Seit Ende der 40er Jahre setzte sich Wolfgang Harich intensiv mit naturwissenschaftlichen und anthropologischen Frageste
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German Pages [597] Year 2019
Table of contents :
Zur Edition
Zum Herausgeber
Editionsplan
Inhalt
Wolfgang Harich, Arnold Gehlen und die Idee einer marxistischen Anthropologie | Andreas Heyer
Teil I. Texte zur Einführung
1. Der Gegenstand der Anthropologie
2. Über die Empindung des Schönen
3. Vorwort zu Gehlens »Der Mensch«
Teil II. Briefe an Arnold Gehlen
1. Brief an Arnold Gehlen
2. Brief an Arnold Gehlen
3. Brief an Arnold Gehlen
4. Brief an Arnold Gehlen
5. Brief an Arnold Gehlen
6. Brief an Arnold Gehlen
7. Brief an Arnold Gehlen
8. Brief an Arnold Gehlen
9. Brief an Arnold Gehlen
10. Brief an Arnold Gehlen
11. Brief an Arnold Gehlen
12. Brief an Arnold Gehlen
13. Brief an Arnold Gehlen
14. Brief an Arnold Gehlen
15. Brief an Arnold Gehlen
16. Beileidskarte
Teil III. Studien und Briefe zur Anthropologie
1. Goethes Beitrag zum Materialismus. Zum 165. Jahrestag der Entdeckung des Zwischenkieferknochens
2. Größe und Grenzen Lamarcks. Zum 120. Todestag des großen französischen Biologen
3. Notizen zu Gehlens "Der Mensch"
4. Exzerpte und Notizen zu Gehlens "Zur Systematik der Anthropologie"
5. Mensch und Arbeit. Notizen
6. Notizen zu Gehlens "Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft"
7. Notizen zu Gehlens "Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft". 1. Fortsetzung
8. Notizen zu Gehlens "Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft". 2. Fortsetzung
9. Entlastung, vitale Askese, Lebensdienlichkeit
10. Brief an Ernst Engelberg
11. Über die Anthropologie Arnold Gehlens
12. Marxismus und Anthropologie
13. Was heißt Anthropologie
14. Kritische Bemerkungen zu Pawlows Zweiten Signalsystem (Sprache)
15. Die Extreme berühren sich. Zum Tod von Arnold Gehlen
Teil IV. Paul Alsberg
1. Brief an Reinhard Pitsch
2. Brief an Helmut Klages
3. Aktennotiz
4. Aktennotiz
5. Brief an Karl-Siegbert Rehberg
6. Brief an Leo Kofler
7. Brief an Helmut Klages
8. Brief an die Jüdische Gemeinde von Berlin
9. Aktennotiz
10. Aktennotiz
11. Brief an Lothar Berthold
12. Aktennotiz zu Paul Alsberg
13. Brief an Reinhard Mocek
14. Aktennotiz
15. Aktennotiz
16. .Brief an Helmut Klages
17. Brief an Reinhard Mocek
18. Aktennotiz
19. Aktennotiz
20. Brief an Karl Friedrich Wessel
21. Brief an Karl-Siegbert Rehberg
22. Brief an Josef Stallmach
23. Brief an Peter Kirchner
24. Brief an Jost Herbig
25. Aktennotiz
26. Brief an Helmut Klages
27. Aktennotiz
28. Brief an Helmut Quaritsch
29. Brief an Dieter Claessens
30. Aktennotiz
31. Aktennotiz
32. Brief an Rudolf Augstein
33. Aktennotiz
34. Aktennotiz
35. Aktennotiz
36. Brief an Jörg Schreiter
37. Aktennotiz
38. Aktennotiz
39. Aktennotiz
40. Aktennotiz
41. Aktennotiz
42. Brief an Rudolf Augstein
43. Erklärung
44. Aktennotiz
45. Aktennotiz
46. Aktennotiz
47. Aktennotiz
48. Brief an Siegfried Otto
49. Aktennotiz
50. Brief an Karl-Siegbert Rehberg
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG HARICHS – Band 11
SCHRIFTEN AUS DEM NACHLASS WOLFGANG HARICHS – BAND 11 Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer
Wolfgang Harich
Arnold Gehlen Eine marxistische Anthropologie?
Tectum
Die Veröffentlichung des vorliegenden Bandes wurde gefördert durch die
Wolfgang Harich Arnold Gehlen. Eine marxistische Anthropologie? Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs. Band 11. Mit weiteren Dokumenten und Materialien herausgegeben von Andreas Heyer © Tectum – Ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019 E-Book: 978-3-8288-6960-8 (Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4126-0 im Tectum Verlag erschienen.) Umschlagabbildung: Der „vitruvianische Mensch“ von Leonardo da Vinci (1490) Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet www.tectum-verlag.de Ergänzende Bildnachweise: 49, 59 | Haym: Aus meinem Leben. Erinnerungen, Berlin, 1902; 81 | Bundesarchiv Bild 183-11886-0011, Berlin, Außerordentliche Volkskammersitzung.jpg; 98 | Bundesarchiv, Bild 183-12141-0008 / Sturm, Horst / CC-BY-SA 3.0; 233 | Bundesarchiv Bild 183-15304-0097, Berlin, Tagung Weltfriedensrat, Georg Lukacz, Anna Seghers.jpg; 261 | Bundesarchiv Bild 183-71043-0003, Wladimir Iljitsch Lenin.jpg; 266 | Bundesarchiv Bild 183-30556-0010 Weimar, Thomas Mann, Johannes Becher.jpg; 319 | Bundesarchiv Bild 183-1985-0926-040, Berlin, Vorstandssitzung Schriftstellerverband. jpg; 331 | Bundesarchiv Bild 183-T0927-019, Berliner Ensemble, Probe Mutter Courage.jpg; 380 | Hans Wahl, Anton Kippenberg: Goethe und seine Welt, Insel-Verlag, Leipzig, 1932 S.142; 381 | „Bibliothek des allgemeinen und praktischen Wissens“, Bd. 5, 1905, Deutsche Literaturgeschichte, Seite 113; 383 | Jules Pizzetta: Galerie des naturalistes, Paris: Ed. Hennuyer, 1893; 387 | Museum of Natural History, Manhattan, https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Darwin#/media/File:Darwin_tree.png; 390 | University College London Digital Collections (18886), https://de.wikipedia.org/wiki/ Charles_Darwin#/media/File:Editorial_cartoon_depicting_Charles_Darwin_as_an_ape_(1871).jpg; 439 | Bundesarchiv Bild 183-H0611-0500-001, Berlin, Intellektuelle bei Friedenskundgebung.jpg; 469 | Bundesarchiv Bild 183-H25661, Berlin, Thomas Mann.jpg; 471 | Franz Kugler: Das Wissen des 20.Jahrhunderts, Bildungslexikon, Rheda, 1931; 479 | Bundesarchiv Bild 183B0716-0005-020, Oberstes Gericht, Globke-Prozess, Sachverständiger, Ernst Engelberg.jpg; 493 | Zeitschrift „Vanity Fair“ vom 30. September 1871, https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Darwin#/ media/File:Charles_Darwin_1871.jpg; 518 |Bundesarchiv B 145 Bild-F039410-0008, Hannover, SPD-Bundesparteitag, Eppler.jpg
Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Zur Edition Wolfgang Harich (1923–1995) zählt zu den wichtigen und streitbaren Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Befreundet mit Georg Lukács, Bertolt Brecht und Ernst Bloch wirkte er als Philosoph, Historiker, Literaturwissenschaftler und durch sein praktisches politisches Engagement. Letzteres führte nach seiner Verhaftung von 1956 wegen Bildung einer »konterrevolutionären Gruppe« zur Verurteilung zu einer zehnjährigen Haftstrafe. Die nachgelassenen Schriften Harichs erscheinen nun erstmals in einer elfbändigen Edition, die das reichhaltige Werk dieses undogmatischen Querdenkers in seiner ganzen Breite widerspiegelt: von seinen Beiträgen zur Hegel-Debatte in der DDR über seine Abrechnung mit der 68er-Bewegung im Westen bis zu seinen Überlegungen zu einer marxistischen Ökologie. Die Edition würdigt Wolfgang Harich als Philosophen, Literaturhistoriker, Feuilletonisten, als praktischen Streiter für die deutsche Einheit und die ökologische Umorientierung. Sie wird im Herbst 2013 eröffnet mit drei Bänden zur klassischen Deutschen Philosophie des Idealismus sowie zum Verhältnis von Materialismus und Idealismus. Zum Herausgeber Andreas Heyer, Dr. phil., Jg. 1974, Politikwissenschaften und Jura. Von 2000 bis 2002 war er Stipendiat der Graduiertenförderung des Landes Sachsen-Anhalt, im Anschluss dann Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. 2003 promovierte er u. a. bei Iring Fetscher mit einer Arbeit über Diderots politische Philosophie. 2005 erschien in zwei Bänden das Lehrbuch Die französische Aufklärung um 1750. Zwischen 2003 und 2007 war er Mitarbeiter des DFG-Projekts Sozialutopien der Neuzeit. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Geschichte der politischen Utopien der Neuzeit sowie zur Philosophie in der DDR. Im Zuge dieser Arbeiten entstand sein besonderes Verhältnis zu den Schriften Wolfgang Harichs, das sich in mehreren Veröffentlichungen niederschlug. Seit 2012 arbeitet er mit Unterstützung durch Anne Harich an der Herausgabe der nachgelassenen Schriften Wolfgang Harichs.
Editionsplan (Stand August 2019) 1. Frühe Schriften (in 3 Teilbänden, erschienen) 2. Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie (erschienen) 3. Widerspruch und Widerstreit – Studien zu Kant (erschienen) 4. Herder und das Ende der Aufklärung (erschienen) 5. An der ideologischen Front. Hegel zwischen Feuerbach und Marx (erschienen) 6. Vorlesungen zur Philosophiegeschichte (in 2 Teilbänden, erschienen) 7. Schriften zur Anarchie (erschienen) 8. Ökologie, Frieden, Wachstumskritik (erschienen) 9. Georg Lukács – Dokumente einer Freundschaft (erschienen) 10: Nicolai Hartmann. Der erste Lehrer (erschienen) 11: Arnold Gehlen. Eine marxistische Anthropologie? 12: Friedrich Nietzsche. Dokumente einer Feindschaft 13: Schriften zur Kultur (in 2 Teilbänden) 14: Politik und Philosophie in der zweiten Lebenshälfte 15: Schlüsseldaten deutscher Geschichte: 1953, 1956, 1968, 1989 16: Autobiographie
I nhal t Wolfgang Harich, Arnold Gehlen und die Idee einer marxistischen Anthropologie (Andreas Heyer)
11
Teil I: Texte zur Einführung 1.
Der Gegenstand der Anthropologie (1954/1955)
135
2.
Über die Empfindung des Schönen (1953)
184
3.
Vorwort zu Gehlens »Der Mensch« (1978)
229
Teil II: Briefe an Arnold Gehlen 1.
Brief an Arnold Gehlen (08. März 1952)
243
2.
Brief an Arnold Gehlen (08. März 1952)
254
3.
Brief an Arnold Gehlen (22. März 1952)
284
4.
Brief an Arnold Gehlen (26. April 1952)
315
5.
Brief an Arnold Gehlen (25. April 1953)
322
6.
Brief an Arnold Gehlen (22. Juli 1965)
325
7.
Brief an Arnold Gehlen (23. Juli 1965)
330
8.
Brief an Arnold Gehlen (17. August 1965)
336
9.
Brief an Arnold Gehlen (20. August 1965)
339
10. Brief an Arnold Gehlen (09. September 1965)
345
11. Brief an Arnold Gehlen (26. Oktober 1965)
345
12. Brief an Arnold Gehlen (27. November 1969)
360
13. Brief an Arnold Gehlen (27. Februar 1974)
364
14. Brief an Arnold Gehlen (07. April 1974)
367
15. Brief an Arnold Gehlen (13. Juni 1974)
374
16. Beileidskarte (Februar 1976)
375
Teil III: Studien und Briefe zur Anthropologie 1.
Goethes Beitrag zum Materialismus. Zum 165. Jahrestag der Entdeckung des Zwischenkieferknochens (27. März 1949)
379
2.
Größe und Grenzen Lamarcks. Zum 120. Todestag des großen französischen Biologen (17. Dezember 1949)
382
3.
Notizen zu Gehlens Der Mensch (1952)
387
4.
Exzerpte und Notizen zu Gehlens Zur Systematik der Anthropologie (nicht datiert)
395
5.
Mensch und Arbeit. Notizen (frühe 50er Jahre)
425
6.
Notizen zu Gehlens Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft (1952)
428
7.
Notizen zu Gehlens Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. 1. Fortsetzung (1952)
447
8.
Notizen zu Gehlens Sozialpsychologische Probleme in der industriellen Gesellschaft. 2. Fortsetzung (1952)
466
9.
Entlastung, vitale Askese, Lebensdienlichkeit (16. März 1952)
475
10. Brief an Ernst Engelberg (17. März 1952)
477
11. Über die Anthropologie Arnold Gehlens (50er Jahre)
482
12. Marxismus und Anthropologie (50er Jahre)
491
13. Was heißt Anthropologie (50er Jahre)
498
14. Kritische Bemerkungen zu Pawlows Zweiten Signalsystem (Sprache) (1963/1964)
506
15. Die Extreme berühren sich. Zum Tod von Arnold Gehlen (1976)
514
Teil IV: Paul Alsberg 1.
Brief an Reinhard Pitsch (16. Januar 1988)
523
2.
Brief an Helmut Klages (01. Juni 1988)
524
3.
Aktennotiz (03. Juni 1988)
526
4.
Aktennotiz (27. Juli 1988)
527
5.
Brief an Karl-Siegbert Rehberg (27. Juli 1988)
527
6.
Brief an Leo Kofler (29. Juli 1988)
528
7.
Brief an Helmut Klages (30. Juli 1988)
530
8.
Brief an die Jüdische Gemeinde von Berlin (01. August 1988)
530
9.
Aktennotiz (02. August 1988)
533
10. Aktennotiz (02. August 1988)
533
11. Brief an Lothar Berthold (04. August 1988)
533
12. Aktennotiz zu Paul Alsberg (nicht datiert)
536
13. Brief an Reinhard Mocek (07. August 1988)
537
14. Aktennotiz (16. August 1988)
538
15. Aktennotiz (17. August 1988)
538
16. Brief an Helmut Klages (18. August 1988)
538
17. Brief an Reinhard Mocek (20. August 1988)
539
18. Aktennotiz (09. September 1988)
541
19. Aktennotiz (09. September 1988)
541
20. Brief an Karl Friedrich Wessel (12. September 1988)
541
21. Brief an Karl-Siegbert Rehberg (12. September 1988)
543
22. Brief an Josef Stallmach (28. September 1988)
544
23. Brief an Peter Kirchner (08. Oktober 1988)
546
24. Brief an Jost Herbig (15. Oktober 1988)
550
25. Aktennotiz (19. Oktober 1988)
551
26. Brief an Helmut Klages (20. Oktober 1988)
551
27. Aktennotiz (04. November 1988)
553
28. Brief an Helmut Quaritsch (09. November 1988)
555
29. Brief an Dieter Claessens (16. November 1988)
566
30. Aktennotiz (22. Dezember 1988)
569
31. Aktennotiz (Januar 1989)
569
32. Brief an Rudolf Augstein (03. Februar 1989)
571
33. Aktennotiz (26. März 1989)
574
34. Aktennotiz (26. März 1989)
574
35. Aktennotiz (31. März 1989)
575
36. Brief an Jörg Schreiter (08. April 1989)
575
37. Aktennotiz (09. April 1989)
576
38. Aktennotiz (10. April 1989)
576
39. Aktennotiz (11. April 1989)
577
40. Aktennotiz (11. April 1989)
577
41. Aktennotiz (12. April 1989)
578
42. Brief an Rudolf Augstein (13. April 1989)
579
43. Erklärung (21. April 1989)
580
44. Aktennotiz (10. Mai 1989)
582
45. Aktennotiz (28. Mai 1989)
582
46. Aktennotiz (30. Mai 1989)
583
47. Aktennotiz (23. Juni 1989)
583
48. Brief an Siegfried Otto (28. Juli 1989)
583
49. Aktennotiz (18. August 1989)
585
50. Brief an Karl-Siegbert Rehberg (19. November 1990)
586
Anhang Abkürzungsverzeichnis
587
1 1
And r e as H e y e r
W o l f gang H ar i c h, Ar no l d G e hl e n u nd d i e I d e e e i ne r m ar x i s t i s c he n Ant hr o p o l o gi e Viele der thematischen Bereiche und Herausforderungen, mit denen sich Wolfgang Harich im Laufe seines Lebens auseinandersetzte, sind in der akademischen Öffentlichkeit bekannt. Die Bandbreite reicht von den literaturwissenschaftlichen und journalistischen Arbeiten bis hin zu den philosophischen Schriften, von seiner Beteiligung an den Debatten um Hegel und um die Logik bis zur Kritik der modernen Kultur oder den Stellungnahmen zur Herausforderung der ökologischen Frage. Die einzelnen Facetten dieses seines Schaffens werden in der Edition entsprechend gewürdigt. Nun ist zwischen Literaturwissenschaft und Philosophie ein Unterschied zu machen, auch wenn Harich mit seiner Betonung der verbindenden Linien natürlich im Recht ist. In der Hegel-Denkschrift, gerichtet an Politbüromitglied Fred Oelßner formulierte Harich dies bei der Verteidigung seiner (und derjenigen von Georg Lukács sowie teilweise Ernst Bloch) Lesart Hegels 1952 wie folgt:1 »Dabei dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass z. B. ein Germanist, der Schiller verstehen will, auch etwas von Kant und von Schillers ästhetischen und philosophischen Schriften wissen muss. Es dürfte auch kein Zweifel darüber bestehen, dass wenn man über eine marxistische Interpretation dieser Themen verfügt – man sie auch ausnutzen muss.«2 Es ist aber auch zu differenzieren zwischen Philosophiegeschichte und Philosophie und politischer Publi-
1 2
Hierzu: Heyer: Die Hegel-Debatte in der frühen DDR-Philosophie und ihre Ursprünge, in: Band 5, S. 11–118, dort alle weiteren Hinweise, Literatur usw. Band 5, S. 129.
1 2
E i nl e i t u ng
zistik. Harich selbst wies darauf hin anlässlich der von ihm im Aufbau-Verlag unterstützen Herausgabe der Schriften Ernst Blochs.3 Die philosophiegeschichtlichen Schriften Harichs, die dieser in den späten vierziger und fünfziger Jahren sowie auch in der Zeit nach seiner Haftentlassung schuf, wurden in den entsprechenden Bänden bereits präsentiert. Ebenso konnte gezeigt werden, dass die direkt philosophischen Fragen in seinem Denken ebenfalls immer präsent waren und eine (hier durchaus im doppeldeutigen Sinn zu verstehende) rote durchgehende Linie bilden. Es kommt jetzt nicht darauf an, alle philosophischen Manuskripte und Werke Harichs detailgenau aufzuzählen. Genügen kann der Verweis auf die Abhandlung unter dem Titel Widerspruch und Widerstreit, die gleichsam als eine Art Vorstudie zu den in den achtziger Jahren entstandenen Hartmann-Manuskripten gelten kann. Harich kann also auch als Philosoph rezipiert werden. Von daher ist seine Selbsteinschätzung, die er in einem Brief an Robert Steigerwald vom 10. Januar 1983 gab, nur bedingt zutreffend: »Nun kann natürlich ich nicht als löbliches Musterexemplar einer Entwicklung hin zum Marxismus – und das heißt allemal: hin zur Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Partei – gelten; weiß der Himmel nicht. Ich habe Schwankungen hinter mir, so ungeheuerlich, dass die von Erich Engel (Regisseur, Mitarbeiter Brechts, AH) sich daneben sehr bescheiden und harmlos ausnehmen. Aber: Es hat sich bei mir nie um solche Schwankungen gehandelt, die von dominierenden Strömungen der bürgerlichen Philosophie im 3
Der Band 1.3 präsentiert alle Briefe Harichs an Bloch, die Gutachten, Pläne usw., die er verfasste. (Siehe: Band 1.3, S. 1787–1842.) Am 28. Juni 1995 schrieb Harich im Gutachten zu Blochs Politik und Bedeutung. »Die so entstandene Sammlung ist vor allem aus zwei Gründen von außerordentlicher Bedeutung: Sie gibt erstens einen Überblick über die wichtigsten politischen Ereignisse der letzten 45 Jahre in der Beleuchtung eines militanten Humanisten und Demokraten, der seit 1918 ein leidenschaftlicher Bekenner des Sozialismus ist und konsequent für die Sache der Sowjetunion und der Kommunistischen Partei Deutschlands eintritt. Zweitens macht diese Sammlung von Aufsätzen und Artikeln in eindrucksvoller Weise deutlich, dass wir in Ernst Bloch, der bisher in der DDR den Lesern vorwiegend nur als Autor schwieriger und anspruchsvoller philosophischer Bücher bekannt ist, seit Jahrzehnten einen politischen Publizisten von hohem Rang besitzen, dem alle Waffen des Witzes, der Ironie und einer geistvollen und zugleich echt volkstümlichen Sprache zu Gebote stehen.« (Ebd., S. 1802 f.) An anderer Stelle machte Harich geltend, dass vor einer Neuauflage von Blochs Thomas Müntzer zunächst ein anderes Buch von diesem in der DDR erscheinen solle, das Bloch als Philosophen und nicht erneut als Philosophiehistoriker zeige.
W o l f gang H ar i c h, Ar no l d G e hl e n u nd d i e I d e e e i ne r m ar x i s t i s c he n Ant hr o p o l o gi e
1 3
Zeitalter des Imperialismus bestimmt gewesen wären. ›Auffangbarriere‹ für den ›gesunden Menschenverstand‹, namentlich der naturwissenschaftlich gebildeten Intelligenz, war und ist der Positivismus, und gegen den bin ich jederzeit gefeit gewesen, ganz egal, ob Hollitscher oder Havemann oder Karl Schröter positivistisch auf mich einredeten. ›Auffangbarriere‹ für geisteswissenschaftlich orientierte Intellektuelle mit Linksneigung war die ›Kritische Theorie‹ der Frankfurter Schule – mich hat sie nie berührt, nie im Geringsten beeinflusst. Um von Neothomismus, Existenzialismus, Psychoanalyse, Strukturalismus usw. gar nicht zu reden. Mit Bloch bin ich zwar freundschaftlich verbunden gewesen – und verbündet in dem Bestreben, aus der DZfPh eine einigermaßen interessante und niveauvolle Zeitschrift zu machen. Aber all seine philosophischen ›Extras‹ ließen mich kalt, was er sehr wohl spürte. Zu verdanken habe ich diese – bei all meinen Eskapaden seltsame – Standfestigkeit und Geradlinigkeit auf dem ureigensten Fachgebiet dem Umstand, dass ich mich dem Marxismus-Leninismus als Nicolai-Hartmann-Adept genähert habe. Leider ist das in keinem nennenswerten philosophischem Opus zu Buche geschlagen. Vor 1956 absorbierten mich Vorlesungs- und Redakteurstätigkeit, nach 1964 Feuerbach-Philologie und Jean-Paul-Forschung, und Anfang der siebziger Jahre folgte Besessenheit von Zukunftsforschung und politischer Ökologie; Letzteres übrigens auch wieder durch die frühe Nicolai-Hartmann-Rezeption vorbereitet, die mich die Stalinschen ›Grundzüge‹ hatte sehr Ernst nehmen und daher den ersten ›Grundzug‹ schon 1948/1949 mit ökologischem Illustrationsmaterial anreichern lassen, weshalb denn, als die Zeit erfüllt war, der ›Club of Rome‹ mich wie ein coup de foudre traf.«4
Nicht allzu bekannt ist dagegen, dass sich Harich spätestens mit dem Beginn der fünfziger Jahre auch intensiv mit der Anthropologie auseinandersetzte. Bisher liegen zu der Thematik zwei Aufsätze aus der Forschung vor. Stefan Dornuf äußerte sich auf dem Harich-Kolloquium von 1995 in dem Aufsatz Gehlen-Rezeption von Harich zur Thematik.5 Er war in den achtziger Jahren mit Harich befreundet und half diesem auch bei Recherchen, Publikationen usw. im Westen. (Siehe die entsprechenden Verweise Harichs in Band 9 und 10.) 2000 gab er zusammen mit Reinhard Pitsch eine Gedenkschrift für Harich heraus, in der sich Karl-Siegbert Rehberg in dem Aufsatz Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft zu Harich 4 5
In: Band 10, S. 870 f. Interpretation dieser Passage in: Heyer: Nicolai Hartmanns Philosophie als permanente Herausforderung Wolfgang Harichs, in: Band 10, S. 11–56. Dornuf, Stefan: Gehlen-Rezeption von Harich, in: Prokop, Siegfried (Hrsg.): Ein Streiter für Deutschland. Das Wolfgang-Harich-Gedenk-Kolloquium am 21. März 1996 im Ribbeck-Haus zu Berlin, Berlin, 1996, S. 77–87.
1 4
E i nl e i t u ng
und Gehlen äußerte.6 Als ehemaliger Assistent Gehlen und Herausgeber von dessen Gesamtausgabe kannte er die Kontakte zwischen den beiden ebenfalls – aus der Perspektive Gehlens. Die vorhandenen Aufsätze zehren also von dem privaten Kontakt zu Harich bzw. wurden durch diesen motiviert und verdanken ihm wichtige Hinweise. In den Geschichten der Disziplin Philosophische Anthropologie fand Harich bisher noch keine Berücksichtigung. Im Rahmen seiner journalistischen Tätigkeit beim Kurier, bei der Täglichen Rundschau, in der Weltbühne und in der Neuen Welt hatte Harich bereits in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre verschiedene Artikel und Aufsätze publiziert, die sich mit dem Entwicklungsgedanken in der deutschen Aufklärung, der Sprachtheorie, allgemeinen menschlichen Fragen und ähnlichem beschäftigten. Es bietet sich an, einige dieser Stationen, die zur Herausbildung von Harichs anthropologischen Überlegungen entweder wichtige Vorstationen bildeten oder bereits direkte Beiträge darstellen, hier anzusprechen – bis zu Harichs Verhaftung Ende 1956. Zu den verschiedenen Zeitungsartikeln, die Harich zum erweiterten Themenkreis Anthropologie verfasste, gehören auch Goethes Beitrag zu Materialismus. Zum 165. Jahrestag der Entdeckung des Zwischenkieferknochens vom 27. März 1949 und Größe und Grenzen Lamarcks. Zum 120. Todestag des großen französischen Biologen vom 17. Dezember 1949. Beide sind im vorliegenden Band abgedruckt. Gerade in dem Artikel über Lamarck lässt sich gut erkennen, welchen Umgang Harich mit den geistesgeschichtlichen und ideengeschichtlichen Überlieferungen der Vergangenheit suchte. Er war bereit zu differenzieren, was ihn von vielen Dogmatikern der Partei unterschied, konnte also, wie es der Titel bereits ausdrückt, »Größe und Grenzen« gleichzeitig benennen, den bleibenden Wert auch bürgerlicher Errungenschaften betonen und dem Sozialismus als Erbe beigeben. Harich schrieb: »Lamarcks großes und bleibendes Verdienst in der Geschichte der biologischen Wissenschaft besteht darin, dass er mit der zu seiner Zeit herrschenden metaphysischen und idealistischen Theorie von der Unveränderlichkeit (Konstanz) der Arten entschieden brach 6
Rehberg, Karl-Siegbert: Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft, in: Dornuf, Stefan; Pitsch, Reinhard (Hrsg.): Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, München, 2000, Bd. 2, S. 438–486.
W o l f gang H ar i c h, Ar no l d G e hl e n u nd d i e I d e e e i ne r m ar x i s t i s c he n Ant hr o p o l o gi e
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und die Veränderlichkeit der Pflanzen- und Tierarten, die Abstammung der höheren, komplizierteren Lebewesen von den niedrigeren feststellte, wobei er vor allem den Zusammenhang der Artveränderung mit den Umweltbedingungen und die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften nachwies. Damit lehrte Lamarck, die Lebewesen nicht als ein für alle Mal fertig gegebene, unwandelbare ›Geschöpfe‹ Gottes, sondern in ihrer geschichtlichen Veränderung und Entwicklung und in ihrem kausalen Zusammenhang mit den sie umgebenden natürlichen Lebensbedingungen und in ihrer Abhängigkeit von der Umwelt zu betrachten. (…) Bereits 50 Jahre vor dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk erstreckte Lamarck den Entwicklungsgedanken auch auf die Erklärung der Entstehung des Menschen. Das Menschengeschlecht, so lehrte er, sei aus affenartigen Säugetieren hervorgegangen, die sich in einem allmählichen Entwicklungsprozess die aufrechte Gangart und die Mitteilung von Bestrebungen und Gedanken durch eine Lautsprache ›angewöhnt‹ hätten.«7
Auch die »Grenzen« Lamarcks – als Erkenntnisschranken bürgerlicher Philosophie – wurden von Harich benannt: »Nichtsdestoweniger blieb Lamarck in einigen schwerwiegenden Fehlern und Irrtümern befangen. Er nahm Erkenntnisse vorweg, die erst Jahrzehnte später an Hand eines reichen Forschungsmaterials exakt begründet werden konnten. So wies Friedrich Engels, der Lamarcks Verdienste gegen die Anwürfe Dührings verteidigte, darauf hin, dass erst nach Lamarcks Tod zwei ganz neue Wissenschaften entstanden, die für die Begründung der materialistischen Entwicklungslehre von größter Wichtigkeit sind: Die Embryologie und die Paläontologie, die ›eine eigentümliche Übereinstimmung zwischen der stufenweisen Entwicklung der organischen Keime zu reifen Organismen und der Reihenfolge der nacheinander in der Geschichte der Erde auftretenden Pflanzen und Tiere‹ nachweisen. Dieser Hinweis von Engels verpflichtet uns Heutige, Lamarck historisch gerecht zu werden, das heißt den rationellen, fortschrittlichen Kern seiner Lehre, seine bleibenden Erkenntnisse und Errungenschaften, von seinen historisch bedingten Irrtümern sorgfältig zu unterscheiden. Lamarcks entscheidender Fehler bestand darin, dass er die Umweltbedingtheit der Artveränderungen und die Tatsache der Vererbung erworbener Eigenschaften nicht restlos materialistisch zu erklären vermochte, sondern teilweise auf eine aktive Anpassung der Organismen an die Außenwelt zurückführte, als ob zum Beispiel die Kampflust der Stiere deren Hörner und das Tastbedürfnis der Schnecke deren Fühler 7
Alle nicht extra nachgewiesenen Zitate dieser Einleitung entstammen Texten, die im vorliegenden Band abgedruckt sind.
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hervorgebracht habe. Unter dieser Voraussetzung gelangte Lamarck zu der wissenschaftlich unhaltbaren Behauptung, dass jedem Lebewesen eine ursprüngliche, zweckgerichtete ›Lebenskraft‹ innewohne, die die Entwicklung des Organismus gerade in die Richtung lenke, die durch die veränderten Umweltbedingungen erfordert werde.«
Von zentraler Bedeutung sowohl für Harichs wissenschaftliches Arbeiten als auch für die Hinwendung zu den Fragen der Anthropologie war sein Engagement im Goethe-Jubiläumsjahr 1949.8 Denn während Theoretiker wie Ernst Bloch und Georg Lukács oder auch Hans Mayer sich im Jubiläumsjahr vor allem mit dem Verhältnis von Goethe und Hegel, von Faust und Phänomenologie beschäftigten (das Thema war für Harich ebenfalls wichtig und zentral, war in dem hier relevanten Kontext aber überlagert durch die im Folgenden anzusprechenden Theorien), ging es Harich in seinen Schriften um den Naturwissenschaftler Goethe.9 Von daher kann von einer Annäherung an den Gegenstandsbereich der Anthropologie gesprochen werden. Und zwar in mindestens doppelter Hinsicht. 1) Am 2. September 1949 erschien Harichs Artikel Georg Lukács sprach über Goethe in der Täglichen Rundschau.10 Noch in den neunziger Jahren trug der Artikel Harich Kritik ein, da er in diesem Lukács kritisierte.11 Harich hatte geschrieben: »Es ist jedoch zu bemerken, dass eine marxistische Goethe-Darstellung in ihrer ganzen Anlage umfassend sein muss, keinesfalls – wie es bei Lukács der Fall ist – an Goethes naturwissenschaftlicher Leistung vorübergehen kann. Die Tatsache, dass Goethe von der ersten Weimarer Periode an bis in die letzten Tage seines Lebens hinein entscheidende 8
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Hierzu neuerdings die hervorragende Dissertation von: Fronzek, Henrik: Klassik-Rezeption und Literaturunterricht in der SBZ/DDR, 1945–1965. Zur Konstruktion eines pädagogischen Deutungskanons, Würzburg, 2012. Ungenießbar, da ausschließlich ideologisch verfahrend, die Sammelbände: Ehrlich, Lothar; Mai, Gunther (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht, Köln u. a., 2000. Ehrlich, Lothar; Mai, Gunther (Hrsg.): Weimarer Klassik in der Ära Honecker, Köln u. a., 2001. Die Zeitzeugen vereinend (allerdings ebenfalls stark ideologisch geprägt): Mayer, Herbert u. a. (Hrsg.): Goethe in der DDR. Konzepte, Streitpunkte und neue Sichtweisen, Berlin, 2003. Hierzu mit allen weiteren Hinweisen: Heyer: Der gereimte Genosse. Goethe in der SBZ/ DDR, Baden-Baden, 2017. Tägliche Rundschau vom 2. September 1949, Nr. 205, Seite 4. Neu abgedr. in: Band 9, S. 121–127. Florath, Bernd: Rückantworten der Hauptverwaltung Ewige Wahrheiten. Wolfgang Harich ohne Schwierigkeiten mit der Wahrheit, in: Utopie kreativ, Heft 47/48, September/Oktober 1994, S. 58–73.
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Schläge gegen die mechanistische Naturauffassung des 18. Jahrhunderts und deren theologische Konsequenzen geführt hat, dass er durch die Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen, durch den rationellen Kern seiner Lehre von der Metamorphose der Pflanzen, durch seine Wirbeltheorie des Schädels und durch seine Stellungnahme im Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire zum genialen Vorläufer der materialistischen Richtung in der Biologie wurde – diese hochbedeutsame Tatsache, die mit Goethes Weltanschauung und auch mit seinen ästhetischen Auffassungen in allerengster Beziehung steht, wird von Lukács einfach ignoriert, und zwar, wie es scheint, deshalb, weil Lukács eine – freilich vom Kopf auf die Füße gestellte – ›Geisteswissenschaft‹ betreibt, die aber zumindest einen Restbestand bürgerlicher Ideologie in sich trägt: Das bornierte Befangensein in der Begrenztheit des Spezialfachs. Lukács selbst hat die tragischen Auswirkungen der Arbeitsteilung auf das Bewusstsein der Intelligenz derart scharfsinnig analysiert, dass er sich dieses Mangels zweifellos bewusst ist. Im Vorwort zu seinem Buch über den jungen Hegel, wo er ebenfalls die naturwissenschaftliche Seite unberücksichtigt lässt und Hegels wichtige Jugendschrift De orbitis planetarum (Hegels Dissertation, AH) mit keinem Wort erwähnt, hat er den Mangel sogar eingestanden. Das aber bedeutet, dass man im marxistischen Sinn nur dann die Literatur- und Philosophiegeschichte sachgerecht darstellen kann, wenn man Lukács’ Errungenschaften weiterentwickelt und seine Beschränktheiten kritisiert und überwindet, statt ihn – wie es oft geschieht – für das A und O marxistischer Literaturhistorie zu halten und ihn in steriler Kritiklosigkeit abzuschreiben, wie das die Klosterschüler von Padua mit der Summa des Thomas von Aquin taten.«12
2) Wenige Monate später kamen sich Harich und Lukács aber näher und es entstand eine intensive Freundschaft und Zusammenarbeit, deren Ergebnisse Harich noch in den achtziger Jahren mit aller Macht gegen die Partei verteidigte.13 Und bereits 1949 12 13
Harich: Georg Lukács sprach über Goethe, in: Band 9, S.125 f. Siehe hierzu vor allem den Aufsatz Mehr Respekt vor Lukacs!, den Harich 1986 verfasste. (Abgedr. in zwei Versionen in: Band 9, S. 433–461.) An Kurt Hager schrieb er am 5. November 1986: »Bei den Lukács- und Bloch-Jubiläen 1985 habe ich mich bewusst sehr zurückgehalten. Mein Taktgefühl verbot mir, den Eindruck zu erwecken, dass nun auch ich den Zeitpunkt für ein volles ›Come back‹ für herangereift hielte. Meine Zurückhaltung fiel mir aber, offen gesagt, schwer, als ich feststellen musste, dass einerseits Lukács mit allzu viel – oft inkompetenter – Mäkelei und Besserwisserei bedacht wurde und sich andererseits bei uns Leute zu Wort meldeten, die Bloch vor Lukács den Vorzug geben. Mein Befremden wuchs angesichts der DDR-Ausgabe von Lukács’ Schrift Über die Besonderheit als Kategorie der Ästhetik, Berlin und Weimar (Aufbau-Verlag), 1985. Ein anmaßendes Nachwort darin, verfasst von Michael Franz, kritisiert Lukács von rechts und versteigt sich sogar dazu, Adorno gegen Lukács recht zu geben. Das war für mich das
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war seine Kritik nicht eine solche, die um ihrer selbst Willen geübt wird. Sondern das, was Harich beanstandete, stand im Mittelpunkt seines eigenen großen Aufsatzes Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, den er 1949 verfasst hatte.14 Er war zuerst in der Neuen Welt erschienen, da Harich für die Täglichen Rundschau, zu der ja die Neue Welt gehörte, das Goethe-Jubiläum organisierte. Zusammen mit anderen Aufsätzen – abgedruckt wurden unter anderem Texte von Hans Mayer (Goethes Erbschaft), Ernst Bloch (Das Faustmotiv in der Phänomenologie des Geistes), Paul Rilla (Goethe in der Literaturgeschichte), Wilhelm Girnus (Die ästhetischen Auffassungen Goethes) und Anton Ackermann (Ein Mitbürger der Zukunft) – erschien der Artikel dann erneut in der Festschrift Zu neuen Ufern.15 Eröffnet wurde der Text von Harich mit den Worten: »Das Goethejahr 1949 sollte nicht vorübergehen, ohne dass des Naturforschers Goethe und seines grandiosen Versuchs, zu einer dialektischen Gesamtanschauung der Natur zu gelangen, eingehend gedacht würde. Ein gründliches Studium der wichtigsten naturwissenschaftlichen Werke Goethes und eine umfassende, teils positiv wertende, teils kritisch überwindende Auseinandersetzung sowohl mit den bleibenden Errungenschaften seiner Forschertätigkeit als auch mit den idealistischen Fehlern und Unzulänglichkeiten seiner Theorien sind nicht nur zum Zweck der Erhellung seiner gesamten Persönlichkeit und Lebensleistung unerlässlich, sondern auch sachlich, im Hinblick auf die Klärung brennend aktueller weltanschaulicher Streitfragen, von nicht zu unterschätzender Bedeutung.«16
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Signal, aus meiner Reserve herauszutreten (…).« (Band 9, S. 419.) Alle weiteren Informationen können dem erwähnten 9. Band dieser Edition entnommen werden. Neu abgedr. in: Band 6.1, S. 739–794. Verlag Tägliche Rundschau: Zu neuen Ufern. Essays über Goethe, o. O. (Berlin), o. J. (1949). Abgedruckt wurden neben Harichs Aufsatz: Mayer: Goethes Erbschaft, S. 5–17. Kamnitzer: Weimar zwischen Potsdam und Paris, S. 19–37. Deiters: Goethe als Erzieher zur Humanität, S. 39–51. Girnus: Die ästhetischen Auffassungen Goethes, S. 53–85. Ackermann: Ein Mitbürger der Zukunft, S. 87–103. Mann: Über Goethe, S. 105–108. Heimann: Marx und Engels über Goethe, S. 109–114. Rilla: Goethe in der Literaturgeschichte, S. 115–159. Bloch: Das Faustmotiv in der Phänomenologie des Geistes, S. 161–178. Kaiser: Das Goethebild der russischen Literatur, S. 233–242. Jurgew: Russische Schriftsteller und Demokraten über Goethe, S. 243–246. Zweig: Der Gehilfe, S. 247–255. Die Beiträge von Thomas Mann und Arnold Zweig waren Nachdrucke früherer Arbeiten. Mit B. Heimann und L. Jurgew waren zwei sowjetische Literaturwissenschaftler beteiligt. Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, in: Band 6.1, S. 739.
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Nicht nur Literatur und Philosophie gehören Harich zu Folge in den Klassikerkanon des Marxismus. Auch die Naturwissenschaften müssten wahrgenommen, von ihren
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reaktionären Verzerrungen befreit und in die eigene Tradition integriert werden. Dabei kam er dann zu der These, dass die naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes für den Marxismus von eminent wichtiger Bedeutung seien. »Bei Goethe indessen geben die
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progressiven, humanistischen Tendenzen seiner Dichtung seiner naturwissenschaftlichen Arbeit deutlich das Gepräge, während umgekehrt Wirkung und Einfluss des wissenschaftlich Erkannten wiederum unmittelbar in das Gesamtkunstwerk eindringen.«17 Harich ließ in seinem Essay die Arbeiten Goethes in den Naturwissenschaften Revue passieren: Neben der Mineralogie und der Botanik thematisierte er auch die Entdeckung des Zwischenkieferknochens und Goethes Beiträge (bzw. besser: Vorarbeiten) zur Evolutionstheorie. (Quasi eine Brücke zu Kant und Herder, über die Harich gegangen ist.) Außerdem machte er die Praxis als entscheidenden Faktor in Goethes Denken aus. Erst sie ergebe die Theorie und überprüfe diese gleichzeitig. Es seien »Forderungen des Tages«18 gewesen, Probleme aus dem täglichen Leben, den Wirtschaftsprozessen oder aktuellen wissenschaftlichen Debatten, die Goethes Forschungen stimulierten. Gleichzeitig habe dieser Theorien vom Ende der Geschichte abgelehnt. Theoretische und praktische Erfahrungen hätten einen Prozesscharakter und könnten nicht in endgültige Formen und Modelle überführt werden: »Goethe fasste die Erkenntnis als fortschreitenden Prozess auf. In der Unangemessenheit zwischen Theorie und Phänomen, in ihrem ›Konflikt‹, ihrem ›Widerstreit‹ und ›Zwiespalt‹ sah er den ewigen Stachel zur Fortbewegung des Denkens und zur Bereicherung der Bewusstseinsinhalte, und er meinte, dass die Überwindung des ›Konflikts‹ durch eine relativ angemessene Theorie, eine neu errungene Wahrheit und Einsicht nicht das Werk des mit sich selbst in der Reflektion beschäftigten Verstandes sein, sondern nur durch die Praxis erzielt werden könne.«19
Naturwissenschaften und Literatur, so Harichs These in dem Goethe-Aufsatz, ergänzten sich bei Goethe gegenseitig. Beide speisten sich aus den gleichen Quellen und hätten identische Zielrichtungen. Vor allem der junge Goethe sei ein Mitstreiter der Aufklärung gewesen. Das würden die Leiden des jungen Werther ebenso aufzeigen wie Goethes Reformeifer im Herzogtum Sachsen-Weimar oder seine naturwissenschaftlichen Forschungen.20 17 18 19 20
Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, in: Verlag Tägliche Rundschau: Zu neuen Ufern, o. O., o. J., S. 189. Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, S. 194. Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, S. 200. Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, S. 206.
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»Es sind dieselben humanistisch-progressiven Motive, dieselben methodologischen Gesichtspunkte und Maximen, nach denen sein dichterisches wie sein naturwissenschaftliches Vermächtnis gestaltet ist, und in diesen Maximen ist letztlich die gesellschaftliche Praxis widergespiegelt, um es konkret zu sagen: der Emanzipationskampf des Bürgertums gegen den Feudalismus, die Aufklärungsbewegung, die Französische Revolution, der Versuch also einer Bewältigung und Bemeisterung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Menschen und für die Menschen, wie sie die besten Köpfe des Bürgertums in dessen revolutionärer Epoche anstrebten und ersehnten, ohne dieses große Ziel in der Wirklichkeit freilich jemals erreichen zu können. Hier hat der ästhetische Realismus Goethes so gut seine Wurzel wie sein naturwissenschaftlicher Forscherdrang – beides nur Modifikationen derselben, praktisch gerichteten, lebenbejahend aktiven Tätigkeit, deren großer Inhalt die Bewältigung der Welt ist.«21
Eingangs wurde auf Harichs These verwiesen, dass auch die Beschäftigung mit den naturwissenschaftlichen Studien Goethes einen aktuellen Bezug habe. Aus marxistischer Sicht müsse Goethe von den reaktionären Analysen und Interpretationen seines Denkens befreit werden. Allerdings dürfe der Marxismus nicht so weit gehen, ihn seinerseits kritiklos zu vereinnahmen. Ließen sich in Goethes Weltsicht doch viele der Probleme und historisch bedingten Grenzen des deutschen Bürgertums aufzeigen. Größe und Grenze gehörten, das ist erneut zu sehen, für Harich immer zusammen, stützten sich gegenseitig. Daher sei Goethe als »der größte der Bürger in des Bürgertums großer, heroischer Zeit«22 zu betrachten. Außerdem gebe es durchaus Überschneidungen der marxistischen Theorie mit den Ansichten Goethes.23 Erste Ansätze dialektischen und materialistischen Denkens seien in Goethes Anschauungen eingeflossen bzw. hätten sich dort entwickelt. Gleichzeitig würden sie aber auch die Grenzen der Fortschrittlichkeit seines Schaffens markieren, die identisch mit den Grenzen der bürgerlichen Epoche wären: »Wo er wissenschaftlich vorging, gelangen ihm dialektische und auch materialistische Detailerkenntnisse, die einer heutigen Erfassung des Ganzen, vom Standpunkt des kämp21 22 23
Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, S. 205. Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, S. 226. »Goethesch und marxistisch: oft geht das zusammen. Oft können wir ganze Passagen von ihm wörtlich übernehmen und in den Kämpfen der Gegenwart für die Sache des Fortschritts verwenden.« Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, S. 226.
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fenden Proletariats, eminent fruchtbare Wege weisen. Wo er selbst es aber auf Weltschau anlegte, zerstob die Wissenschaft, und es blieb ›Naturphilosophie‹ mit all ihren fatalen Übeln, ein grandioser, ungeheurer, doch zu früher Versuch, der Goethes radikalen Denkmotiven, seinem Aufklärersinn zum Trotz in den Idealismus zurückmündete.«24
Im Prinzip wies Harich, das ist nicht von der Hand zu weisen, am naturwissenschaftlichen Goethe das nach, was Lukács und Bloch für den philosophischen und künstlerischen Goethe reklamierten.25 Die verschiedenen Artikel und Aufsätze zu Goethe, Lamarck, auch zu Johann Gottfried Herder (dazu gleich ausführlicher) waren erste Wortmeldungen Harichs zum Gebiet der Naturphilosophie, der philosophischen Naturforschung und damit der Anthropologie. Aber auch über den Druck hinaus beschäftigte er sich mit der Thematik. Im Rahmen seiner Vorlesungstätigkeit an der Berliner Humboldt-Universität26 näherte er sich immer wieder diesem Gegenstand aus unterschiedlichen Blickwinkeln, wobei allerdings die deutsche Aufklärung und deren Weg bis hin zur klassischen deutschen Philosophie des Idealismus sein Hauptforschungsgebiet bildete. Es müssen jetzt nicht die Vorlesungen Harichs einzeln auf entsprechende Hinweise durchsucht werden, die mit dem Gegenstandsgebiet der Anthropologie korreliert werden können. Vielmehr genügt der exemplarische Hinweis auf die Vorlesung Die deutsche Philosophie und die Französische Revolution, die Harich 1950/1951 über zwei Semester hielt.27 Gegliedert war sie wie folgt: Vorbemerkungen § 1: Die Herausarbeitung des Entwicklungsgedankens in der deutschen Aufklärung A) Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels B) Caspar Friedrich Wolffs Theoria generationis von 1759 C) Die Wiederentdeckung von Leibniz’ Nouveaux Essais sur l’entendement humain von 1765 D) Die Sprachphilosophie von Johann Georg Hamann, 1760 bis 1770 24 25 26 27
Harich: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung, S. 227. Heyer: Der gereimte Genosse, vor allem S. 101–124, 143–166. Die Vorlesungszyklen Harichs, die dieser teilweise wiederholte, und die Einzelvorlesungen kommen zum Abdruck in den Bänden 1.1, 3, 4, 5, 6.1 und 6.2. Abgedr. in: Band 6.2, S. 841–942.
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E) Die Entwicklung der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders ab 1764 F) Lessings Erziehung des Menschengeschlechts G) Goethes Naturanschauung H) Fortsetzung von Herders Geschichtsphilosophie Sommersemester 1951 § 2: Kants Kritik der reinen Vernunft A) Zur Klärung der Begriffe B) Der Kampf gegen die Metaphysik und seine gesellschaftliche Bedeutung C) Der Kampf gegen den Agnostizismus von Hume und seine gesellschaftliche Bedeutung D) Die Grundgedanken der Kritik der reinen Vernunft E) Kritische Stellungnahme zur Kritik der reinen Vernunft vom marxistischen Standpunkt
Entwicklung eines Pflanzenkeimlings aus einer einfachen Keimstruktur nach der „Theoria generationis“
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§ 3: Bemerkungen über Kants Kritik der praktischen Vernunft § 4: Die Französische Revolution und ihre Auswirkungen auf die klassische deutsche Philosophie § 5: Die Philosophie von Fichte § 6: Die Philosophie von Schelling
Entsprechend seiner wissenschaftlichen Arbeiten dieser Zeit bildete Harich mehrere Schwerpunkte, um die er gleichsam seine weiteren Theorien und Thesen, seine Forschungsgebiete gruppierte. a) Dem ersten Paragraphen Die Herausarbeitung des Entwicklungsgedankens in der deutschen Aufklärung kommt im hier relevanten Kontext besondere Bedeutung zu, da Harich auch in vielen anderen Kontexten das Thema immer wieder erwähnte bzw. voraussetzte. Es war in seiner Sichtweise der entscheidende ideengeschichtliche Strang bei dem Versuch der Benennung der progressiven Seiten der deutschen Aufklärung, d. h. derjenigen Theorien und Facetten, mit denen die deutsche über die europäische Aufklärung hinausgehe. Also gerade nicht die materialistische Philosophie, sondern die philosophische und darauf aufbauend auch naturwissenschaftliche Verarbeitung originär naturwissenschaftlicher Thesen (bei gleichzeitiger Überwindung des mechanischen Materialismus). In dem bereits erwähnten Aufsatz Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung kann genau studiert werden, welche Schwerpunkte Harich dabei setzte. b) Innerhalb dieses Spektrums kam dann neben Goethe und Leibniz natürlich vor allem der Geschichtsphilosophie Johann Gottfried Herders Harich zu Folge eine hohe und nicht zu überschätzende Bedeutung zu. Dem korrespondiert sicherlich, dass er Anfang der fünfziger Jahre nicht nur über Herder promovierte, sondern im Aufbau-Verlag bereits mit seinen verschiedenen Publikationsprojekten begonnen hatte – gemeint ist damit nicht nur seine Herder-Edition, sondern beispielsweise auch die Neuherausgabe der Herder-Biographie Rudolf Hayms.28 c) Der dritte Schwerpunkt wird, das war bei Harich kaum anders zu erwarten, um die Kritiken Immanuel Kants gebildet (fast das ganze Sommersemester 1951 drehte sich um Kant). Die darauf folgenden Anmerkungen zu Fichte und Schelling haben eher ergänzenden denn selbständigen Charakter, d. h. es ging Harich nicht zuvorderst um den Eigenwert der Systembauten von Fichte und Schelling, sondern darum, welche 28
Alle wichtigen Texte und Manuskripte präsentiert der 4. Band. Weitere Verweise später.
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Elemente der Philosophie Kants sie in welche Richtung weiter entwickelten oder überwanden.29 Und das immer mitzudenkende Ziel dieser Vermessung Harichs war die Philosophie Hegels, von der es dann wiederum zum jungen Marx vorzustoßen gelte.30 Mit Blick auf den »Entwicklungsgedanken« können die Ausführungen noch etwas spezifiziert werden. Es ging Harich darum, weitere Momente der Entstehungsgeschichte des Marxismus, des dialektischen und historischen Materialismus herauszuarbeiten. Insofern waren, eine wichtige Analogie zu Blochs Ausführung, auch seine Thesen und Anmerkungen Bausteine einer Positionierung zu den zeitlich parallel sich ankündigenden Debatten um Hegel und die Logik.31
Immanuel Kant. Kupferstich nach dem Gemälde von Johann Gottlieb Becker, ca. 1775.
»Die fruchtbaren Elemente vorwärtsweisender Erkenntnisse, die einen Fortschritt des menschlichen Wissens bedeuteten, sollen herausgearbeitet werden. Alle diese Elemente echter Erkenntnis sind – freilich auf einer ganz neuen, qualitativ höheren Grundlage – Elemente des dialektischen und historischen Materialismus. Die Herausarbeitung der fruchtbaren Elemente in der klassischen bürgerlichen Philosophie ist also gleichbedeutend mit der Klärung der Vorgeschichte des dialektischen und historischen Materialismus. Das 29 30
31
Auch mit den Kantianern und Anti-Kantianern beschäftigte sich Harich in den fünfziger Jahren intensiv, siehe die entsprechenden Ausführungen im 3. Band. Zu diesen Überlegungen liegen von Harich aus den fünfziger Jahren verschiedene Aufsätze und Wortmeldungen vor, neben seiner Hegel-Vorlesung (Band 5, S. 437–714) ist sicherlich der gemeinsam mit Georg Lukács verfasste Aufsatz zum jungen Marx bedeutsam: Lukács, Georg (und Harich, Wolfgang): Zur philosophischen Entwicklung des jungen Marx, 1840–1844, in: DZfPhil, Heft 2, 1954, S. 288–343. Siehe hierzu mit weiteren Hinweisen: Heyer: Die Logik-Debatte in der Frühphase der DDR-Philosophie, S. 577–592. Lothar Kreiser hat zu diesem Gebiet verschiedene Monographien und Aufsätze verfasst. Hier wird verwiesen auf seinen Aufsatz: Kreiser, Lothar: Logik. Lehre und Lehrinhalte an den philosophischen Fakultäten der Universitäten in der SBZ/DDR, 1945–1954, in: Gerhardt, Volker; Rauh, Hans-Christoph (Hrsg.): Anfänge der DDR-Philosophie. Ansprüche, Ohnmacht, Scheitern, 1945–1958, Berlin, 2001, S. 119– 159.
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wichtigste Resultat der westeuropäischen bürgerlichen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts: Der Materialismus. Aber es war nur ein mechanischer, ein metaphysischer Materialismus (von einzelnen Ansätzen zur Dialektik abgesehen). Deshalb war er nicht konsequent materialistisch. Bestimmte Probleme, deren materialistische, wissenschaftliche Lösung die Anwendung der dialektischen Methode voraussetzt, werden entweder überhaupt offen gelassen oder idealistisch gelöst. Der dialektische Materialismus ist daher der einzig konsequente Materialismus. Um zu diesem einzig konsequente Materialismus zu kommen, bedarf es der dialektischen Methode.«32
Harich sah einen Weg von den Errungenschaften der Aufklärung über die klassische deutsche Philosophie des Idealismus zur dialektischen Methode. Dies sei der Ausgangspunkt von Marx und Engels gewesen, den Schülern Hegels. Wichtig im vorliegenden Zusammenhang ist nun, dass Harich davon ausging, dass die Entwicklung und umfassende Anwendung der dialektischen Methode nicht nur die Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern auch einen bestimmten Stand der naturwissenschaftlichen Forschung voraussetze.33 Erst auf dieser Basis konnten dann auch die Ansätze zur Dialektik, die es in der deutschen Aufklärung gegeben habe, fruchtbar gemacht werden, sich gleichsam von der Spekulation zur wissenschaftlichen Sättigung mit Fakten entwickeln. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts habe eine statische Naturauffassung vorgeherrscht, die These der Erschaffung der Welt durch Gott sei kaum hinterfragt worden. In Deutschland komme vor allem zwei Schriften, erschienen in der Mitte des Jahrhunderts, Bedeutung bei der Überwindung dieser falschen These zu: Zum einen Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755), zum zweiten Caspar Friedrich Wolffs Theoria generationis (1759). Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels hatte Harich immer wieder positiv hervorgehoben und in seiner Bedeutung gewürdigt. Das Werk erarbeitete Kant 1755 und veröffentlichte es anonym (nur wenige Exemplare kamen in Umlauf ). In dem Manuskript Über Hegels Konzeption der Philosophiegeschichte schrieb Harich (kurze Zeit nach seiner Haftentlassung, also in der Mitte der sechziger Jahre): »Es sei nur daran erinnert, dass im neuzeitlichen Philosophieren von Anfängen evolutionistischer Naturbetrachtung ja erst seit der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels des frühen Kant (1755) die Rede sein konnte, dass die universal verallgemeiner32 33
Harich: Die deutsche Philosophie und die Französische Revolution, S. 847. Harich: Die deutsche Philosophie und die Französische Revolution, S. 847 f.
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te Dialektik noch in der Naturphilosophie der Romantiker rein spekulativen Charakter besaß und dass, was den Geschichtsprozess anbelangt, z. B. das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderung überhaupt erst durch die Französische Revolution als Phänomen der gesellschaftlichen Entwicklung fassbar geworden ist und erst von Hegel, 1806, übrigens unter Berufung auf vage Analogien aus der organischen Natur, auf den Begriff gebracht wurde. Es genügt, sich diese Daten der Wissenschaftsgeschichte und dazu die Entferntheit und anscheinende Unverbundenheit der verschiedenen Punkte, an denen das dialektische Weltbegreifen da ansetzte, zu vergegenwärtigen, um einzusehen, wie schwer es den Philosophen fallen musste, der allgemeinen Zusammenhangs- und Entwicklungsgesetzlichkeit auf die Spur zu kommen, die den neu gesehenen bzw. neu geschehenden und nur dialektisch zu erfassenden Sachverhalten zu Grunde lag.«34
Entwicklungsstadien des Hühnchens nach der „Theoria generationis“
Und in Widerspruch und Widerstreit hatte er zeitlich parallel formuliert: »Das besagt – einmal mehr, so müssen wir in Anbetracht der noch früheren Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels hinzufügen –, dass er durchaus schon dialektischen Gesetzmäßigkeiten im Sinn der marxistischen Ontologie und Naturauffassungen, namentlich im Sinn ihrer Lehre vom ›Kampf der Gegensätze‹, auf der Spur gewesen ist. Gerade das wurde für ihn aber zum Anlass, das logisch Verbotene, den Widerspruch, trennscharf davon abzuheben und so darauf zu dringen, dass man ›Naturdialektik‹ (im späteren Sinn des Marxismus) und logische Gesetzlichkeit nebeneinander möge gelten 34
Harich: Über Hegels Konzeption der Philosophiegeschichte, S. 285.
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lassen. Und nebeneinander hätte man sie, hätte man im Besonderen die Realrepugnanz und den Widerspruchssatz bei aller Universalisierung des dialektischen Weltbegreifens, wie wir sie Herder, Goethe, Schelling, Hegel und Marx zu danken haben, in der Folgezeit getrost auch gelten lassen können, wären die Errungenschaften des ›vorkritischen‹ Kant, zu denen auch diese wichtige Distinktion gehört, nicht zu Unrecht ignoriert und missachtet – oder allenfalls sehr spät in philosophiehistorischen Spezialforschungen immer nur nach Gedankenkeimen des Kritizismus abgesucht – worden. Das indes geschah, und dem derart einseitig orientierten Interesse an Kant verstellten die Antinomien der Kritik der reinen Vernunft, mitsamt der ihnen eigenen Inanspruchnahme des Begriffs ›Widerstreit‹ für die bekannte vierfache Antithetik der transzendentalen Ideen, die Sicht. Schon Reinhold, Maimon, Beck und Fichte galten die ›vorkritischen‹ Schriften Kants, falls sie sie überhaupt gelesen haben, als unerheblich, schon ihrer Generation kam daher der Begriff ›Realrepugnanz‹ abhanden, und an seine Stelle trat eben doch der ›Widerspruch‹ – ein kapitales Missverständnis, das die dialektische Ontologie und Methodologie, bis in den Marxismus-Leninismus der Gegenwart hinein, mit einer logikfeindlichen objektiv-idealistischen Konzeption belastet hat.«35
Diese Hochschätzung der Allgemeinen Naturgeschichte war innerhalb der Diskussionen der marxistischen Intellektuellen der DDR Allgemeingut (der dogmatischen SED-Kritik am Idealismus zum Trotz). Bei Bloch war in diesem Sinn zu lesen: »Denn wäre nichts von Kant übrig geblieben als die Allgemeine Naturgeschichte (…), dann würde er als der erste, der eine mechanische Kosmogonie gab, allein schon unsterblich sein. Er würde triumphierend mit Demokrit, Epikur, Lukrez, mit den französischen Materialisten gefeiert werden als philosophischer Vollender der Bahn Kopernikus, Galilei, Kepler 35
Titelblatt der »Allgemeinen Naturgeschichte«
Harich: Widerspruch und Widerstreit, S. 128 f.
