakteristik der universalistischen Brüderlichkeit und des Unpersonalismus in der okzidentalen christlichen Kulturentwicklung darzustellen, hat Weber den chinesischen Konfuzianismus hauptsächlich als Gegenrypus behandelt und nur den Charakterzug des Partikularismus und Personalismus in der konfuzianisch geprägten chinesischen Sozialethik betont. Dabei hat er deswegen nicht nur die universalistische Dimension der konfuzianischen Ethik, sondern auch die symmetrischen Reziprozitätspflichten innerhalb der "Fünf-Beziehungen" vernachlässigt. Dadurch werden die symmetrischen gegenseitigen Pflichten innerhalb der "Fünf-Beziehungen" von Weber zu asymmetrischen Pflichten vereinseitigt und die "Fünf-Beziehungen" als asymmetrische organische Pietätsbeziehungen mißverstanden. Die Beurteilung von Weber und Parsons, die konfuzianische Ethik sei partikularistisch orientiert, sollte unbedingt in diesem interkulturellen, vergleichenden Kontext verstanden werden. In einem anderen Kontext, z.B. in dem chinesischen kulturellen Kontext, wird diese Beurteilung durch einen anderen Maßstab relativiert. Eine solche Relativierung der Beurteilung ist Weber nicht fremd. Er hat bei dem Begriff "Rationalismus" genau gewußt: "Nun kann unter diesem Wort höchst Verschiedenes verstanden werden .... Man kann ferner jedes dieser Gebiete unter höchst verschiedenen letzten Gesichtspunkten und Zielrichtungen 'rationalisieren', und was von einem aus 'rational' ist, kann, vom andern aus betrachtet, 'irrational' sein. Rationalisierungen hat es daher auf den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben"40. Bei einem interkulturellen Vergleich könnte eine solch relativierte Denkweise in bestimmtem Sinne die Gefahr des (normativen) Eurozentrismus vermeiden. Aber Weber hat in seiner Chinastudie diese notwendige Relativie-

38 RS I, S. 493-494. 3. RS I, S. 13. 40 RS I, S. 11-12.

1. Universalismus und Partikularismus

21

rung nicht durchgeführt. Um den okzidentalen, unpersönlichen versachlichten "Rationalismus" zu erläutern und den okzidentalen christlichen" Universalismus", der den Dualismus zwischen Binnen- und Außenmoral überwunden hat, darzustellen, ist die Stellungnahme des Konfuzianismus, welche die natürlichen "Fünf-Beziehungen" und "die Gradierung der Liebe" betont, von Weber ohne notwendigen Vorbehalt als "traditional" (im Gegensatz zu "rational") und "partikularistisch" (im Gegensatz zu "universalisitsch") behandelt worden. In diesem analytischen Kontext ist es der grundlegende Gesichtspunkt für die Beurteilung des Grades der Rationalisierung einer Ethik, ob ein Handelnder unter ihrer Forderung die persönliche Beziehung (bekannt oder fremd) mit dem oder den bezogenen Anderen (z.B. dem anderen Teilnehmer einer Interaktion) berücksichtigt oder nicht, um sein Handeln zu unternehmen. Je mehr er diese

persönliche Beziehung berücksichtigt, d.h. je mehr er partikularistisch orientiert ist, desto irrationaler und traditionaler ist die von ihm befolgte Ethik. Je mehr dies der Fall ist, desto stärker ist der Handelnde an seine persönliche Beziehung und Tradition gebunden. Umgekehrt: Je mehr er diese persönliche Bezie-

hung nicht berücksichtigt, d.h. je mehr er universalistisch orientiert ist, desto rationaler ist die von ihm befolgte Ethik. Je stärker dies der Fall ist, desto

entbundener ist der Handelnde von seiner persönlichen Beziehung und Tradition. In diesem analytischen Kontext gibt es für Weber keinen großen Unterschied zwischen "Partikularisierung", "Irrationalisierung" und "Traditionalisierung". Umgekehrt gibt es in diesem Kontext für ihn auch keinen großen Unterschied zwischen "Universalisierung" und "Rationalisierung". Dies ist auch der Grund dafür, warum Weber China als ein gutes Beispiel für "Traditionalismus" behandelt und als Gegentypus zu dem "Rationalismus" im Okzident dargestellt hat. Obwohl Weber gelegentlich den Konfuzianismus als einen "Rationalismus der Weltanpassung"41 bezeichnet, beschreibt er in seiner Chinastudie trotzdem den kulturellen Charakterzug Chinas vor allem als "irrational" geprägten "Traditionalismus": In der religiösen Teilordnung ist der Konfuzianismus traditionsgebunden, in der politischen Teilordnung die traditionale Herrschaftsstruktur (patrimoniale Bürokratie), in der rechtlichen Teilordnung das traditionale Recht (material-irrationales Recht, patrimoniale Justiz, Kadi-Justiz) und in der ökonomischen Teilordnung die Traditions- und Sippengebundenheit der ökonomischen Organisationen (keine Trennung zwischen Familie und Betrieb). In seinem "idealtypischen" interkulturellen Vergleich wird China in erster Linie als Gegentypus behandelt, dessen Funktion für seine analytische Zielrichtung es vor allem ist, mit dem Okzident als Typus zu kontrastieren und den Charakterzug dieses Typus vergleichend darzustellen. Mit anderen Worten:

., RS I, S. 534. 3 Lin

22

Ir. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Seine Chinastudie ist keine selbständige Arbeit, die von ihm als ein Teil seines gesamten Forschungsprogramms angesehen wird, dessen vorherrschendes Erkenntnisinteresse darin besteht, die okzidentale Sonderentwicklung zu beleuchten42 • Eine eigenständige Chinastudie, die das "China an sich" zum Gegenstand hat, ist bei Weber nicht vorhanden. Ob die These von Weber und Parsons, die konfuzianische Ethik sei traditional und partikularistisch orientiert, auf die chinesische historisch-empirische Realität zutrifft, muß deswegen in diesem Sinne betrachtet werden. Dabei sollte hier zunächst ihr hauptsächlicher Vergleichspunkt (ihr grundlegender Gesichtspunkt und ihre Zielrichtung) festlegt werden. Dies ist der erste Schritt dazu, eine solche Betrachtungsweise zu relativieren. Wie oben dargestellt ist es in ihrem analytischen Kontext der grundlegende Gesichtspunkt für die Beurteilung des Grades der Rationalisierung bzw. Universalisierung einer Ethik, ob ein Handelnder unter ihrer Forderung die persönliche Beziehung (bekannt oder fremd) mit dem oder den bezogenen Anderen (z.B. dem anderen Teilnehmer einer Interaktion) für sein Handeln berücksichtigt. In unserer späteren Analyse wird die universalistische Dimension des Konfuzianismus trotz seiner Betonung der natürlichen "Fünf-Beziehungen" aufgezeigt. Die Zielrichtung von Weber und Parsons geht vor allem auf die Darstellung der eigentümlichen Rationalisierung und Universalisierung der okzidentalen christlichen Ethik. Bei einer solchen Forschungsstrategie wird das Bild von China unvermeidlich vereinseitigt und geflissentlich nur das, was im Gegensatz zur okzidentalen Kulturentwicklung stand und steht, erläutert. Um diese Betrachtungsweise zu relativieren und das einseitige China-Bild von Weber und Parsons zu überwinden, soll hier die Perspektive gewechselt und eine eigenständige Chinastudie durchführt werden, die das "China an sich" zum Gegenstand hat. Dadurch wird einer der bedeutenden Charakterzüge der chinesischen Kultur, d.h. die Synthese von Universalismus und Partikularismus, Schritt für Schritt erklärt. Unsere eigenständige Chinastudie beginnt mit einer Schilderung der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus. Weil die Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus im Ablauf der über zweitausend Jahre viele Dimensionen, Ebenen und Epochen umfaßt, wird hier vor allem die ethische Dimension berücksichtigt und dadurch insbesondere die Bedeutung der Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit) verdeutlicht.

42

Vgl. RS I, S. 1 und 12-13.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

23

2. Die Entstehung des Konfuzianismus und die Bedeutung der Kardinaltugend Jen a) Die Lehre des Konfuzianismus im allgemeinen Der Konfuzianismus kann von verschiedenen Dimensionen betrachtet werden: Der Dimension der Erkenntnistheorie, der Metaphysik; der Lehre von Herz (mind, Hsin) und menschlicher Natur (human natur, Hsing); der Ethik und der Erlösungslehre 43 • Die konfuzianische Erkenntnistheorie unterscheidet zwei Wissen: Äußerliches empirisches Wissen (Sinn-Wissen, Chieh-wen chihchih) und innerliches moralisches Wissen (Tugend-Wissen, Te-hsing chih-chih), und das Erstere sollte auf dem Letzteren beruhen, d.h. moralisches Wissen ist die Basis für das empirische Wissen. Nach Fu 44 stellt eine solche Erkenntnistheorie in bestimmtem Sinne eine Stellungnahme des Panmoralismus dar. Subjektive moralische Praxis ist viel wichtiger als objektive wissenschaftliche Theorie. Die konfuzianische Metaphysik ist auch eine moralische Metaphysik: Himmlische Prinzipien vereinigen sich mit dem menschlichen moralischen Leben. Die konfuzianische Lehre von Herz (Hsin) und menschlicher Natur (Hsing) stellt vor allem eine Theorie der "guten" menschlichen Natur (Hsingshan) dar und wird als die philosophische Grundlage eines "moralischen Idealismus" anerkannt. Die konfuzianische Erlösungslehre stellt den religiösen Aspekt des Konfuzianismus dar: Moral bedeutet Glück, der hauptsächliche Weg zur Erlösung ist die menschliche subjektive moralische Selbst-Kultivierung 45 . Aber hier soll vor allem die Dimension der Ethik des Konfuzianismus berücksichtigt und dadurch die Bedeutung seiner Kardinaltugend Jen erklärt werden. Dabei wird zunächst die Lehre des Konfuzius systematisch betrachtet46 .

b) Konfuzius (551-479 v. Chr.) und die Achsenzeil in China Der Zusammenbruch des Feudalsystems und der sozialen Ordnung in der Chou-Zeit (11. Jh.-256 v.Chr.) bzw. Westlichen Chou-Zeit (11. Jh.-771 v.

Fu, 1989, S. 5-42. Fu, 1989, S. 10. 45 Nach Fu (1989, S. 39-42) ist der Konfuzianismus im Prinzip keine Erlösungsreligion im engeren Sinne, sondern eine "moralische Religion", deren Lehre der Erlösung aus einem "moralischen Idealismus" entstanden ist. Für die konfuzianische Erlösungslehre ist der hauptsächliche Weg zur Erlösung die menschliche subjektive, moralische Selbst-Kultivierung: Moral bedeutet Glück, Diesseits bedeutet Jenseits, Immanenz bedeutet Transzedenz usw. Es könnte sehr interessant sein, eine solche Erlösungslehre im einzelnen zu behandeln. Aber das ist wieder ein neu es Thema, das bei anderer Gelegenheit vertiefend erforscht werden sollte. 46 Um unsere Beschreibung zu verdeutlichen, wird dazu die konfuzianische Lehre von Herz (Hsin) und menschlicher Natur (Hsing) im übernächsten Kapitel behandelt. 4)

44

3*

24

H. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Chr.) ist die hauptsächliche Ursache der Entstehung und die Blüte der chinesischen Philosophie. Aber diese Epoche des philosophischen Durchbruchs hat in der Weltgeschichte nicht nur in China stattgefunden. Die Blüte der chinesischen Philosophie in der Chou-Zeit ist ein Teil eines "synchronistischen Welt-

zeitalters" .

Der Kultursoziologe Alfred Weber, der jüngere Bruder Max Webers, hat in seinem Buch "Kulturgeschichte als Kultursoziologie"47 ein "synchronistisches Weltzeitalter" formuliert: "In Verfolg der zweiten Hälfte der Zeit der großen Wanderungs wellen aber, vom 9. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr., gelangen die drei inzwischen herausgebildeten Kultursphären der Welt, die vorderasiatischgriechische, die indische und die chinesische, in merkwürdiger Gleichzeitigkeit, anscheinend unabhängig voneinander, zu universell gerichtetem religiösem und philosophischem Suchen, Fragen und Entscheiden. Sie entfalten von diesem Ausgangspunkt an seit Zororaster, den jüdischen Propheten, den griechischen Philosophen, seit Buddha, seit Laotse und Konjuzius in einem synchronistischen Weltzeitalter diejenigen religiösen und philosophischen Weltdeutungen und Haltungen, die, fort- und umgebildet, zusammengefaßt, neugeboren oder in gegenseitiger Beeinflussung transformiert, und reformiert, die weltreligiöse Glaubenssubstanz und die philosophische Deutungssubstanz der Menschheit bilden, zu deren religiösem Teil seit dem Ende dieser Periode, d.h. seit dem 16. Jahrhundert, nichts grundlegend Neues mehr hinzugetreten ist". Diese These, daß die Menschheit während einer bestimmten Epoche der Weltgeschichte in unterschiedlichen Kulturkreisen gleichzeitig und unabhängig voneinander einen bewußten Durchbruch vollzogen hat, stammt zunächst von Alfred Weber, nicht von Karl Jaspers 48 . Nach Assmann hat Jaspers nur AIfred Webers "synchronistisches Weltzeitalter" durch den geläufigeren Ausdruck "Achsenzeit" ersetzt49 . In seinem universalgeschichtlichen Buch "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte" hat der Philosoph Jaspers (ein Schüler Max Webers) seine Theorie der "Achsenzeit" dargelegt: "Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß. Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben. Diese Zeit sei in Kürze die 'Achsenzeit' genannt. In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konjuzius und Laotse, entstanden alle Rich-

tungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschung-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere,--in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha,

47

.B

Weber, Alfred, 1951 (1. Auf!. 1935), S. 24, Hervorhebung von mir. Assmann, 1992, S. 245. In einem Kolloquium hat Schluchter auch dieselbe Meinung

geäußert; Außerdem hat er in seinem Buch (1988a, S. 136-137) nicht wie üblich Karl Jaspers, sondern Alfred Weber zitiert . • 9 Assmann, 1992, S. 245.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

25

wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt,--in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse,--in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesais und Jeremias bis zu Deuterojesaias,--Griechenland sah Homer, die Philosophen--Parmenides, Heraklit, Plato--und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten"so. Die Ähnlichkeit zwischen der Formulierung von Alfred Weber und der von Karl Jaspers ist nicht schwer zu erkennen. Für Jaspers hat der Begriff "Achsenzeit" drei Dimensionen: Die synchrone Dimension (Gleichzeitigkeit bei diesen drei Kulturkreisen), die diachrone Dimension (die Achse, um die sich in Zukunft alles dreht), die universalistisehe Dimension (Eröffnung für eine gemeinsame Zukunft der Menschheit)Sl. Die Philosophien von Konfuzius (551-479 v.Chr.) und Laotze (ca. 6 Jh. v. Chr) werden von Jaspers in seiner Analyse der Achsenzeit Chinas besonders hervorgehoben. Im Anschluß an die Beschreibung der Rolle des Propheten in der menschlichen kulturellen Entwicklung Webers (Religionssoziologie im WuG) hat Parsons auch in seinem Artikel "The Intellectual: A Social Role Category" seinen Begriff "philosophic breakthrough" vorgelegt52 : "There are two basic steps of cultural evolution ... There are the development of written language and the so-called 'philosophic breakthrough' ... The second basic step is what is generally known as the 'philosophic breakthrough', the process by which, at least partially independently and in very different forms in Greece, Israel, India, and China, in the first millennium B.C. there occurred a new level of explicit conceptualization of the nature of the cosmos as the setting of the human condition itself and its larger meanings ... .In China it was least radical, but here tradition was embodied in a collection of classics and itself systematized and canonized to yield an integrated conception of a cosmic order, a human society, and a physical world, which were all of a very distinctive pattern". Um die ursprüngliche Ordnung der Westlichen Chou-Zeit zu rekonstruieren und den wahren Weg wiederzufinden, hat Konjuzius (551-479 v.Chr.) neben anderen während der "Achsenzeit" Chinas seinen eigenen "philosophischen Durchbruch" vollzogen und die einflußreichste lu-chia (lu-Schule, Konjuzia-

'0 Jaspers, 1949, S. 19-20, Hervorhebung von mir. " Roetz, 1992, S. 47. " Parsons, 1970, S. 5ff., Hervorhebung von mir.

26

II. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

nismus) begründet. In der vorkonfuzianischen Zeit hat sich der Begriff Ju auf eine Gruppierung des Berufes bezogen, die für die Riten (Li) in der ursprünglichen Ordnung zuständig war 3 • Am Anfang der Westlichen Chou-Zeit hat das System der Riten (Li-chih) die politische Ordnung und gesellschaftliche Lebensweise klar reguliert und festgelegt. Ju bedeutet der "Fachmann der Riten (Li)", Konfuzius und seine Schüler haben sich eng an die Tradition des "Fachmanns der Riten" angelehnt, aber das System der Riten (Li-chih) ist gleichzeitig mit dem Zusammenbruch des Feudalsystems der Chou-Zeit schon vor der Geburt des Konfuzius zerfallen. Um dem Zerfallen des Ritensystems entgegenzuwirken und der sozialen Unordnung zu begegnen, hat Konfuzius nicht nur die überlieferten Riten (Li) wieder systematisiert und ihnen eine neue Deutung gegeben, sondern er hat auch eine neue humanistische Schule, die Ju-chia (JuSchule) begründet. In diesem Sinne ist es sehr zutreffend, daß diese von Konfuzius begründete Schule (Ju-chia) in der westlichen Welt als Konfuzianismus bezeichnet wird. Mit Konfuzius fängt das systematische und humanistische Denken in China an. Seine Ideen bedeuten einen "Sprung" des chinesischen Denkens, einen "Sprung" ins Rationale54 • Konfuzius und seine Schüler haben tatsächlich in der chinesischen "Achsenzeit" einen "philosophischen Durchbruch" erreicht. c) Der Begriff Li bei Konfuzius

Wie gesagt stammt Konfuzius aus der Berufsgruppierung des "Fachmannes der Riten (Li)". Schon in seiner Jugendzeit ist er zu einen Fachmann der Riten ausgebildet worden. In der Shang-Zeit (16. Jh.--11. Jh. v.Chr.) bedeutet die Vorform des Begriffs Li55 eigentlich Gefäß für religiöse Opferzeremonien. Danach wird die Bedeutung von Li erweitert und bezeichnet die Riten selbstS6 • Nach ihrer Eroberung der Shang haben die Chou bzw. die Westlichen Chou

" Lao, 1981, S. 48-52. 54 Moritz, 1988, S. 6. " Es ist sehr schwierig, den Begriff Li aus dem Chinesischen ins Deutsche zu übersetzen und zugleich klar zu definieren, weil sich die Bedeutung des Begriffs Li in der vorkonfuzianischen Zeit und in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus mehrmals verändert. Über die Umdeutung des Begriffs Li wird in den nächsten Kapiteln weiter diskutiert. Nach der Entstehung des Konfuzianismus kann man einerseits im weitesten Sinne den Begriff Li als ein System aller sozialen Normen (Gewohnheit, Brauch, Sitte, Konvention, Recht usw.) behandeln; andererseits kann man auch den Begriff Li als ein System aller (äußerlichen) sozialen und politischen Institutionen (Chih-tu, Familie, Haus, Sippe, Recht, Regierung usw.) betrachten, vgl. Fung, 1970, S. 95-96; Chü, 1961, S. 230-231. In den verschiedenen Kontexten dieser Arbeit wird der Begriff Li wegen seiner ständigen Umdeutung unvermeidlich als "Riten", "normatives Regelssystem" , "Sitten", "Normen", "Schicklichkeit", "Sittlichkeit" usw. übersetzt. 56 Chang, Twan-sui, 1989, S. 113-119.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

27

(11. Jh.--771 v.Chr.) nicht nur die Herrschaft, sondern auch die Riten der Shang (Li) übernommen. Im Vergleich zu der starken Religiosität der Shang haben die Chou die humanistische Kultur des Menschen betont. In dieser Situation ist die Bedeutung des Begriffs Li wieder einmal erweitert worden und hat sich auf die soziale und politische Aspekte bezogen. Am Ende der Zeit der Westlichen Chou bedeutet Li ein normatives Regelsystem, das vor allem die Ordnung von Himmel, Erde und Menschen reguliert: "Li ist das Prinzip des Himmels, Richtlinie der Erde und Weg des Menschen"s7.

In diesem Sinne ist am Ende der Westlichen Chou-Zeit der Begriff Li einerseits das Prinzip der natürlichen Ordnung, andererseits ist er wie das von Himmel gegebene "Naturrecht" auch verweltlicht geworden. Nicht das rechtliche System (Fa), sondern das gesamte System der Riten (Li-chih) hat die hauptsächliche Rolle der sozialen und politischen Kontrolle übernommen. Aber das gesamte System der Riten (Li-chih) ist mit dem Zusammenbruch der Westlichen Chou (bis 771 v.Chr.) auch zerfallen. Als ein Fachmann von Li hat Konfuzius immer wieder das Zerfallen des gesamten Systems der Riten (Lichih) bedauert und mit ganzer Kraft darauf gedrängt, das gesamte System der Riten (Li-chih) der Chou wieder aufzubauen. Obwohl sein Bemühen um die Wiederbelebung des Ritensystems (Li-chih) in seiner Zeit (551-479 v.Chr.) erfolglos blieb, hat er trotzdem eine neue humanistische Fassung des Begriffes Li dargestellt und den Begriff Li mit anderen wichtigen Begriffen, z.B. dem Jen (Menschlichkeit), dem I (Gerechtigkeit), dem Hsiao (Gehorsam) usw. verbunden und eine umfassends moralische Philosophie konstruiert. In der Chou-Zeit hat sich das Ritensystem (Li-chih) zu einem großen Komplex entwickelt, der in den Klassischen Büchern protokolliert wird: Riten der Chou (Chou-li), Buch der moralischen Riten (I-li) und Buch der Riten (Li-gi [Li-chi]). Innerhalb dieser Klassischen Bücher werden die Einzelheiten der verschiedenen Riten dargestellt, z.B. das Verfahren eines jeden Ritus, dessen Gefaß, die bestimmten Benennungen eines jeden Teilnehmers USW. 58 Das Ritensystem (Li-chih) manifestiert eine konventionelle und sittliche Tradition, die hauptsächlich die gesamte Lebensordnung kontrolliert und alle Menschen einbindet. Zerfall des ganzen Ritensystems bedeutet katastrophales Chaos und unruhige Anomie. Um die Krise seiner Zeit zu überwinden und eine allgemeine Ordnung wieder herzustellen, hat Konfuzius eine rein traditionalistische Stellungnahme bzw. passive Befolgung des formalen Verfahrens des Ritensystems als ungenügende Handlung betrachtet. Vielmehr wollte er aktiv das überlieferte Ritensystem der Chou wieder aufbauen, indem er ihm eine humanistische materiale

" Tso-chuan, Chau-Herzog 25. Jahr, S. 1256. S8 Hwang, 1988, S. 143.

28

11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

universalistische Grundlage verleiht. In diesem Sinne hat Konfuzius die Berufsgruppe des Fachmanns der Riten (Ju) von ihrem traditionalen Rahmen befreit und eine humanistische Gelehrtenschule (Ju-chia, Konfuzianismus) begründet59 • In seiner Lebenszeit ist er vor allem der Meister seiner eigenen privaten Schule; er ist der Initiator solcher privaten Schulen. Für ihn ist das wichtigste Werk nicht das Niederlegen einer eigenen Theorie, sondern die Interpretation der überlieferten Kultur (Shu ehr pu tso). Seine Gedanken können deswegen in erster Linie in dem Buch "Gesammelte Worte" (Gespräche, Lun-yü) gefunden werden, das nicht von ihm selbst, sondern aus den Notizen seiner Schüler entstand60 • Die Umdeutung des Begriffs Li durch Konfuzius ist sehr beeindruckend. Wie die anderen hat er den Begriff Li nicht nur als religiöse Riten, sondern auch als ein normatives Regelsystem betrachtet, das die gesamte soziale und politische Ordnung reguliert. Aber für ihn ist die hauptsächliche Grundlage von Li nicht mehr der Himmel, sondern das Selbstbewußtsein des Menschen. Die Bedeutung von Li wird vor allem als "Schicklichkeit" des Menschen betrachtet. Damit beginnt seine eigene Theorie von Jen (Menschlichkeit), I (Gerechtigkeit) und Li (Schicklichkeit), d.h. seine Gelehrtenschule Ju-chia (Konfuzianismus)61. "Konfuzius sprach: 'Die Chou-Dynastie folgt den beiden vorangegangenen Dynastien der Xia (Hsia) und Shang. Wie vornehm und kultiviert! Ich folge Chou'''''.

In diesem Zitat hat Konfuzius die Wichtigkeit der Wiederbelebung des normativen Regelsystems (Li) der Chou-Zeit betont. Aber wie gesagt ist er kein einfacher Traditionalist oder Ritualist, sondern Handeln nach Li ist für ihn die Basis der menschlichen sozialen Ordnung. "Lin Fang fragte nach der Grundlage der Riten (Li). Konfuzius antwortete: 'Das ist eine großartige Frage. Die Riten sollten eher schlicht als prunkvoll sein. Bei einem Begräbnis ist die Trauer wichtiger als die minutiöse Beachtung der Riten"'63.

In diesem Zitat hat er betont, daß der humanistische Inhalt der Riten (Li) wichtiger als ihre überlieferte Form ist. Einmal hat Konfuzius seinen Sohn (Kung kwei) danach gefragt: "Hast du dich mit den Riten (Li) vertraut gemacht?" Auf das "Noch nicht" seines Sohnes erwiderte er:

,. Vgl. Lao, 1981, S.54-56. 60 Das Buch "Lun-yü" (Gespräche) wurde von Moritz (1988) aus dem Chinesischen ins Deutsche als "Gespräche" übersetzt. Innerhalb des Rahmens dieser Arbeit wird zwar die Übersetzung von Moritz benutzt, aber sie wird in vielen Fällen von mir notwendigerweise modifiziert. 61 Vgl. Lao, 1981, S. 58. 62 Lun-yü, III, 14, S. 53. 63 Lun-yü, III, 4, S. 51.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

29

"Wer diese Regeln (Li) nicht kennt, hat nichts, woran er sich halten kann"".

Hier wird Li deutlich als grundlegende soziale Norm behandelt. Li bestimmt und reguliert das richtige Verhalten jeder sozialen Rolle. Durch diese Tätigkeit (d.h. jede soziale Rolle zu bestimmen) hat Li die Funktion der sozialen Kontrolle übernommen. Ohne genaue Kenntnisse von Li kann jeder Mensch seine richtige soziale Rolle nicht finden und spielen. Darüber wird später weitergehend diskutiert. Insbesondere ist die politische Ordnung auch von Li bestimmt: "Werden oben Li (die Regeln des Anstandes, der Sitte und Ordnung) geachtet, dann wird auch unten niemand wagen, ohne Achtung und Ergebenheit zu sein""'; "Konfuzius sprach: 'Wenn die Herrschenden Li (die allgemeinen Umgangsfonnen und Anstandsregeln) befolgen, dann ist das Volk leicht zu regieren"'66; "Konfuzius sprach: 'Wenn man dem Herrscher dient und sich dabei streng an Li hält, dann wird das von den Menschen für Schmeichelei gehalten"'·?; "Ding-Gong (Herrscher des Fürsten Lu) fragte Konfuzius: 'Wie soll sich ein Herrscher seiner Beamten bedienen, und wie sollen die Beamten dem Herrscher dienen?' Konfuzius antwortete: 'Der Herrscher möge seine Beamten anständig und höflich (d.h. nach Li) behandeln. Die Beamten sollen dem Herrscher in treuer Ergebenheit (Chung) dienen"'''; "Konfuzius sprach: 'Will man Gehorsam durch Gesetze und Ordnung durch Strafe, dann wird sich das Volk den Gesetzen und Strafen zu entziehen versuchen und alle Skrupel verlieren. Wird hingegen nach sittlichen Grundsätzen regiert und die Ordnung durch Beachtung der Riten und der gewohnten Fonnen des Umgangs (Li) erreicht, so hat das Volk nicht nur Skrupel, sondern es wird auch aus Überzeugung folgen"'·9.

In den obigen 5 Zitaten wird verdeutlicht, daß die sozialen Rollen der politischen Positionskoordinaten (oben-unten, die Herrschenden-das Volk, Herrscher-Beamten usw.) vor allem von Li geregelt und bestimmt werden: Einerseits sollte sich der Inhaber der Position des Herrschenden nach der Regel von Li seine eigene soziale Rolle (wie ein richtiger Herrschender) spielen, andererseits sollte sich der Inhaber der Position des Beherrschten auch nach der Regel von Li seine eigene Rolle (wie ein richtiger Beherrschter) erfüllen. Aber beide Rollenspieler hängen in dieser Rollenbeziehung miteinander untrennbar zusammen. Bisher scheint es zutreffend zu sein, daß man Li als ein sozial gegebenes und etwas formalisiertes normatives Regelsystem betrachten kann, das die verschiedenen sozialen Rollen reguliert. Aber dies hat sich nur auf die formalisierte

.. Lun-yü, XVI, 13, S. 124-125. 6S Lun-yü, XIII, 4, S. 100. 66 Lun-yü, XIV, 41, S. 113. 6? Lun-yü, III, 18, S. 53. Hier hat Konfuzius bedauert, daß die Menscl!.en in seiner Zeit dem Herrscher nicht mehr nach Li dienen möchten. 68 Lun-yü, III, 19, S. 53. 6. Lun-yü, H, 3, S. 46.

30

H. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Seite von Li bezogen und die materiale moralische Grundlage von Li vernachlässigt. Um eine einseitige Interpretation zu vermeiden, sollte die Verbindung zwischen Li und I (Gerechtigkeit), und insbesondere zwischen Li und Jen (Menschlichkeit) bei Konfuzius weiter erforscht werden. Wie ist das Verhalten eines idealen Gentlemans (Kiun-tse, Chün-tzu) bei Konfuzius: "Konfuzius sprach: 'Das Wesen des Gentlemans ist die Gerechtigkeit (I). Er folgt den Regeln des Anstandes und der Schicklichkeit (Li). Er ist bescheiden in seinen Worten. Er ist aufrichtig in seinem Verhalten. Fürwahr, so ist ein Gentleman'''70.

Hier wird I (Gerechtigkeit) als die materiale Grundlage von Li, und Li als die formale Darstellung von I interpretiert; d.h. die Grundlage von Li ist nicht mehr Sitte oder Tradition, sondern das menschliche Selbstbewußtsein der Gerechtigkeit (1)71. Dadurch ist Li eine kulturelle Ordnung, die nicht mehr auf dem Himmel oder der Natur, sondern auf dem menschlichen Bewußtsein beruht72 • Eine Unterscheidung im Sinne Hegels zwischen "Sittlichkeit" (den hergebrachten Sitten zu leben) und "Moralität" (Leben mit Reflexion und Subjektivität) wird von Anfang an von Konfuzius abgelehne 3 • Für Konfuzius sind sie nicht gegensätzlich, sondern integrierbar: "Der Konfuzianismus strebt, wie auch Hegel selbst, eine Synthese von beiden an. Sein ganzes Unternehmen besteht darin, die brüchig gewordene Sittlichkeit mit den Mitteln der Moralität, also auf dem Wege einer reflektierten Internalisierung der Moral, neu zu festigen"74. Um eine solche Synthese durchzusetzen, verbindet Konfuzius Li (Riten) im nächsten Schritt mit seiner Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit). Damit hat er seine eigenartige humanistische Philosophie bzw. Ethik vorgelegt.

d) Der Begriff Jen bei Konjuzius und seine Beziehung mit Li Wenn man nach einem Begriff sucht, der den Charakterzug der konfuzianischen Ethik besonders ausdrückt, so ist dies zweifellos Jen (Menschlichkeit?5. Der Begriff Jen ist der Kernpunkt der Lehre des Konfuzius. In dem Buch "Lun-yü" wird dieser Begriff am häufigsten (105 mal) verwendee6 • Er versucht mit dem Begriff Jen, seine eigene humanistische Theorie darzustellen und eine Gelehrtenschule (Ju-chia) zu begründen.

70 Lun-yü, XV, 18, S. 117. 71 Lao, 1981, S. 62. 72 Lao, 1981, S. 64. 73 Vgl. Roetz, 1992, S. 72-73. 74 Roetz, 1992, S. 73, Hervorhebung von mir. 75 Lao, 1981, S. 64; Roetz, 1992, S. 195. 76 Chan, 1975, S. 107.

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2. Die Entstehung des Konfuzianismus

"Yen Yüan wollte wissen, was 'Jen' sei. Konfuzius antwortete ihm: 'Sich selbst überwinden und kultivieren, die eigenen Wünsche und Begierden bezwingen, sich von Schicklichkeit (Li) leiten lassen, das ist Jen ... "'77.

Hier kann man Jen als einen Begriff der persönlichen Moral und Li als einen Begriff der sozialen Beziehungen betrachten78. "Wer 'Jen' nicht hat, wie kann er die Riten (Li) einhalten? Wer 'Jen' nicht hat, wie kann er die Musik (Yüeh) verstehen? "79.

In diesem Zitat wird Jen von Konfuzius als die persönliche moralische Basis für die sozialen Riten (Li) und Musik (Yüeh) bezeichnet. liAs a concept of personal morality, Jen is used to describe the highest human achievement ever reached through moral self-cultivation. It is not too difficult to become a Chüntzu (Gentleman) but hardly anyone is qualified to be called a Jen-jen (a man who embodies Jen). Confucius almost never gave anyone such praise" 80 • Jeder Mensch hat die Möglichkeit, Jen zu besitzen: "Die Tugend der Menschenliebe (Jen)- ist sie denn gar so fern? Sie ist durchaus zu erreichen, wenn man sie wirklich will "'1.

Obwohl jeder Mensch in gewissem Grade die Tugend Jen verkörpern kann, ist es aber ein unendlicher Prozeß der Selbst-Kultivierung, sich um Jen zu erwerben. Niemand kann die perfekte Stufe von Jen erreichen. Der Jen-jen, der diese letzte Stufe erreicht hat, bleibt nach wie vor als eine ideale Figur für alle Konfuzianer. Konfuzius selbst hat auch nicht diese Stufe erreicht: "Konfuzius sprach: 'Was Vollkommenheit (Sheng) und Menschlichkeit (Jen) betrifft - wie könnte ich es wagen, mich dessen zu rühmen! Ich strebe danach, ohne nachzulassen; ich lehre andere, ohne es müde zu werden - das könnte von mir gesagt werden, aber nicht mehr"'82.

In dem Buch "Lun-yü" ist der Begriff Jen am häufigsten aufgetaucht (105 mal). Er ist die Gesamtheit der verschiedenen Tugenden: Menschlichkeit, Liebe, Farnilienliebe, Mitleid, Achtung des anderen, Selbst-Kultivierung und Reziprozität, Sittlichkeit usw. 83 Diese Kardinaltugend hängt sehr eng mit dem sozialen Träger, dem von Konfuzius hervorgehobenen Gentleman (Chün-tzu) oder Intellektuellen (Shih), zusammen: 11

11

" ... Entfernt sich der Gentleman von der Tugend Jen - wie verdient er dann noch diesen Namen? Er verletzt sie nicht einmal für die Dauer einer Mahlzeit. Er steht zu ihr, was auch kommen

mag

11 84 ;

Lun-yü, XII, I, S. 93-94. Tu, 1979, S. 6-7. 79 Lun-yü, III, 3, S. 51. '0 Tu, 1979, S. 7. 81 Lun-yü, VII, 30, S. 72. 82 Lun-yü, VII, 34, S. 73 . •) Chang, Twan-sui, 1989, S. 129; Roetz, 1992, S. 195 ff . •• Lun-yü, IV, 6, S. 56. 77 78

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11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

"Tseng-Tzu (ein wichtiger Schüler des Konfuzius) sprach: 'Ein Intellektueller (Shih) darf nicht engstirnig sein. Er braucht Ausdauer und Mut. Seine Pflicht ist schwer, sein Weg ist weit. Sich der Pflicht widmen, die Tugend Jen in der WeIt - ist das etwa nicht schwer? Erst der Tod beendet sein Streben - ist dieser Weg etwa nicht weit"'''; "Konfuzius sprach: 'Intellektueller von starkem Willen (Chih-shih) und Mensch mit Jen (Jen-jen) werden niemals versuchen, ihr Leben auf Kosten der Tugend Jen zu retten. Er ist sogar bereit, sein Leben für die Tugend Jen zu opfern"'86.

Ohne Zweifel wird die enge Verbindung zwischen der Kardinaltugend (Jen) und dem Gentleman oder Intellektuellen (Chün-!zu oder Shih) in der ganzen chinesischen Geschichte nach Konfuzius von allen konfuzianischen Gelehrten als ein Ideal und Lebensziel behandelt. e) Die Charakterzüge des Begriffs Jen beim Konfuzianismus Während die vorkonfuziansiche Literatur dem Begriff Li (Riten) den ersten Rang zuordnete, hat Konfuzius in seiner Lehre den Begriff Jen (Menschlichkeit) als seine Kardinaltugend hervorgehoben. Seitdem ist dieser Begriff Jen in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus immer wieder von verschiedenen Konfuzianern betont interpretiert und als Kernpunkt ihrer Lehren behandelt worden. Es ist deswegen zweckmäßig und notwendig für uns, die Charakterzüge des Begriffs Jen zusammenzufassen. Dabei werden auch die Interpretationen der Konfuzianer nach Konfuzius berücksichtigt. aa) Jen als universale und fundamentale Tugend In der vorkonfuzianischen Literatur wird der Begriff Jen vor allem als eine partikulare Tugend (Güte) unter vielen behandelt87 • Bis zur Zeit des Konfuzius gibt es keine universale und fundamentale Tugend in China, aus der sich die anderen partikularen Tugenden ableiten können. Erst in der Lehre des Konfuzius wird sich eine elementare Kardinaltugend dargestellt und aufgrund dieser Basis eine systematische humanistische Moralphilosophie konstruiert. Dies ist der Begriff Jen, der nicht mehr als eine partikulare Tugend (Güte) angesehen, sondern als eine universale Tugend (Menschlichkeit) behandelt wird. Dieser von Konfuzius neu interpretierte Begriff Jen hat einen "inklusiven" Charakter: Wer diese Kardinaltugend durchführt, regiert eine ganze Reihe anderer Tugenden88 • "Tzu-Chang (ein wichtiger Schüler des Konfuzius) fragte Konfuzius, was der Begriff Jen ist. Der Meister antwortete: 'Überall fünf Tugenden verwirklichen--das ist Jen'. Tzu-Chang wollte darauf-

85 Lun-yü, VIII, 7, S. 75. 86 Lun-yü, XV, 9, S. 116. 87 Chan, 1975, S. 107. 88 Roetz, 1992, S. 197.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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hin wissen, was das für Tugenden seien. Konfuzius sagte: 'Kong (Respekt), Kuan (Großmut), Hsin (Vertrauen), Min (Eifer) und Hui (Güte) ... "'89.

In diesem Zitat wird der "inklusive" Charakter von Jen deutlich dargelegt. An überigen Stellen werden die übrigen Tugenden, z.B. Yung (Tapferkeit), Chih (Klugheit) usw. hinzugerechnet. Die Kardinaltugend Jen steht an der Spitze einer Hierarchie ethischer Werte, wie Tu es richtig verdeutlicht: "It seems that the best way to approach the concept of Jen is to regard it first of all as the virtue of the highest order in the value system of Confucianism. In other words, Jen gives 'm!!aning' to all the other ethical norms that perform integrative functions in a Confucian society"90. bb) Jen als Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezogenheit Aufgrund der Etymologie seines Schriftzeichens enthält das Wort Jen zwei Elemente: "Mensch" und "zwei "91. Damit wird vor allem die äußerliche, objektive sozialethische Dimension dieses Wortes dargestellt, d.h. das Wort Jen bezieht sich vor allem auf die Dyade-Beziehungen des Menschen. Diese Dimension wird hauptsächlich von den verschiedenen modemen Sozialwissenschaftlern92 hervorgehoben und als Kernpunkt der chinesischen Kultur behandelt. Dabei sei die Bedeutung der äußerlichen, objektiven Sozialbezogenheit für einen Menschen viel größer als die Bedeutung seines Individuums selbst. Im bestimmten Sinne kann man einen solchen Menschen als "Homo Sociologicus" behandeln. Darüber wird später in der Diskussion über "die konfuzianische Rollentheorie" weiter gesprochen. Aber der Begriff Jen wird bei der Entstehung des Konfuzianismus auch als "Menschentum" (Jen) verstanden. "So kommt es für die Ausübung der Regierung auf die Menschen an. Die Menschen gewinnt (der Herrscher) durch seine Person, er bildet seine Person durch den Weg (Tao). Er bildet den Weg (Tao) durch Menschlichkeit (Jen). Menschlichkeit (Jen) bedeutet Menschentum (Jen) ... "93.

Lun-yü, XVII, 6, S. 126. Tu, 1979, S. 6. 91 Die Entstehung des Begriffs Jen ist viel jünger als der Begriff Li. Erst in der Zeit Östliche Chou (770-256 v.Chr.) wird dieser Begriff in verschiedenen Büchern gefunden. Über seine Entstehung vgl. Chang, Twan-sui, 1989, S. 119-123 und Lin, 1973. '>2 Z.B. Sun, 1989. 93 Li-gi, S. 34-35. Das Buch Li-gi (Buch der Riten oder der Sitte) gehört neben dem Buch der Urkunden (Shu-ching), dem Buch der Lieder (Shih-ching), dem Buch der Wandlungen (I-ching), und den Fruhling-Herbst-Annalen (Ch 'un-ch 'iu) zu den fünf großen klassischen Büchern (Wuching) des alten Chinas. Sie werden gleichzeitig als die fünf klassischen konfuzianischen Bücher betrachtet. Die Übersetzung von Wilhelm (1981) wird hier mit eventuellen ModifIzierungen benutzt. In dem Buch Li-gi werden zwei sehr wichtige Kapitel ("Maß und Mitte" [Chung-yung] und "Die große Wissenschaft" [Ta-hsüeh]) von den Neo-Konfuzianern in der Sung-Zeit (960-1279 89 90

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11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Der zweitwichtigste Konfuzianer Menzius (ca. 371-289 v.Chr.) hat auch gesagt: "Menschlichkeit (Jen) ist Menschenart (Menschentum, Jen). Menschlichkeit (Jen) ist der Weg (Tao) des Menschen "94.

Aufgrund einer solchen Interpretation wird die innerliche subjektive Dimension des Begriffs Jen von den verschiedenen modernen Philosophen bzw. Wissenschaftlern der Geistesgeschichte hervorgehoben95 • Dabei wird die Beziehung zwischen dem Begriff Jen und dem Begriff Li (Riten, Schicklichkeit) wieder als der Kernpunkt behandelt. In der vorkonfuzianischen Chou-Zeit hat das System der Riten (Li-chih) die hauptsächliche Rolle der sozialen und politischen Kontrolle gespielt. Aber es ist in erster Linie ein äußerlicher Humanismus ohne die Basis eines innerlichen menschlichen Bewußtseins. Erst aufgrund der Kardinaltugend Jen kann man die Beschränkung dieses äußerlichen Humanismus (Li-chih) durchbrechen und einen moralisch bewußten innewohnenden Humanismus entwickeln96 • Es lohnt sich, ein wichtiges Zitat zu wiederholen: "Yen Yüan wollte wissen, was 'Jen' sei. Konfuzius antwortete ihm: 'Sich selbst überwinden und kultivieren, die eigenen Wünsche und Begierden bezwingen, sich von Schicklichkeit (Li) leiten lassen, das ist Jen ... "'97.

Hier wird der Begriff Li allgemein auf die Normen des bestimmten Verhaltens in einem sozialen, ethischen oder religiösen Kontext bezogen. Der Begriff Jen bedeutet keine passive Anpassung an die vorgegebenen Normen, sondern eine aktive Teilnahme daran98 • Und die Begründung dieser aktiven Teilnahme ist es, sich selbst zu überwinden und zu kultivieren. Dabei wird der Begriff Jen von dem Wissenschaftler der chinesischen Geistesgeschichte vor allem als "persönliche, innerliche Moral" behandelt: "As aconcept ofpersonal morality, Jen is used to describe the highest human achievement ever reached through moral self-cultivation ... Accordingly , Jen is not primarily a concept of human relations, although they are extremely crucial to it. It is a rather a principle of inwardness .. Jen in this sense is basically linked with the self-reviving, selfperfecting, and self-fulfilling process of an individual "99. Aber soziologisch gesehen umfaßt der Begriff Jen tatsächlich diese zwei gegenseitig eng ver-

n.Chr.) ausgewählt und mit dem Buch "Gespräche" (Lun-yü) und dem Buch von Menzius (MongdSI) als die vier klassischen konfuzianischen Lehrbücher (Ssu-shu) eingeordnet. Dieses Zitat stammt aus dem Kapitel "Maß und Mitte" (Chung-yung). 94 Mong-dsi, VII, B, S. 200. Die von Wilhelm (1982) fertiggebrachte Übersetzung des Buches von Menzius (Mong-dsl) wird hier mit eventuellen Modifizierungen benutzt . •, Z.B. Hsü, Fu-kuan, 1985 und Tu, 1979 . .. Hsü, Fu-kuan, 1985, S. 309 . • 7 Lun-yü, XII, 1, S. 93-94 . • 8 Tu, 1979, S. 6. 99 Tu, 1979, S. 7-9.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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bundenen Dimensionen: Innerliche, subjektive Selbst-Kultivierung und äußerliche, objektive Sozialbezogenheit. Jen als Synthese dieser beiden Dimensionen kann durch die folgenden Zitate weiter erklärt werden: "... Wer den Grundsätzen der Menschlichkeit (Jen) folgt, will sich und andere daran aufrichten. Er will, daß ihm das gelingt und daß es auch anderen gelingt. Das Naheliegende tun können und sich dabei an anderen ein Beispiel nehmen--das ist die rechte Art der Menschlichkeit (Jen)" 100. "Konfuzius sprach: 'Tseng Shen, es gibt einen Gedanken, der sich wie ein roter Faden durch meine Lehre zieht'. Tseng Tzu (Shen) bejahte. Nachdem der Meister gegangen war, fragten die Schüler: 'Was bedeutet das?', und Tseng Tzu sagte daraufhin: 'Chung (Treue, Loyalität) und Shu (Reziprozität}--das ist der Weg des Meisters, und nichts weiter!"'IOI.

In diesem Zitat wird die Kardinaltugend Jen des Konfuzius als die Synthese der Tugenden Chung und Shu verstanden. Der Kommentar des Neo-Konfuzianers Chu Hsi (1130-1200) lautet: "Chung means exercising one's mind to the utmost and Shu means to extend to others what one holds for oneself" 102 • Dabei hat sich der Begriff Chung (Treue, Loyalität) vor allem auf die Dimension der innerlichen, subjektiven Selbst-Kultivierung des Begriffs Jen bezogen. Im Gegensatz dazu hat sich der Begriff Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme)103 auf die Dimension der äußerlichen, objektiven Sozialbezogenheit des Begriffs Jen bezogen. Diese beiden Dimensionen hängen eng miteinander zusammen und sind untrennbar miteinander verbunden. In bestimmten Sinne kann man die Synthese dieser beiden Dimensionen als der fundamentale Charakterzug des Konfuzianismus bezeichnen. In der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus wird diese Synthese auch als Synthese von Nei-shen (innerliche Kultivierung als ein Weiser) und Wai-wang (äußerliche Handlung als ein [weiser] König) oder von Hsiu-chi (Selbst-Kultivierung) und Chih-jen (die Menschen zu regulieren) behandelt. Ein Mensch, der diese beiden Dimensionen der Menschlichkeit (Jen) verwirklichen kann, wird von Konfuzius und die anderen Konfuzianer als der ideale Mensch, der Chün-tzu (Gentleman) hervorgehoben. cc) Jen als moralische und ontologische Basis der Selbst-Kultivierung: Innerweltliche Transzendenz oder Selbsttranszendenz Aber Jen ist nicht nur die moralische, sondern auch die ontologische Basis für eine innerliche, subjektive Selbst-Kultivierung. Während die christliche Tradition bei dem Prozeß der Selbst-Kultivierung die überwiegende Bedeutung

Lun-yü, VI, 30, S. 68. Lun-yü, IV, 15, S. 57. 102 Zitierte Übersetzung nach Chan, 1975, S. 122. 103 Der Begriff Shu (Reziprozität) wird als die "Goldene Regel" behandelt, seine Bedeutung lautet: "Was man selbst nicht will, soll man auch anderen nicht antun" (vgl. Lun-yü, S. 150). 100 101

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11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

der Gnade des Gottes hervorhebt, behandelt der Konfuzianismus Jen als die Grundlage für Selbst-Kultivierung: "It argues that in the process of self-realization, the very foundation of such an act relies on the moral mind, or in Confucian terminology, the mind of Jen, which is intrinsie to every human being. The contrast, nevertheless, does not lie between faith in a transcendental Hirn and loyalty to an immanent 'Me'. Confucianism also has a transcendental anchorage ... although it is in quite a different nature"l04. Substantiell gesehen ist Jen nicht nur eine persönliche Tugend, sondern auch eine metaphysische Realität: "In other words, not only psychologically has every human being the potentiality to embody Jen, but also metaphysically the moral mind, or mind of Jen, is in essence identical with the cosmic mind" 105. Dabei ist Jen sowohl die moralische als auch die ontologische Basis für die Selbst-Kultivierung: "It is, on the one hand, conceived as a driving force behind, and on the other hand, a meaning-structure above moral conduct" 106. Konfuzius hat einmal seinen eigenen Lebenslauf zusarnmenfaßt: "Als ich fünfzehn war, war mein ganzer Wille aufs Lernen ausgerichtet. Mit dreißig Jahren stand ich fest. Mit vierzig hane ich keine Zweifel mehr. Mit fünfzig kannte ich das Mandat des Himmels (den Weg des Himmels, T'ien-Ming). Als ich sechzig war, hane ich ein feines Gehör, um das Gute und das Böse, das Wahre und das Falsche herauszuhören. Mit siebzig konnte ich den Wünschen meines Herzens folgen, ohne das Maß zu überschreiten"107.

In der Entwicklung des Humanismus in der Frühling-Herbst-Periode (722480 v.Chr.) wird Schritt für Schritt der alte chinesische Gedanke eines persönlichen Himmelgottes abgelehnt 108 , Stattdessen wird der Gedanke eines moralisch geprägten Himmels tendenziell hervorgehoben. In der Lehre des Konfuzius stellt diese humanistische Entwicklung des Gedankens des Himmels weiter dar 109 • In diesem Zitat wird das Mandat des Himmels (der Weg des Himmels, T'ien-ming) vor allem als der Charakter der universalistischen transzendenten Moral verstanden 110. Durch die innerliche Selbst-Kultivierung

Tu, 1979, S. 8. Tu, 1979, S. 8. 106 Tu, 1979, S. 8. Jen (als metaphysische Realität) kann auch als "creativity itself" (Mou, 1980, S. 37-38) und "activity, life or production" (Chan, 1955, S. 310-314) verstanden werden (vgl. Tu, 1979, S. 8-9). 107 Lun-yü, 11, 4, S. 46-47. 10. Im alten chinesischen Gedanken gibt es auch die Vorstellung eines persönlichen Gones, der Himmel (T'ien) oder oberster Herrscher (Ti) genannt wird. Aber es ist kein persönlicher Gon in Sinne des alten Judentums. Im alten Judentum ist der persönliche Gon sowohl der Schöpfergon als auch der einzige Herrscher. Im Gegensatz dazu gibt es in dem alten chinesischen Gedanken keine Vorstellung der Schöpfung. Der persönliche Gon wird deswegen nur als ein oberster Herrscher behandelt (Lao, 1981, S. 37-40). Dies wird im nächsten Kapitel weiter diskutiert. 109 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 36-102. 110 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 86. Über die Entwicklung und Umdeutung der Vorstellung von T'ien-Ming (Mandat des Himmels, Weg des Himmels) vgl. Hsü, Fu-kuan (1963, S. 36-102), Lao (1981, S. 43-46, 82-93 und 138-149) und Su (1966, S.64-71). 104

105

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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(d.h. die Verwirklichung von Jen) kann man das Mandat des Himmels (den Weg des Himmels, T'ien-ming) erkennen und sich gleichzeitig mit diesem identifizieren. Seit der Zeit des Konfuzius ist es nach wie vor ein ideales Bild für den Konfuzianismus: Vereinheitlichung von dem Weg des Himmels und der Moral des Menschen, m.a.W. Vereinheitlichung von Himmel und Menschen (T'ien Jen ho-i). In einer anderen wichtigen Stelle hat Konfuzius auch seine enge Verbindung mit dem Himmel erklärt: "Konfuzius sprach: 'Niemand kennt mich'. 'Wie meint Ihr das?' wollte Tzu-Kung wissen. Der Meister erwiderte: 'Ich velÜble es dem Himmel nicht, ich hadere nicht mit dem Menschen. Unten fing ich zu lernen an, zu Hohem will ich vordringen. Einzig der Himmel kennt mich '" 111.

Um den Weg des Himmels anzunähern und zu identifizieren, hat er konsequentes Lernen und ständige Selbst-Kultivierung durchgeführt (d.h. die Kardinaltugend Jen verwirklicht). In dieser Hinsicht hat Menzius auch betont: "Wer seinem Herz auf den Grund kommt, der erkennt sein eigentliches Wesen. Wer sein eigentliches Wesen erkennt, der erkennt den Himmel. Wer sein Herz bewahrt und sein eigentliches Wesen nährt, kann dadurch dem Himmel dienen. FlÜher Tod oder langes Leben machen für ihn keinen Unterschied. Mit Selbst-Kultivierung erwartet er, was kommt. Dadurch verwirklicht er das ihm bestimmte Geschick"112.