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und Newton.«36 In der kleinen Philosophischen Bücherei des Aufbau-Verlags, die Harich thematisch verantwortete und herausgab, hatte Georg Klaus den Text ediert und neu herausgegeben, seine Einleitung war zudem als Aufsatz in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschienen.37 Goethes naturwissenschaftliche Arbeiten markieren dann, kehren wir zum Thema zurück, Harich zu Folge, die dritte Stufe (nach Kant und der Theoria generationis). Für seine Vorlesung hatte sich Harich folgende stichpunktartige Notizen angefertigt: »(1) Goethe, die dritte Station auf dem Weg der Einführung des Entwicklungsgedankens in die Naturwissenschaften. • Theologie: Urgeschiedenheit des Menschen vom Tier. Der Mensch wurde von Gott nach seinem Ebenbild geschaffen. • Anatomisches Stigma dieser Urgeschiedenheit: Der Zwischenkieferknochen, der beim Menschen fehlen soll. • Goethes Arbeit an dieser Frage. Anatomische Untersuchungen seit 1783. Im März 1784 entdeckt er das Knöchlein bei einem Embryo. (2) Konsequenzen, die Goethe selbst aus dieser Entdeckung gezogen hat. Universelle Anwendung des Entwicklungsgedankens in der Biologie. Konsequenter Bruch mit der Lehre von der Konstanz der Arten. (Freilich nur spekulativ, im Gegensatz zum Darwinismus, der die Entwicklungslehre in der Biologie wissenschaftlich begründet.) • Wirbeltheorie des Schädels. Der Schädel hat sich aus der Erweiterung des obersten Rückenwirbels entwickelt. • Metamorphose der Pflanzen und Tieren. • Die Varietäten müssen aus den Arten genetisch entstanden sein. Typus, der vererbt wird, und der sich entsprechend den Umweltbedingungen verändert. • Die Arten selbst sind miteinander verwandt, höhere stammen von niederen ab. Urpflanze, Urtier, monophyletische Descendenzhypothese. • Goethes Stellungnahme im Streit zwischen Cuvier und Geoffroy de Saint-Hilaire, der Schüler von Lamarck.«38
36 37 38
Bloch: Zweierlei Kant-Gedenkjahre, in: Ders.: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt am Main, 1985, S. 455. Klaus, Georg: Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels und das moderne Weltbild, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1, 1954, S. 18–42. Harich: Die deutsche Philosophie und die Französische Revolution, in: Band 6.2, S. 888 f.
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In den Jahren der produktiven Zusammenarbeit mit Herder (vor dem Bruch der Freundschaft wegen der unterschiedlichen Bewertung der Französischen Revolution) habe Goethe wiederholt seine Überzeugung formuliert, dass der Mensch von den Tieren abstamme.39 Wegen der Rückständigkeit der deutschen bürgerlichen Gesellschaft, wegen des fehlenden Rückhalts der Intellektuellen in einem starken Bürgertum habe für Goethe aber die Notwendigkeit bestanden, seine Einsichten und Entdeckungen geheim zu halten. Ein Abwehrmechanismus, der beispielsweise auch in Herders Ausführungen zur Abstimmungsfrage in den Ideen zu erkennen sei.40 Der sicherlich wichtigste Schwerpunkt, gleichsam der Zugang, über den Harich zur Anthropologie Urpflanze, 1837, Pierre Jean François fand, wurde bereits angesprochen: Es war die in- Turpin nach Vorstellungen Goethes tensive wissenschaftliche Beschäftigung mit Johann Gottfried Herder, über den Harich promovierte und um den er sich auch editorisch verdient machte. Seine entsprechenden Studien, Manuskripte und Aufsätze (hinzuzusetzen sind die zahlreichen Verweise in anderen Kontexten sowie in den verschiedenen Vorlesungen) können in dieser Edition nachgelesen werden. Von den zu Harichs Lebzeiten erschienenen Publikationen seien zeitlich-chronologisch aufzählend genannt (alle weiteren Manuskripte usw. finden sich in den Bänden 3, 4, 5, 6.1 und 6.2): • • • •
39 40
Herder und die bürgerliche Geisteswissenschaft, Diss. Berlin, 1951. Herder und die nationale Frage, in: Aufbau, 1951, Heft 2, S. 103–117. Herder, Johann Gottfried: Zur Philosophie der Geschichte, hrsg. und mit einer Einl. vers. von Wolfgang Harich, 2 Bde., Berlin, 1952. Herder und die bürgerliche Geisteswissenschaft, in: Herder: Zur Philosophie der Geschichte, S. 7–82.
Siehe hierzu auch die verschiedenen Hinweise Harichs in: Harich: Ein Kant-Motiv im philosophischen Denken Herders, in: Band 3, S. 319–358. Harich: Die deutsche Philosophie und die Französische Revolution, in: Band 6.2, S. 889.
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• • • • • •
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Herder: Patriotismus und Humanität. Aus den Briefen zur Beförderung der Humanität, 1793–1797, hrsg. und ausgew. von Wolfgang Harich, Berlin, 1953. Rudolf Haym. Seine politische und philosophische Entwicklung, in: Sinn und Form, 1954, Heft 4, S. 482–527. Ein Kant-Motiv im philosophischen Denken Herders, in: DZfPhil, 1954, Heft 1, S. 43–68. Haym, Rudolf: Herder. Nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., hrsg. v. Wolfgang Harich, Berlin, 1954. Einleitung, in: Haym: Herder, Bd. 1, S. IX-CVII. Rudolf Haym und sein Herderbuch. Beiträge zur kritischen Aneignung des literaturwissenschaftlichen Erbes, Berlin, 1955. Teilweise zuerst als: Harich: Einleitung, in: Haym: Herder, Bd. 1, S. IX-CVII.
Im Zuge der Beschäftigung mit Herder schrieb Harich dann 1949 oder 195041 einen Brief an Arnold Gehlen. Zur Biographie Gehlens werden hier keine näheren Ausführungen gemacht, alle wichtigen Hinweise können den präsentierten Schriften Harichs entnommen werden. Gleichsam eine Art einleitende Funktion hat dabei dessen Vorwort zur italienischen Ausgabe von Der Mensch. Seit diesem epochalen Werk kann Gehlen sicherlich als der bedeutendste deutschsprachige philosophische Anthropologe jener hier relevanten Tage und Jahre gelten. Gleichzeitig war aber auch dessen Verstrickung in den Nationalsozialismus mehr als nur bekannt, so dass Harich in wissenschaftlicher Absicht auf einen der größten ideologischen Gegner zuging. Denn es darf nicht vergessen werden, dass sich Harich als Kommunist und Marxist vollumfänglich zum Antifaschismus bekannte und diesen in allen seinen Facetten lebte und vorlebte. (Eine Einstellung, die ihm dann in der Nietzsche-Debatte der späten achtziger Jahre in der DDR zum Verhängnis wurde.)42 Erinnert sei exemplarisch nur an seine umfassende und treffende Kritik an Ernst Jünger, die er in den späten vierziger Jahren entwickelte.43 41
42 43
Am 27. Februar 1974 schrieb Harich an Gehlen: »So wäre unsere Beziehung, die sonst nächsten Silberhochzeit feiern könnte – denn 1949 (oder 1950) schrieb ich Ihnen zum ersten Mal –, beinahe definitiv in die Brüche gegangen (…).«. Siehe die Texte des 12. Bandes. Folgende Texte Harichs zu Ernst Jünger liegen vor: Ernst Jüngers Ansicht vom Frieden; Ernst Jünger und der Frieden; »Abendland« oder nationale Souveränität. Der Kosmopolitismus – eine tödliche Gefahr für das deutsche Volk (alle abgedr. in: Band 1.3, S. 1291–1330); Und noch einmal: Ernst Jünger (abgedr. in: Band 1.2, S. 1013–1018). Siehe auch: Heyer: Der erste Gegner wartet schon. Wolfgang Harich über Ernst Jünger, in: Band 1.3, S. 1261–1290. Dornuf, Stefan: Wolfgang Harich und Ernst Jünger, in: Feist, Peter (Hrsg.): Das Wolfgang Harich Gedenk-Kolloquium, November 2003, Berlin, 2005, S. 28–44.
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Damit ist bereits etwas über den großen Respekt gesagt, den Harich vor Gehlens wissenschaftlicher Leistung hatte. Er war bereit, dessen faschistische Vergangenheit (und teilweise ja auch Gegenwart) auszublenden. Man kann sich sicherlich vorstellen, dass Gehlen durchaus überrascht war, Post aus Ost-Berlin zu erhalten. Ähnlich ging es übrigens Nicolai Hartmann (auch mit Eduard Spranger korrespondierte Harich, bei Hartmann und Spranger hatte er ja studiert). Harich zitierte in Zur Geschichte von Leben, Werk und Wirkung, der von ihm verfassten Biographie Hartmanns, folgende Aussage Hermann Weins: »In Göttingen erreichten Hartmann werbende Briefe eines Assistenten am Philosophischen Seminar der Ostberliner Humboldt-Universität. Hartmann ließ die Briefe einen langjährigen Schüler und jüngeren Kollegen lesen. Sie waren damals insofern ›geheim‹, als sich in ihnen ein sowjetisches Interesse auszudrücken schien, Hartmanns a-christliche und anti-idealistische Philosophie zu einer Art ›Staatsphilosophie‹ für die Deutschen zu promovieren – nach einer Schulung in Moskau. Hartmann sagte damals zu jenen Briefen sinngemäß: ›Wie kann ich beim Materialismus mitmachen, da in meiner Philosophie die Macht des Geistes vorkommt (…).‹«44
Diese Äußerungen kommentierte Harich wie folgt: »Wer jener Assistent gewesen ist und ob hinter seinem Werben wirklich ein sowjetisches Interesse der geschilderten Art gesteckt hat, lässt sich heute schwerlich eruieren.45 Die Deutsche Akademie der Wissenschaften, die 1949 die Auszeichnung ihres in Göttingen lehrenden prominenten Mitglieds betrieb, dürfte am selben Strang gezogen haben. Für einen Aufenthalt in Moskau wäre Hartmann im Übrigen schon durch seine Sprachkenntnis prädestiniert gewesen. Und natürlich hätte die Berliner Universität einen Gewinn darin gesehen, wäre ihr führender Philosoph in ihren Lehrkörper zurückgekehrt.«46 44
45
46
Wein, Hermann: Dokumentationen und Notationen zum späten Hartmann aus der Sicht von heute, in: Buch, Aloys Joh. (Hrsg.): Nicolai Hartmann, 1882–1982. Mit einer Einleitung von Josef Stallmach und einer Bibliographie der seit 1964 über Hartmann erschienenen Arbeiten, Bonn, 1982, S. 323. Natürlich ist Harich gemeint. Seine Briefe an Hartmann sind leider nicht erhalten. Der 9. Band dieser Edition bildet aber zumindest ab, wie Harich die Philosophie Hartmanns an Lukács vermittelte, so dass in Ansätzen nachvollziehbar wird, wie er sich in jenen Jahren eine Synthese aus Marxismus, materialistischer Philosophie, Gehlens Anthropologie und Hartmanns Philosophie vorstellte. Band 10, S. 163 f.
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In den Hartmann-Dialogen, im Selbstgespräch, die Harich zeitlich nach der Biographie verfasste, kommentierte er die Passage Weins dann etwas anders: »PF: Wer könnte einen solchen Brief an ihn geschrieben haben? WH: Nur ein ehemaliger Assistent von ihm, denn philosophische Assistentenstellen sind nach dem Krieg an der Humboldt-Universität erst von 1951 an wieder besetzt worden. PF: Der Absender hat, wissentlich oder unwissentlich, mit der Berliner Akademie an einem Strang gezogen, die 1949 ja die Auszeichnung ihres in Göttingen lehrenden prominenten Mitglieds betrieb. Für einen Aufenthalt in Moskau wäre Hartmann im Übrigen schon durch seine Sprachkenntnis prädestiniert gewesen. Und gewiss hätte die Humboldt-Universität einen Gewinn darin gesehen, wäre ihr führender Philosoph in ihren Lehrkörper zurückgekehrt. WH: Hartmann war damals ein verbrauchter alter Mann. Ich vermag mir unter einer Schulung in Moskau, der er sich ein, zwei Jahre vor seinem Tod hätte unterziehen sollen, nichts Sinnvolles vorzustellen. Aber um all das geht es hier nicht. Worauf es ankommt, ist etwas anderes, und damit kehre ich zur Beantwortung Ihrer Ausgangsfrage zurück. Den Ausführungen Weins lässt sich entnehmen, dass Hartmann der Marxschen Lehre zuletzt mit großer Ratlosigkeit gegenüber gestanden hat, die sich auf einen ganz bestimmten Punkt bezog. Wie das Interview beweist, verteidigte er, nach der faschistischen Terrorherrschaft, den Erfahrungen zweier Weltkriege, dem Abwurf von Atombomben auf Japan und angesichts neuer weltweiter Spannungen und Konflikte, gegen alle pessimistischen Zeitstimmungen unerschütterlich die Möglichkeit, dass es dem Menschengeist dereinst gelingen könne, die blinde Elementargewalt der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung ebenso zu bändigen wie die der Natur und sie dem vernünftigen Interesse menschlicher Gesamtziele dienstbar zu machen. Das verband ihn, immer noch, wie schon 1932, mit den Marxisten. Aber gleichzeitig ging er, wie von einem Axiom, ebenso unerschütterlich davon aus, dass für jedweden philosophischen Materialismus die Abhängigkeit des Geistes von der Materie gleichbedeutend sei mit dessen Ohnmacht, mit seiner Nichtigkeit, die eine solche Zukunftsperspektive gerade ausschlössen. Und das war der Grund, aus dem er glaubte, ›beim Materialismus mitzumachen‹ könne für ihn nicht in Frage kommen. PF: Ist dieses Missverständnis, das die Widersprüchlichkeit seiner Stellungnahmen zum Marxismus bedingt, bereits im Problem des geistigen Seins angelegt? Und ist es Ihnen in seinen Lehrveranstaltungen zwischen 1940 und 1942 jemals aufgefallen?
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WH: Mir sind nur zwei mündliche Äußerungen von ihm zum Marxismus erinnerlich, von denen ich nicht einmal mehr sagen kann, ob ich sie selber mit angehört habe oder ob man sie mir aus dem engeren, vertrauteren Schülerkreis zugetragen hat.«47
Gehlen antwortete – anders als Hartmann – auf Harichs Brief und es entwickelte sich zwischen beiden ein freundschaftlicher und von gegenseitigem Respekt getragener Briefwechsel, der bis zum Tode Gehlens anhielt. Leider ist die Korrespondenz nur in Ansätzen erhalten, so dass in diesem Band jene Briefe Harichs an Gehlen präsentiert werden, die sich in Durchschlägen in dessen Nachlass fanden. Dieses Konvolut wurde mit den Beständen des Archivs in Marbach abgeglichen, dort fanden sich jedoch keine weiteren Briefe Harichs. Im Amsterdamer Archiv sind zudem einige Briefe Gehlens an Harich erhalten, die hier nicht abgedruckt werden können und auch nicht in Marbach einsehbar sind. Für die Zeit bis 1956, bis zur Verhaftung Harichs, sind nur einige wenige Briefe überliefert, was sicherlich damit zusammenhängt, dass die Staatssicherheit im Zuge der Verhaftung Harichs dessen Wohnung samt Arbeitszimmer durchsuchte und vieles mitnahm, beschlagnahmte. Aber die späteren Briefe bieten einige interessante Rückblicke und zudem kann das präsentierte Konvolut durch die Exzerpte Harichs (die im dritten Teil zum Abdruck kommen) ergänzt werden. Auf die Briefe hier im einzelnen chronologisch verfahrend einzugehen erübrigt sich, da sie bei der Darstellung der anthropologischen Überlegungen Harichs sowie dessen »werben« um Gehlen Berücksichtigung finden werden. ***** Ein Brief aber muss hier hervorgehoben werden. Am 26. April 1952 kündigte Harich seinen Besuch in Speyer für den Juni an. Der Brief zerfällt in zwei Teile, der zweite gibt eine lesenswerte Beschreibung des Personals der Berliner Humboldt-Universität, die sich so auch in anderen Texten Harichs findet (beispielsweise bei der Schilderung Liselotte Richters und Klaus Schrickels), teilweise aber auch extrem schönfärbend ist (beispielsweise bei der Schilderung Kurt Hagers). Im ersten Teil, der hier von Interesse ist, stellte sich Harich als »Parlamentär des Aufbau-Verlages« vor: »Was kann getan werden, um Ihr Werk auch in der Deutschen Demokratischen Republik zu verbreiten? Meine Freunde und ich sind der Ansicht, dass wir vom ›handelnden Wesen‹, von der ›Entlastung‹ und von Ihrer Sprach-Denktheorie sehr, sehr viel lernen können, und dass es nicht angeht, unseren Menschen diese Errungenschaften länger vorzuenthal47
Band 10, S. 659 f.
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ten. Wir würden auch gerne unseren sowjetischen, polnischen und tschechoslowakischen Freunden, namentlich den Pawlow-Schülern und den von Stalin aus ihren Fesseln befreiten Sprachwissenschaftlern, diese Ihre Leistungen zugänglich machen. Andererseits gibt es auch in der vierten Auflage Ihres Buches (die jetzt hier bei Parteitheoretikern etc. kursiert) gewisse Stellen, wo sich manches in uns sträubt: Novalis, Nietzsche und Pareto lieben wir nicht, am wenigsten Pareto. Wir sind uns zwar klar darüber, dass es auch bei diesen Denkern wertvolle Einsichten gibt, und sehen deutlich, dass Sie ausschließlich solche Einsichten im Menschen zitiert haben, ohne in irgendeiner Hinsicht dem romantischen Obskurantismus und der faschistischen Ideologie Vorschub zu leisten. Aber es gibt eben heute noch Wunden, die nicht vernarbt, Tränen, die nicht getrocknet sind, und erst in Jahren werden wir so weit sein, das partielle Gute uns auch aus Nietzsche und Pareto heraus zu picken und gebührend zu würdigen. Dass der Pragmatismus ›die einzige bisher erschienene Philosophie‹ sein soll, ›welche grundsätzlich den Menschen als handelndes Wesen ansieht‹ (Seite 329), will uns auch nicht munden. Alle diese Beanstandungen treffen zwar niemals das Wesentliche Ihrer Theorie. Aber könnte man nicht dafür Sorge tragen, dass sich das Wesentliche bei uns recht bald und ohne Missverständnisse durchsetzt – ohne Missverständnisse, die unabsehbare Umwege, Verzögerungen und Anfeindungen seitens dogmatischer Flohknacker mit sich brächten? Mit anderen Worten: Ich will Sie zu einer überarbeiteten Lizenz-Ausgabe des Menschen für die DDR veranlassen. Wenn Sie dies ablehnen sollten, so würde ich nach meiner Rückkehr hier für Sie vorbereitend die Reklametrommel rühren: Einerseits durch kritische Würdigung Ihrer Leistung in Form von Essays, Artikeln, Vorträgen usw., andererseits durch interne Diskussionen mit führenden sowjetischen und deutschen Genossen. Ich glaube, dass ich es dann schaffen würde, die Verbreitung Ihres Werkes in der DDR auch mit Nietzsche- und Pareto-Zitaten durchzusetzen; aber das würde natürlich länger dauern, und mir scheint, dass wir in einer Zeit leben, in der der ›Weltgeist‹ Eile hat, in der man es sich also eigentlich nicht leisten kann, mit solchen wichtigen Dingen zu säumen. Kurzum: Dies muss ich mit Ihnen besprechen.«48
Was ist von dieser Aussage zu halten? Eine Edition des Menschen von Gehlen in der DDR kam natürlich nicht zu Stande, Gehlen wird diese ebenso wenig gewünscht 48
Später hieß es noch: »Natürlich würden Ihre Publikationen hier kräftig kritisiert werden, aber die erste und wohl ziemlich erschöpfende Kritik würde von mir stammen, und Sie wissen, dass ich von dem Wertvollen Ihrer Leistung zutiefst überzeugt bin. Politische Bekenntnisse würde man von Ihnen nicht verlangen. Aber ein gründliches Studium des Marxismus würden Sie wahrscheinlich von sich selbst verlangen; denn Sie würden ja den Fragen und Meinungen Ihrer Studenten standhalten wollen.«
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haben wie die SED. Die andere Frage ist natürlich, was Harich tatsächlich unternahm, um seinerseits Gehlen in der DDR bekannter zu machen. Die Spurensuche mag beginnen – und zwar in der Dissertation Harichs. Stefan Dornuf hat 1996 geschrieben: »Harichs Herder-Einleitung, eine Kurzfassung seiner Dissertation, darf als seine erste Gehlen Huldigung gelten; und zwar würdigt Harich Gehlen, indem er ihn verschweigt.«49 Dornufs Einschätzung ist richtig und falsch: Zutreffend ist sie im Bezug auf die Herder-Einleitung Harichs. Aber diese ist eben keine Kurzfassung von dessen Dissertation, sondern ein eigenständiger Text. Vielmehr wird Gehlen in der Dissertation sehr wohl erwähnt. Dabei geht es um folgende Passage, die hier, da sie dezidiert sich mit der Anthropologie auseinandersetzt, etwas länger wiedergegeben werden kann: »Herder hat als erster die Phänomene, in denen sich die biologische Unspezialisiertheit des Menschen offenbart, gekennzeichnet, und die jüngsten Forschungsresultate der Embryologie geben ihm recht, indem sie zeigen, dass der menschliche Embryo in seiner Entwicklung nicht nur dem biogenetischen Grundgesetz unterliegt, nicht nur eine Abbreviatur der Stammesgeschichte der Tiere durchläuft (vom Lanzettfischchen bis zum höchsten Säugetier), sondern außerdem noch spezifisch menschlichen Retardationen der Entwicklung ausgesetzt ist, die nur als dialektische Rückwirkung der Unspezialisiertheit des Menschen begriffen werden können. Dass Herder nicht im im Stande ist, diese Erscheinungen materialistisch-wissenschaftlich zu erklären, steht außer Frage. Aber die Erklärung ergibt sich von selbst, wenn man der Darwin-Haeckelschen Abstammungshypothese den historischen Materialismus hinzufügt, wenn man beispielsweise in Betracht zieht, dass die menschliche Gesellschaft nicht dem Gesetz der natürlichen Zuchtwahl unterliegt, und wenn man wissenschaftlich untersucht, warum sie ihm nicht unterliegt. Dann zeigt sich sogleich, dass die biologische Unspezialisiertheit des Menschen durch die allgemeinen Lebensbedingungen eines Organismus verursacht ist, der gesellschaftlich arbeitet, Werkzeuge herstellt, mit Werkzeugen seine materiellen Existenzgrundlagen, seine gesellschaftlich produzierte und reproduzierte Kulturumwelt schafft. Der zeitüberdauernde Gehalt an objektiver Wahrheit, der in der Herderschen Anthropologie enthalten ist, und deren zeitgebundene Begrenztheit lassen sich also klar unterscheiden, wenn man sich auf den Standpunkt der fortgeschrittensten Wissenschaft stellt, wenn man von der Grundlage der Darwinschen materialistischen Biologie und des historischen Materialismus aus an das Erbe der klassischen bürgerlichen Philosophie herantritt. Was beweist nun das Beispiel der Herderschen Anthropologie, das sich beliebig vermehren ließe, in Bezug auf den bürgerlichen Bildungsverfall? Es macht vor allem zwei Tatsachen deutlich: Erstens, 49
Dornuf, Stefan: Gehlen-Rezeption von Harich, S. 81.
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dass die neukantianische ›Grenzziehung‹ zwischen Philosophie und positiver Wissenschaft, die unter anderem den Darwinismus aus dem Problemkreis der Philosophie von vornherein ausschließt, eine richtige Beurteilung und kritische Aneignung der wertvollen Errungenschaften der Geschichte der Philosophie verhindert. Und zweitens, dass die Naturwissenschaftler reaktionären Schlussfolgerungen, die aus ihren Entdeckungen gezogen werden und an denen die Bourgeoisie interessiert ist, völlig hilflos gegenüberstehen müssen, solange sie an den dialektischen Einsichten der klassischen Denker des Bürgertums (vom Marxismus noch ganz zu schweigen) achtlos vorübergehen Johann Gottfried Herder und auf diese Weise unweigerlich in den Kategorien des metaphysischen Denkens befangen bleiben. Die zweite Tatsache ist in diesem Fall besonders wichtig. Denn die falsche, metaphysische Verallgemeinerung einer der großartigen Entdeckungen der Biologie, des Gesetzes der natürlichen Zuchtwahl, führt zum ›sozialen Darwinismus‹, zu einer vollständig falschen, verzerrten Widerspiegelung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und damit zur ideologischen Rechtfertigung der Unmenschlichkeiten der kapitalistischen Verhältnisse. Freilich konnte die Argumentation des ›sozialen Darwinismus‹ erst durch die marxistische Gesellschaftswissenschaft restlos zerschlagen werden. Aber eine Reihe wichtiger und unabweisbarer Gegenargumente, die sich aus der biologischen Unspezialisiertheit des Menschen ergeben, muss sich bereits jedem aufdrängen, der die Lehre Darwins kennt und nun – von dieser Grundlage ausgehend – jene spezifisch menschlichen Lebenserscheinungen durchdenkt, die in Herders Schrift Über den Ursprung der Sprache als Epiphänomene der ›Besonnenheit‹ beschrieben werden. Wer die von Herder angeführten Tatsachen in Betracht zieht, wird nicht umhin können, den Versuch, gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten mit biologischen Kategorien zu erfassen, als absurd zurückzuweisen. Tatsächlich hat aber keiner der führenden Biologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über eine genügend gründliche Kenntnis der Geschichte der Philosophie verfügt, um die Gesichtspunkte, die sich aus den philosophischen Schriften Herders oder aus der Hegelschen Dialektik ergeben, auch nur in Erwägung ziehen zu können. (Von einer Kenntnis des dialektischen und historischen Materialismus gar nicht zu reden.)«50 50
Band 1.2, S. 697 f.
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Gleich zu Beginn fand sich die Fußnote: »Die Phänomene der biologischen Unspezialisiertheit des Menschen wurden von Darwin und Haeckel noch nicht in Betracht gezogen. Erst die neuere bürgerliche Anthropologie (im 20. Jahrhundert) hat sich ihrer bemächtigt, sie aber sogleich in Argumente gegen den Darwinismus umgemünzt. Die entsprechenden Theorien (Westenhöfer, Frechkop, Bolk, Arnold Gehlen u. a.) laufen allesamt darauf hinaus, dass ein biologisch so unspezialisiertes Wesen wie der Mensch unmöglich von den Tieren, die nur durch ihre Umweltangepasstheit der biologische Spezialisiertheit lebensfähig seien, abstammen könne. Weil die betreffenden Anthropologen in den Kategorien des metaphysischen Denkens befangen sind, weil sie vor allem nicht den Dritten Grundzug der Dialektik auf ihr Problem anzuwenden wissen, fabrizieren sie eine idealistische Irrlehre, die die Kehrseite der metaphysischen Biologisierung des gesellschaftlichen Lebens ist. Sie kommen nicht auf den Gedanken, dass die spezifisch menschlichen Eigenarten, die sich in Folge des Übergangs zur Arbeit herausbilden, auf den Organismus zurückwirken.«51
An diese Fußnote schlossen sich der Hinweis an: »Ich habe die Absicht, in einer größeren speziellen Arbeit auf diesen Problemkomplex einzugehen.«52 Das weitergehende Interesse an der Anthropologie scheint damit bereits für diesen Zeitpunkt als verbürgt. Die Dissertation wollte Harich ursprünglich zur Habilitation erweitern.53 Auch weite51
52 53
Band 1.2, S. 854. Harich verwies anschließend auf folgende Literatur: »Westenhöfer, Das Problem der Menschwerdung, 1935; (Titel nicht lesbar, AH); Kollmann, Archiv für Anthropologie, 1936; Korrespondenz der deutschen Anthropologischen Gesellschaft, 1905; Klaatsch, Das Werden der Menschheit und die Anfänge der Kultur, 1936; Weerth, Zeitschrift für Säugetierkunde, 1937, Nr. 12; Adloff, Das Gebiss des Menschen und der Anthropoiden und das Abstammungsproblem, Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie, 1927, Nr. 26; Der Eckzahn des Menschen und das Abstammungsproblem, Zeitschrift für Anatomie und Entwicklungsgeschichte, 1931, 94; Westenhöfer, Die hintere Fußwurzel von Mensch und Gorilla, Zeitschrift für Säugetierkunde, 1929, Nr. 4; Frechkop, Bulletin du Musée royal d’histoire naturelle de Belgique, Bd. XIII, 1937; Bolk, Das Problem der Menschwerdung, 1926; Schindewolf, Das Problem der Menschwerdung, ein paläontologischer Lösungsversuch, im Jahrbuch der preußischen geologischen Landesanstalt, 1928, II, 49; Arnold Gehlen, Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, 1940.« (Band 1.2, S. 854 f.) Band 1.2, S. 855. In der Vorbemerkung zur Dissertation heißt es: »Die vorliegende Arbeit ist ein Teil einer größeren Abhandlung über das Thema Johann Gottfried Herders Geschichtsphilosophie, ihre Stellung in der Geschichte der Philosophie und ihre Verfälschung durch die gesamte bürgerliche Geisteswissenschaft Deutschlands im 20. Jahrhundert. Diese größere Abhandlung, die ich bis zum 1. Juli 1951 als Habilitationsarbeit vorlegen werde, gliedert sich in die folgenden Teile:
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re Editionsprojekte zu Herder selbst waren vorgesehen (und teilweise bereits in Arbeit), mitsamt zu verfassenden Einleitungen und Essays.54 Und schließlich arbeitete Harich bereits zur Anthropologie, die Notizen und Exzerpte dieses Bandes können als Beleg dafür dienen. Das 2. Kapitel, Das Verhältnis der Bourgeoisie zum klassischen Erbe, des V. Abschnitts, Herder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Dissertation eröffnete Harich mit dem Absatz: »Die Herder-Mode ist eines der wichtigsten geisteswissenschaftlichen Elemente dieser Entwicklung. Und ihre Funktion besteht vor allem darin, dass sie – durch Verfälschung des Herderschen Erbes – diese auch irrationalistische Mythisierung der bürgerlichen Philosophie mit nationalen Motiven auszustatten hat. Bei dem Bedarf der deutschen Imperialisten an nationalistischer Demagogie ist es klar, dass die ›Erneuerung‹ der Philosophie, die mit dem Beginn der imperialistischen Ära einsetzt, dringend einer zusammengelogenen ›Verwurzelung‹ in ehrwürdigen nationalen Kulturtraditionen bedarf. Das ist der Grund für die um 1900 beginnende wahre Inflation an ›Neuentdeckungen‹ und sensationellen ›Neudeutungen‹ bislang vernachlässigter Traditionen des klassischen Erbes. ›Neu entdeckt‹ wird jetzt die objektiv-idealistische Richtung der deutschen Aufklärung und Klassik. ›Neu entdeckt‹ werden Leibniz, Hamann, Herder, Schelling und Hegel, die romantische Naturphilosophie und die Naturanschauungen Goethes. Dies ganze – bis dahin vernachlässigte – Erbe wird, um als Tradition des modernen Obskurantismus überhaupt in Frage zu kommen, durch Zerstörung seines rationellen Kerns, durch Eskamotierung seines Gehalts an objektiver Wahrheit, durch Aufbauschung seiner zeitgebundenen Irrtümer, also durch plumpe oder raffinierte Verfälschungen gebrauchsfertig gemacht. Es wird also eine großzügige Umstilisierung des klassischen objektiven Idealismus und
(1)
54
Einleitung: Der Marxismus-Leninismus über die kritische Aneignung des klassischen bürgerlichen Kulturerbes. (2) Herder und die bürgerliche Geisteswissenschaft. (3) Die wichtigsten Bestandteile der Herderschen Geschichtsphilosophie und deren Entwicklung, mit einer zusammenfassenden Stellungnahme vom Standpunkt des dialektischen und historischen Materialismus. (4) Fußnoten und Anmerkungen (vollständig). (5) Anhang: Bisherige Versuche von Marxisten, sich mit Herder auseinander zu setzen (Franz Mehring, Georg Lukács, Paul Reimann). (6) Literaturangaben.« (Band 1.2, S. 657) Siehe die Manuskripte in Band 4.
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der idealistischen Dialektik im Sinne des Irrationalismus vorgenommen.«55
Und zu Schelling gab er die Fußnote: »Der Versuch, eine Synthese zwischen Nietzsche und Schellings Philosophie der Mythologie herzustellen, in der Stefan-George-Schule (Kurt Hildebrandt); Hermann Schwarz’ Religionsphilosophie des ›Untergebenen‹ knüpft an Meister Eckhart, Böhme und Schelling an; vgl. ferner die Schelling-Apotheose in dem Philosophenspiegel des österreichischen Kleriko-Faschisten Othmar Spann, Arnold Gehlens Auftreten gegen die Traditionen des Rationalismus in seinem Vortrag Descartes im Urteil Schellings, 1937, und das Buch von Knittermeyer, Schelling und die romantische Schule, 1928.«56
Schelling, nach einem Gemälde von Christian Friedrich Tieck
Harich hat Gehlen also durchaus kritisiert, aber tatsächlich »versteckt« in dem Fußnotenapparat seiner Arbeit. Ein Unterfangen, welches sicherlich auch deswegen notwendig war, da ja die Dissertation ein insofern »offizielles Dokument« darstellte, als sie gelesen und begutachtet wurde, unter anderem von Walter Hollitscher, zu dessen Kritikern Harich gehörte. In der Einleitung zu dem Herder-Band, die teilweise (nicht vollständig) aus der Dissertation hervorgewachsen ist, hatte Harich die Gehlen-Kritik dann weggelassen. Gleichwohl aber war diese Kritik keine Anbiederung oder Opportunismus, da sie sich so auch in den in diesem Band vorgestellten Experten Harichs zu den Werken Gehlens findet. Die wahrscheinlich bedeutendste Würdigung des wissenschaftlichen Werkes von Gehlen, die je in der DDR erschienen ist, veröffentlichte Harich 1953 unter dem Titel Über die Empfindung des Schönen in der Sinn und Form. Der Beitrag kommt diesem Band erneut zum Abdruck.57 Jetzt ließ Harich, vielleicht auch motiviert durch die neuen 55 56 57
Band 1.2, S. 711 f. Band 1.2, S. 864. Über die Empfindung des Schönen, in: Sinn und Form, 1953, Heft 6, S. 122–166.
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intellektuellen Freiheiten, die sich nach den Ereignissen des Jahres 1953 ergeben hatten,58 jede Zurückhaltung fallen. Den Kern des Aufsatzes bildet eine um die zehn Seiten umfassende Kompilation von Zitaten aus Gehlen Menschen. Kritik, die geübt wird, ist nicht ideologisch oder politisch motiviert, sondern rein wissenschaftlich. Als Ziel des Aufsatzes kann der Versuch ausgemacht werden, an einzelnen Punkten zu zeigen, inwieweit die Überlegungen und theoretischen Versatzstücke bei Gehlen zum Marxismus kompatibel sind, d. h. letztlich, den Menschen als eine Art Bergwerk zu betrachten, aus dem sich die marxistische Philosophie wertvolle Erze herausbrechen könne. Gemeinsamkeiten würden sich beispielsweise darin zeigen, dass Gehlen Theorien kritisiere, denen auch der Marxismus konträr gegenüberstehe: »Gehlen kämpft in seiner Anthropologie gegen drei Gegner: Erstens gegen die Rassentheorie, die den Hinweis auf differenzierende äußere, körperliche Merkmale für einen Einwand gegen das Bestehen allgemeiner Wesenszüge des Menschen hält; zweitens gegen alle Theorien, die den Menschen als Trieb- und Instinktwesen fassen (von Schopenhauer bis zur Psychoanalyse); drittens gegen die idealistische Geistmetaphysik, die die Bewusstseinsvorgänge verselbständigt und substanzialisiert und nur in ihnen das qualitative Novum der menschlichen Natur erblickt. Gleichfalls verfällt das ontologische Schichtungsschema der Ablehnung, das die beiden letzteren Anschauungen eklektisch verbindet und mit seinen Kategorien ›Organismus‹, ›Seele‹, ›Geist‹ das umgreifende, einheitlich ›durchlaufende‹ Strukturgesetz des Menschen unfassbar macht.«
Weiter heißt es dann, dass Gehlen den Menschen »in seiner physisch-geistigen Totalität als das handelnde, praktische Wesen interpretiert«, das ja auch der Marxismus im Blick habe, nicht zuletzt seit Friedrich Engels’ Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. »Der Mensch ist für Gehlen vermöge des Handelns – ›Gegenbegriff zum Tier‹. Das Verhalten der Tiere zeigt, dass sie alle – ›vom Regenwurm bis zum Schimpansen‹ – in die Natur eingebunden und in ihren Aktionen durch Triebe bestimmt sind. Im Gegensatz dazu gewinnt der Mensch im Handeln Distanz zur Natur; sein Verhalten ist nicht festgelegt. Begründet liegt der Unterschied tierischen Verhaltens und menschlicher Handlung 58
Siehe exemplarisch die beiden Aufsätze in der Broschüre: Amberger, Alexander; Heyer, Andreas: Der konstruierte Dissident. Wolfgang Harichs Weg zu einem undogmatischen Marxismus, Berlin, 2011.
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in einer unterschiedlichen Lebensausstattung. Gehlen weist dies in ausführlicher Untersuchung der morphologisch-konstitutionellen, sinnes-psychischen und triebmäßigen Erscheinungen nach und gelangt so zur Gegenüberstellung einer biologisch spezialisierten, umweltangepassten Organausstattung auf der einen und einer unspezialisierten, ›weltoffenen‹ Mängelausstattung auf der anderen Seite. Der Mensch ist, vom Tier her gesehen, ›Mängelwesen‹; als solches findet er das Leben als Aufgabe vor und ist gezwungen, seine Mängel in Chancen seiner Lebensfristung umzuarbeiten – durch das Handeln, das Arbeit, Praxis, Voraussicht, Naturbeherrschung usw. einschließt.«
Dies kann hier – im Rahmen der Spurensuche – genügen, weitere Hinweise folgen an anderen Stellen.
Harich (links) bei der Trauerfeier für Paul Rilla (1954)
1954 erschien dann im Aufbau-Verlag in zwei Bänden die von Harich initiierte gegen zahlreichen Widerspruch seitens der Partei durchgesetzte (die wichtigen Gutachten schrieben Paul Rilla, Georg Lukács und Hans Mayer) Ausgabe der Biographie Herders von Rudolf Haym. Dem ersten Band war eine sehr lange Einleitung vorangestellt, die kurz darauf als eigenständiges Buch erneut erschien.59 Erneut waren es Herders Überlegungen zur Anthropologie, die dazu führten, dass Harich auf Gehlens Anthropologie und Philosophie einging. Die entsprechende Passage lautet: 59
Neu abgedr. in: Band 4, S. 311446. Dort auch eine ausführliche Einleitung (Rudolf Haym und die bürgerlichen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts) des Herausgebers, S. 291–310.
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»Ähnlich steht es mit den tiefen Ahnungen Herders, auf die uns die neue anthropologische Forschung hat aufmerken lassen. Wir denken dabei an den genialen Beitrag zur Grundlegung der philosophischen Anthropologie, der in der Preisschrift Über den Ursprung der Sprache (1770) enthalten ist und der in unserer Zeit Arnold Gehlen dazu veranlasst hat, sich auf Herder als Vorgänger zu beziehen.60 Gehlen hebt, wo er die prinzipielle Verschiedenartigkeit des Umweltverhältnisses von Mensch und Tier bestimmt und auf die biologische Hilflosigkeit als qualitatives Charakteristikum des Menschen zu sprechen kommt, ganz richtig hervor, dass Herder auf dem Weg zu einer Theorie, die diesen Phänomenen endlich gerecht wird, schon wesentliche Schritte getan habe. Er übersieht dann aber, dass seine eigene Anthropologie, indem sie den Menschen als ›Mängelwesen‹ definiert und sich auf die Fötalisationshypothese von Bolk stützt, in ihrer Grundtendenz mit dem Herderschen Humanismus unvereinbar, ihm diametral entgegengesetzt ist. Herder hat die ›Besonnenheit‹, d. h. den Inbegriff der Qualitäten, durch die der Mensch sich von der Tierwelt unterscheidet, eben keineswegs nur als Ausgleich jener ›Instinktreduktion‹ aufgefasst, in der wir heute das psychische Korrelat der organischen Mängel des homo sapiens erblicken. Er hat vielmehr in dem qualitativen Novum des Menschen, und zwar auch in der organisch-instinktmäßigen Seite desselben, ebenso eine Verfeinerung gesehen und sich entschieden dagegen gewehrt, dass die ›Kräfte der Menschheit‹ etwa für bloße ›Schadloshaltungen‹ gegen die ›ihr versagten größeren Tiervollkommenheiten‹ erklärt würden.61 Wer sich den Sinn dieser Abweichung klarmacht, wird gewahr, dass die Theorie vom ›Mängelwesen‹ im Grunde nur die mit negativem Vorzeichen versehene, die pessimistisch diffamierende Spielart jenes selben Biologismus ist, der sonst die qualitative Überlegenheit des Menschen als selektiven Vorzug zu missdeuten pflegt. Das aber heißt: Auch auf anthropologischem Gebiet ist die bürgerliche Philosophie in einer falschen Alternative befangen, die es ihr unmöglich macht, der tiefen Dialektik Herders zu folgen.«62
Aus diesen Feststellungen zog Harich die Konklusion: »Und auch hier wieder kann nur der Marxismus die Problemlösung an die Hand geben, die dies zu tun gestattet. Indem der Marxismus grundsätzlich Höherentwicklung und Rückbildung als Momente eines einheitlichen, in sich widerspruchsvollen Prozesses auffasst (man denke an Engels’ Analyse des Überganges von der Gentilgesellschaft zur Sklaverei) 60
61 62
In Klammern verwies Harich auf: Gehlen: Der Mensch, 4. Aufl., Bonn, 1950, S. 77 ff. Im Folgenden werden Harichs Fußnoten zu Zitaten seiner Texte durch das Kürzel (WH) kenntlich gemacht. (WH) Vgl. z. B. Zur Philosophie der Geschichte, Berlin, 1952, Bd. 1, S. 397 f. Band 4, S. 435 f.
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und im speziell Anthropologischen alle Besonderheiten des Menschen auf die Kategorie Arbeit rückbezieht, kann er an der humanistischen Tendenz, den Menschen als etwas ungleich Vollkommeneres als die Tierwelt aufzufassen, festhalten, ohne die biologischen ›Mängel‹ und ›Lücken‹ zu übersehen, und kann umgekehrt diese berücksichtigen, ohne die Menschwerdung als eine Summe von ›Retardationen‹ und ihr Resultat als einen Defekt der Natur, als ein stehengebliebenes Vorschimpansenembryo, das geschlechtsreif geworden ist (Bolk), zu interpretieren. Inhaltlich, in ihren konkreten Aussagen, fällt die marxistische Anthropologie selbstverständlich ganz anders aus als der Herdersche Lösungsversuch. Aber sie allein vermag dessen Großartigkeit zu ermessen, weil nur sie imstande ist, die Errungenschaften, die in ihm vorgeahnt sind, und die humanistischen Tendenzen, die ihn auszeichnen, auf die Höhe reeller Wissenschaft zu heben. Was die Herder-Biographie Rudolf Hayms betrifft, so ist sie entstanden, lange bevor diese Problemsituation der modernen Anthropologie in die bürgerlichen Wissenschaften durchgedrungen war. Doch die Deutung der menschlichen Fähigkeiten als selektiver Vorzüge, wie sie sich aus den metaphysischen Schwächen der Darwin-Haeckelschen Theorie ergibt, kann Haym nicht unbekannt gewesen sein, und die Schriften von Marx und Engels, in denen diese Deutung, sei es implizit, sei es explizit, widerlegt wird, waren für ihn immerhin Werke von Zeitgenossen. Wäre Haym mit marxistischer Dialektik ein wenig vertraut gewesen – und nur sein Klassenstandpunkt hinderte ihn daran, es zu sein –, er hätte an dem bleibenden Wahrheitsgehalt der Herderschen Anthropologie, an den Argumenten, die sich ihr für den Kampf gegen biologistische Fehldeutungen der menschlichen Natur entnehmen lassen, nicht so vollständig vorbeigehen können, wie er es in seiner Interpretation der Schrift Über den Ursprung der Sprache getan hat.«63
Eine weitere Würdigung Gehlens durch Harich, die hier wiedergegeben kann, ist privater Natur. Der 2. Band dieser Edition enthält die Auseinandersetzung Harichs mit den Fragen der Logik.64 Es erschienen von ihm in diesem Zusammenhang zwei Aufsätze, einer in der Sinn und Form, der andere im ersten Heft der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, der Harich als Chefredakteur vorstand, in denen dieser gegen die Anschauungen von Ernst Hoffmanns und damit gegen die Position der SED ankämpfte. Der Redaktionssekretär der Zeitschrift war Klaus Schrickel, mit dem Harich und die anderen Herausgeber, vor allem Ernst Bloch, zahlreiche Probleme hatten, so dass dieser
63 64
Band 4, S. 436 f. Siehe hierzu: Heyer: Die Logik-Debatte in der Frühphase der DDR-Philosophie, 1951–1958, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4, 2013, S. 577–592.
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von ihnen immer wieder als Dogmatiker und Sektierer bezeichnet wurde.65 An Harichs Logik-Aufsatz übte Schrickel eine umfassende Kritik, um dessen Abdruck in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie zu verhindern. Am 8. Februar 1953 schrieb ihm Harich: »Die bürgerlichen Autoren, von denen sich meine Ansichten ›in letzter Instanz‹ herleiten, möchtest Du kennen? Bitte, hier sind sie (es sind aber außer bürgerlichen auch noch sklavenhalterische dabei): Platon, Euthydemos, Menon, Parmenides, Sophistes, Theaitetos, Aristoteles, Metaphysik, Organon; Porphyrios, Isagoge zum Organon; Hegel, Wissenschaft der Logik; Ueberweg, System der Logik; Prantl, Geschichte der Logik; Husserl, Logische Untersuchungen; Nicolai Hartmann, Platos Logik des Seins, Metaphysik der Erkenntnis, Zur Grundlegung der Ontologie, Möglichkeit und Wirklichkeit, Der Aufbau der realen Welt; über Sprache und Denken, Wilhelm von Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts; über Sprache und Denken, Arnold Gehlen, Der Mensch; Paul F. Linke (zwei Zeilen nicht lesbar, AH); Heinrich Maier, Die Syllogistik des Aristoteles, Logik und Erkenntnistheorie.«66
Und er fügte anschließend hinzu: »Von modernen bürgerlichen Philosophen hat mich in puncto Logik am meisten Nicolai Hartmann beeinflusst. In entscheidendem Gegensatz zu Hartmann stehen sich in folgenden Punkten: Ich lehne erstens die Hartmannsche ›ideale Seinssphäre‹ als Ort der logischen Gesetze ab – zwar als schlechter verkappten Platonismus. Zweitens gehe ich – im Gegensatz zu Hartmann – von der Einheit von Sprache und Denken aus und behaupte daher die völlige logische Indifferenz der Denkformen, die in der grammatikalischen Struktur der Sprache fundiert sind. In diesem letzteren Punkt verstehe ich unter dem Einfluss von Herder, Wilhelm von Humboldt und Gehlen. In der Verteidigung der absoluten Gültigkeit der logischen 65 66
Harich mit Tochter Katharina (ca. 1953)
Harichs Kritik an Klaus Schrickel ist in den Bänden 9 und 1.3 nachzulesen, dort alle relevanten Äußerungen, Briefe usw. Band 1.3, S. 1673.
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Gesetze stehe ich unter dem Einfluss der Kritik, die Ueberweg und – teilweise – Trendelenburg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an Schellings und Hegels Äußerungen zur Logik geübt haben. In der Betonung der zentralen Bedeutung der Syllogistik bin ich von Aristoteles sowie von dem gültigsten Interpreten des Aristotelischen Organon, Heinrich Maier, beeinflusst.«67
Gehlens Philosophie wurde von Harich in diesen Ausführungen in eine wissenschaftliche Tradition gestellt, die deswegen für Harich wichtig war, da sie eben streng wissenschaftlich verfuhr – und somit abseits ideologischer Schranken und Barrieren, Differenzen genutzt werden könne und weiterentwickelt werden müsse. ***** Mehr als nur erwähnenswert ist sicherlich, dass Harich in den fünfziger Jahren, über den Artikel in der Sinn und Form hinausgehend, mehrfach plante, seine Überlegungen zur Anthropologie zu Papier zu bringen. (Eine Auswahl der entsprechenden erhaltenen Manuskripte bietet der vorliegende Band.) Zuerst dachte er daran, einen Aufsatz für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie zu schreiben, was den strategischen Vorteil gehabt hätte, dass er das Organ als Chefredakteur maßgeblich bestimmte und inhaltlich füllte68 und außerdem die Gutachter und Mitherausgeber gut kannte. Am 12. Januar 1953 schrieb er an Kurt Hager einen Brief, in dem er den von ihm und den anderen Herausgebern aufgestellten »Themenplan zum Karl-Marx-Jahr 1953« mitteilte. In der Deutschen Zeitschrift für Philosophie sollte das Karl-Marx-Jahr neben der normalen Zeitschriftentätigkeit intensiv begangen werden. (Wie in vielen anderen Periodika der DDR auch, so dass beispielsweise ein echter Kampf der verschiedenen Herausgeber um Aufsätze von Lukács oder Bloch entbrannte.)69 Für das dritte Heft 1953 schlug Harich folgenden Aufsatz vor – deklariert übrigens als »Beitrag mit indirekter Beziehung zum MarxJahr«: »Wolfgang Harich, Neue Anthropologie in Deutschland. Kritische Auseinandersetzung mit der Anthropologie von Arnold Gehlen und mit der darüber in westdeutschen philosophischen Zeitschriften stattfinden Diskussion. Die Arbeit nimmt eine aktuelle westdeutsche philosophische Diskussion zum Anlass, zu zeigen, dass die Probleme der Anthropo67 68 69
Band 1.3, S. 1673 f. Siehe hierzu beispielsweise seinen Brief an Ernst Bloch vom 19. April 1953, in: Band 1.3, S. 1675–1679. Nachzulesen sind diese »Kämpfe« in jenen Briefen Harichs, die im 9. Band enthalten sind.
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logie der Lehre von Marx und Engels – genauer: in den Feuerbach-Thesen, in der Deutschen Ideologie, in der Analyse des Arbeitsprozesses in Kapitel 5 des Kapital und in Stalins Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft ihre wissenschaftliche Lösung finden. Dabei wird ein Zweifrontenkampf geführt – einerseits gegen die religiösen und existenzialistischen westdeutschen Kritiker, die die progressiven Seiten der Gehlenschen Anthropologie (Betonung der Einheit von Sprache und Denken, der Praxis als des Zentrums aller spezifisch menschlichen Leistungen usw.) angreifen, und andererseits gegen reaktionäre Tendenzen, die die Gehlensche Anthropologie aufweist (Agnostizismus in der Abstammungsfrage, reaktionäre Tendenzen in der Behandlung gesellschaftlicher Probleme).«70
Doch der Aufsatz wurde nicht fertig, da Harich die Arbeit an ihm immer wieder unterbrach. 1955 stand dann die Zelebrierung der Geburtstage von Lukács und Bloch (beide erblickten 1885 das Licht der Welt) an.71 Zur Festschrift für Lukács, die Harich im Aufbau-Verlag organisierte und betreute, steuerte er einen Beitrag bei, in dem er sich vollumfänglich zu den Theorien von Lukács bekannte.72 Zur Festschrift für Bloch wollte er nun einen Aufsatz zur Anthropologie schreiben. Allerdings geriet ihm das Manuskript zu lang. Es kommt, leider nur teilweise erhalten (wenn Harichs folgende Darstellung gegenüber Janka, was den Stand der bereits ausgeführten Arbeiten betrifft, zutreffend ist), im vorliegenden Band an erster Stelle unter dem Titel Der Gegenstand der Anthropologie zum Abdruck. An Walter Janka schrieb Harich am 19. April 1955: »Lieber Genosse Janka! Ich würde gerne mit dem Aufbau-Verlag über den folgenden Titel einen Vertrag abschließen: Wolfgang Harich: Zur Grundlegung der Anthropologie. Es handelt sich um eine philosophische Arbeit, die ursprünglich für die im Deutschen Verlag der Wissenschaften erscheinende Festschrift für Ernst Bloch gedacht war, für diesen Zweck aber viel zu lang geraten ist – über 200 Schreibmaschinenseiten – und aus sachlichen Gründen nicht sich kürzen lässt, dort also nicht abgedruckt werden kann. Sie umfasst die Kapitel: Vorwort; I. Terminologisches, Äquivokationen; II. Das Problem der Gegenstandsbestimmung; III. Das Problem der Klassifikation der Wissenschaften und die An70 71 72
Band 1.3, S. 1664 f. Hierzu die Ausführungen in: Heyer: Ernst Bloch und Wolfgang Harich, in: Band 1.3, vor allem S. 1757–1760. Harich: Georg Lukács zum Siebzigsten Geburtstag, in: Georg Lukács zum Siebzigstem Geburtstag, Berlin, 1955, S. 79–86. (Neuabdr. in: Band 9, S. 327–333.)
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thropologie; IV. Zur Geschichte der Anthropologie; V. Exkurs über das Verhältnis von Philosophie und positiver Wissenschaft; VI. Der Biologismus als exemplarischer Gegner; VII. Marxismus und Anthropologie; VIII. Anthropologische Abstraktion und historische Konkretheit; IX. Mensch und Arbeit; Literaturverzeichnis; Register. – Fertig sind die Kapitel I-VIII, die zusammen eine in sich geschlossene Arbeit ergeben, die aber zweckmäßigerweise noch durch das erst im Rohzustand befindliche IX. Kapitel und ein Vorwort ergänzt wird. Ich würde mich verpflichten, das Ganze in endgültiger Fassung am 1. Juli dieses Jahres druckfertig zu liefern. Das Buch könnte in derselben Aufmachung wie Rudolf Haym und sein Herderbuch hergestellt werden und würde auch etwa denselben Umfang haben, vorausgesetzt, dass dieselbe Schrift gewählt wird. Als Auflage würde ich 5 000 Exemplare empfehlen. Als Gutachter schlage ich im Hause Dr. Bassenge und Genossen Casper, außerhalb des Hauses Genossen Matthäus Klein vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut beim ZK der SED vor.«73
Janka vermerkte auf seinem Exemplar des Briefes (erhalten im Archiv des Aufbau-Verlages) handschriftlich »einverstanden«. Doch die Zeiten waren der Anthropologie nicht wohl gesonnen, schon gar nicht der Rezeption eines Autors wie Gehlen in der DDR. Und es wurde noch problematischer. Die Deutsche Zeitschrift für Philosophie war von Anfang an von der Partei kritisch beäugt wurden. 1954/1955 spitzte sich die Kritik an der Zeitschrift nach der Babelsberger Konferenz zu, Alfred Kosing vertrat sie nach außen.74 An Lukács schrieb Harich am 19. Mai 1954: »Ende Mai findet hier eine kleine Konferenz der Parteiphilosophen und derer, die es werden wollen, statt. Vier Tagesordnungspunkte: 1) Genosse Gropp über Entstellungen der marxistischen Philosophie in der DDR; 2) Genosse Harich über unser Verhältnis zur klassischen deutschen Philosophie; 3) Genossen Besenbruch und Heise über einige aktuelle Fragen der marxistischen Ästhetik; 4) Genosse Kosing: Kritik der bisher erschienenen Hefte der philosophischen Zeitschrift. In den Einladungen findet sich die Bemerkung, dass die Referenten ihre persönliche Meinung wiedergäben. Da nun die anderen Referenten alle links neben sich selber stehen, werde ich sicher fürchterliche Prügel beziehen. Was Gropp für Entstellungen der marxistischen Philosophie hält, wissen Sie ja. Besenbruch und Heise nehmen mir einen Aufsatz in Sinn und Form über die Empfindung des Schö73 74
Band 1.3, S. 1629. Kosings Frontalangriff auf die Zeitschrift wurde in der Einheit veröffentlicht und spiegelte damit die offizielle Parteimeinung wider: Kosing, Alfred: Wird die Deutsche Zeitschrift für Philosophie ihren Aufgaben gerecht?, in: Einheit, Heft 3, März 1955, S. 299–303.
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nen übel (zum Teil übrigens nicht ganz mit Unrecht, aber unter maßloser Überspitzung dessen, was sich tatsächlich dagegen einwenden ließe). Kosing gar hat gegen die philosophische Zeitschrift die schlimmsten Ressentiments. Es geht ihm wie dem Mann, der beim Zahnarzt im Wartezimmer ein Buch liest, das ihm nichts als Kopfschütteln abnötigt, dann feststellt, dass es sich um die Hamburgische Dramaturgie von Lessing handelt, und es kopfschüttelnd weglegt mit den Worten: ›Die Sorgen von Herrn Lessing möchte ich auch mal haben.‹ In diesem Sinne findet Kosing zum Beispiel eine Auseinandersetzung mit Kierkegaard ›völlig abwegig‹, während er andererseits die logisch-mathematischen Formeln von Karl Schröter von Rudolf Haym um 1847 wegen ihrer Exaktheit und als Symbole des Bündnisses mit fortgeschrittener bürgerlicher Wissenschaft durchgehen lässt. Na, ich werde tüchtig zurückprügeln.«75
Harich sah sich als Chefredakteur gezwungen, im ersten Heft des Jahres 1956 eine dieser so genannten »selbstkritischen« Stellungnahmen zu veröffentlichen, die der Stalinismus so vielen abverlangt hat. Sein Textentwurf wurde mehrfach von Funktionären der Partei gegengelesen, bis er schließlich erscheinen konnte, musste.76 Im Folgenden wird die entsprechende Passage ausführlich wiedergegeben, damit nachvollzogen werden kann, in welche Linie die offizielle Kritik an Gehlen bzw. an dessen Würdigung in der DDR zu stellen ist: »Es muss in diesem Zusammenhang auch einmal offen darüber gesprochen werden, dass eine prinzipienfeste und dabei im einzelnen sorgfältig differenzierende Auseinandersetzung mit bestimmten Erscheinungen im philosophischen Leben unserer Republik, mit unseren philosophischen Gegnern sowohl wie mit unseren Bundesgenossen, not tut. Das beginnt damit, dass wir die Pflicht haben, der zum Teil außerordentlich wirksamen religiösen 75 76
Band 9, S. 272 f. Redaktion der DZfPhil: Über die Lage und die Aufgaben der marxistischen Philosophie in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 1, 1956, S. 5–34. Abdr. von Harichs Version »letzter Hand« in: Band 1.3, S. 1692–1730.
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Propaganda entgegenzuwirken, die von den Kirchen ausgeht.77 [Ebenso wichtig wäre die] Kritik an bürgerlichen Philosophen, die an unseren Philosophen lehren. Wenn z. B. Günter Jacoby, auf Grund seiner Ablehnung des subjektiven Idealismus, mit dem Anspruch auftritt, [zur Weiterentwicklung des] dialektischen Materialismus beigetragen zu haben, und dabei die Theologie zu einem unerlässlichen Bestandteil der Philosophie erklärt, ja den kosmologisches Gottesbeweis zu erneuern versucht, so bedarf es keiner weiteren Begründung [dafür], dass wir dem entgegentreten müssen; das kann aber nur auf dem Weg einer [eingehenden], sachlich begründeten Kritik der Jacobyschen Ideologie geschehen. Die in den vergangenen Jahren häufig geübte Praxis, den bürgerlichen Philosophen, der bei uns lebt und arbeitet und durch seine Lehrtätigkeit wie [in] Publikationen natürlich auch seine Ideen verbreitet, entweder durch Taktlosigkeiten zu verärgern oder aber durch sachliche Konzessionen zu ›beruhigen‹, ist falsch und schädlich. Wir können in diese Reihe unseren Freund Ernst Bloch, der sich seit Jahrzehnten als leidenschaftlicher Vorkämpfer der Interessen der deutschen Arbeiterklasse bewährt hat, selbstverständlich nicht stellen.78 Im Gegenteil: In [mehr als einer] Hinsicht verehren wir [in] Ernst Bloch [, diesem großen Sozialisten und wirklich schöpferischen Denker unserer Zeit,] unser Vorbild und sind uns dessen bewusst, dass wir aus seinen bedeutenden Werken viel lernen können. Das kann aber nicht [heißen], dass wir an offensichtlich problematischen Thesen, die [Bloch] vertritt und mit denen er den dialektischen Materialismus zu [bereichern glaubt], kritiklos vorbeigehen dürften. [Das geschieht aber.] Die Auseinandersetzung mit Werken wie Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel und Das Prinzip Hoffnung ist bei uns absolut ungenügend, es sind bisher weder die positiven, zum Teil bahnbrechend neuen Gedanken, die in diesen Büchern stehen, hinreichend gewürdigt, noch sind ihre fragwürdigen Seiten einer gründlichen, [sachgerechten] Kritik unterzogen worden. Dies ist um so weniger zu verstehen, als neuerdings bereits Bloch-Epigonen bei uns auftreten, die von dem kämpferisch-humanistischen Geist ihres Meisters zwar nicht mitbekommen, dafür 77
78
Die folgenden Ausführungen sind in den früheren Entwürfen des Artikels nicht enthalten. Offensichtlich wurden sie nach ersten Diskussionen gegen Harichs ursprünglichen Willen hinzugefügt. Siehe hierzu den Einfluss von Alfred Kosing und Matthäus Klein, der etwa bei dem Disput um Harichs Vademecum deutlich wird. Zudem fehlen auch in dieser abschließenden Version von Harichs Artikel die Passagen der Kritik an Paul F. Linke, die sich im späteren Leitartikel finden. Sie wurden noch später hinzugefügt. Im gedruckten Leitartikel wurde Harichs Vorlage dann in ihr Gegenteil verkehrt. Zudem wurden die letzten Sätze der Passage zu Bloch weggelassen, in der die potentielle Kritik an Bloch auf dessen Schüler umgelenkt wird. Bloch war über die ihn betreffenden Passagen des Leitartikels verärgert, allerdings versöhnte er sich nach einem Gespräch sofort mit Harich. Ein weiterer Indikator dafür, dass dieser nachweisen konnte, dass die kritischen Passagen nicht von ihm stammten.
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aber ihm die Äußerlichkeiten seines Stils abgeguckt haben, die [sie] unbeholfen [genug] nachstümpern. Es versteht sich, dass diese Leute gerade an die problematischsten Gedanken Blochs, z. B. an seine [positive Wertung] des alten Schelling [u. dgl.] anknüpfen. Damit ist bereits gesagt, dass Kritik und Selbstkritik in unseren eigenen Reihen zu wünschen übrig lassen. Wir müssen uns freilich stets darüber klar sein, wo Feind und Freund [steht, müssen wissen], dass unser Kampf sehr falsch proportioniert wäre, wenn wir vor lauter – womöglich pedantisch kleinlicher – Kritik an neuen Büchern und Aufsätzen marxistischer Philosophen vergäßen, unausgesetzt die Ideologen des Imperialismus anzugreifen. Auch dürfen wir keineswegs dulden, dass Fehler, die einem mit neuen Fragestellungen ehrlich ringenden Genossen unterlaufen, als Versuche einer Einschmuggelung feindlicher Ideologie angeprangert werden. Durch solche Übertreibungen würde nur Charakterlosigkeit großgezüchtet und der Mut zu schöpferischer Arbeit beeinträchtigt werden, und gerade daran wäre dem Klassenfeind in erster Linie gelegen. Aber dies vorausgeschickt, muss doch bemerkt werden, dass es eine Reihe von Fällen gibt, [in denen] marxistische Philosophen bei uns mit offensichtlich falschen, [objektiv] schädlichen Auffassungen aufgetreten sind, ohne dass auch nur ein leises Wort der Kritik an ihnen laut geworden wäre. Das gilt für die objektivistische Stellungnahme von Robert Schulz zur Soziologie Alfred Webers, und es gilt ebenso für den Versuch Wolfgang Harichs, [Gedanken aus der] Anthropologie Arnold Gehlens [zu einer] Theorie des ästhetischen Empfindens zu verarbeiten, die deutlich biologistische Züge trägt. Von einer [ins Einzelne gehenden] Beurteilung der Beiträge zu den Diskussionen in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie wollen wir hier absehen, [da uns nicht daran gelegen sein kann, als Redaktion in einen noch nicht zum Abschluss gediehenen Meinungskampf einzugreifen.] Auch hier aber ließe sich nachweisen, dass [gelegentlich] marxistische Philosophen unserer Republik in Fragen, die bereits geklärt sind, falsche Auffassungen [verfochten] haben, denen von späteren Diskussionsteilnehmern gar nicht, oder in ganz ungenügender Weise, entgegengetreten wurde. Es ist also klar, dass [vor uns die dringende Aufgabe steht], dass [wir] viel häufiger und gründlicher als [es geschieht] zu unseren Veröffentlichungen gegenseitig kritisch Stellung nehmen [müssten, wenn] damit jeder einzelne von uns instand gesetzt [werden soll], die Fehler und Schwächen seiner Arbeit zu erkennen und zu überwinden.«79
***** Auch wenn Harich in den fünfziger Jahren den Versuch einer Bestimmung der Anthropologie in marxistischer Perspektive in direkter und intensiver Anlehnung an die 79
Band 1.3, S. 1719–1721.
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Arbeiten Gehlen unternahm, so führte das keineswegs dazu, dass er sich der bürgerlichen Philosophie vollständig anschloss. Gehlen blieb auf dem Feld der Anthropologie »die eine« Ausnahme. Andere Forscher wie Max Scheler oder Helmut Plessner rezipierte er stillschweigender und weitaus kritischer, die Wahrnehmung von »Größe und Grenzen« verschob sich im Gegensatz zu Gehlen ganz klar in Richtung Beschränktheiten des bürgerlichen Horizonts. Auch sonst waren grundlegende Paradigmen der, seiner marxistischen Weltsicht auch in seinen Versuchen zur Anthropologie präsent, so wenn beispielsweise an die Kritik an Martin Heidegger in dem Manuskript Der Gegenstand der Anthropologie (das im vorliegenden Band als erstes zum Abdruck kommt) gedacht wird. Konsequenz dieser Verortung der eigenen Theorie war, dass Harich das für ihn fast schon charakteristischer Verfahren des Umgangs mit bürgerlichen Theorien anwendete. Diese müssten ihm zu Folge vor dem Erbantritt des Marxismus und ihrer Weiterentwicklung im Marxismus erst einmal, es sei ganz banal benannt, »entrümpelt« werden. Vielleicht sogar zuerst auf terminologischer Ebene. In dem Manuskript Marxismus und Anthropologie is nachzulesen, dass gerade auf dem Gebiet der Anthropologie ein Begriffswirrwarr herrsche, das vieles verstelle: »Ein paar wahllos herausgegriffene Beispiele mögen das verdeutlichen. Wenn etwa Kant in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798) die subjektiven Bedingungen für die Ausführung der sittlichen Gesetze behandelt; wenn die Anthropologie des jüngeren Fichte (1856) im Untertitel Lehre von der menschlichen Seele zu sein verspricht und sich von gewöhnlicher Psychologie dann darin unterscheidet, dass das dritte Kapitel, über die ›Verleiblichung der Seele‹, eine Art Ausdruckskunde entwirft; wenn Feuerbach seine Religionskritik, welche die Götter zu Projektionen des menschlichen Wesens erklärt, als Auflösung der Theologie in Anthropologie charakterisiert; wenn Tschernyschewski, schreibt, die Anthropologie sei ›eine Wissenschaft, die bei der Behandlung jedes Teiles des menschlichen Lebensprozesses stets daran denkt, dass dieser ganze Prozess und alle seine Teile sich im menschlichen Organismus abspielen‹ usw., so sind das nach Standpunkt und Thematik sicher kaum noch vergleichbare Bestrebungen. Sie haben aber zweifellos dies gemeinsam, sich wirklich in der einen oder anderen Weise auf den Menschen zu beziehen. Und dasselbe gilt für die verschiedenen positiven Wissenschaften, die nacheinander, zum Teil auch nebeneinander, als Anthropologie aufgetreten sind: Es gilt für das vergleichende Studium menschlicher Schädel, das sich die anthropologischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert angelegen sein ließen, es gilt ebenso für die anthropogenetischen Folge-
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rungen aus dem Darwinismus, für die Fahndungen der Fossilienkunde nach dem ›missing link‹ zwischen Mensch und Affe, für die Rassenkunde, die menschliche Vererbungslehre, die Ethnologie, die Prähistorie – um nur die wichtigsten dieser Disziplinen zu nennen. Der Grund dieses eigentümlichen Sachverhalts liegt darin, dass der Mensch ein in der ganzen Realität, soweit sie uns bekannt ist, unvergleichlich komplexes Phänomen darstellt und unter den verschiedensten Gesichtspunkten zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und philosophischer Reflektion werden kann. Aber eben weil das so ist, trifft man nicht bloß eine, der Sache gegenüber neutrale, terminologische Entscheidung, wenn man die eine oder andere der vielen divergierenden Bedeutungen von Anthropologie als für den eigenen Sprachgebrauch verbindlich auswählt, sondern optiert mit einer solchen Wahl, bewusst oder gedankenloserweise, zugleich auch für eine bestimmte theoretische Konzeption, etwa für die Auffassung, dass gerade der anatomische Aspekt – oder der ethnologische, psychologische, moralische usw. – in Bezug auf die Wesenskenntnis des Menschen zentral und ausschlaggebend sei. Und dass das von allen diesen möglichen und denkbaren Aspekten gleichermaßen gelten kann, wird niemand behaupten wollen. Natürlich soll damit nicht gesagt werden, dass irgendeiner Wissenschaft das Recht verwehrt werden könnte, sich einen beliebigen, ihr als geeignet erscheinenden Namen zuzulegen; der Wert ihrer Resultate hängt davon in keiner Weise ab. Wohl aber müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass der überaus anspruchsvolle Name ›Lehre vom Menschen‹ als Bezeichnung für Forschungen, die meist mit einseitiger Problemstellung von einer schmalen Phänomenbasis ausgehen, leicht die Beschränktheit des betreffenden Sachgebiets vergessen macht und so unter Umständen ideologischen Verzerrungen der Wirklichkeit Vorschub leistet. In der Tat legt der geschichtliche Bedeutungswandel von ›Anthropologie‹ – den wir hier nicht im Einzelnen verfolgen können – davon Zeugnis ab, das nur zur oft das Menschenbild der gerade dominierenden Ideologie entscheidend beteiligt gewesen ist, wenn diese Stelle in der Nomenklatur der Wissenschaftssystematik von einer bestimmten Disziplin und keiner anderen besetzt war. Es genügt, an die Tatsache zu erinnern, dass im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Anthropologie, mit der Abstammungsfrage im Mittelpunkt, allgemein als Zweig der Naturwissenschaften aufgefasst wurde, oder daran, dass in der faschistischen Ära Vererbungs- und Rassenforschung ihren Namen beanspruchten.«
In Der Gegenstand der Anthropologie ist in diesem Sinne zu lesen: »Es ist offenbar unerlässlich, dass wir uns hier zunächst und vor allem weiteren eines sinnvollen und eindeutig zu umgrenzenden Begriffs von Anthropologie versichern. Da
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empfiehlt es sich dann, auf die schlichte Wortbedeutung ›Lehre vom Menschen‹ zurückzugreifen und diese möglichst neutral zu halten. Tun wir dies, so haben wir zwar noch nicht den Gegenstand der Anthropologie näher bestimmt, haben uns aber grundsätzlich bereits dafür entschieden, unter ihr eine Disziplin und nichts weiter zu verstehen, also keine Denkweise, keine Einstellung, keinen philosophischen Standpunkt, der bereits eine bestimmt geartete Anschauung vom Menschen – und womöglich gar eine anthropologische von der Welt – involvierte; wohlgemerkt: Auch den eigenen Standpunkt nicht, den wir überhaupt erst in dieser Disziplin, erst bei der Behandlung ihrer sachlichen Probleme geltend machen könnten.«
Mit einer solchen reduzierten Definition, könne die »Hybris der weittragenden Ansprüche, mit denen Heidegger die Anthropologie belasten will«, überwunden, die »maßlose Überspannung des philosophischen Kompetenzbereichs der Anthropologie« zurückgewiesen werden. Sowohl Heidegger als auch Scheler würden der Philosophie und der Anthropologie einen Bärendienst erweisen, da sie die These aufstellten, dass sich »alle zentralen Probleme der Philosophie auf die Frage zurückführen ließen, was der Mensch sei und welche Stellung und Lage er innerhalb des Ganzen des Seins einnehme«. Dem entgegnete Harich mit einem Einwand, der gerade auch vor dem Hintergrund der die junge DDR-Philosophie beherrschenden Debatten und Diskussionen zu lesen ist: »Die echt philosophischen und höchst zentralen Probleme, was Raum, Zeit, Kausalität, Naturgesetzlichkeit und Substanz sind, wie Notwendigkeit und Zufälligkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit sich zueinander verhalten, ob die organische Natur kausaler oder finaler Determination unterliegt, ob aus unbelebter Materie Leben entstehen und eine Vererbung erworbener Eigenschaften stattfinden kann usw., lassen sich durchaus nicht auf die Frage, was der Mensch sei, zurückführen. Das gerade hieße die Dinge auf den Kopf stellen. Vielmehr gilt umgekehrt, dass die Erarbeitung eines zutreffenden Bildes vom Menschen bereits ein angemessenes Verständnis der Welt voraussetzt, weshalb die Anthropologie, um nicht fehl zu gehen, sich dem Gesamtsystem des Wissens von der Welt, von Natur und Gesellschaft, sinnvoll einfügen muss.«
Die in dieser Aufzählung genannten philosophischen Herausforderungen bezeichnen Gebiete, mit den sich Harich seit den fünfziger Jahren entweder intensiv selbst auseinandersetzte oder die er durch Arbeiten Georg Lukács’ kennen lernte.
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Es ist kaum überraschend, dass Harich zu einer Definition der Anthropologie kam, die methodisch denselben Vorgaben verpflichtet ist wie seine wissenschaftliche Umreißung des Gegenstandsgebiets der Logik (wie bereits angemerkt wurde): »Wir wiederholen, dass im Folgenden unter Anthropologie ausschließlich eine Disziplin verstanden werden soll. Und wir fügen hinzu: Auch innerhalb dieser Disziplin soll nicht etwa ein anthropologisches Denken – falls es das wirklich gibt – postuliert werden, sondern eines, das den allgemeinen Normen der Wissenschaft entspricht. Unter dieser Voraussetzung glauben wir sagen zu können, dass auch marxistische Anthropologie möglich ist, so nämlich, wie die grundlegenden Fragen der Psychologie oder der Rechtswissenschaft marxistisch behandelt werden können. Denn in ihr würde es sich nicht darum handeln, marxistische Prinzipien mit anders gearteten, ›anthropologischen‹ Gesichtspunkten eklektisch zu verbinden – sei es auch nur mit denen Feuerbachs oder Tschernyschewskis (um von dem, was Heidegger unter Anthropologie verstanden wissen will, ganz zu schweigen), sondern einfach darum, dass die Grundlagenprobleme eines bestimmten Sachgebiets wissenschaftlicher Forschung, wie die jedes anderen auch, vom Standpunkt des dialektischen und historischen Materialismus aus in Angriff zu nehmen und einer Lösung entgegenzuführen wären.«
Gleichzeitig müsse sich die Anthropologie darüber klar werden (und ebenso auch die Theoretiker, die diese betreiben), dass es »den Menschen« nicht gebe, dass das Sprechen von diesem, eine – wenn auch wissenschaftlich legitime und notwendige – Abstraktion darstelle.80 Und »der Mensch« sei, um nur das Mindeste zu sagen, immer Teil einer Gesellschaft, die ihrerseits die Individuen (und ihre Sammlungen) determiniere und durch zahlreiche Faktoren (mit dem Primat der Produktionsverhältnisse) determiniert werde. Man müsse »vor allem über einen genügend klaren Begriff des gesellschaftlichen Seins verfügen, d. h. man muss im eigenen Denken die falsche Grundvoraussetzung aller ›Robinsonaden‹ überwunden haben – die Vorstellung, dass von der Abstraktionen eines isoliert allgemein80
»Ohne Zweifel kann es als gesichert betrachtet werden, dass die Realität in den Bereichen Natur und menschliche Gesellschaft durchaus aufgeht, dass sie sich in ihnen sozusagen erschöpft und dass keineswegs außerdem, gleichsam ›daneben‹ dann auch noch ›der Mensch als solcher‹ existiert. ›Der‹ Mensch ist eine Abstraktion, die nur sinnvoll bleibt, solange damit nicht die Vorstellung eines Wesens verbunden wird, das außerhalb der Gesellschaft, unabhängig von der Gesamtheit der wirklichen, historischen Menschen ein Leben für sich führen kann.«
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menschlichen Individuums her sich das Wesen historisch-sozialer Beziehungsgefüge bestimmen ließe. Man muss aber ebenso auch erkennen, dass dieser Fehler seine Kehrseite hat: Die Auflösung der menschlichen Wesenszüge in gesellschaftliche Kategorien, von denen sie realiter zwar fundiert sein mögen, mit denen sie aber keineswegs identisch sind. Und eben dieser Fehler liegt zumindest nahe, wenn man sich weigert, die Unterscheidung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften als Klassifikationsprinzip einer kritischen Überprüfung auszusetzen. Man setzt nämlich voraus, dass eine jede Wissenschaft, die sich auf menschliche Dinge bezieht, eo ipso nur zu den Gesellschaftswissenschaften gehören kann.«
In den Notizen, die sich Harich 1952 zu Gehlens Menschen anfertigte, ging es ihm auch um eine Selbstverständigung darüber, was Anthropologie sei, bedeute. Gehlen hatte, darauf ging Harich als nächstes ein, Anthropologie wie folgt definiert: »Wissenschaft vom Menschen in der Gesamtheit seiner hauptsächlichen Eigenschaften, Merkmale usw., im Hinblick auf die wirkliche Besonderheit des Menschlichen.« Harich kommentierte und interpretierte diese Feststellung wie folgt: »(Also vor der Gesellschaftswissenschaft, die die verschiedenen historischen Gesellschaftsformationen untersucht.) Ist eine solche Fragestellung möglich? Ja, es handelt sich um die Untersuchung von Phänomenen, die von den Besonderheiten der verschiedenen Gesellschaftsformationen unabhängig sind (Arbeit überhaupt, Sprache überhaupt, Denken überhaupt usw.). Nur ist es notwendig, zu beachten, dass es sich um eine – wenn auch mögliche und nötige – Abstraktion handelt. 1) Das spezifisch Menschliche ist nichts fertig Gegebenes. 2) Es entfaltet sich nicht beim isolierten Individuen, sondern nur in der Gesellschaft (Eigenschaften, die zwar am Individuum – und nicht ohne weiteres an der Gesellschaft – auftreten, aber nur dadurch, dass das Individuum in der Gesellschaft lebt, von ihr geformt wird). 3) Das spezifisch Menschliche existiert, wo es überhaupt existiert, immer nur in bestimmter Gesellschaftsformation. Ist wissenschaftliche Anthropologie möglich? 1) Sie ist keine Biologie, da sie nicht auf die Abstammung des Menschen reflektiert, nicht dessen biologische Entstehung zu erklären sucht, sondern das spezifisch Menschliche als solches behandelt, obwohl sie zugibt, dass es nicht ein für alle Mal fertig Gegebenes, sondern historisch entstanden und zu weiterem Ausbau und höherer Entwicklung fähig ist. 2) Sie ist keine Gesellschaftswissenschaft, denn sie bezieht sich auf Phänomene, die in jeder beliebigen Gesellschaftsformation, ohne durch deren Besonderheiten grundlegend berührt zu werden, auftreten (wie die Sprache). Ebenso wenig, wie man die Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens (zum Beispiel die Spontaneität der Ent-
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wicklung der Produktivkräfte) dadurch erklären kann, dass man sich an Eigenschaften des menschlichen Individuums hält (zum Beispiel Zielbewusstheit und Absichtlichkeit des Handelns), ebenso wenig kann man die anthropologischen Phänomene, die nur am Individuum (wenn auch am vergesellschafteten Individuum) existieren, mit den Kategorien der Gesellschaftswissenschaft, mit Basis und Überbau und dergleichen erfassen! (Zum Beispiel Sprechen, Denken, Handeln usw.) Die Gesellschaft wird vielmehr erst im Kommunismus zum menschlichen Subjekt.«
Dies waren Überlegungen, die für Harich prägend waren oder dies wurden, Akzentverschiebungen, Modifikationen usw. natürlich inklusive. Gut erkennbar werden seine Ansichten in dem Brief, den er am 17. März 1952 an Ernst Engelberg schickte. In diesem stellte er das Grundgerüst seiner Konzeption quasi vor, zur Diskussion. Dabei ging er von Überlegungen zur Moral aus (die noch die Hartmann-Manuskripte der achtziger Jahre determinierten). Es hieß 1952 – mit Blick auf die Anthropologie: »Es gibt ein allgemeinmenschliches anthropologisches Substrat der Moral, das mit dem Übergang unseres tierischen Vorfahren zur Arbeit, zur Herstellung und Benutzung von Werkzeugen, zur Produktion der eigenen materiellen Lebensbedingungen durch Arbeit gegeben ist. Zwischen Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung sind Werkzeugherstellung und Werkzeugbenutzung dazwischen geschaltet. Das bedeutet: Der Mensch ist fähig, auf ablenkende Reize nicht zu reagieren, auch wenn sie unmittelbare vitale Bedeutung haben. Er ist fähig, ein Bedürfnis dem anderen, höheren unterzuordnen. Er ist fähig, die Befriedigung unmittelbarer Bedürfnisse gleichsam aufzuschieben und zu vertagen. Er ist fähig, dem ideell antizipierten Resultat über die mühseligen Zwischenhandlungen seiner Verwirklichung hinweg ›treu‹ zu bleiben. Er ist fähig, Entbehrung, Hunger, Strapazen auszuhalten. Er ist fähig, eine einmal begonnene Leistung ›durchzuhalten‹, auch wenn es schwer fällt. Das setzt einen Organismus voraus, der auf qualitativ andere Weise funktioniert wie der der Tiere. Das setzt relative Unabhängigkeit von Trieben und Instinkten voraus, von denen das Tier (vom Regenwurm bis zum Schimpansen) absolut beherrscht wird, die dem Tier die instinkthafte Sicherheit seiner Lebensorientierung verleihen, die aber auch das Tier in der Unmittelbarkeit des Triebdrucks gefangen halten. Den qualitativ neuen Organismus mit seiner Instinktschwäche und seiner Fähigkeit zur vitalen Askese hat sich der Mensch dadurch selbst geschaffen, dass er in der Arbeit durch Millionen von Generationen hindurch das Zuwiderhandeln gegen unmittelbare Bedürfnisse trainierte. Für das spezifisch menschliche Verhalten hat das sehr entscheidende Folgen: Wir sind Herr über unsere eigenen biologischen Triebe. Wir können mit hungrigem Magen
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an den prächtigen Schaufenstern von Delikatessengeschäften vorbeigehen, ohne die Scheibe einschlagen zu müssen. Wir können schönen Frauen erst umständlich den Hof machen, ohne sie gleich vergewaltigen zu müssen. Wir können beim Coitus den Orgasmus willkürlich hinauszögern, was kein Tier kann, können also Liebesspiele à la van de Velde praktizieren. Wir können die schädlichen Überanstrengungen eines sechzehnstündigen Arbeitstages, aber auch die gesunden Strapazen von Sport und Abhärtung auf uns nehmen. Wir können uns um einer Idee willen foltern lassen, auch dann, wenn es uns freistünde, die Idee zu verleugnen, die Genossen zu verraten und dadurch der Folter zu entgehen. Vom einfachsten Arbeitsvorgang (siehe Marx, Kapital, Kapitel 5) bis zu den Phänomenen der Selbstaufopferung und des Heroismus ist die vitale Askese für menschliches Verhalten tief charakteristisch. Jedenfalls hat jeder die Möglichkeit dazu, wenn auch viele nur in geringem Maße davon Gebrauch machen. Diese Möglichkeit ist aber allgemein-menschlich, ist ein schlechthin anthropologisches Phänomen.«
Die wichtigste Herausforderung für Harich bestand sicherlich darin, überhaupt die Notwendigkeit einer marxistischen Anthropologie zu begründen. (Der gegenüber Engelberg vertretene Ansatz, dies über die Bestimmung einer Moral des Sozialismus zu versuchen, er taucht in den Hartmann-Manuskripten modifiziert wieder auf, war eine potentielle Möglichkeit.) Deren Formulierung sei – so schrieb er in Der Gegenstand der Anthropologie – »nicht gar so abwegig ist, wie das manchem auf den ersten Blick hin erscheinen mag«. Ja, Harich ging sogar noch einen Schritt weiter: Der dialektische Materialismus verfüge bereits über verschiedene Aussagen, die zu einer Anthropologie zusammengefasst und erweitert werden könnten.81 Dies war so ziemlich das Gegenteil der »offiziellen« Position – und wie stark diese war, zeigte sich bereits in den Schwierigkeiten, die nur der Druck des Herder-Buches von Rudolf Haym, den Harich letztendlich doch gegen verschiedene Widerstände durchsetzen konnte, machte.82 Mit den 81
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»Wir behaupten nicht weniger, als dass der dialektische Materialismus eine solche Anthropologie bereits einschließt, dass Marx und Engels, Lenin und Stalin ihre Grundsätze klar und eindeutig dargelegt und sogar wichtige Teile von ihr sehr konkret ausgearbeitet haben und dass es nur darauf ankommt, die innere Systematik ihrer diesbezüglichen – freilich verstreuten – Untersuchungen und Hinweise zu erfassen, um sich ein deutliches Bild von ihren anthropologischen Anschauungen zu machen. Und wir behaupten weiter, dass überall dort, wo durch die Entwicklung der Humanwissenschaften neue Probleme spruchreif geworden sind, zu denen keine Äußerungen von ihnen vorliegen, die materialistische Dialektik doch eindeutig die Richtung vorzeichnet, in der die respektiven Lösungen und Antworten zu suchen sind.« Siehe hierzu: Heyer: Rudolf Haym und die bürgerlichen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, in: Band 4, S. 291–310.
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»Klassikern« des Marxismus verband die Parteiphilosophie kein Ja, sondern ein Nein zur Anthropologie. Harich selbst war sich dieser Zusammenhänge bewusst und versuchte, gegen sie zu argumentieren: »Die Frage ist, was – wenn von alledem abstrahiert wird – dann noch übrig bleibt, mit anderen Worten: Ob Abstraktionen wie ›der Mensch‹, ›das Wesen des Menschen‹ und dergleichen überhaupt sinnvoll sind, und ob das, was sie in der angegebenen Allgemeinheit widerspiegeln, noch belangvoll genug ist, um als Gegenstand einer eigenen Wissenschaft in Betracht zu kommen. Und weiter fragt es sich, ob nicht gerade der Marxismus diese Allgemeinheit als illusorisch, als eine Fiktion Rudolf Haym um 1890 erwiesen hat, so dass marxistische Anthropologie nur eine contradictio in adjecto sein kann. Lässt die Natur des Menschen sich vollständig in jenen historischen Besonderungen auflösen, von denen die Anthropologie um der schlechthinnigen Allgemeinheit ihres Gegenstands willen absehen muss, so hat dieser Gegenstand sich offenbar in nichts aufgelöst. Tatsache ist, dass die Klassiker des Marxismus das Abstrakt-Genus ›der Mensch‹ als Kategorie der Gesellschaftslehre für unzuständig erklärt und es in diesem Zusammenhang entschieden abgelehnt und bekämpft haben. Anstatt von ›der‹ Natur ›des‹ Menschen im Allgemeinen zu sprechen, sind Marx und Engels, Lenin und Stalin in ihren Analysen irgendwelcher gesellschaftlicher Erscheinungen jedes Mal von den wirklichen, historischen Menschen ausgegangen, von deren konkreten Beziehungen zur Natur und zu einander, von der geschichtlichen Bewegung ihres ökonomisch-gesellschaftlichen Seins und dessen Widerspiegelung im gesellschaftlichen Bewusstsein, von den in der Geschichte der Gesellschaft auftretenden Klassen und ihren Kämpfen, von den historischen Formen der Produktion, an die die Existenz dieser Klassen jeweils gebunden ist, von der Wechselbeziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in ihrer Entwicklung usw.«
Gerade Marx habe dort, wo er sich gegen die Verallgemeinerung von angeblichen Allgemeinheiten »des Menschen« wendete, wichtige Beiträge dafür geleistet, dass marxistische Anthropologie überhaupt möglich sei. Harich berief sich zur Stützung dieser
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Position zumeist auf drei Zitate, die auch in anderen Kontexten seines frühen Schaffens eine wichtige Rolle spielten. Sie werden im Folgenden in ihren jeweiligen Kontexten wiedergegeben: a) Das Biene-Baumeister-Beispiel aus dem Kapital: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eigenen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muss. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte genießt. Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel.«83 83
Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 23, Berlin, 1968, S. 192 f.
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b) Die 6. Feuerbach-These:84 »Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. Von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann daher nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.«85
Für Harich war diese Stelle einerseits exakte Kritik an Feuerbach und andererseits eine der Grundlagen einer möglichen und notwendigen marxistischen Anthropologie.86 Daneben griff Harich auch mehrfach auf die ersten drei Feuerbach-Thesen zurück:
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85 86
Harich war ein guter Kenner der Philosophie Feuerbachs. Alle wichtigen Texte druckt der 5. Band (zu berücksichtigen sind auch die Bände 3, 4, 6.1 und 6.2). Dort auch sein Aufsatz: Über Ludwig Feuerbach. Zur 150. Wiederkehr seines Geburtstages, in: Band 5, S. 315–325. Nach seiner Haftentlassung betreute er dann die große Feuerbach-Ausgabe der DDR philologisch, freilich ohne Nennung seines Namens. Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin, 1969, S. 5 ff. Harich schrieb: »Worin liegt der entscheidende Fehler Feuerbachs, den Marx hier kritisiert? Er liegt offenbar nicht darin, dass Feuerbach überhaupt das Abstrakt-Genus ›der Mensch‹ verwendet. Wenn es sich so verhielte, dann stünde fest, dass Marx denselben Fehler gelegentlich auch begeht, so zum Beispiel im Kapital, 5. Kapitel, wo es heißt: ›Wir unterstellen die Arbeit in der Form, in der sie dem Menschen (!) ausschließlich angehört.‹ Der Fehler Feuerbachs liegt vielmehr in der Art seiner Begründung der Religionskritik. Feuerbach lehrt, dass jede Gottheit Phantasieprodukt des Menschen sei, derart, dass der Mensch in ihr eine phantastische Projektion seiner eigenen, menschlichen Eigenschaften erzeuge, sie ins Unendliche steigere und als fremde Macht sich gegenüberstelle, um sie zu verehren. Er fasst also die Religion als phantastische ›Entäußerung‹ des ›menschlichen Wesens‹ auf und will das ›religiöse Wesen‹ in das ›menschliche Wesen‹ auflösen. Das alles bedeutet, dass er eine Erscheinung des Überbaus der Gesellschaft, eben die Religion, nicht aus ihrer wahren Basis, dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse mit seiner je historisch bestimmten Produktionsweise, ableitet, sondern aus dem Abstraktum ›der Mensch‹. Damit verfehlt Feuerbach die tatsächliche Grundlage der Religion, und Marx erkennt demgegenüber, dass es zur Erklärung der Religion der Analyse des gesellschaftlichen Seins der Menschen bedarf. Das religiöse Gemüt, sagt Marx, sei selbst ein gesellschaftliches Produkt, und das abstrakte Individuum, von dem Feuerbach ausgeht, gehöre in Wirklichkeit einer je bestimmten Gesellschaftsform an.«
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»(1.) Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus vom dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte: Aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im Wesen des Christenthums nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der ›revolutionären‹, der ›praktisch-kritischen‹ Tätigkeit. (2.) Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i. e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage. (3.) Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«87
c) Aus Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. Die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine himmlische oratio pro aris et focis widerlegt ist. Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine Wirklichkeit sucht und suchen muss. Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder 87
Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin, 1969, S. 5 ff.
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schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.«88
In den verschiedenen Manuskripten Harichs zur Anthropologie, in seinen Briefen und Exzerpten spielte er immer wieder auf diese Passagen an, zitierte sie ausschnittsweise oder vollständig bzw. setzte ihre Existenz implizit voraus. Aus den gerade wiedergegebenen Stellungnahmen von Marx leitete Harich die Konsequenz ab: »Es ist klar, dass man an unser Problem nur marxistisch herangehen kann, wenn man sich diesen Standpunkt ohne Einschränkung zu eigen macht. Die Frage ist nur, ob man deswegen auch die Berechtigung der Anthropologie als solcher bezweifeln muss. Wir glauben nicht nur, dass diese Konsequenz in keiner Weise zwingend ist; denn zweifellos hat Marx nicht behauptet, dass es den Menschen als ›dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum‹ gar nicht gäbe. Wir sind sogar der Meinung, dass es nicht so sehr darauf ankommen kann, die angeführten Marx-Sätze als mögliche Einwände gegen die Anthropologie in Betracht zu ziehen, gegen die man sich, wenn man diese philosophische Disziplin auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen will, gleichsam abzusichern hätte,
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Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 1, Berlin, 1976, S. 378 f.
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sondern vor allem darauf, zu erkennen, dass sie für den positiven Aufbau der marxistischen Anthropologie die denkbar größte Bedeutung haben.«89
Neben den bereits gebrachten Zitaten aus Werken von Marx, kam natürlich auch den Schriften von Engels enorme Bedeutung zu. Ein entsprechendes Zitat aus dem Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen wird gleich wiedergegeben. (Zu verweisen ist natürlich auch auf den Feuerbach, den Anti-Dühring und anderes mehr, alles Werke, die Harich gut kannte.) Marx und Engels hätten, so wiederholte Harich in Der Gegenstand der Anthropologie, nicht nur berechtigterweise gegen die Abstraktion »der Mensch« und die daran hängenden Konsequenzen (vor allem bei Feuerbach) gekämpft. Sondern es sei ihnen dadurch, von der marxistischen Wissenschaft bisher unentdeckt, gelungen, den Begriff »der Mensch« zu präzisieren und damit verfügbar zu machen. Auf diese Weise hätten sie für den Marxismus den Gegenstandsbereich Anthropologie als Forschungsgebiet freigegeben. ***** Die Frage ist nun, wie soll das alles zusammengehen: Die »Klassiker« des Marxismus, die Kritik und Beerbung Feuerbachs, die Philosophie Gehlens, die bürgerliche Anthropologie und eine möglich, gar notwendige marxistische Anthropologie? Am 17. August 1965 schrieb Harich an Gehlen: »Sie selbst sagten mir vor 13 Jahren in Speyer mal, als wir da um den Dom herum spazierten, Sie freuten sich darüber, dass die ›Mängelausstattung‹ bei Thomas von Aquin vorkäme und in Marx gut hineinpasste; da müsse es wohl seine Richtigkeit damit haben, wenn solche Extreme nun auch noch mit Ihnen konform gingen.« Wenn zwei dasselbe sagen, muss nicht immer dasselbe gemeint sein. Zunächst natürlich, auch daran ließ Harich keinen Zweifel, sei eine Kritik der Thesen Gehlens notwendig, 89
Weiter heißt es: »Eine solche Haltung scheint uns deswegen die einzig richtige und der Sache angemessene zu sein, weil die zitierten Marx-Sätze gegen eine ganz bestimmte Philosophie gerichtet sind, die gesellschaftliche Erscheinungen aus der Perspektive des Menschen als abstrakt-isolierten und zugleich übergeschichtlich aufgefassten Individuums erklären zu können meinte und eben damit eine Verwirrung nicht nur der gesellschaftswissenschaftlichen, sondern auch der anthropologischen Problematik heraufbeschwor, während die Abwehr solcher anthropologischen Interventionen in Angelegenheiten der Gesellschaftswissenschaft, für die allein der historische Materialismus zuständig ist, zu einer Abgrenzung der Gegenstandsgebiete führt, die den legitimen Aufgabenbereich anthropologischer Forschung überhaupt erst einwandfrei hervortreten lässt.«
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die immer vor dessen philosophische »Benutzung« zu stellen sei. In Über die Empfindung des Schönen schrieb er: »Aber es ist eines, ein Phänomen zu sehen und zu beschreiben, und ein anderes, es ursächlich zu erklären. Erst Engels in seiner Theorie vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen füllt hier die Lücke, die Platon und Thomas, La Mettrie, Herder und Kant gleichermaßen offen gelassen haben, indem er den qualitativen Sprung der Menschwerdung mit allen seinen historisch-sozialen und anthropologischen Konsequenzen aus dem Zentrum eines einzigen Moments her begreifbar macht. Das Phänomen der Zurückdrängung der Instinkte hat mit besonderer Gründlichkeit Arnold Gehlen in seinem anthropologischen Hauptwerk (Der Mensch etc.) behandelt. Von hier aus ist ihm die Bedeutung der Lorenzschen Forschungsergebnisse für die Grundlegung der psychologischen Seite der Ästhetik aufgegangen. Gehlen kennt die Arbeit von Engels nicht, wie er überhaupt vom Marxismus nicht Notiz nimmt. Das hat zur Folge, dass ihm in entscheidenden Fragen schwerwiegende Irrtümer unterlaufen. Da er sich zum Beispiel nicht erklären kann, wie es möglich ist, dass ein biologisch so unspezialisiertes Lebewesen wie der Mensch von einem so hochspezialisierten wie dem Anthropoiden abstammt, steht er den anthropogenetischen Problemen mit einem agnostizistischen Achselzucken gegenüber. Dabei polemisiert er mitunter geistreich und treffend gegen die Konstruktionen, zu denen die metaphysischen Anhänger Darwins gezwungen sind, wenn sie – ebenfalls in Unkenntnis der Engelsschen Schrift – die Besonderheiten des Menschen unmittelbar aus der Selektion abzuleiten versuchen. Diesen Konstruktionen weiß Gehlen aber selbst nur eine resignierte Skepsis entgegenzusetzen, wobei er sich vor allem auf die unhaltbare antidarwinistische Hypothese von Bolk beruft. Wo er gar die Grenzen seines Faches überschreitet und gesellschaftliche Zusammenhänge ins Auge fasst, für die der historische Materialismus zuständig ist, erliegt er meist völlig den obskuren Tendenzen der bürgerlichen Philosophie (so zum Beispiel in seiner Theorie der ›obersten Führungssysteme‹).«90 90
Anschließend benannte er das Positive: »Das ändert aber alles nichts daran, dass die Deskriptionen Gehlens und seine konkreten Analysen überall dort von außerordentlichem Wert sind, wo sie sich auf die neue Qualität des Menschen rein als solche beziehen und deren Wesenszüge allgemeingültig herauszuarbeiten suchen. Gehlen ist der erste, der die Besonderheit der Organausstattung des Menschen, seines Instinktlebens, seiner Sprach- und Denkleistungen, seiner Erkenntnisfähigkeit usw. als ein Ganzes sich wechselseitig bedingender, aufeinander verweisender Momente untersucht hat. Die überraschenden Ergebnisse, zu denen er dabei gelangt ist, und die den ›getrennt marschierenden‹ Humanwissenschaften wie der Medizin, der biologisch orientierten Anthropologie, der Psychologie, Sprachwissenschaft usw. verborgen bleiben mussten, bestätigen die Engelssche Theorie voll und ganz und stellen faktisch einen wichtigen Beitrag zu ihrer Konkretisierung dar.«
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Doch zurück zur Frage: Gehlen und der Marxismus, wie soll das zusammenpassen oder zumindest, überhaupt erst einmal zusammenkommen? Am 22. März 1952 schrieb Harich an Gehlen: »A propos ›Unbefangenheit‹! Sie schreiben: ›Sehen Sie, das ist mein Geschäft: Ich weiß nicht sehr viel Metaphysisches, aber ab und zu gelingt ein Forschungsfund, etwas wirklich Neues, das ich deswegen (bilde ich mir ein) finden kann, weil ich gar keine Theorie habe, völlig unbefangen bin und die wahrscheinlich sehr bürgerliche Eigenschaft habe, dass mir meine eigenen Gedanken am meisten interessant sind.‹ – Der sehr bürgerliche Goethe hatte diese sehr bürgerliche Eigenschaft nicht. Aber Goethe war sehr bürgerlich in einer Zeit, als die bürgerliche Klasse noch nicht so verkommen war, wie sie es heute ist. Kaspar Hauser ist also zum Leitstern bürgerlicher Geisteshaltung erst geworden. Bei Goethe können Sie lesen: ›Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. (…) Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte. (…) Ich habe Künstler gekannt, die sich rühmten, keinem Meister gefolgt zu sein, vielmehr alles ihrem eigenen Genie zu danken zu haben, die Narren! Als ob das überall anginge. Und als ob die Welt sich ihnen nicht bei jedem Schritt aufdrängte und aus ihnen trotz ihrer eigenen Dummheit etwas mache (…).‹ Dies zum Ersten. Zum Zweiten aber: Sie sind sehr im Irrtum, wenn Sie meinen, dass Ihnen Ihre eigenen Gedanken am meisten interessant sind. Darf ich Sie daran erinnern, wie interessant und aufschlussreich Ihnen Herder, Kant, Schiller, W. v. Humboldt, Novalis, Schopenhauer, Nietzsche, James, Dewey, Pareto, Uexküll, Köhler, Bolk, Schindewolf, Julian Huxley, K. Lorenz, Whitman, Heinroth, Storch, Portmann, Nicolai Hartmann, Plessner, Trilles, Mead, Malinowski, Heard, Toynbee und viele, viele andere sind? Ihre eigenen Gedanken sind etwas wirklich Interessantes, weil Schöpferisches, Neues, aber sie stellen eine Weiterentwicklung von Vorgefundenem dar, das andere vor Ihnen geschaffen haben, und wenn Sie es sich genau überlegen, so sind auch Sie – um das berühmte Bekenntnis Goethes abzuwandeln – ein ›Kollektivwesen namens Gehlen‹. Was Sie groß und schöpferisch macht, ist gerade Ihre vielseitige Orientierung, Ihr vielseitiges Anknüpfen an philosophische und wissenschaftliche Leistungen anderer, Ihr – wie es scheint – sehr umfangreiches Studium medizinischer, anthropologischer und psychologischer Fachzeitschriften. Es ist also reine Koketterie, wenn Sie sich als Kaspar Hauser ausgeben. In Wirklichkeit sind Sie von solcher Narretei sehr weit entfernt, weiter als irgend ein bürgerlicher Philosoph im heutigen Deutschland.«
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Weimar Musenhain, Schiller (lesend), Goethe, Wieland und Herder
Das »Kollektivwesen namens Gehlen« sei also Teil der bürgerlichen Welt, gehe aber dennoch, wenn nicht über diese hinaus, so doch hart an ihre Erkenntnisgrenzen heran. Gehlen erscheine »als im Grunde materialistischer Forscher, dem die ›metaphysischen‹ Flausen ein Gräuel sind«, wie Harich am 8. März 1952 schrieb. Diese Einstellung ist identisch mit jener, die Harich Zeit seines Lebens gegenüber Nicolai Hartmann geltend machte.91 Bewusst, vor allem aber unbewusst würde Gehlen durch sein Anknüpfen an für die bürgerliche Philosophie teilweise verlorene oder unbekannte Theorien und Thesen der Vergangenheit nicht der modernen bürgerlichen Philosophie angehören, sondern gleichsam einer früheren Zeit, als die bürgerliche Philosophie noch »ehrlich« sein konnte und strikter Wissenschaftlichkeit huldigte, vor dem Eintritt der bürgerlichen Welt in die Epoche des Verfalls und der Dekadenz. Oder, etwas anders formuliert: Die Differenzen des Marxismus zur bürgerlichen Philosophie der Gegenwart seien vielschichtig und allumfassend, aber wenn sich ein bürgerlicher Philosoph zu Hegel bekenne, sich mit Herder beschäftige usw., dann würden diese Differenzen kleiner. Es treffe dergestalt erneut Marx auf Hegel – natürlich unter verschiedenen Vermittlungen
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Siehe die entsprechenden Ausführungen des 10. Bandes.
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und auf einem ganz anderen Erkenntnisstand.92 Und gegenüber solchen Vertretern der bürgerlichen Philosophie lohne es sich, dies war das Credo Harichs, den Marxismus zu öffnen, um es diesen zu ermöglichen, die letzten Schritte zu gehen. Wie es in dem gerade angesprochenen Brief heißt: »Sie schreiben, dass Ihre Interessen zunehmend positiv-wissenschaftlich und abnehmend philosophisch werden. Vortrefflich! Das ist ein Bekenntnis, das Ihnen jeder Marxist zur allerhöchsten Ehre anrechnen wird. Mit dieser Orientierung sind Sie schon beinahe bei uns, und wenn Sie es nicht wären, würde ich ja auch nicht ein so beharrliches Liebeswerben um Sie veranstalten, das mir bei zehn Vorlesungsstunden in der Woche viel Mühe kostet.«
Als Anthropologe (nicht als Wissenschaftler im Allgemeinen, nicht als politisch denkender Mensch, nicht bei Berücksichtigung seines ideologischen Fundaments – in diesen Punkten sei Selbstkritik notwendig, natürlich auch eine gewisse Großzügigkeit der Kommunisten) brächte Gehlen also vieles (längst nicht alles!) mit, was es ermöglichen würde, seine Theorien in den Marxismus zu integrieren. Was genau Harich sich dabei dachte zeigen sehr gut die zweite und endgültige Version des Briefes, den er am 8. März 1952 an Gehlen schickte, und der darauffolgende Brief vom 22. März, die im Folgenden etwas ausführlicher betrachtet werden können. Harich ging bei seinen Anmerkungen von den ersten drei Feuerbachthesen von Marx aus und schrieb dann. »Auch hierzu haben Sie mit Ihren Analysen des Menschen als eines primär handelnden Wesens Neues und Wichtiges beigetragen, ja, man kann sagen, dass Sie in bestimmten Kapiteln und Teilen Ihres Buches diese genialen Hinweise der Klassiker des Marxismus (wahrscheinlich ohne es zu wissen und zu wollen) konkretisiert haben.«93
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Harich schrieb am 8. März 1952: »Sie haben noch eine lebendige Beziehung zu dieser großen Tradition deutschen Denkens, die im Marxismus ›aufgehoben‹ ist. Aber weil Sie den Marxismus nicht kennen – oder ausschließlich in Form der politischen Agitation der Kommunistischen Partei –, lassen Sie sich auf Schritt und Tritt von den pragmatistischen Missverständnissen des Wesens der Praxis verführen.« Weiter heißt es: »Nur ist es eben so, dass die Arbeit das grundlegende Moment in dem ganzen Komplex von Handeln, Tätigkeit, Praxis, menschlicher Teleologie, Naturerkenntnis, Naturbeherrschung, Logik und biologischer Retardation und Rückbildung darstellt. Denn einerseits stellt die Arbeit das plausible Zwischenglied zwischen dem ›Lebensdienlichen‹ und den abgeleiteten, entfernteren Modifikationen der handelnden ›Natur‹ des Menschen dar, andererseits hat die Arbeit jene nicht mehr natürlichen Lebensbedingungen geschaffen, unter denen die Wirksamkeit des Gesetzes der natürlichen Zuchtwahl
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Am 22. März wiederholte Harich diese Einschätzung von einem anderen Standpunkt aus: »Gegen Ihre falschen theoretischen und methodischen Voraussetzungen setzen sich bei Ihnen – weil das Prinzip des ›einheitlichen Strukturgesetzes‹ richtig ist – wesentliche Einsichten (teilweise Ahnungen) durch. Sie können sich dem Gefühl nicht entziehen, dass Sie es in Ihrer Anthropologie mit höchst widerspruchsvollen, dialektischen Erscheinungen zu tun haben. Sie schreiben (…): ›Überhaupt ist das Fragmentarische einer wissenschaftlichen Konzeption kein Gegenstand eines berechtigten Einwandes, nicht einmal Widersprüche würden einen solchen begründen. Sie könnten in der Sache liegen!‹ Sehr richtig: Die Widersprüche liegen in der Tat in der Sache. Es kommt jedoch darauf an, dass man sie methodisch bewusst als Widersprüche der Sache erfasst. Nur dann kann man sie in einer logisch widerspruchsfreien Theorie aussprechen. Tut man dies nicht, so spricht man die Widersprüche der Sache aus, indem man sich selbst widerspricht. Und das kann dann allerdings ein Gegenstand sehr berechtigter Einwände werden.«
Weitaus intensiver und stärker setzte sich Harich mit dem Problemfeld Gehlen und der Marxismus in den verschiedenen Exzerpten und Notizen auseinander, die er sich in den fünfziger Jahren anfertigte. Hier ging es um seine Selbstvergewisserung, so dass er weitaus stärker Gehlens Grenzen und Schranken betonte. In den Notizen zu Gehlens Sozialpsychologischen Problemen in der industriellen Gesellschaft führte er 1952 aus, was zu tun sei, um Gehlen den Marxismus näher zu bringen: »Man müsste Gehlen klarmachen, dass in der dialektisch-materialistischen Lehre vom Annäherungscharakter des Erkenntnisprozesses nicht nur rationalistischer Optimismus (ohne jede Anmaßung) liegt, sondern gleichzeitig auch Bescheidenheit, Ehrfurcht vor dem Problemen, Anerkennung der Unerschöpflichkeit des Gegenstandes (ohne Agnostizismus und Ignorabimus). Man müsste ihn auf die klassischen Worte Lenins hinweisen, in denen diese Bescheidenheit zum Ausdruck kommt (zum Beispiel auf die Unterscheidungen zwischen relativer und absoluter Wahrheit und den objektiven Wahrheitsgehalt beider in Materialismus und Empiriokritizismus). Man müsste ihm überhaupt von unserer Bescheidenheit in diesem Sinne eine klare Vorstellung verschaffen.«
aufgehoben wird, so dass ein organisches ›Mängelwesen‹ entstehen kann und entstehen muss und seine Mängel biologisch vererben kann.«
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Eine Voraussetzung dafür sei beispielsweise (so Harich an anderer Stelle): »Es ist sehr vielversprechend, dass Gehlen Tschechow liebt. Wenn er ihn wirklich liebt, ist hier unbedingt eine Einbruchstelle für marxistische Beeinflussung. Man müsste ihm zunächst einmal alle Bücher von Lukács zu lesen geben.« Die Konsequenz dieses Unterfanges wäre dann: »Wenn Gehlen den Marxismus studiert und sich ihm gegenüber so aufrichtig prüfend verhält wie gegenüber seinen anderen Quellen, wird er eines Tages die stillschweigenden Voraussetzungen der bürgerlichen Soziologie nicht nur bemerkenswert finden, sondern sie energisch bekämpfen, und zwar vom Klassenstandpunkt der Arbeiter, die die Bedingungen revolutionieren können. (›Wenn mein starker Arm es will, stehen alle Räder still!‹) Er wird sich unweigerlich der KP oder dem linken Flügel der Sozialdemokratie anschließen. (Was übrigens für die Arbeiterbewegung ein gewaltiger Gewinn wäre!!!)«
Den Weg von a) nach b) hat Harich in diesem Exzerpt an einem Beispiel ebenfalls aufgezeigt (dabei die bisherige Unwissenheit Gehlens in Bezug auf den Marxismus ebenfalls konstatierend)94:
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»Andererseits ist und bleibt es grotesk, wie wenig Gehlen, der Gelehrter von hohem Rang ist, den Marxismus kennt. Er kennt die Deutsche Ideologie, ein geniales, aber durchaus unausgereiftes Jugendwerk von Marx und Engels, das diese ›der nagenden Kritik der Mäuse umso williger überließen, als wir unseren Hauptzweck damit erreicht hatten – Selbstverständigung.‹ (Marx über die Deutsche Ideologie im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie) Er will ferner über ›Planung‹, Planwirtschaft usw. mitreden, nachdem er einerseits den platten ›common sense‹-Aufkläricht der Margaret Mead, dieses soziologischen College-Girls, genossen und sich andererseits durch die ›Managerial Revolution‹ des trotzkistischen Schweins James Burnhams hat ›belehren‹ lassen. Er kennt den Sozialismus also nur aus bürgerlichen Zerrbildern.« Und an anderer Stelle: »Es ist ein noch traurigeres, die verkehrte Welt des Westens noch besser bezeichnendes Merkmal, dass im Jahre 1952, also mehr als 100 Jahre nach dem Erscheinen des Kommunistischen Manifest und fast 35 Jahre nach der Oktoberrevolution, der sozialistische Humanismus noch von einem deutschen Gelehrten von Weltrang für etwas Phantastisches und Utopisches gehalten werden kann. Wenn Gehlen Wert darauf legt, den Anachronismus eines guten Teils seiner Produktion zu überwinden – und das muss er, wenn er bei den Menschen der Zukunft nicht als sonderbare Figur gelten will –, so wird es Zeit, dass er von der Realität der Sowjetunion Notiz nimmt. Die Zeit, in der jede Auflehnung gegen Bestehendes (Fichte, Hölderlin) utopisch, jede Versöhnung mit der Wirklichkeit Resignation war, und in der beide Haltungen unvereinbar waren, ist unwiderruflich vorbei.«
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»Die Grundtendenz der Kritik, die Gehlen an der industriellen Gesellschaft übt, ist zutiefst humanistisch. Gehlen kommt so der marxistischen Gesellschaftskritik um Haaresbreite nahe, ja, mehr noch: Er bereichert und konkretisiert sie durch wesentliche neue Erkenntnisse. (…) Gehlen sieht nicht, dass seine Analyse nicht auf die technische Zivilisation schlechthin, sondern nur auf die kapitalistische technische Zivilisation zutrifft. Er kennt weder den Sozialismus in der Sowjetunion, noch die humanen Errungenschaften in den Ländern der neuen Demokratie, in den Volksrepubliken. Aus diesem Grunde fehlt ihm eine Zukunftsperspektive. Aus diesem Grunde sind seine Arbeiten – gerade wegen ihrer rücksichtslosen Aufrichtigkeit – von Resignation und Pessimismus überschattet. Aber: Wenn er mit dieser rücksichtslosen Aufrichtigkeit nun auch noch die marxistische Literatur studiert (und nicht nur die Deutsche Ideologie), wenn er sich dann noch die Mühe nimmt, zu uns zu kommen, das Leben und die Arbeit unserer Partei zu beobachten usw. und damit die Plattheiten der Mead und die Lügen Burnhams zu vergleichen, dann endet er unweigerlich als Bolschewik!!!«
In dem Interview, das er anlässlich des Todes von Gehlen der Frankfurter Rundschau gab, betonte Harich erneut die bürgerlichen Grenzen und Erkenntnisschranken Gehlens. Er ging aber auch auf jenen Punkt ein, der Gehlen mit dem Marxismus verbinde, diesen für den Marxismus interessant mache: »Ganz nahe kommt Gehlen dem Marxismus aber darin, dass er den Menschen durchweg aus der Eigenschaft, handelndes Wesen zu sein, interpretiert. Ich erinnere nur an die Unterscheidung der Aktivitäten von Biene und Baumeister bei Marx, im 5. Kapitel des Kapitals, sowie an Engels’ Schrift Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. Die enge Berührung ist um so erstaunlicher, als Gehlen davon bei der Abfassung seines Hauptwerks, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), nichts ahnte. Und übertroffen hat er die bisherige marxistische Forschung durch die genialen Einzelanalysen, die er aus seinem – und unserem – zentralen Ansatz herauszuholen wusste; so, wenn er etwa das Zusammenspiel von Auge und Hand im Erkenntnisprozess behandelt oder dem Wesen des Charakters auf den Grund geht.«
***** Wenn Harichs philosophisches Werk inspiziert wird, dann zeigt sich ein wesentlicher, ein charakteristischer Zug: Er war, auch in seinen Fehlern, ein eigenständiger Denker, der sich zwar an andere Theoretiker anlehnte, die Bandbreite reicht von Nicolai Hartmann bis Georg Lukács, von Hegel und Marx und Engels bis zu Gehlen, sich aber nie
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einem anderen völlig kritiklos hingab. Adeptentum war seine Sache nicht. (Es genügt an dieser Stelle, an seine Kritik bezüglich des von ihm sehr verehrten Lukács zu erinnern95 oder beispielsweise an die in der DDR einzig und solitär dastehende Auseinandersetzung mit Engels und Lenin in Widerspruch und Widerstreit96.) Es kann also nicht überraschen, wenn er auch an Gehlen Kritik übte: »Wenn Sie konsequent Nietzsches Gedanken einer biologischen Interpretation des Menschen durchführen wollen, müssen Sie zu kolossalen Missverständnissen spezifisch gesellschaftlicher Erscheinungen gelangen, zu Missverständnissen, die die Eselsbrücke zu einer philosophisch ›vertieften‹ Neubegründung der faschistischen Ideologie bilden. Ihre ›obersten Führungssysteme‹ liegen hart an der Grenze des Faschismus, und nicht zufällig berufen Sie sich in diesem Zusammenhang ja auch auf Alfred Rosenberg (jedenfalls in der mir vorliegenden Auflage von 1940). (Ich nehme Ihnen das, nebenbei bemerkt, gar nicht übel, denn den Verführungen Nietzsches sind zeitweise auch solche konsequenten Demokraten wie Bernard Shaw und Thomas Mann erlegen, und wenn ihnen ein radikaler Denker von Ihrem Format erliegt, dann muss er in Konklusionen, die sich aus dieser falschen Prämisse ergeben, zwangsläufig noch sehr viel weiter gehen. Im Übrigen ist niemand, der den Marxismus nicht kennt und durchdacht hat, gegen Rückfälle in barbarische Ideologien ganz und gar immun. Heute kommt es nur darauf an, dass Sie um der Weiterentwicklung Ihrer eigenen genialen Leistung willen diese Irrtümer radikal überwinden. Möge der Humanismus unseres großen Herder in Ihnen den endgültigen Sieg über Nietzsches Verführungen erringen, dann werden Sie unweigerlich auch den Weg zu Marx, Engels, Lenin und Stalin finden und Ihre eigene Leistung tiefer und richtiger verstehen!)«
Weiter heißt es, im Rahmen dieser Kritik wird der Marxismus so zu einer Option für einen Ausweg:
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Die Bandbreite reicht dabei von der angesprochenen frühen Kritik in Sachen Goethe (hierzu: Heyer: Der gereimte Genosse) bis hin zu der partiellen wissenschaftlichen Kritik in den Texten des Alters. Siehe hierzu beispielsweise Harichs Kritik an Nietzsche, mit der er dem eigenen Anspruch nach über Lukács (und auch über Hans Günther und Franz Mehring) hinausging. Abgedr. in mehreren Versionen: Band 3, S. 53–316. Zur Kant-Rezeption in der DDR siehe: Thom, Martina: Kant. Philosophiehistorische Forschung in marxistischer Sicht, in: Rauh, Hans-Christoph; Gerlach, Hans-Martin (Hrsg.): Ausgänge. Zur DDR-Philosophie in den 70er und 80er Jahren, Berlin, 2009, S. 86–120.