Statt daß sie einen persönlichen Gott im transzendenten Sinne akzeptieren, fügen die Konfuzianer (insbesondere die Neo-Konfuzianer) deswegen der "Subjektivität" von Jen, die funktionell und substantiell im Prozeß von SelbstEntscheidung-Treffen ist, eine transzendente und religiöse Dimension hinzull3. In diesem Sinne ist der Konfuzianismus im wesentlichen zwar keine formale Religion, aber er spielt eine vergleichbare Rolle wie ein ethisch-religiöses System in der chinesischen Gesellschaft l14 • Max Weber hat die Bedeutung einer innerweltlichen Transzendenz oder Selbsttranszendenz für den Konfuzianismus verkannt, als er die Vorstellung

einer religiösen Transzendenz im jüdisch-christlichen Sinne verankert hat: "Diejenige (der Absicht nach) rationale Ethik, welche die Spannung gegen die Welt, sowohl ihre religiöse Entwertung wie ihre praktische Ablehnung, auf ein absolutes Minimum reduzierte, war, wie wir gesehen haben, der Konfuzianismus. Die Welt war die beste der möglichen Welten, die menschliche Natur der Anlage nach ethisch gut und die Menschen untereinander darin, wie in allen Dingen, zwar dem Grade nach verschieden, aber prinzipiell gleich geartet und

111 Lun-yü, XIV, 35, S. 112. 112 Mong-dsi, 7A, I, S. 184. 113 Tu, 1979, S. 9. 114 Tu, 1979, S. 9; vgl. auch Liang, 1977, S. 96-124. Der modeme Neo-Konfuzianer Liang Shu-Ming behandelt es als einen Charakterzug der chinesischen Kultur: an die Stelle der Religion tritt die Moral (und Ethik) (Liang, 1977, S. 96-124). 4 Lin

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Ir. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

jedenfalls schrankenlos vervollkommnungsfähig und zulänglich zur Erfüllung des Sittengesetzes ... Es fehlte, genau wie bei den genuinen Hellenen, jede transzendente Verankerung der Ethik, jede Spannung zwischen Geboten eines überweltlichen Gottes und einer kreatürlichen Welt, jede Ausgerichtetheit auf ein jenseitiges Ziel und jede Konzeption eines radikal Bösen ... Die innere Voraussetzung dieser Ethik der unbedingten Weltbejahung und Weltanpassung war der ungebrochene Fortbestand rein magischer Religiosität"llS. Die Annahme Webers, daß ohne Bezug auf eine jenseitige Instanz der Angelpunkt fehle, um überhaupt radikale Fragen an die Welt zu stellen, ist sehr fragwürdig bei der Analyse des Konfuzianismus 116 • Gerade der Konfuzianismus manifestiert eine eigentümliche Transzendenz, die auf keinem überweltlichen "archimedischen Punkt" basiert. Es ist eine "immanente Transzendenz" 117, eine "Selbsttranszendenz" 118 oder eine "innerweltliche Transzendenz"119. Der Ankergrund dafür ist nicht etwas außerhalb dieser Welt, sondern das innere "Selbst" in dieser Welt, das "nicht in Zwiesprache mit Gott, sondern in Selbstreflexion und Selbstkultivierung eine von außen unerschütterliche Festigkeit entwickelt" 120. Es ist ein unendlicher Versuch, das innere Selbst zu kultivieren und dadurch die höchste Selbst-Transformation zu erreichen und sich gleichzeitig mit dem Mandat des Himmels (dem Weg des Himmels, T'ien-ming) zu vereinigen. Dabei wird eine transzendente Dimension notwendig hervorgehoben: "The idea of going beyond the usual limits of one's existential self so that one can

'" RS I, S. 514-515. An einer anderen Stelle hat Weber ähnlich dargestellt: "Irgendwelche Spannung zwischen Natur und Gottheit, ethischen Anforderungen und menschlicher Unzulänglichkeit, Sündenbewußtsein und Erlösungsbedürfnis, diesseitigen Taten und jenseitiger Vergeltung, religiöser Pflicht und politisch-sozialen Realitäten fehlte eben dieser Ethik vollständig ... " (RS I, S. 522). 116 Vgl. Rom, 1992, S. 426. 117 Um den Charakterzug des Konfuzianismus darzustellen, hat der modeme Neo-Konfuzianer Fung Yu-lan und T'ang Chün-i seit den vierziger Jahren den Begriff Transzendenz (Ch'ao, Ch'aoyüeh) benutzt; T'ang hat den Begriff Transzendenz bzw. "innere Transzendenz" so interpretiert: "Ich habe eingesehen, daß der Mensch über ein moralisches Selbst verfügt, ein grundlegendes geistiges Fundament, das einerseits in ihm selbst angelegt und andererseits transzendental ist" (Zitiert nach Metzger, 1990, S. 311). Danach behandeln viele modemen Fachleute chinesischer Geistesgeschichte wie Yü Ying-shih (1984) und Tu Wei-ming (1989, S. 180) den Begriff "innere Transzendenz" bzw. "immanente Transzendenz" als zentrales Konzept der chinesischen Kultur. Allmählich wurde das Konzept der "innere Transzendenz" bzw. "immanente Transzendenz" zur Grundlage der Ansicht der konfuzianischen Humanisten, das konfuzianische Selbst habe selbständigen Zugang zu einer Quelle geistiger Kraft, die vom Druck der gesellschaftlichen Welt vollständig unabhängig sei (Metzger, 1990, S. 311). 118 Ching, 1989, S. 93-97. 119 Schwanz, 1975a, S. 60-61; Eisenstadt, 1983, S. 368 ff. 120 Roetz, 1992, S. 427.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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become true to one's Heavenly endowed nature entails the transformative act of continuously excelling and surpassing one's experience here and now. The trans formative act is predicated on a transcendent vision that ontologically we are infinitely better and therefore more worthy than we actually are. In the ultimate sense we, as persons, form a trinity with Heaven and Earth"l21. Dies hat Schwartz 122 klar betont, daß eine Transzendenz nicht unbedingt mit einer totalen "Weltablehnung" gleichgesetzt werden muß. Eine Transzendenz der konfuzianischen Version hat zwar auch die diesseitige unvollkommene Welt im bestimmten Grade relativiert und dadurch ein ständiges Spannungsverhältnis mit der aktuellen Welt hergestellt, aber sie hat gleichzeitig alle Kräfte angestrengt, diese Spannung durch innerweltliche Verwirklichung von Jen bzw. Selbst-Kultivierung zu überwinden 123 . Eine solche innerweltliche Lösung, d.h. Überwindung dieser Spannung durch eine Orientierung an der Innerweltlichkeit, war und ist für die chinesische Zivilisation (insbesondere den Konfuzianismus) kennzeichnend 124. Darum sollte der Begriff Transzendenz notwendig wie in der Interpretation von Schwartz erweitert werden: "The word 'transcendence' is a word heavy with accumulated meanings, some of them very technical in the philosophic sense. What I re/er to here is something elose to the etymological meaning 0/

the word-a kind 0/ standing back and looking beyond- a kind 0/ critical, rejlective questioning 0/ the actual and a new vision 0/ what lies beyond. It is sym-

bolized in the Hebrew tradition by Abraham's depature from Ur and all it reprsents, by the Buddha's more radical renunciation, by Confucius' search for the source of Jen within and the normative order without, by the Lao Tse book's strain toward the nameless Tao, and by the Greek strain toward an order beyond the Homeric gods, by the Socratic search within as well as by Orphic mysteries "125.

121

Tu, 1985, 136-137.

J22

Schwanz, 1975, S. 3.

m Eine zusammenfassende Darstellung dieses Charakters des konfuzianischen Denkens vgl. Metzger (1983, 1990). Seinem Argument liegen vor allem die Theorien von den modernen NeoKonfuzianern wie T'ang Chün-i (1909-1978), Mou Tsung-san (1909-1995) und Hsü Fu-Kuan (1901-1980) zugrunde. 124 Vgl. Eisenstadt, 1983, S.368-369. 125 Schwanz, 1975, S. 3. In diesem Sinne sollte Transzendenz "deshalbjormal bzw.junktional als der Standort bestimmt werden, von dem aus die Distanzierung der Welt erfolgen kann, ohne inhaltlich etwas zu präjudizieren" (Roetz, 1992, S. 427). 4'

40

H. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

dd) Jen als sozial ethische Grundlage: Reziprozität und die Goldene Regel Wie gesagt umfaßt der Begriff Jen diese zwei gegenseitig eng verbunden Dimensionen: Innerliche, subjektive Selbst-Kultivierung und äußerliche, objektive Sozialbezogenheit. Wie obendargestellt kann Jen als Synthese dieser beiden Dimensionen durch die folgenden Zitate weiter erklärt werden: " ... Wer den Grundsätzen der Menschlichkeit (Jen) folgt, will sich und andere daran aufrichten. Er will, daß ihm das gelingt und daß es auch anderen gelingt. Das Naheliegende tun können und sich dabei an anderen ein Beispiel nehmen--das ist die rechte Art der Menschlichkeit (Jen)"'26. "Konfuzius sprach: 'Tseng Shen, es gibt einen Gedanken, der sich wie ein roter Faden durch meine Lehre zieht'. Tseng Tzu (Shen) bejahte. Nachdem der Meister gegangen war, fragten die Schüler: 'Was bedeutet das?', und Tseng Tzu sagte daraufhin: Chung (Treu, Loyalität) und Shu (Reziprozität)--das ist der Weg des Meisters, und nichts weiter! "127.

In dem letzten Zitat wird der Begriff Jen als die Synthese von Begriffen Chung und Shu verstanden. Der Kommentar von Neo-Konfuzianer Chu Hsi (1130-1200) lautet: "Chung means exercising one's mind to the utmost and Shu means to extend to others what one holds for oneself" 128. Dabei hat sich der Begriff Chung (Treu, Loyalität) vor allem auf die Dimension der innerlichen, subjektiven Selbst-Kultivierung bezogen. Im Gegensatz dazu hat sich der Begriff Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme) auf die Dimension der äußerlichen, objektiven Sozialbezogenheit bezogen. Eine ähnliche Aussage kann man auch in Chung-yung (Maß und Mitte, ein Kapitel von Li-gi) finden: " ... Chung und Shu lassen dich nicht weit vom Weg abirren. Was du nicht liebst, wenn es dir selbst angetan wird, das tue du keinem andem Menschen an"'29.

Sozial ethisch gesehen ist eine ständige innerliche Selbst-Kultivierung geradezu die immanente Grundlage für alle menschlichen Beziehungen bzw. sozialen Institutionen: "Indem die Menschen in alter Zeit auf der ganzen Erde die klaren Geisteskräfte klären wollten, ordneten sie zuerst ihren Staat; um ihren Staat zu ordnen. regelten sie zuerst ihr Haus; um ihr Haus zu regeln. kultivieren sie ihre Selbst. .. wenn das Selbst kultiviert ist, dann erst wird das Haus geregelt; wenn das Haus geregelt ist, dann erst wird der Staat geordnet; wenn der Staat geordnet ist, dann erst kommt die Welt in Frieden. Vom Himmelssohn (Kaiser) bis zum gewöhnlichen Mann gilt dasselbe: Für alle ist die Selbst-Kultivierung die Wurzel"I3O.

Lun-yü, VI, 30, S. 68 . •27 Lun-yü, IV, 15, S. 57 . •28 Zitierte Übersetzung nach Chan. 1975, S. 122 . •29 Li-gi, S. 30. 130 Li-gi, S. 46-47. In diesem Buch Li-gi werden zwei wichtigste Kapitel ("Maß und Mitte" [Chung-yung] und "Die große Wissenschaft" [Ta-hsüeh]) von den Neo-Konfuzianem in Sung-Zeit (960-1279 n.Chr.) ausgewählt und mit dem Buch "Gespräche" (Lun-yü) und dem Buch von 126

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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"Tzu Lu fragte den Meister, was den Gentleman auszeichne. Konfuzius antwortete: 'Der Gentleman kultiviert sich selbst zur gewissenhaften Erfüllung seiner Pflichten'. 'Ist das alles?' sagte Tzu Lu. 'Er kultiviert sich selbst, um anderen Menschen Ruhe und Frieden zu geben', war die Antwort. Darauf Tzu Lu: 'Und das ist alles?' Konfuzius setzte hinzu: 'Er kultiviert sich selbst, um dem Volk Ruhe und Frieden zu geben. Das aber war sogar für [die alten Kaiser] Yao und Shun schwierig" 131.

Um Menschlichkeit (Jen) zu verwirklichen, muß man nicht nur sein Selbst kultivieren, sondern auch dadurch alle möglichen, menschlichen Beziehungen und die gesellschaftliche Ordnung regulieren. Etymologisch gesehen bedeutet Jen "zwei" und "Mensch". Man kann deswegen den Begriff Jen auch weitergehend mit "Mitmenschlichkeit" (Ko-Humanität) übersetzen I32 • Dabei wird der Begriff Jen (Mitmenschlichkeit) vor allem als die sozial ethische Grundlage für alle menschlichen Beziehungen behandelt; und ein Mensch wird nicht als Individuum, sondern vor allem als "Mitmensch" betrachtet. In diesem Sinne wird der chinesische Mensch nicht von einem Gott als Individuum geschaffen, sondern in einer Gesellschaft von Menschen als Mitmensch geboren 133 • Wenn der Begriff Jen nicht in erster Linie als persönliche Tugend, sondern als sozialethische Kardinaltugend behandelt wird, wird er meistens mit dem Begriff Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme) gleichgesetzt. "Chung Kung wollte wissen, was Jen (Mitmenschlichkeit) sei. Konfuzius antwortete ihm 'Begegne den Menschen außerhalb des Hauses mit der gleichen Höflichkeit, mit der du einen teuren Gast empfängst. Behandle sie mit der gleichen Achtung, mit der das große Opfer dargebracht wird. Was du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an. Dann wird es keinen Zorn gegen dich geben -- weder im Staat noch in deiner Familie' ... "134. "Tzu Kung fragte den Konfuzius: 'Gibt es ein Wort, das ein ganzes Leben lang als Richtschnur des Handeins dienen kann?' Konfuzius antwortete: 'Das ist Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme). Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen" 1JS •

Durch die obigen Zitate wird verdeutlicht, daß sich der Begriff Shu (Reziprozität) vor allem auf die Dimension der äußerlichen, objektiven Sozialbezogenheit des Begriffs Jen bezogen hat. In diesem Sinne hat Roetz richtig dargestellt, daß Shu (Reziprozität) eine einleuchtende EXplikation des etymologischen

Menzius (Mong-dsi) als vier klassische konfuzianische Lehrbücher ("Vier Bücher" [Ssu-shuJ) eingeordnet. Dieses Zitat stammt aus dem Kapitel "Der großen Wissenschaft" (Ta-hsüeh). 131 Lun-yü, XIV, S. 113. Yao (trad. 2233-2184 v.Chr.), Shun (trad. 2223-2184) und Yü (trad. 2183-2178 v.Chr.) sind drei legendäre Kaiser, die nacheinander eine freiwillige Übergabe des Thrones (Shan-jang) durchgeführt haben (Yao -- > Shun -- > Yü). Nachdem Konfuzius diese drei legendären Kaiser als die Weisen (Shen-jen) hervorgehoben hat, sind sie immer wieder von den späteren Konfuzianern als Beispiel der Weisen angeführt worden. 132 Chan, 1975, S.120. 133 Vgl. Weber-Schäfer, 1983, S. 220. 134 Lun-yü, XII, 2, S. 94. m Lun-yü, XV, 24, S. 118.

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11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Sinngehalts des Begriffs Jen ist 136 • Etymologisch gesehen bedeutet das Wort Shu "sich mit dem Herz der Anderen zu identifizieren", "Einfühlung" und "Nachsicht". Mit der Rollentheorie Meads kann man das Wort Shu als "take the other's role" bezeichnen 137. Inhaltlich kann der Begriff Shu als Reziprozität bzw. Symmetrie auch mit der traditionsfreien überkulturellen "Goldenen Regel" gleichgesetzt werden: "Was du nicht willst, daß man dir tu', das füg' auch keinem anderen zu" 138.

Wie gesagt wird Jen als sozialethische Kardinaltugend meistens mit dem Begriff Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme) gleichgesetzt. Insbesondere wird die Kardinaltugend Jen auch in diesem Sinne von den Konfuzianem als die Grundlage des sozialen normativen Regelsystems (Li) behandelt: "Die Sitte (Li) schätzte das regelmäßige Hin- und Hergehen der Beziehungen (Reziprozität). Dem andern entgegenzukommen, ohne daß man verständnisvolle Erwiderung findet, entspricht nicht der Sitte (Li). Vom andern etwas anzunehmen, ohne es entsprechend zu erwidern, entspricht nicht der Sitte (Li)'''39.

Auch in diesem Sinne werden die vom Konfuzianismus betonten "Fünf-

Beziehungen" (Wu-lun) vor allem als die auf der Kardinaltugend Jen bzw. Shu

basierenden fundamentalen symmetrischen reziproken Sozialbeziehungen verstanden. Solche Sozialbeziehungen sind eng mit den symmetrischen Reziprozitätspflichten verbunden. Dies sind allerdings keine (asymmetrische) organische Pietätsbeziehungen im Weberschen Sinne: "Alle Sozialethik war hier lediglich eine Übertragung organischer Pietätsbeziehungen auf andere, die ihnen gleich-

Roetz, 1992, S. 224. Chang, Te-sheng, 1991, S. 77. 138 Vgl. Roetz, 1992, S. 219-241. Er hat insbesondere durch mehrere Beispiele in verschiedenen archaischen Kulturen hervorgehoben, daß die" Goldene Regel" eine traditionsfreie Maxime ist, 136 137

"die im zwischenmenschlichen Handeln eine statusunabhängige Symmetrie anvisiert, ein typisches Erkennungszeichen der antiken Aufklärungskulturen" (Roetz, 1992, S. 219-220). Auch in den verschiedenen ethnologischen Schriften wird das Prinzip der Reziprozität als Grundprinzip der primitiven Gesellschaft anerkannt, das vielseitige Aspekte hat: ökonomisch, gesellschaftlich, politisch, rechtlich usw. (vgl. Ihurnwald, 1934, S. 5; Malinowski, 1954, S. 29; Mauss, 1968, S. 10; Uvi-Strauss, 1981, S. 107 ff. usw.). Aufgrund dieses reziproken Prinzips wird ein System gegenseitiger Dienstleistungen und Verpflichtungen entwickelt, in welchem die Gruppen oder die Menschen untereinander "Geben und Nehmen" spielen. In der chinesischen Fonn umfaßt das Prinzip der Reziprozität auch viele verschiedene Aspekte. Dabei hängt das Wort Shu (Reziprozität) sehr eng mit den anderen Wörtern wie Jen (Menschlichkeit bzw. Mitmenschlichkeit), Li (Riten, Schicklichkeit), Chung (Loyalität) usw. zusammen. Dies wird im Kapitel V. weiter behandelt. Dort wird Shu (Reziprozität) bzw. Jen (Menschlichkeit bzw. Mitmenschlichkeit) als das grundlegende Legitimationsprinzip der Herrschaft bzw. der politischen Teilordnung im konfuzianischen China betrachtet. 139 Li-gi, S. 312. Im V. Kapitel wird das Reziprozitätsprinzip (Jen und Shu) als die Grundlage des sozialen nonnativen Regelssystems (Li) weiter verdeutlicht. Dabei wird dieses Prinzip als die Basis der konfuzianischen Rollentheorie betrachtet.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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artig gedacht wurden. Die Pflichten innerhalb der fünf natürlichen sozialen Beziehungen: Zum Herrn, Vater, Ehemann, älteren Bruder (einschließlich des Lehrers) und Freund enthielten den Inbegriff aller unbedingt bindenden Ethik" 140. Dabei werden die symmetrischen gegenseitigen Pflichten innerhalb der "Fünf-Beziehungen" von Weber zu asymmetrischen Pflichten vereinseitigt und die "Fünf-Beziehungen" als asymmetrische organische Pietätsbeziehungen rnißverstanden l41 • Hier muß man klar feststellen, daß nicht das Prinzip von "Pietät" (Webers Übersetzung von Hsiao [Gehorsam]), sondern das Prinzip der "Reziprozität" (Shu bzw. Jen) vom Konfuzianismus als Grundlage aller sozialen Beziehungen anerkannt wird. Im Prinzip wird die Pflicht Hsiao (Gehorsam) in diesem Kontext vom Konfuzianismus in erster Linie als eine Pflicht der Sohn-Rolle gegenüber der Pflicht Tse (Güte) der Vater-Rolle und nicht als Grundprinzip der Rolle einer jeden Position innerhalb dieser "Fünf-Beziehungen" behandelt. Diese von Weber dargestellten Fünf-Beziehungen, die Beziehungen zwischen Vater und Sohn, Herrn und Untertan, Mann und Frau, älterem und jüngerem Bruder, Freund und Freund, bedeuten keine asymmetrischen Pflichten zwischen einer Rolle (Sohn, Untertan usw.) und einer anderen (Vater, Herrn usw.); sie sind die Beziehungen der Reziprozität, d.h. die Beziehungen der symmetrischen Pflichten: Die Pflicht des Vaters Tse (Güte) gegenüber der Pflicht des Sohnes Hsiao, die des Herrn Jen (Wohlwollen) 142 gegenüber der des Untertans Chung (Loyalität) usw. Bei jeder Beziehung zwischen ihnen gibt es eine eigenartige Tugend: Die Tugend zwischen Vater und Sohn ist Ch 'in (Affinität), die

RS I, S. 493-494. Weber hat zwar das Prinzip der Reziprozität des Konfuzianismus auch bemerkt und als das grundlegende Prinzip der konfuzianischen Sozialethik behandelt, d.h. es gilt nicht nur für die "Fünf-Beziehungen", sondern auch für alle anderen Sozialbeziehungen. Aber er betrachtet diese "Fünf-Beziehungen" vor allem als asymmetrische organische Pietätsbeziehungen und dadurch vereinseitigt die symmetrischen gegenseitigen Pflichten innerhalb der "Fünf-Beziehungen" zu asymmetrischen Pietätspflichten. Er schreibt über das Reziprozitätsprinzip des Konfuzianismus folgenderweise: "Der konfuzianische Grundsatz der Reziprozität, welcher allen außerhalb dieser (fünf) Beziehungen liegenden natürlichen sachlichen Pflichten zugrunde liegt, enthielt keinerlei pathetisches Element in sich"(RS I, S. 494); "Man bedarf der Freunde. Aber man suche sie sich unter Gleichgestellten aus. Für die niedriger Gestellten habe man freundliches Wohlwollen. Im übrigen aber ging auch hier alle Ethik auf das urwüchsige Austauschprinzip des bäuerlichen Nachbarverbandes zurück: wie Du mir, so ich Dir, - die 'Reziprozität', welche vom Meister gelegentlich einer Anfrage geradezu als Fundament aller Sozialethik hingestellt wird. Die Feindesliebe der radikalen Mystiker (Laotse, Mo Ti) aber wurde, als der gerechten Vergeltung: einem Prinzip der Staatsräson, zuwiderlaufend entschieden abgelehnt: Gerechtigkeit gegen Feinde, Liebe für Freunde - was solle man diesen noch bieten, wenn man den Feinden Liebe böte?" (RS 1, S. 450-451). 142 Das Wort Jen bezieht sich in diesem Kontext in erster Linie nicht die Kardinaltugend Menschlichkeit, sondern die partikulare Tugend des Herrn, d.h. Wohlwollen. 140 141

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II. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

zwischen Herrn und Untertan ist I (Rechtschaffenheit), die zwischen Mann und Frau ist Pä (Unterschied), die zwischen älterem und jüngeren Bruder ist Hsü (Ordnung) und die zwischen Freund und Freund ist HSln (Vertrauen). Dabei ist das Grundprinzip nicht das von Weber betonte Pietätsprinzip (Hsiao ?), sondern das Prinzip der Reziprozität (Shu bzw. Jen). Darüber wollen wir im V. Kapitel bei der Darstellung einer konfuzianischen Rollentheorie weiter diskutieren. ee) Jen als Synthese von Universalismus und Partikularismus Der Begriff Jen wird in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus meistens als "Liebe" (Ai) oder "Menschenliebe" (Ai-jen) verstanden l43 • "[Der Schüler] Fan Chi wollte wissen, was 'Jen' sei. Konfuzius antwortete: 'Die Menschen lieben""44.

Menzius hat gesagt: "Jen (Menschenliebe) ist das Herz des Mensehen ... " 145. An anderer Stelle hat er deutlicher ausgedrückt: "Wodurch der Gentleman sich von andern Menschen unterscheidet, ist das, was er im Herzen hegt. Er hegt Jen (Menschenliebe) im Herzen, er hegt Li (Schicklichkeit) im Herzen. Der Mensch mit Jen (Jen-ehe) liebt die Menschen; wer Li (Schicklichkeit) hat, achtet die Menschen. Wer andre liebt, den lieben die andern immer auch wieder. Wer andre achtet, den achten die andern immer auch wieder" 146; " ... Der Mensch mit Jen (Jen-ehe) läßt die Art, wie er einen geliebten Menschen behandelt, auch den Ungeliebten zuteil werden. Der Mensch ohne Jen (Pu-jen-che) behandelt auch die, die er liebt, wie Ungeliebte"147.

Chan hat in vielen Beispielen dargestellt, daß von Konfuzius bis in der HanZeit (206 v.Chr.-220 n.Chr.) das Wort Jen sehr oft als "Liebe" oder "Menschenliebe" interpretiert wird 148.

Chan, 1955, S. 299 ff. Lun-yü, XII, 22, S. 98. 145 Mong-dsi, VI, A, 11, S. 167. 146 Mong-dsi, IV, B, 28, S. 130. 147 Mong-dsi, VII, B, 1, S. 197. I" Chan, 1975, S. 109-110. Die Beispiele von Chan beziehen sich nicht nur aufkonfuzianische Literatur, sondern auch auf die anderer philosophischer Schulen: Der Begründer der moistischen Schule Mo Tzu (468-376 v.Chr.) sagt: "Jen ist 'zu lieben'" und "um Liebe zu verwirklichen, ist Jen"; der Taoist Chuag Tzu (ca. 369-286 v.Chr.) sagt: "Die Menschen zu lieben und die Dinge zu begünstigen, heißt Jen"; der andere wichtige Konfuzianer nach Menzius, Hsün-tzu (298-238 v.Chr.) sagt: "Jen bedeutet Liebe"; der wichtigste Legalist Han Fei Tzu (?-233 v.Chr.) erklärt: "Wer in seinem Herzjreudig die anderen Menschen liebt, heißt der Mensch mit Jen (Jen-ehe)"; der Konfuzianer Tung Chung-shu (1797-104? v.Chr.), der zur Entwicklung des Konfuzianismus als staatliches Dogma in der Han-Zeit beigetragen hat, sagt noch deutlicher: "Jen ist der Name der Menschenliebe" und "Die Menschheit zu lieben, ist Jen"; der andere wichtige Konfuzianer in der Han-Zeit Yang Hsiung (53 v.chr.-18 n.Chr.) sagt: "Zu sehen und lieben, ist Jen" und "universal zu lieben (Chien-ai), heißt Jen". Hier kann man bemerken, daß die Interpretation von Yang Hsiung (Jen als universale Liebe) auch mit der Interpretation von Moismus (Mo Ti) übereinstimmt. Das 14)

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2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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Obwohl auch der Utilitarist Mo Tzu (Mo Ti, ca. 468-376 v.Chr.) den Begriff Jen als "Liebe" behandelt, ist seine Auffassung von "Liebe" ganz anders als die der Konfuzianer. "Liebe" wird von Mo Tzu vor allem als "universale Liebe" (Chien-ai) verstanden l49 • Im Gegensatz dazu wird "Liebe" von den Konfuzianem im Prinzip als "Liebe mit Unterschied und Gradierung" (Ai yu cha-teng) verstanden 150. Im Vergleich zum Moismus wird zunächst die partikularistische Dimension des Konfuzianismus hervorgehoben. Weber hat auch die Verschiedenheit zwischen Moismus und Konfuzianismus bemerkt: "Die Feindesliebe der radikalen Mystiker (Laotse, Mo Ti) aber wurde, als der gerechten Vergeltung: Einem Prinzip der Staatsräson, zuwiderlaufend entschieden abgelehnt"151; " ... so mag es, so sehr die Ethik (Menzius) den sozialen Wert des Mitleids rühmte, recht wohl sein, daß diese Empfindung nicht eben sehr entwickelt wurde. Jedenfalls nicht auf den Boden des Konfuzianismus. Selbst die (heterodoxen) Vertreter der Feindesliebe (z.B. Mo Ti) begründeten diese wesentlich utilitarisch "152; "Die allgemeine 'Menschenliebe' lehnte Menzius mit der Bemerkung ab, daß dadurch Pietät und Gerechtigkeit ausgelöscht werden: Weder Vater noch Bruder zu haben sei die Art der Tiere. Inhalt der Pflichten eines konfuzianischen Chinesen war immer und überall Pietät gegen konkrete, lebende oder tote Menschen ... "153. Die originale Fassung der Kritik des Menzius liest sich folgendermaßen: " ... Ein heiliger König stand nicht mehr auf. Die Fürsten ließen ihren Lüsten freien Lauf. Müßige Gelehrte führten quere Reden. Yang Dschus und Mo Tis Worte erfüllten die Welt. Was heute auf der Welt geredet wird, ist entweder von Yang oder von Mo beeinflußt. Yang lehrt den Egoismus, darum führt er zur Auflösung des Staats (Staat ohne König). Mo lehrt die unterschiedslose allgemeine Liebe (Chien-ai), darum führt er zur Auflösung des Hauses (Haus ohne Vater). Ohne König des Staats und Vater des Hauses kehrt man in den Zustand der Tiere zurück"''''.

Der Utilitarist Mo Ti behandelt Egoismus und Eigensucht als die hauptsächliche Ursache für den Zerfall der sozialen Ordnung. Die Lösung dafür ist die allgemeine Liebe (Chien-ai). Nicht die Liebe innerhalb des eigenen Hauses,

ist kein zufälliges Beispiel. In der Entwicklungsgeschichte des Begriffs Jen im Konfuzianismus kann man auch ähnliche Versuche der Gleichsetzung finden. Dazu kommen wir später. 149 Wörtlich wird der Begriff Chien-ai als "mutuale Liebe" oder "Mitliebe" verstanden. Aber dieser Begriff wird meistens als "universale Liebe" übersetzt, weil der Mo Ti mit ihm seine universalistische Absicht dargestellt hat. "" Chan, 1975, S. 110. ISI RS I, S. 451. IS2 RS I. S. 495. IS) RS I, S. 523. IS4 Mong-dsi, 111, B, 9, S. 108-110. Die Kritik von Menzius an Mo Ti scheint erstaunlich für die christliche Theologie. Aber nach Tu (1979, S. 11) ist es aus der Sicht der christlichen Theologie auch nicht ganz undenkbar: " ... Yet since 'universal love' in Moism ist not based on a general concem for a transcendental God, it is very probable that parents will be treated like strangers simply because the intensity of intimate emotion decreases in a broadly diffused area".

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11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

sondern gerade die Liebe über das eigene Haus hinaus kann die sozialen Konflikte beseitigen. Das bedeutet eine strenge Ablehnung der natürlichen organischen Verwandtschaftsbeziehungen. Die Moisten vereinigen sich miteinander wie eine religiöse Gemeinschaft in einer Brüderlichkeit. Aber das Motiv bleibt eher utilitaristisch: Durch die gegenseitige, allgemeine Liebe (Chien-hsiang-ai) können die Menschen die gegenseitigen Interessen begünstigen (Chiao-hsiang-li). Dabei sind Menschenliebe und Eigensucht nicht gegensätzlich, sondern zwei Aspekte der seI ben Substanz. Mo Ti hat dadurch eine klassische Schule des "social exchange" begründet. Diese Stellungnahme steht der des Konfuzianismus genau gegenüber. Für den Konfuzianismus bedeuten die geregelten natürlichen organischen (verwandtschaftlichen und verwandtschaftsähnlichen) Beziehungen die Grundlage aller menschlichen Beziehungen ISS. Die obenerwähnten "Fünf Beziehungen" werden auch von Menzius (aber nicht nur von ihm) besonders hervorgehoben: " ... Der Weise unterwies das Volk in Ethik der Menschen (Jen-lun), daß zwischen Vater und Sohn die Affmität (Ch'in) ist, zwischen Herrn und Untertan die Rechtschaffenheit (I), zwischen Mann und Frau der Unterschied (Pä), zwischen Alt und Jung (älterem und jüngerem Bruder) der Abstand (Hsü, die Ordnung), zwischen Freund und Freund das Vertrauen (Hsin)""·.

m Wie gesagt hat Yang Hsiung (53 v.Chr.-18 n.Chr.), einer der wichtigen Konfuzianer in der Han-Zeit, gesagt: "Zu sehen und lieben, ist Jen" und "universal zu lieben (Chien-ai), heißt Jen". Hier kann man bemerken, daß die Interpretation von Yang Hsiung (Jen als Chien-ai, mutuale Liebe, universale Liebe) auch mit der des Moismus (Mo Ti) übereinstimmt. Aber dies ist eine Ausnahme. Wenn in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus die universalistische Dimension des Begriffs Jen hervorgehoben wird, wird er nicht als Chien-ai (mutuale Liebe, universale Liebe), sondern vor allem als Po-ai (universale Liebe) verstanden. Der Begriff Po-ai ist ein konfuzianischer Begriff und stammt aus einem Kommentar des klassischen konfuzianischen Buches Kuo-yü: "Jen ist Po-ai (universale Liebe) für Menschen" (Chan, 1975, S. 112). Um auf die Herausforderung des Taoismus und der universalen Erlösungslehre des Buddhismus zu reagieren, hat der wichtigste Konfuzianer in der T'ang-Zeit (618-907 n.Chr.) Han Yü (768-824 n.Chr.) besonders die universalistische Dimension des Begriffs Jen dargestellt: "Universale Liebe (Po-ai) wird als Jen genannt" (Chan, 1975, S. Ill-I12). Aber im Gegensatz zum Begriff Chien-ai des Moismus liegen diesem Begriff Po-ai beim Konfuzianismus nach wie vor die geregelten natürlichen organischen (verwandtschaftlichen und verrwandtschaftsähnlichen) Beziehungen zugrunde. Manchmal wird dieser Begriff Po-ai in der modemen Literatur auch mit "Brüderlichkeit" gleichgesetzt. Die Losung der französischer Revolution (1789) "Brüderlichkeit" und der christliche Begriff "Brüderlichkeit" werden z.B. sehr oft als Po-ai übersetzt. Aber wie gesagt ist der konfuzianische Begriff Po-ai eine andersartige Brüderlichkeit, die nicht auf einem formalen Naturrecht (wie in der französischen Revolution) oder einem Befehl des überweltlichen Gottes (wie beim Christentum), sondern auf den geregelten natürlichen Sozialbeziehungen (Fünf Beziehungen) basiert. ". Mong-dsi, 111, A, 4, S. 97.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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Man muß zunächst die ethischen Prinzipien innerhalb dieser natürlichen organischen Beziehungen durchführen. Das ist die Basis der gesamtgesellschaftlichen Ordnung. "Man spricht beständig von Welt, Staat und Haus. Die Wurzeln des Weltreichs sind im EinzeIstaat, die Wurzeln des Staats sind im Haus. Die Wurzeln des Hauses sind in der einzelnen Person" 1''"Indem die Menschen in alter Zeit auf der ganzen Erde die klaren Geisteskräfte klären wollten, ordneten sie zuerst ihren Staat; um ihren Staat zu ordnen, regelten zuerst ihr Haus; um ihr Haus zu regeln, kultivieren sie ihr Selbst... wenn das Selbst kultiviert ist, dann erst wird das Haus geregelt; wenn das Haus geregelt ist, dann erst wird der Staat geordnet; wenn der Staat geordnet ist, dann erst kommt die Welt in Frieden. Vom Himmelssohn (Kaiser) bis zum gewöhnlichen Mann gilt dasselbe: Für alle ist die Selbst-Kultivierung die Wurzel',m.

Wie gesagt wird "Liebe" von den Konfuzianern im Prinzip als "Liebe mit Unterschied und Gradierung" (Ai yu cha-teng) verstanden. D.h. man muß zunächst die Verpflichtungen innerhalb des eigenen Hauses erfüllen. "Welcher Dienst ist der größte? Der Dienst der Eltern ist der größte. Welche Verantwortung ist die größte? Die Verantwortung für die eigene Person ist die größte ... Was heißt nicht alles Dienst? Der Dienst der Eltern ist die Wurzel jedes Dienstes. Die Verantwortung für sich selbst ist die Wurzel jeder Verantwortung"m. "Die Frucht der Menschlichkeit (Jen), das ist, den Eltern zu dienen ... "160 . .. ... Menschlichkeit (Jen) bedeutet Menschentum. Die Liebe zu den VeIWandten ist das Größte daran. Gerechtigkeit (I) bedeutet das, was recht ist. Die Ehrung der Würdigen ist das größte daran.

Die Stufen der Liebe zu den Verwandten und die Ränge der Verehrung der Würdigen sind es, aus denen die Sitte (Li. Schicklichkeit) entsteht ... "161.

"Der Weg (Tao) ist nahe, und sie suchen ihn in der Ferne. Das Werk ist leicht, und sie suchen es in Schwierigkeiten. Wenn alle Menschen ihre Eltern lieben und ihre Älteren ehren, so ist die Welt in Frieden"162.

Obwohl die Beziehungen zu den eigenen Eltern und eigenen Verwandten von Konfuzianismus besonders hervorgehoben werden und eine Gradierung und Stufung der Liebe von ihm betont wird, werden die fundamentalen "Fünf Beziehungen" nach wie vor von verschiedenen Konfuzianern bzw. Neo-Konfuzianern als die Basis aller menschlichen Beziehungen und der gesellschaftlichen Ordnung behandelt. In bestimmtem Sinne bedeutet es einen Prozeß der Verallgemeinerung dieser Fünf-Beziehungen. Die Stufen der Liebe stellen sich wie folgenderweise dar: "Der Gentleman liebt zwar Tiere und Pflanzen, aber er tut es ohne Menschlichkeit (Jen). Er ist zwar menschlich (Jen) zu Menschen, aber er ist nicht anhänglich an sie. Er ist an die VeIWandten

Mong-dsi, IV, A, 5, S. 115. Li-gi, S. 46-47. Mong-dsi, IV, A, 19, S. 121. 160 Mong-dsi, IV. A, 27, S. 123. 161 Li-gi, Chung-yung, S. 34-35, Hervorhebung von mir. 162 Mong -dsi, IV, A. 11, S. 118.

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11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

anhänglich und menschlich zu Menschen. Er ist menschlich zu Menschen und liebt Tiere und Pflanzen" 163.

Für Menzius ist das eine natürliche Tatsache: "Es liegt in der Natur der Dinge, daß sie verschieden sind"I64.

In Bezug auf menschliche Beziehungen gibt es natürlich auch die Unterschiedlichkeit zwischen den Verwandten und den Nicht-Verwandten, zwischen den Nächsten und den Fremden. Aber durch eine Verallgemeinerung der Beziehung zu den eigenen Verwandten (insbesondere Eltern) kann man alle sozialen Beziehungen umfassen. Weil die Beziehung zu den eigenen Eltern die einzige vom Himmel gestellte Wurzel ist, soll man zunächst von dieser grundlegenden Beziehung ausgehen und Schritt für Schritt seine Menschlichkeit (Jen) ausdrücken. Die Aussage des Moisten, d.h. die allgemeine Liebe (Chien-ai), bedeutet nach Menzius eine Verirrung, weil sie zwei Wurzeln (eigene Eltern und die Anderen) hat l6S • Von Anfang an liebt man die eigenen Eltern, dann andere Verwandten, andere Leute, und zuletzt Tiere und Pflanzen. Stufe um Stufe erweitert man seine "Bezugsgruppe" und kann dadurch seine Liebe geregelt verwirklichen. Der Kernpunkt liegt darin, daß die Liebe zwar für alle gleich ist, aber ihre Anwendung unvermeidlich mit den unterschiedlichen Beziehungen variiert. Warum soll man mit den Eltern beginnen? Chan hat versuchsweise erklärt: "Confucianists start with parents because the relationship with parents is the first relationship in human life and the indispensable one, for one could be without other relations. From the practice point of view, it is also the nearest. As a matter of common practice, although one should have good will toward all, one greets first of all those nearest to hirn. It is the application that has degree or grades. not love itself, for it is unthinkable to have half love or quarter love. The repeated sayings by the Confucianists that Jen is to love all should make the all-embracing charakter of Jen perfectly"I66. Soziologisch gesehen ist eine solche Formulierung auch nicht ohne Grund. Zumindest wird hier die Bedeutung der Eltern bei dem Sozialisationsprozeß der Entwicklung eines "Selbst" betont dargestellt. Im Sinne von Mead sind die Eltern die "signijikanten Anderen" (signijicant others) im Sozialisationsprozeß. Durch die Interaktion mit den Eltern kann ein Kind nicht nur die eigene soziale

163 Mong-dsi, VII, A, 45, S. 196. Der Kommentar des Neo-Konfuzianers Yang Shih (10531135 n.Chr.) lautet: "Weil die Positionen von ihnen (Tieren und Pflanzen, Menschen und Verwandten) unterschiedlich sind, kann man sie nicht ohne Unterschied lieben. Das heißt: 'Li-i jenshu' (das Prinzip ist eines; seine Manifestationen sind viele)" (SSu-shu, S. 203). Der Begriff "Li-i jen-shu" wird auf den nächsten Seiten erläutert. 164 Mong-dsi, 111, A, 4, S. 98. IM Mong-dsi, 111, A, 5, S. 99. 166 Chan, 1975, S. 111, Hervorhebung von mir.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

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Rolle, sondern auch die Rollen der Eltern erkennen. Schon hat ein Kind im Spiel gelernt, die Rollen der Eltern zu übernehmen und sich in diese hineinzuversetzen 167 • Menzius hat die Beziehung zur eigenen Familie (insbesondere zu den Eltern) als Grundlage von Jen (Menschlichkeit) betrachtet. Mensch zu sein, soll zunächst innerhalb der eigenen Familie durchgeführt werden. Wenn wir die biologische Frage offenlassen, können wir nach Berger sagen: "Daß MenschSein bedeutet, als Mensch erkannt, anerkannt zu werden, genauso wie ein bestimmter Mensch zu sein bedeutet, als dieser bestimmte Mensch anerkannt zu werden. Wenn ein Kind ohne menschliche Zuneigung und Wartung aufwächst, wird es entmenschlicht. Ein Kind, das als Mensch respektiert wird, lernt, sich selbst zu respektieren"l68. In Bezug auf die Bedeutung der Eltern bei dem Sozialisationsprozeß eines Kindes stimmt eine solche soziologische Rollentheorie zunächst mit der Stellungnahme des Konfuzianismus überein. Aber für Mead lernt ein Kind im Verlaufe der Sozialisation im Mitmenschen nicht nur den konkreten anderen Menschen (z.B. die Eltern), sondern den Menschen überhaupt, den sogenannten "generalisierten Anderen" (generalized other) zu sehen 169 • Nicht nur die Eltern, sondern die ganze Gesellschaft erwartet vom Kind, daß es artig und anständig ist. "Erst wenn es (das Kind) in diesem Sinne zum generellen Erfassen von Gesellschaft fähig ist, kann es sich auch eine Vorstellung von sich selbst machen. 'Selbst' und 'Gesellschaft' sind wie Vorder- und Rückseite derselben Münze"17o. An dieser Stelle gibt es schon Unterschied zwischen den Ansichten Menzius und Mead. Während Mead die Bedeutung der Eltern (der signifikanten Anderen) und der generalisierten Anderen für die gesamte Sozialisation eines Kindes als gleichartig betont, behandeln Menzius und die anderen Konfuzianer in erster Linie die Beziehung zu den Eltern (der signifikanten Anderen) bzw. zu den Verwandten und den verwandtschaftartigen Personen (d.h. Fünf Beziehungen) als die einzige und wichtigste Grundlage für die gesamte Sozialisation eines Kindes, und die Beziehung zu den sogenannten "generalisierten Anderen" als abgeleitete menschliche Beziehung auf dieser Grundlage und nicht als gleichartig bedeutende Basis für die gesamte Sozialisation eines Kindes. Für die Konfuzianer hat die Familie die wichtigste Rolle bei dem Sozialisationsprozeß eines Kindes. Mensch zu sein bzw. Mensch als Mitmensch zu erfassen,

wird vor allem durch die Familie kultiviert und verinnerlicht.

167 1.. 169

170

Vgl. Mead, 1993, S. 177-206. Berger, 1969, S. 112. Mead, 1987, S. 295-298; Hartjiel, 1982, S. 484. Berger, 1969, S. 112.

50

11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Hier kann man bemerken, daß Universalismus und Partikularismus (Eins und Vieles) kein strenger Gegensatz für die Konfuzianer sind. Dies kann man nochmal durch die Erforschung der Beziehung zwischen dem Begriff Jen und dem Begriff Li in etwa verstehen. Es lohnt sich, ein wichtiges Zitat zu wiederholen: "Yen Yüan wollte wissen, was 'Jen' sei. Konfuzius antwortete ihm: 'Sich selbst überwinden und kultivieren, die eigenen Wünsche und Begierden bezwingen, sich von Schicklichkeit (Li) leiten lassen, das ist Jen ... '" 171.

Wie gesagt hat sich der Begriff Li allgemein auf die Normen des Verhaltens in einem bestimmten sozialen, ethischen oder religiösen Kontext bezogen. Soziologisch gesehen bestimmt und reguliert Li das richtige Verhalten jeder sozialen Rolle. Durch diese Tätigkeit (d.h. jede soziale Rolle zu bestimmen) hat Li die Funktion der sozialen Kontrolle durchgesetzt. Ohne genaue Kenntnisse von Li kann kein Mensch seine richtige soziale Rolle finden und spielen. Der Begriff Jen bedeutet keine passive Anpassung an die solchermaßen gegebenen Normen, sondern eine aktive Teilnahme daran 172 • Und die Begründung dieser aktiven Teilnahme ist es, sich selbst zu überwinden und kultivieren. Nach Tu kann man durch eine konsequente Selbst-Kultivierung und SelbstTransformation eine innerweltliche Transzendenz erreichen und ein uni versalistisches Prinzip (Jen) ergreifen, das aber wiederum nur in jedem sozialen Kontext (z.B. jeder sozialen Rolle) durch das partikularistische Prinzip (Li) konkret verwirklicht werden kann 173 • Wobei die Beziehung zwischen Jen und Li, d.h. zwischen einem universalistischen Prinzip und einem partikularistischen Prinzip, nicht gegensätzlich, sondern einander ergänzend ist: "... However, the Confucian particularism mentioned above is not considered by Confucian philosophers to be diametrically opposed to universalism. It is, rather, a concern for practicability. Jen, as a Confucian ideal, is universalistic rather than particularistic, but in the real process through which Jen is concretely actualized, particular considerations in the realm of Li do exist. Li, accordingly, can be considered as a principle of particularism that signifies how the process of Jen's self-actualization is to take place. In other words, a Confucianist always carries out his moral self-cultivation in the social context. He does not refrain from involvement in the world. Nor does he conceive himself only in the world but not of the world. His orientation is this-worldly, and he regards this-worldly activities as both intrinsically valuable and necessary to self-fulfillment" 174.

171

172 173 174

Lun-yü, XII, Tu, 1979, S. Tu, 1979, S. Tu, 1979, S.

1, S. 93-94. 6. 11-12. 11-12, Hervorhebung von mir.

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

51

In dieser Interpretation von Tu wird Jen in erster Linie als ein universalistisches Prinzip und Li als ein partikularistisches Prinzip behandelt. Die Synthese von Universalismus und Partikularismus wird vor allem durch die unentbehrliche Verknüpfung von Jen und Li verwirklicht. Aber nach unserer obigen Analyse kann man schon bemerken, daß die Kardinaltugend Jen selbst die partikularistische Dimension (die natürlichen Fünf-Beziehungen) und die universalistische Dimension (die Verallgemeinerung dieser grundlegenden FünfBeziehungen) umfaßt. Innerhalb der Kardinaltugend Jen wird eine Synthese dieser beiden Dimensionen vollbracht 175.

Dieser Versuch, eine solche Synthese innerhalb der Kardinaltugend Jen zu bilden, ist bei Konfuzius und Menzius nicht systematisch vollzogen. Erst durch die ontologische Darstellung des Neo-konfuzianers Chang Tsai (1020-1077 n.Chr.) kann man eine solche Denkweise weitergehend verstehen 176 • In seinem kleinen Aufsatz Hsi-ming (Westliche Inschrift), der zur wichtigsten Literatur des Neo-Konfuzianismus gehört, hat er so geschrieben: "Der Himmel (Ch'ien) ist mein Vater, und die Erde (K'un) ist meine Mutter; ich, als kleines, endliches Wesen, nehme eine zentrale Stellung zwischen ihnen ein. Daher, was Himmel und Erde erfüllt, ist mein Leib (T'i), und was Himmel und Erde befehligt, ist meine Natur (Hsing). Alle Menschen sind meine Bruder und meine Schwestern, und alle Dinge sind meine Gefährten ... "177.

Seine Theorie wird als "Li-ifen-shu" (das Prinzip ist eines; seine Manifestationen sind viele) und "1 tuo hsiang jung" ("Eins" und "Vieles " integrieren sich) bezeichnet 178 • Nach Chang Tsai ist der ontologische Status des Menschen folgendermaßen: Der Mensch, als Sohn oder Tochter des Himmels und der Erde, ist die Verkörperung dessen, was im schöpferischen Prozeß des Universums das Feinste und Geläutertste ist; jeder Mensch als kleines mag in der ungeheuren Weite des Kosmos auch fühlen, daß es für sich einen ureigenen Platz gibt, weil jeder Mensch potentiell Hüter, ja Mitschöpfer des Universums ist 179 •

175 Diese Auffassung ist üblich bei den modernen Interpreten des Konfuzianismus, z.B. Chan (1975, S. 113), Mou (1980, S. 43) usw. 11. Chan, 1975, S. 113. 177 Chang, Tsai, 1978, S. 62, zitierte Übersetzung nach Tu, 1983, S. 293. 11. Aber eine solche These gilt nicht nur für Konfuzianismus, sondern auch für Taoismus und Buddhismus. Chan (1967a, S. 298-3(0) hat deutlich darauf hingewiesen, daß es bei ihnen keinen absoluten Gegensatz zwischen "Eins" und "Vieles" gibt: "Suffice it to say that in all the three systems, Confucianism, Taoism, Buddhism, the solution of the apparent conflict between the one and the many is essentially the same, namely, that each involves the other. In none of the three systems is the one understood as absorbing and thereby obliterating the many, or vice versa. The common conviction has that each requires the other" (Hervorhebung von mir). 119 Tu, 1983, S. 281. Nach ihm ist das Menschenbild in einer solchen Kosmologie anders als das in der christlichen Tradition: "ln dieser holistischen Vision vom Menschen scheint eine ontologische Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf fast undenkbar. Es scheint auch keinen

52

11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

Für ihn hat jeder einzelne Mensch die innere Fähigkeit, das letztlich Wahre in seiner allumfassenden Fülle zu erkennen und zu erfahren, weil alle Menschen mit derselben Essenz begabt sind, die der schöpferischen Verwandlung von Himmel und Erde innewohnt 180. Hier gibt es eine Untrennbarkeit von Sein (Prinzip) und Menschsein (Menschlichkeit, Jen). Menschlichkeit (Jen) wird als die fundamentale Frage angesehen. In einem Aufsatz "Über das Verständnis der Menschlichkeit" (Shih-jen) hat der bekannte Neo-Konfuzianer Ch'eng Hao (1032-1085 n.Chr.) betont, daß wahre Menschlichkeit (Jen) "einen einzigen Leib mit allen Dingen, ohne jede Differenzierung, bildet" und "das Ziel der 'Westlichen Inschrift' (von Chang Tsai) ist es, diese Substanz (der vollständigen Einheit) restlos zu erklären" 181. Dabei wird die Menschlichkeit (Jen) nicht nur als die innerste Sensibilität, sondern auch eine allumfassende Sorge behandelt 182 • Nach der Interpretation eines anderen Neo-Konfuzianers Yang Shih (10531135 n.Chr.), geht es bei dem Grundgedanken des Aufsatzes Hsi-ming von Chang Tsai auch darum, uns zum Suchen nach Jen zu ermutigen. Yang Shih hat erklärt: "The meaning of the Hsi-ming (Western Inscription) is that principIe is one but its manifestations are many. If we know that principle is one, we understand why there is humanity (Jen) and if we know manifestations are many, we understand why there is righteousness (l). By manifestations being many is meant, as Menzius has said, to extend affectionfor relatives to humaneness for people and love for alt creatures. Since functions are different, the application [of humanity (Jen)] cannot be without distinctions. Some may say that in this case substance (one principle) and function (many manifestations) are two different things. My answer is that function is never separate from substance. Take the case of the body. When all members of the body are complete, that is substance. In its operation, shoes cannot be put on the head and a hat cannot be worn by the feet. Thus when we speak of substance, functions are already involved in it" 183. Der Kommentar des bedeutenden Neo-Konfuzianers Chu Hsi (1130-1200 n.Chr.) lautet: "There is nothing in the entire realm of creature that does not regard Heaven as the father and earth as the mother. This means that the principle is one ... Each regards his parents as his own parents and his son as

Zustand wie nach dem Sündenfall geben zu können und keine Entfremdung im Sinne jenes tief verwurzelten Gefühls des Abgetrenntseins des Menschen von seinem ureigentlichen Ursprung. Auch die Idee vom Menschen als dem Manipulator und Eroberer der Natur scheint ausgeschlossen zu sein" (Tu, 1983, S. 281). I'" Tu, 1983, S. 284. 1'1 Tu, 1983, S. 285. Tu, 1983, S. 285. I') Zitiert nach Chan, 1975, S. 114, Hervorhebung von mir.

I"

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

53

his own son. This being the case, how can the principle not be manifested as the many? When the intense affection for parents is extended to broaden the impartiality that knows no ego, and when sincerity in serving one's parents leads to the understanding of the way to serve Heaven, then everywhere there is the operation that the principle is one but its manifestations are many"I84. Wie gesagt versucht die typische und fundamentale chinesische Denkweise ständig mit ganzer Kraft, die gegensätzlichen Sachen, die miteinander in Konflikt geraten, zu vereinheitlichen. Die These von Chang Tsai, d.h. "Li-i fen-shu" (das Prinzip ist eines; seine Manifestationen sind viele), ist eine typische Darstellung solcher chinesischer Denkweise und eine metaphysische Idee für die Synthese von "Eins" und "Vieles ", Identität und Differenz, und dem universalen und dem partikularen "Individuum "185. Neben der Bedeutung auf der ontologischen Ebene und der ethischen Ebene hat die These von Chang Tsai auch in der erkenntnistheoretischen Ebene ihre Bedeutung gefunden. Chang Tsai und die Brüder Ch'eng (Ch'eng Hao und Ch'eng I [1033-1107 n.Chr.]) haben zwei verschiedenartige Wissen streng voneinander getrennt: Sinn-Wissen (sense-knowledge, Chieh-wen chih-chih) und Tugend-Wissen (knowledge of virtuous natur, Te-hsing chih-chih). Das Tugend-Wissen wird immer als universal, selbst-identisch und "eines" behandelt; im Gegensatz dazu wird das Sinn-Wissen immer als partikulares Wissen, das sich gemäß den "vielen" sinnlichen Objekten differenziert l86 • Nach ihrer Meinung kann das universale Tugend-Wissen durch das partikulare Sinn-Wissen manifestiert werden. Dadurch wird wieder ein Beispiel für die These von Chang Tsai (Li-i fen-shu, das Prinzip ist eines; seine Manifestationen sind viele) geliefert, und zwar auf der Ebene der Erkenntnistheorie. Das Tugend-Wissen ist kein Wissen über irgendetwas, sondern SelbstWissen von dem moralischen Herz als solchem oder von dem moralischen Herz des Selbst-Bewußtseins von sich als solchem l87 • Das moralische Herz des Selbst-Bewußtseins ist so aktiv und produktiv, daß es ohne Beschränkung alle Dinge der Welt durchdringen kann. Und das Sinn-Wissen ist zwar von dem undurchsichtigen Sinn-Objekt geleitet, aber es kann das Licht aufsaugen, das aus dem moralischen Herz ausstrahlt. Die beiden Wissen sollen koexistieren, weil das Tugend-Wissen nur durch das Sinn-Wissen völlig existieren kann: Das Tugend-Wissen soll in dem moralischen Handeln verwirklicht werden, dessen Ziel darum ist, die objektiven Dinge zu schaffen und erreichen, die wiederum nur durch Sinn gewußt werden können; solange das Tugend-Wissen

1'4 I'S

1'6 187

5 Lin

Zitiene Übersetzung nach Chan. 1975. S. 114, Hervorhebung von mir. T'ang, 1967, S. 278. T'ang, 1967, S. 278. T'ang, 1967, S. 278.

54

H. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

durch das Sinn-Wissen über die objektiven Dinge in der Außenwelt verwirklicht und ausgedrückt ist, wird das Tugend-Wissen als "eines" behandelt und differenziert das Sinn-Wissen gemäß den Differenzen der Dinge l88 • Das ist eine Darstellung der These von Chang Tsai (Li-i Jen-shu, das Prinzip ist eines; seine Manifestationen sind viele) auf der Ebene der Erkenntnistheorie.

Weil Wissen über Dinge der Außenwelt die notwendige Bedingung für die Äußerung des Tugend-Wissens ist, wird Sinn-Wissen sogar aus der Sicht des Tugend-Wissens noch betont. Wegen der Mannigfaltigkeit aller Dinge der Außenwelt, die von Sinn-Wissen gewußt werden, ist die Bemühung, die "Untersuchung aller Dinge eins nach dem andern" (Wu-wu ko-chih), sehr notwendig dafür, das universale Tugend-Wissen zu erreichen. Dabei wird die Theorie der "Untersuchung der Dinge" (Ko-wu) besonders von der Ch 'eng-Chu Schule (vor allem Ch'eng I und Chu Hsi) des Neo-Konfuzianismus hervorgehoben. Durch die "Untersuchung der Dinge" Tag für Tag kann man die Möglichkeit schaffen, das universale Tugend-Wissen zu erreichen. Die Ch'engChu Schule in der Sung-Zeit (960-1279 n.Chr.) wird später von dem mongolischen Kaiser in der Yüan-Zeit (1280-1367 n.Chr.) als offizielle konfuzianische Lehre anerkannt l89 • Diese Schule hat eine bedeutende Rolle in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus von der Sung-Zeit bis zur Ch'ing-Zeit (1644-1912 n.Chr.) gespielt. Wie oben dargestellt wird der Versuch, eine Synthese von Universalismus und Partikularismus innerhalb der Kardinaltugend Jen zu bilden, erst durch die These von Chang Tsai und die Interpretation der Ch'eng-Chu Schule systema-

tisch konstruiert. Aber eine solche These wird auch von der anderen bedeutenden Schule, der Lu-Wang Schule des Neo-Konfuzianismus (Vertreter: Lu Hsiang-shan [1139-1193 n.Chr.] und Wang Yang-ming [1472-1529 n.Chr.]), zwar auf andersartiger theoretischer Grundlage, auch anerkannt l90 • Aufgrund der Lehre des Menzius hat die Lu-Wang Schule besonders die Subjektivität von Jen bzw. des moralischen Herzens im Sinne der "immanenten Transzendenz" hervorgehoben. Für Lu Hsiang-shan, den Gegner von Chu Hsi, soll man nicht durch die empirische Untersuchung der objektiven Dinge, sondern vor allem durch die subjektive Selbst-Kultivierung des moralischen Herzens bzw. Selbsttranzendenz die Kardinaltugend Jen erreichen. Dabei ist

'" Tang, 1967, S. 278-279. I •• Yao, 1968, S. 27-37. 190 Der Unterschied zwischen der Ch'eng-Chu Schule und der Lu-Wang Schule liegt vor allem darin: die Ch'eng-Chu Schule behauptet eine philosophische Theorie, die auf der "objektiven Realität" basiert; und im Gegensatz dazu konzentriert sich die Lu-Wang Schule auf eine philosophische Theorie, die auf der "subjektiven Realität" basiert. Während Chu Hsi den Begriff "Herz" im empirischen Sinne behandelt, versteht Lu Hsiang-shan den Begriff in erster Linie im transzendenten Sinne (vgl. LaD, 1981a, S. 359).

2. Die Entstehung des Konfuzianismus

55

Sinn-Wissen keine notwendige Bedingung für das Tugend-Wissen. Aber Lu Hsiang-shan akzeptiert auch die Betrachtungsweise von Chang Tsai, d.h. Erde, Himmel, Mensch und alle Dinge als einen Körper zu betrachten: "Was Himmel und Erde erfüllt, ist meine Leib (Ti), und was Himmel und Erde befehligt, ist meine Natur (Hsing) ... "191. Der Gedanke, ein Mensch mit Menschlichkeit (Jen) behandelt Erde, Himmel, Mensch und Dinge als einen Körper (das Prinzip ist eines, Universalismus), wird sowohl von der Ch'eng-Chu Schule, als auch von Lu-Wang Schule behauptet. Wang Yang-ming hat auch gesagt: "The great man regards Heaven and Earth and the myriad things as one body ... That the great man can regard Heaven, Earth, and the myriad things as one body is not because he deliberately wants to do so, but because it is natural to the human nature (Jen) of his mind that he does SO"I92. Außerdem hat die Lu-Wang Schule aufgrund der theoretischen Tradition des Menzius auch die partikularistische Dimension des Begriffs Jen, d.h. Jen als "Liebe mit Unterschied und Gradierung" (Ai yu cha-teng) beibehalten. Durch die folgende Diskussion zwischen dem Meister Wang Yang-ming und seinem Schüler kann man wiederum den Versuch, Universalismus und Partikularismus zu vereinheitlichen, deutlich bemerken: "Ein Schüler fragt: 'Der große Mensch und alle Dinge gehören zu einem selben Körper, Warum steht in dem Buch (Der großen Wissenschaft [Ta-Hsüeh]) noch der Gedanke der Unterschiedlichkeit (der Liebe), d.h. das eine hochschätzen und das andere geringschätzen?' Der Meister (Wang Yang-ming) antwortet: 'Gerade wegen des Prinzips (Tao-li) gibt es die Unterschiedlichkeit (der Liebe). Z.B. der menschliche Körper ist eine Einheit, und man kann mit den Händen und den Füßen den Kopf und die Augen schützen; kann es bedeuten, daß die Hände und die Füße geringgeschätzt werden? Wegen des Prinzips (Tao-li) soll es so sein. Wir lieben sowohl Pflanzen und Bäume, als auch Vögel und Tiere, aber wir können es übers Herz bringen, mit Pflanzen und Bäumen Vögel und Tiere zu füttern. Wir lieben sowohl die Menschen, als auch Vögel und Tiere, aber trotzdem können wir es übers Herz bringen, Vögel und Tiere zu schlachten und dadurch die Eltern zu ernähren, zum Opfer zu bringen und die Gäste zum Essen einzuladen. Wir lieben sowohl die Eltern, als auch die Fremden; wenn das Essen so knapp ist, daß man es entweder nur den Eltern oder den Fremden geben kann (mit Essen bedeutet Leben, ohne Essen bedeutet den Tod), dann kann man es auch übers Herz bringen, nicht die Fremden, sondern vielmehr die Eltern zu retten. Wegen des Prinzips (Tao-li) soll das so sein ... "".3.

Erstaunlicherweise ist diese Stellungnahme fast identisch mit der der Ch'engChu Schule, obwohl beide Schulen dabei auch die verschiedenartigsten theoretischen Strategien ergreifen. Noch erstaunlicher ist die Tatsache: Von der Zeit der Entstehung des Konfuzianismus (Konfuzius, 551-479 v.Chr.; Menzius, 372-289 v.Chr.) bis der Blütezeit des Neo-konfuzianismus (Wang Yang-ming, 1472-1529 n.Chr.) ist die gleiche Stellungnahme nach wie vor ohne Vorbehalt festgelegt, obwohl diese Zeit über zwei Jahrtausende umfaßt. Das ist eine

.9. Vgl. Chan, •92 • 93

5'

1975, S. 114-115 . Zitierte Übersetzung nach Chan, 1975, S. 115 . Wang, 1972, S. 83; vgl. auch Chen, 1981, S. 24.

56

H. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

lange, große und verfestigte Tradition innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus. Und eine solche dauernde Kontinuität des Konfuzianismus kann als eine eigentümliche Charakteristik der chinesischen Kultur betrachtet werden.

3. Zusammenfassung: Konfuzianismus gegenüber Puritanismus. "Kontextualisierter Universalismus" gegenüber "dekontextualisiertem Universalismus" Hier soll nun die obige Darstellung zusammengefaßt werden:

Universalismus und Partikularismus sind kein Gegensatz zueinander für die Konfuzianer. Vielmehr versuchen sie stets, Universalismus und Partikularismus zu vereinheitlichen und eine Synthese herzustellen. Diese Synthese ist ein spezifischer Universalismus, dem eine konte.xtualisierte, verpersönlichte Liebe zugrunde liegt; sie wird hier als "konte.xtualisierter Universalismus" bezeichnet und als Gegensatz zum "dekonte.xtualisierten Universalismus" behandeltl94 • Der von Weber und Parsons hervorgehobene Universalismus des Puritanismus wird als Beispiel für diesen "dekonte.xtualisierten Universalismus" angenommen. Wie obenerwähnt besteht der Gegensatz zwischen dem Puritanismus und dem Konfuzianismus zunächst darin, wie der Dualismus zwischen Binnen- und Außenmoral überwunden wird: Während sich der Puritanismus aus der abendländischen christlichen Tradition den dekonte.xtualisierten, versachlichten Universalismus einer bürgerlichen Sozialethik entwickelt, der nach und nach alle naturgegebenen sozialen Verbände (innerweltliche Pietätsverbände. Familie, Sippe usw.) relativiert und entwertet, konkretisiert der Konfuzianismus aus der chinesischen Tradition den konte.xtualisierten, verpersönlichten Universalismus einer eigentümlichen Sozialethik, der umgekehrt die naturgewachsenen persönlichen Verhältnisse (vor allem Fünf-Beziehungen) bewußt verklärt und zugleich auf ihnen beruht. Am Ende hat der konsequente Puritanismus vor allem zwei Folgen gezeitigt:

Die innere Vereinsamung des Individuums und das Verständnis des Nächsten als eines Anderen l95 . Diese asketische protestantische Ethik schafft damit eine Motivation zur Versachlichung zunächst der religiösen, dann der außerreligiösen zwischenmenschlichen Beziehungen. Alle zwischenmenschlichen Beziehun-

194 Der Begriff "Dekontextualisierung" bzw. "dekontextualisieren" stammt eigentlich aus Habermas (1983, S. 119 und 190), vgl. auch Schluchter(1988, S. 234 Fußnote 124). In Analogie dazu wird hier auch der gegensätzliche Begriff "Kontextualisierung" bzw. "kontextualisieren" benutzt. 19' Schluchter, 1979, S. 251.

3. Zusammenfassung: Konfuzianismus gegenüber Puritanismus

57

gen, sei es die zu den Nächsten, sei es die zu den Anderen, werden dadurch unvermeidlich dekontextualisiert, versachlicht. Wobei es keinen Unterschied mehr zwischen den Nächsten und den Anderen, den Bekannten und den Fremden gibt. In diesem Sinne verkörpert diese Ethik einen "dekontextualisierten Universalismus": Die Menschen in der ganzen Welt sind mir gleich bzw. fremd. Im Gegensatz dazu hat der konsequente Konfuzianismus abschließend auch zwei Folgen herbeigeführt: Die Einbettung in eine "große Familie" und das Verständnis des Fremden als eines Verwandten. Diese konfuzianische Ethik schafft damit eine Motivation zur Verpersönlichung aller zwischenmenschlichen Beziehungen. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen, sei es die zu den Verwandten, sei es die zu den Fremden, werden dadurch kontextualisiert, verpersönlicht. Dabei gibt es auch keinen Unterschied zwischen den Nächsten und den Anderen, den Verwandten und den Fremden l96 • In diesem Sinne konkretisiert die konfuzianische Ethik eine Synthese von Universalismus und Partikularismus bzw. einen "kontextualisierten Universalismus ": "Die Menschen in der ganzen Welt sind (meine) Brüder"J97. Aus der Sicht des Handelnders, besteht der Unterschied zwischen dem "dekontextualisierten Universalismus" des Puritanismus und dem "kontextualisierten Universalismus" des Konfuzianismus dann darin, ob ein Handelnder jeweils die persönliche Beziehung (bekannt oder fremd) mit dem oder den bezogenen Anderen (z.B. dem anderen Teilnehmer einer Interaktion) berücksichtigt oder nicht. Die puritanische Ethik ist dekontextualisiert universalistisch, da ein Handelnder unter ihrer Forderung zunächst keine persönliche Beziehung mit den Anderen berücksichtigen und dann sein Handeln ausführen sollte. Im Gegensatz dazu ist die konfuzianische Ethik kontextualisiert universalistisch, da ein Handelnder unter ihrer Forderung zunächst die persönliche Beziehung mit den Anderen berücksichtigen und dann sein Handeln ausführen sollte. Das Ausmaß der "Abstraktionsleistungen " der puritanischen Ethik und das der konfuzianischen Ethik werden damit ihrem Wesen nach streng voneinander unterschieden: Da die puritanische Ethik dekontextualisiert universalistisch ist, verlangt sie in gewissem Maße die "Abstraktionsleistungen der Dekon-

196 Der modeme Neo-Konfuzianer Hsü Fu-kuan (1974, S. 174) hat dazu erläuten: "Alle Menschen in der Gesellschaft sollten in einer (großen) Familie zusammenleben, deren Solidarität auf Liebe beruht; alle Menschen könnten durch ein solches Familienleben ermöglichen, das

Öffentliche und das Private, das Recht und die Pflicht, das Individuum und das Kollektiv natürlich zu vereinheitlichen". In diesem Sinne kann man die konfuzianische Sozialethik als eine ''familistische Sozialethik" bezeichnen. 197

Lun-yü, XII, S. 95.

58

11. Die Charakterzüge der konfuzianischen Ethik

textualisierung und Demotivierung" 198; da die konfuzianische Ethik kontextualisiert universalistisch ist, verlangt sie gerade nicht die "Abstraktionsleistungen der Dekontextualisierung und Demotivierung" , sondern vielmehr umgekehrt die "Abstraktionsleistungen der Kontextualisierung und Motivierung", d.h. eine abstrakte Verallgemeinerung der konkreten "Fünf-Beziehungen", m.a.W. eine Synthese der abstrakten und der konkreten Dimension der Ethik l99 •

1•• "Abstraktionsleisrungen der Dekontexrualisierung und Demotivierung" stammt aus Habermas (1983, S. 119), hier zitiert nach Schluchter (1988, S. 234 Fußnote 124). Dort hat Schluchter

das Ausmaß der "Abstraktionsleisrungen der Dekontexrualisierung und Demotivierung" der religiösen Gesinnungsethiken (z.B. der puritanischen Ethik) mit dem einer kognitivistischen Gesinnungsethik verglichen: Die religiösen Gesinnungsethiken (z.B. die puritanische Ethik) haben zwar in gewissem Maße auch die" Abstraktionsleisrungen der Dekontexrualisierung und Demotivierung ", aber sie sind nicht so radikal wie die der kognitivistischen Gesinnungsethik. Anders als in unserem Versuch, hat Schluchter dort in seinem analytischen Kontext die religiösen Gesinnungsethiken (z.B. die puritanische Ethik) als (material) universalistisch und die kognitivistische Gesinnungsethik als formal universalistisch bezeichnet. 1.. Nach der Meinung des chinesisch-amerikanischen Kulturantropologen Hsu, Francis L. K. (1953, 1960) ist der grundlegende Unterschied zwischen der okzidentalen Kultur und der ostasiatischen Kultur vor allem Folgendes: "individualism" und" self-reliance" der okzidentalen Kultur gegenüber "situationalism" und "mutual dependence" der ostasiatischen Kultur. Daruber hinaus betont der chinesisch-amerikanische Philosoph Fu (1989, S. 37) auch den hauptsächlichen Kontrast zwischen der modernen westlichen Ethik und der konfuzianischen Ethik: "The rule-centered ethics ofJustice asfaimess" gegenüber "the act-centered, situation ethics". Auch der chinesisch-amerikanische Moralphilosoph Hsieh (1989, S. 224) betrachtet den entscheidenden Gegensatz zwischen dem sozialethischen Grundprinzip der griechischen Tradition und dem der konfuzianischen Tradition als einen Gegensatz zwischen der griechischen "individuality" und der konfuzianischen

"mutuality" .

Im bestimmten Sinne stimmen diese von Hsu, Fu und Hsieh dargestellten Kontraste mit unserer Unterscheidung zwischen der Dekontextualisierung und Demotivierung der puritanischen Ethik und Kontextualisierung und Motivierung der konfuzianischen Ethik überein.

111. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik unter dem Regelaspekt und dem Motivationsaspekt: Magische Ethik, Normenethik (ritualistische Ethik und Gesetzesethik) oder Gesinnungsethik? Nachdem wir diese von Weber und Parsons vorgelegte Gegenüberstellung zwischen Konfuzianismus und Puritanismus in Frage gestellt und die (kontextualisierte) universalistische Dimension der konfuzianischen Ethik dargestellt haben, möchten wir weiter die Webersche Anordnung der konfuzianischen Ethik in seinen idealtypischen (typologischen) Entwicklungskonstruktionen religiöser Ethik überprüfen, d.h. in welcher Typologie kann die konfuzianische Ethik angeordnet werden: Magische Ethik, Normenethik (ritualistische Ethik und Gesetzesethik) oder Gesinnungsethik. Nach Schluchter 1 kann man unter drei Aspekten den Charakterzug einer religiösen Ethik betrachten und dadurch in den idealtypischen (typologischen) Entwicklungskonstruktionen religiöser Ethik Webers anordnen: Regelaspekt, Motivationsaspekt und Sanktionsaspekt. Dadurch wird eine These versuchsweise artikuliert: Die (kontextualisierte) universalistische konfuzianische Ethik und ihre Kardinaltugend Jen verlangen ebenfalls eine systematische Lebensführung und ein Handeln aus Pflicht, wenn auch in einem andersartigen historischen und kulturellen Kontext als in ihrem eigentlichen Sinne. Um die konfuzianische Ethik zutreffend anzuordnen, werden in diesem Kapitel in ersten Linie Regelaspekt und Motivationsaspekt berücksichtigt. Der Aspekt der Sanktion wird vor allem im nächsten Kapitel untersucht.

1. Die typologischen Entwicklungskonstruktionen der religiösen Ethik Webers In den idealtypischen (typologischen) Entwicklungskonstruktionen religiöser Ethik Webers werden teilweise implizit, teilweise explizit 4 Typen der religiösen Ethik unterschieden: Magische Ethik, die Ethik der rituellen Religiosität,

I

Schluchter, 1988, S. 224.

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III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

die Ethik der Gesetzesreligiosität und Gesinnungsethik der Erlösungsreligiosität.

In § 11 seiner "systematischen Religionssoziologie" hat er am Anfang so formuliert: "Die Erlösungsreligiosität bedeutet, je systematischer und ,gesinnungsethisch' verinnerlichter sie geartet ist, eine desto tiefere Spannung gegenüber den Realitäten der Welt. Solange sie einfach rituelle oder Gesetzesreligiosität ist, tritt diese Spannung in wenig prinzipieller Art hervor. Sie wirkt in dieser Form wesentlich ebenso wie die magische Ethik" 2 •

Wie Schluchter3 darstellt, geht die Webersche Unterscheidung in magische und religiöse Ethik einher mit der Unterscheidung in Geisterglauben und Götterglauben, magische und ethische Religiosität. Bei der Untersuchung der Entstehung der Religionen hat Weber zwischen präanimistischen Naturalismus und dem Symbolismus unterschieden, und auf der Ebene des Symbolismus auch zwischen magischer und religiöser Ethik, zwischen Geisterglauben und Götterglauben, Zauber und Kultus, Tabuvorschriften und göttlichem Gebot4 • Für Weber bedeutet es keine naive Unterscheidung, sondern eine typologische Entwicklungskonstruktion der Rationalisierung der Religion: Von der Stufe der Magie bis der Stufe der Religion. Wie wir oben schon zitiert haben, sind zwei Maßstäbe für Weber am wichtigsten, nach denen man die Stufe der Rationalisierung einer Religion anordnen kann: Einmal der Grad, in welchem sie die Magie abstreift hat; dann der Grad systematischer Einheitlichkeit des "Weltbildes "5. Die Rationalisierung einer Religion wird deswegen von ihm in bestimmten Sinne als die Entzauberung als Entmagisierung behandeit6 • Auf der Stufe der Magie sei die "Welt" ein "Zaubergarten": Es gibt keine radikale Trennung von Diesseits und Jenseits und keine unüberbrückbare Kluft zwischen den Menschen und den übersinnlichen Mächten; und die Menschen bleiben den "Göttern" durch Zauberei, Ritus und Erhaltung der Tabuvorschriften nah? Das religiöse Handeln, d.h. die Beziehung der Menschen zu diesen "Göttern" sei dann nicht "Gottesdienst", sondern "Gotteszwang" , die Anrufung des Gottes nicht Gebet, sondern magische Formel 8 • Bei dem Gotteszwang versucht man, die Götter durch Magie zu unterwerfen oder durch Opfer als Leistungen zu dienen und nach ihren Gegenleistungen zu verlangen. Die Zauberei und die mit ihr verbundene magische Ethik kenne noch kein religiöses Gesetz und die Forderung seiner Befolgung9 •

2 WuG, S. 348, Hervorhebung von mir. ) Schluchter. 1979, S. 65. 4 WuG, S. 245-268. , RS I, S. 512. 6 Vgl. Schluchter, 1980, S. 15 und 220. 7 Schluchter, 1980, S. 15. S WuG, S. 257-258. • Schluchter, 1980, S. 16-17.

1. Die typologischen Entwicklungskonstruktionen der religiösen Ethik Webers

61

Im Gegensatz zur Religion hat die Magie vor allem eine irrationale Grundlage. Bei dem Prozeß der Rationalisierung ist die Magie zur "Erlösungsreligion" geworden: "Wo der Geisterglauben zum Götterglauben rationalisiert wird, also nicht mehr die Geister magisch gezwungen, sondern Götter kultisch verehrt und gebeten sein wollen, schlägt die magische Ethik des Geisterglauben in die Vorstellung um: Daß denjenigen, welcher die gottgewollten Normen verletzt, das ethische Mißfallen des Gottes trifft, welcher jene Ordnungen unter seinen speziellen Schutz gestellt hat"lO. Nach Schluchter 11 ist es terminologisch mißverständlich, wenn Weber von magischer "Ethik" spricht, weil erst die religiöse Ethik den Zwangzusammenhang und die monistische Symbolwelt der Magie sprengt 12 • In seiner Religionssoziologie behandle Weber den Begriff" religiöse Ethik" als einen genetischen Gattungsbegriff, in Abgrenzung zu magischen "Ethiken", die man auch als subjektiv zweckrationale Kunstlehren bezeichnen könne 13 • Gegenüber der Magie ist die religiöse Ethik das "prinzipiell Neue", und sie hängt mit einer kognitiven Entwicklung, d.h. der Ausbildung einer "rationalen Metaphysik" zusammen 14 • Und die rationale Metaphysik, die Ablösung des mythologischen Weltbildes durch ein metaphysisches, des Monismus durch den Dualismus, der Einheit von Natur- und Vergeltungs- bzw. Ausgleichskausalität durch ihre Differenz, all dies sind kognitive Voraussetzungen für die Entwicklung einer (religiösen) Ethik 15 • Auf der Stufe der religiösen Ethik gibt es zunächst ritualistische Ethik und Gesetzesethik. Dabei verändert sich die allgemeine Stellungnahme des Menschen zum Gott, die den Anlaß zur Entwicklung einer religiösen Ethik gibt, "der Scheidung der göttlichen Anforderung an den Menschen, gegenüber jenen Anforderungen oft unzulänglicher 'Natur'. Neben die beiden urwüchsigen Arten der Beeinflussung übersinnlicher Mächte: Ihrer magischen Unterwerfung unter menschliche Zwecke oder ihrer Gewinnung dadurch, daß man sich ihnen

WuG, S. 267, Hervorhebung von mir. Schluchter, 1979, S. 65. 12 Schluchter (1988, S. 220) hat weiter erläutert: "Eine magische 'Ethik' ist für Weber deshalb keine Ethik im strengen Sinne des Wortes. Ihr fehlt die klare Scheidung zwischen (generalisierter) normativer Anforderung und Handlung sowie die Vorstellung, daß sich das göttliche Wohlwollen weder durch zwanghafte Unterwerfung noch durch Bestechung, sondern nur durch freiwilligen Gehorsam und durch Verehrung erringen läßt". 13 Schluchter, 1988, S. 220. 14 WuG, S. 260. "Schluchter, 1979, S. 65. Um die Webersche Typologie der religiösen Ethik zu verdeutlichen, hat Schluchter (1988, S. 220) später zugespitzt formuliert: "Das Entstehen einer religiösen Ethik, ja jeder Ethik im strengen Sinne des Wortes, setzt die axiologische Kehre und prinzipielle Scheidung von Naturalität und Kulturalität, von Sein und Sollen, von Handlung und Norm voraus" . 10

11

62

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

nicht etwa durch Übung irgendwelcher ethischen Tugenden, sondern durch Befriedigung ihrer egoistischen Wünsche angenehm macht, tritt jetzt die Befolgung des religiösen Gesetzes als das spezifische Mittel, das Wohlwollen des Gottes zu erringen" 16. Wie die magische Ethik wirken die ritualistische Ethik und die Gesetzesethik in ähnlicher Richtung auf die Stereotypierung von konventionellen und rechtlichen Normen, und zwar durch deren religiöse Heiligung 17 • Nach Schluchter l8 repräsentieren die beiden eher Varianten eines Typus als zwei Typen: Sie schaffen nämlich eine religiöse Basis für das "gesamte Gebiet der Rechtsordnung und der Konventionen"19. In ihrem Stadium sind "Zeremonialund Ritualnormen und Rechtsvorschriften völlig auf gleicher Linie" zu behandeln20 . Zusammenfassend hat Schluchter l den Charakterzug dieser beiden religiösen Ethiken dargestellt: "Moralische, rechtliche und konventionelle Regeln bleiben hier also amalgamiert und vorwiegend durch äußere Garantien gesichert. Insbesondere das Recht wird dadurch zum heiligen Recht erhoben, also vor Säkularisierung weitgehend geschützt. Rechtspflichten sind Tugendpflichten und Tugendpflichten Rechtspflichten. In Webers Terminologie: Rechtlichkeits-Maximen bestimmen die Lebensführung des einzelnen". Bei diesen beiden Ethiken gibt es deshalb vor allem Stereotypierung der Einzelnormen (ohne prinzipielle Systematisierung) und äußere Garantie (ohne Verinnerlichung). Erst mit dem Übergang zur religiösen Gesinnungsethik werden ethische Normen verselbständigt, systematisiert und verinnerlicht. Im Gegensatz zu den beiden Ethiken "schafft nun gerade die prinzipielle Systematisierung des religiösen Gesollten zur ' Gesinnungsethik' eine wesentlich veränderte Situation "22. Und diese neue Situation ist nach Weber folgenderweise: "Sie sprengt die Stereotypierung der Einzelnormen zugunsten der 'sinnhaften' Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilsziel. Sie kennt kein 'heiliges Recht' , sondern eine 'heilige Gesinnung', welche je nach der Situation verschiedene Maximen des Verhaltens sanktionieren kann, also elastisch und anpassungsfähig ist. Statt stereotypierend kann sie, je nach der Richtung der Lebensführung, die sie schafft, von innen heraus revolutionierend wirken. Aber sie erkauft diese Fähigkeit um den Preis einer wesentlich verschärften und

WuG, S. 264. WuG, S. 348; Schluchter, 1988, S. 221. I' Schluchter, 1988, S. 221. 19 WuG, S. 348. 20 WuG, S. 348. 21 Schluchter, 1988, S. 221, Hervorhebung von mir. 22 WuG, S. 349. 16

17

1. Die typologischen Entwicklungskonstruktionen der religiösen Ethik Webers

63

'verinnerlichten' Problematik. Die innere Spannung des religiösen Postulats gegen die Realitäten der Welt nimmt in Wahrheit nicht ab, sondern ZU"23. In diesem Stadium werden ethische Normen von rechtlichen, SittlichkeitsMaximen von Rechtlichkeits-Maximen geschieden. Und ethische Normen sind systematisiert und verinnerlicht: Aus pflichtgemäßem Handeln kann nun ein Handeln aus Pflicht werden; Kulturalität verzweigt sich in Legalität und Moralität; und an die Stelle der Sakralisierung von Konvention und Recht tritt die der Gesinnung 24 • Da die religiöse Gesinnungsethik aus der prinzipiellen Systematisierung des Gesollten entsteht, besitzt sie nicht nur ein normenintegrierendes, sondern auch ein normengenerierendes Prinzip 25. Deswegen sei die religiöse Gesinnungsethik eine Prinzipienethik: Im Gegensatz zur ritualistischen Ethik und zur Gesetzesethik, die auf stereotypisierten und unzusammenhängenden Einzelnormen basieren und als Normenethiken zu behandeln sind, setzt sie logische und spekulative Arbeit voraus, durch die eine metaphysische Dogmatik hergestellt wird26 • Außerdem sei die religiöse Gesinnungsethik schon eine Persönlichkeitsethik im strengen Sinne des Wortes: Sie verlangt ein autonomes Individuum mit praktischer Urteilskraft und heiligt eine Gesinnung des Individuums, "welche je nach der Situation verschiedene Maximen des Verhaltens sanktionieren kann, also elastisch und anpassungsfähig ist"27. Für Weber wird eine religiöse Ethik bereits mit einem autonomen "Gewissentyp" verbunden. Zusammenfassend kann man mit dem Vorschlag Schluchters28 im Rahmen der religiösen Ethik versuchen, eine religiöse Normenethik vom Charakter der ritualistischen Ethik und Gesetzesethik von einer religiösen Prinzipienethik vom Charakter der Gesinnungsethik typologisch zu scheiden, und zwar unter drei ausgewählten Aspekten: Statt konventioneller Maximen und RechtlichkeitsMaximen Sittlichkeits-Maximen (Regalaspekt) , statt pflichtgemäßen Gehorsams Gehorsam aus Pflicht (Motivationsaspekt), statt Mißbilligung oder Strafe Schuld und Scham (Sanktionsaspekt).

WuG, S. 349, Hervorhebung von mir. Schluchter, 1988, S. 221-222. 25 Schluchter, 1988, S. 222-223. 26 Schluchter. 1988, S. 223. Im Anschluß an die Theorie der moralischen Entwicklung von Lawence Kohlberg behandelt Schluchter (1979. S. 66-71) die Webersche Unterscheidung zwischen einer konventionellen und einer postkonventionellen Ethik als die Unterscheidung zwischen einer Normenethik und einer Prinzipienethik: die Gesetzesethik als Normooethik einerseits, die Gesinnungsethik als Prinzipienethik. 27 WuG, S. 349; Schluchter. 1988, S. 223. 28 Schluchter, 1988, S. 224. 2J

24

64

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

Nach Schluchter vollzieht sich der Übergang von der religiösen Normenethik zur religiösen Prinzipienethik deshalb über Prozesse der Wertrationalisierung und Moralisierung: "Von der Stereotypierung der Einzelnormen zur sinnhaften Gesamtbeziehung der Lebensführung auf ein religiöses Heilsziel, von Legalität zu Moralität. Unter dem Regelaspekt ist dies ein Prozeß der prinzipiellen Systematisierung, unter dem Motivationsaspekt ein Prozeß der radikalisierten Individuierung, unter dem Sanktionsaspekt ein Prozeß der Ersetzung oder zumindest Ergänzung der äußeren Sanktionen durch innere, der physischen durch psychische, der Fremdkontrolle durch Selbstkontrolle und Selbstzensur. Dies sind natürlich idealtypische Entwicklungskonstruktionen. Aber sie machen die Wertgesichtspunkte deutlich, unter denen Weber die innere Religionsgeschichte der verschiedenen Kulturkreise liest und vergleicht"29.

2. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie Die typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie ist uneinheitlich, weil sie sich häufig mit den Vergleichpunkten Webers ändert. Auf den ersten Blick scheint es richtig von Weber zu sein, die konfuzianische Ethik vor allem als eine Art der magischen Ethik zu behandeln. In seiner typologischen Entwicklungskonstruktion der Rationalisierung der Religion hat er den Konfuzianismus (als Gegentypus des Puritanismus) der Stufe der Magie zugerechnet: "Während der Konfuzianismus die Magie in ihrer positiven Heilbedeutung unangetastet ließ, war hier (bei dem Puritanismus) alles Magische teuflisch geworden, religiös wertvoll dagegen nur das rational Ethische geblieben: Das Handeln nach Gottes Gebot, und auch dies nur aus der gottgeheiligten Gesinnung heraus ... Die Erhaltung dieses Zaubergartens aber gehörte zu den intimsten Tendenzen der konfuzianischen Ethik "30. Beide religiösen Ethiken haben nach Weber ihre irrationale Verankerung: Die Magie bei dem Konfuzianismus und die letzlich unerforschlichen Ratschlüsse eines überweltlichen Gottes bei dem Puritanismus3l • Trotzdem versucht Weber mit zwei obenerwähnten grundlegenden Maßstäben, die Rationalisierung dieser beiden religiösen Ethiken einzustufen: Der Grad der Entmagisierung und der Grad systematischer Einheitlichkeit des "Weltbildes "32. Nach diesen Maßstäben wird die konfuzianische Ethik von Weber wegen ihrer

29

30

31 J2

Schluchter, 1988, S. 224-225, Hervorhebung von mir. RS I. S. 513. RS I, S. 527. RS I. S. 512.

2. Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie

65

ungebrochenen Gebundenheit an die Magie und die unsystematischen Konventionen bzw. Traditionen auf einer relativen niedrigen Stufe angeordnet: Die Stufe der magischen Ethik. Im Gegensatz dazu wird die puritanische Ethik

von ihm wegen ihrer konsequenten Entmagisierung und systematischen Einheitlichkeit des "Weltbildes" auf einer höchsten bzw. letzten Stufe angeordnet: Die Stufe der Gesinnungsethik 33 • Dabei hat Weber die Weltbejahung der konfuzianischen Ethik mit der Weltbejahrung der Magie gleichgesetzt34 , weil "er hier, entgegen seinem eigenen Bezugsrahmen, Religion tendenziell mit Erlösungsreligion identifiziert "35. Für Weber gilt eine solche magische Gebundenheit nicht nur für die konfuzianische "Orthodoxie", sondern noch stärker für die taoistische "Heterodoxie": "Die der Orthodoxie und Heterodoxie gemeinsame Duldung und die dem Taoismus eigene positive Pflege der Magie und der animistischen Vorstellungen haben praktisch den Fortbestand der ungeheuren Macht dieser im chinesischen Leben entschieden ... Der Taoismus war nicht nur ebenso traditionalistisch wie der Konfuzianismus, sondern, infolge seiner aliteratischen Irrationalität, weit mehr. Ein eigenes 'Ethos' aber kannte er überhaupt nicht: Zauber, nicht Lebensführung, entschieden über das Schicksal "36. Zum Schluß hat er das chinesische religiöse Weltbild insgesamt als ein magisches Weltbild behandelt: " ... Diese chinesische 'universistische' Philosophie und Kosmogonie verwandelte die Welt in einen Zaubergarten.

Jedes chinesische Märchen zeigt die Volkstümlichkeit der irrationalen Magie: Wilde, durch nichts motivierte dei ex machina durchschwirren die Welt und können alles machen; nur Gegenzauber hilft. Von der ethischen Rationalität des Wunders ist keine Rede"37. D.h. als Gegentypen zu der okzidentalen entmagisierten Erlösungsreligion (vor allem dem Puritanismus) sind die chinesischen Religionen insgesamt unveränderlich von der Magie beherrscht. Und die konfuzianische Ethik ist deshalb für ihn in erster Linie eine magische

Ethik.

Aber wenn man weiter die Webersche typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik vertiefend untersucht, kann man wieder bemerken, daß Weber seine hauptsächliche Meinung, die konfuzianische Ethik sei magische Ethik, nicht konsequent durchhält. Im Bezug auf den anderen Vergleichspunkt

Vgl. RS I, S. 512 ff. Weber hat so formuliert: "Die innere Voraussetzung dieser (konfuzianischen) Ethik der unbedingten Weltbejahung und Weltanpassung war der ungebrochene Fortbestand rein magischer Religiosität ... " (RS I, S. 515, Hervorhebung von mir). 3S Schluchter, 1983, S. 44, Hervorhebung von mir. 36 RS I, S. 481 und 485. 37 RS I, S. 484. 3J

34

66

111. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

hat er auch versucht, die konfuzianische Ethik auf der Stufe der ritualistischen

Ethik und der Gesetzesethik anzuordnen.

Wie im letzten Kapitel schon erwähnt ist, ist die endliche Entwicklung dieser beiden (puritanische und konfuzianische) Ethiken für Weber gegensätzlich: Die puritanistiche Ethik "schafft eine systematische Orientierung der Lebensführung an einem Wertmaßstab von innen heraus, der gegenüber die 'Welt' als das nach der Norm ethisch zu formende Material gilt. Der Konfuzianismus war umgekehrt Anpassung nach außen hin, an die Bindungen der 'Welt'. Ein optimal angepaßter, nur im Maße der Anpassungsbedürftigkeit in seiner Lebensführung rationalisierter Mensch ist aber keine systematische Einheit, sondern eine Kombination nützlicher Einzelqualitäten "38. Für Weber ist es ein grundlegender Kontrast zwischen der systematischen Einheit einer (von innen heraus stammenden) Lebensführung (d.h. methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes) und der unsystematischen Verbindung der verschiedenen Einzelpflichten einer (nach außen hin orientierten) Lebensweise (d.h. Leben als eine Serie von Vorgängen); es ist auch ein Kontrast zwischen der Gesamtqualität einer Persönlichkeit und der Kombination verschiedener nützlicher Einzelqualitäten 39 • Aber der Unterschied zwischen einer systematischen Einheit der Lebensführung und einer unsystematischen Verbindung der Einzelpflichten, bzw. zwischen einer Gesamtqualität der Persönlichkeit und einer Kombination der nützlichen Einzelqualitäten beziehen sich für Weber gerade die auf Unterscheidung zwischen der religiösen Gesinnungsethik einerseits, und der religiösen ritualistischen Ethik und der religiösen Gesetzesethik andererseits. Wie wir oben schon zitiert haben, ist der Übergang von der religiösen ritualistischen Ethik und Gesetzesethik zur religiösen Gesinnungsethik folgenderweise: "Sie sprengt die Stereotypierung der Einzelnormen zugunsten der 'sinnhaften' Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilsziel "40. Nach dieser Webersehen typologischen Entwicklungskonstruktion können die Gegensätze zwischen der puritanischen Ethik und der konfuzianischen Ethik wiederum unter den von Schluchter4 1 ausgewählten drei Aspekten bzw. Vergleichpunkten verdeutlicht werden:

38 39 40 41

RS I, S.520. RS I, S. 516, 518 und 521; vgl. auch RS 11, S. 373-374. WuG, S. 349. Schluchter, 1988, S. 224.

2. Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie

67

Schema: Die Gegensätze zwischen der puritanischen Ethik und der konfuzianischen Ethik unter den von Schluchter ausgewählten drei Aspekten Religiöse Ethik

Puritanische Ethik

Konfuzianische Ethik

Sittlichkeits-Maximen

(Prinzipienethik)

Konventionelle Maximen und RechtlichkeitsMaximen (Normenethik)

Gehorsam aus Pflicht (systematische Lebensführung mit einer

Pflichtgemäßiger Gehorsam (unsystematische Verbindung der

Aspekte bzw. Vergleichspunkte Regelaspekt

Motivationsaspekt

Sanktionsaspekt

Persönlichkeit)

Einzelpjlichten)

Schuld und Scham (innere Sanktion; Selbstkontrolle

(äußere Sanktion;

[Autonomie])

Mißbilligung oder Strafe Fremdkontrolle

[Heteronomie])

Damit wird die konfuzianische Ethik (als Gegentypus der puritanischen Ethik) von Weber nicht mehr in erster Linie als ein Typus der magischen Ethik behandelt. Stattdessen wird sie hauptsächlich von ihm als ein Typus der ritualistischen Ethik und der Gesetzesethik (m.a.W. den der Normenethik) angesehen. Im Vergleich zum Taoismus, der total von Magie dominiert wird und die Rolle der Massenreligiosität übernimmt, beschreibt Weber die konfuzianische Ethik als die Standesethik einer literarisch gebildeten weltlichrationalistischen Pfründnerschaft42 • Und nach Weber 43 behandeln die klassischen literarischen Bücher der Chinesen, die eng mit der Bildung des Literatenstandes zusammenhängen, trotz der systematischen Arbeit bzw. Purifikation des Konfuzius die Zeremonial- und Ritualnormen und Rechtsvorschriften völlig auf gleicher Linie. Zusammen mit den heiligen Büchern der Inder wie des Islam, der Parsen sowie der Juden werden diese Klassischen Bücher der Chinesen von Weber dem Typus der ritualistischen Ethik oder der Gesetzesethik (m.a.W. dem der Normenethik) zugeordnet44 • An mehreren Stellen hat Weber die "religiösen" Quellen des Konfuzianismus eingeschätzt. Folgenderweise kann man diese Webersche Einschätzung

42 43 44

RS I, S. 239. WuG, S. 348-9. Vgl. Schluchter, 1988, S. 223.

68

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

zusammenfassen4s : Es fehlt dem Konfuzianismus eine Erlösungsidee, eine Idee der "satanischen Macht des Bösen"46, selbst ein Wort für Religion47 ; es fehlt dem Konfuzianismus außerdem eine Metaphysik und eine Philosophie im okzidentalen Sinne, d.h. die chinesische Philosophie habe keinen "spekulativsystematischen Charakter", keine "fachmäßige Logik" und setze das Gleichnis an die Stelle der rationalen Argumentation48 ; und die dem Konfuzianismus zugeschriebenen klassischen Bücher seien zwar durch "eine ganz systematische Purifikation" des Konfuzius ins Ethische gewendet worden, aber sie machen keinen Unterschied zwischen den Zeremonial- und Ritualnormen einerseits, den Rechtsnormen andererseits; der Sprung zu einer Gesinnungsethik, welcher die "Stereotypierung der Einzelnormen zugunsten der' sinnhaften' Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilsziel " sprengt, habe beim Konfuzianismus nicht stattgefunden49 . Darüber hinaus geht dieser Webersche idealtypische interkulturelle Vergleich weiter. Bei dem abgeleiteten sozialethischen Aspekt ist für Weber der Gegensatz zwischen diesen beiden Ethiken auch deutlich: Während die konfuzianische Ethik die Menschen höchst absichtsvoll in ihren naturgewachsenen persönlichen Beziehungen (vor allem Fünf-Beziehungen) beläßt und die durch solche FünfBeziehungen geschaffenen menschlichen Pietätspflichten verklärt, sind bei der puritanischen Ethik allzu intensive, kreaturvergöttemde Beziehungen zu Menschen rein als solchen unbedingt zu meiden50 • Wie wir im letzten Kapitel schon dargestellt haben, gilt es nach Weber dem Puritanismus die Versachlichung und Verunpersönlichung der sozialen Beziehungen (ohne Ansehen der Person) und die Überwindung des Dualismus zwischen Binnen- und Außenmoral. Im Gegensatz dazu gilt es dem Konfuzianismus die Verpersönlichung der sozialen Beziehungen (in Ansehen der Person) lind die Erhaltung des Dualismus zwischen Binnen- und AußenmoralsI. Dabei hat Weber tendenziell und implizit den Gegensatz zwischen der puritanischen Ethik und der konfuzianischen Ethik als den Gegensatz zwischen einer universalistischen Gesinnungsethik einerseits, und einer partikularistischen ritualisitschen Ethik und Gesetzesethik andererseits: Der Gehungsbereich der puritanischen Ethik (einer Gesinnungsethik) sei universalistisch, weil ihrer Geltung ein systematisiertes Prinzip zugrunde liege (Prinzipienethik); im Gegensatz dazu sei der Gehungsbereich der konfuzianische Ethik (einer rituali-

., Schluchter, 1983, S. 32. RS I, S. 490. 47 RS I, S. 432. 48 RS I, S. 415-416. 49 Vgl. RS I, S. 348-349; Schluchter, 1983, S. 32. 50 RS I, S. 527. " RS I, S. 527. 46

2. Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie

69

stischen Ethik und Gesetzesethik) partikularistisch, weil ihre Geltung auf den unsystematischen Normen basiere (Normenethik)52. Zusammenfassend ist die typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie uneinheitlich, weil sie sich häufig mit den Vergleichspunkten Webers ändert. Wenn Weber die zwei obenerwähnten grundlegenden Maßstäbe (der Grad der Entmagisierung und der Grad systematischer Einheitlichkeit des "Weltbildes") als Vergleichspunkte behandelt und versucht, die Rationalisierung dieser beiden religiösen (konfuzianische und puritanische) Ethiken einzustufen, wird die konfuzianische Ethik von ihm wegen ihrer ungebrochenen Gebundenheit an die Magie und die unsystematischen Konventionen bzw. Traditionen ohne weiteres auf einer relativ niedrigen Stufe angeordnet: Die Stufe der magischen Ethik. Dagegen wird die puritanische Ethik von ihm wegen ihrer konsequenten Entmagisierung und systematischen Einheitlichkeit des "Weltbildes" auf einer höchsten bzw. letzten Stufe angeordnet: Die Stufe der Gesinnungsethik. Aber wenn Weber seine Vergleichspunkte wechselt und sich auf den Unterschied zwischen einer systematischen Einheit der Lebensführung und einer unsystematischen Verbindung der Einzelpflichten und den zwischen einer Gesamtqualität der Persönlichkeit und einer Kombination der nützlichen Einzelqualitäten konzentriert, ordnet er plötzlich die konfuzianische Ethik nicht mehr auf der Stufe der magischen Ethik, sondern eine Stufe höher, auf der Stufe der religiösen ritualistischen Ethik und der religiösen Gesetzesethik, an. Die konfuzianische Ethik wird wegen ihrer unsystematischen Verbindung der Einzelpflichten und ihrer Kombination der nützlichen Einzelqualitäten von ihm als ein Typus der ritualistischen Ethik und der Gesetzesethik angesehen. Dagegen wird die puritanische Ethik wegen ihrer systematischen Einheit der Lebensführung und ihrer Gesamtqualität der Persönlichkeit von ihm nach wie vor als ein Typus der Gesinnungsethik angesehen. Und wenn Weber darüber hinaus ihren sozialethischen Geltungsbereich berücksichtigt, hat er tendenziell und implizit den Gegensatz zwischen diesen bei den Ethiken zusätzlich als den Gegensatz zwischen einer universalistischen Gesinnungsethik beim Puritanismus und einer partikularistischen ritualistischen Ethik und Gesetzesethik beim Konfuzianismus behandelt. Die typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik in der Weberschen Religionssoziologie ist deswegen uneinheitlich: Mal als Typus der magischen Ethik, mal als Typus der ritualistischen Ethik und der Gesetzesethik und zusätzlich als Typus der partikularistischen Ethik angeordnet. Von heute aus

52

6 Lin

Vgl. Schluchter, 1979, S. 70-72; ders., 1983, S. 32.

70

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

betrachtet ist diese Webersehe typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik insgesamt in mehreren Aspekten unzutreffend und einer Korrektur bedürftig. Nachdem wir im letzten Kapitel die (kontextualisiene) universalistische Dimension der konfuzianischen Ethik formuliert und die Webersehe Anordnung, die konfuzianische Ethik sei eine partikularistische Ethik, in Frage gestellt haben, möchten wir weiter die Webersehe Anordnung der konfuzianischen Ethik in seinen idealtypischen (typologischen) Entwicklungskonstruktionen religiöser Ethik überprüfen, d.h. in welcher Typologie kann die konfuzianische Ethik zutreffend und fraglos angeordnet werden: Magische Ethik, ritualistische Ethik und Gesetzesethik oder Gesinnungsethik. Um eine zutreffende Anordnung der konfuzianischen Ethik zu erreichen, sind die obenerwähnten drei ausgewählten Aspekte Schluchters53 zweckmäßig zu verwenden: Rege/aspekt, Motivationsaspekt und Sanktionsaspekt . Dadurch wird eine These versuchsweise vorgestellt: Die (kontextualisierte) universalistische konfuzianische Ethik und ihre Kardinaltugend Jen verlangen

ebenfalls eine systematische Lebensführung und ein Handeln aus Pflicht, wenn auch in einem andersartigen historischen und kulturellen Kontext als in ihrem eigentlichen Sinne. Zunächst werden in diesem Kapitel in ersten Linie Regelaspekt und Motivationsaspekt berücksichtigt. Der Aspekt der Sanktion wird vor allem im nächsten Kapitel untersucht.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik: Magische Ethik, Normenethik (ritualistische Ethik und Gesetzesethik) oder Gesinnungsethik? Wie gesagt bedeutet die Entstehung der konfuzianischen Ethik in China einen "philosophischen Durchbruch". Aber sie ist nicht plötzlich aufgetaucht, sondern sie ist im bestimmten Sinne auch ein Produkt der vorkonfuzianischen Tradition und in die chinesische vorkonfuzianische religiöse Ethik eingebettet. Diese Überprüfung, ob die Webersche typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik zutreffend ist, kann sich deshalb nicht nur auf die konfuzianische Ethik selbst konzentrieren. Vielmehr sollte man sie notwendigerweise auch auf die chinesische vorkonjuzianische religiöse Ethik im allgemeinen zurückführen.

" Schluchter, 1988, S. 224.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

71

a) Die chinesische vorkonjuzianische religiöse Ethik im allgemeinen Um die chinesische vorkonfuzianische religiöse Ethik zu verstehen, ist hier die Erforschung der ursprünglichen chinesischen Gotteskonzeption als ein guter Ausgangspunkt anzusehen. aa) Die religiöse "Ethik" in der Shang-Zeit (16. Jh.-ll. Jh. v.Chr.) Die Menschen, die in der Shang-Zeit (16. Jh.-ll. Jh. v.Chr.) lebten, waren sehr religiös orientiert und achteten besonders die wichtige Rolle der verschiedenen Geister für ihr umfassendes alltägliches Leben. Aufgrund der archäologischen Funde einer großen Anzahl von Orakelknochen (Weissagungen aus den Schulterblättern eines Tieres oder aus den Unterseiten des Schildkrötenschildes) können wir das religiöse und weltliche Leben der Shang gut analysieren, weil die Shang-Schreiber auf diesen Knochen eine Fülle der Fragen und Antworten darüber aufgezeichnet haben54 • Im Vergleich zu ihrer fortschrittlichen technischen Entwicklung der Bronzeware, haben die Shang eine relativ "primitive" Religion gehabt55 • Die richtige Entscheidung ihres alltäglichen Lebens wurde in erster Linie nicht von ihnen selbst bzw. ihrem Selbstbewußtsein, sondern von den verschiedenen äußerlichen Geistern bzw. Göttern durch die Weissagungen getroffen56 . Die Shang haben den Geistern von Vorfahren und Gottheiten, die mit verschiedenen Aufgaben betraut waren, regelmäßige, spezielle Opfer dargebracht, um den notwendigen Schutz für die Lebenden zu garantieren57 • Die verschiedenen Geister bzw. Götter im Shang-Pantheon bestand aus einer Mischung aus Kulturheroen, verstorbenen Vorfahren, Himmelskörpern und vielen Naturgeistern der Berge und Flüsse. Nach Hsu58 wurde die Götterwelt in der zweiten Hälfte der Shang-Zeit in ein Spiegelbild der weltlichen Regierung des Shang-Königreichs verwandelt, was der Herausbildung einer starken Monarchie entsprach. An der Spitze dieser geistigen Regierung stand ein Gott, der Ti oder Shang-ti (Gott in der Höhe) genannt wurde59 • Darunter gab es viele Naturgeister und einige mächtigen Vorfahren, die bei dem Gott Ti wohnten. Ein solches religiöses Bild wird von Elvin als Hypatotheismus

54 Hsu, Cho-yun, 1987, S. 108. " Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 15. ~6 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 15. ~7 Hsu, Cho-yun, 1987, S. 108. ~. Hsu, Cho-yun, 1987, S. 109. ~. Die Rolle des höchsten Gottes Ti in der Shang-Zeit ähnelt dem Marduk der Babyionier oder dem Zeus der Griechen (Hsu, Cho-yun, 1987, S. 109; vgl. Schwanz, 1985, S. 30-31).

6*

72

111. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

bezeichnet, der sich von Monotheismus, Monolatrie und einfachem Polytheismus unterscheidet60 • Der höchste Gott Ti regierte hauptsächlich die Natur (Wetter, Ernten usw.) und die menschlichen Angelegenheiten wie Kriege, Städtebau und das Handeln des Königs 61 . Er war eng mit dem Königshaus verbunden und vielleicht von dem Königshaus als Stammvater anerkannt. Durch das Medium skapulimantischer und plastromantischer Weissagung sprach er mit dem Königshaus und brachte ihm Glück und Unglück62 . Aufgrund der zuverlässigen Quellen findet sich kein Anhaltspunkt für ein moralisches bzw. ethisches Element in den Anforderungen des Gottes Ti: Er war eine hehre, übernatürliche Kraft und "nicht etwa ein Richter, der die Einhaltung bestimmter moralischer Anforderungen fördern sollte, denn die Orakelknochen erwähnen nichts von Strafe und Belohnung"63. Im bestimmten Sinne hat der König die Rolle des "höchsten Priesters" übernommen, der die Verehrung des Gottes Ti monopolisiert hat. Er war außerdem auch der "höchste Priester" des Ahnenkultes des Könighauses. Durch diese beiden Rollen wurde seine Legitimität sowohl für die religiöse, wie auch für die weltliche Welt verfestigt. Alle religiösen Spezialisten, z.B. Chan-jen (Wahrsager), Tsu (Priester), Wu (weiblicher Schamane), Hsi (männlicher Schmane) usw. waren wie die Schreiber, Archivar, Militär unter der Herrschaft des Königs 64 . Hier liegt der Ursprung der chinesischen charaktervollen politischen Struktur: Die Vereinigung von Regierung und Doktrin (Cheng chiao

ho-i)6S.

Wenn man nun die religiöse Welt bzw. die Gotteskonzeption in der ShangZeit nach den Webersehen typologischen Entwicklungskonstruktionen der Religion anordnet, gehört sie zutreffend zu der Stufe der Magie. Die "Welt" der Shang war ein "Zaubergarten": Es gab keine radikale Trennung von Diesseits und Jenseits und keine unüberbrückbare Kluft zwischen den Shang und den übersinnlichen Mächten (Ti, natürliche Gottheiten und Ahnen); und die Shang blieben den "Göttern" durch Weissagungen, Ritus usw. nah. Das religiöse Handeln der Shang, d.h. ihre Beziehung zu ihren "Göttern" könnte vor allem nicht "Gottesdienst", sondern "Gotteszwang" sein66 • Bei dem Gotteszwang versuchten die Shang, die Götter durch Magie zu unterwerfen oder durch Opfer als Leistungen zu dienen und nach ihren Gegenleistungen zu

60

6' 62 63

Elvin, 1987, S. 136.

Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 17.

Elvin, 1987, S. 136.

Hsu, Cho-yun, 1987, S. 109.

65

Vgl. Schwanz, 1985, S. 34-36; Küng/Ching, 1988. Schwanz, 1985, S. 36.

66

Vgl. WuG, S. 257-258.