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»Ich sagte: Wenn Sie konsequent den Gedanken einer biologischen Interpretation des Menschen durchführen, gelangen Sie zum Faschismus. Ich muss hier das Wort ›wenn‹ energisch unterstreichen. Denn was Sie mit ›biologisch‹ meinen, lässt durchaus auch die Entscheidung für eine ganz andere Lösung offen. Wenn Sie nämlich den Gedanken einer anthropologischen Interpretation des Menschen konsequent durchführen, wenn Sie die biologischen Kategorien, die Sie entwickeln, so spezifisch menschlich verstehen, wie Sie es tun, dann kann es gar nicht ausbleiben, dass Sie die gesellschaftliche Geprägtheit dieser Kategorien, deren spezifischen sozialen ›Einschlag‹ erkennen, und die soziologischen Anspielungen in Ihrem Rundfunkvortrag zeigen, dass Sie zur Zeit nach einer solchen Lösung tasten.«
Auf dem Gebiet der Anthropologie mache sich, wie Harich am 22. März 1952 schrieb, Gehlens trotz aller Emanzipation immer noch vorhandene Verhaftung in der bürgerlichen Welt und damit in der bürgerlichen Denkart geltend: »Auch Sie tragen, wie alle bürgerlichen Intellektuellen, falsche Denkformen mit sich herum, von denen Sie beherrscht werden. Beispiel: Dass ein so unspezialisiertes Wesen wie der Mensch von einem so hochspezialisierten Wesen wie dem Affen abstammen soll, finden Sie ungeheuerlich. Sind Sie sich darüber klar, dass Sie damit auf genau denselben philosophischen Voraussetzungen basieren wie der klassische Darwinismus in seiner bornierten Darwin-Haeckelschen Form? Für Darwin-Haeckel war der Mensch höchstes Produkt einer einfachen, linearen Höherentwicklung der Natur. Sie kannten die Kategorie des qualitativen Sprunges und die Kategorie der coincidentia oppositorum nicht, wandten sie nicht an, waren daher blind für die neue Qualität des Menschen und machten es sich leicht, indem sie die Organprimitivismen, die Retardationen usw. einfach übersahen. Ergebnis: Die Substantiierung des Geistes in der idealistischen Metaphysik blieb unangefochten bestehen, konnte durch den Darwinismus nicht aus der Welt geschafft werden, konnte vielmehr ihrerseits den Darwinismus als primitiv abtun. Bolk und andere entdeckten dann die Organprimitivismen und die Retardationen, kannten die Kategorien des qualitativen Sprunges und der coincidentia oppositorum aber ebenfalls nicht, wandten sie gleichfalls nicht an und gelangten daher – auf der Grundlage der gleichen philosophischen Voraussetzungen wie Darwin und Haeckel, nur anhand anderer Tatbestände – zur Leugnung der Abstammung des Menschen vom Tier.«97 97
Weiter heißt es: »Ferner: Abgesehen von der Übereinstimmung in den allgemeinen philosophischen Voraussetzungen kennen beide – Darwin-Haeckel und Bolk-Schindewolf – die fundamentale Bedeutung der Kategorie ›Arbeit‹ nicht. Beide sehen die Erscheinungen,
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Harich ließ keinen Zweifel daran, dass er die Unkenntnis, die Nicht-Kenntnis der marxistischen Lehre durch Gehlen für dessen »Fehler und Verirrungen« maßgeblich verantwortlich machte. Die entsprechenden Passagen aus seinen Exzerpten wurden bereits wiedergegeben. An Gehlen schrieb er mit gleichlautender Grundtendenz: »Zunächst einmal handelt es sich dabei um die einfache Ausmerzung einer – verzeihen Sie! – sehr bemerkenswerten und aufschlussreichen Bildungslücke, einer Bildungslücke, die wieder einmal die marxistische These von der Klassenbedingtheit der Ideologien beweist (praktisch beweist). Wenn Sie das Werk von Marx, Engels, Lenin und Stalin wirklich kennen würden, so würden Sie den folgenden Satz wahrscheinlich nicht zu Papier bringen – den Satz: ›Aber welches sind die treffenden soziologischen Kategorien? Denn diese sind uns nämlich erst zum kleinsten Teil bekannt und so konnte ich (!!!) bisher (!) erst zwei oder drei beitragen.‹ Sie konnten beitragen! Wissen Sie eigentlich wirklich nicht, dass die ›treffenden soziologischen Kategorien‹ zwischen pazifischem Ozean und Elbe, zwischen nördlichem Eismeer und Vietnam den ABC-Schützen beigebracht werden? Können Sie sich vorstellen, dass Kant, Fichte und Hegel nicht von der Französischen Revolution Notiz genommen hätten? Ich weiß nicht recht, wo ich die treffenden soziologischen Kategorien für die Kennzeichnung eines solchen exemplarischen Beispiels bürgerlich-intellektueller Weltfremdheit hernehmen soll! Wenn ich es marxistisch definieren wollte, würde man mir glatt vulgäre Einseitigkeit vorwerfen. (›So einfach dürfen Sie es sich mit der bürgerlichen Intelligenz aber nicht machen, Genosse Harich!‹)«
die sie untersuchen, isoliert von den Lebensbedingungen und Tätigkeiten des Menschen. Die einander ausschließenden Theorien des Darwinismus und der Bolk-Richtung sind also im Grunde nur Kehrseiten ein- und derselben bornierten Denkweise. Und woran liegt das, dass alle diese Denker, die als Wissenschaftler so achtenswerte, unentbehrliche Leistungen zu Stande gebracht haben, gleichzeitig als Philosophen – die sie unbewusst sind – einer so hoffnungslosen Borniertheit zum Opfer fallen? Es liegt daran, dass die Klassenverhältnisse des niedergehenden Kapitalismus a) die Wissenschaftler im platten Empirismus gefangen halten und ihr Denken den philosophischen Traditionen entfremden (weder Darwin-Haeckel, noch Bolk-Schindewolf kennen Herder, Hegel usw.), b) eine schier unübersteigbare Barriere zwischen den bürgerlichen Intellektuellen und dem Marxismus aufrichten und auf diese Weise c) die wissenschaftsfeindlichen Tendenzen der bürgerlichen Ideologie zusammen mit den entsprechenden methodischen Voraussetzungen in den Köpfen der Intellektuellen, diesen selber unbewusst, fixieren. Daher sagt Lenin: ›Keinem einzigen dieser Professoren, die im Stande sind, auf Spezialgebieten – Chemie, Geschichte oder Physik – die wertvollsten Arbeiten abzuliefern, darf man auch nur ein einziges Wort glauben, sobald von der Philosophie die Rede ist.‹«
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Gehlen stecke in Widersprüchen, er diagnostiziere sehr gut, erkenne auch Fehler und Verfehlungen innerhalb der bürgerlichen Theorie, sei aber nicht in der Lage, Auswege zu weisen, eben da er sich nicht offensiv zum Marxismus und zur Dialektik bekenne: »Aus diesen vertrackten Zirkel kommen Sie nur heraus, wenn Sie sich von den Denkgewohnheiten der Metaphysik (Reflexionsphilosophie) frei machen und Dialektik studieren. ›Unbefangen‹ werden Sie auf keinen Fall sein, weder als Metaphysiker, noch als Dialektiker. Aber als Metaphysiker wissen Sie nicht, wovon Sie befangen sind. Als Dialektiker wissen Sie es genau: Sie gehen mit den methodischen Prinzipien an die Realität heran, die der bewusstseinsunabhängigen Gesetzmäßigkeit der Sache angemessen sind. Damit bin ich nun an einem Punkt angelangt, wo ich die Methode des dialektischen Materialismus gegen Ihr Misstrauensvotum verteidigen muss. Sie schreiben: Diese Methode sei in dem Sinne metaphysisch, dass sie alles erkläre und nicht widerlegbar sei. Verzeihen Sie: Das ist ein Irrtum, es ist sogar eine Unterstellung. Die Methode des dialektischen Materialismus erklärt nämlich überhaupt nichts. Sie ist nichts, gar nichts ohne die konkrete Tatsachenforschung, ohne das Experiment, ohne die Praxis, ohne ein reiches empirisches Material, die allein zuverlässige Erkenntnis begründen können. Die materialistische Dialektik gibt nur die Anleitung, die Erscheinungen in ihren realen Zusammenhängen zu studieren, sie in ihrer Bewegung, Veränderung und Entwicklung zu sehen, sich bei allen Prozessen in der Realität auf qualitative Sprünge gefasst zu machen, die die harmonische Evolution an bestimmten Punkten durchbrechen, und die inneren Widersprüche in den Erscheinungen aufzudecken.«98 98
An anderer Stelle seines Briefes vom 22. März 1952: »Die materialistische Dialektik als Methode des Herangehens an die Erscheinungen der Realität, als Methode der Erforschung der Erscheinungen, schneidet keineswegs der Forschung den Weg ab (das bleibt den metaphysischen Denkgewohnheiten vorbehalten). Sie ist kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum. Sie präsentiert nicht irgendwelche ›absoluten Wahrheiten‹. Sie verpflichtet den Forscher nicht, auf gewollte und von vornherein ›gewünschte‹ Resultate zuzusteuern, sie ist in jeder Hinsicht undogmatisch, ist der Todfeind jedes Dogmatismus. Sie weiß nicht alles schon vorher. Sie kann auch niemals die konkrete Forschung ersparen; denn wie gesagt: Ohne empirisches Tatsachenmaterial, ohne Experiment und Praxis ist und bleibt sie unfruchtbar. Sie zwingt auch nicht die Erscheinungen in ein festgelegtes Schema, sondern erfordert im Gegenteil, dass alle nur erdenklichen Möglichkeiten erwogen werden. Sie ist die schlechthin elastischste, der Realität am meisten sich anschmiegende Denkmethode. Wem sie in Fleisch und Blut übergegangen ist, der trägt in seinem Bewusstsein den inneren Appell, bei keiner Oberfläche haften zu bleiben, keine Erscheinung ungeprüft so hinzunehmen, wie sie sich auf den ersten Blick gibt, keine Erscheinung – und sei sie von so achtbarer Konstanz wie unser Sonnensystem – als etwas ewig Gegebenes, Unveränderliches anzusehen, sondern nach den Bedingungen ihrer Entstehung
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In den achtziger Jahren geriet dieses Argument dann bei Harich in den Vordergrund. Weitaus stärker als in den fünfziger Jahren betonte er nun, dass sich Gehlen dem Marxismus verweigert, diesen nicht zur Kenntnis genommen und damit auch seine marxistischen Vorläufer, vor allem Friedrich Engels, verschwiegen habe. Dennoch, trotz dieser Kritik, auch im Angesicht der kleinen und der eklatanten Fehler, stellte Harich fest, dass die Auffassung des Menschen als eine Einheit ein »großes, bleibendes Verdienst« Gehlens darstelle. Gehlen habe diese seine Entdeckung überspitzt und damit überstrapaziert. (Das war ein Argument, welches Harich direkt von Nicolai Hartmann übernommen hatte, der es im Rahmen seiner Philosophie der Geschichte sowie seiner Geschichtsphilosophie als eines der grundlegenden Momente der Geschichte des Denkens geltend gemacht hatte: Jede neue »Entdeckung« nehme sich, verständlicher Weise, zuerst zu wichtig, um dann im Laufe der Zeit und durch wieder neue »Entdeckungen« auf das ihr »zustehende« Maß zurecht gestutzt zu werden. Dergestalt bleibe sie dann Teil des menschlichen Wissens und Teil des permanenten Erkenntnisfortschritts.) Als Marxist könne man solche Überspitzungen problemlos erkennen und richtig einordnen: »Sie sind nicht das Wesentliche, sie werden entweder von Ihnen selbst oder von späteren Schülern und Epigonen – ich möchte meinen: namentlich von den Marxisten, denen die Zukunft gehört – kritisch abgebaut und revidiert werden. Entscheidend ist die Entdeckung, und die bleibt (…).« Freilich könne bereits Gehlen aktiv werden und seine Rezeption im marxistischen Lager erleichtern. Eine neue Auflage des Menschen sei erforderlich, die den Entwicklungs- und Erkenntnisstand der marxistischen Theorie berücksichtige sowie sich gleichzeitig von verschiedenen bürgerlichen Denkrichtungen verabschiede. Gehlen müsse seinen Weg konsequent weitergehen, da er ja bereits andere bürgerliche Verirrungen hinter sich gelassen habe. Mit Harichs Worten: »Wovon sich die neue Fassung Ihres Buches indessen freimachen müsste, das sind alle Reste von Relativismus und subjektivem Idealismus, die mit Ihrer Orientierung auf den Pragmatismus zusammenhängen und das Resultat dieser Orientierung sind. Ich will nicht leugnen, dass Ihnen James und Dewey ›neue Phänomene der Wirklichkeit aufgeschlossen‹ haben. Empirisches Material ist immer und unter allen Umständen wertvoll, und Sie und den Bedingungen ihres möglichen Vergehens zu fragen. Wer dialektisch denkt, ist vor allem mit Ehrfurcht vor dem Speziellen und Speziellsten ausgerüstet und gefeit gegen falsche Verabsolutierungen partieller Erkenntnisse.«
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haben Recht, wenn Sie es benutzen. (Auch Hitler hat prächtige Autobahnen bauen lassen, und es wäre reines Troglodytentum, sie aus antifaschistischem Purismus nicht zu befahren.) Sie müssen sich nur davor hüten, mit den wertvollen Aufschlüssen des amerikanischen Pragmatismus auch gleich die Prinzipien seiner Erkenntnistheorie zu übernehmen. Wenn man die Existenz einer objektiven, vom Bewusstsein unabhängigen, an sich gesetzmäßigen Realität leugnet, wenn man den Begriff der Wahrheit fiktionalistisch verdreht, bestreitet man die Grundlagen jeder Wissenschaft.«
Eine irgendwann – nach Harich hoffentlich bald und zügig und umfassend – einsetzende Gehlen-Rezeption hinter dem »eisernen Vorhang« würde den richtigen Umgang mit Gehlens Theorien finden. Harich dachte an genau jenes Vorgehen, das man gegenüber Feuerbach, Hegel, Kant und Fichte, beispielsweise gegenüber Schellings Naturphilosophie usw. an den Tag lege: Benennung der Irrtümer und Fehler bei gleichzeitiger Beerbung, Aufbewahrung, aller positiven Resultate und Errungenschaften: »Es wäre jedoch gut und würde komplizierte Umwege und Verzögerungen ersparen, wenn Sie selbst, der Sie von allen lebenden Denkern diese Materie am relativ richtigsten und tiefsten erfasst haben, diese Weiterentwicklung leisten könnten. Die bürgerlichen Philosophen sind dazu ausnahmslos unfähig – vergleichen Sie doch nur die jämmerlichen Elaborate der Heidegger, Jaspers und wie sie alle heißen mögen mit den Dimensionen Ihres Werkes –, und im marxistischen Lager, das die richtigen Kategorien und die richtige Methode mitbringt, ist man noch lange nicht so weit, hier stehen zunächst noch ganz andere Probleme auf der Tagesordnung. Wenn Sie selbst diese Arbeit leisten wollten, müssten Sie sich allerdings – wie ich glaube – sehr gründlich mit dem Marxismus vertraut machen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich will Sie nicht etwa politisch ›werben‹, nicht nach dem ›Osten‹ locken, ja, nicht einmal politisch überzeugen – wie gern ich es auch täte. (Über Politik diskutiere ich mit Ihnen nur, wenn Sie ausdrücklich versichern, dass Ihnen das in keiner Hinsicht lästig ist.)«
Weiter führte Harich dann aus: »Auch wenn Sie subjektiv dem Kommunismus noch so feindlich gegenüberstehen sollten – durch Ihre Leistung sind Sie sozusagen ein für alle Mal selbst zu einer unverlierbaren Entwicklungsstufe des objektiven Wissens geworden und werden es durch nichts mehr verhindern können, dass den kommunistischen Studenten von morgen und übermorgen die positiven Errungenschaften aus Ihrem Buch als obligatorischer Lehrstoff abgefragt
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werden. Nein, um Politisches geht es hier ganz und gar nicht, sondern darum, dass der ›Sokrates und Asklepios in einem‹, nach dem Sie rufen, bereits längst existiert: Er heißt Marx. Ohne Marxismus können Sie die Frage: Biologisch oder nicht und wie weit und in welchem Sinne biologisch? einfach nicht beantworten. Ohne Marxismus können Sie weder den Vulgärmaterialismus, noch die Vulgarismen der Psychoanalyse, noch die Ontologie, noch die metaphysisch-idealistischen Schrullen von Litt, noch den Biologismus erledigen. Ohne Marxismus können Sie sich auch nicht von den Irrtümern des soziologischen und historischen Relativismus und von denen Nietzsches und des Pragmatismus freimachen, von Irrtümern, die Ihnen selbst das richtige Verstehen der eigenen bahnbrechenden Entdeckung ganz ungemein erschweren.«
Es wurde gerade Harichs Aussage vom 8. März 1952 zitiert: »Ich will Sie nicht etwa politisch ›werben‹, nicht nach dem ›Osten‹ locken, ja, nicht einmal politisch überzeugen – wie gern ich es auch täte.« Beendet hatte er den damaligen Brief mit den Sätzen: »Ich will damit schließen. Wenn es Ihnen recht ist: nur vorläufig! Verstehen Sie bitte meine Anpreisung des Marxismus nicht falsch. Es soll keine Proselytenmacherei von der billigen Sorte sein. Ich kann nicht anders, als Ihnen, den ich verehre, und von dessen Drang nach Wahrheit ich tief, tief überzeugt bin, etwas von dem mitzuteilen, was ich selbst als Wahrheit erkannt habe.« Gehlens Forschungen und Resultate seien wichtig für den sich entwickelnden Marxismus. Wenn dieser, teilweise eklatante, philosophische und philosophiehistorische Lücken aufweise, so sei das der historischen Situation geschuldet.99 Dieses Argument machte Harich in den späten vierziger und fünfziger Jahren immer wieder geltend. Da durch die Sowjetunion und die sozialistischen Staaten des Ostens nunmehr eine stabile Grundlage geschaffen sei, müsse sich der Marxismus philosophisch weiter entwickeln und letztlich alle philosophischen Disziplinen mit eigenen Theorien abdecken. Und er arbeitete zusammen mit Lukács und Bloch daran, den Marxismus zu einer umfassenden 99
»Verständlicherweise sind im Marxismus, der sich zunächst und vor allem die Dinge der Revolution angelegen sein lässt, sogar große, weite Gebiete sehr vernachlässigt, und es ist schon sehr viel, wenn Engels zu Ihrem Gebiet, sehr verehrter Herr Professor, wenigstens das Fragment einer Broschüre beigesteuert hat. Die Kritik am Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie und der Briefwechsel mit den russischen Narodniki waren nämlich dringender. Und für Stalin sind der Atlantikpakt und manches andere im Moment leider noch sehr viel dringender als die Frage der Sprachwissenschaft, und es ist schon viel, wenn er auch zu einer solchen Frage ein paar wegweisende Richtigstellungen liefert, die dem Vulgär- und Pseudomarxismus das Handwerk legen.«
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Philosophie zu entwickeln. (Siehe hierzu vor allem Harichs Vademecum und die Schriften aus diesem Umfeld.)100 Am 22. März 1952 hielt er gegenüber Gehlen fest, dass für die Anthropologie im Marxismus sehr wohl Platz sei: »Wie es vieles andere im Marxismus noch nicht gibt, so auch nicht die ›Entlastung‹ und die ›unbestimmte Verpflichtung‹. Aber was daran sachlich richtig ist, dafür ist im Marxismus Platz. Und wenn dadurch gewisse, noch recht naive Gedanken aus Engels’ Schrift Über den Anteil der Arbeit unhaltbar werden sollten, so müssten diese Gedanken ohne Rücksicht auf Engels’ Autorität unbedingt über Bord geworfen werden (vor allem der völlig missdeutete sprechende Papagei von Seite 9!). Aber Sie müssen Ihre pragmatistischen und biologistischen Reste, Ihren historischen Relativismus und Ihr agnostizistisches Achselzucken über die Abstammungsfrage auch über Bord werfen. So kommen wir zusammen: Auf dem Boden rücksichtsloser, konsequenter Wissenschaftlichkeit, auf dem Boden rücksichtsloser Kritik und Selbstkritik!«
Und schließlich, diesen Gedankengang fortsetzend: »Zugegeben – man kann es vorerst bei einer deskriptiven Anthropologie bewenden lassen und wird dann auch immer sehr beachtliche und vorwärtsweisender Einsichten zu Stande bringen: Ihre Arbeiten beweisen das. Aber es kommt darauf an, dass man als Wissenschaftler in der Situation, in der man lebt, das Maximum an Wahrheit ausspricht, dessen man fähig ist. Und das kann man nur, wenn man sich mit der bloßen Beschreibung der vorgefundenen Phänomene nicht zufrieden gibt, sondern sie historisch-genetisch zu erklären versucht, und das wiederum erfordert eine Synthese ›Gehlen plus Darwinismus plus Marxismus‹! Nur dann kann man auch den Platz der Anthropologie im Gesamtzusammenhang der Wissenschaften bestimmen. Und nun noch etwas sehr Ernstes: Die Zeit ist nicht mehr fern, dass der Kommunismus endgültig siegen wird. Wenn Ihr Werk dann nur in den vorliegenden Fassungen vorliegt (mit Berufungen auf Nietzsche, Pareto usw. und ohne plausible Hypothese über die Menschwerdung), kann es möglicherweise lange Zeit missverstanden bleiben, bis endlich einer entdeckt, was an Wertvollem darin steckt. Vielleicht wird es uns beide dann nicht mehr geben? In der Zwischenzeit werden Anthropologie und Psychologie auf Pawlows ›bedingten Reflexen‹ herumreiten, die nur ziemlich simple Teilwahrheiten sind. Können Sie das vor der Zukunft verantworten? Können Sie es verantworten vor den Millionen Studenten von 1970 und 1980? Na, und Ihr Weltruhm liegt Ihnen gar nicht am Herzen? Ein Weltruhm, den Sie im kapitalistischen Lager nicht 100
Abgedr. in: Band 1.3, S. 2109–2136.
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haben, weil man dort wissenschaftliche Philosophie nicht brauchen kann, und den Sie sich in unserem Lager mit Nietzsche-Pareto-Überwucherungen und mangelnder Abstimmungshypothese unter Umständen auf lange Zeit ebenfalls verscherzen?«
Änderungen seien also notwendig. Nicht nur, um Gehlen für den Marxismus »attraktiv« zu machen, sondern auch für dessen Theorien selbst, für ihre künftige Wirkung innerhalb der bürgerlichen und der sozialistischen Gesellschaft. Ja, nicht zuletzt, gehe es um die Gehlens Stellenwert in der Geschichte der Philosophie: »Aber die Weiterentwicklung Ihrer Anthropologie ist nicht nur aus taktischen Rücksichten geboten, sondern vor allem um der Wahrheit willen, um des Maximums an Wahrheit willen, zu dem Sie verpflichtet sind. Bis jetzt sind Sie nur der Newton der Anthropologie. Das ist schon viel. Aber wenn Sie doch auch der Kant und Laplace der Anthropologie sein können, warum wollen Sie denn dann der Newton bleiben? Das Schlagwort ›Newtons metaphysische Beschränktheit‹ und die ehrfurchtsvolle Nennung von Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels101 gehören seit Engels zum guten Ton im marxistischen Lager. Können Sie sich wirklich damit abfinden, der Newton der Anthropologie zu bleiben?«
An diese Ausführungen schloss sich der Hinweis an: »Lesen Sie Engels, Stalin, Plechanow, Mehring, Luxemburg und Lukács! Sie werden sich unweigerlich von der Stichhaltigkeit der dort ausgebreiteten Argumente überzeugen. Und da nun einmal Quantität in Qualität umzuschlagen pflegt, wird Ihnen – bei gehörigen Quanten marxistischer Lektüre – die materialistische Dialektik sehr bald in Fleisch und Blut übergehen. Die Voraussetzungen bringen Sie mit dem ›einheitlichen Strukturgesetz‹ und der positiv-wissenschaftlichen Orientierung mit.«
Es ging also doch um Werbung für den Marxismus, den Harich Gehlen schmackhaft machen wollte. Zeitlich parallel zu den gerade zitierten Briefen an Gehlen aus dem Frühjahr 1952 arbeitete Harich an seiner Hegel-Denkschrift, die er an Fred Oelßner schickte, um die Kritik an seiner auch heute noch bekannten Hegel-Vorlesung abzuwen101
Siehe hierzu neben den bisherigen Ausführungen: Harich: Über Hegels Konzeption der Philosophiegeschichte, in: Band 5, S. 247–298. Außerdem: Bloch, Ernst: Zweierlei Kant-Gedenkjahre, in: Ders.: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt am Main, 1985, S. 442–461. Grundlegend war die Einschätzung von: Engels, Friedrich: Dialektik der Natur, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 20, Berlin, 1962, S. 315 ff.
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den bzw. das dort von ihm Gesagte in die entsprechenden historischen und philosophiegeschichtlichen und philosophischen Kontexte einzuordnen. Die Notwendigkeit, den Marxismus weiter als philosophische Disziplin auszubauen und dabei die Philosophie durchaus sehr ernstzunehmen, begründete er wie folgt: »Dazu kommt aber noch eine weitere Überlegung: Die Tatsache, dass das Interesse für Philosophie, für das ›Wälzen von Problemen‹ – zugegeben: oft in abstrakter, weltfremder, ja mystischer Form – geradezu zu den psychischen Eigenarten der deutschen Nation gehört. Wenn unsere Partei dieser Tatsache nicht Rechnung trägt, wenn sie diesen möglichen Stützpunkt nicht ›besetzt‹ – und dazu Fred Oelßner, 1951 (links) gehört die Entwicklung einer wirklichen philosophischen Kultur –, dann beraubt sie sich selbst eines wichtigen Mittels der Beeinflussung namentlich der Intelligenz, aber auch breiter Kreise interessierter, aufgeschlossener werktätiger Menschen, die man auf diesem Weg gewinnen kann – gewinnen durch Befriedigung ihrer speziellen geistigen Bedürfnisse. Schließlich handelt es sich dabei um eine gesamtdeutsche Aufgabe. Es gibt Teile der Intelligenz in Westdeutschland, die wir mit unserer Propaganda einfach nicht erreichen, weil wir uns um ihre speziellen Probleme nicht kümmern. Ich selbst stehe im Briefwechsel mit zwei westdeutschen Dozenten (Prof. Gehlen, Speyer, Dr. Anneliese Mahn, Tübingen), und ich kann sagen, dass ich auf dem besten Weg bin, diese Menschen anhand ihrer Fachproblematik von der Fruchtbarkeit des Marxismus-Leninismus zu überzeugen. Beide sind auf ihrem Gebiet vorzügliche (wenngleich bisher noch sehr enge, bornierte) Kenner, haben aber bislang den Eindruck gehabt, dass es bei uns Philosophie oder gar eine Auseinandersetzung mit Leibniz, Kant, Fichte, Hegel usw. überhaupt nicht gibt. Es ist gar nicht schwer, an diese Menschen heranzukommen und sie auf den Weg zur Wahrheit zu führen. Man muss nur die Probleme aufwerfen, mit denen sie ringen. «102
Doch diesem Weg sollte sich die SED immer verweigern, was sicherlich den Untergang verschiedener Teile der DDR-Wissenschaften beschleunigt hat und ein Stück weit auch 102
Band 5, S. 124–126.
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legitimiert. Erinnert sei nur an die kaum quantifizierbaren Bände zur »Kritik der bürgerlichen Ideologie« und ähnliches mehr, die dieses »schmoren im eigenen Saft« und damit auch das Versagen der DDR-Philosophie exemplarisch illustrieren. ***** Im Kontext dieser Passage kann jener Brief gelesen werden, den Harich am 26. April 1952 an Gehlen schickte. Es ist ein einzigartiges Dokument, auf seine Art positiv-verrückt, dadurch zukunftsoffen, hoffnungsvoll. Harich schlug darin zwei Dinge vor: Erstens eine DDR-Ausgabe des Menschen und zweitens die Übersiedlung Gehlens nach Ost-Berlin mit dem Ziel der Wahrnehmung einer Professur für Philosophie an der Berliner Humboldt-Universität: »Kurzum: Wie wäre es denn – unter uns gesagt! – mit einem Ordinariat in Berlin? Mit dem Lehrstuhl Fichtes und Hegels? Sie brauchen uns, und wir brauchen Sie! Sie brauchen uns, denn die Auseinandersetzung mit den Sowjetwissenschaftlern, sowie mit Leuten wie Fred Oelßner, Walter Ulbricht, Ernst Bloch, Paul Rilla, Bertolt Brecht, Erich Wendt, Alfred Meusel, Anna Seghers, Johannes R. Becher usw. würde dem Menschen entschieden zu Gute kommen. Und wir brauchen Sie, denn die Berliner Universität ist in Punkto Philosophie seit dem Fortgang von Spranger und Hartmann sehr auf den Hund gekommen.«103
Es steht außer Frage, dass beide Vorhaben natürlich undurchführbar waren. Gehlen hatte als bekennender Nazi die Entnazifizierung verweigert und war damit in der DDR vollständig untragbar. (Selbst im Westen dauerte es noch einige Jahre, bis ihm die Konrad-Adenauer-Stiftung endlich einen Preis verleihen konnte, da man es dort mit faschistischen Vergangenheiten nicht so genau nahm, bis heute nicht allzu genau nimmt.) Jedoch, und dies ist mit der positiv-verrückten Seite des Briefes gemeint: Er zeigt auch all die ganzen Hoffnungen, die Harich in den Marxismus setzte. Dieser sollte ein offenes, ein weltoffenes System werden, es sollte Platz haben für jede Art von fortschritt103
An anderer Stelle dann: »Also, wie wär’s: Wollen Sie nicht herkommen? Natürlich wird Hollitscher, der vor Ihrer Anthropologie höllische Angst hat, weil sie ihm ›zu hoch‹ ist, mit wahrem Eifer den Rosenberg aus der ersten Auflage des Menschen und manches andere noch hervorkramen, um sich seine fragwürdige Autorität zu sichern. Aber er wird Ihnen nichts anhaben können; unsere Partei hat Sinn für Qualität, und alles, was bei uns wirklichen Einfluss besitzt, dürstet danach, neuen Erkenntnissen den Weg zu bereiten, und so wird man dem Hollitscher rechtzeitig – und ohne dass er erst Schaden anrichten kann – das Maul stopfen.«
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lichen Erkenntnissen. 1953, spätestens 1956 entpuppten sich diese Ideale als Illusionen. Aber es bleiben eben in Gestalt des nun kurz vorzustellenden Briefes auch die damaligen Chancen und Möglichkeiten präsent in der Geschichte, die nicht genutzt wurden. Harich teilte Gehlen mit, dass er ab dem 1. Juli 1952 eine längere Vortragsreise durch Westdeutschland absolvieren werde (er hielt Vorträge über Herder und Heine) und nach seinem Termin in Heidelberg nach Speyer kommen werde. In persönlichen Gesprächen gelte es dann die beiden oben angesprochenen Möglichkeiten auszuloten. (Die entsprechenden Ausführungen wurden bereits wiedergegeben.) Ein Stück weit die schlugen die damals existierenden Realitäten durch, wenn Harich geltend machte: »Andererseits gibt es auch in der vierten Auflage Ihres Buches (die jetzt hier bei Parteitheoretikern etc. kursiert) gewisse Stellen, wo sich manches in uns sträubt: Novalis, Nietzsche und Pareto lieben wir nicht, am wenigsten Pareto. Wir sind uns zwar klar darüber, dass es auch bei diesen Denkern wertvolle Einsichten gibt, und sehen deutlich, dass Sie ausschließlich solche Einsichten im Menschen zitiert haben, ohne in irgendeiner Hinsicht dem romantischen Obskurantismus und der faschistischen Ideologie Vorschub zu leisten. Aber es gibt eben heute noch Wunden, die nicht vernarbt, Tränen, die nicht getrocknet sind, und erst in Jahren werden wir so weit sein, das partielle Gute uns auch aus Nietzsche und Pareto heraus zu picken und gebührend zu würdigen. Dass der Pragmatismus ›die einzige bisher erschienene Philosophie‹ sein soll, ›welche grundsätzlich den Menschen als handelndes Wesen ansieht‹ (Seite 329), will uns auch nicht munden. Alle diese Beanstandungen treffen zwar niemals das Wesentliche Ihrer Theorie. Aber könnte man nicht dafür Sorge tragen, dass sich das Wesentliche bei uns recht bald und ohne Missverständnisse durchsetzt – ohne Missverständnisse, die unabsehbare Umwege, Verzögerungen und Anfeindungen seitens dogmatischer Flohknacker mit sich brächten?«104
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Weiter dann: »Mit anderen Worten: Ich will Sie zu einer überarbeiteten Lizenz-Ausgabe des Menschen für die DDR veranlassen. Wenn Sie dies ablehnen sollten, so würde ich nach meiner Rückkehr hier für Sie vorbereitend die Reklametrommel rühren: Einerseits durch kritische Würdigung Ihrer Leistung in Form von Essays, Artikeln, Vorträgen usw., andererseits durch interne Diskussionen mit führenden sowjetischen und deutschen Genossen. Ich glaube, dass ich es dann schaffen würde, die Verbreitung Ihres Werkes in der DDR auch mit Nietzsche- und Pareto-Zitaten durchzusetzen; aber das würde natürlich länger dauern, und mir scheint, dass wir in einer Zeit leben, in der der 'Weltgeist' Eile hat, in der man es sich also eigentlich nicht leisten kann, mit solchen wichtigen Dingen zu säumen. Kurzum: Dies muss ich mit Ihnen besprechen.«
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Doch nicht nur für den Marxismus und die DDR sei Gehlens Theorie wichtig. Auch umgekehrt gelte, dass Gehlen sich in der DDR endlich wirklich entfalten werden können. Er würde auf ein System treffen, in dem die Philosophie eine vorrangige Rolle spiele und die öffentlichen Debatten und Diskurse bestimme. »Ein großer Vorteil des geistigen Lebens in der DDR liegt darin, dass die maßgebende Leute in Politik, Wirtschaft und Kultur fast ausnahmslos witzige, kluge und gebildete Menschen sind. Ein weiterer Vorteil ist, dass hier philosophische Bücher wirklich gekauft und gelesen werden. Die Bücher von Lukács sind bei uns – und wir sind auf ein Drittel Deutschlands angewiesen – in Auflagen von bis zu 50 000 Exemplaren erschienen und immer sehr bald vergriffen gewesen. Ernst Blochs kompliziertes und anspruchsvolles Hegel-Buch erschien in 20 000 Exemplaren. Die Auflagenziffern von Spinoza, Kant, Herder, Goethe und Hegel gehen ins Phantastische, von den marxistischen Klassiker ganz zu schweigen.«
Die von Harich an den Tag gelegte Euphorie verschwand schnell. In Speyer kamen die beiden einander auch persönlich näher und, wie bereits angesprochen, ihre freundschaftliche Korrespondenz hielt bis zu Gehlens Tod an. Allerdings muss Harich in Speyer oder den Monaten danach klar geworden sein, dass Gehlen am Marxismus kein Interesse habe und auch nicht in die DDR kommen werde, weder persönlich noch in gedruckter Form. Am 25. April 1953 antwortete er auf Gehlens Frage, womit dieser ihm eine Freude machen könne: »Wenn Sie einen Aufsatz über Herder (zum 150. Todestag im Dezember) für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie schreiben würden. Aber das werden Sie ja wohl doch nicht tun!« ***** Harich nahm den Kontakt zu Gehlen sehr wichtig. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass der vorliegende Band dokumentiert, wie er verschiedene Briefe anfing und dann erneut ein zweites Mal verfasste, um bestimmte Dinge, die er sagen wollte, besser zu formulieren, Vergessenes hinzuzufügen usw. Zudem ist damit evident, dass sein »werben« um Gehlen und dessen Theorien Ernst gemeint war. Eine These, die sich auch dadurch belegen lässt, dass die Schilderung der DDR und der in dieser handelnden Personen, die Harich gegenüber Gehlen gab, mit dessen eigentlichen Überlegungen kaum zusammenkommen. Er vertrat also nach außen, gegenüber Gehlen ein »schöngefärbtes« Bild der DDR. Er verschwieg fast alles von dem, wogegen er ankämpfte, er
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verschwieg seine eigenen Probleme – wenn man so will: Im Namen einer marxistischen Anthropologie. Ende 1956 wurde Harich in der DDR verhaftet und anschließend zu einer zehnjährigen Zuchthausstrafe verurteilt – wegen »Bildung einer konspirativen staatsfeindlichen Gruppe«. Der briefliche Kontakt zu Gehlen brach natürlich ab. Im Prozess gegen Harich selbst waren, dies sei nur kurz angemerkt, alle philosophischen und wissenschaftlichen Belange ausgeklammert, es ging ausschließlich um politische Fragen. Gleichzeitig unternahm die Staatssicherheit aber enorme Anstrengungen, um die Drucklegung weiterer Harich-Texte zu verhindern, es wurden sogar bereits ausgelieferte Bücher mit Texten von ihm aus dem Verkehr gezogen. Im Dezember 1964 wurde Harich etwas vorzeitig aus der Haft entlassen (Anlass war eine Amnestie zum 15. Jahrestag der Gründung der DDR). Mit dem Journalisten und Theaterkritiker Friedrich Luft war Harich seit Mitte der vierziger Jahre, seit vielen gemeinsamen Tagen und Abenden im kulturellen Berlin,105 eng befreundet. Beider Kontakt hielt über Jahrzehnte. Friedrich Luft nun schrieb am 10. Juli 1965 an Gehlen, dass er in Ostberlin Harich getroffen habe und es diesem, den Umständen entsprechend, soweit ganz gut gehe.106 Harich habe Luft gebeten, dass dieser seine Grüße an Gehlen übermittle. Es würde ihm nicht als opportun erscheinen, Gehlen zuerst zu schreiben, aber wenn dieser sich melden würde, dann könnte er antworten. Es ging Harich demnach auch darum, gegenüber den Behörden der DDR den Eindruck zu vermeiden, als ob er versuchen würde, alte, westliche Kontakte zu erneuern. Gehlen reagierte sehr schnell, bereits am 14. Juli 1965. Und Harich antwortete, den ersten Brief begann er am 22. Juli, schickte diesen dann aber nicht ab. Er schrieb am 23. erneut: »Aus dem an der Ostsee verbrachten Sommerurlaub zurückkehrend, fand ich zu Hause Ihren Brief vom 14. Juli vor, über den ich mich riesig gefreut habe und für den ich Ihnen vielmals danken möchte. Es ist sehr schön für mich, mit Ihnen nun wieder in Verbindung 105 106
Siehe die immer noch interessanten Schilderungen bei: Schivelbusch, Wolfgang: Vor dem Vorhang. Das geistige Berlin, 1945–1948, Frankfurt am Main, 1997. Den Brief von Friedrich Luft an Arnold Gehlen, 1 Blatt, maschinenschriftlich, mit handschriftlichem Vermerk von Harichs Adresse, stellte mir Karl-Siegbert Rehberg zur Verfügung, dem dafür recht herzlich auch an dieser Stelle gedankt sei.
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zu stehen. Das Letzte, was ich vor der langen Pause von Ihnen bekam, war 1956 Ihr – ich glaube damals von mir sogar telegraphisch erbetenes – Buch Urmensch und Spätkultur. Es kam damals leider nicht mehr dazu, dass ich mich darüber zu Ihnen äußern konnte, aber in den Jahren 1957/1958 hatte ich das Buch, das mir großen Genuss bereitete und viele wichtige Erkenntnisse vermittelte, monatelang ständig bei mir (in den ersten Jahren seiner Haft durfte Harich nicht lesen, AH), mit dem Ergebnis, dass es jetzt, von oben bis unten mit Randnotizen beschrieben, neben mir liegt. Diese Notizen will ich nun in den nächsten Wochen noch einmal durchlesen und dann in einem späteren Brief an Sie wenigstens stichwortartig zu einigen Fragen, in denen ich mit Ihnen nicht ganz einverstanden bin, Stellung nehmen. Dass ich in Grundpositionen Ihr begeisterter Anhänger bin, versteht sich nach wie vor von selbst. Meine Einwände möchte ich vorläufig in dem Vorwurf ›Entökonomisierung der Soziologie‹ zusammenfassen. Was ich des Nähren darunter verstehe, will ich Ihnen später in Ausführungen vor allem zu Seite 38 unten bis Seite 39 erstes Drittel Ihres Buches konkret auseinandersetzen. Heute nur soviel, dass ich es im Ganzen genommen wieder ein großartiges Werk finde.«
Der Kontakt zwischen beiden war wiederhergestellt. Die für Harich interessanten Themenschwerpunkte waren nach seiner Haftentlassung auf philosophischem Gebiet durchaus identisch mit seinen Arbeiten vor 1956. Er beschäftigte sich wieder mit der klassischen deutschen Philosophie des Idealismus im Allgemeinen und mit Hegel und Kant im Speziellen, er arbeitete zur Logik und nahm auch frühere literaturwissenschaftliche Studien erneut auf. Die Anthropologie blieb dabei Teil des Fundaments seines Denkens, spielte aber nicht mehr die entscheidende Rolle, trat eher in den Hintergrund. Mit Blick auf Gehlens Theorien wurden für Harich nun zwei andere Felder bedeutsam: a) Überlegungen zu Kunst, Kultur und Ästhetik und b) seine Arbeiten zur Anarchie. Der erste Punkt ist im Folgenden anzusprechen, den Überlegungen zur Kritik der 68er-Bewegung dann anschließend Platz einzuräumen. Die Ablehnung vieler Facetten der modernen bzw. modernistischen Kunst gehörte für Harich zum Kernbestand seines Denkens. Er war durchaus offen für Neues und Erneuerung, es genügt dafür bloß an seine Freundschaft Bertolt Brecht zu denken und wie er diesen in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren gegen zahlreiche Angriffe, auch von Seiten der Partei, verteidigte.107 Aber, um es ganz banal zu sagen, 107
Harichs wichtige Schriften, Briefe, Artikel usw. zu, über Brecht finden sich in den Bänden 1.1, 1.2 und 1.3. Dort vor allem der Brief an Anton Ackermann vom 17. Januar 1949
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ein Ölklecks war für ihn eben ein Ölklecks – und er weigerte sich, in solchen politische oder kulturelle Botschaften zu suchen. Nachzulesen ist seine Position in der Auseinandersetzung mit Heiner Müller, die seinerzeit hohe Wellen schlug.108 Am 20. August 1965 formulierte er dies in einem Brief an Gehlen wie folgt: »Ich kann mich eben nicht glaubwürdig dafür einsetzen, dass Leibniz im Studienplan breiter behandelt werden muss und dass uns eine vollständige Hegel-Ausgabe not tut und dass anerkannt werden sollte, dass es bei Nicolai Hartmann und bei Ihnen noch viel für uns zu lernen gibt, wenn ich gleichzeitig Agitation für den Bildungswert irgendwelcher verbogenen Drahtspiralen oder undefinierbarer Klecksereien mache. So stehen die Fragen hier. Und da soll ich nun auch noch darauf Rücksicht nehmen, dass ich potentiell linkssympathisierende Bohémiens in den Ateliers und Cafés von Düsseldorf nicht vor den Kopf stoße? Da bin ich einfach überfordert, das ist zu viel verlangt.«
Eine längere Passage aus seinem Manuskript Die Baader-Meinhof-Gruppe, das als geplanter Anhang für Zur Kritik der revolutionären Ungeduld in den frühen siebziger Jahren entstand, kann Harichs Position exemplarisch verdeutlichen: »Während in der DDR junge Leute zu schreiben anfangen, die mit den spezifischen Sozialismusproblemen auf vertrauterem Fuß stehen als jene heimgekehrten Emigranten, dabei aber auch kritischer sehen und besser schreiben können als die, die sich vor ihnen, mit ebenso geruchlosem Kopf wie ihre westdeutschen liberalen Kollegen, um das Leben und Treiben in LPGs und volkseigenen Betrieben bemüht haben – ich nenne unter den konstruktiv-kritisch duftenden Neuen nur de Bruyn und Welk –, während sich dies, wie gesagt, unmerklich in der DDR vollzieht, kommt in Westdeutschland in den sechziger Jahren das Krisenbewusstsein wieder auf volle Touren, wirft die liberalen Illusionen über Bord, stinkt bald so impertinent, dass Bundeskanzler Erhard mit zugehaltener Nase ›Pinscher‹ röchelt, bis schließlich die ihm folgenden Regierer gar nichts mehr sagen,
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(abgedr. in: Band 1.3, S. 1481–1493). Zentral ist auch die Auseinandersetzung mit Fritz Erpenbeck, der Brechts Mutter Courage Formalismus, »volksfremde Dekadenz« und ähnliches vorgeworfen hatte. Harich reagierte in der Weltbühne (Nr. 6, 1949) mit dem Aufsatz Trotz fortschrittlichen Wollens (neu abgedr. in: Band 1.1, S. 265–270). Harich hatte den Dingo-Aufsatz im Oktober 1972 geschrieben, er erschien unter dem Titel Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß zuerst 1973 in der Sinn und Form (Heft 1). Wir verweisen hier auf die im Juni 1973 überarbeitete und auf der Basis der laufenden Diskussion ergänzte Neuedition der Schrift, erschienen im Rowohlt Literaturmagazin, Nr. 1, 1973, S. 88–122.
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sondern sich nur für alle Fälle still eine Gasmaske aufsetzen, bevor sie eine Neuerscheinung aufschlagen. Subversion und Zersetzung werden dernier cri. Das waren sie schon zweimal, in den Jahren der Weimarer Republik, erst unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg bis ungefähr 1923, dann wieder zwischen 1929 und 1933, beim zweiten Mal wesentlich schwächer, aber auch weniger verworren. Die neue westdeutsche Situation aber weist demgegenüber zwei bemerkenswerte Besonderheiten auf, die jedem Marxisten zu denken geben müssen. Einerseits fehlt, im Unterschied zur Weimarer Zeit, die reaktionär-faschistische Kritik am Bestehenden, der Gestank aus den Ärschen von rechts, fast ganz und ist so unbedeutend, dass man überhaupt nur dann von ihm spricht, wenn ein ihn verbreitender obskurer Winkelverlag aus der Ausstellungshalle der Frankfurter Buchmesse davongejagt wird – für einen Marxisten ein vielversprechendes Symptom dafür, dass, wenn jetzt noch einmal die geistige Subversion in eine praktische Umwälzung des Bestehenden hinüberwachsen sollte, größere Chancen als je zuvor existieren, ein Ausrutschen des Prozesses nach rechts, in Richtung Faschismus, zu vermeiden. Einander konfrontiert sind fast nur noch die linken Zersetzer und die letzten wankenden Gestalten liberaler Geruchslosigkeit aus der Ära Adenauer. Bemerkenswert ist ferner, dass die geistige Linke sich keineswegs nur aus den Erben analoger Erscheinungen der Spätzeit der Weimarer Republik rekrutiert, sondern sich ihr auch emotionaler getönte Typen zugesellt haben, die damals mit der gleichen Mentalität ganz sicher den Brodem einer Blut- und Bodenmystik ausgeströmt hätten, sich jetzt jedoch rational und aufklärerisch gebärden, um sich, wenn ihnen das nicht gelingen will, mit einem linken Modeslogan auf den Lippen ans Zerstören und Zerschlagen der noch übriggebliebenen Reste literarischer Formkultur zu begeben. Sie trauen sich nicht, so verquollen zu sein, wie es ihnen eigentlich läge. Also ist es ihnen lieber, dass das geschriebene Wort ganz kaputt gemacht wird, ehe die sich anbahnende Revolution merkt, wie wenig sie ihr zu sagen haben. Denn dass die kommt, spüren selbst sie in ihrer heimlichen Verquollenheit, und ein Plätzchen in dem Pantheon, worin die Revolution ihre Wegbereiter ehren wird, möchten sie sich auch gern ergattern. Andererseits – politisch noch erfreulicher, für den Literaturfreund freilich noch bedauerlicher: Die übelsten Zersetzer links, die von Schwefeldioxyd bestialisch qualmenden, sind dermaßen von Sehnsucht nach revolutionärer Praxis besessen, dass sie es gar nicht mehr auf ihren Schreibtischstühlen aushalten und so eigentlich gar nichts mehr zu Wege bringen. Öffnet man die Fenster, lässt man die chemischen Wolken ihrer früheren Produktion abziehen, so stellt sich heraus: Sie stinken eigentlich nur noch nach Faulheit, genannt dokumentarische Literatur. Man kauft einen neuen Enzensberger, siehe da, es ist eine Kompilation aus Werken anderer. Man geht in die Aufführung eines Stücks von Peter Weiß, vorgespielt werden einem Prozessprotokolle, die er beim Durchlesen zusammen-
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gestrichen und aus denen dann vermutlich seine Sekretärin mittels Schere und Tesafilm ein Drama fabriziert hat. Genossin Runge trägt ihr Tonbandgerät durch die Gegend, um das, was ihr Buch sein wird, von anderen ins Mikrophon sprechen zu lassen. Diese Faulheit der ganz Linken ist das deutlichste Symptom dafür, das nächstens die Gedanken der Revolution verstummen und ihre Waffen sprechen könnten. So hielt der subversive französische Geist den Atem an, nachdem Voltaire und Rousseau tot waren, um nur noch den kleinen Beaumarchais mit seinem Figaro hervorzubringen, ein Krümelchen, gemessen an den Giganten, die davor das Feld beherrscht hatten. So versickerten und verlepperten sich Junges Deutschland und Junghegelianertum gegen Ende des Vormärz, derweil Marx und Engels in Paris, Brüssel, London aus der Bewegung des westeuropäischen Proletariats ihre Schlüsse zogen. So bar aller Tschernyschewskijs und Dobroljubows war die russische Linke am Vorabend des russisch-japanischen Krieges. Außer Gorki, der sich zu der Zeit dem Drama zuwandte und das Nachtasyl verfasste, waren es links eigentlich nur noch Parteimarxisten, Bolschewiki, Menschewiki, Weltkind Trotzki in der Mitte, die emsig die Federn übers Papier gleiten ließen zwecks Verfertigung einer immer mehr praxisbezogenen, meist Organisationsfragen behandelnden Literatur, während der unter ihnen, der am unbeholfensten schrieb, der einen fast archaisch anmutenden Stil hatte, ein junger Mann im Kaukasus mit mehreren Decknamen – einer hieß Stalin – sich zu den Taten rüstete, die Lenin noch 1905 dazu bewegen sollten, seinem Organisationsgenie die Aufgabe anzuvertrauen, dem innerrussischen Gruppengemengsel der bolschewistischen Fraktion der SDAPR eine feste, funktionsfähige Struktur zu geben.«109
Über die Verbindung von Anthropologie und Ästhetik hatte Harich 1953 den in diesem Band zum Abdruck kommenden Aufsatz Über die Empfindung des Schönen geschrieben. Darin heißt es: »Gehlen hat, wie wir sehen werden, durchaus die spezifisch menschlichen Erscheinungen in ihrer qualitativen Besonderheit im Auge und ist vor allem um deren Klärung bemüht. Wie in seinem anthropologischen Hauptwerk (Der Mensch – Seine Natur und seine Stellung in der Welt) geht es ihm auch auf ästhetischem Gebiet um das Verständnis des qualitativen Novums des Menschen. Freilich fehlen ihm, dem bürgerlichen Forscher, die Kategorien des dialektischen Materialismus, so dass er, bei aller Bedeutung seiner fachwissenschaftlichen Funde, nicht im Stande ist, die Kontinuität der Entwicklung und den qualitativen Sprung in ihrer gesetzmäßigen Einheit zu begreifen. Er lässt die Gegensätze unbewältigt nebeneinander stehen, beschränkt sich auf bloße Deskriptionen und redet in der Abstam109
Band 7, S. 282–284.
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mungsfrage gar einer reaktionären Skepsis das Wort. Auch ist er weit davon entfernt, aus seiner eigenen Entdeckung sachlich sehr naheliegende Schlussfolgerungen zu ziehen, die die Ästhetik des Realismus von einer neuen Seite her rechtfertigen würden. Trotz alledem enthalten seine Ausführungen einen rationellen Kern, der sie derart bedeutend macht, dass die materialistische Ästhetik an ihnen nicht vorbeigehen kann.«
Harichs Kunstverständnis zeigt sich auch sehr gut in jener Aufzählung, die er am 8. März 1952 Gehlen brieflich mitteilte. Dieser hatte von »gewissen Machwerken der abstrakten Kunst« gesprochen und Harich entwickelte dann seine Überlegungen zu einer marxistischen Ästhetik und darüber, wie diese den Verfall der bürgerlichen Kultur erkläre. Die von ihm angesprochenen 10 Punkte können hier (nach der zweiten und endgültigen Version des Briefes) vollständig wiedergegeben werden: »1) Der Kapitalismus unterwirft die Kunst den Gesetzen der Warenproduktion und des Absatzes. Daraus folgt: Massenproduktion von leicht absetzbarer Pseudokunst, die den schlechten Geschmack der Massen als ergiebigen Markt benutzt und gleichzeitig diesen ergiebigen Markt fortlaufend reproduziert. Was begehrt ist, wird geliefert, gleichzeitig sorgt das Gelieferte dafür, dass die Begehrnisse im Zustand der Minderwertigkeit erhalten bleiben. (Unter Pseudokunst verstehe ich hier: Kitsch jeder Art, Schlager, Kriminalromane, seichte Operetten, amoralische Filme, pornographische Magazine usw. usf.) 2) Der Kapitalismus, eine Ausbeuteordnung, hindert die Massen der Werktätigen daran, sich die Schätze wirklicher Kultur und Bildung anzueignen, hindert sie damit an der Entfaltung eines guten ästhetischen Geschmacks und liefert sie so der Pseudokunst aus. 3) Ein erheblicher Teil der ernsthaften Kunstproduzenten verliert angesichts des allgemeinen Banausentums, das den Ton angibt, die demokratische Orientierung, flüchtet sich in Menschenverachtung, snobistische Esoterie, l’art pour l’art und ausgeklügelte Atelier›probleme‹. 4) Der untergehende Kapitalismus, der so schändlich ist, dass er nicht mehr als Kapitalismus gerechtfertigt werden kann, produziert Ideologien der ›indirekten Apologie‹, Ideologien, die den Intellektuellen die Möglichkeit der ›Rebellion‹ vortäuschen und sie gleichzeitig daran hindern, zum Kern der Sache vorzudringen. Diese ›Rebellionen‹ verleihen das ›erhabene‹ Gefühl, ›radikal‹ zu sein, und sind trotzdem sehr bequem, weil sie die Unbequemlichkeit des Kampfes für die wirklich radikale Sache, für die proletarische
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Bewegung, für den Kommunismus, sozusagen ersparen. Solche ›Rebellionen‹ sind: Nietzsches Schmähungen auf den liberalen ›Philister‹, jede Art von Propaganda für die ›Befreiung‹ wessen? des Penis (so bei Wedekind!), der Trotzkismus und neben vielem anderen auch die abstrakte ›Kunst‹, die sich ungeheuer umstürzlerisch vorkommt, aber den ›Umsturz‹ im Salon veranstaltet. Oftmals werden damit ehrlich rebellische Tendenzen, ehrlicher Abscheu gegen Spießerei usw. abgefangen und entweder ins absolut Harmlose abgelenkt oder sogar – siehe die ›nationale Revolution‹ der Faschisten – unmittelbar der finstersten Reaktion dienstbar gemacht. 5) Die abstrakte ›Kunst‹ trägt dazu bei, dass die Volksmassen dem Kitsch und Schund wehrlos ausgeliefert bleiben, weil sie die Schwerverständlichkeit der Kunst ins Extreme steigert. Sie erzeugt geradezu Ressentiments gegen die Kunst, leider nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen die große, wahre Kunst. 6) Die untergehende Bourgeoisie kann die Wahrheit in der Kunst nicht vertragen, deshalb begünstigen ihre Klasseninteressen sowohl süßliche Idealisierungen des Lebens (in dieser Hinsicht liegt der Märchenprinz aus der Operette mit den Gipsheroen des Herrn Thorack auf einer Stufe), als auch abstrakte Verzerrungen der Wirklichkeit, beides je nach Lage der Dinge abwechselnd. 7) Die untergehende Bourgeoisie hat keine Ideen mehr. Sie hat die alten Ideen ihrer eigenen revolutionären Epoche entweder über Bord geworfen und durch barbarische Ideologien ersetzt (Hitler) oder zu ausgehöhlten, heuchlerischen liberalen Phrasen werden lassen (›Freiheit‹ im Munde von McCloy!). Gleichzeitig muss sie sich mit Händen und Füßen dagegen zur Wehr setzen, dass die neuen Ideen des Kommunismus auf die Intelligenz Einfluss gewinnen. In ihrer völligen Ideenlosigkeit kann die untergehende Bourgeoisie der Kunst keine ideellen Impulse mehr geben. Die Kunst wird so selbst zu einem ideenlosen Plunder. 8) Da das Bedürfnis nach etwas Neuem – wenn auch unklar und verworren – bei den Intellektuellen lebendig ist (man befindet sich in einer Umwälzungsepoche), da sich aber wirklich Neues, schöpferisch Neues mit den Interessen der Herrschenden nicht verträgt, werden Surrogate des Neuen (Moden, inhaltslose Originalität um jeden Preis) angebetet. 9) Die gesellschaftlichen Katastrophen des Zeitalters (Weltkriege, Weltkrisen, Revolutionen, Bürgerkriege) werden von denen, die ihnen nicht auf den Grund gehen (auf den
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ökonomischen Grund), als eine einzige ausweglose Apokalypse missverstanden, und diese Mystifizierung der nicht begriffenen gesellschaftlichen Realität, in der scheinbar ›alles drunter und drüber geht‹, spiegelt sich ebenfalls in der ästhetischen Formzertrümmerung der ›Abstrakten‹ wider. 10) Dies alles ist natürlich von niemandem beabsichtigt, sondern vollzieht sich – wie alle gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse im Kapitalismus – spontan, mit elementarer ›Naturgewalt‹, und je weniger sich die Beteiligten über die letzten Ursachen und Zusammenhänge im Klaren sind, desto ohnmächtiger stehen sie dem allen gegenüber.«
Soweit Harichs Überlegungen, die dessen Denken in den fünfziger ebenso wie in den achtziger Jahren prägten. Auch für die marxistische Ästhetik gebe es bei Gehlen einiges zu entdecken – allen bürgerlichen Grenzen und Beschränkungen, der gerade wiedergegebenen Kritik zum Trotz. Vielleicht kann man sogar so weit gehen, diese Überlegungen dahingehend zuzuspitzen, dass das Gebiet der Ästhetik die große verbindende Klammer zwischen jenen drei Theoretikern war, denen Harich großen Respekt entgegenbrachte: Nicolai Hartmann, Georg Lukács und eben Gehlen. Alle lehnten die verkrampfte Moderne ab und bekannten sich zu den klassischen Idealen – zu den Höhepunkten der antiken Kultur ebenso wie zu Goethe oder zu den Meisterwerken der realistischen Literatur. Bei Hartmann wird Harich früh jene Anregungen empfangen haben, die sein im Elternhaus vermitteltes Kunst- und Kulturverständnis auf eine neue, auf wissenschaftliche Ebene hoben. (Die Gegnerschaft zwischen Hartmann und Gehlen berührte nicht die Fragen der Kunst oder Ästhetik, sondern immer nur der Ontologie.)110 Bei Lukács und Gehlen fand Harich dieses Kunstverständnis dann erneut 110
An Frida Hartmann hatte Harich am 6. März 1986 geschrieben: »Zu Gehlen. Er nimmt ›durchlaufende‹ Kategorien des Menschseins an, die in jedem Individuum die Stufenschichtung durchbrechen. Diesen Gedanken hat er in polemischer Auseinandersetzung mit dem Schlichtungsgedanken, wie Scheler ihn fasst, herausgearbeitet, und das Ergebnis brachte er 1940 heraus, in dem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Und just im selben Jahr erschien der Aufbau der realen Welt, mit dem Schichtenkonzept Nicolai Hartmanns, von dem Gehlen bis dahin nichts gewusst hatte (sonst hätte er sich mit Nicolai Hartmann in Verbindung gesetzt und versucht, es ihm gesprächsweise noch auszureden). Nun ließ es Gehlen keine Ruhe, noch einmal zu den Schichten, erst recht zu ihnen in der gediegeneren Version Nicolai Hartmanns, öffentlich Stellung zu nehmen. In dem Sammelband Systematische Philosophie, von 1942, traute er sich das nicht. Die Gelegenheit ergab erst die Vorbereitung des Bandes Der Denker und sein Werk, zum 70. Geburtstag Nicolai Hartmanns. Hierzu steuerte Gehlen den Aufsatz Der Cartesianismus Nicolai Hartmanns bei. Dann starb Nicolai Hartmann, und Heimsoeth und Heiß wiesen aus Pietätsgründen den Beitrag Gehlen zurück. Er ist dann erst nach Gehlen
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wieder und es überrascht in diesem Sinne nicht, dass Lukács sowohl Gehlen als auch Hartmann in seinen Alterswerken auf Vermittlung Harichs intensiv rezipierte. Im Interview mit der Frankfurter Rundschau zum Tod von Arnold Gehlen sagte Harich in diesem Sinne: »Überprüfen Sie einmal, wie oft in Georg Lukács’ Eigenart des Ästhetischen Gehlen zitiert wird, und überzeugen Sie sich an den betreffenden Stellen davon, dass dort über weite Strecken einen kritisch-produktive Aneignung Gehlenscher Anregungen stattfindet.« In einem Brief vom 26. Oktober 1965 teilte Harich Gehlen mit:
Walther Harich
»Heute kann ich Ihnen etwas sehr Erfreuliches vermelden, falls Sie es noch nicht wissen sollten. Es ist Ihnen, und zwar in großem Stil, geglückt, nunmehr auch offiziell und namentlich genannt in den heutigen Marxismus einzudringen. Vor zehn Jahren setzte sich Georg Lukács an seine große Ästhetik, damals siebzig Jahre alt. 1955 und 1956 hatte ich viermal ausgiebig Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen und ihn, als er mir in großen Zügen seine Konzeption auseinandersetzte, auf Ihre philosophische Anthropologie aufmerksam zu machen, die er, wie ich ihm sagte, vor der Niederschrift des geplanten Werks unbedingt gelesen haben müsse. (…) Auch daran, dass er häufig Nicolai Hartmann anführt, den er früher nicht kannte, bin ich übrigens nicht unschuldig. Dessen Ästhetik, ebenso wie Ihren Menschen, habe seinerzeit ich ihm per Post zugeschickt. Ob der nun achtzigjährige Altmeister der materialistischen Dialektik die Zeit-Bilder schon zu Gesicht bekommen hat, weiß ich freilich nicht, und ich möchte deswegen auch nicht bei ihm anfragen, weil wir beide ja seit 1956/1957 ähnlichen Dreck am Stecken haben und sicher gut daran tun, uns noch ein Weilchen zu meiden. Aber wichtig und ein ›gefundenes Fressen‹ wären die Zeit-Bilder schon für ihn, und wenn Sie bereit wären, noch ein weiteres Ihrer BelegTod, aus dessen Nachlass, erschienen. (Gehlen konnte sehr eindrucksvoll nach Nicolai Hartmanns Ableben verzweifelt ausrufen: ›Hätte ich ihm doch wenigstens noch die Frage stellen können, wie er in seinen Schichten die psychisch bedingten Magengeschwüre unterbringt!!‹ Als ich ihn daraufhin auf den ›Raubbau am Leben‹ (Das Problem des geistigen Seins, 1. Aufl., S. 90 f.) verwies, rief Gehlen noch verzweifelter: ›Ja, aber es ist der Geist, der diesen Raubbau betreibt! Und wo bleibt da das seelische Sein?‹)« (Band 10, S. 915 f.)
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exemplare zu opfern, würde ich Ihnen die Budapester Adresse des Altmeisters zugehen lassen, vorausgesetzt, dass Sie in einem etwaigen Begleitschreiben mich ganz aus dem Spiel lassen und sich, am besten, nur auf Ihre Zitierung in der Eigenart des Ästhetischen (so heißt das Monsterwerk) beziehen.«111
Aber es gilt, in der Chronologie der Ereignisse einige Monate zurückzugehen. Am 5. August 1965 hatte Gehlen nach Harichs Haftentlassung zum zweiten Mal an diesen geschrieben und ihm seine Zeit-Bilder gesendet, jenes Werk, in dem er 1960 mit der modernen Kunst abrechnete. Harich nahm das Buch begeistert auf. Da er sich in seinem Antwortbrief vom 17. August aber zuerst mit Gehlens Urmenschen und Spätkultur auseinandersetzte, ließ er es bei der Mitteilung bewenden: »Ich bin jetzt auf Seite 42 und von allem schon sehr angetan, obwohl meine Kenntnisse auf diesem Gebiet ja nun nicht von weit her sind.« Drei Tage später schrieb er dann erneut. Einige Dinge sah er anders als Gehlen, aber die Zustimmung war prinzipieller Natur. Nicht zuletzt deshalb, da sich Gehlen überaus positiv zu den auch in der DDR hoch geschätzten realistischen Künstlern des 19. und 20. Jahrhunderts äußerte. Um ein Beispiel wiederzugeben: 111
Die Auslassung lautet: »Nun liegen die beiden ersten Bände – zusammen etwa 1 500 Seiten – gedruckt vor, Deutsch im Luchterhand-Verlag, Bundesrepublik, und wenn Sie sich das Namensregister ansehen, werden Sie feststellen, dass Sie oft und ausgiebig zitiert sind. Ich habe das Monsterwerk noch nicht zu lesen angefangen, es ist mir – und meinen westdeutschen Bekannten – auch zu teuer, und da warte ich erstmal die DDR-Ausgabe ab. Aber von meinem Freund Wolfgang Heise, der für die hiesige Deutsche Zeitschrift für Philosophie die Rezension darüber schreiben soll, weiß ich bereits, dass Lukács sich im Wesentlichen in positivem und anerkennendem Sinne auf Sie bezieht und in Ihnen vor allem einen Gewährsmann für hieb- und stichfeste empirisch-wissenschaftliche Fakten sieht.« An Frida Hartmann schrieb Harich, betreffs des anderen gewichtigen Alterswerkes von Lukács, am 1. Mai 1987: »Inzwischen bin ich in den Besitz nun auch des II. Halbbandes von Lukács’ großer Ontologie des gesellschaftlichen Seins, Bände 13 und 14 der Gesamtausgabe, Darmstadt und Neuwied (Verlag Luchterhand) 1984 bzw. 1986, gelangt. Das Register zu beiden Halbbänden verzeichnet im II. Halbband auf Seite 757 nur die Stellen, an denen Nicolai Hartmann namentlich erwähnt wird. Ich möchte Ihnen nun aber hier auch die Seitenzahlen aller Stellen übermitteln, an denen eine Bezugnahme auf Nicolai Hartmann, vielfach auch ohne Nennung seines Namens, zu finden ist; sei es, dass Lukács Gedanken Nicolai Hartmanns aufgreift und, oft in abgewandelter Form, übernimmt, sei es, dass er sie kritisiert. (Es folgt eine Aufzählung aller Seiten mit Verweisen, Übereinstimmungen usw., AH.) Wie Ihnen hieraus ersichtlich wird, führt der Weg zu einer differenzierenden Beurteilung und vorurteilsfreien kritischen Rezeption der Nicolai Hartmannschen Ontologie im wissenschaftlichen Leben der sozialistischen Länder und in den Reihen der internationalen kommunistischen Bewegung notwendigerweise über eine Stärkung des Ansehens und der Autorität von Georg Lukács.« (Band 10, S. 948 f.)