04

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

73

verlangen. Die Zauberei und die mit ihr verbundene magische "Ethik" der Shang könnte noch kein religiöses Gesetz und die Forderung seiner Befolgung kennen67 • Insbesondere gab es bei den Anforderungen des höchsten Gottes Ti kein moralisches bzw. ethisches Element. Er war kein Geber irgendeines religiösen Gesetzes oder irgendeiner ethischen Norm. Man könnte deswegen nicht unzutreffend die religiöse "Ethik" der Shang als eine Art der magischen "Ethik" im Sinne der Webersehen typologischen Konstruktion bezeichnen. Aber man sollte auch nicht die Bedeutung der Shang-Religion für die Entwicklungsgeschichte der chinesischen Religion unterschätzen. Zumindest wurden zwei wichtigste religiöse Elemente der Shang von ihren Nachfolgern Chou übernommen und bearbeitet: Die Konzeption des höchsten Gottes Ti, die später von den Chou als "Himmel" T'ien bezeichnet wurde, und die religiösen Opferzeremonien, die eng mit den Ritensystemen Li in der Chou-Zeit (11. Jh.256 v.Chr.) zusammenhingen. Erst aufgrund dieser Basis konnten die Chou ihre eigentümliche Religion entwickeln und die Voraussetzung für den "philosophischen Durchbruch" bzw. die Entstehung des humanistisch orientierten Konfuzianismus schaffen. bb) Die religiöse Ethik in der vorkonfuzianischen Chou-Zeit (11. Jh.-551 v.Chr.) Von der Begründung der Chou-Dynastie im 11. Jahrhundert v.Chr. bis zur Geburt des Konfuzius im Jahre 551 v.Chr. war eine neue religiöse Struktur in China aus der "primitiven" Religion der Shang-Zeit entstanden. Statt des Gottes Ti ohne ethische Anforderungen trat nun ein moralischer Gott "Himmel" (T'ien). Statt der einfachen und magisch geprägten Opferzeremonien traten nun die komplizierten und ethisch geprägten Ritenssysteme Li. Die schrittweise Überwindung der Shang durch das Volk der Chou erfolgte an der Wende vom 12. zum 11. Jahrhundert v.Chr. Bei dem Prozeß der Eroberung ersetzte der Himmelsgott T'ien der Chou Schritt für Schritt den Shang-Gott Ti, genau gesagt, verschmolz mit ihm68 • Aufgrund seiner sorgfältigen Untersuchung behauptet Creel69 zunächst, daß der Himmelsgott T'ien ein eigentümlicher Gott der Chou vor ihrer Überwindung der Shang sei. Im Vergleich zu den Shang, die in ihren

Vgl. Schluchter, 1980, S. 16-17. Die Verschmelzung des Chou-Gottes T'ien mit dem Shang-Gott Ti ähnelt nach Creel (1970, S. 493) der Identifizierung des römischen Gottes Jupiter mit dem griechischen Gott Zeus; vgl. auch Hsu, Cho-yun, 1987, S. 109. 69 Creel, 1970, S. 493-506. 67

68

74

111. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

Orakel knochen sehr häufig den Gott Ti, aber den Namen T'ien fast niemals erwähnt haben, haben die Chou von Anfang an den Himmelsgott T'ien hervorgehoben. In den zuverlässigen Chou-Dokumenten (Klassisches Buch der Urkunden [Shu-ching]; Klassisches Buch der Lieder [Shih-ching]) kam das Wort Himmel (T'ien) weit häufiger vor als das Wort Ti. Um die Legitimität der neuen Chou zu sichern und die Nachkommenschaft der Shang zum Gehorsam zu überreden, wurde das Chou-Wort T'ien absichtlich mit dem Shang-Wort Ti identifiziert. Der Herzog der Chou, der später von Konfuzius als ein Weiser bezeichnet wurde, als Premierminister des Königs der Chou wirkte und bei der Eroberung der Shang eine große Rolle spielte, hat mit den Nachkommenschaften der Shang, die nach dem Machtwechsel sehr oft gegen die neue Chou-Dynastie rebellierten, gesprochen und immer wieder beabsichtigt, den Himmelsgott der Chou T'ien mit dem Höchsten Gott der Shang Ti zu identifizieren. Er hat sogar in den ChouDokumenten des "Klassischen Buches der Urkunden" (Shu-ching) einen neuen Namen benutzt, indem er die beiden Wörter (Ti und T'ien) miteinander kombiniert hat: Huang T'ien Shang Ti (erhabener Himmel, Gott in der

Höhepo.

Damit war eine aufkommende bedeutsame Vorstellung von einem Mandat des Himmels (T'ien-ming) in den Chou-Dokumenten entstanden. Die Chou, die ein kleinen Volk waren und lange im Schatten der großen und starken Shang lebten, brauchten nach der Überwindung der Shang diese neue Vorstellung, um die eigene Machtübernahme zu legitimieren. In der Propaganda der ChouDokumente bemühten sich der Herzog der Chou und die anderen Führer darum, die Nachkommenschaft der Shang davon zu überzeugen, daß sie erobert worden war, weil das Mandat des Himmels (T'ien-ming) wegen der Verderbheit des letzten Shang-Königs auf die Chou übergegangen war?!. Einmal hat der Herzog der Chou die Nachkommenschaft der Shang darüber belehrt: "Euer letzter Shang-König gab sich der Trägheit hin, verschmähte es, sich den Regierungsgeschäften zu widmen, und brachte keine reinen Opfer dar. Der Himmel (T'ien) sandte daraufhin seinen Untergang herab. ( ... ) Der Himmel (T'ien) wartete fünf Jahre, so daß seine Söhne und Enkel doch noch Herren über Völker werden möchten, aber er konnte nicht weise werden. Der Himmel suchte dann in euren zahlreichen Gebieten, rüttelte euch mit seinen Schrecken auf, um diejenigen anzustacheln, die den Himmel (T'ien) vielleicht achteten, aber in all euren vielen Gebieten gab es keinen, der es zu tun vermochte. Doch unser König Chou behandelte die Masse des Volkes gut, vermochte es, die Tugend zu pflegen und eTjUllte seine Pflichten gegenüber den Geistern und dem Himmel (T'ien). Der Himmel (T'ien) lehrte uns, begünstigte uns, erwählte uns und gab uns das Mandat (Ming) von Yin n , über eure zahlreichen Gebiete zu herrschen u73 •

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71

72

Shu-ching, S. 119; vgl. Creel, 1970, S. 501. Vgl. Elvin, 1987, S. 137. Yin ist der andere Name von Shang.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

75

In diesem Zitat wird eine moralische Verpflichtung des Himmels (T'ien) deutlich dargestellt, einen rechtschaffenen König auszuwählen, dem das Mandat (Ming) verliehen und die Pflicht auferlegt wurde, gut zu dienen74 • Und im Vergleich zum Shang-König, der niemals als "Sohn des Gottes Ti" genannt wurde, wurde der Chou-König ausdrücklich als "Sohn des Himmels" (T'ien-tzu) bezeichnet75. Der Chou-König, der Sohn des Himmels und Träger seines Mandats war, gelobte, Strafe des Himmels (T'ien1a) zu akzeptieren, wenn er nicht den Anforderungen an einen König genügen sollte, dessen Sorge der Wohlfahrt des beherrschten Volks galt 76 • Der hauptsächliche Faktor des Mandats des Himmels (T'ien-ming) , war das Volk bzw. die Wohlfahrt des Volks. Um seine Legitimität zu sichern und seine Verantwortung zu übernehmen, sollte der Chou-König als Sohn des Himmel (T'ien-tzu) in erster Linie auf die dauernde Wohlfahrt des Volks achten77 • Wenn die Wohlfahrt des Volks nicht mehr da ist, hat das Volk das von Himmel gegebene Recht, seinen König zu verlassen. Diese enge Verbindung zwischen dem Mandat des Himmels (T'ien-ming) und der Wohlfahrt des Volkes hat nicht nur das Weltbild der Shang (als Zaubergarten) durchbrochen, sondern auch eine Tradition hergestellt, die später von Konfuzius und Menzius übernommen und in ihren eigenen konfuzianischen Staatstheorien fortgesetzt wurde. Die Chou-Eroberung, die durch das Mandat des Himmels (T'ien-ming) legitimiert wurde, schaffte deswegen eine neue Möglichkeit, das von Magie und Geistern dominierte Weltbild der Shang zu überwinden und eine religiöse Transformation durchzuführen. Als Sieger waren die Chou nicht arrogant, sondern sorgfältig, m.a. W. sie verhielten sich mit einem "Bewußtsein des Bedenkens" (Yu-huan I-shih), einem Bewußtsein der Verantwortung des Menschen für sein eigenes Verhalten78 • Mit einem solchen Bewußtsein war ein ständiger Trend zur religiösen Transformation bzw. Säkularisierung entstanden. Dabei hat sich die Bedeutung des Himmels (T'ien) und des Himmelsmandats (T'ien-ming) zugleich verändert.

73 Shu-ching, S. 151, zitierte Übersetzung nach Hsu, Cho-yun, 1987, S. 110, Hervorhebung von mir. 74 Hsu, Cho-yun, 1987, S. 110. 75 Creel, 1970, S. 502. 76 Creel, 1970, S. 93-100. n Dazu hat Creel (1970, S. 94) so geschrieben: "The Son of Heaven also bore the most awesome burden of responsibility. Qnly the continued welfare of the people could justify his continued enjoyment of his power and his title. If things went wrong, it was the duty of another to overthrow hirn. A successful King would become, after his death, one of the honored royal ancestors who, in the heavens, were the arbiters of destiny. But if he failed, he would join the ranks of the execrated, constantly cited as examples of infamy". 78 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 20-24.

76

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

Wie gesagt, wurde der Chou-Himmelsgott (T'ien) mit dem Shang-Gott Ti nach dem Machtwechsel absichtlich verschmolzen. Der Himmelsgott (T'ien) hatte in diesem Sinne zwar noch den Charakterzug eines persönlichen Gottes, aber sein Mandat (Ming) war nicht ohne Bedingung. Die Unterstützung des Himmelsmandats (T'ien-ming) setzte die Pflicht des Königs, die Wohlfahrt des Volks zu begünstigen, voraus. Und der Himmelsgott (T'ien) spielte dabei vor allem die Rolle des Kontrolleurs, der den König auf seine Pflicht prüft. Er war nicht mehr unerforschlich und unerreichbar, nicht mehr ein absoluter Herrscher. Man kann durch das Verhalten des Königs bzw. das des Menschen im Diesseits das Himmelsmandat (T'ien-ming) erforschen und versuchsweise erreichen. Dabei war eine Tendenz zur Selbständigkeit des Menschen gegenüber dem Himmelsgott (T'ien) Schritt für Schritt entstanden79 • Diese enge Verbindung zwischen dem Mandat des Himmels (T'ien-ming) und dem menschlichen Verhalten schaffte eine Brutstätte für die Tendenz zur Säkularisierung und die Entwicklung zum Humanismus. Schrittweise konnte das Volk der Chou nicht mehr naiv und passiv, d.h. ohne eigene Reflexion und eigenen moralischen Beitrag, dem Himmelsgott (T'ien) absolut vertrauen, obwohl das Himmelsmandat (T'ien-ming) die Machtübernahme des ChouKönigs legitimierte. In beiden zuverlässigen Chou-Dokumenten (Klassisches Buch der Urkunden [Shu-ching]; Klassisches Buch der Lieder [Shih-ching]) tauchte langsam ein Gedanke auf: Da es kein ewiges Himmelsmandat (T'ienming) gab, konnte man nicht ganz dem Himmelsgott (T'ien) vertrauen BO • Mit diesem Gedanken tendierten die Chou dazu, eine innerweltliche moralische Orientierung zu entwickeln. Dabei wurde Religion mit Moral, religiöse Ethik mit sozial-politischer Ethik eng verbunden. Und die Autorität des Himmelsgottes (T'ien) als einem persönlichen Gott wurde dadurch zugleich erschüttert. Eine Transformation des Charakterzugs des Himmelsgotts (T'ien) vom Persönlichen ins Unpersönliche hatte in den ersten beiden Phasen der Chou-Zeit (11. Jh.-256 v.Chr.), d.h. die Westliche Chou-Zeit (11. Jh.-771 v.Chr.) und die "Frühling-Herbst-Periode" (Ch'un-ch'iu-Periode, 770-476 v.Chr.), nach und nach stattgefunden. Im Prinzip kann man feststellen, daß eine solche Transformation vor dem Jahre des Geburts des Konfuzius (551 v. Chr.) vollständig durchgeführt worden war. Nach seiner sorgfältigen Untersuchung der Westlichen Chou-Dokumenten (vor allem des Klassischen Buches der Lieder [Shih-ching]) hat der modeme Neo-Konfuzianer HSÜ 81 behauptet, die Autorität des Himmelsgotts (T'ien) sei in der Westlichen Chou-Zeit (11. Jh.-771 v.Chr.) Schritt für Schritt in

79 80 81

Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 24. Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 25-26. Hsü, FU-kuan, 1963, S. 36-62.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

77

Niedergang geraten und sein Charakterzug tendenziell vom Persönlichen ins Unpersönliche transformiert worden. Im Klassischen Buch der Lieder (Shihching) tauchte das Wort Himmel (T'ien) etwa 148 mal auf. In über 80 Fällen bezog sich das Wort Himmel (T'ien) auf den persönlichen höchsten Gott, darin enthalten waren die Lieder sowohl aus der frühen als auch der späten Westlichen Chou-Zeit. In den Liedern, die aus der frühen Westlichen ChouZeit (z.B. Eroberungsphase usw.) waren, wurde der persönliche Himmelsgott (T'ien) von den Chou mit ganzem Herzen verehrt. In den Liedern, die aus späten Westlichen Chou-Zeit waren, verlor der selbe Himmelsgott (T'ien) tendenziell seine Autorität: In den Liedern aus der Zeit des Königs Li (878-828 v.Chr.) begann man, seine Autorität und sein Mandat zu bezweifeln; in den Liedern aus der Zeit des letzten Königs Yu (781-771 v.Chr.) glaubte man nicht mehr an die Autorität des Himmelsgotts (T'ien) und das von ihm gegebene Mandat (T'ien-ming)82. Folgenderweise hat der moderne Neo-Konfuzianer HSÜ 83 diese Transformation zusammenfassend erläutert: Obwohl man in der frühen Westlichen Chou-Zeit oft die Wörter Ti (Gott in der Höhe), T'ien-ming (Himmelsmandat) und T'ien (Himmelsgott) wechselweise verwandte, war aber die Bedeutung des persönlichen Gottes bei dem Wort Ti (Gott in der Höhe) am größten, bei dem Wort T'ien-ming (Himmelsmandat) etwas weniger und bei dem Wort T'ien (Himmelsgott) am wenigsten; Schritt für Schritt wandelte sich in der späten Westlichen Chou-Zeit das Wort T'ien-ming (Himmelsmandat) in das gesetzmäßige Himmelsmandat und sogar in das objektive Schicksal (Ming) um, und der Himmelsgott (T'ien) in die natürliche Himmelsmacht bzw. die gesetzmäßige Himmelsmacht, d.h. am Ende der Westlichen Chou-Zeit transformierte sich der persönliche Himmelsgott (T'ien) in eine unpersönliche Himmelsrnacht mit Natürlichkeit und Gesetzlichkeit. Zu der Verunpersönlichung des Himmelsgotts in der Chou-Zeit hat Weber im Prinzip zutreffend bemerkt: "Mit Entwicklung des vornehmen Heldentums entstand offenbar auch in China, wie meist, ein persönlicher Himmelsgott, etwa dem hellenischen Zeus entsprechend, vom Gründer der Tschou (Chou)Dynastie zusammen mit dem Lokalgeist in dualistischer Verbindung verehrt ... Der, wie überall, so auch hier, animistisch-naturalistisch schillernde Charakter der Geister, vor allem des Himmelsgeistes (Schang-ti [Shang-tiD, der sowohl als der Himmel selbst wie als Himmelskönig vorgestellt werden konnte, wendete sich nun aber in China, gerade bei den mächtigsten und universellsten von ihnen, immer mehr ins Unpersönliche, genau umgekehrt wie in Vorderasien, wo über die animistisch-halbpersönlichen Geister und die

.2 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 37-40. " Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 39-40.

78

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

Lokalgottheit sich der persönliche übenveltliche Schöpfer und königliche Regent der Welt heraushob"84. Für Weber dauert diese Verunpersönlichung des Himmelsgotts nicht nur in der Chou-Zeit (er meint, 9.-3. Jh. v.Chr.) an, sondern bis ins 12. Jahrhundert n.Chr., d.h. bis der Zeit des Neo-Konfuzianers Tsche Fu Tse (Chu Fu-tzu, Chu Hsi), der von Weber als ein Materialist angesehen wird 8S • Er hat diese Entwicklung Chinas mit der in Vorderasien, insbesondere mit der in Altisrael verglichen86 • In China wird wie in Altisrael der magische Ausgangspunkt ins Ethische umgewandelt. Aber anders als in Altisrael entsteht daraus in China kein persönlicher, ethischer Gott, sondern eine unpersönliche, ethische Himmelsmacht, die eine ewige Ordnung schützt, die Himmlisches und Weltliches umfaß t87 • Obwohl die Konzeption einer höchsten unpersönlichen Himmelsmacht die Aufnahme von personalisierten Geistern und Göttern in ein "Pantheon" nicht endlich ausschließt, zwingt die Webersche Behandlung der konfuzianischen "religiösen" Quellen trotzdem, wie Schluchter88 richtig formuliert, zu der Folgerung, der Konfuzianismus sei nicht magisch, sondern ethisch verankert. Wie unsere obige Darstellung zeigt, gilt diese Folgerung nicht nur für den Konfuzianismus, sondern schon für die vorkonfuzianischen religiösen Quellen der Chou-Zeit. Wenn man nun die Gotteskonzeption bzw. die religiöse Ethik in der vorkonfuzianische Chou-Zeit nach der Weberschen typologischen Entwicklungskonstruktionen der Religion anordnet, gehört sie zutreffend zum Stadium der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik. Wie der obenerwähnte modeme Neo-Konfuzianer HSÜ 89 dargestellt hat, wandelte sich das Wort T'ien-ming (Himmelsmandat) Schritt für Schritt in der späten Westlichen Chou-Zeit in das gesetzmäßige Himmelsmandat; und arn Ende der Westlichen Chou-Zeit transformierte sich der persönliche Himmelsgott (T'ien) in eine unpersönliche Himmelsmacht mit Natürlichkeit und Gesetzlichkeit. Die Betrachtung von Hsü

84 RS I, S. 300, Hervorhebung von mir . ., RS I, S. 301, 319 und 459. S. RS I, S. 298-313. 01 RS I, S. 306-307; Schluchter, 1983, S. 33. Weber schreibt: " ... beide: die Naturgesetze und die Ritualgesetze in Eins setzend und nun an diese Einheit des 'Tao' anknüpfend, das Zeitlose, Unabänderliche zur religiös höchsten Macht erhob. Nun wurde statt eines überweltlichen Schöpfergottesein übergöttiiches, unpersönliches, immer sich gleiches, zeitlich ewiges Sein, welches zugleich ein zeitloses Gelten ewiger Ordnungen war, als letztes und höchstes empfunden" (RS I, S. 306-307). Diese Beschreibung gilt im Prinzip nicht nur für den Konfuzianismus, sondern auch für die vorkonfuzianischen religiösen Quellen der Chou-Zeit. 88 Schluchter, 1988, S. 33-34. 89 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 39-40.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

79

stimmt mit der von Weber überein: " ... beide: die Naturgesetze und die Ritualgesetze in Eins setzend und nun an diese Einheit des 'Tao' anknüpfend, das Zeitlose, Unabänderliche zur religiös höchsten Macht erhob"90. Für Weber bestimmen Rechtlichkeits-Maximen die Lebensführung des Einzelnen in dem Stadium der Gesetzesethik und der ritualisitschen Ethik91 : Die bei den schaffen nämlich eine religiöse Basis für das "gesamte Gebiet der Rechtsordnung und der Konventionen "92; es gibt bei ihnen Stereotypierung der Einzelnormen (ohne prinzipielle Systematisierung) und äußere Garantie (ohne Verinnerlichung), d.h. "Zeremonial- und Ritualnormen und Rechtsvorschriften völlig auf gleicher Linie" zu behandeln93 ; erst mit dem Übergang zur religiösen Gesinnungsethik werden ethische Normen verselbständigt, systematisiert und verinnerlicht. Wenn wir die religiöse Ethik der vorkonfuzianischen Chou-Zeit vertiefend erforschen, können wir mit Sicherheit feststellen, daß sie zum Stadium der Normenethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) gehörte. Dabei spielt der Begriff Li (Ritensystemen, Zeremonial- und Ritualnormen) neben der Chou-Gotteskonzeption T'ien (Himmel) eine entscheidende Rolle. Wie obendargestellt, haben die Chou zumindest zwei wichtige religiöse Elemente von ihren Vorgängern (den Shang) übernommen und bearbeitet: Die Konzeption des höchsten Gottes Ti, die später von den Chou als "Himmel" T'ien bezeichnet wurde, und die religiösen Opferzeremonien, die eng mit den Ritensystemen Li in der Chou-Zeit (11. Jh.-256 v.Chr.) zusammenhingen. Nachdem wir die Transformation der Konzeption des Himmels (T'ien) diskutiert haben, sind nun die Ritensysteme der Chou (Li) notwendigerweise zu behandeln. Wie gesagt waren die Chou als Sieger nicht arrogant, sondern sorgfältig, m.a.W. sie verhielten sich mit einem "Bewußtsein des Bedenkens" (Yu-huan I-shih) , einem Bewußtsein der Verantwortung des Menschen für sein eigenes Verhalten94 • Mit einem solchen Bewußtsein war ein ständiger Trend zur religiösen Transformation bzw. Säkularisierung entstanden. Dabei hat sich nicht nur die Bedeutung des Himmels (T'ien) und des Himmelsmandats (T'ienming) verändert, sondern auch die Bedeutung des Begriffs Li erweitert. In der Shang-Zeit (16. Jh.-ll. Jh. v.Chr.) bedeutet die Vorform des Begriffs

Li eigentlich Gefäß für religiöse Opferzeremonien. Nach ihrer Eroberung der Shang haben die Chou nicht nur die Herrschaft, sondern auch die Opferzere-

90

RS I, S. 306-307. Hervorhebung von mir.

91

Schluchter, 1988, S. 221.

WuG, S. 348. WuG, S. 348. 94 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 20-24. 92

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80

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

monien der Shang übernommen. In den Westlichen Chou-Dokumenten des Klassischen Buches der Urkunden (Shu-ching) tauchte das Wort Li etwa 4 mal auf. Von diesem Kontext aus gesehen, bezogen sie sich alle auf die von Shang übernommenen religiösen Opferzeremonien95 , d.h. am Anfang der Westlichen Chou (11. Jh.-771 v.Chr.) bedeutete das Wort Li nicht nur Gefaß für religiöse Opferzeremonien, sondern war auch die Bezeichnung dieser Opferzeremonien selbst. Das war die erstmalige Erweiterung der Bedeutung des Begriffs Li. In dem Klassischen Buch der Lieder (Shih-ching) wurde das Wort Li 9 mal gefunden. In den Liedern, die aus bis Mitte der Westlichen Chou-Zeit entstanden waren, bezog sich das Wort Li noch auf die religiösen Opferzeremonien. Im Gegensatz dazu bezog sich das Wort Li in den Liedern, die in der späten Phase der Westlichen Chou-Zeit entstanden waren, nicht nur auf die religiösen Opferzeremonien, sondern auch auf die alltäglichen Riten im allgemeinen, welche die politische, rechtliche und insbesondere sozialethische Dimension usw. umfaßten96 • D.h. am Ende der Westlichen Chou-Zeit wurde die Bedeutung des Begriffs Li nochmals erweitert: Tendenziell wurde der Begriff Li nicht mehr nur auf die religiösen Opferzeremonien, sondern vor allem auf ein verweltlichtes normatives Ritensystem bezogen. Am Ende der Westlichen Chou-Zeit hat sich das Ritensystem (Li bzw. LiChih) zu einem großen Komplex entwickelt, der in den klassischen Büchern protokolliert wird: Riten der Chou (Chou-li), Buch der moralischen Riten (I-li) und Buch der Riten (Li-gi [Li-chi]). Innerhalb dieser Klassischen Bücher werden die Einzelheiten der verschiedenen Riten dargestellt, z.B. das Verfahren jeden Ritus, des notwendigen Gefaßes und die bestimmten Benennungen jedes Teilnehmers usw. 97 Das Ritensystem (Li-chih) manifestiert eine konventionelle und sittliche Tradition, die hauptsächlich alle Lebensordnung kontrolliert und alle Menschen festbindet. Wie obenerwähnt hat eine Verunpersönlichung bzw. Säkularisierung des Himmelsgotts (T'ien) am Ende der Westlichen Chou-Zeit stattgefunden. Neben dieser Transformation der Gotteskonzeption wurde in derselben Zeit parallel eine ähnliche Humanisierung bzw. Verweltlichung der religiösen Opferzeremonien (Li) durchgeführt. Schließlich wurden diese beiden Transformationen Schritt für Schritt vereinigt: Die himmlischen "Naturgesetze" wurden mit den weltlichen "Ritualgesetzen " in Eins gesetzt. M.a.W. es gibt keinen Unterschied zwischen der vom Himmel (T'ien) gegebenen "Gesetzesethik" und der

., Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 42-43 . .. Ygl. Chang, Tuan-sui, 1989, S. 117-118; Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 45-47 . • 7 Hwang, 1988, S. 143.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

81

überlieferten "ritualistischen Ethik" des Menschen (Li)98. Diese Vereinigung wurde folgenderweise dargestellt: "Li ist das Prinzip des Himmels (T'ien), Richtlinie der Erde und Weg des Menschen"··.

In diesem Sinne bedeutete der Begriff Li am Ende der Westlichen Chou-Zeit nicht nur das Prinzip der natürlichen Ordnung (die von Himmel gegebene "Gesetzesethik"), sondern auch den Weg des Menschen (die überlieferte "ritualistische Ethik" des Menschen). Wie die Transformation der Bedeutung des Begriffs Himmel (T'ien) hatte die Erweiterung der Bedeutung des Begriffs Li in den ersten beiden Phasen der Chou-Zeit (11. Jh.-256 v.Chr.), d.h. der Westlichen Chou-Zeit (11. Jh.-771 v.Chr.) und der "Frühling-Herbst-Periode" (Ch'un-ch'iu-Periode, 770-476 v.Chr.), nach und nach stattgefunden. Im Prinzip kann man feststellen, daß eine solche Erweiterung der Bedeutung des Begriffs Li in den Jahren vor der Geburt des Konfuzius (551 v.Chr.) vollständig durchgeführt worden war. Der moderne Neo-Konfuzianer Hsü 100 hat deswegen die "Frühling-HerbstPeriode" (Ch'un-ch'iu-Periode, 770-476 v.Chr.) als eine humanistische Zeit bezeichnet, die in erster Linie auf dem Ritensystem (Li bzw. Li-Chih) basierte. Durch die beiden gleichzeitigen Entwicklungen, d.h. die Verunpersönlichung des Himmelsgotts (T'ien) und die Erweiterung der Bedeutung des Begriffs Li, kann man mit Sicherheit feststellen, daß sich die religiöse Ethik in der vorkonfuzianischen Chou-Zeit (11. Jh. -551 v. Chr.) Schritt für Schritt zum Stadium der Normenethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) entwickelte. b) Die konfuzianische Ethik: Magische Ethik, Normenethik (ritualistische Ethik und Gesetzesethik) oder Gesinnungsethik? Im letzten Kapitel haben wir schon die Lehre des Konfuzianismus im allgemeinen und die Charakterzüge der Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit) des Konfuzius behandelt. Hier brauchen wir keine solche Untersuchung nochmals im einzelnen wiederholen. Wir wollen vielmehr das Ergebnis des letzten Kapitels kurz zusammenfassen und aufgrund unserer bisherigen Untersuchung weiter fragen, welchem Stadium der Weberschen Typologie der religiösen Ethik die konfuzianische Ethik zutreffend zugerechnet werden kann. Der Zusammenbruch des Feudalsystems und der sozialen Ordnung in der Westlichen Chou-Zeit (11 Jh.-771 v.Chr.) ist die hauptsächliche Ursache der Entstehung und der Blüte der chinesischen Philosophien. Um die ursprüngliche

Vgl. Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 52. Tso-chuan, Chau-Herzog 25. Jahr, S. 1256. 100 Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 36-62.

9.

99

82

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

Ordnung der Westlichen Chou-Zeit zu rekonstruieren und den wahren Weg wiederzufinden, hat Konjuzius (551-479 v.Chr.) neben anderen während der "Achsenzeit" Chinas seinen eigenartigen "philosophischen Durchbruch" vollzogen und den einflußreichen lu-chia (lu-Schule, Konfuzianismus) begründet. In der vorkonfuzianischen Zeit hat sich der Begriff lu auf eine Gruppierung des Berufs bezogen, die für die Riten (Li) in der ursprünglichen Ordnung zuständig ist lO1 • Am Anfang der Chou-Zeit hat das System der Riten (Lichih) die politische Ordnung und gesellschaftliche Lebensweise klar reguliert und festgelegt. lu bedeutet der "Fachmann der Riten (Li)", Konfuzius und seine Schüler haben sich eng an die Tradition des "Fachmanns der Riten" angelehnt. Aber das System der Riten (Li-chih) ist gleichzeitig mit dem Zusammenbruch des Feudalsystems der Chou-Zeit schon vor der Geburt des Konfuzius zerfallen. Das Zerfallen des ganzen Ritensystems bedeutet katastrophales Chaos und unruhige Anomie. Um das Zerfallen des Ritensystems zu bekämpfen und der sozialen Unordnung zu begegnen, hat Konfuzius nicht nur die überlieferten Riten (Li) wieder systematisiert und eine neue Deutung gegeben und die Gruppierung des Fachmanns der Riten (lu) von dem traditionalen Rahmen befreit, sondern er hat auch eine neue humanistische Schule lu-chia (lu-Schule, Konfuzianismus) begründet. Als ein Fachmann des Li hat Konfuzius immer wieder den Zerfall des gesamten Systems der Riten (Li bzw. Li-chih) bedauert und mit seiner ganzen Kraft appelliert, das gesamte System der Riten (Li-chih) der Chou wieder aufzubauen. Obwohl sein Bemühen um die Wiederbelebung des Ritensystems (Lichih) in seiner Zeit (551-479 v. Chr.) erfolglos ist, hat er trotzdem eine neue humanistische Fassung des Begriffs Li dargestellt und den Begriff Li mit anderen wichtigen Begriffen, z.B. dem Jen (Menschlichkeit), dem I (Gerechtigkeit), dem Hsiao (Gehorsam) usw. miteinander verbunden und eine umfassende moralische Philosophie konstruiert. Um die Krise seiner Zeit zu überwinden und eine allgemeine Ordnung wieder herzustellen, hat Konfuzius eine rein traditionalistische Stellungnahme bzw. passive Befolgung des formalen Verfahrens des Ritensystems als ungenügende Handlung betrachtet. Vielmehr möchte er aktiv das überlieferte Ritensystem (Li bzw. Li-chih) der Chou wieder aufbauen, indem er ihm eine humanistische materiale universalistische Grundlage verleiht. Damit wurde wiederum eine beeindruckende Umdeutung des Begriffs Li durchgeführt, dieses Mal von Konfuzius.

101

Lao, 1981, S. 48-52.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

83

Wie seine Vorgänger hat er den Begriff Li nicht nur als religiöse Riten, sondern auch als ein normatives Regelsystem betrachtet, das die gesamte soziale und politische Ordnung reguliert. Aber für ihn ist die hauptsächliche Grundlage von Li nicht mehr der Himmel (T'ien), sondern das Selbstbewußtsein des Menschen. Die Bedeutung von Li wird vor allem als "Schicklichkeit" des Menschen behandelt. Damit beginnt seine eigene Theorie von Jen (Menschlichkeit), I (Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit) und Li (Schicklichkeit), d.h. seine Gelehrtenschule Ju-chia (Konfuzianismus) 102. Einmal hat Konfuzius seinen Sohn (Kung kwei) danach gefragt: "Hast du dich mit den Riten (Li) vertraut gemacht?" Auf das "Noch nicht" seines Sohnes erwiderte er: "Wer diese Regeln (Li) nicht kennt, hat nichts, woran er sich halten kann" 103. Hier wird Li deutlich als grundlegende soziale Norm behandelt. Li bestimmt und reguliert das richtige Verhalten jeder sozialen Rolle. Durch diese Tätigkeit (d.h. jede soziale Rolle zu bestimmen) hat Li die Funktion der sozialen Kontrolle durchgesetzt. Ohne genaue Kenntnisse des Li kann jeder Mensch nicht seine richtige soziale Rolle finden und spielen. Aber Konfuzius hat Li nicht einseitig, d.h. nur als ein sozial gegebenes und etwa formalisiertes normatives Regelsystem betrachtet, das die verschiedenen sozialen Rollen reguliert. Vielmehr hat er konsequent versucht, die materiale moralische Grundlage von Li herzustellen. Dabei wird die Verbindung zwischen Li und I (Gerechtigkeit), insbesondere die zwischen Li und Jen (Menschlichkeit), von Konfuzius hervorgehoben. Für ihn ist zunächst die Verbindung zwischen I (Gerechtigkeit) und Li unentbehrlich für einen idealen Gentleman (Kiun-tse, Chün-tzu) 104. Er behandelt I (Gerechtigkeit) als eine materiale Grundlage von Li: Die Grundlage von Li ist nicht mehr Sitte oder Tradition, sondern das menschliche Selbstbewußtsein für Gerechtigkeit (1)105. Dadurch ist Li eine kulturelle Ordnung, die nicht mehr auf dem Himmel (T'ien) oder der Natur, sondern auf dem menschlichen Bewußtsein beruht lO6 • Eine Unterscheidung im Sinne Hegels zwischen "Sittlichkeit" (den hergebrachten Sitten zu leben) und "Moralität" (Leben mit Reflexion und Subjektivität) wird von Anfang an von Konfuzius abgelehnt 107.

Vgl. Lao, 1981, S. 58. Lun-yü, XVI, 13, S. 124-125. 104 "Konfuzius sprach: 'Das Wesen des Gentlemans ist die Gerechtigkeit (I). Er folgt den Regeln des Anstandes und der Schicklichkeit (Li). Er ist bescheiden in seinen Worten. Er ist aufrichtig in seinem Verhalten. Fürwahr, so ist ein Gentleman'" (Lun-yü, XV, 18, S. 117). 10' Lao, 1981, S. 62. 106 Lao, 1981, S. 64. 107 Vgl. Roetz, 1992, S. 72-73. 102

103

84

111. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

Für Konfuzius sind sie nicht gegensätzlich, sondern integrierbar 108 • Um eine Synthese dieser beiden Dimensionen durchzusetzen, verbindet Konfuzius Li (Riten) im nächsten Schritt mit seiner Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit). Der Begriff Jen ist der Kernpunkt der Lehre des Konfuzius. Während die vorkonfuziansiche Literatur dem Begriff Li (Riten) den ersten Rang einräumten, hat Konfuzius in seiner Lehre den Begriff Jen (Menschlichkeit) als seine Kardinaltugend hervorgehoben. In diesem Buch "Lun-yü" (Gespräche) ist der Begriff Jen am häufigsten aufgetaucht (l05 mal). Er ist die Gesamtheit der Tugenden verschiedener Art: Menschlichkeit, Liebe, Familienliebe, Mitleid, Achtung des anderen, Selbst-Kultivierung und Reziprozität, Sittlichkeit usw. Man kann Jen als einen Begriff der persönlichen Moral und Li als einen Begriff der sozialen Normen betrachten. Der Begriff Jen wird von Konfuzius als die persönliche moralische Basis für die sozialen Normen (Li) bezeichnet. Und diese Kardinaltugend Jen hängt sehr eng mit dem sozialen Träger, dem von Konfuzius hervorgehobenen "Gentleman" (Chün-fzu) oder Intellektuellen (Shih), zusammen. Zusammenfassend wird der Begriff Jen (Menschlichkeit) von Konfuzius zunächst als universale und fundamentale Tugend angesehen. In der vorkonfuzianischen Literatur wird der Begriff Jen vor allem als eine partikulare Tugend (Güte) unter vielen behandelt. Bis zur Zeit des Konfuzius gibt es keine universale und fundamentale Tugend in China, aus der sich die anderen partikularen Tugenden ableiten können. Erst in der Lehre des Konfuzius wird die elementare Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit) dargestellt und aufgrund dieser Basis eine systematische humanistische Moralphilosophie konstruiert. Zweitens umfaßt der Begriff Jen für Konfuzius zwei gegenseitig eng verbundene Dimensionen: Innerliche, subjektive Selbst-Kultivierung und äußerliche, objektive Sozialbezogenheit. Diese beiden Dimensionen hängen eng zusammen und sind miteinander untrennbar verbunden. In bestimmten Sinne kann man die Synthese dieser beiden Dimensionen als den fundamentalen Charakterzug des Konfuzianismus bezeichnen. Für Konfuzius kann kein Mensch ohne genaue Kenntnisse des Li seine richtige soziale Rolle finden und spielen. Der Begriff Jen bedeutet keine passive Anpassung an die gegebenen Normen der sozialen Rolle, sondern eine

10. Zutreffend hat Roetz (1992, S. 73) formuliert: "Der Konfuzianismus strebt, wie auch Hegel selbst, eine Synthese von beiden an. Sein ganzes Unternehmen besteht darin, die brüchig gewordene Sittlichkeit mit den Mitteln der Moralität, also auf dem Wege einer reflektierten Internalisierung der Moral, neu zu festigen".

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

85

aktive Teilnahme daran 109 • Und die Begründung dieser aktiven Teilnahme ist, sich selbst zu überwinden und zu kultivieren. Dabei wird der Begriff Jen von dem Wissenschaftler der Geistesgeschichte vor allem als "persönliche, innerliche Moral" behandelt. Aber Jen ist nicht nur die moralische, sondern auch die ontologische Basis für eine innerliche, subjektive Selbst-Kultivierung. Statt einen persönlichen Gott im transzendenten Sinne zu akzeptieren, fügen die Konfuzianer (insbesondere die Neo-Konfuzianer) deswegen der "Subjektivität" von Jen, die funktionell und substantiell im Prozeß von SelbstEntscheidung-Treffen ist, eine transzendente und religiöse Dimension hinzu. Max Weber hat die Bedeutung einer immanenten, innerweltlichen Transzendenz oder Selbsttranszendenz für den Konfuzianismus verkannt, da er in der Vorstellung einer religiösen Transzendenz im jüdisch-christlichen Sinne verankert ist. Gerade im Konfuzianismus manifestiert sich eine eigentümliche Transzendenz, die auf keinem überweltlichen "archimedischen Punkt" basiert. Um Menschlichkeit (Jen) zu verwirklichen, muß man nicht nur sein Selbst kultivieren, sondern dadurch auch alle möglichen menschlichen Beziehungen und die gesellschaftliche Ordnung regulieren. Etymologisch gesehen bedeutet Jen "zwei" und "Mensch". Man kann deswegen den Begriff Jen auch etwas weiter mit "Mitmenschlichkeit" (Ko-Humanität) übersetzen. Dabei wird der Begriff Jen (Mitmenschlichkeit) vor allem als die sozial ethische Grundlage für alle menschlichen Beziehungen behandelt. Und ein Mensch wird nicht als Individuum, sondern vor allem als "Mitmensch" betrachtet. In diesem Sinne wird der chinesische Mensch nicht von einem Gott als Individuum erschaffen, sondern in eine Gesellschaft von Menschen als Mitmensch geboren. Wenn der Begriff Jen nicht in erster Linie als persönliche Tugend, sondern als sozialethische Kardinaltugend behandelt wird, wird er meistens mit dem Begriff Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme) gleichgesetzt. In diesem Sinne werden die vom Konfuzianismus betonten "Fünf-Beziehungen" (Wu-lun) vor allem als die auf der Kardinaltugend Jen bzw. Shu basierenden fundamentalen reziproken Sozialbeziehungen verstanden. Hier muß man klar feststellen, daß nicht das Prinzip von "Pietät" (Webers Übersetzung von Hsiao [Gehorsam]), sondern das Prinzip der "Reziprozität" (Shu bzw. Jen) vom Konfuzianismus als Grundlage aller sozialen Beziehungen anerkannt wird. Nachdem wir die Umdeutung des Begriffs Li und die Hervorhebung der Kardinaltugend Jen von Konfuzius kurz zusammenfaßt haben, wollen wir

109

7 Lin

Tu, 1979, S. 6.

86

III. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

aufgrund bisheriger Untersuchung weiter fragen, welchem Stadium der Weberschen Typologie der religiösen Ethik die konfuzianische Ethik zutreffend zugerechnet werden kann. Nach dem Vorschlag Schluchters llO kann man im Rahmen der religiösen Ethik versuchen, eine religiöse Normenethik vom Charakter der ritualistischen Ethik und Gesetzesethik von einer religiösen Prinzipienethik vom Charakter der Gesinnungsethik typologisch zu unterscheiden, und zwar unter drei ausgewählten Aspekten: Statt konventioneller Maximen und RechtlichkeitsMaximen Sittlichkeits-Maximen (Regelaspekt) , statt pflichtgemäßen Gehorsams Gehorsam aus Pflicht (Motivationsaspekt), statt Mißbilligung oder Strafe Schuld und Scham (Sanktionsaspekt). Unter dem Regelaspekt kann man zunächst feststellen, daß die religiöse Ethik der Chou vor der Geburt des Konfuzius vor allem von dem überlieferten Ritensystem (Li) dominiert wird. Der Begriff Li in diesem Sinne stimmt in hohem Maße mit den Weberschen Begriffen, d.h. den konventionellen Maximen und den Rechtlichkeits-Maximen, überein. Aber das ist bei Konfuzius nicht der Fall. Konfuzius hat eine reine traditionalistische Stellungnahme bzw. passive Befolgung des formalen Verfahrens des Ritensystems (Li) als ungenügende Handlung betrachtet. Stattdessen möchte er aktiv das überlieferte Ritensystem (Li) der Chou wieder aufbauen, indem er ihm eine humanistische materiale universalistische Grundlage (vor allem Jen [Menschlichkeit]) verleiht. Dabei ist eine beeindruckende Umdeutung des Begriffs Li wiederum durchgeführt. Für ihn ist die hauptsächliche Grundlage von Li nicht mehr der Himmel (T'ien) , sondern das Selbstbewußtsein des Menschen. Die Bedeutung von Li wird vor allem als "Schicklichkeit" des Menschen behandelt. Bei der Verbindung zwischen Jen und Li des Konfuzius kann man Jen als einen Begriff der persönlichen Moral und Li als einen Begriff der sozialen Normen betrachten. Der Begriff Jen wird von Konfuzius als die persönliche moralische Basis für die sozialen Normen (Li) bezeichnet. Bis zur Zeit des Konfuzius gibt es keine universale und fundamentale Tugend in China, aus der sich die anderen partikularen Tugenden ableiten können. Erst bei der Lehre des Konfuzius wird eine elementare Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit) dargestellt und aufgrund dieser Basis eine systematische humanistische Moralphilosophie konstruiert. Es ist eine systematische Moralphilosophie, die nicht mehr auf den konventionellen Maximen und Rechtlichkeits-Maximen, sondern vor allem auf Sittlichkeits-Maximen basiert. Aufgrund der Hervorhebung der Kardinaltugend

110

Schluchter, 1988, S. 224.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik

87

Jen (Menschlichkeit)lll, die von Konfuzius als materiale universalistische Grundlage des überlieferten normativen Ritensystems (Li) behandelt wird, und der dadurch durchgeführten Umdeutung des Begriffs Li (nun als "Schicklichkeit"), hat bei dem Konfuzianismus im bestimmten Sinne eine "prinzipielle Systematisierung des Gesollten" und eine" 'sinnhajte' Gesamtbeziehung der Lebensführung" stattgefunden, d.h. der Sprung zu einer Gesinnungsethik, welcher "die Stereotypierung der Einzelnormen zugunsten der 'sinnhaften' Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilziel " sprengt, hat beim Konfuzianismus zwar anders als bei dem Puritanismus, aber tatsächlich in einer chinesischen eigentümlichen kulturellen Version, stattgefunden. Die Beurteilung Webers 112, daß es keinen Sprung zur Gesinnungsethik bei dem Konfuzianismus gibt, ist in diesem Sinne unzutreffend 113. Unter dem Motivationsaspekt kann man auch feststellen, daß die religiöse Ethik der Chou vor der Geburt des Konfuzius vor allem auf eine rein traditionalistische Stellungnahme bzw. passive Befolgung des formalen Verfahrens des Ritensystems (Li) konzentriert. Stattdessen möchte Konfuzius aktiv das überlieferte Ritensystem (Li) der Chou wieder aufbauen, indem er ihm eine humanistische materiale universalistische Grundlage (vor allem Jen [Menschlichkeit]) verleiht. Und die Begründung dieser aktiven Teilnahme ist es, sich selbst zu überwinden und zu kultivieren. Dabei wird der Begriff Jen in diesem Aspekt vor allem als "persönliche, innerliche Moral" behandelt, die eng mit dem Selbstbewußtsein des Menschen zusammenhängt. Im Prozeß des SelbstEntscheidung-Treffens wird Schritt für Schritt die Menschlichkeit (Jen) jeder Persönlichkeit (moralische Subjektivität) entwickelt. Im Unterschied zur vorkonfuzianischen Ethik der Chou, die vor allem einen

pflichtgemäßen Gehorsam verlangt, d.h. gemäß den unsystematischen EinzeI-

pflichten des überlieferten Ritensystems (Li) zu handeln, fordert die konfuzianische Ethik von jeder moralischen Subjektivität einen Gehorsam aus Pflicht, d.h. einen Gehorsam aus dem verinnerlichten systematischen moralischen Prinzip (Jen).

111 Die Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit) besitzt für Konfuzius zweifellos nicht nur ein normenintegrierendes, sondern auch ein normengenerierendes Prinzip. 112 Für Weber ist der Unterschied zwischen der puritanischen und der konfuzianischen Ethik ein grundlegender Kontrast zwischen der systeTTUltischen Einheit einer (von innen heraus stammenden) Lebensführung (d.h. ein methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes) und der unsysteTTUltischen Verbindung der verschiedenen Einzelpflichten einer (nach außen hin orientienen) Lebensweise (d.h. das Leben als eine Serie von Vorgängen); es ist auch ein Kontrast zwischen der Gesamtqualität einer Persönlichkeit und der Kombination verschiedener nützlicher Einzelqualitäten (RS I, S. 516, 518 und 521). 1\3 Vgl. RS I, S. 348-349; Schluchter, 1983, S. 32.

7'

88

111. Konfuzianische Ethik unter dem Regelaspekt und Motivationsaspekt

In diesem Sinne ist die konfuzianische Ethik zwar anders als die puritanische Ethik, aber sie ist unter dem Motivationsaspekt tatsächlich auch eine Gesinnungsethik als Persönlichkeitsethik in einer chinesischen eigentümlichen kulturellen Version 114 . Die Beurteilung Webers, daß es keinen Sprung zur Gesinnungsethik bei dem Konfuzianismus gibt, ist in diesem Sinne unter dem Motivationsaspekt auch unzutreffend. Unter dem Sanktionsaspekt gibt es ebenfalls einen klaren Unterschied zwischen der vorkonfuzianischen konventionellen ritualistischen Ethik und der konfuzianischen Ethik: Während die vorkonfuzianische Ethik vor allem durch eine äußere Sanktion (Fremdkontrolle, Heteronomie) garantiert wird, wird eine innere Sanktion (Selbstkontrolle, Autonomie) bei der konfuzianischen Ethik schrittweise hervorgehoben. In diesem Sinne hat "ein Prozeß der Ersetzung oder zumindest Ergänzung der äußeren Sanktionen durch innere, der physischen durch psychische, der Fremdkontrolle durch Selbstkontrolle und Selbstzensur"115 tatsächlich auch bei der Entstehung der konfuzianischen Ethik im alten China stattgefunden. Im nächsten Kapitel wird dieser Sanktionsaspekt weiter vertiefend behandelt.

4. Zusammenfassung Zusammenfassend wird eine These folgenderweise artikuliert: Die (kontextualisiene) universalistische konfuzianische Ethik und ihre Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit) verlangen ebenfalls eine systematische Lebensführung und ein Handeln aus Pflicht, wenn auch in einem andersartigen historischen und kulturellen Kontext als in ihrem okzidentalen Sinne. Die Webersche Beurteilung der konfuzianischen Ethik, sei es magische Ethik, sei es Gesetzesethik oder ritualistische Ethik, ist in diesem Sinne unzutreffend. Und seine Einschätzung, daß es keinen Sprung zur Gesinnungsethik bei dem Konfuzianismus gibt, stimmt auch mit der Faktizität des Konfuzianismus nicht überein. Seine Beurteilung ist deswegen einer Verbesserung bedürftig.

114 Unter dem Motivationsaspekt gibt es bei der puritanischen Ethik einen Prozeß der radikalisierten Individuierung. Im Vergleich dazu gibt es bei der konfuzianischen Ethik zwar keine solche radikalisierte Individuierung in diesem Sinne, aber sie fordert trotzdem auch einen Gehorsam aus Pflicht, d.h. einen Gehorsam aus dem verinnerlichten systematischen moralischen Prinzip (Jen), von jeder moralischen Subjektivität. 115 Vgl. Schluchter, 1988, S. 224-5, Hervorhebung von mir.

IV. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik unter dem Sanktionsaspekt: Die konfuzianische Ethik und die Synthese von Autonomie und Heteronomie Um die zwei vorhergehenden Kapitel zu ergänzen und die Analyse der konfuzianischen Ethik zu vertiefen, möchten wir uns in diesem Kapitel hauptsächlich auf den Sanktionsaspekt der konfuzianischen Ethik konzentrieren l . Es wird in diesem Kapitel aufgezeigt, daß es kein absolutes Entweder-Oder zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen Selbstkontrolle und Fremdkontrolle in der konfuzianischen Ethik gibt. Vielmehr versuchen die Konfuzianer in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus mit ganzer Kraft, eine Synthese von Autonomie und Heteronomie herzustellen. "Ein Prozeß der Ersetzung oder zumindest Ergänzung der äußeren Sanktionen durch innere, der physischen durch psychische, der Fremdkontrolle durch Selbstkontrolle und Selbstzensur"2 hat im bestimmten Sinne tatsächlich auch bei der Entstehung der konfuzianischen Ethik im alten China stattgefunden. Der Versuch der konfuzianischen Ethik, Universalismus und Partikularismus zu vereinheitlichen und eine Synthese herzustellen, wird in diesem Kapitel zugleich weiter vertiefend untersucht. Die analytische Strategie bezieht sich nun nicht mehr direkt auf die Synthese von Universalismus und Partikularismus, sondern vor allem auf die Synthese von Autonomie und Heteronomie der konfuzianischen Ethik. In der folgenden Analyse wird verdeutlicht, daß diese beiden Synthesen eng miteinander zusammenhängen. Im bestimmten Sinne kann die Synthese von

Autonomie und Heteronomie auch als eine andere Darstellung der Synthese von Universalismus und Partikularismus verstanden werden. Außerdem gibt es in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus im alten China drei Vertreter: Konjuzius (551-479 v.Chr.), Menzius (ca. 371-289 v.Chr.) und Hsün-tzu (298-238 v.Chr.). In den zwei vorhergehenden Kapitel wird vor allem die Ethik des Konfuzius und seine Kardinaltugend Jen unter-

I Obwohl wir uns in diesem Kapitel in erster Linie auf den Sanktionsaspekt konzentrieren, sind die anderen zwei Aspekte (Rege/aspekt und Motivationsaspekt) nicht ganz zu vernachlässigen. Es ist notwendig für eine systematische Analyse, diese zwei Aspekte mit dem Sanktionsaspekt zusammen zu beriicksichtigen. 2 Sch/uchter, 1988, S. 224-225, Hervorhebung von mir.

90

IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

sucht. Jetzt mächten wir die Ethik der anderen beiden Hauptfiguren weiter erklären. Erst durch eine Erforschung der Ethik dieser drei Hauptfiguren kann man eine systematische Darstellung der konfuzianischen Ethik erreichen.

1. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (1): wiederum die Beziehung von Li und Jen Wie gesagt erkennen die Konfuzianer die Unterschiede zwischen den Menschen als ein natürliches Phänomen an und versuchen auf der Basis dieser Unterschiede, eine harmonische Ordnung zu schaffen. Beim Schaffen dieser sozialen Ordnung hat die konfuzianische Triade, d.h. die Dreiheit von sozialer Differenzierung, sozialer Arbeitsteilung und moralischer Unterscheidung, eine große Rolle gespielt. Dabei kommt es immer wieder zu einer Diskussion zwischen den verschiedenen Interpreten, ob der Mittelpunkt des Konfuzianismus vor allem die soziale Hierarchie bzw. Heteronomie oder die moralische Autonomie ist. In seinem Buch "The World of Thought in Ancient China" (1985), das sich auf jahrzehntelange sorgfältige und tiefgründige Arbeit gründet, hat Benjamin I. Schwartz beide Dimensionen des Konfuzianismus (die soziale Hierarchie und die moralische Autonomie) festgestellt, obwohl er letziich die Dimension der sozialen Hierarchie des Konfuzianismus betont hat 3• Einerseits hat Schwartz erklärt, daß der Konfuzianismus den Begriff der

individuellen moralischen Autonomie, besonders bei den führenden Positionsinhabern (z.B. Gentlemen, Chün-tzu) , kennt: "From one point of view, this

strongly supports what has been called the Chinese optimistic faith in the power of humans to shape human destiny. In Confucianism it even leads to a strong notion of the individual moral autonomy particularly of those who have a vocation to lead society"4. Andererseits hat er letzlich die Dimension der sozialen Rollen bzw. sozialen Hierarchie beim Konfuzianismus betont, wie Metzger richtig formuliert: " ...

'Rollen' sind für das konfuzianische Denken im Gegensatz zu unbestimmteren und spontaneren Existenzweisen von zentraler Bedeutung ... Schwartz betrachtet den Konfuzianer als 'ein soziales Wesen durch und durch', dessen Tugenden sich hauptsächlich darin manifestieren, wie er seine Rollen spielt. Schwartz behauptet, sämtliche Rollen seien im konfuzianischen Denken Teil einer hierarchischen Ordnung, teilweise weil der Konfuzianismus 'Hierarchie, Status und Autorität, die nach Ansicht des Konfuzianismus innerhalb der universalen

3

Metzger, 1990, S. 316-317.

4

Schwanz, 1985, S. 414.

I. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (1)

91

Weltordnung unumgänglich sind, ohne mit der Wimper zu zucken akzeptiert"'5. Dabei hat der konfuzianische Begriff "Li" eine große Rolle gespielt. Wie gesagt hat sich der Begriff Li allgemein auf die Normen des bestimmten Verhaltens in einem sozialen, ethischen oder religiösen Kontext bezogen. Soziologisch gesehen bestimmt und reguliert Li das richtige Verhalten jeder sozialen Rolle, d.h. das Rollenverhalten. Durch diese Tätigkeit (d.h. jede soziale Rolle zu bestimmen) hat Li die Funktion der sozialen Kontrolle durchgesetzt. Ohne genaue Erkenntnisse von Li kann jeder Mensch nicht seine richtige soziale Rolle finden und spielen. In diesem Sinne bestimmt das gesamte System der Riten (das gesamte normative Regelsystem, Li bzw. Li-chih) als sozial-politische Ordnung die Stellung und das Handeln eines jeden Menschen in dieser Gesellschaft: Es definiert deren soziale Position (Wei, Weijen) und soziale Rolle. Damit stellt dieses Regelsystem eine systematische und kulturell geprägte Konstruktion der sozialen Normierung und der sozialen Differenzierung dar. "Weil Name und Position (Ming-wei) eines jeden Menschen unterschiedlich sind, sind die Normen (Li) für ihn auch unterschiedlich""

Wenn eine soziale Differenzierung unvermeidlich für Konfuzianer ist, dann braucht man unbedingt ein systematisches Regelsystem (Li), nach dem die Rangstufe der verschiedenen sozialen Positionen (Namen und Positionen, Mingwei) angeordnet werden kann.

Li und Yüeh (Musik) sind für die Konfuzianer unterschiedliche Mittel dazu, ein Land zu regieren. Im Gegensatz zu Yüeh (Musik), deren Funktion sich auf die soziale Solidarität und Homogenität bezieht?, besteht die Funktion von Li vor allem darin, eine soziale Differenzierung zu vollbringen. Um den Unterschied zwischen Li und Yüeh (Musik) darzustellen, werden viele Beispiele in den klassischen konfuzianischen Literaturen angeführt 8 : "Die Musik (Yüeh) bewirkt Vereinigung, die Sitten (Li) bewirken Trennung. In der Vereinigung lieben die Menschen einander, durch die Trennung achten die Menschen einander. Wenn die

, Metzger, 1990, S. 316-317. Schwanz (1985, S. 68) hat den Begriff Li als solchen folgendermaßen dargestellt: "The chinese commentaries stress again and again the function of Li in teaching human beings to perform their separate roles weil in a society whose harmony is maintained by the fact everyone plays his part as he should within the larger whole ... it is a sacred community that accepts unblinkingly what it regards as the need for hierarchy, status, and authority within a universal world order. While the ultimate end of Li may be to humanize hierarchy and authority, it certainly also is meant to maintain and c1arify its foundations". • Tso-chuan, Chung-Herzog 18. Jahr, S. 164. 7 Im Sinne Durkheims besteht diese Funktion der Musik (Yüeh) vor allem darin, das "kollektive Bewußtsein" einer Gesellschaft herzustellen. • Vgl. Chü, 1961,231-232.

92

IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Musik (Yüeh) überwiegt, so entsteht die Gefahr des Zerfließens. Wenn die Sitten (Li) überwiegen, so entsteht die Gefahr der Erstarrung. Die Gefühle in Einklang zu bringen und die Äußerungen zur Schönheit zu bringen, das ist die Aufgabe von Sitten (Li) und Musik (Yüeh) "9. " ... Die Musik (Yüeh) vereint das Gemeinsame, die Sitten (Li) unterscheiden das Verschiedene. Die Theorien von Sitten (Li) und Musik (Yüeh) beziehen sich auf die Gefühl der Menschen"lo. "Konfuzius sprach: 'Die Sitten (Li) muß man genau unterscheiden. Die Sitten (Li) sind nicht alle gleich, sie dürfen nicht zu prächtig (für den Anlaß) sein und nicht zu dürftig. Das bezeichnet man als ihre richtige Anpassung'" 11 •

Li und Yüeh (Musik) sind für die Konfuzianer unterschiedliche Mittel, um ein Land zu regieren. Durch den obigen Kontrast zwischen ihnen kann man die hauptsächliche Funktion von Li noch deutlicher bemerken: Die soziale Differenzierung zu bestimmen und dadurch die soziale Ordnung Jestzuhalten.

Im folgenden werden viele Aussagen in verschiedenen chinesischen klassischen (vor allem konfuzianischen) Schriften dargestellt, die uns die Bedeutung von Li angedeutet haben 12 • "Die Sitte (Li) dient dazu, die Abstufungen von Näheren und Femen festzusetzen, das Zweifelhafte zu entscheiden, das Übereinstimmende und Verschiedene zu unterscheiden, Recht und Unrecht klarzumachen"13.

In diesem Sinne bestimmt die Sitte (Li) die soziale Differenzierung und dadurch hält die soziale Ordnung fest 14 •

Li-gi, S. 75. Li-gi, S. 84. Eine ähnliche Äußerung wird auch bei dem Konfuzianer Hsün-tzu gefunden: "Die Musik (Yüeh) vereint das Gemeinsame, die Sitten (Li) unterscheiden das Verschiedene" (Hsüntzu, XX, S. 281). 11 Li-gi, S. 211. "Solche Aussagen in der klassischen Literatur werden vor allem von Chü (1961, S. 232-234) systematisch gesammelt. \) Li-gi, S. 310. 14 Im selben Kapitel wird diese unentbehrliche Funktion von Li weiter erläutert: "Der rechte Weg und die Geisteskraft, Menschlichkeit (Jen) und Gerechtigkeit (I) bleiben ohne Sittlichkeit (Li) unvollkommen. Bildung und Erziehung, Ordnungen der Gewohnheiten bleiben ohne die Sitte (Li) unvollständig. Streit und Kampf, Disputationen und Prozesse lassen sich ohne Sitte (Li) nicht entscheiden. Die Pflichten von Herrn und Untertan, Oberen und Untertanen, Vater und Sohn, älterem und jüngerem Bruder bleiben ohne Sitte (Li) unbestimmt. In amtlichen Lehrdiensten und in der Umgebung des Meisters wird man ohne Sitte (Li) nicht anhänglich. Die Ordnung bei Audienzen, die Regeln des Heers, die Ausübung eines Amtes, die Durchführung des Rechts (Fa) haben ohne Sitte nicht die Autorität und Macht, sich durchzusetzen. Gebete und Liturgien, Speiseopfer und Friedensopfer, die Versorgung der Geister und Götter sind ohne Sitte (Li) nicht wahr und nicht kräftig. Darum ist der Gentleman achtungsvoll und sorgfaltig, eifrig und gemessen, zurückhaltend und entgegenkommend, um die Sitte (Li) klarzumachen" (Li-gi, S. 311). In diesem Sinne bestimmt Li als das hauptsächliche sozial-politische Regelssystem die Stellung und das Handeln eines jeden Menschen in dieser Gesellschaft: Li definiert deren soziale Position 9

\0

und soziale Rolle.

1. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (I)

93

"Die Stufen der Liebe zu den Verwandten und die Ränge der Verehrung der Würdigen sind es, aus denen die Sitte (Li) entsteht. .. ,," .

Wie gesagt wird "Liebe" von den Konfuzianem im Prinzip als "Liebe mit Unterschied und Gradierung" (Ai yu cha-teng) aufgefaßt, d.h. man muß zu-

nächst die Verpflichtungen innerhalb des eigenen Hauses erfüllen.

Auch die sozialen Positionen innerhalb des eigenen Hauses werden nach den Kriterien wie Generation, Alter, Gradierung der Beziehung und Geschlecht angeordnet. Jeder Inhaber einer Position innerhalb des Hauses hat eine spezifisch ihm zugeordnete soziale Rolle, die nach Li systematisch bestimmt ist. Und diese Funktion der sozialen Normierung von Li ist nicht auf den Bereich des eigenen Hauses begrenzt. Vielmehr ist die Anordnung des Hauses durch Li als die Basis und der Prototyp für die Anordnung der Gesellschaft bzw. des Staates durch Li anerkannt. In diesem Sinne sollte eine Verallgemeinerung dieser Funktion von Li vollständig durchgeführt werden. Nach den Konfuzianem kann man dadurch eine ordentliche Gesellschaft schaffen. Hsün-tzu (298-238 v.ehr.), der dritte Vertreter des Konfuzianismus (neben Konfuzius und Menzius), dessen Meinung den Ordnungstheoretikem innerhalb der Soziologie nahesteht, hat immer wieder die Funktion von Li für die soziale Ordnung betont: "Ohne Sittlichkeit (Li) kann der Mensch nicht leben, er kann ohne sie seine Aufgaben nicht erfülIen, und Staat und Familie geraten ohne sie in Unfrieden"I".

Für ihn ist die Grundlage einer stabilen und friedlichen Gesellschaft eine Gliederung oder Unterscheidung (Fen)l? in sozialen Schichten oder Gruppen: "Darum kann der Mensch gar nicht ohne GeselIschaft (Ch'üen) leben. Eine GeselIschaft ohne Unterscheidung (Fen) bedeutet Chaos, Chaos bedeutet Desintegration und Desintegration bedeutet Schwäche. In einem Zustand der Schwäche kann man sich die Dinge nicht unterwerfen"".

Und diese Gliederung oder Unterscheidung (Fen) ist vor allem von Li (dem normativen Regelsystem) bestimmt: "Es ist ein universelIer menschlicher Wunsch, so vornehm wie ein Kaiser zu sein und so reich, daß einem die ganze Welt gehört. Die Verhälmisse lassen es aber nicht zu, diesem Wunsch zu folgen, denn es gibt dazu nicht genug Güter. Die früheren Könige haben deshalb mit Hilfe des Systems der Sittlichkeit (Li) und Rechtschaffenheit (I) eine soziale Einteilung (Fen) etabliert. Damit gibt es Vornehme und Geringe, Alte und Junge, Wissende und Dumme, Fähige und Unfähige. Jeder erhielt seine Aufgabe und seine Position. Es gab auch die Unterschiede in Einkommen. Das ist der Weg (Tao) zur Bildung einer einträchtigen GeselIschaft"19.

" Li-gi, Chung-Yung, S. 34-35. I" Hsün-tzu, ll, S. 16, zitierte Übersetzung nach Schleichen, 1990, S. 301. 17 Der Begriff Fen (Unterscheidung, Differenzierung) wird von Roetz (1'992, S. 110) direkt als "Rollenteilung" übersetzt. \8 Hsün-tzu, IX, S. 110, Übersetzung vgl. Roetz, 1992, S. 110-111. 19 Hsün-tzu, IV, S. 44-45, zitierte Übersetzung nach Schleichen, 1990, S. 302.

94

IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Als ein hervorragender Fachmann von Li hat Hsün-tzu in einem Kapitel seines Buches (lXX, "Über Li") die Unentbehrlichkeit von Li weiter verdeutlicht: "Wie sind die Sitten (Li) entstanden? Antwort: Wenn die angeborenen menschlichen Begierden keine Erfüllung finden, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als nach Abhilfe zu suchen. Weil sie dabei aber Maß und Grenzen überschreiten, ist Streit unvermeidlich ... Nachdem die früheren Könige solche chaotischen Verhältnisse nicht wollten, etablierten sie das System der Sitten (Li) und Rechtschaffenheit (I), mit dem sie die sozialen Gliederungen (Fen) herstellen. Indem sie die Begierden der Menschen stillten, befriedigten sie die Menschen ... So sind die Sitten (Li) entstanden"20.

Um eine Gefahr des "Kampfes aller gegen alle" in dem menschlichen natürlichen Zustand zu vermeiden, hat Hsün-tzu ähnlich wie Hobbes die Notwendigkeit der sozialen Ordnung und Herrschaftsstruktur hervorgehoben. Aber im Vergleich zu Hobbes, der Vertrag und Recht als Basis der gesamten sozialen Ordnung behandelt hat, hat Hsün-tzu Li (ein moralisch geprägtes normatives Regelsystem) als die Grundlage für die gesamte soziale Ordnung betrachtet. In dem selben Kapitel hat er weiter die hauptsächliche Funktion von Li erläutert, d.h. die soziale Differenzierung zu bestimmen und dadurch die gesamte soziale

Ordnung Jestzuhalten:

"Deswegen bedeutet der Begriff Li Erziehung und Ernährung ... Wenn der Gentleman (Chün-tzu) Erziehung und Ernährung bekommen hat, hat er auch Gliederung (Fen, Unterscheidung) hochgeschätzt. Und was bedeutet Gliederung (Fen)? Antwort: Vornehme und Geringe, Alte und Junge zu unterscheiden, Arme und Reiche, Kleine und Große ordentlich anzuordnen"2I.

Der Legalist Han Fei-tzu (?-233 v.ehr.), ein wichtiger Schüler des Konfuzianers Hsün-tzu 22 , hat auch die Funktion von Li gekannt: "Li ... sind (die Normen für) die Interaktionen zwischen Herrn und Untertan, Vater und Sohn; und Vornehme und Geringe, Tugendhafte und Sittenlose werden durch Li voneinander unterschieden"23 .

Wie gesagt ist eine Gesellschaft ohne die menschlichen Unterschiede undenkbar für die Konfuzianer. Vielmehr akzeptieren die Konfuzianer zunächst die menschlichen Unterschiede in den verschiedenen Bereichen (sozial-politischen, ökonomischen, kulturell-moralischen usw.). Dann bestätigen sie die folgenden sozialen Entwicklungen als unvermeidlich und notwendig, die aus diesen menschlichen Unterschieden resultieren: soziale Differenzierung, soziale Arbeitsteilung, moralische Unterscheidung usw. Schließlich richten sie trotz (oder vielmehr wegen) dieser notwendigen sozialen differenzierten Entwicklungen all

Hsün-tzu, lXX, S. 253, zitierte Übersetzung nach Schleichen, 1990, S. 303. Hsün-tzu, !XX, S. 254. 22 Die Entstehung des Legalismus und seine Beziehung zum Konfuzianismus sind wieder ein neues Thema, das man in einer anderen Arbeit weiter behandeln sollte. 23 Han Fei-tzu, VIII, S. 865. 20

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1. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (1)

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ihre Kräfte darauf, eine gesamte harmonische Konstruktion möglichst durchzuführen und die richtige soziale Ordnung herzustellen. Im Vergleich zu den Legalisten, welche die Wichtigkeit des Gesetzes (Fa) und der Strafe (Hsing) für die Garantie der sozialen Ordnung behaupten, betonen die Konfuzianer in erster Linie die Bedeutung der moralischen Kultivierung, die sich wiederum in einem normativen Regelsystem (Li) manifestiert. Dieses Regelsystem Li bestimmt die Art und Weise der (unvermeidlichen und notwendigen) sozialen Differenzierung, indem es jede soziale Position anordnet und ihre zugeordnete soziale Rolle definiert 24 • Und diese Funktion der sozialen Normierung von Li ist nicht auf den Bereich des eigenen Hauses begrenzt. Vielmehr ist die Anordnung des Hauses durch Li als die Basis und der Prototyp für die Anordnung von Gesellschaft bzw. Staat durch Li anerkannt. In diesem Sinne sollte eine Verallgemeinerung dieser Funktion von Li vollständig durchgeführt werden. Den Konfuzianern zufolge kann man dadurch eine ordentliche Gesellschaft schaffen. Im weitesten Sinne kann man einerseits den Begriff Li als ein System aller sozialen Normen (Gewohnheit, Brauch, Sitte, Konvention, Recht usw.) behandeln; andererseits kann man auch den Begriff Li als ein System aller (äußerlichen) sozialen und politischen Institutionen (Chih-tu, Familie, Haus, Sippe, Recht, Regierung usw.) betrachten 25 • Und solche Institutionen haben sich vor allem nicht auf die ideellen und materiellen Interessen (Wohnung, Kleidung, Flagge, Wagen, Essen, Trinken usw.) an sich, sondern auf die institutionalisierte Verteilung solcher Interessen bezogen26 • Wobei diese Verteilung nach den bestimmten sozialen Hierarchien geregelt ist: it is the system of the greater or less share enjoyed by the superior and the inferior and the noble and the humble -027. 00 . . .

In diesem Sinne scheint es richtig, daß der Mittelpunkt des Konfuzianismus vor allem die soziale Hierarchie bzw. Heteronomie ist. Und es scheint auch zutreffend zu sein, daß man Li als ein sozial gegebenes und etwa formalisiertes

24 Chü (1961, S. 230-231) hat folgenderweise zusammengefaßt: "TheLi, which may be defmed as the rules of behavior varying in accordance with one's status defined in the various forms of social relationships, were formulated by the confucianists for this purpose. They are the means by which differences in status and role are maintained". 2S Fung, 1970, S. 95-96; Chü, 1961, S. 230-231. Chü (1961, S. 231) hat zutreffend erklärt: "In view of the remarks of ( ... ) the passages founded in the Li chi (Li-gi), wh ich associate Li with marriage, kinship, governrnent, official system, court audience, archery, chariot-driving, hunting, military ceremonies, funerals, sacrifice etc., we have reason to believe that Li are social and political institutions, including law and governrnent. Thus we read in the Li chi ELi-gi) that Li and I are used to 'establish the institutions ' ". 26 Vgl. Chü, 1961, S. 231. 27 Chü, 1961, S. 231.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

normatives Regelsystem betrachten kann, das die verschiedenen sozialen Rollen reguliert. Aber dies hat sich nur auf die formalisierte Seite von Li bezogen und die materiale moralische Grundlage von Li vernachlässigt. Durch die obige Erforschung der Beziehung zwischen Li und Jen kann man wiederum bemerken, daß eine solche soziale Hierarchie bzw. Heteronomie gerade auf einer materialen moralischen Autonomie jeder Person basiert. Der Begriff Jen wird von Konfuzius als die persönliche moralische Basis für dieses normative Regelsystem (Li) bezeichnet. Wie gesagt bedeutet der Begriff Jen keine passive Anpassung an dieses normative Regelsystem (Li), sondern eine aktive Teilnahme daran; und die Begründung dieser aktiven Teilnahme ist es, sich selbst zu überwinden und kultivieren28 • Man kann durch eine konsequente Selbst-Kultivierung und Selbst-Transformation eine innenveltliche Transzendenz erreichen und ein universalistisches Prinzip (Jen) ergreifen, das aber wiederum nur in jedem sozialen Kontext (z.B. jeder sozialen Rolle) durch das partikularistische Prinzip (Li) konkret verwirklicht werden kann. Wobei die Beziehung zwischen Jen und Li, d.h. zwischen einem universalistischen Prinzip und einem partikularistischen Prinzip, nicht gegensätzlich, sondern einander ergänzend ist29 • In diesem analytischen Kontext können wir strategisch die universalistische Dimension des Begriffes Jen hervorheben und seine partikularistische Dimension vorübergehend beiseitelegen30 • Der Begriff Jen stellt sich hier vor allem als ein universalistisches Prinzip dar, das eng mit einer moralischen Autonomie verbunden ist. Im Vergleich dazu manifestiert sich der Begriff Li in erster Linie als ein partikularistisches Prinzip, das eng mit einer äußerlichen sozialen Hierarchie bzw. Heteronomie verbunden ist. In diesem Sinne sind die Beziehung zwischen Autonomie und Heteronomie für die Konfuzianer nicht gegensätzlich, sondern einander ergänzend. Wenn Konfuzius den Begriff Jen als die persönliche moralische Basis für das normative Regelsystem (Li) bezeichnet hat, hat er nicht nur eine Synthese von Universalismus und Partikularismus, sondern auch eine Synthese von Autonomie und Heteronomie konstruiert. In diesem Sinne kann die Synthese von Heteronomie und Autonomie auch als eine andere Darstellung der Synthese von Universalismus und Partikularismus verstanden werden.

Tu, 1979, S. 6. Tu, 1979, S. 11-12. 30 Es wurde in dem letzten Kapitel schon erklärt, daß die Kardinaltugend Jen selbst diese zwei Dimensionen umfaßt. 28

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2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2): Der Kontrast und die Gemeinsamkeit von Menzius (ca. 371-289 v.ehr.) und Hsün-tzu (298-238 v.ehr.) Um diese Synthese von Autonomie und Heteronomie des Konfuzianismus weiter zu verdeutlichen, sollten die gegensätzlichen Stellungnahmen innerhalb des Konfuzianismus zwischen den zwei wichtigen Konfuzianern in der "Periode der streitenden Teilstaaten" (481-221 v.ehr.), d.h. die zwischen Menzius (ca. 371-289 v.Chr.) und Hsün-tzu (298-238 v.Chr.), erläutert werden. Die gegensätzlichen Stellungnahmen zwischen Menzius und Hsün-tzu basieren zunächst auf ihren polaren Menschenbildern. Für Menzius ist die menschlichen Natur im Kern ihres Wesens "gut". Im Gegensatz dazu behauptet Hsüntzu die "böse" menschliche Natur, die nur durch eine geplante Kultivierung bzw. Sozialisation in Ordnung gebracht werden kann. Konfuzius, der Begründer des Konfuzianismus, hat selten über die menschliche angeborene Natur (Hsing) gesprochen31 • Er ist damit zurückhaltend, wie die menschliche Natur zu beurteilen ist. Nur einmal hat er sich mit dieser Frage beschäftigt: "Von Natur (Hsing) aus sind die Menschen einander ähnlich. Durch die Gewohnheit (tägliche Übung) entfernen sie sich voneinander oo32 •

Hier hat Konfuzius nur die Allgemeinheit bzw. Gemeinsamkeit des menschlichen Wesens dargestellt. Eine Begutachtung der allgemeinen menschlichen Natur hat er nicht gegeben. Innerhalb der Entwicklung des Konfuzianismus ist erst Menzius eine ernstnehmende Untersuchung der menschlichen angeborenen Natur durchgeführt.

a) Die Überzeugung des Menzius: Die menschliche Natur sei gut (Hsing-shan) Die philosophische Anthropologie des Menzius beginnt mit einer unabänderlichen Überzeugung: Die Natur selber sei moralisch und die menschliche Natur sei gut (Hsing-shan). In seiner Debatte mit dem Philosophen Kao-tzu (Taoist?) hat er all seine Kräfte angestrengt, die "gute" menschliche angeborene Natur zu behaupten. "Kao-tzu sprach: 'Die Natur (Hsing) gleicht einem Wasserwirbel: Läßt man in Osten einen Ausweg, so fließt das Wasser nach Osten; öffnet man nach Westen einen Ausweg, so fließt es nach

31 An einer Stelle hat der Schüler des Konfuzius, Tzu-lrung, erklärt: "Von des Meisters Bildung kann man lernen. Über die Natur des Menschen (Hsing) und den Weg des Himmels aber ist von ihm nichts zu vernehmen" (Lun-yü, V, 13). 32 Lun-yü, XVII, 2, S. 126.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Westen. Die menschliche Natur kennt keinen Unterschied zwischen Gut und Nichtgut, ebenso wie das Wasser keinen Unterschied zwischen Ost und West kennt'. Menzius sprach: 'Sicherlich kennt das Wasser keinen Unterschied zwischen Ost und West; ist aber auch kein Unterschied zwischen oben und unten? Die menschliche Natur neigt zum Guten (Shan), wie das Wasser nach unten fließt.

Unter den Menschen gibt es keinen, der nicht gut wäre, ebenso wie es kein Wasser gibt, das nicht abwäns fließt"".

Hier hat Menzius die gute menschliche Natur (Hsing-shan) mit dem Naturgesetz (der Bewegung des Wassers nach unten) gleichgesetzt, um seine feste moralische Überzeugung zu betonen. Aber warum gibt es in dieser Welt auch die bösen Menschen? Für ihn ist ein Mensch nicht wegen seiner Natur, sondern wegen des Einflusses der äußerlichen Umwelt bzw. der objektiven Bedingungen, böse geworden34 • Die verschiedenen Stellungnahmen bei der Debatte über die menschliche Natur in der Zeit des Menzius werden auch folgenderweise zusammengefaßt 35 : (1) Neutralität der menschlichen Natur: Sie ist neutral gegenüber gut und böse

(Kao-tzu); (2) Plastizität der menschlichen Natur: Je nach den objektiven Umwelten kann sie sich zum Guten oder zum Bösen auswirken, beispielsweise in Reaktion auf einen guten oder bösen König; (3) Unterschiedlichkeit der menschlichen Natur: Sie ist bei einigen Menschen gut, bei anderen böse; (4) Die gute Natur des Menschen: Sie ist im Kern ihres Wesens gut (Menzius). Das ist keine systematische Einordnung. Zumindest kann man nicht die Stellungnahmen (1) und (2) sauber trennen. Anthropologisch gesehen hängen diese heiden Aspekte (Neutralität und Plastizität der menschlichen Natur) eng miteinander zusammen. Im bestimmten Sinne setzt die Plastizität der Natur die

Mong-dsi, VI, A, 2, S. 160, Hervorhebung von mir. In demselben Abschnitt hat Menzius weiter erklän: "Man kann das Wasser, wenn man hineinschlägt, aufspritzen machen, daß es einem über die Stirn einen Berg geht; man kann es durch eine Wasserleitung treiben, daß es hinaufsteigt; aber ist das die Natur des Wassers? Es ist nur die Folge äußerer Bedingungen. Ebenso ist die menschliche Natur so beschaffen, daß man sie dazu bringen kann, nicht gut zu sein" (Mong-dsi, VI, A, 2, S. 160). H Diese Zusammenfassung stammt aus Kung-tu Tzu, einem Schüler des Menzius: "Kung-tu Tzu sprach: 'Kao-tzu behauptet, die menschliche Natur sei weder gut noch böse. Andere behaupten, die Natur lasse sich gut machen oder böse machen; darum als die guten Könige Wen und Wu herrschten, sei das Volk dem Guten zugetan gewesen, als die schlechten Könige Yü und Li herrschten, sei das Volk zu Gewalttätigkeiten geneigt gewesen. Wieder anderen behaupten, es gäbe teils solche, die von Natur gut, und teils solche, die von Natur böse seien ... Wenn man nun sagt, die menschliche Natur sei gut, so haben jene alle Unrecht'" (Mong-dsi, VI, A, 6, S. 163); vgl. auch YÜ, 1972, S. 49-50. 33

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2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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Neutralität der Natur voraus. Und die Stellungnahme des Kao-tzu umfaßt tatsächlich diese beiden Aspekte: Er betont nicht nur die Neutralität, sondern auch die Plastizität der menschlichen Natur. In dem obigen Zitat hat er geradezu eine Analogie zwischen der Plastizität der menschlichen Natur und der Beweglichkeit des Wassers dargestellt 36 • Die Stellungnahme des Kao-tzu nähert sich dem Ergebnis der empirischen anthropologischen Forschung37 • In den anderen Abschnitten des selben Kapitels hat er auch aus der empirischen anthropologischen Sicht versucht, die menschliche Natur zu behandeln: "Kao-tzu sprach: 'Das angeborene (Sheng) ist es, das man als die menschliche Natur (Hsing) bezeichnet' "Ja. "Kao-tzu sprach: 'Das Verlangen nach Nahrung und Schönheit (Essen und Sexualität) ist die menschliche Natur (Hsing)' "39.

Kao-tzu stellt eine naturalistische Position dar, wenn er die menschlichen Natur mit den natürlichen Trieben (Essen und Sexualität) gleichsetzt40 • Aber nach Menzius ist eine solche naturalistische Meinung ungeeignet dazu, seine eigene moralisch-philosophische Anthropologie zu entwickeln. Für ihn ist die Überzeugung von der guten Natur des Menschen (Hsing-shan) eine unentbehrliche Voraussetzung für seine gesamte Moralphilosophie bzw. seine Ethik der Autonomie. Um die anderen Meinungen (vor allem die des Kao-tzu) zurückzuweisen und die Frage seines Schülers Kung-tu Tzu (vgl. Fußnote 35) zu beantworten, hat Menzius seine Überzeugung konsequent formuliert: "Der wahre Sachverhalt der menschlichen Natur trägt den Keim zum Guten in sich; das ist damit gemeint, wenn die menschliche Natur gut genannt wird. Wenn einer Böses tut, so liegt der Fehler nicht in seiner Veranlagung. Das Fühlen (Hsin)41 des Mitleids ist allen Menschen eigen, das

36 Der Kommentar des Neo-Konfuzianers Chu Hsi (1130-1200 n.Chr.) hat auch richtig diesen Punkt berührt (Ssu-shu, S. 161). 37 Für die moderne empirische Anthropologie sind Weltoffenheit und Plastizität die anthropologischen Eigenschaften des Menschen: "Die Offenheit, d.h. Ungebundenheit an Instinkte, und die Plastizität, d.h. Formbarkeit durch die Einflüsse der Umwelt, stempeln den Menschen auch zu einem Lernwesen, das bei Geburt nicht festgestellt ist und sich zu dem, was es später ist, erst auf dem Umweg über Mitmenschen machen muß" (Griese u.a., 1977, S. 16). 38 Mong-dsi, VI, A, 3, S. 161. 39 Mong-dsi, VI, A, 4, S. 161. 40 Nach Tu (1979, S. 60) scheint es bei Kao-tzu schwierig, die menschliche Natur von der Natur der Tiere zu unterscheiden. 41 Das Wort Hsin (Herz) kann man hier auch wie bei Richard Wilhelm mit "Gefühl" übersetzt werden. Aber es geht Menzius in diesem Kontext vor allem darum, die Möglichkeit der Verwirklichung jeder moralischen Subjektivität darzustellen. Mit Berücksichtigung der Mehrdeutigkeit des deutschen Wortes "Gefühl" hat Lee (1990, S. 38) daher vorgeschlagen, statt des Wortes "Gefühl" das Wort "Fühlen" zu benutzen. Und da Menzius keine klare Trennung zwischen dem moralischen Fühlen und der moralischen Subjektivität gemacht hat, wird das Wort Hsin (Herz) oft von ihm verwendet, um sowohl das moralische Fühlen als auch die moralische Subjektivität zu beschreiben.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Fühlen der Scham und Abneigung ist allen Menschen eigen, das Fühlen der Achtung und Ehrerbietung ist allen Menschen eigen, das Fühlen des Rechts und Unrechts ist allen Menschen eigen. Das Fühlen des Mitleids ist der Keim der Menschlichkeit (Jen), das Fühlen der Scham und Abneigung ist der Keim der Rechtschaffenheit (I), das Fühlen der Achtung und Ehrerbietung ist der Keim der Schicklichkeit (Li), das Fühlen des Rechts und Unrechts ist der Keim der Weisheit (Chih). Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Schicklichkeit und Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichten, sie sind unser ursprünglicher Besitz, die Menschen denken nur nicht daran. Darum heißt es: 'Wer sucht, bekommt sie; wer sie liegen läßt, verliert sie'. Daß so große Unterschiede vorhanden sind, daß manche doppelt, fünffach, ja unendlich mehr besitzen als andere, kommt nur davon her, daß diese ihre Anlagen nicht erschöpfend zur Darstellung bringen"".

Hier hat Menzius seine bekannte "Theorie des Fühlens der Vier Keime" formuliert, die nicht auf einer menschlichen Natur im empirischen Sinne, sondern auf einer menschlichen Natur im apriorischen moralischen Sinne basiert. Die philosophische Anthropologie des Menzius hat in diesem Kontext keine Unterscheidung zwischen dem moralischen Gefühl (dem Fühlen der vier Keime) und dem moralischen Gesetz (Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Schicklichkeit und Weisheit) gemacht43 • Menzius versucht mit dem moralischen Gefühl (dem Fühlen der vier Keime), die menschliche Natur (als moralische Subjektivität) zu verdeutlichen. Dabei hat er die menschliche Natur (Hsing) mit der moralischen Subjektivität (dem Herzen, Hsin oder Pen-hsin) gleichgesetzt44 • Das Fühlen der vier Keime (Fühlen von Mitleid, Scham und Abneigung, Achtung und Ehrerbietung, Recht und Unrecht) ist kein Gefühl im üblichen Sinne, sondern als Gefühl im bestimmten Sinne, das man als das moralische Gefühl oder "moral sense" bezeichnen kann45 • Für Menzius ist ein solches moralisches Gefühl untrennbar mit der menschlicher Natur (als der moralischen Subjektivität) verbunden. Die Überzeugung des Menzius, die menschliche Natur sei gut (Hsing-shan), kann man als das absolute Gute der menschlicher Natur, m.a. W. das absolute Gute der moralischen Subjektivität (Hsin-shan) , verstehen 46 • In den folgenden Zitaten wird diese Überzeugung des Menzius weiter vertiefend erklärt:

Mong-dsi, VI, A, 6, S. 163, Hervorhebung von mir. Lee, 1990, S. 73-80. 44 Lee, 1990, S. 79. Der modeme Neo-konfuzianer Hsü Fu-kuan (1963, S. 161-198) hat direkt und klar dargestellt, daß Menzius mit dem guten Herz (Hsin-shan) versucht, die gute Natur (Hsingshan) zu verdeutlichen . ., Lee, 1990, S. 74. .. Um die Moralphilosophie des Menzius zu interpretieren, sind die Begriffe der Kantischen Moralphilosophie zweckmäßig und zutreffend für viele modemen Neo-Konfuzianer (z.B. Mou Tsung-san und sein Schüler Lee Ming-huei). Es ist kein Zufall. Um die Ethik der Autonomie des Menzius zu erläutern, wird im folgenden ein solcher interpretierender Versuch teilweise übernommen (vgl. Lee, 1990, S. 47-80). 42 43

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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"Menzius sprach: 'Jeder Mensch hat ein Herz (Hsin)47, das anderer Leiden nicht mit ansehen kann ... Daß jeder Mensch barmherzig ist, meine ich also: Wenn Menschen plötzlich ein Kind erblicken, das im Begriff ist, auf einen Brunnen zuzugehen, so regt sich in aller Herzen Furcht und Mitleid. Nicht weil sie mit den Eltern des Kindes in Verkehr kommen wollten, nicht weil sie Lob von Nachbarn und Freunden ernten wollten, nicht weil sie Üble Nachrede fürchteten, zeigen sie sich SO"'48.

Die "automatische" Reaktion (Furcht und Mitleid) des menschlichen Herzens bzw. der moralischen Subjektivität, die sich auf das plötzliche Geschehen der Gefahr des Kindes richtet, setzt überhaupt keine weiteren Bedingungen (z.B. Beziehungen mit den Eltern des Kindes und Nachbarn usw.) voraus. Es ist ein "Handeln aus Pflicht", die gerade bedingungslos das absolute Gute der menschlichen Natur bzw. der moralischen Subjektivität verwirklicht49 • Und eine solche Fähigkeit des Menschen, ein "Handeln aus Pflicht" bedingungslos durchzuführen, ist die eigentliche Natur und eigentümliche "Personalität" des Menschen. Im Gegensatz zu den Tieren, die hauptsächlich nur Handlung aus Trieb ausführen können, kann der Mensch als eine moralische Subjektivität automatisch ein solches innewohnendes "Handeln aus Pflicht" unternehmen50 • Um seine Überzeugung als solche näher zu interpretieren, hat Menzius weiter in dem selben Abschnitt seine bekannte "Theorie des Fühlens der Vier Keime" nochmals formuliert: "Von hier aus gesehen, zeigt es sich: Ohne Fühlen des Mitleids ist kein Mensch, ohne Fühlen der Scham und Abneigung ist kein Mensch, ohne Fühlen der Bescheidenheit ist kein Mensch, ohne Fühlen des Rechts und Unrechts ist kein Mensch. Das Fühlen des Mitleids ist der Keim der Menschlichkeit (Jen), das Fühlen der Scham und Abneigung ist der Keim der Rechtschaffenheit (I), das Fühlen der Bescheidenheit ist der Keim der Schicklichkeit (Li), das Fühlen des Rechts und Unrechts ist der Keim der Weisheit (Chih). Diese vier Keime besitzen alle Menschen, ebenso wie sie ihre vier Glieder besitzen. Wer diese vier Keime besitzt und von sich behauptet, er sei unfähig, sie zu üben, ist Räuber an sich selbst. Wer von seinem Herrn behauptet, er könne sie nicht üben, ist ein Räuber an seinem Herrn. Wer diese vier Keime in seinem Ich besitzt und sie alle zu entfalten und zu erfüllen weiß, der ist wie das Feuer, das angefangen hat zu brennen, wie die Quelle, die angefangen hat zu fließen. Wer diese Keime erfüllt, der vermag die Welt zu schirmen, wer sie nicht erfüllt, vermag nicht einmal seinen Eltern zu dienen"".

47 Den Begriff Herz (Hsin) kann man in diesem Kontext als "moralische Subjektivität" verstehen . •• Mong-dsi, II, A, 6, S. 74. 49 Vgl. Lee, 1990, S. 51-52. '" Nach Menzius soll man sorgfältig darauf achten, sich von den Tieren klar zu distanzieren und die eigentliche Natur festzuhalten: "Wie wenig ist es doch, das den Menschen von den Tieren unterscheidet. Die Masse geht darüber hinweg; der Gentleman hält es fest. Der weise König Shun war klar in allen Dingen und kannte das Prinzip der menschlichen Beziehungen. Menschlichkeit (Jen) und Rechtschaffenheit (I) war für ihn ein innewohnendes Sollen (ein Handeln aus Pflicht), nicht ein Müssen" (Mong-dsi, IV, B, 19, S. 127). " Mong-dsi, II, A, 6, S. 74-75.

8 Lin

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Nach Menzius ist "das Fühlen der vier Keime" die eigentliche Fähigkeit eines jeden Menschen, d.h. eine innewohnende Fähigkeit jeder moralischen Subjektivität. Wenn man sie alle erfüllt, vermag er die Welt zu schirmen; wenn man umgekehrt sie nicht erfüllt, hat er keinerlei Fähigkeit, den eigenen Eltern zu dienen. Eine solche Fähigkeit, d.h. eine solche gute menschliche Natur, ist das kleine, aber hauptsächliche Kriterium, nach dem der Mensch und die Tiere getrennt werden: "Wie wenig ist es doch, das den Menschen von den Tieren unterscheidet"52. Und man soll diese apriorische, gute Natur sorgfältig erhalten: "Die Masse geht darüber hinweg; der Gentleman (Chün-tzu) hält es fest"53. "Wer sucht, bekommt sie; wer sie liegen läßt, verliert sie"54. Aufgrund seiner Überzeugung, die menschliche Natur (Hsing) und das menschliche Herz als moralische Subjektivität seien gut, stellt Menzius seine Ethik der Autonomie dar. b) Die Ethik des Menzius als eine Ethik der Autonomie " ... Der menschliche Leib (T'i) hat edle Teile und unedle, hat große Teile und kleine. Man darf nicht um des Kleinen willen das Große schädigen und nicht um des Unedlen willen das Edle schädigen. Wer seine kleinen Teile pflegt, ist ein kleiner Mann (Hsiao-jen), wer seine großen Teile pflegt, ist ein großer Mann (Ta-jen) ... Einen Fresser und Säufer verachten die Menschen, weil er das Kleine auf Kosten des Großen pflegt. "".

Die edlen und großen Teile des Menschen beziehen sich nach Menzius vor allem auf das menschliche Herz (Hsin), d.h. die moralische Subjektivität. Im Gegensatz dazu beziehen sich die unedlen und kleinen Teile des Menschen auf die sinnlichen Organe (Ohr, Auge usw.). Wer sein Herz (Hsin) pflegt und sich als eine moralische Subjektivität verhält, ist ein großer Mann (Ta-jen), m.a. W. ein Gentleman (Chün-tzu); wer seine sinnlichen Organe pflegt und sich als ein Fresser und Säufer verhält, ist ein kleiner Mann (Hsiao-jen). Menzius hat seine solche Unterscheidung weiter im nächsten Abschnitt verdeutlicht: "Kung-tu Tzu fragte den Menzius und sprach: 'Es sind doch alle in gleicher Weise Menschen. Wie kommt's, daß manche große Männer und manche kleine sind?' Menzius sprach: 'Wer den großen Teilen in sich folgt, wird groß; wer den kleinen Teilen in sich folgt, wird klein. Jener sprach: 'Es sind doch alle in gleicher Weise Menschen. Wie kommt es, daß manche den großen Teilen in sich folgen und manche den kleinen Teilen?' Menzius sprach: 'Die Sinne des Gehörs und Gesichts werden ohne das Denken von dem Sinnlichen umnachtet. Wenn Sinnliches außer ihm auf Sinnliches in ihm trifft, so wird der Mensch einfach mitgerissen. Das Herz (Hsin) ist der Sitz des (moralischen) Denkens. Wenn es denkt, so erfüllt es seine Aufgabe, wenn es nicht denkt, so erfüllt es sie nicht. Dies ist uns von Himmel verliehen. Wenn wir zuerst die großen Teile in uns festigen,

Vgl. Fußnote 50. Mong-dsi, IV, B, 19, S. 127. 54 Vgl. Mong-dsi, VI, A, 6, S. 163. " Mong-dsi, VI, A, 14, S. 168-169.

52 53

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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so kann es uns durch die kleinen Teile nicht geraubt werden. Die das tun, das eben sind die großen Männer'·'".

Menzius behandelt das menschliche Herz (Hsin) als eine Subjektivität, aus der alles moralische Denken, Fühlen und Handeln entstanden ist. Es wird deshalb von Menzius als die großen Teile des Menschen und die innerliche Grundlage der Moral angesehen. Im Gegensatz dazu sind die sinnlichen Organe (z.B. Ohr, Auge usw.) für ihn die kleinen Teile des Menschen, die einfach passiv von der Sinnenwelt ohne (moralische) Reflexion beeinflußt werden. Um ein Gentleman (Chün-tzu) zu werden, sollte man zuerst seinen eigentlichen, vom Himmel verliehenen "großen Teilen" folgen und sich moralisch verhalten. Wer das nicht tut und nur seinen "kleinen Teilen" folgt, kann nicht mehr von dem Einfluß der Sinnenwelt befreit sein und sich immer nur nach dem Sinnlichen außer ihm orientieren. Er verhält sich ohne moralische Reflexion, er ist ein Kleiner Mann (Hsiao-jen). Jeder Mensch hat diese beiden Teile in sich, die großen und die kleinen: Einerseits ist sein Selbst eine moralische Subjektivität, andererseits ist sein Selbst ein Sinneswesen. Für Menzius liegt der Ursprung der Moral in der autonomen Subjektivität, d.h. der Selbstgesetzgebung des menschlichen Herzens (Hsin). Und die moralischen Gesetze (Menschlichkeit [Jen], Rechtschaffenheit [1], Schicklichkeit[Li] und Weisheit[Chih)) sind nicht etwas außer uns, sondern alle von dieser innerlichen Autonomie gegeben. Die Überzeugung des Menzius, die menschliche Natur sei gut (Hsing-shan), kann man als das absolute Gute der menschlicher Natur, m.a.W. das absolute Gute der moralischen Subjektivität (Hsin-shan) , verstehen. In diesem Sinne stellt die Moralphilosophie des Menzius eine konfuzianische Fassung der Ethik der Autonomie dar. "Es gibt einen himmlischen Rang (T'ien-chüeh) und einen menschlichen Rang (Jen-chüeh). Menschlichkeit (Jen), Rechtschaffenheit (I), Loyalität (Chung), Vertrauen (Hsin), unermüdliche Liebe zum Guten: Das ist der himmlische Rang (T'ien-chüeh). Fürst sein oder Hoher Rat oder Minister: Das ist der menschliche Rang (Jen-chüeh). Die Alten pflegten ihren himmlischen Rang, und der menschliche Rang kam danach von selber. Heutzutage pflegt man seinen himmlischen Rang, um den menschlichen zu erlangen. Wenn man den menschlichen Rang erreicht, so wirft man den himmlischen Rang weg. Das aber ist die schlimmste Verblendung. und schließlich führt es doch zum sicheren Untergang"".

Der himmlische Rang (T'ien-chüeh) stellt für Menzius eine Anordnung dar, die an einem nicht von Raum und Zeit bedingten, absoluten moralischen Wert orientiert ist58 • Wenn der Mensch sich kultiviert und mit seiner eigentümlichen guten moralischen Subjektivität verhält, bekommt er automatisch diesen

,. Mong-dsi, VI, A, 15, S. 169, Hervorhebung von mir. '7 Mong-dsi, VI, A, 16, S. 169. " Vgl. Lee, 1990, S. 62. 8*

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

himmlischen Rang (T'ien-chüeh). Wenn er zunächst den himmlischen Rang (T'ien-chüeh) bekommt, kann er danach auch den menschlichen Rang (Jenchüeh) erhalten. Menzius bevorzugt als typisch Konfuzianer den himmlischen Rang (T'ien-chüeh, d.h. den Rang im moralischen Sinne) und behandelt ihn als eine notwendige Voraussetzung für einen stabilisierten menschlichen Rang (Jen-chüeh).

Im Gegensatz dazu ist der menschliche Rang (Jen-chüeh) im Prinzip eine politische Anordnung, die von dem bestimmten Übergeordneten gegeben und an einem von Raum und Zeit bedingten, relativen Wert orientiert ist. Wenn man immer nur von dem Übergeordneten den menschlichen Rang (Jen-chüeh, z.B. eine Minister-Stelle) verlangt, hat er keine eigene Autonomie und Freiheit mehr und gleichzeitig seine eigentümliche moralische Subjektivität verloren. Für Menzius bedeutet das einen unvermeidlichen Untergang59 • Im nächsten Abschnitt desselben Kapitels hat Menzius weiter seine These verdeutlicht: "Menzius sprach: 'Der Wunsch nach Ehre (Kuei) liegt allen Menschen am Herzen (Hsin). Alle

Menschen haben Ehre in sich selbst, ohne daß sie daran denken. Die von den Menschen gegebene Ehre ist nicht die echte Ehre (Liang-kuei). Wen ein Herrscher ehren kann, den kann ein Herrscher auch erniedrigen "'60.

Alle Menschen haben ihre eigentliche echte Ehre (Liang-kuei) in sich, die ein absoluter Wert ist und nur von ihrem Herzen (Hsin, moralischer Subjektivität) produziert und gegeben wird. Diese echte Ehre (Liang-kuei) stammt aus dem absoluten Gute jeder moralischen Subjektivität (Hsin-shan). Menzius behandelt deshalb den Wert des himmlischen Rangs (T'ien-chüeh) als diese eigentliche, absolute, selbstbestimmte Ehre (Liang-kuei), die nicht von Raum und Zeit bzw. den anderen Menschen bedingt ist. Ein Mensch kann nur durch seine moralische Praxis ein solch absolutes gutes Potential voll auslasten. Erst durch seine eigene moralische Kultivierung kann er den unersetzbaren himmlischen Rang (T'ien-chüeh) und die absolute echte Ehre (Liang-kuei) bekommen. Als eine selbstbestimmte Autonomie ist er sowohl Adressant als auch Adressat dieses himmlischen Rangs und dieser echten Ehre.

Im Gegensatz dazu behandelt Menzius den Wert des menschlichen Rangs (Jen-chüeh) als die von den anderen Menschen gegebene, relative und fremd-

S9 Der von Menzius dargestellte Gegensatz zwischen dem himmlischen Rang (T'ien-chüeh) und dem menschlichen Rang (Jen-chüeh) wird von einigen modemen Neo-Konfuzianer mit der Kantischen Gegenüberstellung zwischen der Moralität und der Glückseligkeit gleichgesetzt: Wie bei Menzius ein stabilisierter menschlicher Rang (Jen-chüeh) den himmlischen Rang (T'ien-chüeh) voraussetze, behandle Kantische Ethik der Autonomie auch notwendigerweise die Moralität als die Voraussetzung für die Glückseligkeit, wenn die beiden im Sinne des höchsten Gutes miteinander verbunden seien (Lee, 1990, S. 62-63). 60 Mong-dsi, VI, A, 17, S. 170, Hervorhebung von mir.

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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bestimmte Ehre, die unmöglich von der Bedingung von Raum und Zeit befreit ist. Der von dem Herrscher gegebene Rang (Jen-chüeh) kann auch von ihm wieder enthoben werden. Die von dem Herrscher gegebene Ehre kann auch von ihm wieder wegenommen werden: Wen ein Herrscher ehren kann, den kann ein Herrscher auch erniedrigen. Für Menzius ist die Abfolge unverwechselbar: Der himmlische Rang (T'ienchüeh, der Rang im moralischen Sinne) vor dem menschlichen Rang (Jenchüeh) und die selbstgegebene echte Ehre (Liang-kuei) vor der fremdgegebenen Ehre. In seiner Abgrenzung vom Utilitarismus61 hat er eine solche Stellungnahme wiederum bekräftigend artikuliert: "Menzius trat vor den König Hui von Liang. Der König sprach: Alter Mann, tausend Meilen waren Euch nicht zu weit, um herzukommen, da habt Thr wohl auch einen Rat für mich, um meinem Reich Nützlichkeit (Li) zu bringen'. Menzius erwidene und sprach: 'Warum wollt Ihr

durchaus von der Nützlichkeit reden, 0 König? Es gibt doch auch den Standpunkt, daß man einzig und allein nach Menschlichkeit und Pflicht (Jen-iJjragt. Denn wenn der König spricht: Was dient

meinem Reiche zur Nützlichkeit? so sprechen die Adelsgeschlechter: Was dient unserem Hause zur Nützlichkeit? und die Ritter und Leute des Volks sprechen: Was dient unserer Person zur Nützlichkeit? Hoch und Niedrig sucht sich gegenseitig die Nützlichkeit zu entwinden, und das Ergebnis ist, daß das Reich in Gefahr kommt ... Aber so man die Pflicht hintansetzt und die Nützlichkeit voranstellt, ist man nicht befriedigt, es sei denn, daß man den anderen das Thre wegnehmen kann. Auf der anderen Seite ist es noch nicht vorgekommen, daß ein liebevoller Sohn seine Eltern im Stich läßt, oder daß ein pflichttreuer Diener seinen Fürsten vernachlässigt. Darum wollte auch Thr, 0 König, Euch auf den Standpunkt stellen: Einzig und allein Menschlichkeit und Pflicht! Warum wollt

Ihr durchaus von der Nützlichkeit reden? ""2 .

Menzius behandelt die Menschlichkeit und Pflicht (Jen-i) als Vertreter aller grundlegenden moralischen Gesetze, die aus jeder moralischen Subjektivität (Herzen, Hsin) entstanden sind. Sie sind absolute selbstgegebene moralische Pflichten und dienen überhaupt keinem (egoistischen oder utilitarischen) Zweck außer sich. Deshalb hat er mit seiner ganzen Kraft betont: "Einzig und allein Menschlichkeit und Pflicht! Warum wollt Ihr durchaus von der Nützlichkeit reden?" Die Bevorzugung des Menzius ist klar: Der himmlische Rang (T'ien-chüeh) vor dem menschlichen Rang (Jen-chüeh) , die selbstgegebene, echte Ehre (Liang-kuei) vor der fremdgegebenen Ehre, und anschließend die Menschlichkeit und Pflicht (Jen-i) vor der Nützlichkeit (Li). In diesem Sinne wird

.1

Konfuzius hat sich schon vom Utilitarismus distanzien: "Konfuzius sprach: 'Der Gentleman (Chün-tzu) ist mit seinen Pflichten venraut; der kleine Mann (Hsiao-jen) sieht nur die eigene Nützlichkeit'" (Lun-yü, IV, 16, S. 57) . • 2 Mong-dsi, I, A, I, S. 42, Hervorhebung von mir.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

seine Ethik von vielen Fachleuten des Konfuzianismus 63 in erster Linie als eine Ethik der Autonomie betrachtet. c) Die Behauptung des Hsün-tzu: Die menschliche Natur sei böse (Hsing-o)

Hsün-tzu (298-238 v.Chr.) 64lebt in der späten Phase der "Periode der streitenden Teilstaaten" (481-221 v.Chr.). In dieser Phase gibt es einen großen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Wandel in ganz China. Im Jahre 221 v.Chr., kurz nach seinem Tod, hat der "Erste Erhabene Kaiser" (Shih Huang-ti) nach Siegen über die meisten anderen Teilstaaten das Chinesische Reich vereinigt und die erste kaiserliche Zeit Chinas, die Ch'in-Dynastie, begründet. Im Vergleich zu Menzius (ca. 371-289 v.Chr.) ist Hsün-tzu einer stärkeren Herausforderung durch die äußere, unruhige, soziale Realität begegnet. Ungleich Menzius, der vor allem die innerliche, subjektive Seite des Konfuzianismus weiter erforscht, untersucht er in erster Linie die äußerliche, objektive Seite des Konfuzianismus näher. Im Gegensatz zur Überzeugung des Menzius, die menschliche Natur sei gut, behauptet Hsün-tzu die menschliche "böse" Natur (Hsing-o), die nur durch eine geplante Kultivierung bzw. Sozialisation von außen her in Ordnung gebracht werden kann. Aufgrund dieser Grundthese hat seine gesamte Moralphilosophie einen empirischen, realistischen Charakter. Seine Ethik wird vor allem als eine Ethik der Heteronomie betrachtet. Ähnlich wie Kao-tzu, der obenerwähnte Gegner des Menzius, geht Hsün-tzu zunächst auch von dem Standpunkt der Anthropologie im empirischen Sinne aus:

.3 Z.B. Lee, 1990, passim; Roetz, 1992, S. 280-283; Hsieh, 1989, S. 110 usw. 64 Hsün-tzu (298-238 v. Chr.) lebte "in und nach" der Zeit des Menzius (ca. 371-289 v. Chr.). Weber hat auch ihn wie folgt beschrieben, wenn auch nicht ganz korrekt: "Vor und in Menzius' Zeit (4. Jahrh. vor Chr.: Tiefstand der Kaisermacht) stand Sun Kung, aktiver Beamter in einem Teilstaat, auf dem antikonfuzianischen Boden der Verderbtheit der Menschennatur... Alles das waren unklassische Ketzereien, -- Menzius bekämpfte die seiner eigenen Zeit. Aber seine Zeitgenosse Hsün Tse, der die Güte des Menschen (konfuzianisch) als Kunstprodukt ansah, aber nicht Gottes, sondern des Menschen Selbst: -- politisch gewendet: 'Gott ist Ausdruck der Herzen des Volkes' ... " (RS I, S. 454, untergestrichen von mir). In diesem Zitat sollten einige Fehler korrigiert werden: I. Sun Kung und Hsün Tse sind ein und dieselbe Person (Hsün-tzu) (vgl. MWG 1/19, Studienausgabe 1991, S. 265); 2. er lebt nicht "vor und in", sondern "in und nach" der Zeit des Menzius; 3. obwohl er die Überzeugung des Menzius, die menschliche Natur sei gut, scharf kritisiert, bleibt er trotzdem neben Menzius als ein andersartiger Vertreter des Konfuzianismus in der "Zeit der streitenden Teilstaaten " erhalten, dessen Stellungnahme (die Güte des Menschen sei Kunstprodukt) im Prinzip keinen großen Widerspruch zur konfuzianischen Hauptrichtung darstellt.

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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"Was von Geburt an so ist, wie es ist, heißt 'menschliche Natur' (Hsing). Was entsprechend der Natur von Geburt an vorhanden ist, nämlich das Arbeiten der Sinnesorgane, die ohne Zutun von selbst funktionieren, heißt ebenfalls 'menschliche Natur' (Hsing). Das auf dieser Natur beruhende Lieben und Hassen, Frohsinn und Zorn, Traurigkeit und Freude, heißen 'Gefühle' (Ch'ing). Wenn Gefühle aufkommen, und das Herz (Hsin) zwischen ihnen auswählt, so heißt dies 'Überlegen'(Lü). Wenn das Herz überlegt und der Mensch diese Überlegung in die Tat umzusetzen fähig ist, so heißt dies 'Künstlichkeit' (Wei, Erarbeiten). Oft überlegen und diese Fähigkeit üben (Hsi), so daß sich Erfolg einstellt, heißt ebenfalls 'Künstlichkeit' (Wei, Erarbeiten)"". "Was natürlich geschaffen ist, heißt 'menschliche Natur'(Hsing). Und dies ist weder erlernbar noch machbar"66.

Im Vergleich zu Menzius, der eine apriorische, moralische (gute) Natur (Hsing) des Menschen behauptet, behandelt Hsün-tzu die menschliche Natur (Hsing) zunächst als das "natürliche" Arbeiten der Sinnesorgane, d.h. als physiologisches Wesen (Triebe)67. Eine solche naturalistische Stellungnahme teilt Hsün-tzu mit dem obenerwähnten Gegner des Menzius, Kao-tzu. Um die menschliche Natur zu betrachten, stellt Hsün-tzu wie Kao-tzu eine empirische Anthropologie dar, welche die philosophische Anthropologie des Menzius ersetzt. Die Frage lautet nicht mehr wie "Was ist dem Menschen als moralische Subjektivität eigentümlich?", sondern wie "Was ist dem Menschen als biologischem Wesen eigentümlich?" Es ist eine Frage der Sinnlichkeit, nicht mehr eine der moralischen Subjektivität. Die Begründung der Theorie der menschlichen Natur des Hsün-tzu (auch des Kao-tzu) liegt deswegen nicht auf der selben Ebene mit der des Menzius. Auch bei der Analyse des menschlichen Gefühls steht Hsün-tzu Menzius entgegen. Wie gesagt versucht Menzius mit dem moralischen Gefühl (dem Fühlen der vier Keime), die menschliche Natur (als moralische Subjektivität) zu verdeutlichen. Für ihn ist das Fühlen der vier Keime (Fühlen von Mitleid, Scham und Abneigung, Achtung und Ehrerbietung, Recht und Unrecht) kein Gefühl im üblichen (z.B. sinnlichen) Sinne, sondern als Gefühl im bestimmten Sinne, das man als das moralische Gefühl oder "moral sense" bezeichnen kann. Anders ist es bei Hsün-tzu: Die Gefühle (eh 'ing, Lieben und Hassen, Frohsinn und Zorn, Traurigkeit und Freude usw.), die auf der menschlichen Natur

., Hsün-tzu, XXII, S. 309-310, zitierte Übersetzung nach Schleichert, 1990, S. 276. 66 Hsün-tzu, XXIII, S. 328 . • 1 Für Hsün-tzu ist dies die universale Grundlage für alle Menschen, egal ob für den Weisen oder die Massen: "Es gibt eine gemeinsame Grundlage für alle Menschen: wenn sie hungrig sind, wollen sie essen; wenn sie frieren, wollen sie sich wärmen; wenn sie abgearbeitet sind, verlangen sie nach Erholung; und sie wollen nur Vorteil und keinen Nachteil. Dies ist es, was von Geburt an so und ohne Erwartung so ist; dies ist ebenso es, was die Gemeinsamkeit zwischen dem guten König YÜ und dem bösen König Chieh ist" (Hsün-tzu, IV, S. 41); "Was dem Weisen und den Massen gemeinsam ist, heißt die menschliche Natur (Hsing)" (Hsün-tzu, XXIII, S. 330).