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»Ich blättere wieder in Ihrem Register und suche Käthe Kollwitz. Richtig, Sie haben Sie nicht vergessen, und zu meiner großen Freude rühmen Sie ›den gänzlich unverzerrten Ernst ihrer Leidensaussage‹ (S. 149). Mir fällt noch George Grosz ein: Der rangiert bei Ihnen unter ›expressionistischer Elendsmalerei‹ (die mit ihm und Dix abgelebt sei, S. 151). Ich würde ihn eher den eindringlichsten Entlarver des Gesichts der herrschenden Klasse nennen, den Mann, der die Proleten der zwanziger Jahre die Staatsanwälte, Richter, Generale und Großunternehmer der Weimarer Republik richtig sehen gelehrt hat und sie so in den Leserkreis der Roten Fahne hineinzog. Und wie sollte ich als Bewohner der Winsstraße in Berlin NO nicht an Heinrich Zille denken, dessen Gefährlichkeit für die Herrschenden von keinem Geringeren als Tucholsky gewürdigt wurde? (Bei alledem halte ich die Möglichkeit der bildenden Kunst, revolutionär aktivierend zu wirken, für außerordentlich begrenzt, und pflege in hiesigen Kunstdebatten dafür zu plädieren, die Maler und Zeichner in dieser Beziehung nicht mit Ansprüchen zu überfordern, die von der Literatur hergenommen sind. Aber so weit die bildende Kunst überhaupt im Stande ist, proletarisch-sozialistisches Klassenbewusstsein zu erwecken, kann sie das nur, wenn sie sich realistischer Mittel bedient.)«
Ausführlicher äußerte sich Harich über die »Ächtung« der modernistischen, der abstrakten Malerei in der Sowjetunion, die auf die künstlerischen Kreise in Europa zurückgewirkt habe. Er machte dafür, anders als Gehlen, mehrere Gründe geltend: 1) Zunächst einmal wären alle diese Künstler Pseudorevolutionäre, die mit den Wünschen des Volkes nichts zu tun hätten bzw. sogar innerhalb des Kapitalismus Ablenkungsfunktionen erfüllen würden. 2) Bei der Sowjetunion handle es sich um eine neue Gesellschaft, die mit allen Geburtswehen und Fehlern behaftet sei, gerade da sie eine über Jahrhunderte existierende alte Gesellschaftsformationen bekämpfe. »Und Sie zeigen in den Zeit-Bildern meisterhaft, dass die abstrakte Malerei das Endprodukt einer, mit dem Impressionismus einsetzenden, in sich reflektierten Subjektivität ist. Der Konflikt zwischen der Sowjetkunst und dem westlichen Modernismus war also unausbleiblich. Von diesem bemerken sie ganz richtig: Seine ›Opposition war insofern selbst noch bürgerlich, als sie an den noch stehenden Gegner gebunden blieb‹. Konnte auf gleicher Linie fortopponiert werden, als der Gegner seit 1917 in einem Teil der Welt nicht mehr ›stand‹? Natürlich nicht. Ich würde aber noch weiter gehen und sagen, dass die
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Opposition der Abstrakten a) von ihrem noch stehenden Gegner selbst infiziert war (von seiner Fäulnis) und dass sie b) eine echte Opposition überhaupt nicht gewesen ist (siehe oben!).«
3) Die sozialistische Revolution habe natürlich auch zur Folge, dass die »vom Leben abgekapselte parasitäre Intelligenzschicht, die zur Bourgeoisie dazugehört und von ihr erzeugt wird«, überflüssig werde. Sozialistische Kunst dagegen beschäftige sich nicht mit Atelierproblemen, sondern mit dem Leben der Menschen, mit den Herausforderungen der Zukunft, transportiere neue Ideen und soziale Gehalte. Diese Einstellung Harichs darf nicht mit dem platten und naiven »sozialistischen Realismus« verwechselt werden, gegen den er sein Leben lang ankämpfte und dessen scheußliche Folgen als Doktrin der Kulturpolitik er immer offenlegte und kritisierte.112 Sie waren vielmehr ein eindeutiges Bekenntnis zur bürgerlichen Tradition des Realismus und dessen Fortsetzung sowie Beerbung in der DDR. 4) Schließlich viertens: »Wo so viel verändert wird, wie in sozialistischen Ländern, da muss man aufpassen, dass nicht Kinder mit der Badewanne ausgeschüttet werden. Unter diesen Umständen wird für die Kultur zur Erzgefahr ein Revoluzzertum, das schlechthin alles umwälzen will, außer Schlechtem und Unnötigem auch Gediegenes, Wertvolles, Bewährtes – und zuweilen Gleichgültiges, das der Mühe nicht lohnt.« Dies seien »kindische und äußerliche Neuerungen« gewesen die nichts genutzt, aber auch – zumindest teilweise – nicht geschadet hätten. Einige dieser Neuerungen hätten jedoch den kulturellen Betrieb deutlich tangiert und determiniert. Harich sprach von sich selbst, von den Bemühungen seines Freundes Georg Lukács, auch von Ernst Bloch und so manchem anderen, mit dem er in den fünfziger Jahren verbunden war, wenn er aus diesen Überlegungen die Konklusion ableitete: »Das sind nun Erfahrungen, die gerade bei den besten, vernünftigsten und umsichtigsten Kommunisten einen Hang zur Verteidigung des Erbes, zur Pflege der wertvollen Traditionen aus früheren Epochen, der Errungenschaften, die der feudalen wie der bürgerlichen Vergangenheit zu danken sind, des Erhaltenswerten schlechthin, erzeugt haben. Und 112
Verwiesen sei exemplarisch neben dem bereits erwähnten Eintreten für Brecht vor allem auf das Engagement dieser beiden im Zuge des Arbeiteraufstandes von 1953. Zahlreiche gedruckte und ungedruckte Texte Harichs liegen dazu vor und kommen in dem Band mit seinen politischen Schriften zum Abdruck.
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diese Leute sind es, die – zum Segen ihrer Länder – aus den sozialistischen Staatskassen Millionengelder für die Erhaltung von Zarskoje Sselo oder Sanssouci abzweigen und dafür sorgen, dass wahrlich nicht-marxistische Philosophen wie Leibniz oder Kant in hervorragenden Editionen gedruckt werden. Und aus denselben Motiven wehren dieselben Leute sich dagegen, dass in der heutigen Kunstübung unter dem Einfluss der westlichen Moderne die Errungenschaften der Renaissance und des bürgerlichen Realismus abgebaut werden, dass – mit anderen Worten – das Schielen der Künstler nach den westlichen scheinradikalen Moden auch bei uns ein asylum ignorantiae, oder genauer: impotentiae, erzeugt, in dem die Trauben als sauer gelten, weil man sie nicht mehr malen kann.«
Wichtig war Harich, dass er seine Ausführungen gegenüber Gehlen nicht als umfängliche Kritik an diesem verstanden wissen wollte, sondern als Ergänzungen aus einem anderen Blickwinkel, letztlich als Stellungnahme von einem, der dabei gewesen war: »Ich glaube nicht, dass ich mit diesen Ausführungen gegen Sie überhaupt noch polemisiere, ich glaube vielmehr, dass ich hier Ihre Ausführungen in diesem einem Punkt eher ergänze. Sagen aber will ich, dass, wenn es die von Ihnen konstatierte Entpolitisierung der modernen westlichen Kunst unter dem Eindruck des sowjetischen sozialistischen Realismus gibt, es mit der spontanen Linksorientierung der Künstler, bei denen sie sich findet, nicht weit her sein kann: Es ist eine Linksorientierung ohne historischen Blick, ohne weiten Horizont, ohne Einfühlung in die Besonderheiten und Erfordernisse sozialistischer Kultur. Und bekennen möchte ich, dass ich es zwar begrüße, wenn in den sozialistischen Ländern jetzt, gegenüber der Epoche des Stalinschen Personenkults, den Künstlern viel mehr Bewegungsfreiheit für formale Eigenwilligkeiten gewährt wird – das kann à la longue der Entwicklung der Kultur nur zustatten kommen –, dass ich selbst aber innerhalb dieses erweiterten Toleranzraums nur desto energischer für einen gehaltvollen und technisch gemeistert Realismus eintrete und gegen den Morgenluft witternden Abstraktionismus Partei nehme. (Genau dasselbe tut ja auch Lukács!)«
Wenn in der DDR die Freiheit in Forschung und Kunst nun größer geworden sei, so Harichs Aussage in dieser Passage, dann bedeute dies für ihn, dass er nach wie vor das Recht habe, seinen Hang zum großen und hochstehenden Realismus zu verteidigen. Am 9. September 1965 ergänzte Harich dann in einem kurzen Schreiben:
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»Ich retiriere auf die heute beliebte ›Masche‹, die man den Zwischenbescheid nennt. Die Zeit-Bilder, dieses außerordentliche, mich von Seite zu Seite mehr fesselnde Buch, habe ich nun gelesen, mit immerfort wachsender Bewunderung und innigem Vergnügen, habe es partienweise anderen vorgelesen und, als ich selbst fertig war, sofort weiterverborgt. (…) Heute nur soviel, dass ich nicht wüsste, wann je ein so tief lotender Denker so viel blendenden Witz gezeigt hat; bei vielen Formulierungen blieb mir einfach der Atem weg, und auch den anderen, denen ich das zitierte. Na, und was denken Sie, wie es dem Berliner Ensemble wie Öl glatt heruntergegangen ist, dass Sie Brecht an der Spitze der Schriftsteller nennen, denen eine neue ›peinture conceptuelle‹ Gleiches zur Seite stellen sollte. Man stritt erst, ob das nicht etwa an der alphabetischen Reihenfolge der aufgeführten Namen läge. Aber da Be (Benn) dann vor Br stehen müsste und es doch nicht tut, ist man aufs Höchste befriedigt.«
Bertolt Brecht empfängt vom Präsident Wilhelm Pieck am Nationalfeiertag der DDR die Urkunde zum Nationalpreis I. Klasse.
Die Zeit-Bilder blieben für Harich lange Zeit wichtig. In dem bereits erwähnten Interview mit der Frankfurter Rundschau hatte er anlässlich der Frage, ob Gehlens Gesellschaftslehre total abzulehnen sei, ganz im Sinne dieser Einschätzung ausgeführt: »Eine solche Ablehnung wäre auch wieder zu einfach, da Gehlen, ungeachtet der zutiefst falschen Grundlagen seines soziologischen Institutionalismus, als Gesellschaftsdenker doch sehr treffende Beschreibungen des Kulturverfalls der kapitalistischen Länder geliefert hat. So gehörte er zum Beispiel zu den brillantesten Kritikern des Modernismus in der Kunst. Seinem Buch Zeit-Bilder (1960) kann der Sozialismus überaus wertvolle Argumente für die Begründung seiner Kulturpolitik entnehmen. Das Werk ist ein einziges Waffenarsenal gegen die modernistische Zersetzung, für die Verteidigung des Kulturerbes einer großen Vergangenheit. Als ich es las, war ich blass vor Neid, dass der Verfasser, ein
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Konservativer, ein Klassenfeind, darin Dinge erkennt und ausspricht, die ich seit jeher so empfunden hatte, aber zu formulieren nie im Stande gewesen war.«
Neben der Ästhetik wurde, wie bereits angedeutet, das, allgemein gesprochen, Thema »Institution« eine Herausforderung für Harichs Denken. Am 26. Oktober 1965 nahm er zu Gehlens Urmensch und Spätkultur Stellung und schrieb in diesem Zusammenhang: »Zu Seite 119: Hier schrieb ich an den Rand: Hier wie schon auf Seite 74 kommt bei Gehlen der neokonservativistische Pferdefuß zum Vorschein. Sein richtiger und vernünftiger Lobgesang auf die Institutionen überhaupt schlägt an diesen Stellen in eine Rechtfertigung des Bestehenden, unbesehen, ob es gut oder schlecht ist, um. Das ist erstens politisch und weltanschaulich reaktionär, zweitens aber auch unlogisch bei einem Denker, der ansonst die Relativität aller konkreten, historisch gegebenen Institutionen so scharf betont, der so Tiefes und Wahres darüber gesagt hat, dass die Definition des generell Menschlichen sich nicht von den Vorlieben und Vorurteilen irgend eines einzelnen Zeitalters abhängig machen darf. – Natürlich bedarf der Mensch der institutionellen Eingefasstheit überhaupt, aber er bedarf keineswegs auf die Dauer der bestehenden bürgerlichen Institutionen, so wenig wie er der feudalen Institution bedurfte. – Auf der gleichen Seite verweist ein Pfeil auf Seite 118, zweiter Absatz, letzter Satz: ›Und das haben wir erlebt, was aus den Menschen wird, wenn sie usw.‹ An den Pfeil schrieb ich noch die Bemerkung: 1) Es kommt darauf an, in welcher Richtung die Menschen aus ihren Institutionen heraus gezwungen werden und in welche neuen man sie hinein zwingt. (Es kommt auch vor, dass einer sich von einem speckigen, alten Hut nicht trennen kann und sich dann schließlich doch wohler fühlt, wenn die Eheliebste ihn zum Kauf eines neuen gezwungen hat.) 2) Wurden im Faschismus – den Gehlen hier meint – die Menschen denn wirklich auf der ganzen Linie aus bestehenden Institutionen heraus gezwungen? War der Faschismus nicht vielmehr umgekehrt ein Weg, schlechte, überlebte Institutionen krampfhaft zu verteidigen und zu verewigen, in Spanien sogar mit den Mitteln militärischer Intervention von außen, gegen den erklärten Willen des Volks?«
Mit dem Institutionenbegriff Gehlens konnte und wollte sich Harich als Marxist nicht arrangieren. Die Welt, um es ganz banal zu formulieren, sei als Ganzes und in allen Einzelheiten in ewiger Veränderung begriffen. Alles entstehe und alles vergehe. So auch die Institutionen – und zwar wirklich jede. Dass der Mensch Institutionen als solche brauchen würde, immer, dieser Gedanke war für Harich grundlegend und er wich dergestalt vom Marxismus ab. In Kommunismus ohne Wachstum hatte er 1975 gezeigt,
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dass der Mensch wegen der zahlreichen Probleme und Herausforderungen nie auf Herrschaft (von Menschen über Menschen und nicht nur über Sachen) werde verzichten können. Schon in Die Baader-Meinhof-Gruppe hatte er einige Jahre zuvor geschrieben: »Ob sich dann unter den Bedingungen einer derart gemischten, teils marktwirtschaftlich, teils sozialistisch, teils gleichheitskommunistisch geregelten Weltwirtschaft auf der Basis des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln jener bessere, sich in jeder Beziehung sozial verhaltende, sowohl an der Arbeit Spaß habende als auch die Natur ehrfürchtig und liebevoll respektierende Neue Mensch herausbilden wird, dem man noch mehr an Kommunismus und Freiheit wird zugestehen können, das wird sich zeigen, darüber jetzt nachzudenken, wäre in Anbetracht der entstandenen Lage völlig müßig. Selbst gesetzt jedoch, dieser Neue Mensch hätte so vernünftige, soziale und naturfreundliche Bedürfnisse, dass die Verwirklichung des Prinzips ›Jeder nach seinen Bedürfnissen‹ keine Gefahren mehr mit sich brächte, dann wären sie doch ganz gewiss nicht dem einzelnen Individuum angeboren wie ein tierischer Instinkt und auch nicht auf die nächste Generation auf dem Weg biologischer Vererbung übertragbar – das widerspräche allen Einsichten der Biologie, Anthropologie und Ethnologie. Sondern sie müssten Generation für Generation jedem einzelnen Individuum anerzogen werden. Womit gesagt ist, dass wir uns auf die Paradoxie einer kommunistischen Gesellschaft gefasst machen müssten, in der zwar die Erwachsenen nicht mehr unter autoritären Druck gesetzt werden brauchten, wohl aber, wenn auch noch so gelinde und behutsam, die Blumenbeete zerstörrenden, hässliche Kröten totschlagenden, die Antibabypillen ihrer Mutti heimlich als Leckerei vernaschenden und zu sonstigen Untaten aufgelegten Kinder (dass sie, wie wir einst, zu früh an ihren Geschlechtsorganen herumzuspielen geneigt sein werden, wollen wir ihnen nach unseren neuesten pädagogischen Einsichten durchgehen lassen). Das Kind käme also nicht mehr, wie heute manchmal, aus einem antiautoritären Kindergarten in eine repressive Leistungs- und Konsumgesellschaft der Erwachsenen hineinspaziert – was übrigens schon zu Konflikten geführt haben soll –, sondern umgekehrt würden, mit Vernunftgründen, soweit es irgend geht, aber auch autoritär, wo sie nicht verfangen, notfalls auch mal mit einer Maulschelle, die Kinder zur Einhaltung der Verhaltensnormen einer nichtrepressiven kommunistischen Erwachsenengesellschaft erzogen und erzogen werden müssen, da diese ja auf dem Planeten Erde, von der azurblauen, leicht verletzbaren, sorgsam zu behütenden Biosphäre, ihrer Mutter und Nährerin, umhüllt, auf Keplers elliptischen Bahnen um die Großmutter und Urnährerin Sonne kreist. Und jetzt frage ich die Kinder von heute: ›Eine solche Gesellschaftsordnung würde die Unverschämtheit besitzen, sich herr-
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schaftslos, sich archaisch zu nennen. Was sagt ihr dazu?‹ Ich bin sicher, ein Aufschrei der Empörung wird die Antwort der Kinder sein. Und wenn sie, gleich nach der Schulfibel, Gehlen und Margaret Mead gelesen haben, werden die Kinder erklären: ›Wir protestieren gegen diese Ungerechtigkeit. Da auch bei den Erwachsenen des vollendeten Kommunismus höchster, allerhöchster, nicht mehr zu überbietender Stufe die so edlen, sozialen, sowohl arbeitsfreudigen als auch umweltfreundlichen Bedürfnisse nicht die Festigkeit, also auch nicht die unbedingte Zuverlässigkeit tierischer Instinkte haben, sondern ihnen erst vor wenigen Jahren im Kindergarten und in der Schule anerzogen worden sind, kann man nicht a priori wissen, ob nicht auch mal ein Erwachsener, sagen wir aus Eifersucht, einen anderen totschlägt, oder sich womöglich gar bei einem Spaziergang im Wald antiökologisch benimmt. Und da es seit der Bevölkerungsexplosion gar so viele Menschen auf Erden gibt, denen hier und da mal ein Bedürfnis davongaloppieren könnte, verlangen wir Kinder, dass, wenn schon diese vollendete kommunistische Gesellschaft sich in Gestalt unserer Kindergärtnerin nicht als absolut lupenreine Anarchie erweist, man sich dann auch gerechtigkeitshalber entschließen soll, die Formel ›Jeder nach seinen Bedürfnissen‹ aus der Kritik des Gothaer Programms jenes vollbärtigen Opas, dessen Bild in der Roten Ecke unseres Kindergartens hängt, geschmückt mit Blumen, die wir unter ökologischen Gesichtspunkten gepflanzt und gepflückt haben, ganz zu streichen und außerdem wenigstens ein paar nette, höfliche Polizisten im Dienst zu belassen, die hier und da auch mal bei den Erwachsenen nach dem Rechten sehen.‹«113
Erbteil der marxistischen Philosophie blieb in Harichs Denken immer, dass jede Institution vergänglich wäre, sich wandeln müsse, durch andere zu ersetzen sei. Und zwar in letzter politischer Konsequenz im Rahmen einer marxistischen Revolutionsstrategie und nicht im Sinne von anarchistischen Ad-Hoc-Aktionen. Dieser Gedanke trug sein 1971 erschienenes Buch Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus.114 (Als Nachtrag zu diesem Werk war das gerade angesprochene Manuskript Die Baader-Meinhof-Gruppe geplant.) Da er in der Abrechnung auch auf Gehlen einging, »heftig polemisierend«, schrieb er diesem am 27. November 1969, um ihn auf die Publikation vorzubereiten. Er begann 113 114
Band 7, S. 313 f. Das 1971 erschienene Werk liegt in dieser Edition neu gedruckt vor (Band 7, S. 81–220). Der Band enthält zudem den umfangreichen Nachtrag, den Harich 1972 verfasste: Die Baader-Meinhof-Gruppe. Ein Interview (ebd., S. 223–386). In Zur Kritik der revolutionären Ungeduld beschäftigt sich das Kapitel VI. Exkurs über die Ideengeschichte des Verunsichern von Institutionen mit Gehlen (ebd., S. 141–169).
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mit einer Schilderung seiner Sichtweise auf die westdeutsche Studentenrevolte115 und fuhr dann fort: »Wahrscheinlich werden Sie nun erstaunt fragen, was denn Sie um Himmels willen damit zu tun hätten und was in einer solchen Arbeit eine Auseinandersetzung ausgerechnet mit Ihnen zu suchen habe. Sie haben recht, zu den Erzvätern der APO gehören Sie, weiß Gott, nicht. Aber: Ihre so konservativ gemeinten Warnungen vor dem ›Verunsichern von Institutionen‹ (zum Beispiel in Urmensch und Spätkultur, Bonn, 1956, p. 27, 74, 99, 118 f., 284) sind nichtsdestoweniger von dem neoanarchistischen Flügel der vielflügeligen APO, nachdem die Frankfurter Soziologie-Studiosi anscheinend durch Adorno darüber belehrt worden, dass Institutionen dem Menschen abträglich seien, dass sie dessen ›autonome Subjektivität‹ ersticken würden usw., aufgegriffen und in den Schlachtruf ›Auf, lasst uns die Institutionen verunsichern!‹ umgepolt worden, wobei übrigens – und ich vermute Ihren sprachschöpferischen Prioritätsanspruch – die von Ihnen einst geprägte Vokabel ›Verunsichern‹ gleich Duden-reif wurde, so verbreitet ist sie jetzt. Da konnte ich es mir nicht versagen, den ungebärdigen jungen Leuten klarzumachen, dass die Umkehrung des Wortakzents, die Auswechselung des bei Ihnen negativen gegen ein positives Vorzeichen sie (kleingeschrieben) nicht davor schützt, die – verzeihen Sie bitte! – pauschale Abstraktheit und Uferlosigkeit Ihres Institutionenbegriffs unbewältigt in die neue linksextremistische Ideologie mit hinüber zu nehmen, mit dem Erfolg, dass im Zeichen dieser Ideologie nun nicht etwa gegen die gesellschaftlich präponderanten Institutionen, auf die es, nach Marx und Lenin, ankommt, aufbegehrt wird, sondern diffus gegen Autoritäres überhaupt und in jeder Form, ganz so, wie es der klassische Anarchismus auch schon tat, wenn er amtliche Akten verbrannte, antiautoritäre Kindergärten gründete und sinnlose Bombenanschläge verübte. Schon damals – sage ich den Neoanarchisten –, schon im 115
»Ich darf Sie kurz über den Zusammenhang aufklären. Wie Sie sich leicht vorstellen können, bin ich stark interessiert an dem Phänomen ›unruhige Jugend‹ in der Bundesrepublik und in Westberlin. Interessiert soll heißen: Ich betrachte es mit sehr gemischten Gefühlen – einerseits erfreut über den auffälligen Linksrutsch, andererseits aber auch besorgt über den vielen Blödsinn, der da mit hoch geschwemmt wird und der der Linken, wie ich glaube, so schadet (angefangen beim Kreieren bizarrer Haarmoden über die Promiskuität in so genannten ›Kommunen‹ bis zu einer sich apolitisch verzettelnden Gewalttätigkeit gegen untaugliche Objekte). Bei diesen – vom marxistischen Standpunkt aus negativen und desorientierenden – Erscheinungen handelt es sich offensichtlich um ein Wiederaufleben des lange Zeit, seit dem Fall Barcelonas Anfang 1939, totgeglaubten Anarchismus, um Absurditäten also, die nicht gar so neu und originell sind, wie sie zu sein glauben, die es vielmehr beim alten Bakunin und den Seinen auch schon gegeben hat.«
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Heroenzeitalter der Internationale von Saint-Imier ist bei alledem so gut wie nichts herausgekommen, und auch heute kann nichts dabei herauskommen, es sei denn, dass die Revolution kompromittiert wird.«
Für sein Vorgehen bat er um Verzeihung – eine Bitte, die durchaus Ernst gemeint war: »Ich frage Sie, verehrter Meister, würden Sie an meiner Stelle es sich nehmen lassen, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Adornos APO-inspirierendes Nein zu den Institutionen mit Gehlens Bejahung und Verteidigung derselben jene pauschale Abstraktheit teilt, die den Primat der ökonomischen Basis der Gesellschaft, der Besitzverhältnisse, und die ausschließliche Relevanz politischer Fragen im Klassenkampf verstellt? Würden Sie es fertig bringen, diese Trumpfkarte nicht auszuspielen gegenüber einer Pseudorebellion, die von Ihrer Soziologie so weit entfernt zu sein glaubt wie von der Politik des weiland Dr. Adenauer? Darauf zu verzichten, brachte ich nicht übers Herz. Um so weniger, als ja obendrein auch noch der Begriff ›Verunsichern‹, wie viele Gehlen-Begriffe ›psycho-physisch neutral‹, d. h. diesesfalls: die Unterscheidung von aufklärerischer Theorie und revolutionärer Praxis dahingestellt sein lassend, dem neoanarchistischen Tun und Treiben so überaus zupass kommt.«
Gehlen antwortete nicht auf diesem Brief, so dass Harich einige Jahre später, am 27. Februar 1974, seine Bitte noch einmal wiederholte, diesmal mit dem Beispiel: »Stellen Sie sich vor, Georg Strasser hätte 1932 bei Hitler eine jüdische Großmutter entdeckt, und Sie werden, bei aller Gekränktheit, meine Triumphgefühle verstehen, als ich bei den APO-Anarchisten die Formel vom ›Verunsichern der Institutionen‹ wieder fand.« Da, wie gesagt, dass Anarchie-Buch Harichs in dieser Edition erneut gedruckt vorliegt, können im folgenden einige Hinweise und Beispiele genügen, um zu illustrieren, welche Ideen Harich vertrat. Harich ging von folgender Überlegung – betreffend das Schlagwort vom »Verunsichern der Institutionen« – aus: »Es ist aufschlussreich, sich klarzumachen, woher diese Wortneuschöpfung stammt und was aus ihr durch ›Umfunktionierung‹ ihres Bedeutungsgehalts wurde. Sie stammt von einem der schärfsten geistigen Antipoden der Neuen Linken, dem führenden ›Formierungs‹ideologen Westdeutschlands, Arnold Gehlen, und ist, ungeachtet des diametral entgegengesetzten Wertakzents, den der neoanarchistische Sprachgebrauch ihr verliehen
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hat, den antimarxistischen Tendenzen der Gehlenschen Soziologie so eng verhaftet geblieben, dass sie mit revolutionsbejahendem Vorzeichen kaum geringere Verwirrung stiftet als im ursprünglichen konservativen Kontext.«116
Worauf Harich hinauswollte, verdeutlicht sehr gut das erste Unterkapitel seiner entsprechenden Ausführungen, das im Folgenden hier vollständig wiedergegeben wird, da es auch die entsprechenden Textbezüge zu Gehlens Werken herstellt: »In dem philosophisch-anthropologischen Hauptwerk Arnold Gehlens117 wird der Mensch als ein Wesen gedeutet, dem, im Unterschied zum Tier, umweltangepasste Organausstattung und instinktgeleitetes Verhalten abgehen. Um als Art überleben zu können, muss der Mensch mit diesen biologischen Mängeln fertig werden. Durch Leistungen, die ihn über die organische Natur hinausheben, kompensiert er sie: Handelnd gestaltet er jede natürliche Umwelt ins für ihn Lebensdienliche um; handelnd erzeugt er, vermittels der von ihm geschaffenen, auf seinen phylogenetischen Werdeprozess dann zurückwirkenden Kulturumwelt, zugleich auch die qualitativen Besonderheiten seiner eigenen Natur; und aus dem Handeln heraus, sofern es wechselseitige Beziehung der Individuen aufeinander ist, entwickeln alle Menschengemeinschaften gewisse überindividuelle Mächte, die für die Instinktarmut und dadurch bedingte Unsicherheit menschlicher Daseinsorientierung den lebensnotwendigen Ausgleich bieten, indem sie dem Verhalten feste Normen setzen. Um diese überindividuellen Mächte geht es. In den verschiedenen Auflagen seines Hauptwerks hat Gehlen sie, unter Beibehaltung des philosophisch-anthropologischen Ausgangspunkts, unterschiedlich aufgefasst, aber immer autoritär und in den variierenden Bestimmungen jedesmal so, dass dem gerade zeitgemäßen Ideologiebedürfnis der in Deutschland herrschenden Klassen Genüge geleistet wurde – also in der ersten, 1940 erschienenen Fassung mit faschistischen Tönen, später, nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, mit Anleihen bei dem französischen konservativen Soziologen Maurice Haurion und bei amerikanischen Ethnologen und Sozialpsychologen. Aus der ersten Auflage erfahren wir, dass jede Gemeinschaft ein ›oberstes Führungssystem‹ braucht, welches drei Grundfunktionen zu erfüllen hat: Es muss ›einen abschließenden Deutungszusammenhang der Welt liefern‹, muss die Antriebe des Handelns der Individuen normativ ›formieren‹ und, wo das Handeln sich als ohnmächtig erweist, den Menschen ›durch Praktiken der Schicksalslenkung wie Magie, Orakel usw. Trost und Hoffnung gewähren‹. In älteren Kulturen ist 116 117
Band 7, S. 141. (WH) Arnold Gehlen, »Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt«, 1. Auflage, Berlin 1940. Nach 1945 mehrere umgearbeitete Auflagen.
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allen drei Aufgaben die Religion gerecht geworden. In der Neuzeit hat sie nur noch mit der dritten zu tun, nachdem sich der ersten Aufgabe die Wissenschaft angenommen hat, während die zweite, die ›Formierung der Antriebe‹, der ›immanenten, natürlichen (d. h. nicht-religiösen, WH) Ethik und Politik‹ zugefallen ist, und die setzt Gehlen 1940 bezeichnenderweise gleich mit der ›Weltanschauung in dem Sinne, den der Nationalsozialismus dem Wort gegeben hat und den Alfred Rosenberg in dem Begriff ›Durchsetzung germanischer Charakterwerte‹ zusammenfasste‹. ›Weltanschauung im allgemeinen Sinne‹, schreibt Gehlen, ›sind die ›Zuchtbilder‹, in denen eine Gemeinschaft sich im Dasein erhält und ›feststellt‹.‹ ›Und‹, fügt er hinzu, ›es ist in Deutschland (1940, WH) durch Tatbeweis gesichert, dass ein immanentes Zuchtbild im Stande ist, tragende Grundsätze des Handelns aufzustellen und durchzusetzen, eine feste Organisation der Leistung eines Volkes aufzustellen sowie notwendige gemeinsame Aufgaben zuzuweisen und zu realisieren.‹118 ›Zuchtbild‹ wird dabei übrigens nicht im Sinne biologischen Züchtens verstanden – die vulgären Biologismen der Nazis, wie die Rassentheorie, hat Gehlen, zu seiner Ehre sei’s gesagt, nie akzeptiert –, sondern ist von Begriffen wie ›Zucht und Ordnung‹, auch ›Züchtigen‹ (mit dem Rohrstock) hergenommen. In den Nachkriegsauflagen fehlt die Theorie der ›obersten Führungssysteme‹, sie ist der ›Entnazifizierung‹ des Textes zum Opfer gefallen. Das neue Schlusskapitel aber, das an ihre Stelle trat, versieht die konservativ-autoritäre Grundtendenz der gesellschaftlichen Aussagen des Buches lediglich mit einer anderen, weniger kompromittierenden Begründung: Es mündet ein in eine Soziologie der Institutionen, die besagt, dass in ›dauerhafte und stabile Institutionen‹ außer ›ideativen Akten‹ immer auch ›asketische der Selbstzucht und Hemmungssetzung‹ eingehen, und sieht darin einen Vorzug, eine durch die ›riskierte‹ Konstitution des Menschen geforderte Notwendigkeit. ›Jeder Fortschritt der Kultur‹, heißt es gegen Ende des Kapitels, sei ›auch daran erkennbar gewesen, dass er eine neue Form der Zucht (!) stabilisiert‹ habe.119 Diese Auffassung führen die späteren Schriften Gehlens dann in einer Weise näher aus, die unverkennbar von dem Motiv bestimmt ist, revolutionäre Veränderungen der Gesellschaft abwehren zu helfen. Und in dem Zusammenhang taucht das Schlagwort von der ›Verunsicherung der Institutionen‹ auf. Während nämlich Gehlen in der Völkerkunde, der Geschichtsschreibung, den Sozialwissenschaften, der Sozialpsychologie unablässig nach Beweisen dafür fahndet, dass die Antriebe des instinktarmen Menschen ›formierungsbedürftig‹ seien, dass sie es nötig hätten, ›auf Gleise gelegt‹ zu werden, dass sie unberechenbar ausarten und auswuchern müssten, wenn sie nicht von überindividuellen Mächten in eine sie disziplinierende Ordnung gepresst würden, usw., schärft er seinen Lesern in immer neuen Wendungen 118 119
(WH) A. a. O., 1. Auflage 1940, p. 447 ff., besonders p. 465 f. (WH) A. a. O., 8. Auflage 1966, p. 381 ff., besonders p. 404.
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sinngemäß ein: Wehe euch, wenn ihr duldet, dass jemand eure Institutionen ›verunsichert‹! Wörtlich: Werden ›Institutionen gesprengt oder erschüttert‹, was ›jedesmal bei geschichtlichen Katastrophen, bei Revolutionen oder Zusammenbrüchen von Staatsgebilden oder Gesellschaftsordnungen oder ganzen Kulturen‹ geschieht, dann ›besteht der unmittelbare Effekt in einer Verunsicherung der betroffenen Personen selbst, bis in die Tiefe hinein: Die Desorientierung ergreift die moralischen und geistigen Zentren, weil auch dort die Gewissheit der Selbstverständlichen gestrandet ist.‹120 In Gehlens zweitem großen Werk, Urmensch und Spätkultur (1956), lauten die wichtigsten diesbezüglichen Stellen wie folgt: ›Wenn die am opus operatum orientierte Disziplin der gelernten Arbeiter und der beruflichen Körperschaften zerfällt, der Juristen, Gelehrten, Beamten, der Regierungen und Kirchen, wenn das Ideologische und Humanitäre sich verselbständigt und diese Formen von außen her aufweicht, dann ist die Kultur am Ende.‹121 Oder, bei Gelegenheit einer Polemik gegen v. Jherings utilitarischer Deutung des Rechts: ›Die Theorie Jherings ist gefährlich, sie war nur in seiner Zeit fragloser Rechtsgeltung ein erlaubter Luxus. Sind nämlich die Institutionen verunsichert, so könnte schon daraus die Überlegung folgen, ob man sich nicht besser andere Zwecke setzt. Allgemein sind utilitaristische Theorien über Institutionen dann, wenn alles darauf ankommt, sie aus dem Chaos der Meinungen herauszuhalten, selbst destruktiv, schon weil sie die Frage zugleich aufwerfen und offen lassen, wer denn die Zwecke der Gesellschaft auszusprechen berechtigt ist.‹122 Oder auch, am unmissverständlichsten: ›Es sind sehr langsam, über Jahrhunderte und Jahrtausende herausexperimentierte feste und stets auch einschränkende, inhibitorische (d. h. hemmende, AH) Formen wie das Recht, das Eigentum, die monogame Familie, die bestimmt verteilte Arbeit, welche unsere Antriebe und Gesinnungen sehr mühsam heraufgedrückt, heraufgezüchtet (!) haben auf die hohen exklusiven und selektiven Ansprüche, welche Kultur heißen dürfen. Diese Institutionen sind so riskiert wie der Mensch selbst und sehr schnell zerstört. Die Kultur unserer Instinkte und Gesinnungen muss von jenen Institutionen von außen her versteift, hochgehalten und hochgetrieben werden, und wenn man diese Stützen wegschlägt, dann primitivisieren wir sehr schnell, dann vernatürlicht sich der Mensch und wird zurückgeworfen auf die konstitutionelle Unsicherheit und Ausartungsbereitschaft seines Antriebslebens.‹123 Es ist klar: Wir befinden uns hier am extremen Gegenpol zur Neuen Linken; ein beredteres Plädoyer für die Bewahrung autoritärer Strukturen gibt es in der zeitgenössischen Soziologie bis dato nicht, und die Warnungen 120 121 122 123
(WH) A. Gehlen, »Anthropologische Forschung«, rde 138, Reinbek-Hamburg 1961, p. 72. (WH) A. Gehlen, »Urmensch und Spätkultur«, Bonn 1956, p. 27. (WH) A. a. O., p. 74. (WH) A. a. O., p. 118 f.
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dieses Konservativismus umzukehren in den Kampfruf: ›Auf, lasst uns die Institutionen verunsichern!‹ musste einer Bewegung, die gegen den im Westen herrschenden Gesellschaftszustand aufbegehrt und in der linksradikale Soziologiestudenten große Aktivität entfalten, von vornherein naheliegen. Die Frage ist nur, ob die mit Gehlens Konzeption untrennbar verknüpften theoretischen Fehler dabei auf der Strecke geblieben sind, ob sie die Umkehrung nicht vielmehr wohlbehalten überstanden haben und nun Teile der Neuen Linken in stärkerem Maße desorientieren, als es mit dem ursprünglichen, konservativen Vorzeichen jemals möglich gewesen wäre. Um uns in dieser Beziehung Klarheit zu verschaffen, müssen wir eruieren, worin die Fehler bestehen.«124
Der erste Einwand Harichs ist bereits bekannt: Die un-historische Betrachtung der Institutionen: »Gehlen erliegt zunächst dem Irrtum, vorauszusetzen, dass Institutionen, die an bestimmte historisch-transitorische Verhältnisse gebunden sind, sich überhaupt unter anthropologischen, d. h. vom Geschichtsprozess abstrahierenden Gesichtspunkten beurteilen ließen – sei es selbst unter Gesichtspunkten einer in den Grenzen ihres legitimen Gegenstandsbereichs zutreffenden Anthropologie.«125 Harich hielt fest, dass alles entstehe und vergehe, sich also auch Zweck und Inhalt jeder Institution ändern würden. Institutionen an sich seien notwendig, aber nicht eine spezifische, genau »diese« Institution aus einem bestimmten historischen Abschnitt. Und auch das zweite Argument machte Harich in den siebziger und achtziger Jahren immer wieder geltend: »Indes auch diese Überlegungen, so gravierend sie sind, treffen noch nicht den Punkt, auf den es hier ankommt. Gehlens ärgster, die Neue Linke am meisten desorientierender Fehler liegt darin, dass sein Institutionsbegriff praktisch uferlos ist – sogar ein Briefwechsel zwischen Freunden fällt darunter126 – so dass die abstrakt-pauschale Apologetik der Institutionen dem Leser die Vorstellung einer Unzahl von Faktoren gleicher gesellschaftlicher Bedeutsamkeit suggeriert, die – vermeintlich – beziehungslos nebeneinander stehen. Das so entstehende Bild der Gesellschaft ist grundverkehrt: Die komplexen, historisch-konkreten Gesellschaftsordnungen, in welche die Institutionen stets integriert sind, kommen darin überhaupt nicht vor. Die Erkenntnis des Marxismus, dass es sich bei diesen Ord124 125 126
Band 7, S. 141–145. Band 7, S. 145. (WH) Arnold Gehlen, »Probleme einer soziologischen Handlungslehre«, in: »Studien zu Anthropologie und Soziologie«, (Soziologische Texte, Band 17), Neuwied und Berlin 1963, p. 196 ff.
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nungen um Totalitäten einander wechselseitig bedingender Momente handelt, unter denen die jeweilige Produktionsweise für die Struktur des Ganzen ausschlaggebend ist, mithin auch den – historisch variablen – Funktions- und Stellenwert aller übrigen Momente, der ihr gegenüber sekundären und tertiären Institutionen, immer erst festlegt, diese durch materialistische Umstülpung der Hegelschen Lehre vom ›objektiven Geist‹ gewonnene Erkenntnis, scheint für Gehlen nie existiert zu haben. Es gibt bei ihm nicht Basis, nicht Überbau, es gibt nur Institutionen, und die reichen so etwa von den Spielregeln, die eine Skatrunde zu beachten hat, bis zum Weltsicherheitsrat der UNO.«
Neu hinzugekommen war in dem Anarchie-Buch, dass Harich Gehlens Philosophie nun weitaus stärker als zuvor für den Nachkriegskonservatismus im Westen verantwortlich machte, diese also ganz klar auch aus ideologischer Perspektive bewertete: »Kein Zweifel: An ideologischer Irreführung genau dieses Typs war der deutschen Bourgeoisie in den Nachkriegsjahren – in der Zeit, als Gehlen die ›entnazifizierende‹ Überarbeitung seines Hauptwerks vornahm und sich den später in seinem zweiten großen Buch verarbeiteten soziologischen, prähistorischen und ethnologischen Studien zuwandte – sehr viel gelegen. Wenn wenigstens in dem Teil Deutschlands, der von den westlichen Alliierten besetzt worden ist, das kapitalistische System noch einmal den Konsequenzen entgehen sollte, die seine Nutznießer mit der Etablierung der faschistischen Diktatur und der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges heraufbeschworen hatten, dann musste für das Ungeheuerliche des Geschehenen, für Konzentrationslager, Kriegsverbrechen, Völker- und Rassenmord, eine Erklärung gefunden werden, mit der sich der kapitalistische Klassencharakter des Faschismus verschleiern ließ und die obendrein dem intensiver denn je fortzusetzenden Kampf gegen die proletarisch-sozialistische Umwälzung, gegen den Kommunismus, neue demagogische Parolen zu liefern vermochte, möglichst solche, in denen das eine mit dem anderen unmittelbar verquickt, die das System schonende Missdeutung des eben überstandenen Schreckens zugleich plausibel erscheinende Warnung vor Neuerungen war, die den Schrecken an der Wurzel zu packen drohten. Man erinnere sich: Damals griffen die Meinungsmacher der Reaktion auf die Formel ›Diktatur gleich Diktatur‹ zurück. Damals begannen sie, faschistische Reaktion und sozialistischen Fortschritt unter der einheitlichen, die Klassengegensätze eskamotierenden Kategorie ›Totalitarismus‹ in eins zusammenzuziehen. Damals auch wurde der kategorische Imperativ der Profitchristen und Manipulierdemokraten von der CDU, der Ruf ›Keine Experimente!‹, geboren und in seinem Zeichen das im Atomzeitalter waghalsigste ›Experiment‹, die Spaltung Deutschlands, die Eingliederung seines remilitarisierten westlichen Teils in eine
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antisowjetische Militärallianz, durchgeführt. Wo aber die primitiv verlogene, auf Bluff und Dummenfang berechnete politische Agitation nicht verfing, da halfen auf geistig höherer Ebene, vor intellektuell anspruchsvollerem Publikum, vulgäre Hetze gegen links vornehm verschmähende, andere, verfeinerte Ideologien aus. Und zu diesen gehörte nicht zuletzt auch die philosophisch-anthropologisch fundierte Soziologie Arnold Gehlens, die sich mit Eifer der von ›Verunsicherung‹ bedrohten Institutionen annahm, die glaubhaft zu machen suchte, dass deren Verteidigung und Bewahrung das sicherste Mittel sei, solch grässliche Ausartungen der Instinkte, wie ›wir sie erlebt‹ hätten, in Zukunft zu vermeiden, und von der die Vergangenheit bewältigt wurde mit der Losung: Der Mensch ist ein Exekutivbeamter; oder er ist kein Mensch!«127
Es wäre falsch, diese Kritik als große Abrechnung mit Gehlen zu lesen, ermöglicht eventuell gar durch eine gewisse Entfremdung durch die Zeiten. Denn schon früh hatte Harich Gehlen immer wieder auch brieflich-persönlich gesagt, was ihn an dessen Konzeptionen störe, verbunden mit Lob für diejenigen Teile, die ihm als anschlussfähig an den Marxismus erschienen. Noch deutlicher hatte er diese Kritik für sich selbst entwickelt, nachzulesen ist sie in seinen verschiedenen Exzerpte, die ebenfalls in diesem Band zum Abdruck kommen. Zu verweisen ist aber darauf, dass 1975 Harich in seinem wahrscheinlich am meisten diskutierten Buch, Kommunismus ohne Wachstum?, noch einmal auf Gehlen zu sprechen kam und dessen anthropologische Forschungen würdigte: »Den eben zitierten Ausführungen von Marx (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, AH) arbeitet, sie sinnvoll ergänzend, die philosophische Anthropologie dann in die Hand, wenn sie von der ›Variabilität und Plastizität der menschlichen Antriebsstruktur‹ ausgeht und diese der starren Instinktgebundenheit tierischen Verhaltens entgegensetzt. Und eben eine solche Anthropologie gibt es seit über einem Menschenalter bereits. Wir verdanken sie, ob uns das politisch in den Kram passt oder nicht, dem erzkonservativen Arnold Gehlen. Ohne Gehlens Befunde hängen die Marxschen Erkenntnisse, die Erzeugung des Bedürfnisses durch die gesellschaftliche Produktion betreffend, nach der biologischen und psychologischen Seite hin in der Luft, wären unerklärlich. Folglich müssen, bei all unserer sonstigen Aversion gegen Gehlen, dessen – kritisch zu rezipierende – Errungenschaften an diesem einen Punkt mit der marxistischen Politökonomie zur Synthese verschmolzen werden; um gar nicht davon zu reden, dass Gehlen gerade hier auch durch
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Band 7, S. 154 f.
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sämtliche empirische Ergebnisse der modernen Ethnologie, besonders durch die Forschungen der amerikanischen Schule von Malinowski, Boas, Benedict, M. Mead, gestützt wird.«128
***** Es ist angesichts der bisherigen Ausführungen nun danach zu fragen, welche Aussagen Harich darüber machte, wie er sich seit seiner Entlassung aus dem Zuchthaus zu Gehlen und dessen Philosophie stellte. Es liegen verschiedene Selbsteinschätzungen zu dieser Frage vor (zu denen natürlich auch die Aussagen in seinen Arbeiten zur Anarchie-Problematik und in Kommunismus ohne Wachstum zu zählen sind), die im Folgenden zu betrachten sind. Nachdem der briefliche Kontakte zu Gehlen nach Harichs Haftentlassung wieder hergestellt war, bezeichnete sich dieser am 23. Juli 1965 als »wandelnde Volksausgabe Ihrer gesammelten Werke«. Ein Kompliment, das vor allem die Momente der gegenseitigen Identität betonen sollte. Es kam dann, wie geschildert, zu jener Kontaktpause wegen Harichs Zur Kritik der revolutionären Ungeduld, die einige Jahre anhielt. Doch 1974 erhielt Harich dann die Einladung, an einer Veranstaltung zusammen mit Gehlen und Rudolf Augstein teilzunehmen. Er schrieb am 27. Februar 1974, noch einmal um Verständnis für sein Anarchie-Buch bittend, an Gehlen: »So wäre unsere Beziehung, die sonst nächsten Silberhochzeit feiern könnte – denn 1949 (oder 1950) schrieb ich Ihnen zum ersten Mal –, beinahe definitiv in die Brüche gegangen, und darüber war ich, sobald mir das in der Großhirnrinde aufflackerte, jedes Mal sehr deprimiert.« Anschließend gab er dann »folgende ›Grundsatzerklärung‹ über meine heutige Einstellung zu Ihnen« ab: »1) Sie sind für mich einer der geistvollsten Menschen, die heute unseren überbevölkerten Planeten bewohnen (und, ausnahmsweise, nicht übervölkern), und darunter wieder der brillanteste deutschsprachige Stilist, soweit jedenfalls die Prosa theoretischer Texte in Betracht kommt. (Ohne Formulierungsanleihen bei Ihnen käme ich gar nicht aus.) 2) Ich hege nach wie vor Bewunderung für all das an Ihrer Doktrin, was sich damit begnügt, philosophische Anthropologie zu sein, d. h. das qualitative Novum des Menschen auf den Begriff zu bringen. Mit diesen Aspekten Ihrer Werke haben Sie sogar, finde ich, ungewollt einen unentbehrlichen Eckstein für das Weltbild des Marxismus geliefert, wofür wir Ihnen irgendwann einmal, im 21. Jahrhundert, ein Denkmal werden errichten 128
Harich: Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ›Club of Rome‹, Reinbek bei Hamburg, 1975, S. 177.
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müssen. (Und darin, dass ich hierauf 1955 den – damals in Bezug auf Sie völlig ahnungslosen – Georg Lukács aufmerksam gemacht habe, der dann auch prompt partialer Gehlenianer wurde, besteht mein größtes, wahrscheinlich einziges Verdienst um die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie. Ich gleiche da so quasi jenen – an sich belanglosen – Ortschaften wie Bebra oder Hof, die im Kursbuch als Eisenbahnknotenpunkte wichtig sind.) 3) Meine unter Punkt 2 bezeugte Bewunderung für Sie ist leicht eingeschränkt, wie gesagt, seit Sie den Aggressionstrieb anerkennen. Meine Verabschiedung Freuds sträubt sich dagegen, und Schuster Lorenz, finde ich, sollte bei seinen Leisten, den Graugänsen nämlich, bleiben und Aussagen über Menschliches (auch Allzu-Menschliches) besser ganz sein lassen. Aber: Der anerkannte Aggressionstrieb steht so verquer in Ihrem Menschenbild, dass er sich von den linken Adepten, die Sie haben, leicht wieder daraus wird entfernen lassen – so wie das Obskure des späten Schelling aus dessen verdienstvoll-pantheistischer Naturphilosophie, ohne die Feuerbach nicht denkbar wäre. 4) Da, wo Sie über Geschichtlich-Gesellschaftliches sprechen und immerfort die Institutionen zu stabilisieren empfehlen, betrachte ich Sie als Erz-Klassenfeind. Hier bin ich mit allen Fraktionen der Linken, von Ulrike Meinhof bis, sagen wir, Augstein, rabiat gegen Sie; denn die Institution schlechthin ist im Westen (aber auch uns durch Fernwirkung, Aufzwingen von Abwehrmaßnahmen etc. viel Verdruss bereitend) nun einmal das kapitalistische Privateigentum, und das muss eben weg. 5) Was aber wiederum nicht ausschließt, dass ich andere Dinge, an denen Ihr preußisch-konservatives Herz hängt (bzw. die von Ihnen betrauert werden, falls es Sie nicht mehr gibt), auch meinerseits erhalten zu sehen wünschen. Das reicht von den großgeschriebenen Substantiven in der deutschen Rechtschreibung, die ich mit Klauen und Zähnen verteidige, über alles in der Kunst Unübertroffene (Renaissance-Malerei, Verse Goethes etc.) bis zum guten Benehmen bei Jugendlichen (das Letztere eingedenk der Tatsache, dass Robespierre die Manieren eines Rokoko-Kavalier hatte und die Söhne von Justizrat Marx in Trier und Oberschulrat Uljanow in Simbirsk aus durchaus guter, strenger Kinderstube kamen). Ja, ich gestehe, sogar den preußischen Stechschritt zu goutieren, den es ja nur noch auf Paraden der DDR-Armee und beim Aufziehen der Wache vor dem Ehrenmal Unter den Linden gibt, während Scharnhorst und Gneisenau daneben freundlich und etwas verblüfft von ihren Denkmalssockeln herab blicken. Nur eben: Dies Altbewährte kriegt oft ein historisch gutes Gewissen erst wieder dadurch, dass die Reichen
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verschwinden und nur noch Leistung fürs Ganze, Vermögen aber gar nichts mehr gilt. Nein: Den Kapitalismus schenke ich Ihnen nicht für Ihre Institutionen-Sammlung. Den nicht.«
Diese Argumentation lässt sich mit Harichs damaligem politischen und wissenschaftlichen Denken ebenso vereinbaren wie mit seiner in den fünfziger Jahren bezogenen Einstellung zu Gehlen. Es überwiegen weitaus die Momente der Kontinuität. Von daher ist es sehr bedauerlich, dass die vom WDR geplante Diskussionsrunde zwischen Gehlen, Augstein und Harich nicht zu Stande kam. In letzter Minute hatte der WDR mitgeteilt, dass er die Veranstaltung nun doch nicht aufzeichnen und stattdessen lieber Harich für ein Einzelinterview in Beschlag nehmen wolle. (Es wäre der erste Auftritt Harichs im Westen gewesen und dieser weigerte sich, aus seiner »Dissidentenrolle« Kapital zu schlagen.)129 Überraschend ist sicherlich auch, dass die DDR einer solchen Veranstaltung und dem dortigen Auftritt Harichs ursprünglich zugestimmt hatte. Am 7. April 1974 unterrichtete Harich Gehlen über die Ereignisse, die aus seiner Sicht zur Absage der Veranstaltung geführt hätten und nahm dabei auch noch einmal Stellung zu Gehlen: »Mir sind an dem Fall zwei Dinge geradezu widerlich: Einmal die Selbstverständlichkeit, mit der die WDR-Leute bei mir die Moral des ›Im-Stich-Lassens‹, d. h. die freudige Bereitschaft, Sie und Augstein ›abzuhängen‹, vorausgesetzt haben, zum anderen die Maßstablosigkeit, mir, nur wegen meiner Zuchthaus-Jährchen, vor einem Mann wie Ihnen den Vorrang zu geben. Ich leide nicht an Minderwertigkeitskomplexen, gewiss nicht, und ich empfinde Sie, Ihres Konservatismus wegen, als politischen und weltanschaulichen 129
Diese Positionierung war für Harich zentral, er wich nie von ihr ab. Um aus der Fülle der möglichen Beispiele nur etwas zu erwähnen: Nach seiner Übersiedlung von Österreich in die Bundesrepublik gab Harich dem Stern ein Interview, das aber nicht veröffentlicht wurde. »Der Stern mochte offenbar nicht tolerieren, dass sich Harich mit der DDR verbunden fühlte. Auf die Frage, was ihn noch mit ›drüben‹ verbindet, antwortete Harich: ›Vor allem ein moralisches Motiv. Die DDR ist derjenige Staat auf deutschem Boden, der nach 1945 eine grundstürzende gesellschaftliche Umwälzung durchgeführt und zugleich unter ungeheuren materiellen Opfern Wiedergutmachung für die von ganz Deutschland in der Sowjetunion angerichteten Schäden geleistet hat.‹« (Prokop, Siegfried: Ich bin zu früh geboren. Auf den Spuren Wolfgang Harichs, Berlin, 1997, S. 149.) Ein »unheilbarer Bruch« sei daher für ihn nicht vorstellbar. An die Botschaft der BRD in Österreich schrieb er bezüglich seiner Invalidenrente: »Als loyaler Bürger der DDR kann ich mir unmöglich die Rechtsauffassung der Bundesrepublik zu den Fragen der Nationalität und der Staatsbürgerschaft zu eigen machen.« (Zitiert bei Harich, Anne: Wenn ich das gewusst hätte. Erinnerungen an Wolfgang Harich, Berlin, 2007, S. 185.)
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Gegner. Aber daran, dass Sie, verglichen mit mir Pygmäe, ein Riese sind und ich geschmeichelt und stolz sein kann, von Ihnen einer gemeinsamen öffentlichen Disputation für würdig befunden zu werden, gibt es bei mir nicht den geringsten Zweifel. Und auch Augstein ist ja nicht der ›journalistische Moderator‹, den man in ihm, laut Süddeutscher Zeitung gesehen zu haben scheint. Immerhin verbindet sich in seinen Büchern eine von Karl Kraus herkommende große polemische Kultur in ziemlich einzig dastehender Weise mit recht fundierter Geschichtswissenschaft bzw. Anti-Theologie. Aber sobald am Horizont ein östlicher ›Dissident‹ auftaucht, gelten im Westen Qualität und Leistung, selbst der eigenen, bürgerlichen Koryphäen, offenbar nichts mehr. Da heißt es dann: Gehlen und Augstein ›können wir immer haben‹. Es ist wirklich zum Speien. Und nun rechnen Sie sich aus, wie das auf die Eitelkeit und Publikationssüchtigkeit so manches Literaten bei uns wirkt. Es gibt Leute bei uns, die schreiben renitente Stellen in ihre Manuskripte, nur weil sie darauf spekulieren, damit leicht zu Westruhm zu gelangen, ohne im Osten noch etwas wirklich Ernstes riskieren zu müssen. Mit mir kann man aber so etwas nicht machen. Ich denke nicht daran, und nach dem jüngsten Vorfall weniger denn je, meine längst angestaubte Märtyrerkrone wieder neu aufzupolieren, nur weil das mit einem WDR-Interview honoriert wird.«
Die wahrscheinlich größte Referenz erwies Harich Gehlen in jenem Interview, das er nach dessen Tod der Frankfurter Rundschau gab.130 Seine dort entwickelten Thesen prägten zudem zwei Jahre später das Vorwort, das er zu der italienischen Ausgabe des Menschen verfasste. Harich begann seine Ausführungen damit, dass sich die Linke nicht »in jedem Fall pauschal ablehnend« zu den bürgerlichen Wissenschaftlern positionieren dürfe. Dies war seine grundlegende Einstellung, die er Ende der vierziger Jahre entwickelt und die vor allem seine Tätigkeit im Aufbau-Verlag und bei der Deutschen Zeitschrift für Philosophie geprägt hatte.131 Was für Marx und Engels und deren Generation noch in starkem Maße gegolten habe, sei in der Gegenwart freilich schwächer geworden. Harich selbst hat ja, wie gesehen, vor allem zwei bürgerliche Gelehrte des 20. Jahrhunderts gewürdigt: Nicolai Hartmann und Gehlen. Mit dessen Tod freilich habe sich die Situation verändert. Nunmehr gebe es bei den »Konservativen nur noch wenig, wovon zu lernen sich lohnte«. 130 131
In: Frankfurter Rundschau, Nr. 44 vom 21. Februar 1976, S. 111. Neuabdr. im vorliegenden Band, alle Zitate nach dieser Ausgabe. Siehe hierzu die entsprechenden Dokumente in Band 1.3. Außerdem: Mittenzwei, Werner: Im Aufbau-Verlag oder Harich dürstet nach großen Taten, in: Dornuf, Stefan; Pitsch, Reinhard (Hrsg.): Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, München, 2000, Bd. 1, S. 208–243.