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

(Hsing) beruhen, werden von Hsün-tzu vor allem von der "sinnlichen" Ebene aus interpretiert 68 •

Im Vergleich zu Kao-tzu, der nur die Neutralität und Plastizität der menschlichen Natur behauptet, versucht Hsün-tzu aufgrund einer solchen empirischen Betrachtungsweise, die Eigenschaft der menschlichen Natur wegen ihrer Plastizität weiter vertiefend zu erklären. Seine These ist: Die menschliche Natur sei "böse" (Hsing-o). In einem Kapitel, das als "Die menschliche Natur sei böse" (Hsing-o) betitelt ist, hat er so formuliert: "Die menschliche Natur ist böse (Hsing-o); was an ihm gut ist, ist künstlich gemacht (Wei, erarbeitet). Es gehört nun zur Natur des Menschen, daß er schon habgierig geboren wird. Ließe man dem freien Lauf, so käme es zu Streit und Raub; Höflichkeit und Bescheidenheit würden verschwinden. Der Mensch kennt von Klein auf Neid und Haß. Ließe man dem freien Lauf, so verschwänden Loyalität und Treue. Von Geburt an besitzt der Mensch alle Arten von Sinnesbegierden. Ließe man ihnen freien Lauf, so käme es zu Unsittlichkeit und Chaos, während Sittlichkeit (Li), Rechtschaffenheit (I), Kultur und Ordnung (Wen-li) zugrundgingen. Wenn man daher der Natur (Hsing) und den Gefühlen (Ch'ing) des Menschen folgte, wären Kampf und Raub unausbleiblich, Zwietracht und Unordnung kämen auf und die Menschen sänken in den Zustand offener Gewalttätigkeit"·' .

Die These des Hsün-tzu, die menschliche Natur sei böse, bedeutet demnach, daß der Mensch egoistisch, unfroh, unfreundlich, gewalttätig gegen die anderen sei (kurz: Der Mensch asozial sei)70. Diese Denkweise kann man auch in dem selben Kapitel bei seiner Definition bzw. Unterscheidung des Guten und des Bösen finden: "Menzius sagt: 'Die menschliche Natur ist gut'. Das ist falsch. Was nach wie vor in der Welt als 'gut' bezeichnet ist, ist die richtige Ordnung und friedliches Regieren. Was als 'böse' genannt ist, ist Abweichung, Gefahr und Chaos. Damit werden das Gute und das Böse streng voneinander unterschieden "71.

Im Vergleich zu der "positiven" Anthropologie des Menzius, die auf einer apriorischen moralischen Subjektivität basiert und das Potential jedes Menschen als handelndes Subjekt hervorhebt, stellt Hsün-tzu eine "negative" Anthropologie 72 dar, die auf einer empirischen asozialen menschlichen Natur beruht und die Möglichkeit jedes Menschen als einem "freien" Objekt der Sozialisation und der sozial-kulturellen Gestaltung betont, das der Kultur und der Gesellschaft zur Verfügung steht.

•• Dazu hat er weiter erläutert: "Was natürlich geschaffen ist, heißt 'menschliche Natur' (Hsing); die Gefühle (Ch'ing) sind die Substanz dieser Natur (Hsing); und was die Gefühle (Ch'ing) tangieren, heißt 'Bedürfnis' (Yü, Trieb)" (Hsün-tzu, XXII, S. 322). " Hsün-tzu, XXIII, S. 327, zitierte Übersetzung nach Schleichert. 1990, S. 276-277. 7\1 Schleichert. 1990. S. 277. 71 Hsün-tzu. XXIII. S. 331. 72 Roetz (1992, S. 355) behandelt die Anthropologie des Hsün-tzu als eine "negative" Anthropologie.

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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Wie gesagt versucht der Konfuzianismus seit Konfuzius energisch, eine Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezogenheit zu konstruieren.

In der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus hat Menzius vor allem die innerliche, subjektive Seite weiter tiefgehend erforscht, d.h. die moralischen Tugenden von innen her (als guter Wille der moralischen Subjektivität) zu interpretieren73 • Im Gegensatz dazu hat Hsün-tzu in erster Linie die äußerliche, objektive Seite näher untersucht, d.h. die moralischen Tugenden von außen her (als objektive Leistung der Kultur und Gesellschaft) betrachtef4 • Die Äußerlichkeit der moralischen Tugenden, die aus der Kultur und Gesellschaft entstanden sind, hat der Empiriker Hsün-tzu folgenderweise dargestellt: "Allgemein gilt: Daß der Mensch gut sein will, liegt daran, daß seine Natur böse (Hsing-o) ist. Dünn will dick, häßlich will schön, eng will weit, arm will reich, niedrig will hoch werden. (Denn) wenn man etwas nicht in sich hat, sucht man es gewiß außen. Wenn einem also als Reichem nicht noch nach Besitz und als Hochgestelltem nicht noch nach Macht verlangt, dann deshalb, weil man gewiß nicht noch außen sucht, was man schon bei sich hat. Von hier gesehen ist der Grund, daß der Mensch gut sein will, eben der, daß seine angeborene Natur böse ist. Da

nun der angeborenen Natur des Menschen die Moral (Li-i)" ursprünglich fehlen, deshalb lernt er unter Zwang und strebt danach, sie zu besitzen. Weil seine angeborene Natur die Moral (Li-i) nicht kennt, denkt er nach und überlegt und strebt danach, sie zu kennen ... Von hier gesehen ist es klar, daß die menschliche Natur böse ist und was an ihm gut ist, ist künstlich gemacht (Wei, erarbeitet) "76.

Inhaltlich gesehen geht es der These des Hsün-tzu, die menschliche Natur sei böse, nicht wörtlich darum, die These des Menzius direkt herauszufordern. Vielmehr versucht sie dadurch, eine scharfe und klare Grenzlinie zwischen der Kultur und der Natur, der Moral und den Sinnen, dem Normativen und dem

73 Wie oben schon dargestellt hat Menzius betont: "Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, SchickIichkeit und Weisheit sind nicht von außen her uns eingetrichtert, sie sind unser ursprünglicher Besitz, die Menschen denken nur nicht daran" (Mong-dsi, VI, A, 6, S. 163). In den anderen zwei Abschnitten hat Menzius wieder mit Kao-tzu die Innerlichkeit oder Äußerlichkeit der Rechtschaffenheit (l) debattiert. Um die These des Kao-tzu, Menschlichkeit (Jen) sei innerlich und Rechtschaffenheit (l) sei äußerlich veranlagt, zurückzuweisen, hat Menzius konsequent betont, daß sowohl Menschlichkeit (Jen) als auch Rechtschaffenheit (l) innerlich verwurzelt sind (vgl. Mongdsi, VI, A, 4-5, S. 161-163). 74 Aber trotz ihrer gegensätzlichen Stellungnahmen versuchen die beiden konfuzianischen Vertreter wie auch Konfuzius, eine Synthese der Innerlichkeit und Äußerlichkeit zu konstruieren. Darüber wird später weiter diskutiert. H Original hat Hsün-tzu die Wörter Li-i (Schicklichkeit und Rechtschaffenheit) verwendet. Inhaltlich gesehen hat er meistens mit den beiden Wörtern "die Moral" oder "das umfassende System der sozialen Normen" gemeint. In den folgenden Zitaten werden die Wörter Li-i in erster Linie als "die Moral" übersetzt. 76 Hsün-tzu, XXIII, S. 331, Übersetzung vgl. Roetz, 1992, S. 360, Hervorhebung von mir.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Natürlich-Faktischen zu ziehen, die bei Menzius wegen seiner andersartigen theoretischen Strategie teilweise nicht klar dargestellt ist77 •

Da die menschliche Natur für Hsün-tzu unmoralisch und asozial ist, sind Moral und soziale Ordnung nur contra naturam und von außen her möglich78 • Beim Menschen sind die moralischen Tugenden nicht natürlich veranlagt, sondern künstlich gemacht. Eine klare Unterscheidung zwischen dem Natürlich-Faktischen und dem Normativen hat er so getroffen: "Was natürlich geschaffen ist, heißt 'menschliche Natur' (Hsing). Dies ist weder erlernbar noch machbar. Was beim Menschen künstlich gemacht und sowohl erlernbar als auch machbar ist, heißt 'Künstlichkeit' (Wei, Erarbeiten). Damit ist die Unterscheidung zwischen Natur (Hsing) und Künstlichkeit (Wei) getroffen "7•.

Trotz ihrer klaren Unterscheidung sind Natur und Künstlichkeit für Hsün-tzu miteinander verbunden: "Die angeborene Natur (Hsing) ist das ursprüngliche Rohmaterial. Die Künstlichkeit (Wei) ist überquellende Fülle an kultivierter Form. Ohne die Natur gäbe es nichts, worauf die Künstlichkeit aufbauen könnte. Von selbst aber, ohne die Künstlichkeit, kann die Natur nicht schön werden. Erst wenn Natur und Künstlichkeit sich miteinander verbinden, kann man sich den Namen eines Weisen (Sheng-jen) und das Verdienst der Einigung der Welt erwerben"'O.

Beim Schaffen des Normativen (der Moral) hat der Weise (Sheng-jen) als "Kulturheroe"81 eine Hauptrolle gespielt, der eine talentierte Künstlichkeit auf der Natur aufbauen kann. Aber seine Natur (Hsing) ist dieselbe wie die der Massen; der einzige Unterschied zwischen ihm und den Massen liegt in seiner talentierten Künstlichkeit: "Was der Weise mit den Massen teilt, ist die menschliche Natur (Hsing); was ihn besonders auszeichnet, ist seine Künstlichkeit (Wei)"82. "Yao und YÜ, sind nicht von Geburt an die Weisen gewesen. Um den Horizont des Weisen zu erreichen, haben sie zunächst ihre Natur verwandelt und sich weiter kultiviert; erst führen sie alles durch, dann sind sie vollständig zu Weisen geworden"".

77 Vgl. Roetz, 1992, S. 348. 7. Vgl. Roetz, 1992, S. 348. 7. Hsün-tzu, XXIII, S. 328. 80 Hsün-tzu, IXX, S. 266-267, zitierte Übersetzung vgl. Roetz, 1992, S. 350 . .. Der Weise bei Hsün-tzu wird von Roetz (1992, S. 357) als "Kulturheroe" bezeichnet. 82 Hsün-tzu, XXIII, S. 330 . • 3 Hsün-tzu, IV, S. 41. Wie gesagt sind Yao (trad. 2233-2184 v. Chr.), Shun (trad. 22232184) und Yü (trad. 2183-2178 v. Chr.) drei legendäre Kaiser, die gemeinsam und nacheinander ein freiwilliges Übergeben des Thrones (Shan-jang) durchgeführt haben (Yao -- > Shun -- > YÜ). Nachdem Konfuzius diese drei legendären Kaiser als die Weisen (Shen-jtin) hervorgehoben hat, werden sie immer wieder von den späteren Konfuzianern als Beispiel der Weisen angeführt.

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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Aber die kulturheroische Fähigkeit der Weisen (Sheng-jen) ist im bestimmten Sinne auch begrenzt, weil sie die angeborene Natur (Hsing) nicht wesentlich verändern, sondern vor allem nur verwandeln (Hua) können 84 • " ... Deshalb haben die Weisen (Sheng-jen) die angeborene Natur verwandelt (Hua-hsing) und die KünstIichkeit initiiert (Ch'i-wei). Wenn die KünstIichkeit initiiert ist, dann ist die Moral (Li-i) auch entstanden; wenn die Moral (Li-i) entstanden ist, sind die Gesetze und Normen anschließend hergestellt. Dabei sind die Moral (Li-i), Gesetze und Normen (Fa-tu) von den Weisen produziert worden"".

Aufgrund seiner Trennung zwischen Natur und Kultur stellt die Theorie des Hsün-tzu eine spezifische Art des Humanismus bzw. Rationalismus dar: Je mehr ein Mensch als solcher künstlich orientiert (kultiviert, sozialisiert, gelernt, ausgebildet usw.) ist, desto vertiefender ist seine Qualität der "Menschlichkeit" bzw. "Mitmenschlichkeit " ; je mehr sich ein Mensch von der "bösen" Natur distanziert (d.h. je mehr er sich der "guten" Kultur und Gesellschaft annähert), desto größer ist seine "Menschlichkeit" bzw. "Mitmenschlichkeit" (d.h. desto größer ist seine Möglichkeit, den Horizont des Gentleman (Chüntzu) und sogar des Weisen (Sheng-jen) zu erreichen). In diesem Sinne kann man den Weisen (Sheng-jen) als einen sich vollständig kultivierten, sozialisierten und ausgebildeten Menschen behandeln, dessen produzierendes Talent gerade die Fähigkeit der Gestaltung seiner Kultur und Gesellschaft verwirklicht. Der Weise (Sheng-jen) als Kulturheroe ist für Hsüntzu der Vertreter der Künstlichkeit bzw. der humanistischen und rationalistischen Entwicklung: Er ist kein Übermensch, auch kein Vertreter der Götter oder irgendeines überirdischen Wesens; er ist der Vertreter seiner Kultur und

GeseUschajt86.

d) Die Ethik des Hsün-tzu als eine Ethik der Heteronomie "Ein Kritiker fragt: 'Wenn die angeborene Natur böse (Hsing-o) ist, wo entsteht dann die Moral (Li-i)?'. Ich antworte ihm: 'Die Moral (Li-i) ist aus der KünstIichkeit (Wei) der Weisen (Shengjen) hervorgegangen, und keinesfalls ursprünglich aus der angeborenen Natur des Menschen. Wenn ein Töpfer Ton modelliert und ein Gefaß herstellt, dann geht das Gefaß doch aus der KünstIichkeit

84 Vgl. Roetz, 1992, S. 350-351. Darüber hat Hsün-tzu gesprochen: "Die Natur (Hsing) ist es, was man nicht machen, aber verwandeln (Hua) kann" (Hsün-tzu, VIII, S. 95). Und den Begriff "verwandeln" (Hua) hat Hsün-tzu auch folgenderweise definiert: "Wenn etwas anders wird, indem es sich im Aussehen, aber ohne einen Wesenuntertschied ändert, so nennt man dies 'verwandeln' (Hua)" (Hsün-tzu, XXII, S. 315, zitierte Übersetzung vgl. Roetz, 1992, S. 351) . • 5 Hsün-tzu, XXIII, S. 330 . •• In diesem Sinne kann man Hsün-tzu als "einen soziologischen Ordnungstheoretiker" ansehen. Die These, Kultur bzw. Gesellschaft als die hauptsächliche, sogar einzige Quelle des "Normativen" zu behandeln, und auch die Angst vor "Anomie", teilt er mit Durkheim. Aber für Hsün-tzu ist der Weise (Sheng-jen) der Vertreter der Gesellschaft; für Durkheim stellt der Gesellschaft das Totem zur Verfügung.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

des Handwerkers hervor und keinesfalls ursprünglich aus der angeborenen Natur des Menschen. Und wenn ein Handwerker aus Holz ein Gefaß schnitzt, dann geht dieses aus der Künstlichkeit des Handwerkers hervor, und keinesfalls ursprünglich aus der angeborenen Natur des Menschen. Die Weisen akkumulienen Nachdenken und Überlegung und übten sich in Künstlichkeit und Zwecksetzung, um so die Moral (Li-i) hervorzubringen und Gesetze und Normen (Fa-tu) aufzustellen. So sind also Moral (Li-i), Gesetze und Normen (Fa-tu) aus der Künstlichkeit hervorgegangen und keinesfalls ursprünglich aus der angeborenen Natur des Menschen"".

Was mit der "Künstlichkeit" (Wei) zu tun hat, sind einige Methoden der Kultivierung, Bildung bzw. Lebensführung: Akkumulation (Chi), Überlegung (Lü) , und Übung (Hsi)88. Sie alle sind es, was faktisch von Menschen geschaffen wird. In diesem Sinne hat Hsün-tzu eine weitere Unterscheidung zwischen dem Natürlich-Faktischen (Hsing, der bösen Natur) und dem Künstlich-Faktischen (Wei, der guten Künstlichkeit) getroffen. Was die von Jellinek dargestellte "normative Kraft des Faktischen" ist, ist bei Hsün-tzu deutlich nicht "die nonnative Kraft" des "Natürlich-Faktischen" (Hsing) , sondern "die nonnative Kraft des Künstlich-Faktischen" (Wei). Moral, Gesetze und Normen können nicht ohne den Beitrag der Gesellschaft und Kultur automatisch aus der Natur entstanden sein; sie sind nur innerhalb menschlicher Gesellschaft und Kultur möglich: Sie sind aus der Gesellschaft und Kultur künstlich entstanden. Wie gesagt ist die menschliche Natur für Hsün-tzu unmoralisch und asozial, und die Moral und soziale Ordnung sind deswegen nur contra naturam und von außen her möglich. Die Methoden der Lebensführung wie Akkumulation (Chi), Überlegung (Lü) und Übung (Hsi) usw. sind alles intensive Bemühungen der Sozialisation, durch welche die Moral und soziale Normen Schritt für Schritt bei jedem Menschen verinnerlicht werden. Die Moral und soziale Normen sind für Hsün-tzu vor allem äußerliche sozial-kulturelle Erfindungen, die wiederum in der menschlichen Ratio, d.h. seiner Fähigkeit zur Zusammenarbeit bzw.

sozialen Vereinigung (Ch 'üen) und seiner Fähigkeit zur Unterscheidung (Fen, Rollenteilung)89, verankert sind.

Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch nach Hsün-tzu trotz seiner bösen Natur die spezifischen vernünftigen Fähigkeiten (Ch 'üen und Fen), sich gegen seine eigene Natur und sozial zu verhalten90 • Durch die erstgenannte

87 Hsün-tzu, XXIII, S. 329-330, Übersetzung vgl. Roetz, 1992, S. 348-349, Hervorhebung von mir . •• Vgl. Roetz, 1992, S. 349 . •• Hier kann man sich wieder an ein Thema Durkheims erinnern: den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Solidarität und sozialer Arbeitsteilung. 90 Wie gesagt behandelt die moderne empirische Anthropologie "Weltoffenheit" und "Plastizität" als die anthropologischen Eigenschaften des Menschen:' "Die Offenheit, d.h. Ungebundenheit an Instinkte, und die Plastizität, d.h. Formbarkeit durch die Einflüsse der Umwelt, stempeln den Menschen auch zu einem Lernwesen, das bei Geburt nicht festgestellt ist und sich zu dem, was es später ist, erst auf dem Umweg über Mitmenschen machen muß" (Griese u.a., 1977, S. 16).

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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eigentümliche vernünftige Fähigkeit (Ch 'üen), gemeinsam zu arbeiten und sich sozial zu verhalten, hat sich der Mensch zunächst von den Tieren abgegrenzt91 • Wie oben dargestellt behauptet die philosophische Anthropologie des Menzius, daß "das Fühlen der vier Keime" die eigentliche Fähigkeit eines jeden Menschen, d.h. eine innewohnende Fähigkeit jeder moralischen Subjektivität, ist. Diese spezielle Fähigkeit, d.h. diese menschliche Natur, ist das kleine, aber hauptsächliche Kriterium, nach dem der Mensch und die Tiere getrennt werden. Im Gegensatz dazu behandelt die empirische Anthropologie des Hsüntzu die menschliche rationale Fähigkeit zum Vergellschaften (Ch 'üen) als den ersten wichtigen Unterschied zwischen Menschen und den Tieren: "Es gibt bei Wasser und Feuer Bewegung, aber kein Leben; es gibt bei Pflanzen und Bäumen Leben, aber kein Wissen; es gibt bei Vögeln und Tieren Wissen, aber keine Rechtschaffenheit (I); weil es nur beim Menschen Bewegung, Leben, Wissen und Rechtschaffenheit gibt, hat sich der Mensch als der Hochgestellte in der Welt ausgezeichnet. Obwohl der Ochse kräftiger als der Mensch ist und das Pferd schneller als der Mensch läuft, werden sie trotzdem vom Menschen verbraucht. Warum? Weil der Mensch die Fähigkeit dazu hat, sich zu vergesellschaften (Ch'üen, die Gesellschaft zu bilden); und die anderen Tiere sind nicht fähig dazu, die Gesellschaft zu bilden (Ch 'üen). Warum hat der Mensch die Fähigkeit zum Vergellschaften (Ch'üen)? Antwort: Wegen Unterscheidung (Fen, Differenzierung)92. Warum ist eine solche Unterscheidung durchführbar? Antwort: Wegen Rechtschaffenheit (I). Wird also gemäß der Rechtschaffenheit die soziale Differenzierung durchgeführt, dann herrscht Harmonie (Ho). Harmonie bedeutet Einheit, Einheit bedeutet große Kraft, große Kraft bedeutet Stärke, und Stärke bedeutet, die Dinge unterwerfen zu können. Auf diese Weise wurde es den Menschen möglich, Häuser zu bewohnen. Eine Ordnung für die jahreszeitlichen Arbeiten festzulegen, über die Dingwelt zu verfügen und der ganzen Welt mit nützlich zu sein hat also nichts anderes zur Grundlage als Unterscheidung (Fen) und Rechtschaffenheit (I). Darum kann der Mensch gar nicht ohne Gesellschaft (Ch 'üen) 9Jleben. Eine

Dabei wird Kultur als Produktivität und Feststellung des Menschen angesehen: Das Unfertige und Nicht-Festgestelltsein des Menschen wird aber durch seine Fähigkeit des Sich-Feststellens bzw. des Schaffens einer Kultur eingeschränkt (Griese u.a., 1977, S. 17). In diesem Sinne sind die von den Menschen gegeneinander und zusammen festgestellten Normen und Ordnungen wie Sitten, Rechtsformen, Institutionen als menschliche Produktivitäten anzusehen, "welche die unvorstellbare Plastizität und Nichtfestgestellheit des Menschen sozusagen auf Schienen legen und eingrenzen" (Gehlen, 1977, S. 59). Obwohl Hsün-tzu von der menschlichen bösen (m.a.W. asozialen) Natur überzeugt ist, betont er trotzdem die menschliche Fähigkeit zum Lernen und Kultivieren und zum Vergesellschaften (Ch 'üen) , die gegen seine eigene asoziale Natur die soziale Normen schaffen und sich durchsetzen kann (auch eine Fähigkeit des Sich-Feststellens). Daher stimmt unter solchen Perspektiven die Meinung des Hsün-tzu mit der modemen soziologischen Rollentheorien überein. Dazu kommen wir später . •, Vgl. Roetz, 1992, S. 358-359. 92 Wie gesagt wird der Begriff Fen von Roetz (1992, S. 110) als "Rollenreilung" übersetzt (vgl. Fußnote 17) . • 3 Der Begriff Ch'üen wird hier nicht als Verb (vergesellschaften), sondern als Substantiv (Gesellschaft) verstanden. Interessanterweise hat dieser Begriff Ch 'üen auch mit der Rezeptionsgeschichte der Soziologie in China etwas zu tun: als man die modeme westliche Disziplin Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts in China übernahm, wurde sie zunächst als "Ch'üen"-hsüeh

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Gesellschaft ohne Unterscheidung (Fen) bedeutet Chaos, Chaos bedeutet Desintegration und Desintegration bedeutet Schwäche. In einem Zustand der Schwäche kann man sich die Dinge nicht unterwerfen .....

Die eigentümliche Fähigkeit des Menschen zum Vergellschaften (Ch'üen), setzt nach Hsün-tzu wiederum die zweite spezifische (rationale) Fähigkeit des Menschen voraus: Seine Fähigkeit zur Unterscheidung (Fen), d.h. seine Fähigkeit zur Rollenteilung95 • Durch diese zwei eigentümlichen Fähigkeiten (Vergellschaften und Unterscheidung) wird der Mensch von den Tieren streng abgegrenzt. Im nächsten Zitat wird die menschliche eigentümliche Fähigkeit zur Unterscheidung (Rollenteilung) nochmal verdeutlicht: "Woran liegt es, daß sich der Mensch als Mensch verhält? Antwort: Wegen seiner Fähigkeit zur Unterscheidung (pien, Rollenteilung)'" ... Warum sich der Mensch als Mensch verhält, liegt nicht

daran, daß er zwei Füße und keine Körperbehaarung hat, sondern vor allem daran, daß er unterscheiden (pien) kann ... Bei den Tieren gibt es zwar auch Vater und Sohn, aber keine Güte zwischen Vater und Sohn; bei ihnen gibt es das weibliche und das männliche Geschlecht, aber keine Unterscheidung (Pien, Rollenteilung) zwischen Mann und Frau. Darum ist der menschliche Weg (Tao) ohne Unterscheidung (Pien) nicht durchführbar" 97 •

Wie schon dargestellt wurde, ist die menschliche Natur für Hsün-tzu unmoralisch und asozial (egoistisch, unfroh, unfreundlich, gewalttätig usw.); und die Moral und soziale Normen sind deswegen nur contra naturam und von außen her möglich: Sie sind für Hsün-tzu vor allem äußerliche sozial-kulturelle Erfindungen, die wiederum in menschlicher Ratio, d.h. seiner Fähigkeit zur Zusammenarbeit bzw. sozialen Vereinigung (Ch 'üen) und seiner Fähigkeit zur Unterscheidung (Fen, Rollenteilung) , verankert sind. Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch nach Hsün-tzu trotz seiner bösen Natur die spezifischen vernünftigen Fähigkeiten (Ch 'üen und Fen), sich gegen seine eigene Natur sozial zu verhalten . . Logisch gesehen hat Hsün-tzu seine empirische, "negative" Anthropologie nicht systematisch und konsequent durchgesetzt. Sein Argument widerspricht sich selbst am Ende: Obwohl die Natur des Menschen böse (asozial) sei, habe er trotzdem im Gegensatz zu den Tieren seine eigentümlichen vernünftigen

(Lehre der Gesellschaft) übersetzt. .. Hsün-tzu, IX, S. 109-110, Übersetzung teilweise vgl. Roetz, 1992, S. 110-111, Hervorhebung von mir. 9S Nach den soziologischen Rollentheorien (Griese u.a., 1977, S. 12) verhalten sich die Menschen im Gegensatz zu allen Tieren rollengemäß (mit Berücksichtigung der Erwartungen anderer Menschen). Mensch zu sein, ist ein Lemprozeß unter der sozialkulturellen Umwelt. Ein Kind, das als Mensch anerkannt wird, lernt, sich selbst als Mensch zu verhalten. Dadurch wird der Mensch größtenteils das, was seine Mitmenschen in ihn hineingelegt haben. Eine solche Behauptung liegt mit der des Hsün-tzu sehr nahe beieinander. Eine konfuzianische (moralische) Rollentheorie wird im nächsten Kapitel systematisch dargestellt. 96 Der Begriff Pien ist das Synonym des Begriffes Fen. 97 Hsün-tzu. V, S. 51-52.

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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Fähigkeiten dazu, sich gegen seine eigene Natur und sozial zu verhalten. Sind diese Fähigkeiten zum Sozialen nicht wie die Natur des Bösen (Asozialen) auch ein Teil der menschlichen Natur? Was kann diesen Fähigkeiten zugrunde liegen? Kann eine rein äußerliche Künstlichkeit ohne irgendeine innewohnende natürliche Grundlage tatsächlich endgültig durchgeführt werden? Womit kann er seine universalistische These, d.h. jeder Mensch habe die selbe Möglichkeit bzw. den gleichen Zugang zum Sozialen (zur Künstlichkeit), als richtig beweisen, wenn er schon behauptet hat, daß die menschliche Natur eigentlich asozial sei?98. Dieser innewohnende theoretische Widerspruch bei Hsün-tzu wird von ihm selbst deutliehst dargestellt, wenn er mit ganzer Kraft behauptet, daß jeder Mensch die selbe Möglichkeit hat, ein Weiser (Shen-jen) zu werden: "Was meint der Anspruch: 'Auch der gewöhnlichste Mensch kann ein Weiser wie Yü" werden?' Er bedeutet folgendes: Das, wodurch YÜ das wurde, was er wurde, war sein Praktizieren der Menschlichkeit, Rechtschaffenheit, Gesetzen und Normen. Es gibt die Möglichkeit, solche Moral und Normen zu wissen und zu beherrschen. Jeder Mensch hat die eigentliche Qualität (Chih), solche Moral und Normen zu wissen und er hat auch das eigentliche Mittel (Chü), solche Moral und Normen zu beherrschen. Daher kann jeder Mensch ein Weiser wie Yü werden ... Man bringe einen Menschen dazu, sich der richtigen Methode zu unterwerfen und sich dem Studium zu widmen, seinen Geist zu konzentrieren, seinen Willen auf eines zu richten, nachzudenken und detaillierte Einsichten zu gewinnen. Wenn er hiermit täglich und über lange Zeit fortfahrt, wenn er mehr und mehr Gutes anhäuft und dessen nicht müde wird, dann wird er Zugang zur wundersamsten Erleuchtung gewinnen und Himmel und Erde gleichkommen. Ein Mensch kann ein Weiser auf akkumulative Weise werden"loo.

Nach Hsün-tzu hat jeder Mensch die eigentliche Qualität (Chih) und die eigentliche Methode (Chü), Moral und Normen zu erkennen und zu beherrschen. Aufgrund dieser zwei Eigenschaften hat jeder Mensch die selbe Möglichkeit, ein Weiser (Sheng-jen) zu werden 101 • Sind diese beiden Eigenschaften kein Teil der menschlichen Natur? Sind sie nicht "böse" Natur, sondern "gute" Natur des Menschen?

98 Vgl. Lao, 1981, S. 279-282 . .. Yü ist ein legendärer Kaiser (trad. 2183-2178 v. ehr.) und wird oft von den Konfuzianem als den Weisen betrachtet, vgl. Fußnote 83. 100 Hsün-tzu, XXIII, S. 334, Übersetzung vgl. Schleichert, 1990, S. 282 und Roetz, 1992, S. 357, Hervorhebung von mir. 101 Man kann Hsün-tzu weiter fragen: Wenn die Weisen das Akkumulieren zustandebringen, warum können das nicht alle Menschen? Auf eine solche Frage antwortet Hsün-tzu: "Sie hätten schon die Möglichkeit, können diese Möglichkeit aber nicht realisieren ... Es stimmt tatsächlich, auch ein gewöhnlicher Mensch hat die Möglichkeit, ein Weiser wie Yü zu werden. Aber er ist nicht in der Lage, diese Möglichkeit zu verwirklichen. Daß er nicht in der Lage ist, widerspricht der Möglichkeit nichl...Daß einer etwas nicht tun kann, obwohl es möglich ist, es zu tun, ist kein Widerspruch. Können bzw. Nicht-Können einerseits, und Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit andererseits sind weit voneinander verschieden; daß sie nicht verwechselt werden dürfen, ist klar" (Hsün-tzu, XXIII, S. 335, Übersetzung vgl. Schleichert, 1990, S. 282-283).

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Auch Menzius behauptet, daß jeder Mensch ein Weiser werden kann 102 . Die Begründung des Menzius liegt gerade darin, daß die menschliche Natur gut sei. Da jeder Mensch apriorisch eine absolut gute Natur hat, m.a. W. da jeder Mensch von Geburt an das absolute Gute der moralischen Subjektivität hat, besitzt er auch gleichzeitig das Potential bzw. Talent, ein Weiser zu werden. Im Vergleich dazu behauptet Hsün-tzu einerseits, daß die menschliche Natur böse (asozial) sei, andererseits behauptet er zugleich, daß jeder Mensch seine eigentliche Qualität (Chih) und Methode (Chü) hat, Moral und Normen zu erkennen und beherrschen. Und aufgrund dieser zwei Eigenschaften hat jeder Mensch die Möglichkeit, seine böse (asoziale) Natur zu überwinden und dadurch ein Weiser zu werden. Logisch gesehen hat Hsün-tzu tatsächlich seine empirische, "negative" Anthropologie nicht systematisch und konsequent durchgesetzt. Warum gibt es eine solche Paradoxie bei Hsün-tzu, die so bemerkbar ist? Aus zwei tieferen Gründen kann dies auftreten: (1) Seine negative These, die menschliche Natur sei böse, hat sich vor allem nicht auf ein logisch sauberes Argument, sondern vielmehr auf seine Betonung des moralischen Beitrags der Gesellschaft und Kultur (Wei, die normative Kraft des Künstlich-Faktischen) bezogen 103 • Durch diese Betonung hat sich Hsüntzu als der dritte Vertreter des Konfuzianismus (neben Konfuzius und Menzius) ausgezeichnet: In der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus nach Konfuzius hat Hsün-tzu in erster Linie die äußerliche, objektive Seite der moralischen Tugenden näher untersucht, d.h. die moralischen Tugenden von außen her (als objektive Leistung der Kultur und Gesellschaft) zu betrachten 104 • (2) Aber trotz seiner Betonung kann Hsün-tzu nicht vom gemeinsamen Wege der Konfuzianer seit Konfuzius allzu weit abweichen: Die Konfuzianer sollten ohne Ausnahme mit ihrer ganzen Kraft versuchen, eine Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezo-

102 "Ts'u Tzu sprach: 'Der König hat Leute ausgesandt, nach Euch zu spähen, Meister, ob Ihr wirklich anders aussähet als gewöhnliche Menschen'. Menzius sprach: 'Warum sollte ich anders sein als andere Menschen? Selbst die Weisen Yao und Shun waren gleich wie andere Menschen" (Mong-dsi, IV, B, 32, S. 132, Hervorhebung von mir). "Ts'ao Chiao fragte den Menzius und sprach: 'Es heißt, alle Menschen können die Weisen Yao und Shun sei. Ist das wahr?' Menzius sprach: 'Ja'" (Mong-dsi, VI, B, 2, S. 172, Hervorhebung von mir). Yao (trad. 2233-2184 v. Chr.), Shun (trad. 2223-2184) und YÜ (trad. 2183-2178 v. Chr.) sind drei legendäre Kaiser. In den obigen Zitaten werden Yao und Shun von Menzius als die Weisen ausgezeichnet, während Yao und YÜ von Hsün-tzu als Beispiel des Weisen genannt werden. 103 Vgl. Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 238. '04 Im Gegensatz dazu hat Menzius vor allem die innerliche, subjektive Seite der moralischen Tugenden weiter vertiefend erforscht, d.h. die moralischen Tugenden von innen her (als guter Wille der moralischen Subjektivität) zu interpretieren.

2. Die Synthese von Autonomie und Heteronomie (2)

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genheit ZU konstruieren. Da Hsün-tzu auch an eine solche konfuzianische Tradition gebunden ist, kann er nicht die innerliche, subjektive Seite der moralischen Tugenden total vernachlässigt. Nur aus diesen bei den Gründen kann man es näher verstehen, warum eine solche Paradoxie bei ihm so offensichtlich ist: Er behauptet einerseits, daß die menschliche Natur böse (asozial) sei, andererseits behauptet er zugleich, daß jeder Mensch seine eigentliche Qualität (Chih) und Methode (Chü) hat, Moral und Normen zu wissen und beherrschen; und aufgrund dieser zwei Eigenschaften hat jeder Mensch die Möglichkeit, seine böse (asoziale) Natur zu überwinden und dadurch ein Weiser zu werden. Man muß des weiteren seine Theorie über das menschliche Herz (Hsin) erforschen. Während Menzius die menschliche Natur (Hsing) mit der moralischen Subjektivität (Hsin, dem Herzen) gleichgesetzt hat, hat Hsün-tzu die menschliche Natur (Hsing) und das menschliche Herz (Hsin) streng voneinander unterschieden. Während Menzius vor allem das menschliche Herz (Hsin) als die eigentliche Grundlage des menschlichen moralischen Bewußtseins, d.h. als die moralische Subjektivität behandelt hat, hat Hsün-tzu das menschliche Herz (Hsin) vor allem als die kognitive Grundlage des menschlichen Wissens angesehenlos. Um die obenerwähnten eigentlichen menschlichen Eigenschaften, die Fähigkeiten wie Chün (Vergellschaften), Fen (Rollenteilung) und Moral-Orientierung (Chih und Chü) zu ergänzen und weiter zu interpretieren, hat Hsün-tzu seine Theorie über das menschliche Herz (Hsin) entwickelt. "Was von Geburt an so ist, wie es ist, heißt 'menschliche Natur' (Hsing). Was entsprechend der Natur von Geburt an vorhanden ist, nämlich das Arbeiten der Sinnesorgane, die ohne Zutun von selbst funktionieren, heißt ebenfalls 'menschliche Natur' (Hsing). Das auf dieser Natur beruhende Lieben und Hassen, Frohsinn und Zorn, Traurigkeit und Freude, heißen 'Gefühle' (Ch'ing). Wenn Gefühle aufkommen, und das Herz (Hsin) zwischen ihnen auswählt (Tzo), so heißt dies 'Überlegen'(Lü). Wenn das Herz überlegt und der Mensch diese Überlegung in die Tat umzusetzen (Tung) fähig ist, so heißt dies 'Künstlichkeit' (Wei, Erarbeiten). Oft überlegen und diese Fähigkeit üben (Hsi), so daß sich Erfolg einstellt, heißt ebenfalls 'Künstlichkeit' (Wei, Erarbeiten)" 106.

Während Hsün-tzu die menschliche Natur (Hsing) einfach als das Arbeiten der Sinnesorgane behandelt hat, hat er das menschliche Herz (Hsin) als die innerliche unentbehrliche Vorbedingung der menschlicher Kultur bzw. Künstlichkeit (Wei) angesehen. Das menschliche Herz (Hsin) ist dazu fähig, die sinnlichen Gefühle auszuwählen (Tso), rational zu überlegen (Lü), danach in die Tat umzusetzen (Tung) und regelmäßig zu üben (Hsi). Einerseits hat Hsün-tzu die Künstlichkeit (Wei) vor allem als den Beitrag der äußerlichen, objektiven Gesellschaft und als "die normative Kraft des Künst-

Vgl. Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 239-240. Hsün-tzu, XXII, S. 309-310, zitierte Übersetzung nach Schleichen, 1990, S. 276, Hervorhebung von mir. 10'

106

9 Lin

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

lieh-Faktischen" behandelt. Und was mit der "Künstlichkeit" (Wei) zu tun hat, sind einige Methoden der Kultivierung, Bildung bzw. Lebensführung: Auswahl (Tso) , Überlegung (Lü) , in die Tat umzusetzen (Tung) und Übung (Hsi); sie sind alle intensive Bemühungen der Sozialisation, durch welche die Moral und soziale Normen Schritt für Schritt contra naturam und von außen her bei jedem Menschen verinnerlicht werden. Aber andererseits hat Hsün-tzu unvermeidlich eine innerliche Vorbedingung für den Erfolg der Künstlichkeit (Wei, der normativen Kraft des KünstlichFaktischen) anerkannt: Die natürlichjaktische Existenz eines menschlichen Herzens (Hsin), ohne dessen Akzeptanz und Funktion die obigen Methoden der Sozialisation (Tso, Lü, Tung und Hsi) und Künstlichkeit (Wei) unmöglich durchgeführt werden können. In diesem Sinne ist für ihn das menschliche Herz (Hsin) der unentbehrliche innerliche Adressat der menschlichen Kultur einschließlich der Moral und sozialen Normen. Das menschliche Herz (Hsin) ist für den Empiriker Hsün-tzu zwar als der innerliche Adressat der Kultur und der Normen anerkannt, aber es ist für ihn keine "moralische Subjektivität" im Sinne des Menzius, sondern vor allem das wichtigste sinnliche Organ des Menschen und die kognitive Basis des menschlichen Wissens: "Das Herz (Hsin) liegt in der Brusthöhle und beherrscht die fünf Sinnesorgane (Ohr, Auge, Mund, Nase und Körper); Daher wird es als 'himmlischer Herr'(T'ien-chün) bezeichnet"107. "Das Herz ist der Herr aller Sinnesorgane und innerlichen Denkens"I03. "In der Hauptsache des Regierens geht es darum, den Weg lO9 zu wissen (Chih-tao). Wie kann

man den Weg wissen? Mit dem Herzen (Hsin). Womit kann das Herz wissen? Mit den Methoden der Bescheidenheit, Konzentration und Ruhe ... Von Geburt an hat das Herz die Fähigkeit zum Wissen, Wissen bedeutet zunächst Gedächtnis, Gedächtnis bedeutet Speichern; was das Herz mit der Methode der Bescheidenheit versucht, den Weg zu wissen, bedeutet es: Nicht mit dem gespeichenen Gedächtnis das Wissen der neuen Dinge zu verhindern. Von Geburt an hat das Herz die Fähigkeit zum Wissen, Wissen bedeutet Differenz, Differenz bedeutet es, daß man gleichzeitig zwei verschiedene Dinge wissen kann; was das Herz mit der Methode der Konzentration versucht, den Weg zu wissen, bedeutet es: Nicht mit dem Wissen des ersten Dinges das Wissen des zweiten Dinges zu verhindern. Wenn man das Herz schlafen läßt, träumt es; wenn man das Herz vernachlässigt, bewegt es sich unordentlich; wenn man das Herz verwendet, denkt es ordentlich; deswegen bewegt sich das Herz immer; und was das Herz mit der Methode der Ruhe versucht, den Weg zu wissen, bedeutet es: Nicht mit dem Traum und Chaos das Wissen zu verwirren. Wenn einer

den Weg (Tao) nicht gewußt hat und nach ihm suchen möchte, sollte man ihn über die Methoden der Bescheidenheit, Konzentration und Ruhe unterrichten"llO.

107 Hsün-tzu, XXVII, S. 223. 108 Hsün-tzu, XXI, S. 296. 109 Nach Hsün-tzu hat sich das Wort Weg (Tao) in der Ebene der Erkenntnistheorie vor allem auf das objektive Prinzip des Wissens bezogen. 110 Hsün-tzu, XXI, S. 294-295, Hervorhebung von mir.

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Das menschliche Herz (Hsin) ist für Hsün-tzu zwar der Herr aller Sinnesorgane und der innerliche Adressat der menschlichen Erkenntnis. Aber seine hauptsächliche Funktion ist nicht das Produzieren irgendeines subjektiven Urteils, sondern Aufnehmen des äußerlichen, objektiven Wissens!!!. Die endgültige Garantie für ein klares und fehlerfreies Wissen liegt nicht in dem innerlichen Herzen (Hsin), sondern vor allem an dem äußerlichen, objektiven Wege (Tao), aus dem das entscheidende Prinzip und der letztendliche Maßstab der menschlichen Erkenntnis stammt. Für Hsün-tzu gibt es immer verschiedene Hindernisse und Bedeckungen (Pi) beim Aufnehmen des Wissens des menschlichen Herzens (Hsin), die nur durch die genannten Methoden (Bescheidenheit, Konzentration und Ruhe) überwunden und befreit werden können. Erst durch diese Methoden kann das menschliche Herz (Hsin) ohne Schwierigkeit den objektiven Weg (Tao), d.h. das entscheidende Prinzip der menschlichen Erkenntnis, erreichen. Das Kapitel XXI des Buches Hsün-tzu, aus dem das obige Zitat stammt, lautet "Zur Befreiung von Bedeckungen" (Chieh-pi) und stellt eine klassische chinesische Erkenntnistheorie dar ll2 . Im obigen Zitat wird die hauptsächliche Funktion des Herzens, das objektive Wissen aufzunehmen, wiederum in drei Sub-Funktionen eingeteilt: Gedächtnis, Differenz (Unterscheidung) und Denken. Aber jede Sub-Funktion hat ihre spezifische Frage der Bedeckung, die nur durch eine bestimmte Methode gelöst werden kann: Die Frage der Sub-Funktion Gedächtnis wird durch Bescheidenheit gelöst, die der Sub-Funktion Differenz durch Konzentration, und die der Sub-Funktion Denken durch Ruhe ll3 . Erst durch diese drei Methoden können die Sub-Funktionen des Herzens (Hsin) von den verschiedenen Bedeckungen befreit werden. Dadurch wird es zugleich dem menschlichen Herzen (Hsin) ermöglicht, den objektiven Weg (Tao) zügig zu erreichen und ihn klar und fehlerfrei zu wissen. Nicht das innerliche Herz (Hsin), sondern der äußerliche Weg (Tao) kann ein klares und fehlerfreies Wissen garantieren. Ohne den Weg (Tao) zu erreichen, kann das menschliche Herz (Hsin) das Prinzip der Erkenntnis nicht feststellen. Als der Herr aller Sinnesorgane hat das Herz (Hsin) neben der Funktion der Kontrolle aller Sinnesorgane und der Funktion der Kognition (Aufnehmen des objektiven Wissens) keine mehr anderen Aufgaben mehr. Mit anderen Worten ist für Hsün-tzu das menschliche Herz (Hsin) außer solchen Funktionen inhaltsleer 1l4 • Deswegen hat er mehrmals mit der Metapher des Wassers im Teller versucht, das menschliche Herz (Hsin) darzustellen. Wie

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9*

Vgl. Lao, 1981, S. 283. Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 241. Vgl. Hwang, 1988, S. 79-80. Hsü, Fu-kuan, 1963, S. 243.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

das Wasser im Teller leicht von dem sanften Wind beeinflußt wird, wird das menschliche Herz (Hsin) auch leicht von verschiedenen Sachen verdeckt und durcheinander gebracht. In diesem Sinne behandelt Hsün-tzu das menschliche Herz (Hsin) vor allem nicht als eine aktive Subjektivität, sondern als einen passiven Adressaten beim Prozeß der Erkenntnis. Ohne den Weg (Tao) zu erreichen und dessen Hilfe zu erhalten, kann das menschliche Herz (Hsin) kein klares und fehlerfreies Wissen durchsetzen. Nur der äußerliche, objektive Weg (Tao) kann uns Maßstab und Prinzip der menschlichen Erkenntnis anbieten 115 • Aber ohne das Herz (Hsin), das die Rolle des innerlichen Adressaten des Wissens übernimmt, kann der Prozeß der menschlichen Erkenntnis nicht durchgeführt werden. Das innerliche Herz (Hsin) und der äußerliche Weg (Tao) sind deswegen zwar zwei unterschiedliche Dinge, aber sie sind für ein klares und fehlerfreies Wissen miteinander verbunden. Aber die Zusammenarbeit zwischen dem innerlichen Herz (Hsin) und dem äußerlichen Weg (Tao) ist für Hsün-tzu nicht nur eine Frage, die auf die Ebene der Erkenntnistheorie zu begrenzen ist. Vielmehr ist sie eine Frage der Begründung seiner Moralphilosophie. Als typischer Konfuzianer hat Hsün-tzu sich darauf konzentriert, nicht eine Erkenntnistheorie, sondern vielmehr eine Moralphilosophie zu begründen. Seine Erkenntnistheorie ist keine Theorie an sich, sondern ein Mittel zur Begründung seiner Moralphiolosophie1l 6 • In seiner Zeit gibt es mehr theoretische Gegner als zur Zeit des Konfuzius oder des Menzius. Er ist durch diese Tatsache dazu gezwungen, seine Moralphilosophie mit der Hilfe der Erkenntnistheorie und der Logik herzuleiten. Kurz: Seine Erkenntnistheorie und Logik zielen in erster Linie darauf, seiner Moralphilosophie zu dienen 117 • Wie gesagt hat Hsün-tzu eine unvermeidliche innerliche Vorbedingung für den Erfolg der Künstlichkeit (Wei, der normativen Kraft des Künstlich-Faktischen) genannt: Die natürlich-faktische Existenz eines menschlichen Herzens (Hsin) , ohne dessen Akzeptanz und Funktion die Methoden der Sozialisation (Überlegung [Lü], Übung [Hsi] usw.) und Künstlichkeit (Wei) nicht durchgeführt werden können. In diesem Sinne ist für ihn das menschliche Herz (Hsin) der unentbehrliche innerliche Adressat der menschlichen Kultur einschließlich der Moral und sozialen Normen. Ähnlich wie die Zusammenarbeit

'" Im Kapitel XXI seines Buches hat Hsün-tzu so formulien: "Was bedeutet Maßstab? Antwon: Der Weg (Tao). Daher mußt das menschliche Herz (Hsin) unbedingt den Weg (Tao) wissen. Wenn das Herz (Hsin) den Weg (Tao) nicht weiß, dann kann es den Weg (Tao) verneinen und den falschen Weg (Fui-tao) bejahen" (Hsün-tzu, XXI, S. 293). 116 Zusammenfassend kann man auch die Übermacht der Moralphilosophie gegenüber der Erkenntnistheorie und Logik usw. als einen wichtigen Charakterzug des Konfuzianismus im allgemeinen bezeichnen. 117 Ob ihm ein solches Vorhaben gelungen ist oder nicht, ist eine andere Frage.

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zwischen dem innerlichen Herzen (Hsin) und dem äußerlichen Wege (Tao) beim Prozeß der Kognition des Menschen ist die Kooperation zwischen dem innerlichen Herzen (Hsin) und der äußerlichen Künstlichkeit (Wei) beim Prozeß der Sozialisation und Verinnerlichung der Moral und der sozialen Normen: Obwohl nur die äußerliche Künstlichkeit (Wei) den Erfolg der Sozialisation und Verinnerlichung der Moral und sozialen Normen garantieren kann, ist die Durchführung dieser Sozialisation und Verinnerlichung der Moral und der sozialen Normen ohne das innerliche Herz (Hsin), das die Rolle des Adressaten übernimmt, auch nicht möglich; das innerliche Herz (Hsin) und die äußerliche

Künstlichkeit (Wei) sind deswegen zwar zwei unterschiedliche Dinge, aber sie sind für die Sozialisation und Verinnerlichung der Moral und der sozialen Normen miteinander verbunden. Wenn man weiterhin das Wort Weg (Tao) bei Hsün-tzu genau überprüft, dann kann man feststellen, daß das Wort Weg (Tao) von ihm hauptsächlich nicht nur als das objektive Prinzip des Wissens im Sinne der Erkenntnistheorie, sondern auch als das objektive Prinzip der Moral im Sinne der Moralphilosophie behandelt wird l18 • Es gibt für Hsün-tzu nur einen objektiven Weg (Tao), der sowohl theoretisch als auch praktisch zu verwenden ist ll9 • Der Weg (Tao) im praktischen Sinne ist für Hsün-tzu wichtiger als der Weg (Tao) im theoretischen Sinne. Als typisch Konfuzianer bevorzugt er konsequent eine Moralphilosophie und den Weg (Tao) im praktischen Sinne. Das Wort Tao bedeutet für ihn vor allem den Weg bzw. das objektive Prinzip der Moral. "Konfuzius kultiviert sich mit Menschlichkeit (Jen) und Weisheit (Chih) und hat keine Frage der Bedeckung (Pi) ... Dadurch hat er allein den umfassenden Weg (Chou-tao) beschritten ... "120. "Der Bauer kann in der Feldarbeit bewandert sein, aber er kann trotzdem nicht Meister der Feldarbeit sein; der Kaufmann kann im Geschäft bewandert sein, aber er kann trotzdem nicht Meister des Geschäftes sein; der Handwerker kann im Werkzeug bewandert sein, aber er kann trotzdem nicht Meister des Werkzeugs sein; nur der Mann, der in dem Wege (Tao) bewanden ist, kann die Rolle des Meisters dieser drei Techniken übernehmen, obwohl er jede dieser drei Techniken nicht beherrscht. Warum? Antwort: Wer, der in einen einzigen Ding bewanden ist, kann nur

dieses Ding beherrschen; wer, der in dem Wege (Tao) bewanden ist, kann umfassend alle Dinge beherrschen. Daher konzentrien sich der Gentleman (Chün-tzu) auf den Weg (Tao), um alle Dinge zu eTjorschen" 121 •

In diesen beiden Zitaten wird deutlich dargestellt, daß das Wort Tao von Hsün-tzu vor allem als der moralische Weg bzw. das objektive Prinzip der Moral behandelt wird. Da Konfuzius in der Moral bewandert ist, kann er allein

Vgl. Fung, 1970, S. 361; Hwang, 1988, S. 81. Obwohl man das Wort Tao bei Hsün-tzu mit dem Wort Vernunft bei Kant nicht gleichsetzen kann, läßt sich das Wort Tao trotzdem unter beiden Aspekten (theoretisch und praktisch) verstehen. 120 Hsün-tzu, XXI, S. 292. 121 Hsün-tzu, XXI, S. 298, Hervorhebung von mir. m

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den umfassenden Weg (Chou-tao) beherrschen. Wer in dem (moralischen) Wege (Tao) bewandert ist, kann umfassend alle Dinge beherrschen und die Rolle des Meisters übernehmen, obwohl er keine einzige Technik leisten kann. Der Schlüssel zur Erforschung aller Dinge liegt deswegen für Hsün-tzu nicht in z.B. irgendeiner Wissenschaft wie Physik, begründet, sondern im Beschreiten des Wegs (Tao) im praktischen Sinne (des objektiven Prinzips der Moral). Typisch konfuzianisch ist die Stellungnahme des Hsün-tzu: Moralphilosophie ist wichtiger als Erkenntnistheorie und Logik, Tugend-Wissen wichtiger als Sinn-Wissen, und der Weg (Tao) im praktischen Sinne wichtiger als der Weg (Tao) im theoretischen Sinne. Wenn Hsün-tzu das Wort Tao in erster Linie als den Weg im praktischen Sinne (das objektive Prinzip der Moral) behandelt, dann nähert sich seine Bedeutung der des Wortes Wei (Künstlichkeit, normative Kraft des KünstlichFaktischen). Sowohl der Weg (Tao) im praktischen Sinne als auch die Künstlichkeit (Wei) sind äußerliche, objektive Quelle der Normativen bzw. der Moral. Im Gegensatz zu Menzius, der die innerliche gute menschliche Natur (Hsingshan) und das menschliche subjektive Herz (Hsin, die moralische Subjektivität) als Ursprung und Garantie der Moral und Normen hervorhob, hat Hsün-tzu die äußerliche Künstlichkeit (Wei) und den objektiven Weg (Tao) im praktischen Sinne als Quelle und Garantie der Moral und Normen behandelt. Nur ein Weiser (Sheng-jen), z.B. Konfuzius, kennt den moralischen Weg (Tao); nur er kann die Künstlichkeit (Wei) schaffen. Aber er ist kein Übermensch, sondern Vertreter seiner Gesellschaft und Kultur. Alle Moral, Gesetze und Normen können nicht ohne den Beitrag der Gesellschaft und Kultur aus der Natur automatisch entstanden sein; sie sind nur innerhalb menschlicher Gesellschaft und Kultur möglich: Sie sind aus der Gesellschaft und Kultur künstlich entstanden. Dabei wird Li von Hsün-tzu als ein umfassendes System der sozialen Normen (Sittlichkeit, Gewohnheit, Brauch, Sitte, Konvention, Recht usw.), das nur aus der menschlichen Gesellschaft und Kultur entstehen kann, anerkannt und als wichtigster Beitrag der Gesellschaft und Kultur hervorgehoben. Hsün-tzu, der dritte Vertreter des Konfuzianismus (neben Konfuzius und Menzius), dessen Meinung den Ordnungstheoretikern innerhalb der Soziologie nahesteht, hat immer wieder die Funktion von Li für die soziale Ordnung betont: "Ohne Sittlichkeit (Li) kann der Mensch nicht leben, er kann ohne sie seine Aufgaben nicht erfüllen, und Staat und Familie geraten ohne sie in Unfrieden"l22.

122

Hsün-tzu, ll, S. 16, zitierte Übersetzung nach Schleichen, 1990, S. 301.

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Als ein hervorragender Fachmann von Li hat Hsün-tzu überall in seinem Buch die Unentbehrlichkeit von Li für eine stabile sozial-politische Ordnung konsequent artikuliert. Um eine Gefahr des "Kampfes aller gegen alle" in dem menschlichen natürlichen Zustand zu vermeiden, hat Hsün-tzu ähnlich wie Hobbes die Notwendigkeit der sozialen Ordnung und Herrschaftsstruktur hervorgehoben. Logisch gesehen hängt die negative Anthropologie des Hsün-tzu tatsächlich sehr eng mit seiner Hervorhebung des äußerlichen umfassenden normativen Regelsystems (Li) und der von Li bedingten äußerlichen sozial-politischen Struktur zusammen 123. Aber im Vergleich zu Hobbes, der Vertrag und Recht als Basis der gesamten sozialen Ordnung behandelt hat, hat Hsün-tzu Li (ein umfassendes System der sozialen Normen) als die Grundlage für die gesamte soziale Ordnung betrachtet. Dieses umfassende normative Regelsystem Li bestimmt die Art und Weise der (unvermeidlichen und notwendigen) sozialen Differenzierung, indem es jede soziale Position anordnet und ihre zugeordnete soziale Rolle definiert. Und diese Funktion der sozialen Normierung von Li ist nicht auf den Bereich des eigenen Hauses begrenzt. Vielmehr ist die Anordnung des Hauses durch Li als die Basis und der Prototyp für die Anordnung der Gesellschaft bzw. des Staates durch Li anerkannt. In diesem Sinne sollte eine Verallgemeinerung dieser Funktion von Li vollständig durchgeführt werden. Nach Hsün-tzu und den meisten Konfuzianern kann man dadurch eine ordentliche Gesellschaft schaffen. Die Überzeugung des Menzius, die menschliche Natur sei gut (Hsing-shan) und das menschliche Herz (Hsin) als moralische Subjektivität sei autonom, ist eine unentbehrliche Voraussetzung für seine gesamte Moralphilosophie bzw. seine Ethik der Autonomie. Im Gegensatz dazu behauptet Hsün-tzu zunächst die menschliche "böse" Natur (Hsing-o), die nur durch eine geplante Künstlichkeit (Wei, Kultivierung 123 Vgl. Roetz, 1992, S. 355-356; Hsün-tzu hat in dem XXIII. Kapitel seines Buchs (Die menschliche Natur sei böse [Hsing-o]) deutlich artikuliert: 'Wollte man wirklich der menschlichen Natur an sich schon die rechte Nortn und (einen Sinn für) friedvolle Ordnung zusprechen, wozu brauchte man dann noch die genialen Könige und die Moral (Li-i)? Wenn die Natur gut ist, dann kann man den genialen Königen den Laufpaß geben und die Moral (Li-i) einmonen. Ist sie aber böse (Hsing-o), dann gilt es, sich an den genialen Königen zu orientieren und die Moral (Li-i) hochzuschätzen. So entstand die Biegemaschine für das krumme Holz, und Schnur und Tusche kamen auf für das Ungerade. Und die Errichtung einer Obrigkeit sowie die Manifestierung von Moral (Li-i) geschahen, weil die angeborene Natur böse ist. Daß die angeborene Natur böse ist, ist von hier gesehen schon klar" (Hsün-tzu, XXIII, S. 332, zitierte Übersetzung nach Roetz, 1992, S. 355-356).

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

bzw. Sozialisation von außen her) und den Beitrag von Li (einem umfassenden nonnativen Regelsystem) in Ordnung gebracht werden kann; außerdem betont er die Passivität des menschlichen Herzens (Hsin), dessen Funktion (als Adressat) erst durch seine Orientierung an dem objektiven Wege (Tao) gesichert werden kann. Aufgrund dieser Behauptung hat seine gesamte Moralphilosophie einen empirischen, realistischen Charakter. Und seine Ethik wird von vielen Fachleuten 124 des Konfuzianismus vor allem als eine Ethik der Heteronomie betrachtet.

3. Typologische Anordnung der konfuzianischen Ethik unter dem Sanktionsaspekt: Die konfuzianische Ethik und die Synthese von Autonomie und Heteronomie. Im letzten Kapitel wurde herausgefunden, daß es bei der konfuzianischen Ethik unter dem Regelaspekt und unter dem Motivationsaspekt tatsächlich einen Sprung zur Gesinnungsethik gibt. Unter dem Regelaspekt ist sie als eine Gesinnungsethik anzuerkennen, weil sie in einer chinesischen eigentümlichen kulturellen Weise ebenfalls "die Stereotypierung der Einzelnormen zugunsten der 'sinnhaften' Gesamtbeziehung der Lebensführung auf das religiöse Heilziel "125 sprengt. Unter dem Motivationsaspekt ist sie auch als eine Gesinnungsethik anzuerkennen, weil sie von jeder moralischen Subjektivität ebenfalls einen Gehorsam aus Pflicht, d.h. einen Gehorsam aus dem verinnerlichten systematischen moralischen Prinzip (Jen, Menschlichkeit) fordert, und zwar in einer chinesischen eigentümlichen kulturellen Weise. Unter dem Sanktionsaspekt gibt es auch einen klaren Unterschied zwischen der vorkonfuzianischen konventionellen ritualitischen Ethik und der konfuzianischen Ethik: Während die vorkonfuzianische Ethik vor allem durch eine äußere Sanktion (Fremdkontrolle, Heteronomie) garantiert wird, wird eine innere Sanktion (Selbstkontrolle, Autonomie) bei der konfuzianischen Ethik schrittweise hervorgehoben. In diesem Sinne hat "ein Prozeß der Ersetzung oder zumindest Ergänzung der äußeren Sanktionen durch innere, der physischen durch psychische, der Fremdkontrolle durch Selbstkontrolle und Selbstzensur"126 tatsächlich auch bei der Entstehung der konfuzianischen Ethik in alten China stattgefunden.

124

125 126

Z.B. Lee, 1990, passim; Hsieh, 1989, S. 113 usw. Vgl. WuG, S. 349. Vgl. Schluchter, 1988, S. 224-5.

3. Konfuzianische Ethik und Synthese von Autonomie und Heteronomie

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Die Beurteilung Webers, daß es keinen Sprung zur Gesinnungsethik bei dem Konfuzianismus gibt, ist deswegen in diesem Sinne unzutreffend 127 • In diesem Kapitel versuchen wir weiter, unter diesem Sanktionsaspekt , die konfuzianische Ethik typologisch zutreffend anzuordnen, d.h. sie als eine Gesinnungsethik mit chinesischem eigentümlichem kulturellem Charakterzug anzuerkennen. Wie gesagt gibt es in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus im alten China drei Vertreter: Konjuzius (551-479 v.Chr.), Menzius (ca. 371-289 v.Chr.) und Hsün-tzu (298-238 v.Chr.). Im Gegensatz zu den zwei vorhergehenden Kapitel, die hauptsächlich die Ethik des Konfuzius und seine Kardinaltugend Jen untersucht haben, behandelt dieses Kapitel vor allem die Ethik der anderen zwei Hauptfiguren. Erst durch eine Erforschung der Ethik dieser drei Hauptfiguren kann man eine systematische Darstellung der konfuzianischen Ethik erreichen.

a) Die Ethik des Menzius als eine Gesinnungsethik und seine Synthese von Autonomie und Heteronomie Im ersten Schritt kann man die Ethik des Menzius ohne irgendeine große Schwierigkeit als eine Gesinnungsethik bezeichnen: "Wodurch der Gentleman (Chün-tzu) sich von andem Menschen unterscheidet, ist das, was er im Herzen (Hsin) hegt. Er hegt Jen (Menschlichkeit) im Herzen, er hegt Li (Schicklichkeit) im Herzen. Der Mensch mit Jen (Jen-ehe) liebt die Menschen; wer Li (Schicklichkeit) hat, achtet die Menschen. Wer andre liebt, den lieben die andem immer auch wieder. Wer andre achtet, den achten die andem immer auch wieder" IU.

Das, was der Gentleman (Chün-tzu) im Herzen (Hsin) hegt, kann auch als "Gesinnung" übersetzt werden. Tatsächlich wird es von einigen modemen NeoKonfuzianem genau mit dem Wort "Gesinnung" übertragen 129 • Man streitet kaum darüber, die Ethik des Menzius als eine Art der Gesinnungsethik zu behandeln. Erst mit Menzius hat der Konfuzianismus eine entscheidende Lehre der moralischen Subjektivität (Hsin) vorgelegt, mit der er die von Konfuzius hervorgehobenen moralischen Gesetze (Menschlichkeit [Jen], Rechtschaffenheit [1], Schicklichkeit [Li] und Weisheit [Chih]) weiter systematisch bearbeitet hat 130.

Vgl. RS I, S. 348-349; Schluchter, 1983, S. 32. Mong-{jsi, IV, B, 28, S. 130, Hervorhebung von mir. "9 Vgl. Lee, 1990, S. 52-53. \30 Vgl. Lao, 1981, S. 105.

127 128

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Er behandelt das menschliche Herz (Hsin) als eine Subjektivität, aus der alles moralische Denken, Fühlen und Handeln entstanden ist. Für Menzius liegt der Ursprung der Moral in der autonomen Subjektivität, d.h. der Selbstgesetzgebung des menschlichen Herzens (Hsin). Die moralischen Gesetze (Menschlichkeit [Jen], Rechtschaffenheit [I], Schicklichkeit [Li] und Weisheit [ChihD sind nicht etwas außer uns, sondern alle von dieser innerlichen Autonomie gegeben. Menzius versucht mit dem moralischen Gefühl (dem Fühlen der vier Keime), die menschliche Natur (als moralische Subjektivität) zu verdeutlichen. Dabei hat er die menschliche Natur (Hsing) mit der moralischen Subjektivität (dem Herzen, Hsin oder Pen-hsin) gleichgesetzt l3l • Die "automatische" Reaktion (Furcht und Mitleid) des menschlichen Herzens bzw. der moralischen Subjektivität, die sich auf das plötzliche Geschehen der Gefährdung des Kindes richtet, setzt überhaupt keine weiteren Bedingungen (z.B. Beziehungen mit den Eltern des Kindes und Nachbarn usw.) voraus. Eine solche Fähigkeit des Menschen, ein "Handeln aus Pflicht" bedingungslos durchzuführen, ist die eigentliche Natur und eigentümliche "Personalität" des Menschen. Im Gegensatz zu den Tieren, die hauptsächlich nur Handlung aus Trieb durchführen können, kann der Mensch als eine moralische Subjektivität automatisch ein solches innewohnendes "Handeln aus Pflicht" unternehmen. Und die Übe17.eugung des Menzius, die menschliche Natur sei gut (Hsing-shan), kann man als das absolute Gute der menschlicher Natur, m.a.W. das absolute Gute der moralischen Subjektivität (Hsin-shan), verstehen. In diesem Sinne stellt die Moralphilosophie des Menzius eine konfuzianische Fassung der Ethik der Autonomie dar. Einen Schritt weiter: Wenn man unter diesem Sanktionsaspekt versucht, die Ethik des Menzius typologische zutreffend anzuordnen, dann kann man sie prinzipiell als eine Gesinnungsethik mit chinesischem eigentümlichem kulturellem Charakterzug behandeln. Während die vorkonfuzianische Ethik vor allem durch eine äußere Sanktion (Fremdkontrolle, Heteronomie) garantiert wird, wird eine innere Sanktion (Selbstkontrolle, Autonomie) bei der konfuzianischen Ethik schrittweise hervorgehoben. Insbesondere hat Menzius systematisch in seiner Lehre der moralischen Subjektivität (Hsin) eine angeborene "automatische" menschliche Fähigkeit betont, d.h. die bedingungslose Durchführung eines innewohnenden

"Handeins aus Pflicht".

Erst durch die Lehre der moralischen Subjektivität (Hsin) des Menzius ist die innerliche, subjektive Fundierung der konfuzianischen Ethik systematisch

131

Lee, 1990, S. 79.

3. Konfuzianische Ethik und Synthese von Autonomie und Heteronomie

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konstruiert worden. Der Versuch des Menzius, die moralischen Tugenden von

innen her zu behandeln und sie als guter Wille der moralischen Subjektivität (Hsin) zu interpretieren, wird von vielen modernen Neo-Konfuzianern als den Hauptstrom der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus angesehen 132 •

Durch die Bemühung des Menzius hat "ein Prozeß der Ersetzung oder zumindest Ergänzung der äußeren Sanktionen durch innere, der physischen durch psychische, der Fremdkontrolle durch Selbstkontrolle und Selbstzensur" 133 tatsächlich bei der konfuzianischen Ethik stattgefunden. Die Heteronomie der vorkonfuzianischen Ethik, die vor allem durch eine äußere Sanktion garantiert wird, wird von der Autonomie der Ethik des Menzius, die hauptsächlich durch eine innere Sanktion garantiert wird, ersetzt bzw. ergänzt. Aber eine vollständige Ersetzung der Heteronomie durch die Autonomie wird von Menzius nicht konsequent durchgesetzt. Vielmehr versucht er trotz seiner Hervorhebung der moralischen Subjektivität (Hsin) auch wie die anderen Konfuzianer, eine Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezogenheit zu konstruieren. Nicht eine vollständige Ersetzung, sondern eine sorgfaltige Ergänzung der Heteronomie durch die Autonomie, wird von Menzius in seiner Moralphilosophie konsequent durchgeführt. In diesem Sinne heißt das auch, daß eine Synthese von Autonomie und Heteronomie in der Moralphilosophie des Menzius nach und nach vollzogen wird. Um diese These zu erläutern, kann man aus zwei Aspekten den Charakterzug der Ethik des Menzius weiter betrachten. Der eine richtet den Blick in die äußerlichen Bedingungen der moralischen Entwicklung der Subjektivität; der andere richtet den Blick in die Art und Weise der Anwendung bzw. Verallgemeinerung der moralischen Forderung. Wenn man von dem ersten Aspekt ausgeht, kann man sich an den Appell den Menzius erinnern, daß man die apriorische, gute menschliche Natur sorgfaItig erhalten sollte: "Die Masse geht darüber hinweg; der Gentleman (Chün-tzu) hält es fest" 134; "Wer sucht, bekommt sie; wer sie liegen läßt, verliert sie" 135. In diesem Sinne hat Menzius überhaupt nicht die Funktion der äußerlichen Bedingungen bei dem Prozeß der Verwirklichung der menschlichen guten Natur vernachlässigt. Er ist sich des Einflusses der Umwelt durchaus bewußt. Immer wieder hat er die Auswirkung der verschiedenen objektiven (politischen, ökonomischen, sozialen usw.) Konditionen für die

Vgl. LaD, 1981, S. 105; Lee, 1990, passim. Vgl. Schluchter, 1988, S. 224-5. 134 Mong-dsi, IV, B, 19, S. 127. m Vgl. Mong-dsi, VI, A, 6, S. 163. lJ2

133

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

moralische Entwicklung und das ethische Leben eines Menschen anerkannt 136 • Einerseits behandelt er die Überzeugung von der guten Natur des Menschen

(Hsing-shan) als eine unentbehrliche Voraussetzung für seine gesamte Moralphilosophie bzw. seine Ethik der Autonomie; andererseits kommt ihm die Wirkung der äußerlichen Bedingungen für die moralische Selbst-Entwicklung voll zu Bewußtsein. Menzius hat einmal folgenderweise formuliert:

"In fenen Jahren sind die jungen Leute meistens gutartig, in mageren Jahren sind die jungen Leute roh. Nicht als ob der Himmel ihnen verschiedene Anlagen gegeben häne; die Verhältnisse sind schuld daran, durch die ihr Herz (Hsin) verstrickt wird ... "137.

Ohne Zweifel hat er auch die Tradition des Konfuzianismus seit Konfuzius übernommen, die mit ganzer Kraft versucht, eine Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezogenheit zu konstruieren. Deswegen hat er den Beitrag des äußerlichen normativen Regelsystems (z.B. Li) zur moralischen Selbst-Entwicklung niemals ausgeschlossen. Wenn man von dem zweiten Aspekt ausgeht, ist uns schon klar, daß die Art und Weise der Anwendung bzw. Verallgemeinerung der moralischen Forderung bei der Ethik des Menzius nicht nur eine Universalisierung der selbstgegebenen moralischen Gesetze, sondern auch eine Verallgemeinerung der "Fünf-Beziehungen" ist. Im Gegensatz zu dem Utilitaristen Mo Ti wird "Liebe" von Menzius im Prinzip als "Liebe mit Unterschied und Gradierung" (Ai yu cha-teng) verstanden. Für ihn bedeuten die geregelten natürlichen organischen (verwandtschaftlichen und verwandtschaftsähnlichen) Beziehungen die Grundlage aller menschlichen Beziehungen. Die "Fünf Beziehungen" werden deshalb von Menzius (aber nicht nur von ihm) besonders hervorgehoben: " ... Der Weise (Sheng-jen) unterwies das Volk in Ethik der Menschen (Jen-lun), daß zwischen Vater und Sohn die Affinität (Ch'in) ist, zwischen Herrn und Untertan die Rechtschaffenheit (I), zwischen Mann und Frau der Unterschied (Pä), zwischen Alt und Jung (älterem und jüngerem Bruder) der Abstand (Hsü, die Ordnung), zwischen Freund und Freund das Vertrauen (Hsin) "138.

Man muß zunächst die ethischen Prinzipien innerhalb dieser natürlichen organischen Beziehungen durchführen. Das ist die Basis der gesamtgesellschaftlichen Ordnung. Während Kant den Unterschied zwischen Tugendlehre, die sich auf die Befestigung der Sittlichkeit im handelnden Subjekt bezieht, und Rechtslehre, welche die Befestigung der Sittlichkeit in den Institutionen menschlichen Zusammen-

Tu, 1979, S. 59. Mong-dsi, VI, A, 7, S. 160, Hervorhebung von mir. m Mong-dsi, 111, A, 4, S. 97.

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3. Konfuzianische Ethik und Synthese von Autonomie und Heteronomie

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lebens untersucht, klar dargestellt hat, hat Menzius seine Ethik sowohl als die Basis des Individuums als auch der sozialer Institutionen behandelt. Eine Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen wird in seiner Ethik versuchsweise manifestiert . Dabei erkennt Menzius zunächst eine apriorische Existenz der moralischen Subjektivität (des Herzens, Hsin) an, die absolut gut ist. Zugleich versucht er aufgrund einer solchen moralischen Subjektivität, eine Sozialethik zu begründen. Bei der Begründung einer Sozialethik und dem Praktizieren der selbstgegebenen moralischen Gesetze sind für ihn die Überlegungen der Beziehungen mit den anderen auch notwendig. Er akzeptiert wie die anderen Konfuzianer die natürliche organische "Fünf-Beziehungen" als das Modell der menschlichen Beziehungen bzw. der Institutionen des Zusammenlebens. Von seiner Behauptung des guten Herzens ausgehend, ist es nicht unzutreffend, seine Ethik als Ethik der Autonomie zu bezeichnen. Aber von dem Praktizieren der selbstgegebenen moralischen Gesetze ausgehend, sind für ihn die Überlegungen der sozialen Umwelt auch unvermeidlich. Man kann sagen, daß es kein absolutes Entweder-Oder zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen Selbstkontrolle und Fremdkontrolle bei der Ethik des Menzius gibt. Vielmehr versucht er wie die anderen Konfuzianer in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus mit ganzer Kraft, eine Synthese von Autonomie und Heteronomie herzustellen. Aus den oben dargestellten zwei Aspekten wird diese These deswegen bestätigt: Nicht eine vollständige Ersetzung, sondern eine sorgfaltige Ergänzung der Heteronomie durch die Autonomie wird von Menzius in seiner Moralphilosophie konsequent durchgeführt; in diesem Sinne heißt das auch, daß eine Synthese von Autonomie und Heteronomie in der Moralphilosophie des Menzius nach und nach vollzogen wird.

b) Die Ethik des Hsün-tzu als eine Gesinnungsethik und seine Synthese von Autonomie und Heteronomie Auch Hsün-tzu erkennt den Beitrag des äußerlichen normativen Regelsystems (für ihn vor allem Li) zur moralischen Selbst-Entwicklung durchaus an. Aber seine Moralbegründung ist der des Menzius polar entgegengesetzt. Hsün-tzu (298-238 v.Chr.) lebt in der späten Phase der "Periode der streitenden Teilstaaten" (481-221 v.Chr.). In dieser Phase gibt es einen großen sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Wandel in ganz China. Im Jahre 221 v.Chr., kurz nach seinem Tod, hat der "Erste Erhabene Kaiser" (Shih Huang-ti) nach Siegen über die meisten anderen Teilstaaten das Chinesische Reich vereinigt und die erste kaiserliche Zeit Chinas, die eh 'in-Dynastie, begründet.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Im Vergleich zu Menzius (ca. 371-289 v.ehr.) ist Hsün-tzu einer stärkeren Herausforderung durch die äußere, unruhige, soziale Realität begegnet. Ungleich Menzius, der vor allem die innerliche, subjektive Seite des Konfuzianismus weiter erforscht, untersucht er in erster Linie die äußerliche, objektive Seite des Konfuzianismus näher. Im Vergleich zu der "positiven" Anthropologie des Menzius, die auf einer apriorischen moralischen Subjektivität basiert und das Potential jedes Menschen als handelndes Subjekt hervorhebt, stellt Hsün-tzu eine "negative" Anthropologie dar, die auf einer empirischen asozialen menschlichen Natur beruht und die Möglichkeit jedes Menschen als eines "freien" Objektes der Sozialisation und der sozial-kulturellen Gestaltung betont, das der Kultur und der Gesellschaft zur Verfügung steht. Für Hsün-tzu ist die menschliche Natur unmoralisch und asozial, und die Schaffung der Moral und sozialen Ordnung sind deswegen nur contra naturam und von außen her möglich. In diesem Sinne sind die Moral und soziale Ordnung nicht natürlich veranlagt, sondern künstlich gemacht. Solche Methoden der Lebensführung wie Akkumulation (Chi), Überlegung (Lü) , Übung (Hsi) usw. sind alles intensive Bemühungen der Sozialisation, durch welche die Moral und die sozialen Normen Schritt für Schritt bei jedem Menschen verinnerlicht werden. Die Moral und sozialen Normen sind für Hsün-tzu vor allem äußerliche sozial-kulturelle Erfindungen, die wiederum in menschlicher Ratio, d.h. seiner Fähigkeit zur Zusammenarbeit bzw. sozialen Vereinigung (Ch 'üen) und seiner Fähigkeit zur Unterscheidung (Fen, Rollenteilung), verankert sind. Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch nach Hsün-tzu trotz seiner bösen Natur die spezifischen vernünftigen Fähigkeiten (Ch 'üen und Fen), sich gegen seine eigene Natur sozial zu verhalten. Er behauptet weiterhin, daß jeder Mensch die selbe Möglichkeit hat, ein Weiser (Shen-jen) zu werden, d.h. eine konsequente Kultivierung bzw. Sozialisation kann es jedem Menschen ermöglichen, ein Weiser (Shen-jen) zu werden. Aber trotz dieser "negativen" Anthropologie kann Hsün-tzu nicht vom gemeinsamen Wege der Konfuzianer seit Konfuzius zuweit abweichen: Der Konfuzianer sollte ohne Ausnahme mit ganzen Kraft versuchen, eine Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezogenheit zu konstruieren. Da Hsün-tzu auch an eine solche konfuzianische Tradition gebunden ist, kann er nicht die innerliche, subjektive Seite der moralischen Tugenden total vernachlässigen.

3. Konfuzianische Ethik und Synthese von Autonomie und Heteronomie

131

Wie oben dargestellt, gibt es bei der Ethik des Konfuzius und des Menzius sowohl unter dem Regel-, dem Motivations- als auch dem Sanktionsaspekt tatsächlich einen Sprung zur Gesinnungsethik. Wenn wir nun die Ethik des Hsün-tzu, der dritten Hauptfigur des Konfuzianismus, weiter unter diesen drei ausgewählten Aspekten typologisch betrachten, kann man auch versuchen, die Ethik des Hsün-tzu ebenfalls als eine Gesinnungsethik mit chinesischem kulturellem Charakterzug zu behandeln. Unter dem Regelaspekt ist die Ethik des Hsün-tzu als eine Gesinnungsethik anzuerkennen, weil sie tatsächlich eine systematische, "sinnhafte" Gesamtbeziehung der Lebensführung verlangt. Für ihn wird diese Gesamtbeziehung der Lebensführung vor allem durch Li reguliert. Hsün-tzu hat Li als ein umfassendes System der sozialen Normen (Sittlichkeit, Gewohnheit, Brauch, Sitte, Konvention, Recht usw.), das nur aus der menschlichen Gesellschaft und Kultur entstehen kann, betrachtet und als wichtigsten Beitrag der Gesellschaft und Kultur hervorgehoben. Für Hsün-tzu (wie die meisten Konfuzianer) bedeutet Li trotz seines sozial-kulturellen Ursprungs nicht die konventionellen Maximen und Rechtlichkeits-Maximen, sondern die SittLi chkeits -Maximen. Er hat immer wieder die Funktion von Li für die soziale Ordnung betont: "Ohne Sittlichkeit (Li) kann der Mensch nicht leben. er kann ohne sie seine Aufgaben nicht erfüllen. und Staat und Familie geraten ohne sie in Unfrieden"139.

Dieses umfassende normative Regelsystem Li bestimmt die Art und Weise der sozialen Differenzierung, indem es jede soziale Position anordnet und ihre zugeordnete soziale Rolle definiert. Diese Funktion der sozialen Normierung von Li ist nicht auf den Bereich des eigenen Hauses begrenzt. Vielmehr ist die Anordnung des Hauses durch Li als die Basis und der Prototyp für die Anordnung der Gesellschaft bzw. des Staates durch Li zu betrachten. In diesem Sinne sollte eine Verallgemeinerung dieser Funktion von Li vollständig durchgeführt werden. Nach Hsün-tzu und den meisten Konfuzianern kann man dadurch eine ordentlich Gesellschaft schaffen. In diesem Sinne wird eine systematische, moralische Gesamtbeziehung der Lebensführung durch Li hergestellt. Unter dem Motivationsaspekt ist sie auch als eine Gesinnungsethik anzuerkennen, weil sie im bestimmten Sinne von jedem Menschen auch einen Gehorsam aus Pflicht, d.h. einen Gehorsam aus dem durch die geplante, intensive Sozialisation und Kultivierung verinnerlichten moralischen Prinzip (Sittlichkeit, Li), fordert. Obwohl Li als ein moralisches Prinzip (Sittlichkeit) in erster Linie als ein Beitrag der Gesellschaft bzw. Kultur angesehen wird und nur durch intensive Sozialisation vollständig und konsequent in jedem Menschen ver-

139 Hsün-tzu, 11. S. 16. zitierte Übersetzung nach Schleichert, 1990, S. 301.

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

innerlicht werden kann, verlangt die Ethik des Hsün-tzu letztendlich der Tradition des Konfuzianismus entsprechend ebenfalls einen Gehorsam aus Pflicht. Aufgrund seiner Trennung zwischen Natur und Kultur stellt die Theorie des Hsün-tzu eine spezifische Art des Humanismus bzw. Rationalismus dar: Je mehr ein Mensch als solcher künstlich orientiert (kultiviert, sozialisiert, gelehrt, ausgebildet usw.) ist, desto vertiefter ist seine Qualität der Sittlichkeit; je mehr sich ein Mensch von der "bösen" Natur distanziert (d.h. je mehr er sich der "guten" Kultur und Gesellschaft annähert), desto größer ist seine Sittlichkeit (d.h. desto größer ist seine Möglichkeit, den Horizont des Gentleman (Chün-tzu) und sogar des Weisen (Sheng-jen) zu erreichen). Der konfuzianische ideale Mensch, der Gentleman (Chün-tzu), verhält sich für Hsün-tzu (und die anderen Konfuzianer) nicht nach den konventionellen Maximen und Rechtlichkeits-Maximen, sondern vor allem nach den Sittlichkeits-Maximen. Das umfassende normative Regelsystem Li wird nach und nach im Herzen des Gentlemans (Chün-tzu) verinnerlicht und als das innerlich gemachte moralische Prinzip (Sittlichkeit) anerkannt. Hsün-tzu sieht in einem Gentleman (Chün-tzu) einen vollständig vergesellschafteten Menschen mit der konsequenten Verinnerlichung der Sittlichkeit. Am Ende ist sein Handeln nicht mehr ein pflichtgemäßes Handeln, sondern ein Handeln aus Pflicht geworden. Der Erfolg eines Gentlemans (Chün-tzu) , sich konsequent aus moralischer Pflicht zu verhalten, ist für Hsün-tzu und Menzius der selbe. Der Unterschied zwischen ihnen besteht nur darin, woraus diese Pflicht entstanden ist. Für Hsün-tzu wird diese moralische Pflicht von Gesellschaft bzw. Kultur geschaffen und wiederum im Herzen des Gentlemans (Chün-tzu) verinnerlicht. Im Gegensatz dazu behauptet Menzius, daß diese moralische Pflicht geradezu aus der Selbstgesetzgebung der moralischen Subjektivität (des Herzen, Hsin) stammt. Unter dem Sanktionsaspekt ist die Ethik des Hsün-tzu auch als eine Gesinnungsethik anzuerkennen, weil ebenfalls eine Synthese von Autonomie und Heteronomie konstruiert wird. Obwohl seine Ethik auf den ersten Blick hauptsächlich eine Ethik der Heteronomie angesehen wird, behauptet er trotzdem die Möglichkeit der autonomen Entscheidung bzw. Beurteilung eines Gentlemans (Chün-tzu) , d.h. eines vollständig vergesellschafteten Menschen mit der konsequenten Verinnerlichung der Sittlichkeit. "Man (der Gentleman, Chün-tzu) folge dem Weg (moralischem Prinzip, Tao), nicht dem Herrscher; dem, was recht (I) ist, nicht dem eigenen Vater""o.

"0 Hsün-tzu, XXIX, S. 393, zitierte Übersetzung nach Metzger, 1990, S. 321.

3. Konfuzianische Ethik und Synthese von Autonomie und Heteronomie

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Nach Metzger 141 hat Hsün-tzu in diesem Kontext angemerkt, daß es im Umgang mit der Autorität richtig sei, selbständig moralischen Prinzipien (Tao und l) zu folgen, selbst wenn man dazu einem Höhergestellten den Gehorsam verweigern müsse; d.h. Hsün-tzu hat nicht nur die Unantastbarkeit der inneren moralischen Urteilsfähigkeit des Untergegebenen bzw. Gentlemans (Chün-tzu) in ihrer Autonomie hervorgehoben, sondern er hat es auch abgelehnt, einem Befehl von außen zu gehorchen, mit dem der Untergegebene bzw. Gentleman (Chün-tzu) im Herzen nicht übereinstimmt l42 • Sobald man Gentleman (Chün-tzu) geworden ist, d.h. solange er die moralischen Prinzipien konsequent verinnerlicht und als ein vollständig vergesellschafteter Mensch aufgetreten ist, kann er zweifellos unabhängig von den Autoritäten seiner sozialen Umwelt seine autonome Entscheidung treffen und sich nach den verinnerlichten moralischen Prinzipien verhalten. "Es gibt den gerechten Ruhm (I-jung) und den umstandsbedingten Ruhm (Shih-jung) ... Wenn man seine Motivation (Chih-i) sublimien hat, wenn man tugendhafte Taten in Hülle und Fülle aufweisen kann, wenn man über eine ungetrübte Intelligenz und Denkkraft verfügt, so handelt es sich hierbei um Ruhm, der von innen kommt. Dies nennt man gerechten Ruhm (I-jung). Wenn man einen hochangesehenen Rang bekleidet, reiche Tribute oder reiches Einkommen genießt und in seiner äußeren Erscheinung wie in seiner Position anderen überlegen ist, so handelt es sich hierbei um Ruhm, der von außen kommt. Dies nennt man umstandsbedingten Ruhm (Shih-jung) ... Gerechten Ruhm (I-jung) und umstandsbedingten Ruhm (Shih-jung) kann man nur als Gentleman (Chün-tzu) zugleich besitzen" 143.

Hier hat Hsün-tzu die innewohnende, selbständige Gesinnung in einer primären Stelle hervorgehoben und als "gerechter Ruhm" (I-jung) bezeichnet. Im Gegensatz dazu hat er den von außen gegebenen, politischen hochangesehenen Rang als sekundär beurteilt und als "umstandsbedingten Ruhm" (Shih-jung) bezeichnet. Die Bevorzugung des innewohnenden "gerechten Ruhms" (I-jung) gegenüber dem von außen gegebenen, politischen "umstandsbedingten Ruhm" (Shih-jung) ist für Hsün-tzu kennzeichnend. Wenn jemand den umstandsbedingten Ruhm (Shih-jung) haben möchte, sollte er zunächst durch Lernen und Kultivieren den gerechten Ruhm (I-jung) schaffen und zum Gentleman (Chün-tzu) werden. Erst wenn man ein Gentleman (Chün-tzu) geworden ist, kann man den gerechten Ruhm (I-jung) und den umstandsbedingten Ruhm (Shih-jung) zugleich besitzen l44 •

141 142 14)

Metzger, 1990, S. 321. Vgl. auch Chang, 1990, S. 27. Hsün-tzu, XVIII, S. 249-250, zitiene Übersetzung und Hervorhebung von Roetz, 1992, S.

293. 144 An einer anderen Stelle hat Hsün-tzu eine ähnliche Meinung geäußen: "Wenn man seine Motivation (Chih-i) sublimien hat, dann werden Reichtum und Ruhm herabgewürdigt. Wenn man seine Moral (Tao-i) achtet, dann wird Königen und Herzögen keine Bedeutung geschenkt. Wenn man sich selbst innerlich prüft (Nei-hsing), dann werden äußere Dinge unwichtig. Damit ist dieses

10 Lin

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IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

Man kann die Stellungnahme des Hsün-tzu in diesem Sinne weiterhin mit der des Menzius vergleichen, da Menzius immer wieder die unverwechselbare Abfolge betont hat: Der himmlische Rang (T'ien-chüeh, der Rang im moralischen Sinne) vor dem menschlichen Rang (Jen-chüeh) und die selbstgegebene echte Ehre (Liang-kuei) vor der fremdgegebenen Ehre 145. Damit kann man feststellen, daß es in Bezug auf die Rangstufe zwischen Moral und Politik bzw. Herrschaftsstruktur keine große Meinungsverschiedenheit zwischen diesen beiden Hauptfiguren des Konfuzianismus gibt: Moral hat immer Vorrang gegenüber Politik bzw. Herrschaftsstruktur (Tao tzun yü shih). Durch einen solchen Vergleich kann man auch bestätigen, daß sowohl Hsüntzu wie auch Menzius einen wesentlichen Teil zu der großen Tradition des Konfuzianismus beitragen, d.h. zu der Tradition des konfuzianischen moralischen Prinzips (Tao-t'ung). Seitdem diese große Tradition von Konfuzius, Menzius und Hsün-tzu hervorgehoben worden ist, versuchen die Konfuzianer bzw. Neo-Konfuzianer immer wieder in der chinesischen Geschichte, den Vorrang der Tradition des moralischen Prinzips (Tao-t'ung) gegenüber der Tradition der Politik bzw. Herrschaftsstruktur (Cheng-t'ung) zu behaupten. Um die Ethik des Hsün-tzu als eine Ethik der Autonomie zu bestätigen, hat Roetz l46 sowohl den Aspekt der Urteilsautonomie als auch den Aspekt der Handlungsautonomie innerhalb der Ethik des Hsün-tzu hervorgehoben. In Bezug auf den Aspekt der Urteilsautonomie hat er folgende Stelle aus dem Buch des Hsün-tzu zitiert: "Das Herz (Hsin) ist der Herr aller Sinnesorgane und innerlichen Denkens. Er erteilt Befehle, empfangt aber von niemandem welche. Es verbietet und gebietet selbst, es verwirft und wählt selbst, es wird von selbst aktiv, es stellt von selbst seine Aktivität ein. Deshalb kann zwar der Mund gezwungen werden, zu schweigen oder zu sprechen, und der Körper, sich zu beugen oder zu strecken, aber das Herz kann nicht gezwungen werden, seine Ansicht zu ändern. Wenn es etwas

Sprichwort gemeint: 'Der Gentleman (Chün-tzu) läßt die (äußeren) Dinge dienen; im Gegensatz dazu ist der kleine Mann (Hsiao-jen) der Diener der (äußeren) Dinge'" (Hsün-tzu, 11, S. 17, Hervorhebung von mir). Hier hat Hsün-tzu wiederum die innewohnende, selbständige Gesinnung in einer primären Stelle hervorgehoben und die von außen gegebenen Dinge (Reichtum, Ruhm, politische Macht usw.) als sekundär beurteilt. Die Chance eines jeden Menschen, ein Gentleman (Chün-tzu) oder ein kleiner Mann (Hsiao-jen) zu werden, liegt gerade darin, ob er die Bevorzugung der inneren Gesinnung gegenüber der äußeren Dinge durchhält oder nicht. 14~ Roetz (1992, S. 294) hat zutreffend formuliert, daß die Unterscheidung des Hsün-tzu, d.h. die innere Moral und die äußere Politik zu differenzieren, uns an die von Menzius betonte Trennung zwischen dem hinunlischen Rang (T'ien-chüeh) und dem menschlichen Rang (Jen-chüeh) erinnert: '''Innen' und 'außen' nämlich werden qualitativ voneinander abgehoben und den Sphären der Moral bzw. der politischen Macht zugeordnet". 146 Roetz, 1992, S. 256-257 und 281-283.

3. Konfuzianische Ethik und Synthese von Autonomie und Heteronomie

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fiir richtig fmdet, dann nimmt es dies an, und wenn es etwas fiir falsch findet, dann lehnt es dies ab. Deshalb heißt es: Das Herz ist in seiner Wahl nicht eingeschränkt"I".

In diesem Sinne wird das Herz (Hsin) von Roetz l48 als eine Bastion des freien Urteils verstanden, In Bezug auf den Aspekt der Handlungsautonomie hat Roetz l49 die folgende Darstellung des Hsün-tzu betont: "Es gibt die höchste, die mittlere und die niedere Tapferkeit (Yung). Mutig inmitten der Welt aufrecht zu stehen und mutig den Sinn des Weges der frühen Könige in die Praxis umzusetzen, weder dekadenten Herrschern zu folgen noch sich mit einem chaotischen Volk gemein zu machen, nicht arm und im Elend zu sein, wenn die Menschlichkeit (Jen) herrscht, aber weder Reichtum noch eine hohe Stellung zu besitzen, wenn die Menschlichkeit (Jen) nicht herrscht, mit der Welt Bitternis und Freude zu teilen, wenn sie einen anerkennt, aber ohne Furcht stolz und unabhängig zwischen Himmel und Erde zu stehen (ru-li), wenn die Welt einen verkennt,--das ist höchste Tapferkeit (Shang-yung)" I,".

Der Gentleman (Chün-tzu) verhält sich nach Hsün-tzu selbständig, ist unabhängig (Tu-li) und geht seinen Weg allein, d.h. er handelt autonom. Durch seine Untersuchung hat Roetz 1S1 am Ende behauptet, die Ethik des Hsün-tzu wie auch die des Konfuzius und des Menzius sei in erster Linie als eine Ethik der Autonomie zu bezeichnen. Ob diese Behauptung von Roetz für die Ethik des Hsün-tzu zutrifft, ist fragwürdig. Zumindest hat er vor allem nur einen Aspekt der Ethik des Hsüntzu, nämlich den Aspekt der Autonomie hervorgehoben und ihren anderen Aspekt, nämlich den Aspekt der Heteronomie vollständig vernachlässigt. Man sollte zwar den Aspekt des "Innen" bzw. der Autonomie der Ethik des Hsün-tzu ausreichend berücksichtigen, aber man sollte auch nicht diesen Aspekt überbetonen und als ihren einzigen Aspekt behandeln. Vielmehr sollte man ihren anderen Aspekt, den des "Außen" bzw. der Heteronomie mindestens als gleichbedeutend betrachten. Tatsächlich wird die Ethik des Hsün-tzu oft als eine Ethik der Heteronomie angesehen. Wie oben schon dargestellt wurde, wird die Ethik des Hsün-tzu von vielen Fachleuten 1S2 des Konfuzianismus vor allem als eine Ethik der Heteronomie betrachtet. Ihrer Beurteilung liegt Folgendes zugrunde: Hsün-tzu behauptet zunächst die menschliche "böse" Natur (Hsing-o), die nur durch eine geplante Künstlichkeit (Wei. Kultivierung bzw. Sozialisation von außen her) und den Beitrag von Li (einem umfassenden normativen Regelsy-

147 Hsün-tzu, XXI, S. 296-297, zitierte Übersetzung und Hervorhebung von Roetz, 1992, S. 256-257. 148 Roetz, 1992, S. 257. 149 Roetz, 1992, S. 281-283. I," Hsün-tzu, XXIII, S. 336, zitierte Übersetzung und Hervorhebung von Roetz, 1992, S. 282. m Roetz, 1992, passim. lS2 Lee, 1990, passim; Hsieh, 1989, S. 113 usw.

10*

136

IV. Konfuzianische Ethik unter dem Sanktionsaspekt

stern) in Ordnung gebracht werden kann; außerdem betont er die Passivität des menschlichen Herzens (Hsin), dessen Funktion (als Adressat) erst durch seine Orientierung an dem objektiven Wege (Tao) gesichert werden kann; und aufgrund dieser Behauptung hat seine gesamte Moralphilosophie vor allem einen empirischen, realistischen Charakter. Sowohl Roetz als auch Lee und Hsieh haben nur einen Aspekt der Ethik des Hsün-tzu begriffen, wenn sie diese Ethik entweder als eine Ethik der Autonomie oder als eine Ethik der Heteronomie bezeichnen. Man kann sagen, daß es kein absolutes Entweder-Oder zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen Selbstkontrolle und Fremdkontrolle bei der Ethik des HSÜll-tzu (wie bei der des Menzius) gibt. Vielmehr versucht er wie die anderen Konfuzianer in der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus mit ganzer Kraft, eine Synthese von innerlicher, subjektiver Selbst-Kultivierung und äußerlicher, objektiver Sozialbezogenheit bzw. eine Synthese von Autonomie und Heteronomie zu konstruieren. Um ein Beispiel zu nennen: Einerseits hat er das menschliche Herz (Hsin) als einen passiven Adressaten der von Gesellschaft und Kultur gegebenen Moral behandelt; andererseits hat er es als eine aktive Bastion des freien Urteils verstanden. Sein Begriff Herz (Hsin) umfaßt tatsächlich diese beiden gegensätzlichen Aspekte, da er sie nicht als gegensätzlich, sondern vielmehr als einander ergänzend betrachtet hat. Um die Fragen zu beantworten, nämlich "Wie ist das moralische Urteil entstanden?" und "Wie ist das moralische Handeln entstanden?", hat Hsün-tzu letztendlich keine strenge, konsequente Unterscheidung zwischen einer Verinnerlichung des Heteronomen und einer Verwirklichung des Autonomen durchgeführt. Diese beiden sind für Hsün-tzu zwar unterschiedliche Wege zum selben Ziel, Gentleman (Chün-tzu) zu werden, aber solange sie ihre Funktion für dasselbe Ziel gleichbedeutend erfüllen, scheint es für Hsün-tzu nicht unbedingt notwendig zu sein, eine klare Trennung zwischen ihnen konsequent zu vollziehen. Die Ethik des Hsün-tzu umfaßt tatsächlich diese beiden Aspekte: Autonomie und Heteronomie. Für ihn sind die beiden nicht gegensätzlich, sondern vielmehr einander ergänzend. In diesem Sinne wird eine gegenseitige Ergänzung bzw. Synthese von Autonomie und Heteronomie von Hsün-tzu in seiner Ethik hergestellt. Damit ist es auch prinzipiell zutreffend, die Ethik des Hsün-tzu als eine Gesinnungsethik mit chinesischem eigentümlichem kulturellem Charakterzug zu betrachten.

4. Zusammenfassung

137

4. Zusammenfassung Zusammenfassend wird die obenerwähnte These nochmals artikuliert: Die (kontextualisierte) universalistische konfuzianische Ethik, sei es die des Konjuzius, sei es die des Menzius bzw. des Hsün-tzu, verlangt ebenfalls eine systematische Lebensführung, ein Handeln aus Pflicht und eine gegenseitige Ergänzung bzw. Synthese von Autonomie und Heteronomie, wenn auch in einem andersartigen historischen und kulturellen Kontext als in ihrem okzidentalen Sinne. Die Webersche Beurteilung der konfuzianischen Ethik, sei es magische Ethik, sei es Gesetzesethik oder ritualistische Ethik, ist in diesem Sinne unzutreffend. Und seine Einschätzung, daß es keinen Sprung zur Gesinnungsethik bei dem Konfuzianismus gibt, stimmt auch mit der Faktizität des Konfuzianismus nicht überein. Diese Beurteilung ist deswegen einer Verbesserung bedürftig.

v.

Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und die konfuzianische (moralische) Rollentheorie

Es wurde schon bestätigt, daß die (kontextualisierte) universalistische konfuzianische Ethik unter den drei ausgewählten Aspekten (Regelaspekt, Motivationsaspekt und Sanktionsaspekt) typologisch als eine Gesinnungsethik betrachtet werden kann. Die Webersche Beurteilung, daß es keinen Sprung zur Gesinnungsethik bei dem Konfuzianismus gibt, hat deswegen den Charakterzug und die Faktizität des Konfuzianismus verfehlt. Eine solch unzutreffende Einschätzung Webers gilt nicht nur für die vergleichende Studie seiner Religionssoziologie, sondern auch für die seiner Herrschaftssoziologie, weil er in seiner vergleichenden Studie eine Wahlverwandtschaft zwischen der religiösen Teilordnung und der Herrschaft bzw. politischen Teilordnung konstruiert hat. In Bezug auf diese Arbeit wird eine Wahlverwandtschaft zwischen der "religiösen" Ethik (der Gesetzesethik und der ritualistischen Ethik) und dem Legitimationsprinzip (Pietät) der Herrschaftsstruktur (patrimonialem Staat) im kaiserlichen China von Weber hergestellt. Dabei hat er das Pietätsprinzip als das grundlegende Legitimationsprinzip des chinesischen patrimonialen Staates behandelt. In diesem Sinne hängen die Begriffe Pietät, Patriarchalismus, Patrimonialismus und Traditionalismus eng miteinander zusammen. In diesem Kapitel werden zunächst diese von Weber idealtypisch konstruierten Begriffe, die sowohl auf seine intra- als auch seine interkulturelle Analyse bezogen werden, gründlich geprüft. Im bestimmten Sinne sind solche Begriffe unvermeidlich okzidental kulturell geprägt: Pietät, Patriarchalismus und Patrimonialismus. Man muß genau prüfen, ob alle diese Begriffe auf den chinesischen eigentümlichen Fall zutreffend angewandt werden können. Oder man muß feststellen, im welchen Maße eine Übertragung solcher Begriffe auf chinesische Verhältnisse (und zwar ohne irgendeine versteckte Gefahr des [normativen] Eurozentrismus) erlaubt ist. Aufgrund einer solchen Begriffsarbeit und eines notwendigen Vergleichs zwischen der obenerwähnten konfuzianischen Kardinaltugend Jen (Menschlichkeit) bzw. Shu (Reziprozität) einerseits, und der von Weber hervorgehobenen Tugend Hsiao (Pietät?) andererseits, versuchen wir weiterhin die Webersche These, das Pietätsprinzip (Hsiao?) als das grundlegende Legitimationsprinzip der chinesischen Herrschaftsstruktur bzw. des patrimonialen Staates

140

V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

zu behandeln, sorgfältig zu überprüfen, ob sie der chinesischen Realität entspricht oder nicht. Um das grundlegende Legitimationsprinzip der alten chinesischen Herrschaft zu verdeutlichen, ist eine Darstellung der bisher wenig erforschten konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie dafür zweckmäßig. Mit Hilfe der modemen soziologischen Rollentheorien wird deswegen versuchsweise in diesem Kapitel zugleich eine konfuzianische (moralische) Rollentheorie konstruiert . Darüber hinaus werden die abweichende Entwicklung des Konfuzianismus in der kaiserlichen Han-Zeit (206 v.Chr.-220 n.Chr.) und die WeichenstellerFunktion seiner Trägerschicht Han-Konjuzianer weitergehend untersucht. Um dem neuentstandenen, einheitlichen chinesischen Reich entgegenzukommen, das Vertrauen des Kaisers zu gewinnen und dadurch ihre ideellen und materiellen Interessen festzuhalten, sind die Han-Konjuzianer im Laufe der Zeit (unvermeidlich) legalistisch orientiert und politisiert worden. An die Stelle der konfuzianischen "Fünf-Beziehungen" (Wu-lun) treten nun die legalistisch orientierten "Drei-Hauptleinen" (San-kang). Außerdem haben die Han-Konjuzianer nicht mehr die konfuzianische Kardinaltugend Shu (Reziprozität) bzw. Jen (Menschlichkeit), sondern die politisierte Tugend Hsiao (Gehorsam) zugespitzt; sie haben sogar weiterhin ein fragwürdiges konfuzianisches Klassisches Buch Hsiao-ching (Klassisches Buch über Gehorsam) hervorgehoben. Eine genaue Untersuchung der abweichenden Entwicklung des Han-Konjuzianismus und der Weichensteller-Funktion seiner Trägerschicht (der HanKonjuzianer) ist deswegen sehr notwendig dafür, sich mit der Weberschen These, das Pietätsprinzip (Hsiao?) sei das Legitimationsprinzip der Herrschaft des chinesischen patrimonialen Chinas, auseinanderzusetzen. 1. Pietät, patria potestas und Hsiao

Zusammenfassend wird die Herrschaftsstruktur Chinas von Weber als "patrimonial" bezeichnet: Die vom Kaiser ausgeübte Herrschaft war insofern patrimonial, als sie auf den gleichen Strukturprinzipien beruhte wie die Stellung des Vaters in der Familie; der Kaiser betrachte das Reich (T'ien-hsia) als seine Familie (Chia); wie in der Familie der Vater, in der Sippe der Älteste, im Kreis der Magistratbeamte, so war im Gesamtreich der Kaiser das Zentrum von Pietätsbeziehungen, die sowohl einer bestimmten Tradition als auch der durch sie zur Herrschaft berufenen Person galten; eine Unterscheidung zwischen Person und Amt, Staat und Gesellschaft war unter diesen Umständen nicht möglich, der Staat wurde gleichsam als Sippe in größter Ausdehnung angesehen und erlebt, weswegen alle das Verhalten des Individuums regelnden Normen

1. Pietät, patria potestas und Hsiao

141

mehr oder weniger adäquat vom FamilienrnodelI auf dem Staat übertragen zu' werden brauchten 1• In einer solchen Analyse Chinas hängen die Begriffe Patrimonialismus, Patriarchalismus und Pietät eng miteinander zusammen. Das Pietätsprinzip wird

von Weber als das Legitimationsprinzip der Herrschaft (des Patrimonialismus) im kaiserlichen China betrachtet.

In diesem Kapitel wird versucht darzustellen, daß eine solche Realität im alten China nicht in diesem Sinne, sondern in einem anderen kulturellen Sinne verstanden werden muß. Zunächst werden der Begriff Pietät und der Begriff patria potestas mit dem chinesischen Begriff Hsiao tiefgehend verglichen. Hamilton hat sehr zutreffend die falsche Gleichsetzung zwischen patria potestas, Pietät und Hsiao und die falsche Übertragung solcher Begriffe auf die chinesischen Verhältnisse kritisiert: "For Weber, patria potestas equalied patriarchalism, which in turn equalied traditional domination. In his effort to make China and the West equivalent, thereby permitting systematic contrasts for his developmental account of western civilization, all Weber need logically to do was to equate patria potestas and xiao (Hsiao) "2. Der konfuzianische Begriff Hsiao, der mit der Beziehung des Sohnes zu seinem Vater zusammenhängt, wird von Weber mit dem Begriff Pietät identifiziert: "Wie der Patrimonialismus genetisch aus den Pietätsbeziehungen der Hauskinder gegenüber der hausväterlichen Autorität entstanden ist, so gründet der Konfuzianismus die Subordinationsverhältnisse der Beamten zum Fürsten, der niederen zu den höheren Beamten, vor allem auch der Untertanen zu den Beamten und zu dem Fürsten auf die Kardinaltugend der Kindespietät. Der spezifisch mittel- und osteuropäische patrimoniale Begriff des Landesvaters und etwa die Rolle, welche die Kindespietät als Grundlage aller politischen Tugenden in dem strengen patriarchalischen Luthertum spielt, ist die ent-

sprechende, nur im Konfuzianismus weit konsequenter durchgeführte Gedankenreihe"3.

Weber behandelt den Begriff patria potestas, den Begriff Pietät und den chinesischen Begriff Hsiao als identisch: "Die ungebrochene Fortdauer der patria potestas des römischen Familienhaupts bis an sein Lebensende z.B. ist in ihrer Entstehung teils ökonomisch und sozial, teils politisch, teils religiös bedingt gewesen .. .In China ist der gleichartige Zustand durch das, von dem Ptlichtenkodex ins Extrem gesteigerte, von der Staatsgewalt und bürokratischen

Vgl. Breuer, 1984, S. 73-74. Hamit/on, 1984, S. 406, Hervorhebung von mir. 3 WuG, S. 610-611, Hervorhebung von mir. I

2

142

V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

Standesethik des Konfuzianismus auch aus Zwecken politischer Domestikation der Untertanen geförderte, Pietätsprinzip bedingt... "4. Wie Jamieson dargestellt hat, ist analytisch der Unterschied zwischen den Begriffen zunächst klein: "Roman law emphasises the dominium of the father, which implies duty and obedience on the part of the son. Chinese Law looks at it from the opposite points of views; it emphasises the duty and obedience of the son, which implies power on the part of the father to enforce it"s. Aber dieser Unterschied ist von großer kultureller Bedeutung: Patria potestas bedeutet Macht, aber Hsiao bedeutet Gehorsam; einerseits ist das westliche System aufgrund der Institutionalisation der Macht, andererseits ist das chinesische System aufgrund der des Gehorsams entstanden; im Okzident

konzentrien sich die Herrschaft auf die Institutionalisation der lurisdikationen, aber in China auf die Institutationalisation der (sozialen) Rollen6 •

Patria potestas bedeutet die Hausgewalt des römischen Familienvaters: So lange er lebt, hat der Vater das Sagen über alle Abkömmlinge (Kinder, Enkel, Urenkel usw.); das Hausvermögen gehört rechtlich allein ihm; Kinder und Enkel sind vermögenlos, bis der Familienvater stirbe. Dadurch sind alle Entscheidungen innerhalb des häuslichen Bereiches die Sache des persönlichen Uneils des Patriarchen. Alle häuslichen Mitglieder müssen sich der Person des Patriarchen unterwerfen, nicht nur seiner Position. Für Weber ist die Qualität der persönlichen Unterwerfung die Essenz des westlichen Patriarchalismus. Ethisch gesehen begünstigt eine solche Beziehung die persönliche Loyalität als normative moralische Fessel für die Einheit von dem Herrn und dem Untertan8 • Der Begriff Pietät, der aus dem lateinischen Begriff pietas stammt, wird von Weber als synonym mit der persönlichen Loyalität behandelt und als die Kardinaltugend sowohl des Patriarchalismus wie auch des Patrimonialismus angesehen9 • Genau in diesem Punkt wird der chinesische Begriff Hsiao (Hiao) von

• WuG, S. 228, hervorhebung von mir. In seiner "Wirtschaftsgeschichte" (1991, S. 55-56) hat Weber auch den römischen Patriarchalismus mit dem chinesischen "Patriarchalismus " gleichgesetzt: "Die typische Form der herrschaftlichen Entwicklung ist der Patriarchalismus. Charakteristisch für ihn ist, daß Appropriation ausschließlich an einen einzelnen stattfindet, den Hausherrn, dem gegenüber es keinen Anspruch auf Abrechnung gibt, und die absolute, lebenslängliche und erbliche Despotie des Hausvaters. ( ... ) Dieses dominium ist absolut, und nur eine Abwandlung davon ist es, wenn in bezug auf die Frau von manus, in bezug auf die Kinder vonpotestas gesprochen wird. ( ... ) endlich wo Ahnenkult besteht, (. .. ) worauf z.8. in China und Rom die Unausrottbarkeit der Vaterherrschaft beruhte" (Unterstreichung von mir). 5 Jamieson, 1970, S. 5, Hervorhebung von mir. 6 Hamilton, 1984, S. 407-8; vgl. auch T'ao, 1981, S. i7. 7 Liebs, 1987, S. 119. 8 Hamilton, 1984, S. 408. 9

RS I, S. 445.