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Auf die Frage, welche gesicherten Wahrheiten ein Marxist bei Gehlen finden könnte, antwortete Harich, die Grundgedanken seiner anthropologischen Überlegungen rekapitulierend: »Gehlens größtes Verdienst war es wohl, das Bild des Menschen erstmals umfassend und vollständig dualistischer Missdeutung entzogen zu haben, die bis dahin die philosophische Anthropologie beherrscht hatte. Dieser Dualismus sucht das spezifisch Menschliche allein im Geist bzw. in der Seele. So geschah es, seit Sokrates, in der Antike. So verfuhr desgleichen die jüdisch-christliche Tradition. Und die Neuzeit brachte in dem Punkt keinen prinzipiellen Wandel. Im Gegenteil. Gerade Descartes trieb, mit seiner Zweisubstanzenlehre, den Dualismus auf die Spitze. An gelegentlicher Opposition dagegen hat es freilich nicht gefehlt. Ich denke an den Sophisten Protagoras, wie er uns aus zweiter Hand, durch Platon, überliefert ist, oder in der deutschen Aufklärung an Herder, den Gehlen übrigens seinem Vorgänger nannte, oder auch an gewisse Einfälle Feuerbachs, wie etwa den, dass der Mensch, mit dem Magen eines Tigers ausgestattet, einen tigerhaften Verstand haben müsste u. dgl. Doch solche Denkansätze blieben stets sporadisch, niemand arbeitete sie systematisch aus, philosophiehistorisch entbehren sie jeder Kontinuität. Noch bei Max Scheler und erst recht implizit in der Schichten-Ontologie Nicolai Hartmanns war die moderne philosophische Anthropologie durchaus dualistisch. Erst bei Gehlen hat die Leib-Seele-Geist-Einheit des Menschen aufgehört, für das theoretische Begreifen ein bloßes Postulat zu sein. Gehlen erst hat entdeckt, dass der Mensch durchgängig im ganzen ein der Natur gegenüber qualitatives Novum darstellt. Danach unterscheiden wir uns von der gesamten Tierwelt nicht nur als Vernunftwesen, sondern ebenso auch durch die Beschaffenheit unserer Haut, den Bau unserer Zähne, den aufrechten Gang, die Eigentümlichkeiten unseres Antriebslebens usw., und in jeder Person hängen alle diese qualitativ neuen Momente untereinander zusammen und bedingen sich wechselseitig. Für die Grundlegung der Humanmedizin, der Psychologie, der Verhaltensforschung, der Charakterkunde usw. hatte das bahnbrechende Bedeutung.«
Es ist ebenso Zusammenfassung seiner Einstellung zu Gehlen, wenn Harich zwischen dem Anthropologen, dem politischen Menschen und der politischen Philosophie Gehlens differenzierte. Als Konservativen habe diesen eine »faszinierende Querköpfigkeit« ausgezeichnet, die sich beispielsweise darin zeige, dass er »bewundernden Respekt und Sympathie für die Sowjetunion hegte«. Dennoch gehöre seine politische Philosophie »sicher zum problematischsten und im wesentlichen doch wohl reaktionären Teil seiner Lebensleistung«. Begründet wurde dies von Harich wie folgt:
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»Gehlen hatte in seiner Jugend den Marxismus nicht kennen gelernt und setzte sich auch später nie ernsthaft mit ihm auseinander. Er kam von Denkern wie Scheler und Driesch her. So beging er zeitlebens den fundamentalen Fehler, gesellschaftliche Prozesse in anthropologischen Kategorien nachzuvollziehen. Statt dass sein Bild des Menschen aus einem adäquaten Gesellschaftsverständnis erwachsen wäre, blieb umgekehrt die Soziologie bei ihm ein Anhängsel seiner Anthropologie. Nun entdeckte er, dass dem Menschen die Starrheit des instinktgeleiteten Verhaltens der Tiere abgeht. Darin sah er einen Vorzug – die Möglichkeit weltverändernden Handelns –, aber auch einen Nachteil – die konstitutive Unsicherheit und Ausartungsbereitschaft unserer plastischen, variablen Antriebsstruktur. Also müsse – so meinte er – der Mensch, um nicht nach allen Seiten zu zerfließen wie ein Brei, gleichsam auf Schienen gelegt bzw. es müssten ihm Korsettstangen eingezogen werden, und eben diese Außenstützung hätten die Institutionen ihm zu gewähren, die somit unter allen Umständen zu bejahen und zu verteidigen seien. Und die Wahllosigkeit, mit der Gehlen die Institutionen schlechthin bejaht, macht ihn reaktionär missbrauchbar, ja, lädt zum Missbrauch geradezu ein.«
Für den Marxismus und die marxistischen Wissenschaften sei es wichtig, sich mit Gehlen zu beschäftigen. Dieser müsse überall dort kritisiert werden, wo er unhistorisch arbeite, errungene Erkenntnisse negiere, dem Konservatismus huldige usw. »Faule Kompromisse mit ihm sind nicht möglich, wohl aber Polemiken, die ihm zugleich sein Bestes zu entreißen wissen und nichts davon, keine Silbe, an seine rechten Adepten verschenken.« Aber es gebe eben bei Gehlen, dies war für Harich wichtig, auch rationelle, vorwärtsweisende Thesen und Theorien: Mit diesen müsse der Marxismus sich auseinandersetzen und sie – so schwierig es auch sein möge – in sein eigenes Weltbild integrieren. Das auf den Mai 1978 datierte Vorwort zur italienischen Ausgabe von Gehlens Menschen beendete Harich mit dem Absatz: »Auf Grund seiner entökonomisierten Soziologie hat Gehlen einfach geschichtsfremd gedacht. Goethes ›Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage‹ sagte ihm nichts. ›Institution‹ war zuletzt das von ihm am meisten strapazierte Wort. Nie aber ist er mit dem – von Hegel und Marx auf den Begriff gebrachten – Phänomen gedanklich fertig geworden, dass dieselbe Institution eine Zeit lang historisch notwendig und segensreich sein kann, um dann eines Tages, erstarrt und veraltet, zum Hemmschuh der Entwicklung zu werden. Das heute in grundstürzendem Umbruch begriffene Italien ist denn auch gut beraten,
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sich mit Arnold Gehlen, dem philosophischen Anthropologen, vertraut zu machen. Die Kenntnisnahme des Gesellschaftsdenkers gleichen Namens mag es sich aufsparen für eine ruhigere Zeit.«
Es ist noch, um historische Vollständigkeit zu wahren, hier zu ergänzen, das sich 1974, 1975 der Briefwechsel zwischen Harich und Gehlen noch einmal thematisch änderte – er wurde persönlicher als dies bis zu diesem Zeitpunkt der Fall gewesen war. Mitte 1974 war Gehlens Frau gestorben und Harich kondolierte: »Die Nachricht über den schrecklichen Verlust, der Sie und die Ihren traf, war lange unterwegs. Mir bleibt nur übrig, Ihnen und Caroline mit von Herzen kommendem Beileid in Gedanken fest die Hand zu drücken. Denn gekannt habe ich Ihre Frau ja nicht. Als ich vor über 20 Jahren in Speyer Ihr Gast war, befand sie sich gerade auf einer Reise. Lebhaft erinnere ich mich jedoch an das rührende Vater-Tochter-Idyll, das ich damals zwei Tage lang mit erleben durfte, und wenn ich daran zurückdenke, scheint es mir gewiss zu sein, dass Ihre Frau mit Ihnen beiden zur Seite ein glücklicher Mensch gewesen sein muss. Mögen nun Tochter und Enkel dem späten Gehlen an steter Fürsorge und warmer Menschennähe alles geben, was er braucht, um in den geistigen Kämpfen der Zeit ganz da zu sein.«
Gehlen schickte in den folgenden Monaten mehrere traurige Postkarten nach Ost-Berlin, die seine ganze innere Zerrissenheit und Einsamkeit zeigen. In dem erwähnten Vorwort schrieb Harich. »1974 traf dann der Tod seiner krebserkrankten Frau ihn seelisch so schwer, dass er zum Krüppel amputiert zu sein glaubte. Im Winter 1975/1976 musste er sich selbst einem kleinen chirurgischen Eingriff unterziehen. Er begab sich nach Hamburg, um in einer dortigen Klinik seines Vertrauens die Operation vornehmen zu lassen. Komplikationen und geschwächter Lebenswille führten am 30. Januar 1976, unmittelbar nach der Vollendung des 72. Lebensjahres, seinen Tod herbei, am selben Tage, an dem im selben Krankenhaus auch einer seiner besten Freunde, der von ihm am höchsten geschätzte zeitgenössische Psychiater Hans Bürger-Prinz, verstarb.«
Der Familie, dies sei ergänzt, kondolierte er nunmehr (abgedruckt wird in diesem Band der Entwurf seiner Beileidskarte):
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»Erschüttert verneige ich mich vor der Totenbahre Arnold Gehlens, des bewunderten Feindes und geliebten Menschen. Der Konservatismus hat seinen weltweit letzten bedeutenden Denker verloren, die deutsche Sprache einen ihrer glänzendsten Stilisten, das europäische Geistesleben der Gegenwart einen alten Querkopf von riesigem Format und verehrungswürdiger Lauterkeit. Allen Angehörigen drücke ich in tief empfundener Anteilnahme fest die Hand.«
***** Es musste viel passieren, sehr viel, dass Harich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre mit dieser seiner über Jahrzehnte gepflegten, vertretenen und aufrichtigen Position überaus deutlich brach. Was war geschehen? Der Umbruch seiner Einstellung zu Gehlen kündigte sich an, in verschiedenen Briefen, Manuskripten usw. An Reinhard Pitsch, der ihm im Westen und in Österreich viele Hilfestellungen leistete, schrieb er am 16. Januar 1988 über Gehlen: »Begehe, um Himmels willen, nicht den Fehler, ihn als ›source‹ des ›dernier Lukács‹ neben Nicolai Hartmann zu stellen. Letzterer war wirklich eine solche Quelle (für die Ästhetik freilich in viel, viel geringerem Maße als Goethe). Gehlen nicht. Hinsichtlich Gehlens verhält es sich gerade umgekehrt: Die Entdeckung der Arbeit als des zentralen Anthropinon (von Marx’ Vergleich zwischen Biene und Baumeister über Engels’ Anteil der Arbeit bis hin zu Lukács’ Ontologie des gesellschaftlichen Seins, II. Teil, Kapitel 1: Die Arbeit) bildet für Marxisten, darunter auch für Lukács, die Voraussetzung dafür, die anthropobiologischen Befunde Portmanns, Bolks, Storchs, z. T. auch K. Lorenz’, aus der im Kern falschen philosophischen Systematisation, in die Gehlen sie bringt, in eine richtige, dialektisch-materialistische hinüber zu retten.«
Gehlen, so Harich in Fortsetzung jener Kritik, die er seit den fünfziger Jahren entwickelt hatte, »sieht den Primat des Übergangs zur Arbeit nicht und fasst daher nicht die Arbeit als zentral, sondern betrachtet sie als eine beliebige Art des Handelns. Zweitens stellt er die Entwicklung auf den Kopf, indem er das ›Mängelwesen‹, das der Mensch sei, zu ihrem Ausgangspunkt erklärt, statt umgekehrt die Mängel (vom Tier her gesehen Mängel) aus der mit der Arbeit sich vollziehenden Selbstdomestikation der menschlichen Natur herzuleiten. Im Übrigen: Gehlen war Nazi, und dass er ein antirassistisch denkender Nazi
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war (bedenke seiner Affinität zu dem grundhumanen Herder), eben das macht ihn für den Neokonservatismus der ganzen Nachkriegszeit, bis heute, der diesen kompromittierenden Ballast über Bord geworfen hat, nur um so brauchbarer.«
Um Gehlen mit Gewinn zu lesen, müsse eine Reihenfolge beachtet werden, d. h. man dürfe nicht sofort auf »dessen Werke los«, sondern erst nach einer Vorbereitung: »Lies aber möglichst vorher den im Prinzip viel rationelleren (wenn auch weniger talentvollen) Paul Alsberg (Das Menschheitsrätsel), dann, was Scheler (Stellung des Menschen im Kosmos) an Alsberg auszusetzen hatte, und danach Gehlens Der Mensch.« Im April 1989 sollte in Speyer eine mehrtägige Tagung zu Gehlen stattfinden (zuerst geplant für den 5. bis 7. April, später dann vom 4. bis 7. April durchgeführt). Helmut Klages hatte Harich im Mai 1988 dazu eingeladen, doch Harich sagte brieflich am 1. Juli 1988 ab. Geltend machte er seinen schlechten Gesundheitszustand. Aber, weit wichtiger als dieser: Es sei ihm nicht mehr möglich, »an einer Veranstaltung zu Ehren Arnold Gehlens« teilzunehmen. Er begründete dies wie folgt: »Ihnen wird nicht entgangen sein, dass in der Deutschen Demokratischen Republik heftige Diskussionen um das kulturelle und historische Erbe entbrannt sind. In diesem Zusammenhang habe ich wenig einzuwenden gegen eine neue, großzügigere Einstellung zu Luther, dem Alten Fritz oder auch Bismarck. Aber eine Grenze ziehe ich unerbittlich: In der DDR und den übrigen sozialistischen Ländern sollte Friedrich Nietzsche keinen Millimeter an Boden zurückgewinnen. (…) Noch ist dieser Kampf nicht entschieden. In diesem Kampf gäbe ich mir aber schreckliche Blößen, wenn ich zwar gegen Nietzsche eiferte, aber gleichzeitig einem Mann meine Referenz erwiese, der einen höchst aktiver Nazi gewesen ist und in der Nachkriegszeit politisch und ideologisch weit rechts gestanden hat. (Ich erinnere nur an das schreckliche Buch Moral und Hypermoral.) Natürlich traue ich mir zu, einem Fachkollegen in subtiler Beweisführung plausibel zu machen, dass Hass auf Nietzsche mit Respekt vor Gehlen zu vereinbaren sei. (Denn was hat Gehlen, um nur dies zu nennen, außer der Formel vom ›nicht festgestellten Tier‹ von Nietzsche sonst noch lernen können? Ich finde: nichts.) Aber Stephan Hermlin etwa, ein einflussreicher Mann mit erheblichem Vertrauensvorschuss aus glorreichen Jungkommunistentagen, und ich ringen hier in Sachen für oder wider Nietzsche um die Seelen von Parteifunktionären aller ›Ebenen‹. Und vor denen stünde ich sofort unglaubwürdig da.«
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Harichs Auseinandersetzungen mit Nietzsche ist in dieser Edition der Band 12 gewidmet, dort finden sich alle weiterführenden Informationen. Die in der gerade wiedergegebenen Passage kurz angetippte Position zum philosophischen, kulturellen, literarischen Erbe war für Harichs Denken prägend und von diesem seit den fünfziger Jahren bezogen und permanent weiterentwickelt worden. Hier freilich geht es um seine Einstellung zu Gehlen. Ja, die dargelegte Argumentation sei auch ein Stück weit Taktik, so Harich weiter an Klages. Aber sie stehe auf einem nicht abzuleugnenden Fundament. »1974 bin ich durch ein Buch eines der vorgesehenen Referenten, durch Dieter Claessens’ Instinkt, Psyche, Geltung (2. Auflage, Köln und Opladen, 1970), auf Paul Alsberg aufmerksam geworden. Ich werde es mir nie verzeihen, dass ich danach zwölf Jahre verstreichen ließ, ehe ich mir dessen Menschheitsrätsel (1922) dann auch besorgte und mich darein vertiefte.« 1986 habe er das Werk schließlich gelesen – und dabei entdeckt: »Wie konnte ein Mann wie Gehlen, dermaßen bedacht auf seine noble Attitüde, einen Vorgänger, dem er so ungeheuer viel zu verdanken hatte – aus Schelers Stellung des Menschen im Kosmos scheint er den Tip bezogen zu haben –, so leichten Herzens, so eiskalten Herzens unverdienter Vergessenheit anheimgegeben? Und wie genial nimmt Alsbergs philosophisch-anthropologischer Ansatz sich aus (…). Übrigens scheint Alsberg, wissentlich oder unwissentlich, jedenfalls aber durch Vermittlung der Wirtschaftsgeographen, auf die er sich bezieht, durch Friedrich Engels’ Schriftchen Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen inspiriert worden zu sein.«
Harichs Anliegen war es immer gewesen, die anthropologischen Theorien Gehlens für den Marxismus zu erschließen, den dafür zu bezahlenden Preis – die Inkaufnahme von dessen faschistischer Vergangenheit, konservativer Gegenwart und reaktionärer Theoriebildung – war er bereit zu bezahlen: Im Namen des Marxismus. Derartige Vermittlungen seien aber wegen Alsberg gar nicht mehr notwendig. Nicht zuletzt, da Gehlen sich nie mit dem Marxismus auseinandergesetzt und diesen auch bei seinen eigenen Forschungen nie gewürdigt habe: »Gehlen ist durch mich schon Anfang der fünfziger Jahre auf die Verwandtschaft mancher Aspekte seines Menschen mit den bahnbrechenden Einsichten des alten Engels hingewiesen worden. Später soll Leo Kofler ihm ähnliche Winke haben zugehen lassen. Aber nie hat Gehlen die Größe besessen, den Engels von 1876 als Vorläufer der philosophischen
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Anthropologie auch nur mit einer Silbe zu würdigen. Gehlen war halt auch darin unser Klassenfeind. Und als unaufrichtigem werde ich ihm fortan ehrendes Gedenken versagen. Lukács, den einst ich auf Gehlen gespannt machte, würde sich, glaube ich, bei Kenntnis der Alsberg-Geschichte nicht anders verhalten.«
Zwei Tage nach dem Brief an Helmut Klages kontaktierte Harich telefonisch die Berliner Universitätsbibliothek, Abteilung Systematischer Katalog, mit der Bitte, dass man dort versuche herauszubekommen, wer Paul Alsberg gewesen sei. Die Harich dann erreichenden Erkenntnisse spitzten seine Kritik an Gehlen weiter zu. Die ganze Angelegenheit wurde ihm so wichtig, dass er (zuerst nachholend, später immer gegenwärtig) sich zu seinen einzelnen Schritten im Fall Alsberg-Gehlen verschiedene Aktennotizen anlegte, diese datierte und teilweise sogar unterschrieb. Er wollte offensichtlich, belehrt durch den Fall Friedrich Nietzsche, jederzeit für sich eine lückenlose Erkenntniskette parat haben. Wer war Paul Alsberg? An Lothar Berthold schrieb Harich am 4. August 1988: »Mit Hilfe der Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität Berlin habe ich, nachdem mir Gehlens Plagiats bewusst geworden war, zur Person Alsbergs folgendes herausbekommen: Am 17. Juli 1882 im Rheinland als Sohn eines Kaufmanns geboren, hat Alsberg in Köln sowie später in Berlin Gymnasien besucht, nach dem Abitur Medizin studiert und 1907 an der Universität Leipzig promoviert. In der Dissertation von 1907 bekennt er sich dazu, jüdischer Konfession zu sein. Erschienen sind, außer dem oben genannten Hauptwerk, von ihm einige kleinere Arbeiten, darunter im Goethe-Jahrbuch von 1918 ein Aufsatz über den Homunculus in Goethes Faust II. Nach seiner Niederlassung als Arzt (Gynäkologe und Chirurg) in Berlin befand seine Praxis sich lange Zeit in Berlin Charlottenburg, Kurfürstendamm 22. Dort wird sie im Adressbuch ab 1938/1939 aber nicht mehr geführt, was zweifellos mit der ›Reichskristallnacht‹ vom 9. November 1938 und mit der generellen Entziehung der Approbation für jüdische Ärzte, die, meines Wissens, am 1. Januar 1939 in Kraft trat, zusammenhängt. Von da an verlieren sich Alsbergs Spuren.«
In den Wochen davor und danach machte Harich seine Erkenntnisse verschiedenen Personen zugänglich, Briefe gingen beispielsweise an Karl-Siegbert Rehberg, Helmut Klages, an die Jüdische Gemeinde Berlin und auch an den viel zu früh aus der SBZ/
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DDR vertriebenen Leo Kofler. (Siehe Harichs Schilderungen im Ahnenpass.) Diesem schrieb er: »Lieber Leo! Der Fall Gehlen ist noch schlimmer, als ich bisher annahm. Gehlen hat nicht nur ein Plagiat größten Kalibers begangen, sondern auch eines, das zugleich als ›Arisierungs‹verbrechen zu beurteilen ist. Die Kerngedanken seines Hauptwerks – die Dich, Lukács, Agnes Heller und auch mich (mich sogar zeitlich zuerst) Marxismusnähe wittern ließen – stammen, wie gesagt, von Paul Alsberg, aus dessen Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden, 1922, 2. verbesserte Auflage, Wien, 1937 (auf die 1. Auflage bezieht sich schon Max Scheler in Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1927; dort scheint Gehlen darauf aufmerksam geworden zu sein).«
Später erfuhr Harich dann weitere biographische Details zu Alsberg. Peter Kirchner teilte er mit: »Alsberg, seit 1932 wohnhaft in Berlin W, Kurfürstendamm 247 (Praxis Kurfürstendamm 22), ist 1934 von Nazis verhaftet und ins KZ Sachsenhausen bei Oranienburg verbracht worden. Seiner Frau gelang es, mit amerikanischer Hilfe, ihn dort freizukämpfen. Beide emigrierten danach, gelangten aber nicht in die USA, sondern ließen sich in England nieder, wo Alsberg wieder als Arzt zu praktizieren anfing und wo er 1965 eines natürlichen Todes gestorben ist. Er konnte von England aus noch die zweite Auflage seines Hauptwerks Das Menschheitsrätsel, die damals sogar auch in Deutschland Verbreitung fand, in Wien (Sensenverlag) 1937 herausbringen. Postum ist in Großbritannien selbst eine englische Übersetzung unter dem Titel In Quest of Man, mit einem Vorwort von C. H. Waddington aus Edinbourgh, Oxford (Peramon Press), 1970, erschienen. In der BRD ist Alsberg durch Dieter Claessens wiederentdeckt worden, der sein Hauptwerk aber in einer Weise gewürdigt hat (in Instinkt, Psyche, Geltung, 2. überarb. Aufl., Opladen, 1970) und es unter dem schauerlichen und irreführenden Titel Der Ausbruch aus dem Gefängnis. Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, Gießen (Focus), 1975, so ediert hat, dass der damals noch lebende Plagiarius Arnold Gehlen vor Entlarvung verschont blieb. Diese ist erst auf meine Veranlassung hin durch Dr. Arnold Schölzel auf dem diesjährigen Internationalen Philosophenkongress im August in Brighton, über zwölf Jahre nach Gehlens Ableben, erfolgt.«
Ist Harichs Rede von einem »Arisierungsverbrechen« zu hart? Von einem solchen hätte er schon in den fünfziger Jahren oder nach seiner Haftentlassung reden können,
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da Gehlen ja bekanntermaßen unter anderem Helmut Plessner plagiiert hatte. Und auch Nicolai Hartmann, mit dessen Philosophie sich Harich zeitlich parallel intensiv auseinandersetzte, hatte ja während der Nazi-Jahre früher von ihm genannte jüdische Autoren namentlich nicht mehr erwähnt. Im Unterschied zu Gehlen eine »menschlich integre« Anpassung an den Zeitgeist, die wissenschaftlich Harich zu Folge nicht komplett zu verwerfen sei (obwohl er sie ebenfalls kritisierte). In den Hartmann-Dialogen schrieb er: »WH: Nun ja. Aber Circenses, die nichts als Schund gewesen wären, hätten einer erklecklichen Mehrheit missfallen, und bloße Unkultur, Antikultur hätte zur Fassade nicht getaugt. Ich gestehe, diesen Circenses und dieser Fassadenkultur einiges an echter Bildung zu verdanken. Ich war neun Jahre alt, als Hitler zur Macht kam, und einundzwanzig Jahre, als er zur Hölle fuhr. Hat es mir geschadet, dass ich mir sonntäglich die Bachkantaten mit den Thomanern unter Karl Straube und Günther Ramin per Radio angehört, dass ich mir im Kino Verfilmungen von Puschkins Postmeister und Fontanes Effi Briest angesehen habe? War ich dabei dem Einfluss von Naziideologie ausgesetzt? Nein, aber antifaschistischem eben auch nicht. Dasselbe ließe sich von den öffentlichen Proben Wilhelm Furtwänglers in der alten Philharmonie, in der Bernburger Straße, sagen, dasselbe von den hervorragenden Klassikerinszenierungen an den Berliner Theatern. Ich bereue nicht, das erlebt zu haben, davon geprägt zu sein. Und ebenso wenig kann ich meine Teilnahme an Lehrveranstaltungen von Hartmann und Spranger bedauern. Hätte ich sie nicht besucht, wäre es um meine philosophische Bildung schlecht bestellt, meine Kenntnisse wären geringer. PF: Sie tun beinahe so, als hätten Sie da irgend welche klassenneutralen, ideologisch indifferenten Kenntnisse erworben, wie als Lehrling in einem Handwerksbetrieb. WH: Nach Frida Hartmanns Auskunft hat ihr Mann während des ›Dritten Reichs‹ gerade so seine Ontologie weiter zu Papier gebracht, wie damals die Bauern weiter ihre Äcker gepflügt, die Bäcker weiter Brot gebacken haben. Ich finde, sie hat da nicht ganz unrecht. PF: Wollen Sie im Ernst behaupten, Hartmanns zwischen 1933 und 1945 entstandene Werke … WH: Seine damals in letzter Fassung niedergeschriebenen Werke … PF: Wollen Sie behaupten, die wären vom faschistischen Ungeist gänzlich unberührt geblieben? WH: Das wäre auch wieder übertrieben. So weit gehe ich nicht. Erstens wird darin die Erwähnung jüdischer Autoren vermieden. An Stellen, wo etwa von den ›Brentanoschule‹
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die Rede ist, wäre vorher wahrscheinlich der Name Husserl genannt worden. Zweitens ist der zeitübliche Sprachgebrauch gar nicht zu verkennen; so wenn zum Beispiel im Aufbau der realen Welt mitunter Ausdrücke vorkommen wie ›fremdvölkische Geistesart‹. PF: Nur Ausdrücke? Nicht auch entsprechende Inhalte? WH: Das inhaltlich Gemeinte pflegt sich bei näherer Prüfung meist als sehr harmlos zu erweisen. PF: Meist, aber nicht immer? WH: Nein, nicht immer.«132
In einem Brief an Jost Herbig formulierte Harich seine Empörung im Fall Alsberg-Gehlen am 15. Oktober 1988 wie folgt: »Wir haben es hier mit dem unerhörten Vorfall zu tun, dass ein Nazi einen Juden ausgeschrieben und verschwiegen hat, mit einem Plagiat also, das zugleich Arisierungsverbrechen ist.« Im Falle Alsberg müssen also noch weitere Sachen hinzugekommen sein, die die frühere Toleranz in Sachen Gehlenscher Verstrickungen in den Faschismus und den Nachkriegskonservatismus aufhoben. Da psychologische Spurensuche hier nicht ansteht, kann als wahrscheinlich entscheidender wissenschaftlicher Grund vermutet werden, dass Harichs Ansicht nach Gehlens Plagiat der marxistischen Anthropologie dadurch geschadet habe, dass es den Blick auf Alsberg verstellte, mit dem sich die Anthropologie als Teil des Marxismus sehr gut hätte etablieren lassen. Gegenüber Helmut Quaritsch ging er am 9. November 1988 noch einmal auf die Angelegenheit ein und schrieb: »Ich bin kein Jurist, geehrter Herr Professor. Sie sind es. Mich besonnener, reservierter verhaltend als in meinen von Ihnen beanstandeten früheren Briefen an Herrn Professor Klages und die Möglichkeit einräumend, vorschnell zu weit gegangen zu sein, überlasse ich es Ihnen und Ihren Fachkollegen, zu entscheiden, ob Gehlen als Plagiarius Plessners und vor allem Alsbergs einzuschätzen ist oder nicht. Ich glaube, ja, habe aber nichts dagegen, durch Sie eines Besseren belehrt zu werden.«
An Quaritsch schrieb Harich außerdem: »Haben Sie bitte Geduld und Verständnis dafür, dass ich Sie nun auch noch mit der Entstehungsgeschichte der seelischen Disposition behellige, die erklären mag, warum ich zwei Monate später auf diese weitere Kunde dann so verletzend emotional reagiert habe. Formulierungen wie ›schändliches Plagiat‹, ›Qualität eines ›Arisierungs‹verbrechens‹, gegen 132
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die Sie sich, was Ihnen menschlich zur Ehre gereicht, aus Treue zu Ihrem einstigen Lehrer entschieden verwehren, diese Formulierungen mögen bei ruhiger, sachlicher Prüfung als berechtigt oder als stark übertrieben oder als gänzlich unhaltbar beurteilt werden – wenn sie in meinem Sprachschatz auftauchen, geschieht das nicht von ungefähr.«133
In dem bereits erwähnten Brief an Lothar Berthold formulierte er: »In dem völlig vergessenen, verschollenen bedeutenden Gelehrten Paul Alsberg habe ich den eigentlichen Schöpfer der modernen philosophischen Anthropologie entdeckt, die man zu Unrecht bisher immer nur an die Namen Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1927), Helmut Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) und Arnold Gehlen (Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt,1940) knüpft. Alsberg ist ihnen mit seinem bahnbrechenden Werk Das Menschheitsrätsel. Versuch einer prinzipiellen Lösung, Dresden (Sibyllenverlag), 1922, 2. verbesserte und vermehrte Aufla133
Gemeint war das persönliche Erlebnis: »Es ist lange her, da besaßen meine zwei Jahre jüngere Schwester und ich einen väterlichen Freund, der Arzt jüdischer Konfession war: Dr. med. Arthur Jacoby in Neuruppin. Er war von 1932 an der Gefährte unserer Mutter. Er wäre ohne die Nürnberger Gesetze unser Stiefvater geworden. Er trug sich eine Zeit lang mit der Absicht, mit uns nach England zu emigrieren. Als beim Novemberpogrom 1938 seine – unmittelbar neben dem Fontane-Denkmal gelegene – Praxis demoliert wurde, seine Phiolen und Reagenzgläser zertrampelt, sein Röntgenapparat aus dem ersten Stock aufs Straßenpflaster geworfen (seine kostbaren Mikroskope freilich, mutmaßlich unversehrt, gestohlen), da war er unterwegs mit einem operationsbedürftigen Patienten, den er, begleitender Krankenpfleger und Chauffeur in einer Person, im eigenen Wagen in die chirurgische Klinik der Berliner Charité brachte. Er hat Neuruppin nie wiedergesehen. Zuletzt Arzt bei der Jüdischen Gemeinde Berlin, ist er 1943 nach Osten deportiert und dort in einem Vernichtungslager umgebracht worden. An das Schicksal dieses Mannes musste ich sofort denken, als ich Ende Juli erfuhr, Paul Alsberg sei Jude gewesen und von 1939 an verlören sich seine Spuren; die Anschrift seiner Praxis am Kurfürstendamm verschwinde von da an im Berliner Adressbuch. Ich sah den Begründer der Philosophischen Anthropologie, mit dem gelben Stern auf der Kleidung, mit dem Namensschild ›Paul Israel Alsberg‹ an der Wohnungstür, jeglicher Willkür preisgegeben. Ich sah ihn, mit Schicksalsgefährten in einen Viehwaggon gepfercht, gen Osten rollen. Ich sah ihn auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau. Und ich wusste dabei um die Berufserfolge Arnold Gehlens zur selben Zeit. Worin die bestanden, bei Werner Rügemer, in Philosophische Anthropologie und Epochenkrise, Köln, 1979, S. 93 ff., können Sie es nachlesen. Nun hat sich herausgestellt: Das Geschick seines Neuruppiner Kollegen hat Alsberg nicht erlitten. Nach kurzer KZ-Haft konnte er 1934 emigrieren und in England seinen Beruf ausüben. Hochbetagt ist er 1965 eines natürlichen Todes gestorben.« Zu Jacoby siehe außerdem Harichs Biblio-Biographie (abgedr. in: Band 1.2, S. 108–112) und den Text Meine Lehrer (abgedr. in: Band 1.2, S. 113–122).
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ge, Wien (Sennenverlag), 1937, nicht nur zeitlich vorausgegangen, sondern insofern auch weltanschaulich überlegen, als seine Theorie die – vermutlich unbewusste – Entfaltung des einschlägigen Denkansatzes bei Marx und Engels, angefangen von den Marxschen Feuerbach-Thesen über die anthropologischen Aussagen in Band I des Kapitals von Marx bis zu Engels’ Schrift Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, darstellt.«
Eine Äußerung die er gegenüber Josef Stallmach, den er wegen seiner Arbeiten zu Nicolai Hartmann kannte,134 machte, geht in eine ähnliche Richtung: »Für mich, als Anhänger des Marxismus-Leninismus, hat Alsberg vor späteren philosophischen Anthropologen, ganz abgesehen von seiner Pionierrolle, noch den doppelten Vorzug, dass er a) die energische Herausarbeitung des qualitativen Novums des menschlichen Wesens gegenüber allen Tieren mit ebenso energischem Festhalten an der darwinistischen Anthropogenese zu verbinden vermag – und das würde gewiss auch Hartmann imponiert haben – und b) das qualitative Novum, sehr ähnlich wie Marx und Engels, aus dem Übergang der vormenschlichen Primaten zu Arbeit und Sprache erklärt. Was Nicolai Hartmann angeht, so finde ich dessen Gehlen-Rezension, von 1941, wie wohl sie unbewusst einen Plagiarius rühmt, ganz vortrefflich, dagegen seinen späteren Aufsatz Naturphilosophie und Anthropologie, von 1944 (Kl. Schr., I, S. 214 ff.), außerordentlich problematisch wegen geradezu nazihaft biologistischer Anwandlungen (S. 219, 235) und einer plötzlich positiven, meines Erachtens unangebrachten Würdigung Heideggers (S. 225 f.).«
Aus seinen Entdeckungen zog Harich die Konsequenz, dass es der DDR sehr gut zu Gesicht stehen würde, sich der Lebensleistung Alsbergs anzunehmen und diese im Akademie-Verlag zu veröffentlichen. Drei Gründe machte er gegenüber Lothar Berthold dafür geltend:
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Harich, um 1942
Im 10. Band verschiedene Hinweise zu Stallmach, dort auch Harichs Brief an diesen vom 27. September 1988 (S. 965–967).
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»(1) Es wäre eine der antifaschistischen Tradition der DDR würdige verlegerische Leistung, die noch zum 50. Jahrestag der ›Reichskristallnacht‹ wenigstens angekündigt und danach so schnell wie nur irgend möglich realisiert werden sollte. (2) Es würde dem auf Arnold Gehlen eingeschworenen Neokonservatismus in der BRD einen schweren Schlag versetzen. (3) Es würde die Blockierung philosophisch-anthropologischer Forschung in der DDR durch einn in der Sache dilettantische, in ideologischer Beziehung sektiererisch-dogmatische Pseudoargumentation beenden helfen, die mit Hilfe von Schelers Religiosität und Gehlens Nazitum entsprechende Berührungsängste zu nähren pflegt.«
Zusammen mit verschiedenen anderen editorischen Vorschlägen, an denen Harich seit Mitte der siebziger Jahre gearbeitet hatte, wurde dieses Projekt abgelehnt. Der Verlag stützte sich dabei auf ein internes Gutachten, das bereits am 26. August, verfasst von Leon Beyer, vorgelegen hatte.135 Beyer machte gleich zu Beginn den »unsoliden Charakter« des Angebots von Harich geltend. Er stützte sich dabei auf drei zentrale Einwände. 1) »Mit einer Alsberg-Edition Arnold Gehlen als Plagiator entlarven zu wollen, dürfte vergeblich sein«, da Gehlen selber Alsberg neben beispielsweise Ortega y Gasset als Quelle seiner Überlegungen genannt habe (unter anderem in: Gehlen: Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Hamburg, 1967, S. 93 f.). 2) Es könne nicht davon gesprochen werden, dass »Harich den Paul Alsberg wiederentdeckt hätte«. Beyer verwies auf die Edition Der Ausbruch aus dem Gefängnis. Zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, bearbeitete Neuauflage von Das Menschheitsrätsel von Paul Alsberg, herausgegeben von Dieter Claessens (Gießen, 1975). 3) Die Ausführungen Harich »zum vermuteten Schicksal von Paul Alsberg sind peinliche Effekthascherei«. Zwar sei Alsberg Verfolgungen durch die Nationalsozialisten ausgesetzt gewesen, konnte aber 1934 mit amerikanischer Hilfe aus dem KZ Oranienburg befreit werden und nach England emigrieren. Dort sei er 1965 gestorben, zwei Jahre später wäre in London sogar eine bearbeitete Neuauflage seines Buches unter dem Titel The Quest of Man erschienen.
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3 Blatt, maschinenschriftlich.
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Auf Grund dieser Sachlage sowie der »mangelhaften wissenschaftlichen Bonität der eingereichten Begründung der Edition« rate das Lektorat von dem Alsberg-Projekt ab. Beyer fügte seinem Brief eine »Persönliche Bemerkung« bei, in der er eine »fragwürdige Abgrenzungswut« Harichs ausmachte, die diesen »zu immer vorschnelleren Urteilen verleitete«. »Wenn er sich nach der Torpedierung zeitgemäßer Buchvorhaben des Verlages, nach bösartigen Beschimpfungen von Autoren, mit denen wir durch langjährige Zusammenarbeit verbunden sind, nun auch noch editorischen Windbeuteleien verschreibt – wäre es dann nicht an der Zeit, seinem störenden Einfluss auf die Geschäfte der LA 1 und auf die Reputation des gesamten Verlages einmal entschieden entgegenzutreten?«
Durch die sich seit mehreren Jahren hinziehende Nietzsche-Diskussion, die Harich schwer belastete und ihm auch gesundheitlich zusetzte, war er, was den Antifaschismus der DDR und der marxistischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anging, überaus sensibel geworden. Durch den Fall Nietzsche war er zu der Überzeugung gelangt, dass der Antifaschismus als absolute und nicht hintergehbare Grundlage des deutschen sozialistischen Staates in Gefahr war, zerbröckelte, in den Hintergrund gedrängt wurde. Von daher erklärt sich sicherlich auch sein hartes Reagieren im Fall Alsberg – sein Sinn für historische Gerechtigkeit zwang ihn in die Offensive. Eben jener Gerechtigkeitssinn, mit dem er seit den fünfziger Jahren bei den Oberen der DDR immer wieder angeeckt war. Seine persönliche Situation und Motivationslage erklärte er in einem Brief an Helmut Quaritsch vom 9. November 1988, dem er freilich auch mit einer gewissen Ironie begegnete, da dieser zu den konservativen Verteidigern Gehlens im Westen gehörte. Dabei machte er geltend, dass er Gehlen, vielen Unwägbarkeiten zum Trotz, bis zu dessen Tod die »Treue gehalten« und diesen auch menschlich respektiert habe. Seine Ausführungen können etwas ausführlicher wiedergegeben werden, da sie die letzte große zusammenhängende Darstellung zu diesem Sachverhalt bilden (wenn man von den autobiographischen Schriften und Schilderungen absieht): »Ich habe Arnold Gehlen, über die Abgründe der politisch-ideologischen Gegnerschaft hinweg und unbeirrt durch alle Zuspitzungen des Kalten Krieges zwischen Ost und West, jahrzehntelang sehr verehrt. Auch heute noch, nach wie vor, halte ich ihn, ungeachtet der wissenschaftlichen Unredlichkeit, die ich mit schmerzlichem Bedauern an ihm entdeckt
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habe, für den bedeutendsten Kopf und glänzendsten Stilisten des Konservatismus der Nachkriegszeit. In dieser Beziehung sind die Inhalte, die er zu bieten hat, meiner Gesinnung freilich stets so konträr gewesen, dass ich den Glanz der Formulierungen, in die er sie einzukleiden weiß, die witzsprühenden Einfälle, mit denen er sie anreichert, samt seiner unnachahmlichen Kunst, saloppen Kasinojargon in luzide Spiritualität hinüberzuleiten, eher zu beklagen finde. Was mich an ihm anzog, womit er mich in seinen Bann schlug, das waren die Untersuchungen, mit denen er, namentlich in seinem Hauptwerk, das qualitative Novum der menschlichen Natur herausarbeitet. Und von seinen Ergebnissen auf diesem Gebiet war ich überzeugt, sie seien unentbehrlich, um die knapp gefassten einschlägigen Erkenntnisse bei Marx und Engels auf neuesten Stand zu bringen, sie zu konkretisieren und systematisch auszubauen. Deshalb habe ich, in dem aufrichtigen Glauben, der kommunistischen Sache einen Dienst zu leisten, mich hartnäckig, gegen zähe Widerstände sowohl in der DDR als auch bei der Linken im Westen immer wieder dafür eingesetzt, Gehlen mit Respekt und Lernbereitschaft zu begegnen, seine anthropologischen Errungenschaften in die schöpferische Weiterentwicklung des dialektischen und historischen Materialismus mit einzubeziehen, zwischen seiner reaktionären politischen Ideologie und seinen Verdiensten um die Wissenschaft zu differenzieren. Schon 1952/1953, damals noch Mitglied der SED und in einflussreicher Position, versuchte ich den Aufbau-Verlag für eine Lizenzausgabe von Der Mensch zu gewinnen. Nachdem dies gescheitert war, würdigte ich einerseits in meinem ersten Buch – es ist Johann Gottfried Herder und Rudolf Haym gewidmet – Gehlen als denjenigen Denker der Gegenwart, der als einziger dem zutiefst humanen philosophischen Vermächtnis Herders wieder aktuelle wissenschaftliche Bedeutung beimisst, und machte ich andererseits in Gesprächen meinem Lehrer Georg Lukács klar, dass Auswertung Gehlens – er hatte den Namen bis dahin nie gehört – seiner damals in statu nascendi befindlichen Ästhetik zu Statten kommen werde. Und so ging das weiter. Selbst als das Machwerk Moral und Hypermoral, von 1969, niveaulos, eingegeben von finsteren Ressentiments, längst vorlag, gab ich in meinem bislang letzten Buch, zum Problemkomplex ökologische Krise, unverdrossen den Kommunisten zu bedenken, dass ohne Gehlens Befunde zur ›Variabilität und Plastizität der menschlichen Antriebsstruktur‹ die Einsichten, welche in Karl Marx’ Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie die Erzeugung des Bedürfnisses durch die gesellschaftliche Produktion betreffen, nach der biologischen und psychologischen Seite hin unerklärlich wären. Und nach Gehlens Tod habe ich der Frankfurter Rundschau ein Interview gewährt, das einem von hoher Achtung getragenen Nachruf gleichkommt. (Über der Lektüre sollen, wie Gehlens Tochter, Baronin v. Lieven, Augsburg, mich wissen ließ, ihr konservativ gesinnter Ehemann
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und dessen politisch linksstehender Bruder, Berlin-West, nach langer Entfremdung menschlich wieder zueinander gefunden haben.)«
Dieser ganze Prozess müsse berücksichtigt werden, um zu verstehen, so Harich weiter, warum er im Fall Alsberg-Gehlen so reagiert habe, wie es geschehen sei. Die 1986 erfolgte Lektüre von Alsberg Menschheitsrätsel begriff er als Schlüsselmoment. Er habe sich einer »jener niederschmetternden Erfahrung ausgesetzt (gesehen), von der Gläubige sich getroffen fühlen, falls sie gewahr werden, statt dem wahren Gott einem Götzen gehuldigt zu haben«. Gleichwohl sei ihm, so Harich weiter, die ganze Dimension, noch nicht bewusst gewesen, die wissenschaftliche Größe und Pionierrolle Alsbergs unbekannt. Wenn man Gehlens Menschen von allem entkleide, was auf Ergebnisse anderer Forscher zurückzuführen sei: »Was bleibt dann übrig? Nicht eben viel und nicht durchweg Gutes. Es bleibt, als das Wertvollste: Der Kerngedanke Alsbergs, nur leider depraviert durch eine unaufrichtige, gewundene Preisgabe des Darwinismus und durch Verflüchtigung der Produktionsarbeit, des Werkzeuggebrauchs in ein schwammiges, nebulöses Allerwelts-›Handeln‹, das teils die Fichtesche Tathandlung fortsetzt, teilt sich an den amerikanischen Pragmatismus heranschmarotzt, beides Rückfälle hinter Alsberg, ein philosophischen Idealismus unterschiedlicher Provenienz und Machart. Was aber das Ärgste ist: Der Mensch wird, weil instinktgeschwächt, von Gehlen 1940 ad majorem gloriam fascismi strammstehend an ›oberste Führungssysteme‹ ausgeliefert, die nach 1945 bei ihm mittels nunmehr opportuner Soziologie in ein wieder schwammiges, wieder nebulöses Überhaupt an institutioneller Einfriedigung umgetauscht werden, dergestalt geschichtsfremd, abstrakt, dass die Leerstelle von einem beliebigen Schrebergärtnerverein oder auch von Opa und Oma ebenso gut ausgefüllt werden kann wie von der Komintern, der UNO oder dem Vatikan. Alsberg hat demgegenüber das solidarische Zusammenwirken der Menschen in der Gesellschaft, von ihm ›Allmenschentum‹ genannt, mit ›Vollmenschentum‹, d. h. mit der freien Entfaltung der Einzelpersönlichkeit, durch den Staat ins Gleichgewicht zu bringen empfohlen.«
Schließlich, die Angelegenheit komplettierend: »Ich referiere eine schmerzliche Um- und Neubesinnung, die sich bei mir seit 1986, ausgelöst durch einen Schock, vollzogen hat, eine Gedankenentwicklung, von der ich nicht erwarte, dass Sie, sehr geehrter Herr Professor, sie billigen, geschweige denn selber nachvollziehen, über die Sie aber Bescheid wissen müssen, um ermessen zu können, was
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es bedeutet, dass ich bis Ende Mai dieses Jahres, mir einen Rest Anhänglichkeit an Gehlen immer noch bewahrend, mich an die Vorstellung geklammert habe, unterschlagen hätte dieser den Vorgänger Alsberg ja nicht, und ich dann, durch die aus Speyer eintreffende Einladung aufgestört, mir endlich die Register der 1. und 8. Auflage von Der Mensch ansah, die mich belehrten: Er hat ihn unterschlagen! Durch eine flüchtige Anspielung auf Sombart, Alsberg und Ortega y Gasset in einem Nebenwerk von 1957 habe ich mich düpieren lassen!«
Soweit Harichs Selbstbeschreibung, die menschlich ergreifend ist, seine Betroffenheit zeigt. Eine Erschütterung, die sich nur dann in ihrer ganzen Komplexität erschließt, wenn der Kontakt zu Gehlen bis zu dessen Tod wirklich als von wissenschaftlichem Respekt getragene Freundschaft begriffen wird. Harich fühlte sich tatsächlich betrogen und hintergangen. Nur so erklären sich seine Wut und Enttäuschung auf menschlicher Ebene. Zwei Aussagen Harichs müssen im Folgenden noch erwähnt werden, um dessen Blick auf Alsberg und Gehlen zu komplettieren. Im Januar 1989 legte er eine Aktennotiz an (nachdem er sich ähnlich lautend bereits in einem Brief an Dieter Claessens vom 16. November 1988 geäußert hatte), die auf das Treffen zwischen Gehlen und Harich 1952 in Speyer sich bezieht. Dort habe ihn Gehlen mehrfach gefragt, ob er Jude sei. Harich habe ihm daraufhin von dem Lebensgefährten seiner Mutter, dem Arzt Arthur Jacoby, erzählt. Zeitlich danach habe Gehlen Alsberg dann das erste Mal erwähnt, in einem Vortrag vom 30. März 1953. Die zweite Erwähnung des jüdischen Anthropologen sei dann Ende 1956 erfolgt, nach Harichs Verhaftung. Auch dies könne eine »vorbeugende Maßnahme« gewesen sein, um potentiellen Plagiatsvorwürfen zu entgehen: »(1) Unter Berufung auf Friedrich Engels hatte ich ihm, Gehlen, immer wieder nahegelegt, doch in der Werkzeugherstellung und im Werkzeuggebrauch den Springpunkt und das Modell des menschlichen Handelns zu sehen, und hatte dabei – unbewusst – ganz im Sinne des (mir noch gänzlich unbekannten) Paul Alsberg argumentiert. (2) Nach unserem Gespräch dürfte Gehlen in mir einen Philosemiten gesehen haben, der empört – und möglicherweise für ihn gefährlich – reagieren würde, sobald ihm sein, Gehlens, ›arisierendes‹ Alsberg-Plagiat bewusst wird. (3) Gehlens Beziehung zum Rowohlt-Verlag war 1952/1953 durch mich vermittelt worden; ich hatte vor der Reise nach Speyer 1952 in Hamburg Ernst Rowohlt auf Gehlen aufmerksam gemacht.
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(4) Schon der Name Gehlen machte, wegen Vetter Reinhard Gehlen in Pullach, es wahrscheinlich, dass nach meiner Verhaftung meine Vernehmer mich über meine Beziehung zu Arnold Gehlen befragen würden (was freilich nicht geschah; ihnen war dieser Punkt gleichgültig).«
Zweitens, abschließend, kann hier jene Erklärung wiedergegeben werden, die Harich am 21. April 1989 niederschrieb und unter anderem Karl-Siegbert Rehberg zur Verfügung stellte.136 Es ist Harichs letzte Stellungnahme zum Thema: »In den Jahren 1955 und 1956 hat Georg Lukács, bei Gelegenheit seiner damaligen Besuche in der Deutschen Demokratischen Republik, mich gesprächsweise in Grundgedanken seiner großen Ästhetik eingeweiht, die endgültig auszuarbeiten er kurz zuvor begonnen hatte. Nachdem er mir seine im Anschluss an I. P. Pawlow – und im Gegensatz zu ihm – entwickelte Theorie vom ›Signalsystem I‹ auseinandergesetzt hatte, machte ich ihn auf das Hauptwerk Arnold Gehlens, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, von 1940, aufmerksam, von dem ich meinte, er müsse es unbedingt gelesen haben, um seinen Einfall in einen angemesseneren philosophisch-anthropologischen Rahmen einfügen zu können. Dies kann sich frühestens im Mai 1955 in Weimar oder Jena ereignet haben, spätestens im August 1956 in Berlin. Es ist unwahrscheinlich, wenn auch nicht völlig auszuschließen, dass ich mich damals zu Lukács über Gehlens Nazivergangenheit ausgeschwiegen habe. Sicher ist, dass sie von mir, so weit ich um sie wusste, gegenüber Lukács in ihrer zeitgeschichtlichen und ideologischen Bedeutung heruntergespielt worden ist. Mein Motiv zu diesem Verhalten ist in der Überzeugung zu suchen, dass die Resultate, zu denen, wie ich glaubte, Gehlen bei seiner Herausarbeitung des qualitativen Unterschieds von Mensch und Tier gelangt war, für die systematische Ausgestaltung der entsprechenden Ansätze bei den Klassikern des Marxismus-Leninismus nicht zu entbehren seien. Arnold Gehlens faschistische Schuldverstrickung ist mir in ihrem vollem Umfang erst viel später bewusst geworden. Erst 1986 wurde mir Gehlens Plagiat an Paul Alsbergs Das Menschheitsrätsel, von 1922, bekannt und zur Gewissheit. 1988 führten sodann Recherchen, die ich über Alsbergs Person und Schicksal anstellen ließ, zu dem Ergebnis, dass Gehlen einen von den Hitlerfaschisten verfolgten jüdischen Mitbürger plagiiert hatte. Im selben Jahr erfuhr ich Näheres über Gehlens Naziaktivitäten aus dem einschlägigen Buch Werner Rügemers. Seit ich all dies weiß, erfüllt mich mit Beschämung, an Lukács’ offenbar ahnungsloser und unbekümmerter Gehlen-Rezeption schuld zu sein. Vermutungen 136
Rehberg hat das Schreiben bereits einmal veröffentlicht – in seinem Aufsatz: Kommunistische und konservative Bejahung der Institutionen. Eine Brief-Freundschaft, S. 438–486.
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darüber, ob überhaupt und in welcher Weise Lukács sich durch Gehlen hätte anregen lassen, wäre er ohne mein Zutun auf ihn gestoßen, sind heute müßig. Jedenfalls hätte der originäre Alsberg ihm mehr gelegen. Dies aus zwei Gründen: Alsberg hält ohne Wenn und Aber an der darwinistischen Auffassung der Anthropogenese fest, und er leitet das Handeln aus dem Übergang vormenschlicher Primaten zum Werkzeuggebrauch, d. h. zur Arbeit, mitsamt ihrer finalen Struktur, ab. Wo Lukács Gedanken Gehlens übernimmt, transportiert er sie, gewissermaßen, ins Marxistische und nähert sie eben damit – unbewusst – den bahnbrechenden Erkenntnissen Alsbergs an. Um so sicherer erscheint mir, dass, wäre Gehlens Plagiat an Alsberg Lukács bekannt geworden, dieser moralisch entrüstet darauf reagiert haben würde. Und das hätte bei Lukács dann wahrscheinlich auch die tiefe Missbilligung meiner langjährigen Nonchalance gegenüber Gehlens nazistischer Vergangenheit nach sich gezogen.«
Es darf und sollte sicherlich nicht unterschätzt werden, dass der ganze Fall Alsberg für Harich tatsächlich eine unglaubliche persönliche Enttäuschung war. Es klang auf den zurückliegenden Seiten ja immer wieder durch, wie sehr er sich bei Gehlen wegen dessen Verstrickungen in den Faschismus und Konservatismus zurückgenommen hatte, so dass seine Entdeckung Alsbergs ein schwerer Schlag war. In diesem Sinne ist es nicht überraschend, dass sich auch so etwas wie Nostalgie in die Rückblicke auf Gehlen mischte. Am 3. Februar 1989 beendete er einen Brief an Rudolf Augstein wie folgt: »Weißt Du noch Rudolf, wie wir uns im Sommer 1952 in Hannover kennen lernten? Damals erzählte ich Dir, dass ich mich auf einer Pilgerfahrt zu Gehlen nach Speyer befände, und Du hörtest den Namen des Mannes, sofort voll Interesse und Wissbegier, zum ersten Mal.« Dennoch, trotz dieser verschiedenen individuellen Dimensionen – der Fall Alsberg-Gehlen verweist auf eins: Den strikten und festen, klaren Antifaschismus Harichs. Eine Haltung, die man erst einmal beziehen muss, damit sie ein Leben lang durchgehalten werden kann, um schließlich das eigene Werk in allen Facetten zu prägen. In der Nietzsche-Debatte haben das seine zahlreichen Gegner nie verstanden. Bei den Anhängern Gehlens ist damit ebenfalls kein Hof zu halten. Es spricht Bände, dass der Abdruck eines Textes von Harich in der Zeitschrift Arbeit, Bewegung, Geschichte im Jahr 2019 daran scheiterte, dass ich mich weigerte, in der Einleitung diesen aufrichtigen, festen Antifaschismus Harichs, wie man Seitens der Redaktion verlangte, »zu relativieren«. Denn genau das ist nicht möglich: Er ist das Fundament, auf dem Harichs gesamtes Schaffen steht.
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Der Gegenstand der Anthropologie1 (1954/1955) (AH) Auf der ersten Seite findet sich der maschinenschriftliche Hinweis: »Zur Festschrift für Ernst Bloch«. Es handelt sich bei dem Manuskript also um jenen Text, den Harich ursprünglich zur 1955 erscheinenden Festschrift für Ernst Bloch beisteuern wollte, der dann aber so lang wurde, dass er nunmehr von Harich als eigenes Buch projektiert wurde. Am 19. April 1955 schrieb Harich an Walter Janka, um mit dem Aufbau-Verlag einen Vertrag über das Werk abzuschließen.2 Der Brief wurde in der Einleitung zitiert. Verschiedene der kleineren Manuskripte aus Teil III sind ebenfalls diesem Entstehungskontext zuzuordnen. Hier wird das Manuskript als eine Art »Einleitung« in das anthropologische Denken Harichs vorgestellt und als Erstes präsentiert, da sich dessen Argumentation gut erkennen lässt.
I Der Terminus »Anthropologie« hat einen unzweifelhaft eindeutigen Wortsinn. Durch die Geschichte der Philosophie ist er aber mit Äquivokationen belastet worden. In Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht besagt er etwas anderes als bei Feuerbach oder Tschernyschewski, und etwas wieder ganz anderes wird darunter in dem heute vergessenen Werk verstanden, das einst Immanuel Hermann Fichte unter dem Titel einer Anthropologie vorlegte. Wenn es Kant um Zusammenfassung der subjektiven Bedingungen der sittlichen Gesetze geht, wenn Feuerbach die Götter in phantastische Projektionen des menschlichen Wesens auflöst, wenn der jüngere Fichte vom Problem der »Verleiblichung« der Seele handelt, dann sind das Bestrebungen, die sich offenbar kaum miteinander vergleichen lassen, obwohl dies alles sich zweifellos irgendwie auf den Menschen bezieht. Bemerkenswert ist an diesem Bedeutungswandel, für den sich noch zahlreiche andere Beispiele anführen ließen, dass die Wörter »Anthropologie« und »anthropologisch« nicht nur Wissenszweige mit entsprechenden Forschungsgebieten zu bezeichnen haben, sondern ebenso oft auch Denkrichtungen angeben, und zwar solche des allerverschiedensten Inhalts. So hat Tschernyschewski, im Anschluss an Feuerbach, sich zum »anthropologischen Prinzip in der Philosophie« bekannt, worin Lenin eine »ungenaue, schwache Umschreibung des Materialismus« sah. Und in einem sehr anderen Sinne ist 1 2
(AH) 44 Blatt, maschinenschriftlich, nicht datiert. Weitere zusätzliche Blätter, die teilweise in das Manuskript eingeordnet werden konnten. (AH) 1 Blatt, maschinenschriftlich, datiert auf den 19. April 1955. Adressiert an »Aufbau-Verlag, Verlagsleitung, zu Händen Herrn Walter Janka«. Im Archiv des Aufbau-Verlages befindet sich ein weiterer Durchschlag dieses Briefes, dort mit dem handschriftlichen Vermerk »einverstanden«, offensichtlich von Janka. (Abgedr. in: Band 1.3, S. 1629.)
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in unserer Zeit der Ansatz der Existenzialphilosophie anthropologisch genannt worden, so wenn deren Anhänger das Heideggersche »Dasein« gegen den Seinsbegriff einer am Objektiven orientierten Ontologie auf der einen, gegen den bloß erkenntnistheoretischen Subjektbegriff auf der anderen Seite abgrenzen wollten. Heidegger3 selbst erklärt programmatisch, Anthropologie sei »längst nicht mehr nur der Titel für eine Disziplin«, sondern meine »eine Grundtendenz der heutigen Stellung des Menschen zu sich selbst und im Ganzen des Seienden«, und: »Sie sucht nicht nur die Wahrheit über den Menschen, sondern beansprucht jetzt die Entscheidung darüber, was Wahrheit überhaupt bedeuten kann.« (Kant und das Problem der Metaphysik, S. 199/200.) Damit ist ein Totalitätsanspruch angemeldet, der das Wort eindeutig für eine Einstellung des philosophischen Denkens reklamiert und diese zugleich für einzig fähig erklärt, die höchsten Fragen der Weltanschauung zu beantworten, ja, auch richtig zu stellen. Indessen hat der Terminus Anthropologie keineswegs aufgehört, ein Titel für Disziplinen zu sein. Doch auch in dieser Hinsicht ist seine Bedeutung schwankend. Die Mehrzahl der zeitgenössischen bürgerlichen Philosophen, die Werke mit dem Titel Der Mensch geschrieben haben, wollen ihn nach wie vor so verstanden wissen, scheinen also weit entfernt zu sein, den Heideggerschen Parolen zu folgen, verwenden ihn jedoch in einem derartigen Sinne, dass die Deutung gesellschaftlicher Zusammenhänge in den anthropologischen Aufgabenbereich einbezogen werden kann. Wir erinnern an die bekannte Unterscheidung von Individual- und Kulturanthropologie, wie sie zum Beispiel Landmann macht, an Gehlens Theorie der »obersten Führungssysteme«, an den breiten Raum, den bei v. Brandenstein die Behandlung von Technik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Mythos usw. einnimmt, an die mannigfaltigen Versuche, den Sinn von Institutionen anthropologisch zu erklären. Daneben aber wird als Anthropologie – und dies namentlich und vor allem – auch diejenige positive Wissenschaft bezeichnet, die sich mit der Erforschung der somatischen Seite des Menschen, mit dessen anatomisch-physiologischen Eigenschaften, der Problematik seiner stammesgeschichtlichen Herkunft usw. beschäftigt und die in solcher wohlverstandenen Beschränkung ein Zweig der Biologie ist. 3
(AH) Zu Heidegger und den meisten anderen von Harich genannten Philosophen des 19. und 20. Jahrhunderts finden sich verstreute Hinweise über das gesamte Werk Harichs. Siehe vor allem die Altersdialoge zu, über Nicolai Hartmann, Band 10.