1. Pietät, patria potestas und Hsiao

143

ihm mit dem Begriff Pietät übersetzt 10 • Aber in dem historischen Kontext Chinas hat der Begriff Hsiao tatsächlich eine andersartige kulturelle Bedeutung. In Bezug auf den Gehorsam des Sohnes zu seinem Vater gibt es Unterschied zwischen patria potestas und Hsiao: "With patria potestas, a person obeys his father; with xiao (Hsiao) a person acts like a son. Patria potestas defines jurisdictions within which a person can exercise personal discretion, and accordingly defines relations of authority between people. Xiao (Hsiao) defines roles, and actions and values that go with roles, and accordingly defines a person 's duty to a role" 11. Hsiao bedeutet Gehorsam zu Rollen in der Ordnung des Kosmos; in Bezug auf die Menschen bedeutet Hsiao Gehorsam zu den Rollen der Untergeordneten, nicht zu den Befehlen der Vorgesetztenl2. Gehorsam zu den Rollen bezieht sich auf bestimmte Prinzipien und Handlungen. Dabei ist er nicht einseitig, sondern mit Berücksichtigung des Praktizierens

der gegenseitigen Rollen.

Um die kulturelle eigentümliche Bedeutung des chinesischen Begriffs Hsiao (Gehorsam zu Rollen) weiter zu verdeutlichen, ist eine Darstellung der bisher wenig erforschten konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie zweckmäßig bzw. notwendig. Im folgenden versuchen wir deswegen mit Hilfe der modemen soziologischen Rollentheorien eine konfuzianische (moralische) Rollentheorie zu konstruieren.

10 RS I, S. 446. Dazu hat Weber folgenderweise formuliert: " ... Und als 'Sünde' konnte ihm (dem Konfuzianer) nur die Verletzung der einen sozialen Grundpflicht gelten: der Pietät. Denn wie der Feudalismus auf der Ehre, so ruhte der Patrimonialismus auf der Pietät als Kardinaltugend. ( ... ) Der chinesischen Standesethik haftete die Erinnerung an den Feudalismus noch ziemlich stark an. Die Pietät (hiao) gegen den Lehensherrn wurde neben deIjenigen gegen Eltern, Lehrer, Vorgesetzte in der Amtshierarchie und Amtsträger überhaupt aufgezählt, -- denn ihnen allen gegenüber war das hiao prinzieIl gleichen Charakters. Der Sache nach war die Lehenstreue auf die Patronagebeziehung innerhalb der Beamtenschaft übertragen. Und der grundlegende Charakter der Treue war patriarchal, nicht feudal. Die schrankenlose Kindespietät gegen die Eltern war, wie immer wieder eingeschärft wurde, die absolut primär aller Tugenden. ( ... ) Es ist sehr begreiflich, daß in einem patrimonialen Staat einem Beamten -- Konfuzius war zeitweise Minister -- die Kindespietät, das sie auf alle Unterordnungsverhältnisse übertragen wird, als diejenige Tugend galt, aus der alle anderen folgen und deren Besitz die Probe und Garantie abgibt für die Erfüllung der wichtigsten Standespflicht der Bureaukratie: der unbedingten Disziplin" (RS I, S. 445-447, Unterstreichung von mir). Nach Weber wird die Kindespietät (Hsiao) auf alle Unterordnungsverhältnisse übertragen und als die Kardinaltugend, aus der alle anderen Tugenden folgen, und die wichtigste Legitimationsprinzip der Herrschaft im chinesischen patrimonialen Staat betrachtet. Durch eine Begriffsarbeit und Prüfung des chinesischen historischen Gehalts wird sich in diesem Kapitel mit dieser Weberschen These sorgfältig auseinandergesetzt; vgl. Schluchter, 1983, S. 17. 11 Hamilton, 1984, S. 411. 12 Hamilton, 1984, S. 412.

144

V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie Konfuzius stellt seine (moralische) Rollentheorie dar, deren Ausgangspunkt eine moralisch geprägte, kosmologische Gesamtordnung ist, in der jeder seine Position mit entsprechender Rolle hat: Der Herr verhält sich als ein Herr, der Untertan verhält sich als ein Untertan, der Vater verhält sich als ein Vater, der Sohn verhält sich als ein Sohn usw. D.h. jeder Inhaber einer sozialen Position (Herr, Untertan, Vater, Sohn usw.) hat seine eigene soziale Rolle; er sollte seine eigene soziale Rolle (als ein Herr, als ein Vater usw.) gegenüber einer anderen Rolle des anderen sozialen Positionsinhabers (z.B. als ein Untertan, als ein Sohn usw.) richtig und fehlerfrei spielen 13. Um die konfuzianische (moralische) Rollentheorie versuchsweise zu formulieren, werden hier zunächst die modernen soziologischen Rollentheorien eingeführt (z.B. die Theorie vom homo sociologicus bei Dahrendorf). Auf der Grundlage der modernen soziologischen Rollentheorien wird die spezifische Einordnung der sozialen Rollen im Konfuzianismus annähernd dargestellt 14 •

13 Schwanz (1957, S. 29) hat einmal folgenderweise zusammenfaßt: "The basic units of this [natural] order [Tao] in the Confucian case are human beings enacting certainJundamental social roles. As in some modem schools of sociology, social role is the key term in the Confucian defInition of social structure: the structure of society is basically a network of relations of persons enacting certain social roles. Social roles do not merely place individuals in certain sociallocations but also bear within themselves normative prescriptions of how people ought to act within their roles. The notion 'father' does not refer to a social status but prescribe a certain panern of right behavior. It is this, of course, which has led many to speak of the importance of personal relations in China. Actually, there is something very impersonal about these personal relations since they are always relations of persons acting according to norms prescribed by social roles. Later confucianism reduces these relations to the 'five relations' ... These categories are presumed to embrace all fundamental relationships". Um die konfuzianische Persönlichkeit zu verdeutlichen, hat Wrighl (1962, S. 3-23) auch in einem anderen Kontext zutreffend einige Begriffe der modemen soziologischen Rollentheorien (z.B. "role selection", "role playing", "role shifts" usw.) verwandt. 14 In einem soziologischen Studien- und Arbeitsbuch der "sozialen RoUe" werden verschiedene soziologische Rollentheorien, die sowohl aus dem handlungstheoretisch-mikrosoziologischen Ansatz, als auch aus dem systemtheoretisch-makrosoziologischen Ansatz stammen, zusammenfassend dargestellt (Griese u.a., 1977). Darin werden viele Texte zur Rollentheorie verschiedener Autoren gesammelt: die Theorien von Gehlen, Popitz, Linton, Merton, Simrnel, Berger/Luckrnann, Mead, Claessens usw. Außer diesen Autoren tauchen auch die Namen wie Dahrendorf, Parsons, Goffmann usw. auf. "Soziale Rolle" als eine Elementarkategorie der soziologischen Analyse wird so von vielen Autoren mit unterschiedlichen theoretischen Strategien interpretiert. Es ist unmöglich für uns, auf solche Theorien im einzelnen einzugehen. Hier wird vor allem mit Hilfe dieses Studienbuchs und des Buchs "Homo Sociologicus" von Dahrendorf angefangen, diesen grundlegenden Begriff zu verdeutlichen. Die Art und Weise des Denkens, die Soziologen in ihrer Analyse allgemein verwenden, wird nachvollziehend übernommen und dadurch mit der Art und Weise des Konfuzianismus verglichen.

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen Rollentheorie

145

a) Soziologische Rollentheorien als analytische Grundlage DahrendorflS behandelt "soziale Rolle" als die eigentümliche Elementarkategorie der soziologischen Analyse: "Am Schnittpunkt des Einzelnen und der Gesellschaft steht homo sociologicus, der Mensch als Träger sozial vorgeformter Rollen. Der Einzelne ist seine sozialen Rollen, aber die Rollen sind ihrerseits die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft. Die Soziologie bedarf bei der Lösung ihrer Probleme stets des Bezuges auf sozialen Rollen als Elemente der Analyse; ihr Gegenstand liegt in der Entdeckung der Strukturen sozialer Rollen". Die Behauptung, den Menschen als Träger sozial vorgeformter Rollen (homo sociologicus) zu betrachten, geht vor allem von einem Standpunkt einer Ordnungstheorie bzw. Makrosoziologie aus. Aber wenn die Soziologie davon redet, "Menschen verhalten sich rollengemäß " , sollte der Rollenbegriff in der Soziologie zunächst von seinem anthropologischen Hintergrund her gesehen und behandelt werden l6 • Im Gegensatz zu allen Tieren verhalten sich die Menschen rollengemäß (mit Berücksichtigung der Erwartungen anderer Menschen), zwar aufgrund bestimmter Eigenschaften und Dispositionen. Anhand der anthropologischen Forschung bedeuten die menschlichen Eigenschaften zunächst die "physiologischen Frühgeburt", d.h. "eine Art normalisierte Frühgeburt" beim Menschen. Erst einige Monate nach der biologischen Geburt kann der Mensch seine artspezifische Kommunikations- und Bewegungsfahigkeit erhalten; und der Säugling kann sich erst menschlich entwickeln, wenn er einen emotionalen Umgang mit Mitmenschen (Bezugspersonen) hat 17 • Mensch zu sein, ist deswegen auch ein Lernprozeß in der sozialkulturellen Umwelt. Ein Kind, das als Mensch anerkannt wird, lernt, sich selbst als Mensch zu behandeln. Dadurch wird der Mensch größtenteils das, was seine Mitmenschen in ihn hineingelegt haben. Weltoffenheit und Plastizität sind die anthropologischen Eigenschaften des Menschen: "Die Offenheit, d.h. Ungebundenheit an Instinkte, und die Plastizität, d.h. Formbarkeit durch die Einflüsse der Umwelt, stempeln den Menschen auch zu einem Lernwesen, das bei Geburt nicht festgestellt ist und sich zu dem, was es später ist, erst auf dem Umweg über Mitmenschen machen muß" 18. Dabei wird Kultur als Produktivität und Feststellung des Menschen behandelt: Das Unfertige und Nicht-Festgestelltsein des Menschen wird aber durch seine Fähigkeit des Sich-Feststellens bzw. des Schaffens einer Kultur eingeschränkt l9 • In diesem Sinne sind die von den

,s Dahrendorf, 1977, S. 20.

'6 '7 " '9

Griese Griese Griese Griese

u.a., u.a., u.a., u.a.,

1977, 1977, 1977, 1977,

S. S. S. S.

12. 15. 16. 17.

146

V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

Menschen gegeneinander und zusammen festgestellten Normen und Ordnungen wie Sitten, Rechtsformen, Institutionen als menschliche Produktivitäten anzusehen, "welche die unvorstellbare Plastizität und Nichtfestgestellheit des Menschen sozusagen auf Schienen legen und eingrenzen"2o. Nach Popitz21 beruht dieses Sich-Selbst-Feststellen des Menschen stets auf einer normativen Entscheidung. Der Mensch orientiert sich selbstverständlich in seinem Verhalten an Normen bzw. generalisierte Interaktionsmuster (Regeln, Erwartungen und Vorschriften). Durch die sozialen Normen können die Menschen sich mit einiger Sicherheit, Dauerhaftigkeit und Berechenbarkeit aufeinander einstellen (Normierung des Verhaltens). Diese Normen-Orientierung des Menschen, d.h. das Sich-Selbst-Feststellen des Menschen als soziales Wesen, ist nach Popitz22 dem Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozitätsprinzip) unterworfen, also ein Sich-gegenseitig-Feststellen. Soziales Verhalten ist dadurch von den Handlungspartnern wechselseitig voraussagbar (antizipierbar): Es beruht auf einer "Reziprozität der Perspektiven" (Erwartung von Verhaltenserwartungenf3. Soziale Normen können damit Handlungen und Situationen typisieren. Diese Typisierungen sind von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Und soziale Gruppen stellen sich als ein in sich differenziertes Gefüge von Rechten und Pflichten dar24 • In diesem Sinne bestimmen soziale Normen das Handeln der Menschen als Gruppenmitglieder: Sie definieren deren soziale Rollen25 • Damit sei der Rollenbegriff bzw. das Rollenkonstrukt abhängig von den Begriffen bzw. Konstrukten der sozialen Normierung und sozialen Differenzierung26. Hier kann man auf die These von Dahrendorf zurückkommen und den Menschen als Träger sozial vorgeformter Rollen (homo sociologicus) betrachten: "Zu jeder Stellung, die ein Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Dinge, die er tut und hat; zu jeder sozialen Position gehört eine soziale Rolle. Indem der Einzelne soziale Positionen einnimmt, wird er zur Person des Dramas, das die Gesellschaft, in der er lebt, geschrieben hat. Mit jeder Position gibt die Gesellschaft ihm eine Rolle in die Hand, die er zu spielen hat. Durch Positionen und Rollen werden die beiden Tatsachen des Einzelnen und der Gesellschaft vermittelt; dieses Begriffspaar bezeichnet homo sociologicus, den

20

21 22 23

2' H

26

Gehlen, 1977, S. 59. Popitz, 1977, S. 60. Popitz, 1977, S. 60. Griese u.a., 1977, S. 18-19; vgl. auch Luhmann, 1987, S. 33-39. Popitz, 1977, S. 61. Griese u.a., 1977, S. 20. Griese u.a., 1977, S. 20.

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen RolJentheorie

147

Menschen der Soziologie, und es bildet daher das Element soziologischer Analyse '127. Um die relevanten Begriffe der Rollentheorien weiter zu erklären, hat er weiter geschrieben: "Während Positionen nur Orte in Bezugsfeldern bezeichnen, gibt die Rolle uns die Art der Beziehungen zwischen den Trägem von Positionen und denen anderen Positionen desselben Feldes an. Soziale Rollen bezeichnen Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen, die von zweierlei Art sein können: Einmal Ansprüche an das Verhalten der Träger von Positionen (Rollenverhalten), zum anderen Ansprüche an sein Aussehen und seinen 'Charakter' (Rollenattribute) ... Obwohl die soziale Rolle, die zu einer Position gehört, uns nicht verraten kann, wie ein Träger dieser Position sich tatsächlich verhält, wissen wir doch, wenn wir mit der Gesellschaft, die diese Rolle definiert, vertraut sind, was von ihrem Spieler erwartet wird. Soziale Rollen sind Bündel von Erwartungen, die sich in einer gegeben Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen ... Mit den Positionen entfallen auf jeden Einzelnen viele soziale Rollen, deren jede der Möglichkeit nach eine Mehrzahl von Rollensegmenten umschließt. . .Insofern ist jede einzelne Rolle ein Komplex oder eine Gruppe von Verhaltenserwartungen .. 1128.

Im Gegensatz zu Merton wird von Dahrendorf so definiert, daß jeder Position nur eine Rolle zugeordnet ist. Diese Rolle besteht ihrerseits vor allem aus einem Bündel von Envartungen, die an einzelne Rollenbeziehungen gebunden sind; und die Rollenbeziehungen verweisen immer auf andere Positionen, ob diese gleichzeitig derselben soziale Gruppe oder verschiedenen sozialen Gruppen zugeordnet sind29 • Z.B. die Vaterrolle umfaßt Beziehungen zur Mutter, Beziehungen zu den Kindern, Beziehungen zu den anderen Verwandten, Beziehungen zu den Nachbarn und allgemein soziale Erwartungen an das Verhalten (wie Sitte, Recht USW.)30. Aufgrund der obendargestellten soziologischen (vor allem ordnungstheoretisch orientierten) Rollentheorie wird hier zunächst in dieser Hinsicht die spezifische Einordnung der sozialen Rollen bei Konfuzianismus versuchsweise dargestellt. Dazu werden die handlungstheoretisch orientierten Rollentheorien auch ergänzend eingeführt, um die Konstruktion einer konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie zu ermöglichen.

Dahrendorj, Dahrendorj, 29 Griese u.a., )0 Griese u.a.,

27 28

1977, S. 1977, S. 1977, S. 1977, S.

32. 32-33. 28. 28.

148

V. Ethik, Legitirnationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

b) Die Entstehung der konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie Die modernen soziologischen Rollentheorien geben uns viele Hinweise, wie wir die konfuzianische (moralische) Rollentheorie analysieren können. Auf dieser Basis werden im folgenden einige kulturelle Charakterzüge der konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie versuchsweise angeführt31 • Es ist unter Konfuzianern allgemein bekannt, daß die Menschen die ihnen eigene Fähigkeit haben, soziale Gruppierungen zu bilden (Ch 'üen) und soziale Rollen zu teilen (Fen). Dazu hat sich Hsün-tzu, der dritte Vertreter des Konfuzianismus, am deutlichsten geäußert. Wie schon dargestellt wurde, ist die menschliche Natur für Hsün-tzu, unmoralisch und asozial (egoistisch, unfroh, unfreundlich, gewalttätig usw.). Und die Moral und soziale Normen sind deswegen nur contra naturam und von außen her möglich: Sie sind für Hsün-tzu vor allem äußerliche sozial-kulturelle Erfindungen, die wiederum in der menschlichen Ratio, d.h. seiner Fähigkeit zur

Zusammenarbeit bzw. sozialen Vereinigung (Ch 'üen) und seiner Fähigkeit zur Rollenteilung (Fen) , verankert sind. Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch nach Hsün-tzu trotz seiner bösen Natur die spezifischen vernünftigen Fähigkeiten (Ch 'üen und Fen) , sich gegen seine eigene Natur sozial zu verhalten. Obwohl Hsün-tzu von der menschlichen bösen (m.a. W. asozialen) Natur überzeugt ist, betont er trotzdem die menschliche Fähigkeit zum Lernen, Kultivieren und Vergesellschaften (Ch'üen), die gegen seine eigene asoziale Natur die sozialen Normen schaffen und durchsetzen kann (auch eine Fähigkeit des Sich-Feststellens). Wobei die Fähigkeit des Sich-Feststellens auch von den soziologischen Rollentheorien als menschliche Eigenschaft betrachtet wird 32 • Darüber hinaus verhalten sich die Menschen nach den soziologischen Rollentheorien 33 im Gegensatz zu allen Tieren rollengemäß (mit Berücksichtigung der Erwartungen anderer Menschen). Mensch zu sein, ist ein Lemprozeß unter der sozialkulturellen Umwelt. Ein Kind, das als Mensch anerkannt wird, lernt, sich als Mensch zu verhalten. Dadurch wird der Mensch größtenteils das, was seine Mitmenschen in ihn hineingelegt haben. Eine solche Behauptung liegt mit der des Hsün-tzu, die Menschen hätten die Fähigkeit, die soziale Rollen zu teilen (Fen), sehr nahe beieinander.

31 Es ist keine einfache "Übertragung" westlicher Theorie auf konfuzianische Angelegenheit, sondern eine "kritische" Anwendung mit bestimmten Vorbehalten.

32 33

Griese u.a., 1977, S. 17. Griese u.a., 1977, S. 12.

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen Rollentheorie

149

Hsün-tzu betont weiterhin, daß die beiden menschlichen Fähigkeiten (eh 'üen und Fen) durch das umfassende normative Regelsystem (Li bzw. Li-chih)

reguliert und verwirklicht werden sollten. In diesem Sinne hat er den Standpunkt des Konfuzius, die Funktion der sozial-politischen Kontrolle des Li hervorzuheben, beibehalten. Um die ursprüngliche Ordnung der Chou-Zeit zu rekonstruieren und den wahren Weg wiederzufinden, hat Konfuzius (551-479 v.Chr.) neben anderen während der "Achsenzeit" Chinas seinen eigenartigen "philosophischen Durchbruch" vollzogen und die einflußreichste lu-chia (lu-Schule, Konfuzianismus) begründet. Und diese ursprüngliche Ordnung der Chou-Zeit ist zunächst für Konfuzius eine "sozial-politische" Ordnung. "Konfuzius sprach: 'Wenn unter dem Himmel Ordnung herrscht, ist der Sohn des Himmels (T'ien-tzu) die höchste Autorität in allen politischen und kultischen Angelegenheiten (Li und Yüeh, Riten und Musik), er trifft auch die Entscheidungen über militärische Strafexpeditionen. Ist keine Ordnung unter dem Himmel, dann geht diese Aktivität von den Lehnsfürsten aus ... "'4.

Die gewisse Verhaltensweisen, welche die Ordnung von dem Träger der höchsten Position (Sohn des Himmels, T'ien-tzu) erwartet, sind die Rolle des Sohnes des Himmels. Solche Erwartungen (die letztlich politische Entscheidung usw. sind) können nur von ihm (als Rollenträger) durchgeführt werden. Ist keine Ordnung unter dem Himmel, dann geht eine solche Rolle nicht mehr von dem Sohn des Himmels, sondern von den Lehnsfüsten aus. Eine Ordnung bedeutet für Konfuzius: Jeder Positionsinhaber oder Rollenträger, vom Sohn des Himmels bis zum Volk, kann richtig seine eigene Rolle spielen. Wie obige Darstellung ist für Konfuzius die ursprüngliche Ordnung der Chou-Zeit bzw. der Westlichen Chou-Zeit (11 Jh.-771 v.Chr.) das gesamte System der Riten (Li bzw. Li-chih). Am Ende der Zeit der Westlichen Chou bedeutet Li ein normatives Regelsystem, das vor allem die Ordnung von Himmel, Erde und Menschen reguliert. Nicht das rechtliche System (Fa), sondern das gesamte System der Riten (Li-chih) hat die hauptsächliche Rolle der sozialen und politischen Kontrolle gespielt. In diesem Sinne bestimmt das gesamte System der Riten (Li-chih) als sozial-politische Ordnung die Stellung und das Handeln eines jeden Menschen in dieser Gesellschaft: Es definiert deren soziale Position (Wei, Wei-fen) und soziale Rolle. Damit stellt dieses Regelsystem zum ersten Mal in der Geschichte Chinas eine systematische und kulturell geprägte Konstruktion der sozialen Normierung und der sozialen Differenzierung dar. Aber das gesamte System der Riten (Li-chih) ist mit dem Zusammenbruch der Westlichen Chou auch zerfallen. Die soziale Differenzierung, d.h. die Anordnung der Rangstufe der sozialen Positionen, ist damit durcheinander

34

11 Lin

Lun-yü, XVI, 2, S. 122.

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V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

geworfen geworden. Jeder Positionsinhaber kann nicht mehr richtig seine zugeordnete Rolle spielen: Der Sohn des Himmels verhält sich nicht als der Sohn des Himmels, die Lehnsfürsten verhalten sich nicht als Lehnsfüsten usw. Als ein Fachmann von Li hat Konfuzius (551-479 v.Chr.) immer wieder das Zerfallen des gesamten Systems der Riten (Li-chih) bedauert und mit seiner ganzen Kraft versucht, das gesamte System der Riten (Li-chih) der Chou wieder aufzubauen. Seine Lösung dafür ist die "Richtigstellung der Namen" (Chengming). Die Namen (Ming), welche die sozialen Definitionen bzw. die formalen Bezeichnungen aller Positionen sind, kann man nach der Meinung von Konfuzius mit dem Begriff Positionen (Wei, Wei-fen) gleichsetzen3s • In diesem Sinne kann die Lösung des Konfuzius auch als "Richtigstellung der sozialen Positionen" gedeutet werden. Damit ist eine konfuzianische Rollentheorie entstanden. c) Richtigstellung der sozialen Positionen (Cheng-ming) "Konfuzius sprach: 'Wenn man kein Inhaber einer Position (Wei) ist, dann kümmert man sich nicht um die Aufgabe dieser Position (um die Ausübung einer Position kümmere sich nur, wer kompetent dafür ist)'. Tseng-tzu sprach: 'Der Gentleman (Chün-tzu) konzentriert sich mit seinen Gedanken nicht darauf, was außer (der Erfüllung der Pflichten) eigener Position (Wei) ist'"36.

Hier haben Konfuzius und sein Schüler Tseng-tzu klar dargestellt, daß die bestimmte Rolle (Aufgabe, Pflichten usw.), die einer Position zugeordnet ist, nur von dem bestimmten Inhaber dieser Position gespielt werden kann. Insbesondere konzentriert sich der Gentleman (Chün-tzu) , der ideale Kulturmensch, nur auf die Erfüllung der Rolle eigener Position. In diesem Sinne kann man so sagen: Wenn ein Positionsinhaber die ihm zugeordnete Rolle ordentlich spielen kann, ist er schon ein Gentleman (Chün-tzu). "[Der Schüler] Tzu-lu sprach zu Konfuzius: 'Wenn Euch der Herrscher des Staates Wei die Regierung anvertraute -- was würdet Ihr zuerst tun?' Der Meister antwortete: 'Unbedingt die Namen richtigste lien (Cheng-ming). Darauf Tzu-lu: "Damit würdet Ihr beginnen? Das ist doch abwegig. Warum eine solche Richtigstellung der Namen?' Der Meister entgegnete: 'Wie ungebildet du doch bist. Tzu-Lu! Der Gentleman (Chün-tzu) ist vorsichtig und zurückhaltend, wenn es um Dinge geht, die er nicht kennt. Stimmen die Namen und die Realitäten nicht, so ist die Sprache konfus. Ist die Sprache konfus, so entsteht Unordnung und Mißerfolg. Gibt es Unordnung und Mißerfolg, so geraten Riten und Musik (Li-yüeh, Anstand und gute Sitten) in Verfall. Sind Riten und Musik in Frage gestellt, so gibt es keine gerechten Strafen (Hsing) mehr. Gibt es keine gerechten Strafen mehr, so weiß das Volk nicht, was es tun und was es lassen soll. Darum muß

3' In der Entwicklungsgeschichte des Konfuzianismus werden solche Begriffe wie Namen (Ming), Positionen (Wei oder Wei-fen), Namen und Positionen (Ming-weO, Namen und Pflichten (Ming-fen) usw. immer wieder hervorgehoben und als Basis einer konfuzianischen Konstruktion der

sozialen Institutionen bzw. sozialen Ordnung behandelt. 36 Lun-yü, XIV, 26, S. 110.

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen Rollentheorie

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der Gentleman (Chün-tzu) die Namen (Ming) korrekt benutzen und auch richtig danach handeln können. Er geht mit seinen Worten niemals leichtfertig um"037.

In der Zeit des Konfuzius ist die gesamte Anordnung der Rangstufen der sozial-politischen Positionen durcheinander geraten. Um diese Unordnung zu bessern, muß man nach Konfuzius zuerst die verschiedenen Positionen nach ihrer eigentlichen Rangstufe richtigstelIen (Richtigstellung der Namen, Chengming). Sonst kann man nicht das gesamte Land regieren. "Ch'i Ching-kung (Herrscher des Herzogtums Ch'i) fragte Konfuzius, was Regieren (Cheng) ist. Der Meister antwortete ihm: 'Der Herr sollte sich als ein Herr verhalten (Chün-chün), der Untertan sollte sich als ein Untertan verhalten (Ch'en-ch'en); der Vater sollte sich als ein Vater verhalten (Fu-fu), der Sohn sollte sich als ein Sohn verhalten (Tzu-tzu)'. Ch'i Ching-kung meinte dazu: 'Das ist gut. Denn wenn der Herr nicht Herr, der Untertan nicht mehr Untertan, der Vater nicht Vater und der Sohn nicht Sohn ist, dann hätte ich selbst bei einer guten Ernte wohl kaum etwas zu essen' "38.

In diesem Zitat hat Konfuzius seine Positionen- und Rollentheorie deutlicher als in anderen Kontexten dargestellt39 • Diese Theorie wird später von anderen Konfuzianern bzw. Neo-Konfuzianer ohne große Veränderung festgehalten und fortgesetzt. Auf Chinesisch ist die Antwort von Konfuzius folgenderweise: "ChÜD-chün, Ch'en-ch'en; Fu-fu, Tzu-tzu". Das erste Wort (Chün) von "Chün-chün" bezeichnet einerseits die Position eines Herrn, d.h. den Ort in seinen Bezugsfeldern; und das zweite Wort (chün) , das wörtlich mit dem ersten Wort identisch ist, bezeichnet andererseits die Rolle eines Herrn, d.h. die Verhaltenserwartungen seiner Position, die Art und Weise der Beziehung zwischen ihm (als Inhaber der Position Herr) und der anderen Position desselben Feldes (hier Ch 'en, Untertan). Wenn Konfuzius die beiden Wörter (Chün-chün) zusammenstellt, bedeutet es: Der Positionsinhaber (Herr, Chün) sollte die ihm zugeordnete Rolle (als ein Herr, chün) richtig spielen. Diese Rolle (als Herr) besteht ihrerseits aus einem Bündel von Envartungen, die hier an die Rollenbeziehung (zwischen Herrn und Untertan) gebunden sind; und diese Rollenbeziehung verweist immer auf eine andere Position (Untertan) desselben Feldes. Umgekehrt bedeuten die beide Wörter (Ch 'en-ch 'en) auch: Der Positions inhaber (Untertan, Ch 'en) sollte die ihm zugeordnete Rolle (als ein Untertan, ch 'en) richtig spielen. Ein Untertan als Positions inhaber oder Rollenträger ist in diesem Sinne wie sein Gegenspieler (Herr) nicht unabhängig, er hängt vielmehr immer sehr eng mit der Person Herrn (als einem anderen Positionsinhaber oder Rollenträger) zusammen. In diesem Sinne sind sowohl ein Herr als auch ein Untertan dem selben moralischen Prinzip unterworfen: Gegenseitigkeitsprinzip (Reziprozitätsprinzip) .

37 38 39

11"

Lun-yü, XIII, 3, S. 100. Lun-yü, XII, 11, S. 96. Vgl. auch Chang, Te-sheng, 1991, S. 76-78.

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V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

Dadurch ist soziales Verhalten in diesem konfuzianischen Sinne (ähnlich wie die obigen soziologischen Rollentheorien) von den Handlungspartnern wechselseitig voraussagbar (antizipierbar): Es beruht auf einer "Reziprozität der Perspektiven" (Erwartung von Verhaltenserwartungen)40. Aber wie gesagt beinhaltet das Reziprozitätsprinzip beim Konfuzianismus eine moralisch grundlegende Bedeutung: Die Tugend Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme) bzw. die Tugend Jen (Menschlichkeittl. Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist an dem sei ben Prinzip

(Reziprozität) orientiert. Die beide Wörter (Fu-fu) bedeuten: Der Positionsinhaber (Vater, Fu) sollte die ihm zugeordnete Rolle (als ein Vater,fu) richtig spielen. Das Spielen des Vaters dieser Vater-Rolle (Fu-fu) ist in diesem Kontext untrennbar mit dem Gegenspielen des Sohnes der Sohn-Rolle (Tzu-tzu) verbunden. Umgekehrt gilt dasselbe. Obwohl Konfuzius hier nur zwei Beziehungen (Herr-Untertan, Vater-Sohn) als Beispiele angeführt hat, möchte er trotzdem dadurch seine ideale sozialpolitische Ordnung formulieren. Nicht zufällig sind die beiden Beziehungen der wichtigste Teil der" Fünf-Beziehungen" , die von dem Konfuzianismus besonders hervorgehoben und als fundamentale soziale Beziehungen behandelt werden. Selbstverständlich sind die "Fünf-Beziehungen" auch dem moralischen Reziprozitätsprinzip (Shu) unterworfen: Sie werden vor allem als die fundamentalen symmetrischen reziproken Sozialbeziehungen verstanden. Eine ideale sozial-politische Ordnung ist deswegen nach Konfuzius so: Jeder Positionsinhaber oder Rollenträger in der Gesellschaft kann die ihm zugeordnete Rolle (in Bezug auf den anderen Positionsinhaber oder Rollenträger und unter Berücksichtigung des Reziprozitätsprinzip) ordentlich spielen. Mit anderen Worten: Jeder Mensch verhält sich als ein Gentleman (Chün-tzu). Um seine Lösung (d.h. Richtigstellung der sozialen Positionen) der sozialpolitischen Unordnung durchzusetzen, hat Konfuzius nicht nur seine humanisti-

Vgl. Popitz., 1977, S. 60. Wie gesagt bedeutet Jen etymologisch gesehen "zwei" und "Mensch". Man kann deswegen den Begriff Jen auch etwas weiter mit "Mitmenschlichkeit" (Ko-Humanität) übersetzen. Dabei wird der Begriff Jen (Mitmenschlichkeit) vor allem als die sozialethische Grundlage für alle menschlichen Beziehungen behandelt. Und ein Mensch wird nicht als Individuum, sondern vor allem als "Mitmensch" betrachtet. In diesem Sinne wird der chinesische Mensch nicht von einem Gon als Individuum erschaffen, sondern in eine Gesellschaft von Menschen als Mitmensch geboren. Wenn der Begriff Jen nicht in erster Linie als persönliche Tugend, sondern als sozialethische Kardinaltugend behandelt wird, ist er meistens dem Begriff Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme) gleichgesetzt. In diesem Sinne werden die vom Konfuzianismus betonten "Fünf-Bez.iehungen" (Wu-lun) vor allem als die auf der Kardinaltugend Jen bzw. Shu basierenden fundamentalen reziproken Sozialbeziehungen verstanden. 40 41

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen Rollentheorie

153

sche Schule (Ju-chia) begründet, sondern auch seine "Annalen der Frühlingsund Herbstperiode" (Ch 'un-ch 'iu) geschrieben. In diesen Annalen hat er konsequent seine Vorstellung von der "Richtigstellung der Namen" (Chengming) dargelegt. Obwohl das feudale System der Chou-Zeit durcheinander war , hat er die sozial-politischen Positionen bzw. Namen im eigentlichen Sinne niedergeschrieben: Sohn des Himmels ist noch Sohn des Himmels, Fürsten sind Fürsten usw. Jede Aktion (z.B. Usurpation), die nicht durch die Rangstufe der Positionen gerechtfertigt ist, wird von ihm besonders scharf kritisiert. Deswegen hat der Taoist Chuang-tzu (ca. 369-286 v.Chr.) richtig gesagt: "Es geht den Annalen Konfuzius darum, die (richtigen) Namen und Pflichten (MingJen) auszudrücken". Menzius hat dazu geäußert: " ... Es kam vor. daß Untertanen ihre Herren mordeten. es kam vor. daß Söhne ihre Väter mordeten. Meister Kung (Konfuzius) war besorgt darob und schrieb' Annalen der Frühlings- und Herbstperiode· ... Meister Kung vollendete 'Annalen der Frühlings- und Herbstperiode'. und die aufrührerischen Knechte und mörderischen Söhne bekamen Angst. .. "42.

d) Die konfuzianische Triade: Soziale Differenzierung, soziale Arbeitsteilung und moralische Unterscheidung Die sozial-politische Ordnung zu bewahren und zwischenmenschlichen Streit zu verhindern, ist ein gemeinsames Ziel von Konfuzianismus und Legalismus. Im Vergleich zu den Legalisten, welche die Wichtigkeit des Gesetzes (Fa) und der Strafe (Hsing) behaupten, betonen die Konfuzianer in erster Linie die Bedeutung der moralischen Kultivierung, die sich wiederum in einem normativen Regelsystem (Li) manifestiert. Um eine harmonische sozial-politische Ordnung zu ermöglichen, bestreiten die Konfuzianer nicht, daß es die menschlichen sozialen Unterschiede in der Welt gibt. Die Konfuzianer erkennen die menschlichen sozialen Unterschiede als ein natürliches Phänomen (Natur der Dinge) an und versuchen auf der Basis dieser menschlichen sozialen Unterschiede, eine harmonische Ordnung zu schaffen43 • In diesem Sinne ist eine Gesellschaft ohne die menschlichen sozialen Unterschiede undenkbar für die Konfuzianer. Vielmehr akzeptieren die Konfuzianer zunächst die menschlichen sozialen Unterschiede in den verschiedenen Bereichen (sozial-politischen, ökonomischen, kulturell-moralischen usw.). Zweitens bestätigen sie die folgenden sozialen Entwicklungen als unvermeidlich und notwendig, die aus diesen menschlichen sozialen Unterschieden resultieren: Soziale Differenzierung, soziale Arbeitsteilung, moralische

Mong-dsi. III. B. 9. S. 108-109. Chü (1961. S. 226) hat über diese Stellungnahme der Konfuzianer zutreffend geschrieben: "They emphasized that differences are in the very nature of things and that only through the harmonious operation of these differences could a fair social order be achieved". 42

4)

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V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

Unterscheidung usw. Schließlich streben sie trotz (oder vielmehr wegen) dieser notwendigen sozialen differenzierten Entwicklungen danach, eine gesamte harmonische Konstruktion durchzuführen und die richtige soziale Ordnung herzustellen44 • Beim Schaffen dieser sozialen Ordnung hat die konfuzianische Triade, d.h.

die Dreiheit von sozialer Differenzierung, sozialer Arbeitsteilung und moralischer Unterscheidung, eine große Rolle gespielt. Für die Konfuzianer gibt es in der Gesellschaft zumindest den Unterschied zwischen dem Gentleman (Chün-tzu) und dem kleinen Mann (Hsiao-jen). In dem feudalen System der Chou-Zeit besteht eine Trennung zwischen dem Adel (Chün-tzu) und dem Volk (Hsiao-jen)4s. Und dieser Unterschied hat sich nicht nur auf die Frage der sozialen Differenzierung, sondern auch auf die der sozialen Arbeitsteilung bezogen: "Die Anordnung des früheren Königs ist: Der Adel (Chün-tzu) arbeitet mit seinem Herz (Laohsin), der kleine Mann (Hsiao-jen) arbeitet mit seiner Kraft (Lao-li)"".

Es herrscht fundamentale Arbeitsteilung in dem feudalen System der ChouZeit: Geistige Arbeiten (Lao-hsin) und physische Arbeiten (Lao-li). Die physischen Arbeiten gehören zu den kleinen Leuten (Hsiao-jen) , d.h. Bauern (Nung), Handwerkern (Kung) , Kaufleuten (Shang) usw.; und die geistigen Arbeiten gehören zum Adel (Chün-tzu). Erst Konfuzius hat die moralische Kultivierung als Kriterium behandelt, die Menschen in der Gesellschaft in diesen zwei Typen zu unterteilen: Der Mann mit ausreichender moralischer Kultivierung (Chüntzu) und der Mann mit geringer moralischer Kultivierung (Hsiao-jent 7 • Wenn

44 Roetz (1992, S. 424) hat sehr zutreffend ausgedrückt: "Trotz ihrer Verteidigung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung, sind alle Anthropologien, die die Konfuzianer entwickeln, egalitär" (Hervorhebung von mir). In diesem Sinne kann man wiederum den Versuch der Konfuzianer bemerken, d.h. sie versuchen dadurch, eine Synthese zwischen diesen beiden Aspekten (Egalität und Hierarchie) bzw. eine Synthese von Universalismus und Panikularismus zu konstruieren. Im 11. Kapitel wird diese konfuzianische Synthese vor allem mit dem Begriff Menschlichkeit (Jen) verdeutlicht. Die Kardinaltugend Jen umfaßt nicht nur die panikularistische Dimension, d.h. "liebe mit Unterschied und Gradierung" (Ai yu cha-teng), sondern auch die universalistische Dimension , d.h. die Verallgemeinerung einer (solcher) Liebe. In diesem Kapitel kann man durch die konfuzianische Anordnung der verschiedenen sozialen Positionen bzw. sozialen Rollen dieselbe Synthese-Konstruktion finden. 4$ Vgl. Chü, 1957, S. 235-236; YÜ, 1987, S. 145-149 . .. Tso-chuan, Hsiang-Herzog 9. Jahr, S. 806. 47 In dem Buch "Lun-yü" (Gespräche) hat Konfuzius den Unterschied zwischen dem Gentleman (Chün-tzu) und dem kleinen Mann (Hsiao-jen) nach dem Kriterium der moralischen Kultivierung dargestellt. Hier kann man einige Beispiele anführen: "Der Gentleman verhält sich zu allen gleich, der kleine Mann hingegen liebt Kumpanei und Cliquenwirtschaft" (Lun-yü, H, 14, S. 48).

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen Rollentheorie

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wir die von Linton vorgelegte Unterscheidung zwischen den zugeschriebenen Positionen (ascribed statuses) und den erworbenen Positionen (achieved status es) annehmen, dann können wir die Umdeutung der Begriffe (Chün-tzu und Hsiao-jen) des Konfuzius als einen Prozeß der sozialen Mobilität behandeln: Schritt für Schritt ist die Zuordnung der sozialen Positionen nicht mehr an der Abstammung einer Person, sondern vor allem an seinen persönlichen Leistungen (für Konfuzius hauptsächlich der moralischen Selbst-Kultivierung) orientiert, d.h. an die Stelle der zugeschriebenen Positionen treten die erworbenen Positionen. Wer durch Bildung oder Selbst-Kultivierung die ausreichende moralische Qualität erreichen kann, ist er schon ein Gentleman (Chün-tzu), unabhängig von seiner Herkunft. Wer das nicht schaffen kann, ist er ein kleiner Mann (Hsiao-jen), egal welcher Abstammung. Hsün-tzu (298-238 v.Chr.), der dritte Vertreter des Konfuzianismus (neben Konfuzius und Menzius), hat diesen Prozeß der sozialen Mobilität klar dargestellt: "Although a man is the descendant of a king, duke, or nobly official (Shih ta-fu), if he does not observe the Li and righteousness (I), he must be c1assifed as a commoner; although he is a descendant of a commoner, if he accumulates leaming, rectifies himself and his conduct, and is able to observe the Li and righteousness, then he must be classified as a minister, chancellor, or nobly official (Shih ta-fu)"48.

Vor Konfuzius war die Bildung nur eine Angelegenheit des Adelsstandes. Erst Konfuzius hat zum erstenmal in der Geschichte Chinas eine neue "private" humanistische Schule lu-chia (lu-Schule) begründet. Seine Schule ist eine typische "Volks "-Schule: Seine Tür ist für alle Leute geöffnet, seine Schüler (etwa 3.000) stammen aus den verschiedensten Ständen. Dies entspricht seiner eigenen Äußerung: "Konfuzius sprach: 'Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen'''''.

In einem solchen Kontext ist das Kriterium der sozialen Differenzierung geändert: Nicht Herkunft, sondern moralische Qualität, ist das entscheidende

"Konfuzius sprach: 'Dem Gentleman geht es um innere Werte, der kleine Mann hingegen ist auf Materielles aus. Der Gentleman denkt an die richtigen Vorbilder, der kleine Mann strebt nach Gunst'" (Lun-yü, IV, 11, S. 56). "Konfuzius sprach: 'Der Gentleman ist mit seinen Pflichten vertraut; der kleine Mann sieht nur die eigene Nützlichkeit'" (Lun-yü, IV, 16, S. 57). "Konfuzius sprach zu Tzu-Hsia: 'Sei als Gelehrter ein Gentleman; folge nicht den niedrigen Beweggründen eines kleinen Mannes'" (Lun-yü, VI, 13, S. 65). "Konfuzius sprach: 'Der Gentleman ist ausgeglichen und innerlich ruhig; der kleine Mann hingegen ist innerlich verkrampft und lebt stets in Nöten und Ängsten'" (Lun-yü, VII, 37, S. 74). "Konfuzius sprach: 'Der Gentleman fordert sich selbst. Der kleine Mann fordert von anderen'" (Lun-yü, XV, 21, S. 117). 48 Hsün-tzu, IX, S. 99; zitierte Übersetzung nach Chü, 1957, S. 244 . •, Lun-yü, XV, 39, S. 120.

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V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

Kriterium dafür, ob ein Mann der Gentleman (Chün-tzu) oder der kleine Mann (Hsiao-jen) ist. Obwohl das Kriterium für die Unterscheidung der sozialen Positionen zwischen dem Gentleman (Chün-tzu) und dem kleinen Mann (Hsiaojen) geändert ist, ist die Arbeitsteilung zwischen ihnen trotzdem nach wie vor geblieben: Der Gentleman (Chün-tzu) ist Geistesarbeiter und arbeitet mit seinem Herz (Lao-hsin), der kleine Mann (Hsiao-jen) ist Handarbeiter und arbeitet mit seiner Kraft (Lao-li). "Menzius sprach: ' ... Das Ackerland von Tong ist beschränkt und klein, aber es gibt doch wohl Gentlemen (Chün-tzu), es gibt doch wohl Landleute (Yeh-jen). Gäbe es keine Gentlemen, so wäre niemand da, die Landleute zu regieren; gäbe es keine Landleute, so wäre niemand da, die Gentlemen zu ernähren.' "50.

Noch deutlicher hat Menzius in anderer Situation die Arbeitsteilung zwischen dem Gentleman und dem kleinen Mann formuliert: "Menzius sprach: ' ... Die Arbeiten des großen Mannes (Ta-jen, Gentleman) sind andere als die des kleinen Mannes (Hsiao-jen). Außerdem hat jeder einzelne Mensch Bedürfnisse, zu deren Befriedigung die verschiedensten Handwerke nötig sind. Wenn nun jeder alles selber sich beschaffen müßte, was er braucht, das hieße die ganze Welt beständig auf den Straßen umherrennen lassen. Darum heißt es: Es gibt Geistesarbeiter (Lao-hsin ehe) und Handarbeiter (Lao-li ehe). Die Geistesarbeiter halten die andern in Ordnung, und die Handarbeiter werden von den andern in Ordnung gehalten. Die von den andern in Ordnung gehalten werden, nähren die andern. Die die andern in Ordnung halten, werden von diesen ernährt. Das ist ein durchgehendes Prinzip auf der ganzen Welt' "~I.

In diesem Sinne ist eine konfuzianische ideale Gesellschaft folgenderweise: Der gebildete Gentleman (Chün-tzu), der eine höhere moralische Qualität hat, verhält sich als Geistesarbeiter (Lao-hsin che) und der Regierende; im Gegensatz dazu verhält sich der kleine Mann (Hsiao-jen) , der geringere moralische Qualität hat, als Handarbeiter (Lao-li che) und der Regierte. Dabei wird eine Triade im konfuzianischen Sinne systematisch konstruiert, d.h. die drei menschlichen Klassifizierungen hängen miteinander eng zusammen: Soziale Differenzierung, soziale Arbeitsteilung und moralische Unterscheidunl 2 • Hsün-tzu, der dritte Vertreter des Konfuzianismus (neben Konfuzius und Menzius), dessen Meinung den Ordnungstheoretikern innerhalb der Soziologie nahesteht, stellt eine solche ideale sozial-politische Ordnung klar dar: "Die Tugend (Te) jeder Person soll mit seiner Position (Wei) übereinstimmen, seine Position soll mit seinem Gehalt (Lu) übereinstimmen, und sein Gehalt soll mit seiner Funktion (Yung) übereinstimmen "".

Mong-dsi, III, A, 3, S. 94. Mong-dsi, III, A, 4, S. 96. ~2 Vgl. Chü, 1961, S. 226-227. " Hsün-tzu, X, S. 121. 50

~I

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen Rollentheorie

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Umgekehrt ist es das größte Unglück in der Welt, wenn "die Tugend jeder Person nicht mit seiner Position, seine Fähigkeit nicht mit seinem Amt, seine Belohnung nicht mit seiner Leistung übereinstimmt"s4. "One's grade should be determined by his virtue and his appointment to office should be according to his ability, making everyone assurne his function and get into his proper position. The men of greater wisdom should be made feudal lords, and the men of lesser wisdom should be made ministers"~~.

In diesem letzten Zitat kann man bemerken, daß es keinen großen Unterschied zwischen der Tugend (Te) und der Fähigkeit (Neng) einer Person für die Konfuzianer gibt. Ein idealer Mensch, d.h. ein Gentleman (Chün-tzu), soll sich kultivieren, um eine Synthese von Tugend (Te) und Fähigkeit (Neng) zu erreichen. Er ist durch seine moralische Kultivierung dazu fähig, die kleinen Leute (Hsiao-jen) zu führen. Für Hsün-tzu und die anderen Konfuzianer sind soziale Arbeitsteilung und soziale Differenzierung nach dem moralischen Kriterium unvermeidlich und notwendig, d.h. sie sind die unerläßlichen Maßnahmen für die Sicherung von Harmonie und Ordnung: "Die früheren Könige haben deshalb mit Hilfe des Systems der Moral (Li-i) eine soziale Einteilung etabliert. Damit gab es Vornehme und Geringe, Alte und lunge, Wissende und Dumme, Fähige und Unfähige. leder erhielt seine Aufgabe und seine Position. Es gab auch die Unterschiede im Einkommen. Das ist die Methode (Tao) zur Bildung einer einträchtigen Gesellschaft"'·.

Durch die Anordnung einer solchen konfuzianischen Triade, d.h. einer Dreiheit von sozialer Differenzierung, sozialer Arbeitsteilung und moralischer Unterscheidung, sollte eine ideale, harmonische, humanistische soziale Ordnung im konfuzianischen Sinne geschaffen werden. Die Konfuzianer erkennen die menschlichen sozialen Unterschiede als ein natürliches Phänomen (Natur der Dinge) an und versuchen auf der Basis dieser menschlichen sozialen Unterschiede, eine harmonische Ordnung zu schaffen. Einerseits akzeptieren sie die menschlichen sozialen Unterschiede in den verschiedenen (sozial-politischen, ökonomischen, kulturell-moralischen usw.) Bereichen, andererseits bringen sie trotzdem eine moralisch geprägte egalitäre Anthropologie hervor. Am Ende versuchen die Konfuzianer eine Synthese zwischen diesen beiden gegensätzlichen Aspekten (Unterschied bzw. Hierarchie und Egalität) zu

Hsün-tzu, XVIII, S. 238. "Hsün-tzu, XII, S. 165, zitierte Übersetzung nach Chü, 1957, S. 238. Eine solche Behauptung wird später von einem Konfuzianer in Han-Zeit, Hsü Kan (171-218 n.Chr.) weiter verdeutlicht: "For those whose merits is great the salary is high; for those whose virtue is great the rank is high. For those whose merit is small the salary is low; for those whose virtue is small the rank is low. Therefore when we see one's rank we know his virtue; when we see'one's salary we know his merit. That is why the great men (Chün-tzu) of ancient time respected rank and salary" (Zitat nach Chü, 1961, S. 227-228). ,. Hsün-tzu, IV, S. 44-45, zitierte Übersetzung nach Schleichen, 1990, S. 302. S4

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V. Ethik, Legitimationsprinzip der Herrschaft und konfuzianische Rollentheorie

begründen und ihr Bestes trotz (oder vielmehr wegen) dieser menschlichen sozialen Unterschiede zu tun, um eine gesamte harmonische Konstruktion durchzuführen und eine richtige soziale Ordnung herzustellen57 • e) Reziprozität (Shu) bzw. Menschlichkeit (Jen) gegenüber Pietät (Hsiao ?); Fünf-Beziehungen (Wu-Iun) gegenüber Drei-Hauptleinen (San-Kang) Nachdem wir die obigen verschiedenen Aspekte der konfuzianischen (moralischen) Rollentheorie geschildert haben, wollen wir nun weiter fragen, welche Tugend, Reziprozität (Shu) bzw. Menschlichkeit (Jen) oder die von Weber gemeinte Pietät (Hsiao?), von den Konfuzianem als die Kardinaltugend und das Legitimationsprinzip der Herrschaft bzw. der politischen Teilordnung behandelt wird. Zugleich wollen wir auch fragen, welche sozialen Beziehungen, die FünfBeziehungen (Wu-Iun) oder die Drei-Hauptleinen (San-kang) , von den Konfuzianem als die grundlegenden sozialen Beziehungen betrachtet werden. aa) Die Beziehung zwischen dem Herrn (Chün) und den Untertanen (Ch'en) bzw. dem Volk (Min): Das Legitimationsprinzip der Herrschaft Shu (Reziprozität) bzw. Jen (Menschlichkeit) Wie gesagt legt Konfuzius seine (moralische) Rollentheorie dar, deren Ursprung eine moralisch geprägte, kosmologische Gesamtordnung ist58 , in der jeder seine Position mit entsprechender Rolle hat: Der Herr verhält sich als ein Herr (Chün-chün), der Untertan verhält sich als ein Untertan (Ch 'en-ch 'en) , der Vater verhält sich als ein Vater (Fu-fu), der Sohn verhält sich als ein Sohn (Tzu-tzu) usw. D.h. jeder Inhaber einer sozialen Position (Herr, Untertan, Vater, Sohn usw.) hat seine eigene soziale Rolle; er sollte seine eigene soziale Rolle (als ein Herr, als ein Vater usw.) gegenüber einer anderen Rolle des anderen sozialen Positions inhabers (z.B. als ein Untertan, als ein Sohn usw.)

57 Der japanische Sinologe Shiba (1986, S. 247-248) hat in seinem Artikel über Max Webers China-Studie die neue Meinung der Sinologen dargelegt: "Etwa seit 1960 haben einigen Sinologen damit begonnen, ein alternatives Bild der hierarchischen Ordnung Chinas zu postulieren. Sie vertreten die Meinung, daß das chinesische Universum ein hamwnischjunklionierender Organismus ist, der sich aus einer geordneten Hierarchie zusammenhängender Teile und Kräfte, die-obwohl vom Status her unterschiedlich-für den Gesamtprozeß gleich wichtig sind, zusammensetzt. Die rechtmäßige Gesellschaftsordnung, die die Interessen des Kaisers und der Einzelpersonen in Einklang bringt, ist abhängig von der Harmonie in den Seelen der Eliten und den Interessen verschiedener, informeller sozialer Einheiten wie Verwandtschaftsgruppen, Verbänden etc." (Hervorhebung von mir). 51 Jeseph Neeedham hat zutreffend erläutert: "Social and world order rested, not on an ideal of authority, but on a conception of rotational responsibility ... " (1956, 2, S. 290, zitiert nach Hamilton, 1984, S. 418, Hervorhebung von mir).

2. Die Charakterzüge der konfuzianischen Rollentheorie

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richtig und fehlerfrei spielen. Dadurch ist soziales Verhalten in diesem konfuzianischen Sinne (ähnlich wie die obigen soziologischen Rollentheorien) von den Handlungspartnern wechselseitig voraussagbar (antizipierbar): Es beruht auf einer "Reziprozität der Perspektiven" (Erwartung von Verhaltenserwartungen)59. Aber wie gesagt beinhaltet das Reziprozitätsprinzip beim Konfuzianismus eine moralisch grundlegende Bedeutung: Die Tugend Shu (Reziprozität, gegenseitige Rücksichtnahme) bzw. die Tugend Jen (Menschlichkeit). Damit ist die Beziehung zwischen dem Herrn (Chün) und dem Untertan (Ch 'en) wie die anderen vier Beziehungen (Vater-Sohn, älterer Bruder-jüngerer Bruder, Mann-Frau und Freund-Freund) für die Konfuzianer in erster Linie an dem grundlegenden Prinzip Shu (Reziprozität) bzw. Jen (Menschlichkeit) orientiert. Die moralisch geprägte konfuzianische Rollentheorie betrachtet deswegen die Beziehung bzw. Rollenbeziehung zwischen Herrn (Chün) und Untertan (Ch 'en) als eine Beziehung, die eng mit den symmetrischen Reziprozitätspf/ichten verbunden ist: "Der Herr sollte sich als ein Herr verhalten (Chün-chün), der Untertan sollte sich als ein Untertan verhalten (Ch'en-ch'en) ... "00.

Der Positionsinhaber (Herr, Chün) sollte die ihm zugeordnete Rolle (als ein Herr, chün) richtig spielen; umgekehrt sollte der Positionsinhaber (Untertan, Ch 'en) die ihm zugeordnete Rolle (als ein Untertan, ch 'en) richtig spielen. In diesem Sinne sind sowohl ein Herr als auch ein Untertan dem selben moralischen Prinzip unterworfen: Shu (Reziprozität) bzw. Jen (Menschlichkeit). M.a.W. eine dementsprechende Legitimation der Herrschaft bzw. der politischen Teilordnung sollte auf dem grundlegenden Prinzip Shu (Reziprozität) bzw. Jen (Menschlichkeit) basieren. An einer anderen Stelle hat Konfuzius weiterhin die zutreffende Beziehung bzw. Rollenbeziehung zwischen dem Herrn (Chün) und den Untertanen (Ch' en) erläutert: "Ting-kung (Herrscher des Henogtums Lu) fragte den Konfuzius: 'Wie soll sich ein Herr (Chün) seiner Untertanen (Ch'en) bedienen, und wie sollen die Untertanen dem Herrn (Chün) dienen?' Konfuzius antwortete: 'Der Herr (Chün) sollte die Untertanen nach dem Li (Schicklichkeit) behandeln. Die Untertanen (Ch'en) sollten dem Herrn (Chün) in Loyalität (Chung) dienen"'