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Es ist offenbar unerlässlich, dass wir uns hier zunächst und vor allem weiteren eines sinnvollen und eindeutig zu umgrenzenden Begriffs von Anthropologie versichern. Da empfiehlt es sich dann, auf die schlichte Wortbedeutung »Lehre vom Menschen« zurückzugreifen und diese möglichst neutral zu halten. Tun wir dies, so haben wir zwar noch nicht den Gegenstand der Anthropologie näher bestimmt, haben uns aber grundsätzlich bereits dafür entschieden, unter ihr eine Disziplin und nichts weiter zu verstehen, also keine Denkweise, keine Einstellung, keinen philosophischen Standpunkt, der bereits eine bestimmt geartete Anschauung vom Menschen – und womöglich gar eine anthropologische von der Welt – involvierte; wohlgemerkt: Auch den eigenen Standpunkt nicht, den wir überhaupt erst in dieser Disziplin, erst bei der Behandlung ihrer sachlichen Probleme geltend machen könnten. Wir befinden uns damit in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch der Naturwissenschaft sowohl wie des größeren Teils der philosophischen Anthropologen unserer Zeit, was freilich noch lange nicht bedeutet, dass wir uns deswegen auch der hier oder dort üblichen Gegenstandsbestimmung anschließen müssten. Auf den ersten Blick sieht das wie eine bloße terminologische Festlegung aus. Das ist es in der Tat, aber es ist zugleich doch auch mehr als das. So sehr nämlich die Hybris der weittragenden Ansprüche, mit denen Heidegger die Anthropologie belasten will, dem Wesen seiner Philosophie entspricht, so wenig kann und soll hier verleugnet werden, dass für unser Festhalten an der weit bescheideneren Bedeutung der »Lehre vom Menschen« die diametral entgegengesetzte Auffassung maßgebend ist. Die Ansicht Max Schelers, auf die Heidegger an der angeführten Stelle sich beruft, dass sich alle zentralen Probleme der Philosophie auf die Frage zurückführen ließen, was der Mensch sei und welche Stellung und Lage er innerhalb des Ganzen des Seins einnehme, ist nach unserem Dafürhalten eben durchaus falsch und abwegig und muss, wie wir aus guten Gründen glauben, zu einer Quelle unabsehbarer Irrung werden. Die echt philosophischen und höchst zentralen Probleme, was Raum, Zeit, Kausalität, Naturgesetzlichkeit und Substanz sind, wie Notwendigkeit und Zufälligkeit, Möglichkeit und Wirklichkeit Max Scheler
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sich zueinander verhalten, ob die organische Natur kausaler oder finaler Determination unterliegt, ob aus unbelebter Materie Leben entstehen und eine Vererbung erworbener Eigenschaften stattfinden kann usw., lassen sich durchaus nicht auf die Frage, was der Mensch sei, zurückführen. Das gerade hieße die Dinge auf den Kopf stellen. Vielmehr gilt umgekehrt, dass die Erarbeitung eines zutreffenden Bildes vom Menschen bereits ein angemessenes Verständnis der Welt voraussetzt, weshalb die Anthropologie, um nicht fehl zu gehen, sich dem Gesamtsystem des Wissens von der Welt, von Natur und Gesellschaft, sinnvoll einfügen muss. Im Grunde ist die maßlose Überspannung des philosophischen Kompetenzbereichs der Anthropologie schon dadurch gerichtet, dass sie als unvermeidlich nur einem Denken erscheint, welches bereits im Ansatz alles Seiende als relativ auf den Menschen und die Welt als die »je seinige« versteht. Sie kann, nachdem die alten Argumente des subjektiven Idealismus – den sie lebensphilosophisch modernisiert erneuern möchte – sich längst als hinfällig erwiesen haben, keinerlei Beweisgründe mehr für sich anführen. Wir wiederholen, dass im Folgenden unter Anthropologie ausschließlich eine Disziplin verstanden werden soll. Und wir fügen hinzu: Auch innerhalb dieser Disziplin soll nicht etwa ein anthropologisches Denken – falls es das wirklich gibt – postuliert werden, sondern eines, das den allgemeinen Normen der Wissenschaft entspricht. Unter dieser Voraussetzung glauben wir sagen zu können, dass auch marxistische Anthropologie möglich ist, so nämlich, wie die grundlegenden Fragen der Psychologie oder der Rechtswissenschaft marxistisch behandelt werden können. Denn in ihr würde es sich nicht darum handeln, marxistische Prinzipien mit anders gearteten, »anthropologischen« Gesichtspunkten eklektisch zu verbinden – sei es auch nur mit denen Feuerbachs oder Tschernyschewskis (um von dem, was Heidegger unter Anthropologie verstanden wissen will, ganz zu schweigen), sondern einfach darum, dass die Grundlagenprobleme eines bestimmten Sachgebiets wissenschaftlicher Forschung, wie die jedes anderen auch, vom Standpunkt des dialektischen und historischen Materialismus aus in Angriff zu nehmen und einer Lösung entgegenzuführen wären. Erinnern wir uns an dieser Stelle, dass der Marxismus bei weitem nicht darin aufgeht, die theoretische Begründung des Sozialismus zu sein, sondern dass er, wie Stalin einschärft, »eine in sich geschlossene Weltanschauung, ein philosophisches System« darstellt und dass diese Weltanschauung, dieses System für die Grundlagenfragen jeder beliebigen Wissenschaft zuständig ist. Wer grundsätzlich die Konzeption einer marxistischen
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Anthropologie für unmöglich erklären wollte, ohne dabei den Nachweis zu führen, dass anthropologische Fragestellung und Theoriebildung als solche, an und für sich keinen Sinn haben, müsste das gerade bestreiten. II Wir sagten, dass wir unter Anthropologie die »Lehre vom Menschen« verstehen wollen. Was soll nun der Gegenstand der »Lehre vom Menschen« sein? Es ist offensichtlich, dass das durch die bisherigen Ausführungen noch nicht mit Sicherheit ausgemacht ist, obwohl es selbstverständlich und ganz unproblematisch zu sein scheint, darauf einfach zu antworten: der Mensch. Wir könnten den Gegenstand der Anthropologie so bestimmen, dass er mit dem des gleichnamigen Zweiges der Biologie zusammenfällt. Das würde bedeuten, dass wir uns an der einzigen positiven Wissenschaft, die diesen Titel trägt, orientierten. Es hätte aber auch zur Folge, dass dann von einer Lehre vom Menschen, die so genannt zu werden verdiente, kaum mehr die Rede sein könnte. Denn so unentbehrlich die gesicherten Forschungsergebnisse der biologischen Anthropologie auch sind, so wenig reichen sie aus, Herkunft und Wesen des Menschen zu erklären. Jeder Versuch aber, ihren Geltungsbereich abzustecken, setzt bereits voraus, dass man sich nicht mehr nur am biologischen Material orientiert. Wie aber, wenn wir uns zu einem umfassenderen Begriff von Anthropologie entschlössen, wie die zeitgenössischen philosophischen Bestrebungen, die unter diesem Namen laufen, ihn uns nahe legen? Das würde zwar der Tatsache entsprechen, dass der Mensch sehr viel mehr als ein bloßes Naturwesen ist, etwas qualitativ Neues und Höheres im Vergleich zur Natur – einschließlich des gesamten Tierreichs. Wir hätten uns dann aber damit auseinander zu setzen, dass es bereits eine Unzahl anderer Wissenschaften gibt, die sich auf diesen komplexesten Gegenstand, der sich denken lässt, als das Objekt ihres Forschens und Fragens, ihrer Hypothesen und Theorien beziehen: Die politische Ökonomie ebenso wie die Humanmedizin, die Psychologie nicht minder als die Geschichtswissenschaft, die Linguistik so gut wie die Charakterkunde, die Pädagogik gleichermaßen wie die Ethnologie. Und da taucht nun ein Problem auf, dessen Beantwortung, wie immer sie ausfallen mag, bereits den Sinn einer weltanschaulichen Entscheidung hat, nämlich die Frage, ob neben diesen und all den anderen Wissenszweigen,
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die den Menschen betreffen, eine Anthropologie überhaupt noch erforderlich oder auch nur zulässig ist und welche besonderen Aufgaben sie denn haben sollte. Wie es scheint, hat Heidegger jedenfalls darin recht, dass er in dem oben zitierten Zusammenhang schreibt: »Was da in der Anthropologie als der somatischen, biologischen, psychologischen Betrachtung des Menschen, als Charakterologie, Psychoanalyse, Ethnologie, pädagogische Psychologie, Kulturmorphologie und Typologie der Weltanschauungen zusammenfließt, ist nicht nur inhaltlich unübersehbar, sondern vor allem nach Art der Fragestellung, nach Anspruch der Begründung, nach Absicht der Darstellung und Form der Mitteilung und schließlich nach den leitenden Voraussetzungen grundverschieden. Sofern sich dies alles (…) auf den Menschen beziehen lässt und demgemäß zu Anthropologie gerechnet werden kann, wird diese so umfassend, dass ihre Idee zur völligen Unbestimmtheit herabsinkt.« Offenbar ist es möglich, dem voll und ganz zuzustimmen, ohne deswegen auch nur eine der Schlussfolgerungen bejahen zu müssen, die Heidegger selbst dann daraus zieht. Doch versuchen wir, den Begriff der uns vorschwebenden Anthropologie näher zu präzisieren. Wir tun das in Anbetracht der vielen verschiedenen Fachgebiete, die eben genannt wurden und denen allen die Beschäftigung mit menschlichen Dingen gemeinsam ist, am zweckmäßigsten so, dass wir von dem Problem der Klassifikation der Wissenschaften ausgehen und nach einem sachlich begründeten Klassifikationsprinzip suchen, das in dieser schier unübersehbaren Mannigfaltigkeit Ordnung stiften kann. Bei diesem Vorgehen stellt sich sehr bald heraus, dass die Idee der Anthropologie als einer Disziplin zu der »völligen Unbestimmtheit«, von der Heidegger spricht, nur dann »herabsinkt«, wenn man ihr alle irgendwie den Menschen betreffenden Wissenschaften subsumiert, ohne zu beachten, dass diese sich zwanglos in zwei deutlich unterschiedene Gruppen einteilen lassen. Offenbar ist es nicht dasselbe, ob ich Eigenschaften des Menschen (jedes einzelnen Menschen) ins Auge fasse und dabei von den gesellschaftlichen Beziehungen, in die er jeweils eingefügt ist, absehe oder ob ich gerade diese zu beschreiben und zu erklären suche. Um nun diesen objektiv gegebenen, in der Sache selbst begründet liegenden Unterschied zu suchen und aus ihm alle nötigen Konsequenzen zu ziehen, muss man vor allem über einen genügend klaren Begriff des gesellschaftlichen Seins verfügen, d. h. man muss im eigenen Denken die falsche Grundvoraussetzung aller »Robinsonaden« überwunden
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haben – die Vorstellung, dass von der Abstraktion eines isoliert allgemeinmenschlichen Individuums her sich das Wesen historisch-sozialer Beziehungsgefüge bestimmen ließe. Man muss aber ebenso auch erkennen, dass dieser Fehler seine Kehrseite hat: Die Auflösung der menschlichen Wesenszüge in gesellschaftliche Kategorien, von denen sie realiter zwar fundiert sein mögen, mit denen sie aber keineswegs identisch sind. Und eben dieser Fehler liegt zumindest nahe, wenn man sich weigert, die Unterscheidung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften als Klassifikationsprinzip einer kritischen Überprüfung auszusetzen. Man setzt nämlich voraus, dass eine jede Wissenschaft, die sich auf menschliche Dinge bezieht, eo ipso nur zu den Gesellschaftswissenschaften gehören kann. Ist, so müssen wir fragen, diese Zweiteilung des Systems der wissenschaftlichen Disziplinen wirklich tragfähig und ausreichend? Ohne Zweifel kann es als gesichert betrachtet werden, dass die Realität in den Bereichen Natur und menschliche Gesellschaft durchaus aufgeht, dass sie sich in ihnen sozusagen erschöpft und dass keineswegs außerdem, gleichsam »daneben« dann auch noch »der Mensch als solcher« existiert. »Der« Mensch ist eine Abstraktion, die nur sinnvoll bleibt, solange damit nicht die Vorstellung eines Wesens verbunden wird, das außerhalb der Gesellschaft, unabhängig von der Gesamtheit der wirklichen, historischen Menschen ein Leben für sich führen kann. Gleichwohl gibt es, wie allgemein bekannt, eine Reihe von Disziplinen, die sich der Unterscheidung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften durchaus nicht fügen wollen, obschon diese Aufteilung dem realen Sachverhalt einwandfrei zu entsprechen scheint. Wir meinen nicht die Theologie, die wissenschaftlich ohnehin nicht in Betracht kommt. Wir meinen auch nicht solche Wissenschaften, die jener Unterscheidung insofern vorgeordnet sind, als sie sich, unter einem je bestimmten Aspekt, auf die gesamte Realität beziehen, wie zum Beispiel die Mathematik, die in abstrakter Allgemeinheit die reinen Quantitätsverhältnisse als solche widerspiegelt. Worauf wir es in diesem Zusammenhang abgesehen haben, sind Disziplinen, die den Menschen zum Gegenstand haben, und zwar unter dem Gesichtspunkte, dass in ihm natürliche, biologische und gesellschaftliche Momente einander durchdringen. So ist es beispielsweise schon misslich, die Humanmedizin als Naturwissenschaft zu bezeichnen. Sie hat freilich eine naturwissenschaftliche Seite, gerade so, wie ihr Gegenstand, der menschliche Organismus, somatisch-biologischen Charakter hat. Doch es genügt, an Hysterie und Berufskrankheiten, an die durch Hemmungen bedingte Im-
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potenz, an den psychogenen ulcus und die nervöse angina pectoris, an Störungen des Sprachzentrums in Folge seelischer Erschütterung und an die Gesamtheit der so genannten Zivilisationsschäden zu erinnern, um zu sehen, wie willkürlich es wäre, sie ausschließlich auf ihre biologischen Aspekte festlegen zu wollen. Als noch viel problematischer erweist sich die Zuordnung der Psychologie zu den Naturwissenschaften, obwohl auch sie schwerlich naturwissenschaftlicher Fundiertheit entraten kann. (Man denke an die Bedeutung der Pawlowschen Lehre von den Reflexen für die Enträtselung der psychischen Prozesse.) Halten wir fest, dass es sich in beiden Fällen um Wissenschaften handelt, die den Menschen zum Gegenstand haben, oder genauer: je bestimmte Seiten am Menschen, und dass beide die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, auf deren Erkenntnis sie abzielen, immer nur am konkreten Individuum, an der menschlichen Person empirisch aufweisen können. Nun scheint aus der Definition des Menschen als gesellschaftlichem Wesen, die schon dem Aristoteles vorschwebte, folgen zu müssen, dass alle Disziplinen, die sich in irgendeiner Hinsicht mit dem Menschen befassen, eo ipso zu den Gesellschaftswissenschaften zu rechnen seien. Aber wenn wir uns dafür entscheiden und alle daraus erwachsenden Konsequenzen auf uns nehmen wollten, würden wir ebenfalls ganz erhebliche Unklarheiten und Schwierigkeiten heraufbeschwören. Erstens besagt diese Definition ja nur, dass die spezifisch menschlichen Eigenschaften, um erklärt und begriffen werden zu können, auf die gesellschaftliche Lebensweise des Menschen, auf sein Getragensein von der Gesellschaft und seine Bedingtheit durch sie bezogen werden müssen. Sie besagt keineswegs, dass diese Eigenschaften als solche unmittelbar mit den Kategorien und Gesetzmäßigkeiten des sozialen Seins zusammenfallen, die den Gegenstandsbereich der Gesellschaftswissenschaft ausmachen. Zweitens würde, wenn wir alle Disziplinen, die sich mit menschlichen Dingen beschäftigen, in dem Komplex Gesellschaftswissenschaft aufgehen ließen, das Naturwesen, das jeder einzelne Mensch doch auch wiederum ist, auf das die Humanmedizin sich sogar in allererster Linie bezieht und das selbst die philosophische Ethik nicht außer Acht lassen kann (sofern sie nämlich unter anderem auch Naturtriebe als bewegende Kräfte des menschlichen Verhaltens in Betracht ziehen muss), vollständig eliminiert werden. Drittens würde damit aber gleichzeitig auch ein ganz uferloser und verschwommener Begriff der Gesellschaftswissenschaften entstehen, auf ihn würde sich zugleich eben
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jene »völlige Unbestimmtheit« übertragen, die Heidegger, wie wir sahen, an der als Disziplin verstandenen Anthropologie auszusetzen hat. Diejenigen Wissenszweige, die sich die Untersuchung der überindividuellen Zusammenhänge des menschlichen Lebens in ihrem geschichtlichen Wandel angelegen sein lassen, die von den ökonomischen, sozialen, politischen, moralischen und intellektuellen Beziehungen zwischen den Menschen und der Objektivierung dieser Beziehungen in den verschiedenen Sphären des so genannten »gesellschaftlichen Bewusstseins« handeln, sie wären prinzipiell nicht mehr von den Disziplinen unterschieden, die etwa die sinnesphysiologischen Besonderheiten des Menschen, das Funktionieren des zweiten Signalsystems, den psychologischen Aspekt des Problems der Willensfreiheit1 oder auch die Eigentümlichkeiten der menschlichen Embryonalentwicklung und dergleichen zu erforschen haben. Um es zugespitzt zu sagen: Die besonderen anatomischen Merkmale des Homo Sapiens wären mit der Philosophiegeschichte unterschiedslos in einen Topf geworfen. Wir sehen, dass der Mensch die uns vertraute Klassifikation der Disziplinen ad absurdum führt. Er tut dies einmal dadurch, dass er Naturwesen und zugleich mehr als das, nämlich gesellschaftliches Wesen ist. Und zum anderen bedeutet seine Gesellschaftlichkeit, dass er entweder als Gesellschaft – die sich freilich immer aus Personen zusammensetzt – oder als Person – die freilich immer Glied einer Gesellschaft ist – betrachtet werden kann. Nun, wenn die Wissenschaften vom Menschen sich, wie wir sagten, unter sachlichen Gesichtspunkten in zwei Gruppen einteilen lassen, so liegt das Kriterium ihrer Unterscheidung und ihrer Zuordnung zu der einen oder der anderen Gruppe in der Frage, ob sie mit dem Blick auf die Person zugleich auch die Naturseite des Menschen, eines jeden Menschen, im Betracht ziehen müssen oder aber in ausschließlicher Orientierung an der Gesellschaft diese Seite, die an die spezifischen Gesetzmäßigkeiten des Sozialen und Geschichtlichen ja nicht heranreicht, vernachlässigen können. Möglich ist nur die eine oder die andere Perspektive.
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(AH) Mit dieser Frage hat sich Harich in den fünfziger Jahren mehrfach auseinandergesetzt. Neben den verschiedenen Verweisen seiner Vorlesungen (Band 6.1 und 6.2) siehe vor allem den Vortrag Das Rationelle in Kants Konzeption der Freiheit, den Harich 1956 auf der heute noch bekannten Konferenz Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus hielt. (Abgedr. in: Band 3, S. 359–376, dort alle weiteren Hinweise usw.) Siehe außerdem Harichs frühe Äußerungen zu diesem Problemkreis, entstanden im Rahmen seiner Studienjahre an der Berliner Universität, geprägt durch die Anschauungen von Eduard Spranger und Nicolai Hartmann: Philosophie und Gnoseologie; Einführung in die Erkenntnistheorie; Erlebnis und Bildung (alle abgedr. in: Band 2, S. 387–651).
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Alle diese Überlegungen führen auf eine Dreiteilung des Systems der Wissenschaften hinaus, das, wie wir meinen, künftighin in naturwissenschaftliche, humanwissenschaftliche und gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen gegliedert werden sollte. Wir sind uns bei dieser Benennung darüber im Klaren, dass die beiden letzteren Begriffe gelegentlich Synonym gebraucht werden, dass etwa der Terminus »Humanwissenschaft« unter Umständen auch für Disziplinen verwandt wird, die wir zu den Gesellschaftswissenschaften rechnen wollen. An sich könnte man an seine Stelle ebenso gut auch den Terminus »anthropologische Wissenschaft« setzen. Wir wollen jedoch von Anthropologie in einem gleich noch zu erörternden anderen Sinne sprechen und uns dieses Wort dafür aufsparen, und deshalb schlagen wir die angegebene Terminologie vor. Zur Naturwissenschaft rechnen in unserem neuen Schema Physik, Chemie, Astronomie, Biologie usw. usf. – wie allgemein geläufig. Allerdings mit einer Einschränkung: Alle Disziplinen, die sich der Erforschung der somatisch-biologischen Seite des Menschen widmen, sind davon auszunehmen. Das gilt zum Beispiel bereits für die Anatomie, soweit sie spezifische Wesenszüge des menschlichen Körperbaus festzustellen und zu beschreiben hat. Damit wird natürlich nicht bestritten, dass die anatomischen Merkmale des Menschen, in ihrer Übereinstimmung mit den tierischen sowohl wie in ihrer Unterschiedenheit von diesen, sich ohne Kenntnis der Anatomie der Tierarten nicht bestimmen lassen. Aus dieser Tatsache folgt jedoch nur, dass der Anatomie treibende Mediziner eben Human- und Naturwissenschaftler in Personalunion ist. (Die Auffassung, dass er reiner Naturwissenschaftler sei, da er ja ausschließlich mit materiellen Dingen zu tun habe, ist irrig. Sie setzt stillschweigend voraus, dass der Unterschied zwischen Mensch und Tier nur im Geistigen zu finden sei, was angesichts solcher Merkmale wie des menschlichen Standfußes, des menschlichen Gebisses, der unbedeckten Haut usw. ein ganz unhaltbares dualistisches Vorurteil ist.) Zu den Gesellschaftswissenschaften sollten nach unserem Vorschlag nicht schlechthin alle Disziplinen, die den Menschen betreffen, gerechnet werden, sondern nur diejenigen unter ihnen, welche die Kollektivgebilde des menschlichen Zusammenlebens, die Erscheinungen des gesellschaftlich-geschichtlichen Seins und deren überindividuelle geistige Ausprägungen herauszuarbeiten haben, also: Politische Ökonomie, Soziologie, Wirtschaftsgeschichte, Geschichtswissenschaft, Lehre von Staat und Recht, Linguistik, Ethnologie, Literatur-, Kunst- und Philosophiegeschichte, Religionsgeschichte usw. Man könnte innerhalb dieser Gruppe noch die Geisteswissenschaften von den Gesellschaftswissenschaften im engeren Sinne abheben. Es wäre dabei jedoch zu beachten,
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dass die Erforschung derjenigen geistigen Erscheinungen nicht hierher gehört, bei denen es sich um allgemeinmenschliche Eigenschaften und Fähigkeiten handelt, die als solche immer nur an den Individuen, den Personen aufweisbar sind, wie Denken, Sprechen, Handeln usw. Die philosophische Historiographie könnte demnach Geisteswissenschaft heißen, die Psychologie dagegen nicht, und zwar auch dann nicht, wenn sie es mit rein intellektuellen Phänomenen zu tun hätte und diese völlig losgelöst von ihrer somatischen Grundlage behandeln würde. (Dass der Terminus »Geisteswissenschaft« hier rein klassifikatorisch gebraucht wird, nicht aber im Sinne irgendeines historisch-idealistischen Programms, das die Verkennung des Basis-Überbau-Verhältnisses einschließt, versteht sich am Rande.) Im Schnittpunkt von Natur- und Gesellschaftswissenschaften stünden schließlich die Humanwissenschaften: Von der biologischen Anthropologie über die Psychologie bis hinauf zu der auf das wollende und handelnde Subjekt bezogenen Seite der philosophischen Ethik. Von den anderen Wissenschaftskomplexen, an die beide sie freilich angrenzen, sind diese Disziplinen durch ihr besonderes Objekt sowohl wie durch die Art ihrer Intention und Fragestellung unterschieden. Von der Naturwissenschaft dadurch, dass sie auf spezifisch menschliche Erscheinungen abzielen, denen gegenüber die biologischen Begriffe mehr oder weniger versagen müssen, es sei denn, dass sie anthropologisch, humanbiologisch modifiziert werden. Und von den Gesellschaftswissenschaften unterscheiden die Humanwissenschaften sich darin, dass sie unter den menschlichen Phänomenen gerade diejenigen erforschen, die – unbeschadet ihrer Allgemeinheit – jeweils nur am Individuum, an der Person, als deren generell menschliche Eigenschaften, Fähigkeiten und Tätigkeitsweisen, auftreten und greifbar sind. Zu diesen Eigenschaften gehören die besonderen Gesetzmäßigkeiten, denen der Werdeprozess des menschlichen Embryos unterliegt, die Besonderheiten der Organausstattung und des Trieb- und Instinktlebens der Menschen, ferner der aufrechte Gang, die Arbeit, das zielgerichtete Handeln, die überlegte Umwegigkeit des Verhaltens, das Sprechen und Denken, die moralische Zurechnungsfähigkeit, die Möglichkeit, zu objektiven Erkenntnissen zu gelangen, und die, sich Sachverhalte zu vergegenwärtigen, die nicht unmittelbar gegeben sind usw. usf. Wir wollen im Folgenden alle diese Eigenschaften die qualitativen Besonderheiten des Menschen nennen, ohne Rücksicht
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darauf, ob sie im einzelnen materieller oder geistiger Natur sind, und für sie den zusammenfassenden Begriff »qualitatives Novum des Menschen« verwenden. Unsere These, die die Unterscheidung von Human- und Gesellschaftswissenschaften begründen soll, ist nun die, dass die qualitativen Besonderheiten des Menschen, weil sie in allen historischen Wandlungen der menschlichen Gesellschaft persistent dieselben sind, sich mit gesellschaftswissenschaftlichen Begriffen nicht erfassen lassen, ebenso wenig, wie sie umgekehrt ihrerseits an die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft oder gar an spezifische Wesenszüge und Gesetzmäßigkeiten einzelner Gesellschaftsformationen heranreichen. Und das, obwohl die Gesellschaft immer aus lauter (aufrechtgehenden, denkenden, handelnden usw.) Menschen besteht und jeder einzelne Mensch Glied einer konkreten (durch ein bestimmtes Produktionsverhältnisse charakterisierten) Gesellschaft ist, von der er abhängt und die ihn bis in den innersten Kern seines Antriebslebens und seiner Denkweise hinein determiniert. Allgemein gesprochen bedeutet das, dass humanwissenschaftliche und gesellschaftswissenschaftliche Kategorien einander wechselseitig voraussetzen, aber gleichwohl streng unterschieden werden müssen und nicht aufeinander reduzibel sind. (Die Frage, welches Moment in diesem wechselseitigen Sichvoraussetzen unterschiedener Kategorien nun das in kausaler Beziehung grundlegende ist – die Gesellschaft oder das qualitative Novum des Menschen –, ist damit nicht vorentschieden. Dass es tatsächlich die Gesellschaft ist, ihre Kategorien also die fundamentaleren sind, besagt nicht, dass das qualitative Novum des Menschen diesen logisch subsumiert werden könnte.) Einzuräumen ist, dass es Disziplinen gibt, die sich bald auf humanwissenschaftlichem, bald auf gesellschaftswissenschaftlichem Felde bewegen. So die Pädagogik, die die menschlichen Qualitäten des heranwachsenden Individuums, sein ethisches Empfinden, seine Fähigkeit, sich Wissen anzueignen usf. in einer Richtung zu entwickeln hat, die den Anforderungen der Gesellschaft entspricht. So auch die philosophische Ethik, die einerseits die Verantwortlichkeit eines jeden normalen Menschen für sein Tun und Lassen und andererseits den geschichtlichen Wandel der gesellschaftlichen Moralen zu erklären hat. Von der Logik gar kann man sagen, dass sie sich teils auf dem Felde der allgemeinen Ontologie, teils auf dem der Humanwissenschaft bewegt, sofern sie nämlich generelle Gesetze der Realität überhaupt als normative Regeln für das Denken
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jedes Menschen formuliert.2 An der Richtigkeit der von uns getroffenen Unterscheidung ändert das aber grundsätzlich nichts, da die humanwissenschaftlichen sich von den anderen Aspekten dieser Disziplinen bis in deren einzelne konkrete Aussagen hinein genau unterscheiden lassen. Wir können nun mit wenigen Worten sagen, was wir unter Anthropologie und anthropologisch verstehen wollen. Mit Anthropologie meinen wir die philosophische Disziplin, die sämtliche Humanwissenschaften zusammenfasst, sie koordiniert und ihre Forschungsergebnisse unter einheitlichem Gesichtspunkt auswertet – mit dem Ziel, eine Theorie vom Wesen des Menschen, seiner Entstehung und Entwicklung und seiner qualitativen Unterschiedenheit vom Tier zu entwerfen, und anthropologisch soll die Intention auf die qualitativen Besonderheiten des Menschen und die damit zusammenhängende Orientierung an der Person, als dem Träger dieser Besonderheiten, heißen. Diese Intention und diese Orientierung sind den Humanwissenschaften und der Anthropologie (im Gegensatz zur Gesellschaftswissenschaft) gemeinsam, jedoch mit dem Unterschied, dass die Anthropologie die Eigenschaften, die das qualitative Novum des Menschen ausmachen, nicht fachwissenschaftlich voneinander isoliert betrachtet, sondern sie, wenigstens der Tendenz nach, auf eine Gesamtanschauung vom Menschen bezieht, wobei sie namentlich die Beantwortung der philosophischen Grundlagenprobleme anstrebt, die über den Rahmen jeder einzelnen Humanwissenschaft jeweils hinaus weisen. Gegenstand der Anthropologie ist, in dem so präzisierten Sinne, der Mensch als solcher – genau das, was Marx in seiner sechsten These über Feuerbach unter dem »Abstraktum«, das dem einzelnen Individuum innewohne, unter der »inneren, stummen, die vielen Individuen bloß natürlich verbindenden Allgemeinheit« versteht. Und ihre Aufgabe ist es, die Entstehung, die Existenzbedingungen und das qualitative So- und Nichtanderssein dieses »Abstraktums«, dieser Allgemeinheit zu erklären.3 2
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(AH) Harichs Beschäftigung mit der Logik war zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Manuskripts noch aktuell, die Logik-Debatte der jungen DDR-Philosophie war, nicht zuletzt dank Harichs Engagement im Aufbau-Verlag und in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie im vollen Gang. Harichs Wortmeldungen – die zwei gedruckten einflussreichen Aufsätze (Über einige Probleme der Logik, in: Sinn und Form, 1952; Beitrag zur Logik-Debatte, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1953) und zahlreiche Manuskripte – präsentiert der 2. Band. Siehe außerdem: Heyer: Die Logik-Debatte in der Frühphase der DDR-Philosophie, 1951–1958, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4, 2013, S. 577–592. (AH) Die 6. Feuerbachthese, nachgewiesen in: Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin, 1969, S. 5 ff. Sie lautet: »Feuerbach
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III Unsere bisherigen Ausführungen zu Fragen der Terminologie, Klassifikation und Gegenstandsbestimmung wären ziemlich müßig, wenn sich nicht erweisen ließe, dass die Anthropologie, auf die wir hinaus wollen, für unser Wissen, unsere Erkenntnis der Welt einen bestimmten Sinn und Wert hat. Das eben steht in Frage, und eben davon soll nun die Rede sein. Zunächst ist zu sagen, dass es sich hier weder um die Inauguration einer neuen Disziplin der Philosophie handeln kann, noch um den krampfhaften Versuch, einer nie da gewesenen Problemlage Rechnung zu tragen, die erst in der Gegenwart, erst durch die Theorien zeitgenössischer bürgerlicher Philosophen – wie Scheler, Klages, Plessner, Nicolai Hartmann, Gehlen, Huizinga, v. Brandenstein, Landmann usw. – entstanden wäre. Freilich wäre es hoch an der Zeit, sich mit der gegenwärtigen Inflation philosophisch-anthropologischer Werke in den Ländern des Kapitalismus kritisch auseinander zu setzen. Keineswegs aber kann irgend einer der daran beteiligten Denker oder können diese in ihrer Gesamtheit beanspruchen, ein vorher unbeachtet gebliebenes Fragengebiet allererst entdeckt und erschlossen zu haben. Nicht ihre Bestrebungen sind es, die das systematische Interesse unserer Arbeit bestimmen. Die Frage nach Herkunft und Wesen des Menschen ist in Wahrheit uralt, und das Ringen um ihre Beantwortung zieht sich, soweit das historisch noch überblickbar ist, durch die ganze Geschichte des menschlichen Denkens – von den ältesten Mythen, die uns überliefert sind, bis in die ideologischen Kämpfe unserer Zeit hinein. Nicht nur die leitenden theoretischen Konzeptionen, die in den einzelnen Humanwissenschaften je eine Rolle gespielt haben – wie die Physiognomik und Schädellehre des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie heute die Psychoanalyse, die Individualpsychologie, die charakterologische Ausdruckskunde –, auch alle Religionen und philosophischen löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. Von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann daher nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.« (Ebd.) Die argumentative Verwendung der 6. Feuerbachthese ausführlicher in anderen Texten dieses Bandes.
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Systeme enthalten irgend eine, inhaltlich wie auch immer beschaffene Gesamtanschauung vom Menschen, und nicht selten ist diese in besonderen Theorien formuliert worden, hat sie eigene Disziplinen beansprucht, die es selbst dann noch gestatten würden, von einer Jahrtausende alten Entwicklungsgeschichte der philosophischen Anthropologie zu sprechen, wenn man bornierter Weise sich weigern wollte, die eigentlich anthropologischen Aussagen erst aus anderen Fragekomplexen, in die sie verflochten sind, herauszulösen. Das »zoon politikón«, als das Aristoteles den Menschen definiert, La Mettries »l’homme machine«, Kants »Bürger zweier Welten« gehören ebenso hierher wie Nicolai Hartmanns »personaler Geist« oder Arnold Gehlens »Mängelwesen«, Herders Schrift über den Ursprung der Sprache nicht minder als die Darwin-Haeckelsche Abstammungstheorie mitsamt den diversen anthropogenetischen Hypothesen, die sie konkretisieren sollen.4 Der mythische Anfang von alledem ist in der jüdisch-christlichen Tradition durch das erste Kapitel der Bibel bezeichnet, in dem Gott den Menschen nach seinem Bilde schafft und ihn zum Herrn über die Erde und alle ihre Geschöpfe einsetzt, im Denken der griechischen Denker wohl durch die Erzählung aus Platons Protagoras, worin Epimetheus versäumt, die Menschen mit den Organen und Fähigkeiten der Tiere auszustatten, weshalb dann Prometheus ihnen die Kunstfertigkeit des Hephästos und der Athene sowie das Feuer schenkt.
Julien Offray de La Mettrie, Stich nach einem Gemälde von Georg Friedrich Schmidt
Ob diese Anthropologie sich so oder auch anders nannte, ob ihr legitimer Name von ihr selbst oder von anderen Bestrebungen beansprucht war, das tut hier wenig zur Sache. Entscheidend ist, dass es eine Problemstellung ist, die den Menschen als solchen 4
(AH) Zu den genannten Theoretikern hat sich Harich in verschiedenen Kontexten ausführlicher geäußert, weitere Verweise in diesem Band. Siehe außerdem die entsprechenden Querverweise und Ausführungen vor allem der Bände 3, 4, 5, 6.1, 6.2. Am wichtigsten sind in diesem Zusammenhang sicherlich Harichs Studien zu Herder (abgedr. in Band 4), ebenso seine Dissertation über Herder (abgedr. in: Band 1.2, S. 657–919).
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betrifft, und dass es die daraus erwachsende Theorie spezifisch anthropologischen Inhalts in dem von uns definierten Sinne seit urvordenklichen Zeiten gegeben hat und heute noch gibt. Die Gipfelleistungen der bürgerlichen Philosophie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die zu den ideengeschichtlichen Quellen des Marxismus zu rechnen sind, an die Marx und Engels in ihrer Jugend kritisch angeknüpft haben, bilden da keine Ausnahme. Und es ist dabei nicht nur, ja, nicht einmal in erster Linie an den Anthropologismus Feuerbachs, es ist vor allem auch an Hegel zu denken.5 Wir haben hier jene »Erste Abteilung der Philosophie des Geistes« aus der Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften im Sinn, die den Titel Der subjektive Geist trägt und in die Paragraphen 387 bis 482 gegliedert ist. Wenn Hegel hier – bereits jenseits der Natur, doch noch diesseits des »objektiven Geistes« – von der »Seele« oder dem »Naturgeist«, von dem Bewusstsein und dem theoretischen und praktischen Geist handelt, so meint er im Grunde dasjenige am Menschen, womit dieser sich aus dem Naturreich qualitativ heraushebt, was aber den gesellschaftlichen Kategorien nicht subsumiert werden kann, da es sich nur an der menschlichen Person ablesen lässt; er meint – mit anderen Worten – den Gegenstandsbereich der Anthropologie. Dass er selbst nur den von der »Seele« handelnden ersten Abschnitt so bezeichnet und den zweiten und dritten unter anders lautende Titel stellt, ist eine terminologische Eigentümlichkeit, die uns wenig zu kümmern braucht. Der Sache nach fällt die ganze »Abteilung« mit dem zusammen, was wir unter Anthropologie verstanden wissen wollen.
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(AH) Die klassische deutsche Philosophie im Allgemeinen und die Philosophie Hegels im Besonderen gehörten zur Harichs bevorzugten Interessengebieten in den Jahren vor (und teilweise auch noch nach) seiner Haft. Sie sind abgedruckt in Band 5, dort auch die große und skandalumwitterte Hegel-Vorlesung (S. 437–714), die er in den fünfziger Jahren an der Berliner Humboldt-Universität hielt. In dem Band findet sich auch sein Aufsatz Über Ludwig Feuerbach. Zur 150. Wiederkehr seines Geburtstages (S. 315–325). Bei seinen Studien zu diesen Themenbereichen folgte Harich gut erkennbar und bis hin zu echter philosophischer Identität den Forschungen von Georg Lukács (alle wichtigen Briefe, Gutachten, Manuskripte usw. druckt der 9. Band). Auch die Überlegungen von Ernst Bloch spielten eine gewisse Rolle, wurden von Harich allerdings bereits in den fünfziger Jahren durchaus kritisiert (siehe hierzu den Abdruck der Briefe, Gutachten usw. Harichs an und über Bloch in: Band 1.3, S. 1787–1842, dort auch eine ausführliche Einleitung, Ernst Bloch und Wolfgang Harich, des Herausgebers, S. 1733–1786).
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Interessanterweise gibt Hegel in diesem Zusammenhang auch eine Kurzfassung seiner Phänomenologie des Geistes6 von der Stufe des sinnlichen Bewusstseins bis zur Vernunft, d. h. er bezieht den Versuch seines ersten großen Werkes, den Bildungsgang des Individuums als Abbreviatur der Gattungserfahrungen der Menschheit zu entwickeln, wenigstens in dem Maße in die anthropologische Problematik ein, wie diese Gattungserfahrungen den Menschen zum Menschen, nämlich zum Vernunftwesen in der spezifischen Bedeutung des deutschen Idealismus, gemacht haben. Daran anschließend erörtert er psychologische Sachverhalte – wie Erinnerung, Einbildungskraft, Gedächtnis, praktisches Gefühl, Triebe, Willkür, auch GlückGeorg Wilhelm Friedrich Hegel, seligkeit –, und erst dann, erst im so genannten Lithografie von Ludwig Sebbers »freien Geist«, »der sich als frei weiß und sich als diesen seinen Gegenstand will, d. i. sein Wesen zur Bestimmung und zum Zwecke hat«, stellte er den Anschluss an das gesellschaftliche Sein, an Recht, Moralität, Sittlichkeit usw. her. Damit ist nicht nur ein großer Teil der Themen, die wir in unserem Klassifikationsschema den Humanwissenschaften zugewiesen haben – bei Hegel: von den »natürlichen 6
(AH) Die Phänomenologie des Geistes spielte in der jungen DDR-Philosophie eine herausgehobene Rolle (gerade wegen und in der Hegel-Debatte der fünfziger Jahre). Harich betonte mehrfach, dass Georg Lukács mit seinem Der junge Hegel die erste umfassende und wirklich verstehend-analysierende Interpretation der Jugendschriften Hegels (in der Edition von Hermann Nohl) vorgelegt habe und so endlich auch der Schlüssel für die Interpretation der Phänomenologie bereit liege. Siehe von Harich die Manuskripte Hegels Phänomenologie des Geistes aus den fünfziger Jahren sowie, aus den Jahren nach seiner Haftentlassung, Über Hegels Konzeption der Philosophiegeschichte und Hegels Konzeption der Philosophiegeschichte und der Marxismus (alle in: Band 5, S. 221–312). Wichtig war die Phänomenologie auch im Rahmen der intensiven Rezeption Goethes (um 1949 und in den fünfziger Jahren). Goethe, Hegel und (teilweise) Beethoven erschienen als die drei Personen, die das Bewusstsein der bürgerlichen Klasse am stärksten geprägt, nach außen transportiert hätten. Diese Überlegungen lassen sich nachweisen bei Harich, Lukács, Bloch, Hans Mayer, Johannes R. Becher, Alexander Abusch, Wilhelm Girnus und anderen. Siehe hierzu mit allen wichtigen Hinweisen: Heyer: Der gereimte Genosse. Goethe in der SBZ/DDR, Baden-Baden, 2017.
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Qualitäten« des Menschen (§§ 392 ff.) bis zu den ans moralische Selbstbewusstsein angrenzenden psychologischen Phänomen –, erstmals unter einheitlichem Gesichtspunkt zusammengestellt, es ist mit der Konzipierung eines besonderen, sie umgreifenden Systemteils und mit dessen Einschaltung zwischen Naturphilosophie auf der einen und Gesellschaftsphilosophie auf der anderen Seite auch zum ersten Mal der Versuch einer sinnvollen Ortsbestimmung der Anthropologie, ihrer sachgerecht durchdachten Eingliederung in den Gesamtzusammenhang unseres Wissens von der Welt unternommen. Nicht zufällig, so scheint uns, findet sich dieser Versuch gerade bei dem Denker, der in der ganzen vormarxistischen philosophischen Tradition am energischsten die eigengesetzliche Objektivität des gesellschaftlichen Seins und Werdens – wie unsinnig idealistisch er sie auch deuten mochte – betont und am entschiedensten das Aufwerfen und Lösenwollen gesellschaftlicher Fragen aus der Perspektive des isoliert-abstrakten Individuums bekämpft hat. Hegels zynische Zurückweisung des subjektiven Meinens, Beliebens und Besserwissenwollens gegenüber dem Gang der Geschichte ist ohne eine damit verbundene Bewusstheit des prinzipiellen Unterschiedes zwischen dem Strukturaufbau der menschlichen Person und dem der Gesellschaft, ohne ein Hinausgehen über den Kantischen Subjektivismus auch in dieser Beziehung, gar nicht vorstellbar. Und eben dieser Einstellung entspricht es, dass dem so genannten »objektiven Geist«, d. h. der Gesellschaft – bei Hegel gegliedert in Recht, Sittlichkeit, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Weltgeschichte – ein eigener Systemteil zugewiesen wird und die darin nicht aufgehenden, in diesem Zusammenhang nicht behandelbaren, aber aus der ganzen Problemlage des deutschen Idealismus auch wiederum nicht fortzudenkenden qualitativen Besonderheiten des Menschen davon abgesondert und vorwegnehmend erörtert werden. Sieht man die Gliederung der Encyclopädie so an, so erkennt man, dass die Überlegungen, deren Resultat sie ist, selbst zu dem wertvollen Erbe Hegels gehören dürften, das »vom Kopf auf die Füße zu stellen« ist.7
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(AH) Neben Harichs eigenen Studien zu Hegel (Band 5) und den entsprechenden Arbeiten von Georg Lukács (siehe die Hinweise des Bandes 5 und die Texte des Bandes 9) ist vor allem auf die Vorträge und Aufsätze zu Hegel zu verweisen, die Bloch 1956 fertig stellte und die Harich gut kannte. Siehe von Bloch: Hegel und die Gewalt des Systems, in: Bloch: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt am Main, 1985, S. 481– 500; Problem der Engelsschen Trennung von Methode und System bei Hegel, in: Bloch: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt am Main, 1985, S. 461–481.
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IV So viel nur zur Geschichte der philosophischen Anthropologie. Es entsteht nun die Frage, ob mit der Konstatierung des ehrwürdigen Alters dieser Disziplin auch schon der Rechtsnachweis ihres Weiterbestehens erbracht ist. Es könnte sein, dass der Prozess der fortschreitenden Verselbständigung der positiven Wissenschaften, der für die Entwicklung der Philosophie charakteristisch ist und deren legitimes Gebiet ständig verkleinert, von der ganzen anthropologische Problematik so gut wie gar nichts mehr übrig gelassen hätte, was nicht in irgendeiner Humanwissenschaft seine Lösung fände. Seit Hegel seine Encyclopädie schrieb, hat sich in dieser Beziehung ja einiges ereignet. Darwin und Haeckel haben über die Herkunft des Menschen aus dem Tierreich grundsätzlich Klarheit geschaffen, die Fortschritte, welche die biologische Anthropologie, die Humanmedizin, die Psychologie in den vergangenen hundert Jahren erzielten, sind gewaltig. Was bleibt da der Anthropologie als philosophischer Disziplinen noch zu tun? Dass sie von diversen bürgerlichen Denkern heute noch fortgeführt wird, besagt offenbar wenig. Auch die Geschichtsphilosophie – man denke an Spengler und Toynbee – hat in der bürgerlichen Welt nicht dadurch zu existieren aufgehört, dass ihre Probleme von Marx und Engels längst wissenschaftlich gelöst worden sind; der kapitalistische Überbau reproduziert sie als das falsche und immer falscher werdende Bewusstsein, das seine Basis braucht. Und die philosophische Anthropologie unterliegt offenbar dem gleichen Gesetz. Wie könnte sonst Schelers These von der »Außerweltlichkeit« des menschlichen Geistes, wie die Lehre Klages’ vom »Geist als Widersacher der Seele«, wie das Gehlensche Mängelwesen en vogue sein?8 Aber andererseits: Ist es möglich, dieser falschen Anthropologie beizukommen, ohne ihr eine richtige entgegenzusetzen? Und welche Humanwissenschaft verfügte über die genügende Breite der Fragestellung, die es ihr gestattete, von sich aus die umfassende Begründung für ein humanistisches Menschenbild zu liefern? Wir glauben, dass an dieser Stelle eine prinzipielle Bemerkung über das Verhältnis und Philosophie und positiver Wissenschaften am Platze ist. Es wäre grundfalsch, aus der 8
(AH) Siehe hierzu, neben zahlreichen weiteren, über das ganze Werk verstreuten Hinweisen, den Artikel Philosophie in der Sackgasse, der am 1. April 1956 in der Sonntag erschienen war. (Neu abgedr. in: Band 1.3, S. 2098–2105.) In den Hartmann-Manuskripten, an denen Harich in den achtziger Jahren arbeitete, hat er viele seiner Gedanken aus diesem Problembereich wieder aufgegriffen und ausführlich dargestellt (siehe Band 10).
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mit der Verselbständigung der positiven Wissenschaften zusammenhängenden ununterbrochenen Verkleinerung des Gebiets der Philosophie auf ein fortschreitendes Überflüssigwerden jeder philosophischen Problemstellung und Systematik zu schließen. Erstens ist zu sagen, dass zwar Philosophie und Einzelwissenschaft etwas anderes sind und je verschiedene Aufgaben haben, dass aber keineswegs etwa die Philosophie als solche deswegen unter allen Umständen unwissenschaftlich sein muss. Es gibt eben auch wissenschaftliche Philosophie. Zweitens bedeutet jener Entwicklungsprozess für die Philosophie nicht minder als für die Wissenschaft einen Fortschritt; in demselben Maße nämlich, in dem diese sich von spekulativer Vormundschaft befreit, wird jene auch für ihre eigentlich universelle Aufgabe frei: Die allgemeinsten, abstraktesten Fragen, d. h. die der Weltanschauung, in einem Sinne zu beantworten, der der Wissenschaft gemäß ist. Drittens hängt jede Einzelwissenschaft an Voraussetzungen, die nicht ihrem unmittelbaren Gegenstandsgebiet angehören, die man in Folge dessen nur klären – und zwar wissenschaftlich klären – kann, wenn man über die engen Grenzen des betreffenden Fachgebiets hinausgeht und sich die allgemeinsten Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Realität bewusst macht, auf die eben jene weltanschaulichen Fragen sich beziehen. Dass dabei das jeweils erreichbare Maß an adäquater Erkenntnis dieser Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten vom Entwicklungsstand aller positiven Wissenschaften abhängt, besagt nicht, dass jede von diesen für sich genommen an ihre Allgemeinheit heranreichte, mithin zur Beantwortung der Grundlagenfragen auch nur des eigenen Gebiets mit ihren spezialwissenschaftlichen Mitteln im Stande wäre. Allerdings: Eine philosophische Physik – etwa im Sinne der Spekulationen Schellings – wäre neben und außer der exakten Wissenschaft gleichen Namens heute ein einziger Anachronismus. Das heißt aber nicht, dass die Physik als das Spezialfach, das sie ist, von sich aus entscheiden könnte, was zum Beispiel Raum, Zeit, Kausalität und Naturgesetzlichkeit im Allgemeinen sind. Ihre Ausgangsbasis ist viel zu schmal, ihre Fragestellung viel zu speziell, als dass sie zu solchen weittragenden Aussagen legitimiert wäre. Und wenn sie sich dennoch im Zeichen eines angeblich notwendigen Abbaus so genannter klassischer Traditionen zu einer Revision dieser Begriffe berufen glaubt, mithin die eigenen Voraussetzungen zum Problem macht, derart, dass auf einmal von schrumpfenden, sich dehnenden und gekrümmten Räumen die Rede ist und die kausale De-
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termination als Vorurteil erscheint, so hat sie bereits aufgehört, bloße Physik zu sein, hat sich selber schon auf philosophisches Terrain begeben, und es ist noch sehr die Frage, ob auf das Terrain wissenschaftlicher Philosophie.9 Mit Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft steht es nicht anders. Die Liquidation der alten Geschichtsphilosophie durch den historischen Materialismus bedeutet nicht weniger, aber auch nicht mehr, als dass die Frage nach den bewegenden Kräfte des Geschichtsprozesses, die Frage nach den Ursachen und dem Wesen des gesellschaftlichen Fortschritts von Marx und Engels ein für alle Mal wissenschaftlich geklärt wurde, wozu Montesquieu und Voltaire, Vico, Herder und Hegel nicht im Stande waren.10 Damit ist allerdings jede weitere philosophische Spekulation über diese Fragen hinfällig geworden. Aber keineswegs ist damit die Einzelwissenschaft Geschichte ermächtigt, diese Fragen für nunmehr gegenstandslos zu halten bzw. zu meinen, dass sie sich bei gründlichem Studium des faktischen Ablaufs der Ereignisse von selbst beantworteten. Im Gegenteil: Die Leistung der marxistischen Klassiker verpflichtet die Geschichtswissenschaft auf den historischen Materialismus und damit auf die wissenschaftliche, die marxistisch-leninistische Philosophie. Für den uns hier beschäftigenden Fragenkomplex gilt nun genau dasselbe. Die philosophische Anthropologie kann unwissenschaftlich sein, aber sie braucht es nicht zu sein, und sie ist es nicht, wenn sie auf jedwede Spekulation ins Blaue hinein verzichtet, sich stattdessen an die ganze Breite des gesicherten Tatsachenmaterials hält, das die verschiedenen Humanwissenschaften zu Tage gefördert haben, und sich überdies auf 9
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(AH) Mit den Problemen und Herausforderungen der modernen Physik seit Einstein sowie deren Konsequenzen setzte sich Harich in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren intensiv auseinander. In der Deutschen Zeitschrift für Philosophie führte Harich als Chefredakteur eine eigene Sparte ein, die der Diskussion von Fragen der Physik gewidmet war. Gut nachvollzogen werden kann seine Argumentation anhand seiner Gutachten zu und seiner Briefe an Victor Stern, die er im Rahmen der Tätigkeit für den Aufbau-Verlag verfasste (abgedr. in: Band 1.3, S. 1843–1857). Weitere wichtige Informationen bieten auch die Notizen aus seiner Haftzeit, darunter die Randbemerkungen zum Lehrbuch Grundlagen der marxistischen Philosophie, die mit weiteren Texten im 3. Band (S. 445–536) zum Abdruck kommen. Und schließlich zeigen noch die Hartmann-Manuskripte der achtziger Jahre (Band 10), wie wichtig das Thema für Harich war. (AH) Diese Überlegung ist eine der zentralen Thesen von Harichs Dissertation Herder und die bürgerliche Geisteswissenschaft (abgedr. in: Band 1.2, S. 657–919). Dort alle weiteren Informationen. Siehe zudem die Kapitel Die Entwicklung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie und Herder und die französische Geschichtsphilosophie in dem Manuskript Herder als Geschichtsphilosoph der Aufklärung (abgedr. in: Band 4, S. 199–234).
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eine solide natur- und gesellschaftswissenschaftliche Grundlage stellt (ohne sich indessen auf Natur- oder Gesellschaftswissenschaft zu reduzieren). Jede einzelne Humanwissenschaft aber, die sich von falschen Voraussetzungen leiten lässt, bzw. sich nicht über die notwendige Begrenztheit des Geltungsbereichs ihrer Aussagen Rechenschaft gibt, steht in Gefahr, die vorgefundenen Tatsachen ihres isolierten Gebiets zu einer durch und durch unwissenschaftlichen Gesamtanschauung vom Wesen und der Herkunft des Menschen zu verallgemeinern, also falschen anthropologischen Theorien, und das heißt immer auch: reaktionären philosophischen Ideen, Vorschub zu leisten. Es sind keineswegs harmlose, bloß abwegige Ideen, an die hier in erster Linie zu denken ist. Wir wiesen oben den Gedanken zurück, die Lehre vom Menschen mit der biologischen Anthropologie gleichzusetzen. Wir können hier nun hinzufügen, dass der Biologismus, der aus einer derartigen falschen Identifizierung die Konsequenzen zieht, zu den gefährlichsten reaktionären Irrlehren unserer Zeit gehört. Jedermann weiß, welche zentrale Rolle der soziale Darwinismus und die Rassentheorie im Denken der Nazis spielten, wie entscheidend wichtig sie für die pseudowissenschaftliche Begründung der faschistischen Verbrechen waren. Nun, man kann diese Irrlehren nur zur Hälfte widerlegen, wenn man lediglich die Unhaltbarkeit aller ihrer auf Gesellschaft und Geschichte bezüglichen Behauptungen nachweist und dabei versäumt, ihre grundverkehrten anthropologischen Voraussetzungen zu entlarven. Bevor der soziale Darwinismus »die Phrase struggle for life« (Marx) zum Prinzip seiner kapitalistischen Apologetik macht und das angeblich naturgegebene Vorrecht des Stärkeren in der Gesellschaft verkündet, muss er, zumindest stillschweigend, alle Eigenschaft des Menschen, die dessen spezifische Überlegenheit gegenüber der Natur bedingen, als selektive Vorzüge missdeuten und die Menschwerdung – unter Ignorierung des qualitativen Sprunges, der sich durch sie und mit ihr vollzogen hat – metaphysisch zu einem rein biologischen Vorgang, einer einfachen quantitativen Evolution innerhalb der organischen Natur erklärt haben. Und die Rassentheorie kann die Gleichheit der Menschen nur bestreiten, indem sie sich über das anthropologische Faktum hinwegsetzt, dass die generellen Besonderheiten des Werkzeuge produzierenden, handelnden, sprechenden, denkenden Wesens – und auf ihnen eben beruht jene Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt – durch differenzierende Körpermerkmale nicht im Mindesten tangiert werden. Sie muss einen Fehlschluss fertig bringen ähnlich dem, dass kochende Milch nicht heiß sein könne,
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weil sie von weißer Farbe ist. Auch die barbarischen Geschichtsmythen des Rassismus haben eine rein zoologische Interpretation des Homo Sapiens zur Voraussetzung. Das sind extreme Beispiele, aber sie werfen gerade darum ein bezeichnendes Licht auf die vielen, relativ harmloser aussehenden Fälle, in denen anthropologisch im Grunde ganz ähnlich gedacht wird. Jede psychologische Konzeption, die den Menschen als Trieb- und Instinktwesen fasst, statt ihn von der Handlung, von Sprache und Denken und der stets phantasievollen Umwegigkeit seines Verhaltens her zu deuten, gehört hierher, ebenso aber auch ein Experimentieren mit der Schimpansenintelligenz, das von der Absicht geleitet ist, das qualitative Novum des Menschen möglichst vollständig zum Verschwinden zu bringen. Was das letztere Verfahren betrifft, so hält man es für ein Ernst zu nehmendes Argument, dass der Ausstralneger dem Menschenaffen näher stünde als dieser dem Regenwurm. Das ist so richtig wie die Tatsache, dass siedendes Wasser und Wasserdampf eine fast gleichermaßen wärmere Temperatur haben als ein eben noch mit Eis bedeckt gewesener See. Es kann jedoch den prinzipiellen, den Qualitätsunterschied zwischen Mensch und Tier so wenig aus der Welt schaffen wie den zwischen den gasförmigen und den flüssigen Aggregatzuständen der Moleküle, auf Leugnung jenes Unterschiedes aber will man heute hinaus, d. h. man will Gorkis Wort: »Der Mensch – wie stolz das klingt!« zu einer schönen Illusion erklären, um ein bestialisiertes Menschenbild glaubhaft machen zu können, das der allgemeinen Menschenfeindlichkeit der imperialistischen Ideologie gemäß ist. Womöglich noch infamer ist indessen die Methode, die qualitativen Besonderheiten des Menschen zwar scheinbar zu unterstreichen, sie aber durch eine ganz einseitige Interpretation ihrer somatischen Aspekte mit einem Minusvorzeichen zu versehen, so dass die Bestialisierung durch eine Bevorzugung der Bestie noch weit überboten wird. Ludwig Bolk definiert den Menschen als geschlechtsreif gewordenes, ansonsten aber stehen gebliebenes Vorschimpansen-Embryo und fasst
Lew Nikolajewitsch Tolstoi und Maxim Gorki, um 1900
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die Menschwerdung als einen Rückschritt auf, als eine durch Störungen des endoktrinen Systems verursachte Entwicklungshemmung. Diese »Fetalisations«hypothese, zusammen mit irrigen Folgerungen aus dem Dolloschen Gesetz, hat einen großen Teil der bürgerlichen anthropogenetischen Forschung unserer Zeit in die Richtung gedrängt, als Vorfahren des Menschen einen Affen von möglichst primitivem Typus anzunehmen; andererseits ist sie von Gehlen aufgegriffen worden, der nun das Handeln und alle darauf basierenden geistigen Leistungen unter dem Gesichtspunkt analysiert und beschreibt, dass es sich um Kompensationen von Mängeln handle. Der Rassismus wird von Gehlen dabei dann freilich ausgeschaltet. Bolk selbst aber, unbelastet durch Bedenken, die sich angesichts des Handelns und der Sprache einstellen müssen, versteht es, auch von dieser Grundlage aus für die faschistische Rassentheorie einzutreten. Die mongolische Rasse halte einen typisch fetalen Erscheinungskomplex fest, der bei der nordischen Rasse fehle – und er begründet damit, warum er sich als »überzeugter Anhänger der Lehre von der Ungleichheit der Rassen« bekenne. Es muss mit diesen wenigen Andeutungen hier sein Bewenden haben. Wir können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht einmal einen skizzenhaften Überblick über die verschiedenen reaktionären Anthropologien der Gegenwart geben, geschweige denn uns mit ihren Argumenten näher auseinandersetzen. Grundsätzlich wichtig sind hinsichtlich des hier zur Debatte stehenden Problems aber zwei Dinge: Einmal die Tatsache, dass das Bild des Menschen heute überhaupt ein wichtiges Angriffsobjekt der imperialistischen Ideologie ist, zum anderen, dass jede der genannten Theorien wissenschaftlich fundiert zu sein beansprucht, auch wirklich von unleugbar bestehenden Sachverhalten ausgeht und erst durch die daraus abgeleiteten falsch verallgemeinernden Schlussfolgerungen ihren spezifisch antihumanistischen Charakter erhält. Das gilt auch für die Rassentheorie, sofern das Bestehen verschiedener Menschenrassen eben gar nicht bestritten werden kann, und von den Schriften Bolks, gar von dem Hauptwerk Gehlens muss man sogar sagen, dass sie eine Fülle geradezu genialer Beobachtungen enthalten, die »nur« in einen vollständig verzerrten Zusammenhang gestellt sind. Das Fehlen organischer Spezialanpassungen und Sonderausrüstungen am Menschen, die damit zusammenhängenden Besonderheiten der menschlichen »Antriebsstruktur«, das Zurücktreten der instinktiven Antriebe usw. dürfen von einer Anthro-
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pologie, die phänomgerecht sein will, unter gar keinen Umständen mehr ausgelassen werden. (AH) Das Kapitel endet mitten auf der Seite, offensichtlich wollte Harich hier einzelne Gedanken noch weiter ausführen und die entsprechenden Seiten in das Manuskript einlegen. Ein anderes Manuskript setzt genau an diesem Punkt ein und führt den Gedanken fort. Es kommt im Folgenden zum Abdruck, bevor mit Unterkapitel V fortgefahren wird.
Das gilt auch und sogar für die Rassentheorie, insofern, als das Bestehen unterschiedener Menschenrassen eben gar nicht zu bestreiten und deren Erforschung als solche ganz legitim ist. Es gilt gleichfalls für den sozialen Darwinismus, sofern die natürliche Selektion ein die ganze organische Natur beherrschendes Gesetz ist, ohne dessen Annahme die Vorzüge der Anpassung und die Phänomene der organischen Zweckmäßigkeit völlig mysteriös blieben. Und was die zuletzt genannte Hypothese Bolks und die Gehlensche Theorie des »Mängelwesens« betrifft, so beziehen sie sich auf Erscheinungen, die, falls man sie wissenschaftlich interpretierte, d. h. in den richtigen Zusammenhang stellte, es gestatten würden, das qualitative Novum der menschlichen Natur in einer Weise herauszuarbeiten, die für den Biologismus geradezu tödlich sein könnte. (Um zu sehen, dass bei Gehlen selbst schon gewisse Ansätze in dieser Richtung vorhanden sind, die aber durch die falsche Grundkonzeption seiner Anthropologie wieder aufgehoben werden, braucht man nur an seine, ihn von Bolk unterscheidende, Ablehnung des Rassismus zu denken, sowie an die zum Teil ausgezeichnete Polemik, die er gegen jede Art von Trieb- und Instinktpsychologie führt.) Wir haben also in all diesen Fällen halbe Wahrheiten vor uns, die, verabsolutiert, ganze Unwahrheiten ergeben. Und die halben Wahrheiten haben im Zusammenhang der reaktionären Lehren, in die sie eingefügt sind, die Funktion, der ganzen Unwahrheit den Anschein wissenschaftlichen Fundiertseins zu sichern, dessen sie bedarf, um überhaupt denkende Menschen verwirren zu können. Es ist aufschlussreich, unter diesem Gesichtspunkt die Entwicklung der philosophischen Anthropologie samt ihrer mythischen Vorgeschichte zu überdenken. Es zeigt sich dann, dass all die modernen, an wissenschaftlich konstatierbaren Tatsachen ansetzenden Theorien in dieser Beziehung den alten, spekulativ-metaphysischen und religiösen Konzeptionen prinzipiell nicht das Mindeste voraus haben, in dem einem Punkt aber tief unter ihnen stehen, dass sie nicht beanspruchen können, mit ihren »halben Wahr-
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heiten« antizipierende Ahnungen über Sachverhalte auszusprechen, die wissenschaftlicher Erkenntnis noch nicht zugänglich sind. Wenn Kant seine Ethik auf der bekannten Entgegensetzung von Pflicht und Neigung aufbaut,11 so ist darin anthropologisch jedenfalls das eine richtig gesehen, dass der Mensch grundsätzlich den naturbedingten Antrieben seines Verhaltens zuwiderhandeln kann. Wenn Descartes seinen Dualismus von »Ausdehnung« und »Denken« statuiert,12 so hat er darin ganz recht, dass das Psychische als solches niemals räumlich ausgedehnt wie die Körperwelt ist. Ja, selbst die biblische Genesis spricht eine mystifizierte Ahnung von etwas Richtigem aus, wenn sie den Menschen den berufenen Herrscher über alle anderen Geschöpfe nennt und ihn gerade in diesem Zusammenhang und keinem anderen zu dem nach dem Bilde Gottes geschaffenen Wesen erklärt. Es geschieht mit Bedacht, dass wir diese extremen Beispiele anführen. Gerade sie nämlich zeigen, dass die philosophische Anthropologie, genauer gesagt: das philosophisch-anthropologische Denken, gleichviel, ob es nun in Gestalt einer eigenen Disziplin aufgetreten ist oder nicht, der fachwissenschaftlichen Ausgangspunkte durchaus nicht immer bedurfte, um rationelle Teilerkenntnisse zu enthalten; übrigens sehr viel rationellere als etwa die Rassentheorie. Und nehmen wir nun hinzu, was angesichts der eben erörterten Spielarten des Biologismus als gesichert gelten kann: dass das Ausgehen von den Tatsachenbefunden einer beliebigen, noch so fortgeschrittenen Fachwissenschaft keineswegs unter allen Umständen die Gewähr für anthropologisch richtiges Denken bietet, so dürfte die Unhaltbarkeit eines Positivismus erwiesen sein, der in Anbetracht irgendwelcher Errungenschaften der Humanwissenschaften versucht sein könnte, die Anthropologie als philosophische Disziplin zu verabschieden.
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(AH) Mit Kant setzte sich Harich sein Lebtag lang auseinander. Die wichtigsten Schriften aus dem hier relevanten Zeitraum präsentiert der 3. Band. Dort alle weiteren Informationen, Verweise usw. (AH) Auch die Philosophie von Descartes war für Harich immer wieder denkerische Herausforderung. Neben den zahlreichen Querverweisen, die sich verstreut über sein ganzes Werk finden, siehe vor allem die Vorlesung Die großen europäischen Denker der Neuzeit (abgedr. in: Band 6.1, S. 437–644, darin ist der ganze III. Abschnitt Descartes gewidmet, S. 534–576).
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Weder die Denkpsychologie noch die Humanmedizin noch die biologische Anthropologie ist von ihrem je speziellen Gegenstandsgebiet aus im Stande, die Frage nach Herkunft und Wesen des Menschen zu beantworten, ohne über ihre Schranken hinauszugehen; jede dieser positiven Wissenschaften aber kann, wenn sie das tut, einer höchst reaktionären Philosophie anheimfallen und dieser zugleich die eigene Tatsachenerkenntnis zu ideologischem Missbrauch ausliefern. Mehr noch: Es ließe sich sogar zeigen, dass die Humanwissenschaften, jede für sich genommen, zentrale Probleme des eigenen Gegenstandsgebiets schwerlich zu lösen vermögen, ohne sich von richtigen philosophisch-anthropologischen Gesichtspunkten leiten zu lassen. Gibt es einen einzigen, dem Menschen eigenen und ihn auszeichnenden psychischen Vorgang, der ganz verstanden werden könnte, ohne dass die Sprache als Konstituens seines Wesens begriffen wird? Sind fossile Funde vor- und urmenschlicher Skelette deutbar, ohne auf die spezifische Form der Lebensfristung des Menschen bezogen zu werden? Kann man mit den Besonderheiten der Embryonalentwicklung und des anatomischen Baus des Menschen etwas anfangen, ohne die Grenzen des Wirkungsbereichs der natürlichen Selektion zum Problem gemacht zu haben? Lässt sich den Entartungen des menschlichen Geschlechtsinstinkts psychiatrisch oder wie immer beikommen, ohne dass zunächst einmal die normale und übliche Intervention ästhetischer, sozialer, ja, finanzieller Motive in die Angelegenheit dieses scheinbar rein biologischen Bereichs merkwürdig gefunden wird? Und wie ist es möglich, das Ineinandergreifen von Sinnesempfindung, Denken, Aufmerksamkeit, Phantasie usf. im Erkenntnisprozess zu enträtseln, ohne dies alles auf die weltverändernde Praxis menschlichen Tuns zu beziehen? Alle diese Fragen und zahllose andere rühren an Zusammenhänge, die in keiner einzelnen Humanwissenschaft unterzubringen sind und sich wissenschaftlich nur auf der Grundlage einer adäquaten Gesamtanschauung vom Menschen behandeln lassen. Wir behaupten nicht, dass diese Zusammenhänge von Biologen, Ärzten, Psychologen usw. nicht gesehen würden, aber wo sie sie sehen, fängt ihre Fragestellung an, philosophisch zu werden, und wenn sie sich dann nicht bewusst den Standpunkt der wissenschaftlichen Philosophie zu eigen machen, können ihre Lösungen bestenfalls spontan, fragmentarisch und zufälligerweise richtig sein.
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V Worauf wir mit unseren Darlegungen hinaus wollen, ist keine beliebige philosophische Anthropologie, sondern eine, »die als Wissenschaft wird auftreten können«. Und da wir unter wissenschaftlicher Philosophie immer den dialektischen Materialismus verstehen, ist es unerlässlich, dass wir nun dessen Beziehung zur anthropologische Problematik zu klären versuchen. Das ist freilich ein weites Feld, das in dieser Arbeit nur sehr ungefähr abgesteckt werden kann. Im Wesentlichen müssen wir uns darauf beschränken, den Nachweis zu führen, dass die Forderung einer marxistischen Anthropologie nicht gar so abwegig ist, wie das manchem auf den ersten Blick hin erscheinen mag. Wir behaupten nicht weniger, als dass der dialektische Materialismus eine solche Anthropologie bereits einschließt, dass Marx und Engels, Lenin und Stalin ihre Grundsätze klar und eindeutig dargelegt und sogar wichtige Teile von ihr sehr konkret ausgearbeitet haben und dass es nur darauf ankommt, die innere Systematik ihrer diesbezüglichen – freilich verstreuten – Untersuchungen und Hinweise zu erfassen, um sich ein deutliches Bild von ihren anthropologischen Anschauungen zu machen. Und wir behaupten weiter, dass überall dort, wo durch die Entwicklung der Humanwissenschaften neue Probleme spruchreif geworden sind, zu denen keine Äußerungen von ihnen vorliegen, die materialistische Dialektik doch eindeutig die Richtung vorzeichnet, in der die respektiven Lösungen und Antworten zu suchen sind. Doch beginnen wir mit der Frage, warum die Konzeption einer marxistischen Anthropologie mit Einwänden gerade von Seiten der Anhänger des Marxismus zu rechnen hat, warum es so nahe liegt, in ihr von vornherein eine Abweichung, den Versuch einer Einschmuggelung fremden Ideenguts zu wittern. Uns scheint, dass dies vor allem an der fast übergeschichtlich anmutenden äußersten Abstraktheit der anthropologischen Problemstellung liegt, die leicht mit einer Verneinung des methodischen Postulats der historischen Konkretheit verwechselt werden kann, eines Postulats, das der Marxismus in Bezug auf alle gesellschaftlichen Fragen für wissenschaftlich verbindlich erklärt. Wie jede andere Wissenschaft arbeitet auch die philosophische Anthropologie mit Abstraktionen, die nur bestimmte Seiten der unerschöpflichen Realität widerspiegeln. Ihre zentrale Abstraktion, mit der sie ihren Gegenstand bezeichnet, ist mit einem Wort: »der Mensch« oder »das Wesen des Menschen« oder »die Natur des Menschen«, und ihre Aufgabe besteht, wie wir sahen, darin, die qualitativen Besonderheiten des Men-
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schen, im Unterschied zu allen Tierarten, auch den höchsten, allgemeingültig zu bestimmen, ihren inneren Zusammenhang aufzuzeigen, ihre Entstehung und Entwicklung, ihre Existenzbedingungen und ihr So- und Nichtanderssein zu erklären. Dabei sieht die Anthropologie in ihrer zentralen Abstraktion, um die ihre ganze Begriffsbildung sich gruppiert, von sehr vielem ab, was beim konkreten Menschen niemals fehlt, zum Beispiel vom Unterschied der Geschlechter, von den Verschiedenheiten der Lebensalter, den Merkmalen der Rassen, den persönlichen Eigentümlichkeiten der Individuen, ihrem individuellen Charakter, ihrer unverwechselbaren Physiognomie, ihrem »Temperament« usw. Und sie sieht ebenso ab – und hier scheint die Abstraktion vom Standpunkt des historischen Materialismus aus nun fragwürdig zu werden – von den Differenzen des Bedürfnisses sowohl wie der intellektuellen Leistung, die den verschiedenen Zivilisationsstufen der Menschheit entsprechen, und von den je besonderen Interessen und Ideologien der Klassen, die in der Geschichte aufgetreten sind und die die Moral und die Denkweise der ihnen subsumierten Individuen immer ganz entscheidend geprägt haben. Die Frage ist, was – wenn von alledem abstrahiert wird – dann noch übrig bleibt, mit anderen Worten: Ob Abstraktionen wie »der Mensch«, »das Wesen des Menschen« und dergleichen überhaupt sinnvoll sind, und ob das, was sie in der angegebenen Allgemeinheit widerspiegeln, noch belangvoll genug ist, um als Gegenstand einer eigenen Wissenschaft in Betracht zu kommen. Und weiter fragt es sich, ob nicht gerade der Marxismus diese Allgemeinheit als illusorisch, als eine Fiktion erwiesen hat, so dass marxistische Anthropologie nur eine contradictio in adjecto sein kann. Lässt die Natur des Menschen sich vollständig in jenen historischen Besonderungen auflösen, von denen die Anthropologie um der schlechthinnigen Allgemeinheit ihres Gegenstands willen absehen muss, so hat dieser Gegenstand sich offenbar in nichts aufgelöst. Tatsache ist, dass die Klassiker des Marxismus das Abstrakt-Genus »der Mensch« als Kategorie der Gesellschaftslehre für unzuständig erklärt und es in diesem Zusammenhang entschieden abgelehnt und bekämpft haben. Anstatt von »der« Natur »des« Menschen im Allgemeinen zu sprechen, sind Marx und Engels, Lenin und Stalin in ihren Analysen irgendwelcher gesellschaftlicher Erscheinungen jedes Mal von den wirklichen, historischen Menschen ausgegangen, von deren konkreten Beziehungen zur Natur und zu einander, von der geschichtlichen Bewegung ihres ökonomisch-gesellschaftlichen Seins und dessen Widerspiegelung im gesellschaftlichen Bewusstsein,
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von den in der Geschichte der Gesellschaft auftretenden Klassen und ihren Kämpfen, von den historischen Formen der Produktion, an die die Existenz dieser Klassen jeweils gebunden ist, von der Wechselbeziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in ihrer Entwicklung usw. Jeden Versuch, gesellschaftliche Erscheinungen aus dem Wesen »des« Menschen, einem quasi übergeschichtlichen Faktor, abzuleiten, verwerfen sie als wissenschaftlich unzulässig, als mit den Grundsätzen des historischen Materialismus unvereinbar. Und in eben diesem Zusammenhang hat Marx Formulierungen gefunden, die den Sinn der anthropologischen Abstraktionen überhaupt in Frage zu stellen scheinen. »Der Mensch«, heißt es in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, »das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.«13 Und noch deutlicher in den Feuerbach-Thesen: »Das 13
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 1, Berlin, 1976, S. 378. Genau lautet die Passage: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. Die profane Existenz des Irrtums ist kompromittiert, nachdem seine himmlische oratio pro aris et focis widerlegt ist. Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine Wirklichkeit sucht und suchen muss. Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des
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menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. Von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann daher nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.«14 Es ist klar, dass man an unser Problem nur marxistisch herangehen kann, wenn man sich diesen Standpunkt ohne Einschränkung zu eigen macht. Die Frage ist nur, ob man deswegen auch die Berechtigung der Anthropologie als solcher bezweifeln muss. Wir glauben nicht nur, dass diese Konsequenz in keiner Weise zwingend ist; denn zweifellos hat Marx nicht behauptet, dass es den Menschen als »dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum« gar nicht gäbe. Wir sind sogar der Meinung, dass es nicht so sehr darauf ankommen kann, die angeführten Marx-Sätze als mögliche Einwände gegen die Anthropologie in Betracht zu ziehen, gegen die man sich, wenn man diese philosophische Disziplin auf eine wissenschaftliche Grundlage stellen will, gleichsam abzusichern hätte, sondern vor allem darauf, zu erkennen, dass sie für den positiven Aufbau der marxistischen Anthropologie die denkbar größte Bedeutung haben. Eine solche Haltung scheint uns deswegen die einzig richtige und der Sache angemessene zu sein, weil die zitierten Marx-Sätze gegen eine ganz bestimmte Philosophie gerichtet sind, die gesellschaftliche Erscheinungen aus der Perspektive des Menschen als abstrakt-isolierten und zugleich übergeschichtlich aufgefassten Individuums erklären zu können meinte und eben damit eine Verwirrung nicht nur der gesellschaftswissenschaftlichen, sondern auch der anthropologischen Problematik heraufbeschwor, während die Abwehr solcher anthropologischen Interventionen in Angelegenheiten der Gesellschaftswissenschaft, für die allein der historische Materialismus zuständig ist, zu einer Abgrenzung der Gegenstandsgebiete führt, die den legitimen Aufgabenbereich anthropologischer Forschung überhaupt erst einwandfrei hervortreten lässt.
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Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« (Ebd., S. 378 f.) Diese Passage war für Harich sehr wichtig, vor allem in den fünfziger Jahren hat er sie in verschiedenen Kontexten argumentativ verwendet. (Siehe vor allem den 5. Band.) (AH) Harich zitierte die 6. Feuerbachthese. Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin, 1969, S. 5 ff.
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Diese Abgrenzung ist offenbar unentbehrlich bei einer Disziplin, in der, auf Grund der Komplexheit ihres Gegenstandes, jede Unzulänglichkeit der Systematik sogleich in inhaltlich falsche Aussagen umschlagen muss. Eine Anthropologie nämlich, die einerseits Sachverhalte zu ergründen trachtet, die sich ihren Kategorien mit Notwendigkeit entziehen, und die sich andererseits, damit zusammenhängend, nicht darüber im Klaren ist, wovon sie eigentlich abstrahiert, wenn sie vom Menschen überhaupt spricht, kann auch keine adäquate Erkenntnis ihres eigentlichen Objekts zu Stande bringen. Sie wird nicht nur Grenzüberschreitungen begehen, sondern damit eo ipso immer auch Fehler machen, in ihren Abstraktionen vorgefundene historische Concreta mitdenken, die es zu keiner Allgemeingültigkeit ihrer eben darauf prätendierenden Aussagen kommen lassen. Sieht man den Kampf, den Marx und Engels gegen den illegitimen Gebrauch des Abstrakt-Genus »der Mensch« geführt haben, so an, dann erkennt man, dass sie diesen Begriff nicht etwa schlechthin verworfen, sondern ihn, im Gegenteil, in einem nie zuvor erreichten Maße präzisiert haben – was freilich nur möglich war durch seine Verwerfung in Zusammenhängen, in denen er fehl am Platze ist. Die von uns vorhin gegebene Unterscheidung von Human- und Gesellschaftswissenschaften sowie unsere Gegenstandsbestimmung der Anthropologie setzen diese Leistung der marxistischen Klassiker voraus, versuchen aus ihr die systematischen Konsequenzen zu ziehen. Um zu einer vollständigen Klärung in dieser Frage zu gelangen, ist es nötig, ein wenig auf die Ideologien einzugehen, gegen die Marx und Engels in diesem Zusammenhang angekämpft haben. Vor allem auf die Philosophie Feuerbachs, gegen die die zitierten Sätze von Marx, wie bekannt, gerichtet sind. Worin liegt der entscheidende Fehler Feuerbachs, den Marx hier kritisiert? Er liegt offenbar nicht darin, dass Feuerbach überhaupt das Abstrakt-Genus »der Mensch« verwendet. Wenn es sich so verhielte, dann stünde fest, dass Marx denselben Fehler gelegentlich auch begeht, so zum Beispiel im Kapital, 5. Kapitel, wo es heißt: »Wir unterstellen die Arbeit in der Form, in der sie dem Menschen (!) ausschließlich angehört.«15 15
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 23, Berlin, 1968, S. 192. Genau lautet die Passage: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem
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Der Fehler Feuerbachs liegt vielmehr in der Art seiner Begründung der Religionskritik. Feuerbach lehrt, dass jede Gottheit Phantasieprodukt des Menschen sei, derart, dass der Mensch in ihr eine phantastische Projektion seiner eigenen, menschlichen Eigenschaften erzeuge, sie ins Unendliche steigere und als fremde Macht sich gegenüberstelle, um sie zu verehren. Er fasst also die Religion als phantastische »Entäußerung« des »menschlichen Wesens« auf und will das »religiöse Wesen« in das »menschliche Wesen« auflösen. Das alles bedeutet, dass er eine Erscheinung des Überbaus der Gesellschaft, eben die Religion, nicht aus ihrer wahren Basis, dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse mit seiner je historisch bestimmten Produktionsweise, ableitet, sondern aus dem Abstrak-
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Ludwig Feuerbach, Stich von August Weger
er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eigenen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muss. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte genießt. Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel.« (Ebd., S. 192 f.) Das angesprochene 5. Kapitel des Kapital wurde von Harich in verschiedenen Kontexten als Argumentationshilfe herangezogen, noch in den achtziger Jahren.
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tum »der Mensch«. Damit verfehlt Feuerbach die tatsächliche Grundlage der Religion, und Marx erkennt demgegenüber, dass es zur Erklärung der Religion der Analyse des gesellschaftlichen Seins der Menschen bedarf. Das religiöse Gemüt, sagt Marx, sei selbst ein gesellschaftliches Produkt, und das abstrakte Individuum, von dem Feuerbach ausgeht, gehöre in Wirklichkeit einer je bestimmten Gesellschaftsform an. Nur in diesem Zusammenhang kann der Sinn der oben zitierten Feuerbach-Thesen von Marx und der einschlägigen Stelle aus der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie richtig verstanden werden. Das menschliche Wesen, aus dem sich die Religion erklären lässt, kann nicht das dem einzelnen Individuum innewohnende Abstraktum, nicht die »Gattung« als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbindende Allgemeinheit, sondern immer nur das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse sein. Und der Mensch ist insofern »die Welt des Menschen, Staat, Sozietät«, sofern »die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen« ist, »der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat«. »Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.« Es ist allgemein bekannt, dass wir es hier mit einem entscheidenden Qualitätsumschlag in der Entwicklungsgeschichte des modernen philosophischen Materialismus zu tun haben, mit der Überwindung des anthropologistischen durch den historischen Materialismus, mit der Ausdehnung des Materialismus auf das Gegenstandsgebiet Gesellschaft und Geschichte, eine Ausdehnung, die nicht darin aufgeht, eine bloße quantitative Erweiterung zu sein, sondern das materialistische Denken als solches auf eine qualitativ höhere Stufe seiner Entwicklung hebt. Nun, über die Bedeutung, die diese wahre Revolution in der Geschichte der Philosophie für alle Gesellschaftswissenschaften hat, ist oft und oft ausführlich gesprochen worden; auf diese Seite der Sache brauchen wir hier mit keinem Wort einzugeben. Aber hat die Sache, so müssen wir fragen, nicht noch eine andere Seite? Wird die wahre Allgemeinheit dessen, was schlechthin menschlich ist, nicht erst sichtbar, wenn die falschen, illusorischen, fiktiven Allgemeinheiten, die sie verstellen, ins historisch Besondere aufgelöst werden? Feuerbach verfehlt offenbar nicht nur die tatsächliche, die ökonomisch-gesellschaftliche Basis der Religion, er verfehlt ebenso die Allgemeinheit, auf die sich die Abstraktion »der Mensch« sinnvoller Weise beziehen muss, indem er eine historisch vergängliche, an bestimmte Formen des gesellschaftlichen Lebens
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gebundene Überbau-Erscheinung mit der Natur des Menschen schlechthin in Zusammenhang bringt. Er gibt vor, vom Menschen überhaupt zu sprechen, unterschiebt dann aber dem sich darauf beziehenden Begriff ein Individuum, das »in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform angehört«. Ganz abgesehen davon, dass er damit – wider bessere Absicht – eine Rechtfertigung der Religion gibt – die nun dem Menschen so wesenseigentümlich zu sein scheint wie der aufrechte Gang oder das Denken –, gelangt er auch zu einer falschen Anthropologie. Und wenn Marx dagegen ankämpft, so leistet er unweigerlich der richtigen, legitimen Anthropologie einen gewaltigen Dienst. Soviel zur Marxschen Feuerbach-Kritik. Ähnlich steht es mit bestimmten Illusionen der Ideologie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, mit denen Marx und Engels bei der Herausarbeitung ihres wissenschaftlichen Sozialismus abrechnen mussten. Ohne Zweifel hat die Anthropologie der Aufklärung sehr Wesentliches zu danken. Wenn La Mettrie16 in der Histoire naturelle de l’âme und in L’Homme machine die physiologische Bedingtheit aller psychisch-geistigen Vorgänge nachwies und Claude Adrien Helvétius so die Vorstellung einer vom Körper unabhängigen Seelensubstanz destruierte, wenn Helvétius und andere einer unbefangenen Erforschung der Leidenschaften und Interessen als entscheidender Triebkräfte des menschlichen Verhaltens die Bahn brachen, wenn Herder17 die Sprache aus einer ursprünglichen 16
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(AH) Die Schriften von La Mettrie und Helvétius kannte Harich nur aus zweiter Hand. In seiner Interpretation der französischen Aufklärung und des französischen Materialismus folgte er den Vorurteilen und Fehlinterpretationen der »Klassiker« des Marxismus, die von Lukács erneuert worden waren. Verschiedene Gedankenentwicklungen und Hinweise finden sich in Harichs Vorlesungen zur deutschen Aufklärung (Band 3, 6.1, 6.2) sowie in der Vorlesung zur französischen Aufklärung von 1953/1954 (abgedr. in: Band 4, S. 546– 612). (AH) Harichs Studien zu Herder (und damit seiner Annäherung an die Anthropologie und an Gehlen) ist in dieser Edition der 4. Band gewidmet. Siehe außerdem die bereits erwähnte Dissertation Harichs (abgedr. in: Band 1.2, S. 657–919) zu Herder. Erinnert sei auch an seine verschiedenen verdienstvollen Editionsleistungen, darunter zu Herders Geschichtsphilosophie: Herder, Johann Gottfried: Zur Philosophie der Geschichte, hrsg. und mit einer Einl. vers. von W. Harich, 2 Bde., Berlin, 1952; Herder: Patriotismus und Hu-
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Qualität des Menschen, seiner »Besonnenheit«, ableitete und dabei gegen die Süßmilchschen Hypothesen vom göttlichen Sprachursprung polemisierte, wenn Goethe18 mit der Entdeckung des Zwischenkieferknochens am Schädel eines noch ungeborenen Kindes das anatomische Stigma der Urgeschiedenheit von Mensch und Tier beseitigte, so führte dies alles zu einer Säkularisierung des Menschenbildes, einer Befreiung der Anthropologie aus den Fesseln religiösen Denkens, ohne die eine Wissenschaft dieses Namens gar nicht vorstellbar wäre. Man darf indessen nicht verkennen, dass das Menschenbild der Aufklärung noch andere Seiten hat. Wir denken dabei nicht einmal so sehr daran, dass der Materialismus, der den eben genannten Errungenschaften ihr Gepräge gibt, gerade dort, wo er am entschiedensten verfochten wird, auch die ärgsten mechanistischen Schwächen aufweist (La Mettrie). Das steht vorläufig auf einem anderen Blatt. Was wir in diesem Zusammenhang im Auge haben, ist vor allem die Tatsache, dass die bürgerlich-kapitalistischen Besitz- und Lebensformen und die aus ihnen hervorwachsenden ökonomischen, sozialen und rechtlichen Anschauungen der Bourgeoisie in der Gesellschaftstheorie des ausgehenden 18. Jahrhunderts in einer Weise ihren Niederschlag fanden, die zwangsläufig auch bestimmt geartete Verzerrungen des Gegenstandes der Anthropologie zur Folge hatten. Erstens fasste die aus der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformation hervorgegangene bürgerliche Individualität sich selbst nicht als Resultat der Geschichte, sondern als deren – idealisierter und in eine Urvergangenheit zurück projizierter – Ausgangspunkt auf; so entstanden die bekannten »Robinsonaden« der klassischen Nationalökonomie,
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manität. Aus den Briefen zur Beförderung der Humanität, 1793–1797, hrsg. und ausgew. von W. Harich, Berlin, 1953; und zu Rudolf Haym (Haym, Rudolf: Herder. Nach seinem Leben und seinen Werken, 2 Bde., hrsg. v. W. Harich, Berlin, 1954. (AH) Die naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes waren für Harich eminent bedeutsam. Dabei ging er so weit, das Fortleben der aufklärerischen Ansichten Goethes, die in dessen politischen Tätigkeiten und schriftstellerischen Werken keine Rolle mehr spielten, in den naturwissenschaftlichen Studien und Schriften zu sehen. Siehe, neben zahlreichen, über das ganze Werk verstreuten Verweisen, die diesem Thema gewidmeten Schriften: Der große Aufsatz aus dem Goethe-Jahr 1949: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung (abgedr. in: Band 6.1, S. 739–794); mit zahlreichen Querverweisen der Aufsatz Ein Kant-Motiv im philosophischen Denken Herders von 1954 (abgedr. in: Band 3, S. 319–358); den Zeitungs-Artikel Goethes Beitrag zum Materialismus (Tägliche Rundschau, 27. März 1949, S. 4, neu abgedr. im vorliegenden Band). Siehe mit weiterführenden Hinweisen: Heyer: Der gereimte Genosse. Goethe in der SBZ/DDR, Baden-Baden, 2017.
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die bekannten Versuche, die ökonomischen Kategorien aus der »Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft« (Marx) herauszuspinnen19 – und diese Theorien hatten zur Voraussetzung (oder zur Konsequenz) immer auch eine falsche Anthropologie, sofern sie nämlich eine unhistorische Verabsolutierung des spezifisch modernen Individuums zum angeblich naturgegebenen Faktum involvierten. Diese spontane Tendenz zur Aufbauschung des bürgerlichen Seins zum Allgemeinmenschlichen musste sich nun aber noch dadurch verstärken, dass – zweitens – die bürgerliche Klasse, die im Kampf gegen den Feudalismus als Sachwalter der Interessen des ganzen Volkes auftrat, sich zum Fürsprecher eines allgemeinen Menschheitsanliegens machte. Die revolutionäre Bourgeoisie konnte ihre weltgeschichtliche Mission sich selbst und den Volksmassen, die sie zu führen beanspruchte, nur dadurch glaubhaft machen, dass sie die eigenen Forderungen und Ideale als ein der Natur des Menschen schlechthin gemäßes Anliegen ausgab. Das Individualitätsbewusstsein des auf sich selbst gestellten Bourgeois, den die Entwicklung der Warenproduktion aus den feudalen Bindungen herausgelöst hatte, sein Persönlichkeitsideal, sein Freiheitsanspruch, vor 19
(AH) Anspielung auf: Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 13, Berlin, 1961, S. 615 ff. Die Passage lautet: »In Gesellschaft produzierende Individuen – daher gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt. Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen der 18.-Jahrhundert-Robinsonaden, die keineswegs, wie Kulturhistoriker sich einbilden, bloß einen Rückschlag gegen Überverfeinerung und Rückkehr zu einem missverstandenen Naturleben ausdrücken. So wenig wie Rousseaus Contrat social, der die von Natur independenten Subjekte durch Vertrag in Verhältnis und Verbindung bringt, auf solchem Naturalismus beruht. Dies Schein und nur der ästhetische Schein der kleinen und großen Robinsonaden. Es ist vielmehr die Vorwegnahme der 'bürgerlichen Gesellschaft', die seit dem 16. Jahrhundert sich vorbereitete und im 18. Riesenschritte zu ihrer Reife machte. In dieser Gesellschaft der freien Konkurrenz erscheint der Einzelne losgelöst von den Naturbanden usw. die ihn in früheren Geschichtsepochen zum Zubehör eines bestimmten begrenzten menschlichen Konglomerats machen. Den Propheten des 18. Jahrhunderts, auf deren Schultern Smith und Ricardo noch ganz stehen, schwebt dieses Individuum des 18. Jahrhunderts – das Produkt einerseits der Auflösung der feudalen Gesellschaftsformen, andererseits der seit dem 16. Jahrhundert neu entwickelten Produktivkräfte – als Ideal vor, dessen Existenz eine vergangene sei. Nicht als ein historisches Resultat, sondern als Ausgangspunkt der Geschichte. Weil als das naturgemäße Individuum, angemessen ihrer Vorstellung von der menschlichen Natur, nicht als ein geschichtlich entstehendes, sondern von der Natur gesetztes. Diese Täuschung ist jeder neuen Epoche bisher eigen gewesen. Steuart, der in mancher Hinsicht im Gegensatz zum 18. Jahrhundert und als Aristokrat mehr auf historischem Boden steht, hat diese Einfältigkeit vermieden.« (Ebd., S. 315 f.)
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allem aber sein Pochen auf das Privateigentum als »unveräußerlichem Menschenrecht« und sein Streben nach Profit – all das wurde also von dem konkreten historischen Boden, auf dem es erwachsen war, losgelöst, in eine übergeschichtliche Allgemeinheit erhoben und schien nun ebenso zum Wesen des Menschen zu gehören wie der aufrechte Gang oder die Fähigkeit des Denkens oder der anatomische Bau von Standfuß und Hand. Und umgekehrt: Weil die Ideologen solchermaßen den Menschen schlechthin mit den Attributen, den Idealen und den Illusionen des revolutionären Bürgers ausstatteten, konnte es ihnen nicht schwer fallen, die bürgerliche Gesellschaftsordnung als die einzig menschenwürdige, ja, menschenmögliche zu erweisen, d. h. aus angeblichen Naturbestimmungen des von ihnen in bestimmter Weise interpretierten Menschen den bürgerlichen Zustand als den naturgegebenen, das bürgerliche Recht als das natürliche Recht abzuleiten, woraus sich dann weiter ergab, dass die Feudalordnung eine widernatürliche Ordnung war. Vom Feudalismus erklärte die Aufklärung denn auch, dass er mit der »Natur des Menschen« unverträglich sei, und für die Zukunft – als Resultat der bürgerlichen Revolution – verkündete sie die Errichtung eines »Reichs der Vernunft«, das dieser menschlichen Natur entsprechen werde. In eben dieser Ideologie waren noch die Utopischen Sozialisten befangen, wenn sie ihrerseits den Kapitalismus als im Widerspruch mit der menschlichen Natur stehend bezeichneten und ihm, nicht weniger abstrakt postulierend als die Aufklärer, nunmehr den Sozialismus als »Vernunftreich« gegenüberstellten. Ob man das Privateigentum als Menschenrecht proklamiert oder die Ansicht vertritt, dass es mit dem Menschenrecht unvereinbar ist, macht einen sehr bestimmten Gegensatz aus, aber doch nur einen innerhalb derselben Ideologie, die das Bejahen oder Verwerfen irgendwelcher Eigentumsformen überhaupt für anthropologisch begründbar hält. Es ist jedem Marxisten bekannt, dass Marx und Engels bei der Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus die eben abstrakt bürgerlichen Ideologien auf der ganzen Linie bekämpft haben. Dabei haben sie aber wiederum – analog zu ihrer Feuerbach-Kritik – keineswegs nur die Gesellschaftslehre auf wahrhaft wissenschaftliche Grundlagen gestellt, sondern auch zur Begründung einer wahrhaft wissenschaftlichen Anthropologie entscheidend beigetragen. Wir heben hier nur zwei Momente hervor:
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Erstens spricht Marx gerade dort, wo er den ökonomischen »Robinsonaden« auf den Grund geht, einen Fundamentalsatz der marxistischen Anthropologie aus: »Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein nicht nur geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann.«20 Zweitens ist dem Kampf von Marx und Engels gegen die abstrakten Postulate der Utopisten ebenfalls eine für die Anthropologie sehr entscheidende Einsicht zu danken. Marx und Engels haben gezeigt und bewiesen, dass man gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt nicht dadurch begreifen kann, dass man sie an abstrakten Idealen (zum Beispiel an einem Idealbild der menschlichen Natur) misst, sondern nur dadurch, dass 20
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 13, Berlin, 1961, S. 616, im Anschluss an das bereits wiedergegebene Zitat. Genau heißt es: »Je tiefer wir in der Geschichte zurückgehen, je mehr erscheint das Individuum, daher auch das produzierende Individuum, als unselbständig, einem größeren Ganzen angehörig: erst noch in ganz natürlicher Weise in der Familie und in der zum Stamm erweiterten Familie; später in dem aus dem Gegensatz und Verschmelzung der Stämme hervorgehenden Gemeinwesen in seinen verschiedenen Formen. Erst in dem 18. Jahrhundert, in der ›bürgerlichen Gesellschaft‹, treten die verschiedenen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem Einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen, als äußerliche Notwendigkeit. Aber die Epoche, die diesen Standpunkt erzeugt, den des vereinzelten Einzelnen, ist gerade die der bisher entwickeltsten gesellschaftlichen (allgemeinen von diesem Standpunkt aus) Verhältnisse. Der Mensch ist im wörtlichsten Sinn ein zoon politikon, nicht nur ein geselliges Tier, sondern ein Tier, das nur in der Gesellschaft sich vereinzeln kann. Die Produktion des vereinzelten Einzelnen außerhalb der Gesellschaft – eine Rarität, die einem durch Zufall in die Wildnis verschlagenen Zivilisierten wohl vorkommen kann, der in sich dynamisch schon die Gesellschaftskräfte besitzt – ist ein ebensolches Unding als Sprachentwicklung ohne zusammen lebende und zusammen sprechende Individuen. Es ist sich dabei nicht länger aufzuhalten. Der Punkt wäre gar nicht zu berühren, wenn die Fadaise, die bei den Leuten des 18. Jahrhunderts Sinn und Verstand hatte, von Bastiat, Carey, Proudhon etc. nicht wieder ernsthaft mitten in die modernste Ökonomie hereingezogen würde. Für Proudhon u. a. ist es natürlich angenehm, den Ursprung eines ökonomischen Verhältnisses, dessen geschichtliche Entstehung er nicht kennt, dadurch geschichtsphilosophisch zu entwickeln, dass er mythologisiert, Adam oder Prometheus sei auf die Idee fix und fertig gefallen, dann sei sie eingeführt worden etc. Nichts ist langweilig trockener, als der phantasierende locus communis. Wenn also von Produktion die Rede ist, ist immer die Rede von Produktion auf einer bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsstufe – von der Produktion gesellschaftlicher Individuen. Es könnte daher scheinen, dass, um überhaupt von der Produktion zu sprechen, wir entweder den geschichtlichen Entwicklungsprozess in seinen verschiedenen Phasen verfolgen müssen, oder von vornherein erklären, dass wir es mit einer bestimmten historischen Epoche zu tun haben, also z. B. mit der modernen bürgerlichen Produktion, die in der Tat unser eigentliches Thema ist.« (Ebd., S. 616 f.)
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man die in der Gesellschaft bestehende Wechselbeziehung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen und die daraus resultierenden Klassenkämpfe analysiert. Aus dieser Erkenntnis folgt einerseits – und vor allem – eine ganz neue, erstmals wissenschaftliche Begründung der Notwendigkeit des Sozialismus: Wenn die Beseitigung einer bestimmten, und im gegebenen Fall: der kapitalistischen, Produktionsordnung möglich und historisch notwendig ist, so nicht, weil diese Produktionsordnung der menschlichen Natur und daraus ableitbaren Menschenrechten nicht entspräche, sondern weil sie sich aus einer Entwicklungsbedingung zu einem Hemmnis der weiteren Entfaltung der Produktivkräfte entwickelt hat. Es folgt daraus aber andererseits auch eine wichtige anthropologische Einsicht: Dass keine auf bestimmte Gesellschaftsformationen zugeschnittene Wesensbestimmung des Menschen allgemeingültig sein kann, da der Mensch nicht von Natur aus auf bestimmte soziale Verhältnisse festgelegt ist. Beide Seiten der Sache fasst Plechanow wie folgt zusammen: »Die modernen Materialisten kennen keine ökonomische Ordnung, die allein der menschlichen Natur entsprechen würde, während alle anderen Arten der ökonomischen Struktur der Gesellschaft mehr oder weniger die Folge einer Vergewaltigung dieser Natur wären. Nach der Lehre der modernen Materialisten entspricht der menschlichen Natur jede ökonomische Ordnung, die dem Zustand der Produktivkräfte in der betreffenden Zeit entspricht. Und umgekehrt, jede beliebige ökonomische Ordnung beginnt den Anforderungen dieser Natur zu widersprechen, sobald sie zu dem Zustand der Produktivkräfte in Widerspruch gerät.«21 21
(AH) Zitat nachgewiesen in: Plechanow, Georgi W.: Über materialistische Geschichtsauffassung, Berlin, 1982, S. 81. Vor der von Harich zitierten Stelle heißt es: »Die Art und Weise der Befriedigung der Bedürfnisse des gesellschaftlichen Menschen, ja, in hohem Grade auch diese Bedürfnisse selbst werden durch die Eigenschaften der Werkzeuge bestimmt, mit deren Hilfe sie sich mehr oder weniger die Natur unterwerfen; mit anderen Worten, sie werden bestimmt durch den Zustand seiner Produktivkräfte. Jede bedeutende Veränderung im Zustand dieser Kräfte spiegelt sich auch in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Menschen wider, d. h. unter anderem auch in ihren ökonomischen Verhältnissen. Für die Idealisten aller Gattungen und Spielarten waren die ökonomischen Verhältnisse eine Funktion der menschlichen Natur: die dialektischen Materialisten halten diese Beziehungen für eine Funktion der gesellschaftlichen Produktivkräfte. Hieraus folgt: Würden die dialektischen Materialisten es für angängig halten, von den Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung in einem anderen Sinne zu reden als zum Zwecke der Kritik dieser veralteten Fiktionen, so hätten sie vor allem die sogenannten ökonomischen Materialisten auf die Veränderlichkeit ihres ›dominierenden‹ Faktors aufmerksam machen müssen.« (Ebd., S. 80 f.)
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Es ist klar, dass diese Feststellungen auf die menschliche Natur selbst ein sehr bezeichnendes Licht werfen, dass sie ihr nämlich ein Nichtfestgelegtsein, eine Variabilität, ein Offensein für mögliche Einpassungen in mögliche Gesellschaftsstrukturen zusprechen, das, verglichen mit den Eigenschaften aller Tiere, etwas qualitativ Neues ist und in die Wesensbestimmung des Menschen offenbar ebenso eingehen muss wie dessen Gesellschaftlichkeit überhaupt oder wie die Fähigkeit des Denkens. Wenn wir nun versuchen, die Fehler Feuerbachs und die eben behandelten aufklärerischen bzw. utopistischen Illusionen auf einen Nenner zu bringen, so können wir sagen, dass es sich in beiden Fällen um sachlich haltlose Übergriffe des anthropologischen Erklärungsprinzips auf Erscheinungen handelt, die nur der gesellschaftswissenschaftlichen Analyse zugänglich sind. Marx und Engels ging es darum, diese Übergriffe abzuwehren. Es ging ihnen – jedenfalls in diesem Zusammenhang – nicht um eine Neubegründung der Anthropologie. Da aber jene Übergriffe notwendigerweise auch falsches anthropologisches Denken einschließen, sofern nämlich durch sie immer auch ein Individuum, das »in Wirklichkeit einer bestimmten Gesellschaftsform« angehört, zum Menschen überhaupt aufgebauscht, also der abstrakte Gegenstand der Anthropologie mit der falschen Verabsolutierung konkreter historisch-sozialer Tatsachen belastet wird, waren jene Kämpfe von Marx und Engels von eminenter Bedeutung auch für den Aufbau einer neuen, wissenschaftlichen Anthropologie. Und diese Bedeutung ist um so höher zu veranschlagen, als jedwede anthropologische Theorie – auf Grund der Abstraktheit ihrer Fragestellung einerseits und der Kompliziertheit ihres, durch biologische und gesellschaftliche Determinanten bestimmten, Gegenstandes andererseits – in höchstem Maße der Gefahr ausgesetzt ist, derartigen Fehlern zu erliegen. Wie groß die Bedeutung jener Kämpfe von Marx und Engels für die anthropologische Forschung ist, wird erst völlig klar, wenn man an aktuelle Dinge denkt. Etwa daran, dass die Borniertheit verschiedener Richtungen der bürgerlichen Psychologie in der falschen Verabsolutierung empirisch vorgefundener sozialer Tatsachen liegt, deren historisch vergängliche Voraussetzungen nicht durchschaut werden, ja, die zum Teil nur für bestimmte Gesellschaftsschichten einer bestimmten historischen Situation charakteristisch sind. Die klassische Psychologie Wundtscher Prägung prätendierte bekanntlich auf Allgemeingültigkeit für alle Menschen aller Zeiten; aber Ignorierung des Unbewussten, ihre einseitig intellektualistische Vorstellung vom Gefühl und vom Willen, ihre Art, die
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Überzeugung vom Vorhandensein anderer Menschen nur durch verwickelte Schlussfolgerungen zu erreichen, weisen sie als das Resultat einer unbewussten Selbstinterpretation des Gelehrtenstandes aus. Und die modernen Schulen der bürgerlichen Psychologie, die im Zeitalter des Imperialismus entstanden und die auf Überwindung dieser Schranken prätendieren, sind in der hier entscheidenden Frage durchweg nicht weniger borniert: So bauscht die Psychoanalyse (deren Pansexualismus im Übrigen eine Spielart der in anderem Zusammenhang erörterten biologistischen Verirrungen ist) die Neurosen und Komplexe einer Parasitenschicht der untergangsreifen bürgerlichen Gesellschaft zu einem schlechthin menschlichen Urphänomen auf, während die Individualpsychologie das ganze spezifische Macht- und Geltungsstreben, das sie an existenzbedrohten Kleinbürgern abgelesen hat, als Haupttriebfeder jedes menschlichen Verhaltens voraussetzt. (Ein Satz nicht lesbar, AH.) Eine wissenschaftlich betriebene Anthropologie wird demgegenüber weder in ihren Gegenstand, »den« Menschen, die Bewusstseinsform einer bestimmten Gesellschaft hinein deuten, noch ihn auf Triebphänomene festlegen, die nur für begrenzte historisch-soziale Bereiche (Geschichtsepochen, Gesellschaftsschichten) typisch sind. Sie wird statt dessen bestrebt sein, die Veränderlichkeit und Formbarkeit des Menschen als solche auf den Begriff zu bringen, die auf der subjektiven Seite den Wandel seiner sozial determinierten Bewusstseins- und Triebinhalte ermöglicht – von den Elementarbedürfnissen des Primitiven bis zu den komplizierten Neurosen und Süchten moderner Parasiten, vom schmutzigen Profitstreben des Bourgeois bis zum Heroismus des echten Märtyrers. Nur ein solches Bild vom Menschen, in dem keine dieser möglichen Motivationen von ihrer konkreten gesellschaftlichen Grundlage losgelöst und als absolut fixiert wird, in dem sie aber alle als Menschenmöglichkeiten Platz haben, kann wahr sein. Ein solches Menschenbild kann aber auch nur vom Marxismus ausgeführt werden. Und wenn von Triebphänomen die Rede ist, so kann auch in Bezug auf diese Frage nur der Marxismus vollständige Klarheit schaffen. Man nehme ein solches Problem wie das der Sexualität. Zweifellos sind deren Äußerungsformen bei Menschen von qualitativ anderer, differenzierterer Art als bei den Tieren. Aber wenn das so ist, dann steht zugleich die Frage: Was ist hier eigentlich allgemeinmenschlich und was gehört besonderen historischen Formen des menschlichen Zusammenlebens an? Mit der individuellen Liebe sind zum Beispiel besondere sexualethische Wertkategorien (Treue und Untreue), besondere Triebphänomene (Eifersucht) und Empfänglichkeit für äs-
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thetische Reize eigener Art, die von der spezifischen Physiognomie des Partners unablösbar sind, verbunden. Charakterisiert dies alles nun den Menschen überhaupt? Man könnte versucht sein, diese Frage zu bejahen, wenn man nur davon ausgeht, dass im Tierreich diese Erscheinungen so nicht anzutreffen sind. Aber es gibt eben außer dem Qualitätsunterschied zwischen Mensch und Tier noch die Unterschiede zwischen den konkreten, historischen Menschen der verschiedenen Zeitalter, und diese dürfen nicht mit jenen verwechselt werden. Wenn nun Engels nachweist, dass die individuelle Liebe das Produkt bestimmter ökonomisch-sozialer Ursachen und an bestimmte historische Verhältnisse gebunden ist, wenn er in diesem Zusammenhang weiter sagt, die Eifersucht sei eine verhältnismäßig spät entwickelte Empfindung, so ist freilich jeder Versuch, für diese Erscheinungen eine anthropologische Allgemeinheit zu beanspruchen, als illusorisch entlarvt. Aber es ist damit nicht nur das Studium der Urgesellschaft, ein gesellschaftswissenschaftliches Anliegen, von einer unhistorischen Betrachtungsweise befreit, die ihre respektiven Zustände, wie Engels sagt, »durch die Bordellbrille anschaut«.22 Es ist damit ebenso auch der Blick auf die wahre, echte anthropologische Allgemeinheit freigegeben, sofern nämlich jetzt erst die Frage gestellt und beantwortet werden kann, was es mit der Instinktstruktur eines Wesens auf sich hat, das solchen historischen Modifikationen seines Geschlechtstriebs ausgesetzt und ihnen zugänglich ist, eines Wesens, bei dem Eifersucht durch Jahrtausende vollständig fehlen kann, und dann, unter der Voraussetzung bestimmter Veränderungen seiner Produktionsweise, zu einer fundamentalen Leidenschaft werden kann. VI Bei unserem Versuch, das Verhältnis von Marxismus und Anthropologie zu klären, gingen wir von der Frage aus, ob die Natur des Menschen sich vollständig in jene historischen Besonderungen auflösen lasse, von denen die Anthropologie um der Allgemeinheit ihres Gegenstandes willen absehen muss. 22
(AH) Zitat nachgewiesen in: Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 21, Berlin, 1962, S. 43. Dort heißt es: »Mir scheint vielmehr, dass alles Verständnis der Urzustände unmöglich bleibt, solange man sie durch die Bordellbrille anschaut. Wir kommen bei der Gruppenehe auf diesen Punkt zurück.« (Ebd.)
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Wir sagten, dass, wenn diese Frage bejaht werden müsste, die Konzeption einer marxistischen Anthropologie allerdings unsinnig wäre. Wir haben inzwischen nun fast ausschließlich Beispiele für den Abbau falscher anthropologischer Verallgemeinerungen durch den historischen Materialismus angeführt, haben – anhand von Äußerungen der marxistischen Klassiker – gezeigt, dass Erscheinungen wie das religiöse Bewusstsein, die individuelle Liebe, überhaupt die Individualität im modernen Sinne und manches andere mehr sich nicht als schlechthin menschlich erweisen lassen. Wenn wir diesen Erkenntnissen gleichwohl eine positive Bedeutung für die Anthropologie zusprechen zu können meinen, so setzt das die Überzeugung voraus, dass nach all diesen Einschränkungen doch noch ein gesellschaftswissenschaftlich irreduzibler Rest bleibt, der dann aber das Eigentliche ist. Auch diesen Rest, dieses Eigentliche darf man als Marxist selbstverständlich nicht als etwas Ewiges, Übergeschichtliches auffassen, das vom historischen Wandel, von der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in keiner Weise berührt würde, nicht selbst geschichtlich entstanden wäre. In einem Brief an Paul Ernst mokiert Engels sich über Hermann Bahr, der über die »Frau« unter Absehung von allem geschichtlich Gewordenen schreibt. Er zeigt, dass selbst Haut und Haare der Frau geschichtlich geworden sind, und resümiert: »Was bleibt denn also, wenn Sie das geschichtlich Gewordene mit Haut und Haaren abgeschieden haben und ›die Frau selber zum Vorschein kam‹, was zeigt sich? Einfach die Äffin, anthropopitheca, und die mag Herr Bahr zu sich ins Bett nehmen, ›rein handgreiflich und durchschaulich‹, mitsamt ihren ›natürlichen Trieben‹.« Indessen gibt es sehr verschiedene Grade der Historizität, und die – freilich gleichfalls nur relative – Instanz der Beschaffenheit von Haut und Haar der Menschenrassen ist eine unermesslich viel größere als etwa die von Friseursmoden. Und wenn es zu den fundamentalen Thesen des Marxismus gehört, dass der Mensch als solcher historisch geworden ist, d. h. weder irgendwann ein für alle Mal fertig erschaffen wurde noch seit Ewigkeit existiert hat, so besagt dies doch nicht, dass die Eigenschaften, die ihn zum Menschen machen, ihn vom Tier unterscheiden, in gleicher Weise veränderlich sein müssten wie die gesellschaftlichen Formen, in denen sich die Produktion der materiellen Güter vollzieht, mitsamt den ihnen entsprechenden Institutionen, Sitten und Denkweisen. Tatsächlich gibt es bei den Klassikern des Marxismus keinen einzigen Satz, der etwas derartiges behauptete. Wohl aber gibt es in ihren Werken eine Reihe von Stellen, in
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denen sie, von Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung sprechend, ausdrücklich einräumen, dass das zielgerichtete Handeln, das zu den qualitativen Besonderheiten des Menschen gehört, als Moment des Geschichtsverlaufs nicht zu eliminieren ist. »In der Natur«, sagt Engels, »sind es – soweit wir die Rückwirkung der Menschen auf die Natur außer acht lassen – lauter bewusstlose blinde Agenzien, die aufeinander einwirken und in deren Wechselspiel das allgemeine Gesetz zur Geltung kommt. Von allem, was geschieht – weder von den zahllosen scheinbaren Zufälligkeiten, die auf der Oberfläche sichtbar werden, noch von den schließlichen, die Gesetzmäßigkeit innerhalb dieser Zufälligkeiten bewährenden Resultaten –, geschieht nichts als gewollter bewusster Zweck. Dagegen in der Geschichte der Gesellschaft sind die Handelnden lauter mit Bewusstsein begabte, mit Überlegung oder Leidenschaft handelnde, auf bestimmte Zwecke hinarbeitende Menschen; nichts geschieht ohne bewusste Absicht, ohne gewolltes Ziel.«23 Und weiter: »Die Menschen machen ihre Geschichte, wie diese auch immer ausfalle, indem jeder seine eigenen, bewusst gewollten Zwecke verfolgt, und die Resultate dieser vielen in verschiedenen Richtungen agierenden Willen und ihrer mannigfachen
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(AH) Zitat nachgewiesen in: Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 21, Berlin, 1962, S. 296. Weiter heißt es, bis zum Beginn des nächsten von Harich gebrachten Zitates: »Aber dieser Unterschied, so wichtig er für die geschichtliche Untersuchung namentlich einzelner Epochen und Begebenheiten ist, kann nichts ändern an der Tatsache, dass der Lauf der Geschichte durch innere allgemeine Gesetze beherrscht wird. Denn auch hier herrscht auf der Oberfläche, trotz der bewusst gewollten Ziele aller einzelnen, im ganzen und großen scheinbar der Zufall. Nur selten geschieht das Gewollte, in den meisten Fällen durchkreuzen und widerstreiten sich die vielen gewollten Zwecke oder sind diese Zwecke selbst von vornherein undurchführbar oder die Mittel unzureichend. So führen die Zusammenstöße der zahllosen Einzelwillen und Einzelhandlungen auf geschichtlichem Gebiet einen Zustand herbei, der ganz dem in der bewusstlosen Natur herrschenden analog ist. Die Zwecke der Handlungen sind gewollt, aber die Resultate, die wirklich aus den Handlungen folgen, sind nicht gewollt, oder soweit sie dem gewollten Zweck zunächst doch zu entsprechen scheinen, haben sie schließlich ganz andere als die gewollten Folgen. Die geschichtlichen Ereignisse erscheinen so im ganzen und großen ebenfalls als von der Zufälligkeit beherrscht. Wo aber auf der Oberfläche der Zufall sein Spiel treibt, da wird er stets durch innere verborgene Gesetze beherrscht, und es kommt nur darauf an, diese Gesetze zu entdecken.« (Ebd., S. 296 f.)
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Einwirkung auf die Außenwelt ist eben die Geschichte.«24 Und schließlich: »Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch.«25 24
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(AH) Zitat nachgewiesen in: Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 21, Berlin, 1962, S. 297, im Anschluss an das bereits wiedergegebene Zitat. Weiter heißt es: »Es kommt also auch darauf an, was die vielen einzelnen wollen. Der Wille wird bestimmt durch Leidenschaft oder Überlegung. Aber die Hebel, die wieder die Leidenschaft oder die Überlegung unmittelbar bestimmen, sind sehr verschiedener Art. Teils können es äußere Gegenstände sein, teils ideelle Beweggründe, Ehrgeiz, ›Begeisterung für Wahrheit und Recht‹, persönlicher Hass oder auch rein individuelle Schrullen aller Art. Aber einerseits haben wir gesehen, dass die in der Geschichte tätigen vielen Einzelwillen meist ganz andere als die gewollten – oft geradezu die entgegengesetzten – Resultate hervorbringen, ihre Beweggründe also ebenfalls für das Gesamtergebnis nur von untergeordneter Bedeutung sind. Andererseits fragt es sich weiter, welche treibenden Kräfte wieder hinter diesen Beweggründen stehen, welche geschichtlichen Ursachen es sind, die sich in den Köpfen der Handelnden zu solchen Beweggründen umformen? Diese Frage hat sich der alte Materialismus nie vorgelegt. Seine Geschichtsauffassung, soweit er überhaupt eine hat, ist daher auch wesentlich pragmatisch, beurteilt alles nach den Motiven der Handlung, teilt die geschichtlich handelnden Menschen in edle und unedle und findet dann in der Regel, dass die edlen die Geprellten und die unedlen die Sieger sind, woraus dann folgt für den alten Materialismus, dass beim Geschichtsstudium nicht viel Erbauliches herauskommt, und für uns, dass auf dem geschichtlichen Gebiet der alte Materialismus sich selbst untreu wird, weil er die dort wirksamen ideellen Triebkräfte als letzte Ursachen hinnimmt, statt zu untersuchen, was denn hinter ihnen steht, was die Triebkräfte dieser Triebkräfte sind. Nicht darin liegt die Inkonsequenz, dass ideelle Triebkräfte anerkannt werden, sondern darin, dass von diesen nicht weiter zurückgegangen wird auf ihre bewegenden Ursachen. Die Geschichtsphilosophie dagegen, wie sie namentlich durch Hegel vertreten wird, erkennt an, dass die ostensiblen und auch die wirklich tätigen Beweggründe der geschichtlich handelnden Menschen keineswegs die letzten Ursachen der geschichtlichen Ereignisse sind, dass hinter diesen Beweggründen andere bewegende Mächte stehen, die es zu erforschen gilt; aber sie sucht diese Mächte nicht in der Geschichte selbst auf, sie importiert sie vielmehr von außen, aus der philosophischen Ideologie, in die Geschichte hinein. Statt die Geschichte des alten Griechenlands aus ihrem eigenen, inneren Zusammenhang zu erklären, behauptet Hegel z. B. einfach, sie sei weiter nichts als die Herausarbeitung der ›Gestaltungen der schönen Individualität‹, die Realisation des ›Kunstwerks‹ als solches. Er sagt viel Schönes und Tiefes bei dieser Gelegenheit über die alten Griechen, aber das hindert nicht, dass wir uns heute nicht mehr abspeisen lassen mit einer solchen Erklärung, die eine bloße Redensart ist.« (Ebd., S. 297 f.) (AH) Zitat nachgewiesen in: Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen Philosophie, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 21, Berlin, 1962, S. 298. Genau lautet die Passage (im Anschluss an die bereits wiedergegebenen Stellen): »Wenn es also darauf ankommt, die treibenden Mächte zu erforschen, die – bewusst oder unbewusst, und zwar sehr häufig unbewusst – hinter den Beweggründen der geschichtlich handelnden Menschen stehen und die eigentlichen letzten Triebkräfte der Geschichte
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Das sind alles Aussagen, die sich nicht auf diese oder jene Geschichtsepoche, diese oder jene Gesellschaftsformation, sondern auf den Geschichtsprozess überhaupt beziehen. Das aber heißt, dass hier das Handeln, das Setzen und praktische Verfolgen bewusster Zwecke, das die Geschichte der Gesellschaft überhaupt charakterisiert, selbst als ein generell menschliches Charakteristikum ausgezeichnet wird, als eines zwar, das im Geschichtsprozess selbst nur ein notwendiges Moment ist und das nicht ausreichen kann, dessen gesetzmäßigen Verlauf zu erklären, das aber immer nur am Individuum, als dessen Aktion, greifbar ist und Friedrich Engels, um 1868, eben jene Unterschiedenheit vom bloß Natürlichen Fotografie von George Lester auf der einen, vom historisch Besonderen auf der anderen Seite aufweist, die für den Gegenstand der Anthropologie konstitutiv ist. Sollte das als marxistischer Rechtsnachweis anthropologischer Forschung noch nicht genügen, so sei auf eine Stelle bei Stalin verwiesen,26 in der eine generell-menschliche
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ausmachen, so kann es sich nicht so sehr um die Beweggründe bei einzelnen, wenn auch noch so hervorragenden Menschen handeln, als um diejenigen, welche große Massen, ganze Völker und in jedem Volk wieder ganze Volksklassen in Bewegung setzen; und auch dies nicht momentan zu einem vorübergehenden Aufschnellen und rasch verlodernden Strohfeuer, sondern zu dauernder, in einer großen geschichtlichen Veränderung auslaufender Aktion. Die treibenden Ursachen zu ergründen, die sich hier in den Köpfen der handelnden Massen und ihrer Führer – der sogenannten großen Männer – als bewusste Beweggründe klar oder unklar, unmittelbar oder in ideologischer, selbst in verhimmelter Form widerspiegeln – das ist der einzige Weg, der uns auf die Spur der die Geschichte im ganzen und großen wie in den einzelnen Perioden und Ländern beherrschenden Gesetze führen kann. Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muss durch ihren Kopf hindurch; aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab. Die Arbeiter haben sich keineswegs mit dem kapitalistischen Maschinenbetrieb versöhnt, seitdem sie die Maschinen nicht mehr, wie noch 1848 am Rhein, einfach in Stücke schlagen.« (Ebd., S. 298) (AH) Gemeint ist: Stalin: Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin, 1951. Die Broschüre war in der DDR weit verbreitet und zudem Anlass von zahlreichen Konferenzen, Selbstkritiken, Selbstüberprüfungen usw. In der Logikdebatte konnte mit Hilfe der Argumentation Stalins ein modernes Konzept der Logik vertreten werden, das der SED-Position (präsentiert von Ernst Hoffmann) konträr gegenüberstand. Siehe: Hagedorn, Udo: Der Marxismus und Fragen der Sprachwissenschaft. Die Diskussion der
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Stalinschen Linguistik-Briefe in der DDR, Münster, 2005. Heyer: Die Logik-Debatte in der Frühphase der DDR-Philosophie, 1951–1958, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 4, 2013, S. 577–592. Alle relevanten Texte Harichs enthält der 2. Band (Logik, Dialektik und Erkenntnistheorie). In dem § 7: Basis und Überbau (Freitag, den 12. 01. 1951, abgedr. in: Band 1.1, S. 592–608) der Vorlesung Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus (abgedr. in: Band 1.1, S. 558–610), Teil Der Materialismus, äußerte sich Harich ausführlich vor den Studenten zu Stalins Schrift. Es heißt: »Bei fortschreitender Entwicklung der Produktivkräfte und fortschreitender Teilung der Arbeit entstehen produktive Funktionen der Menschen, die Arbeit sind, ohne der unmittelbaren Herstellung materieller Güter zu dienen. Es handelt sich dabei um abgeleitete Erscheinungsformen der Arbeit, die den Strukturtypus der Arbeit in differenzierter, abgewandelter Form weiterentwickeln, und deren Technik eine eigene Gesetzmäßigkeit der Entwicklung aufweist. (Beispielsweise alle ›rein geistigen‹ Tätigkeiten, Philologie, Kunst, Klavierspiel.) Das Gleiche gilt laut Stalin auch für die Sprache. Die Sprache ist ein Mittel der Verständigung. Als solche kann sie verschiedenen Klassen dienen, d. h. sie ist für alle Gesellschaftsklassen dieselbe. Sie wird nicht durch jede neue Basis völlig neu geschaffen, gehört also nicht zum Überbau. Zweitens spiegelt sich aber in der Sprache die objektive Realität wider. (Zum Beispiel die Zeit als Daseinsform der Materie in den verschiedenen Tempora und Verben.) An dem Verhältnis von Plusquamperfekt und Imperfekt ändert sich im Sozialismus nichts. Freilich auch hier nicht unabhängig von den Gesellschaftsformationen, die den Sprachschatz verändern, die Sprache allmählich abstreifen. Aber die Sprache ist nichtsdestoweniger Entwicklungsprodukt der verschiedenen Basen und der verschiedenen Überbauformationen. Das Denken. Der Denkinhalt – ›Wenn es regnet, ist es nass.‹ – ist mit der Kausalbeziehung ›Wenn, dann***‹ durch die Entwicklung der Basen des Überbaus nicht verändert worden. Es handelt sich um Widerspiegelung der objektiven Realität. Einwirkung von Basis und Überbau: Teleologische Kategorien, Gottesvorstellungen, wurzelnd in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen und der jeweils zu Grunde liegenden Basis. Mechanische Kausalitäts-Kategorie ebenfalls. Zusammenhang von Mehrwert und Krise als Kategorie des Denkens. Nur möglich im Marxismus. Dieser wiederum ist nur möglich auf der Grundlage des proletarischen Klassenkampfs. Aber die Entwicklungsgeschichte des Denkens vollzieht sich eben durch die verschiedenen Kategorienbildungen hindurch. Schlussfolgerung: Die Entwicklung der Arbeit und der verschiedenen aus ihr abgeleiteten Tätigkeitsformen, sowie die Entwicklung der Sprache und des Denkens vollziehen sich keineswegs unabhängig vom gesellschaftlichen Sein und Bewusstsein, sie haben aber, ungeachtet dieser Bedingtheit, eine in sich selbst zusammenhängende, relativ unabhängige, relativ selbständige Gesetzmäßigkeit der Entwicklung, die bei jeder dieser Funktionen als solche erforscht werden muss und nicht schematisch aus Veränderungen der Basis und des Überbaus hergeleitet werden kann, und zwar deshalb nicht, weil es sich hier um Produkte von Entwicklungsprozessen handelt, die das Resultat der gesamten Entwicklung verschiedener Basen und ihres jeweiligen Überbaus, das Resultat der Entwicklung von hunderten und tausenden von Generation sind. Praktische Schlussfolgerung: Der historische Materialismus ist eine Anleitung zum wissenschaftlichen Studium, seine Leitsätze können aber nicht das Studium, können nicht die konkrete Detailforschung auf jedem Gebiet ersetzen.« (Ebd., S. 594 f.) Noch in den späteren achtziger Jahren schrieb Harich während seiner Beschäftigung mit der Philosophie Nicolai Hartmanns, im Gespräch
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Eigenschaft, nämlich des Sprechens, ohne die es auch kein Denken geben kann, ausdrücklich gegen eine Relativierung auf bestimmte historische Gesellschaftsformationen verteidigt wird. Der Sprachforscher Marr, gegen den Stalin an dieser Stelle polemisiert, behauptete nicht nur, dass die Sprache zum Überbau gehöre und Klassencharakter habe; er behauptete, damit zusammenhängend auch, dass das Sprechen, vermittelt Lautäußerung, keine generelle Besonderheit des Menschen, sondern an bestimmte historische Formen der Produktion gebunden sei. Jedenfalls ergibt sich diese Konsequenz logisch zwingend aus seiner Lehre, dass es in der Urgesellschaft ursprünglich keine Lautsprache als Verständigungsmittel der Menschen gegeben hätte und dass im Kommunismus eine von der Lautsprache völlig verschiedene Sprache geschaffen werden würde. Wenn Stalin nun demgegenüber geltend macht, dass ohne Lautsprache kein Denken möglich ist, so heißt das, dass er die Lautsprache zu den auszeichnenden Bestimmungen des Menschen überhaupt zählt, die dessen qualitative Besonderheit ausmachen, und es heißt weiter, dass er grundsätzlich eine Theorie ablehnt, die das Bestehen solcher sich durch alle geschichtlichen Wandlungen hindurch erhaltenden Besonderheiten bestreitet. Im Grunde geht es hier um die Verteidigung der Einheit der Spezies Mensch. Diese kann nicht nur rassistisch, sie kann – wie das Beispiel Marrs zeigt – unter Umständen auch auf der Grundlage einer pseudosoziologischen Argumentation, durch vulgäre Überspitzung des Gesichtspunkt der historischen Relativierung in Zweifel gestellt werden. (An dieser Stelle bricht das Manuskript ab, AH.)
mit sich selbst: »1950 veröffentlichte Stalin seine Schrift Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft. Sie ist zweifellos in der Folgezeit, wie alles, was Stalin verlautbaren ließ, weit überschätzt worden. Sie hat gleichwohl aber in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre in den sozialistischen Ländern und der internationalen kommunistischen Bewegung Debatten ausgelöst, die, nach meinem Dafürhalten, eine im wesentlichen positive, mitunter geradezu befreiende Wirkung hatten. PF: Befreiung wovon? WH: Die Debatten halfen Sektierertum und Dogmatismus zurückzudrängen. Auf verschiedenen Wissensgebieten begünstigten sie einen Aufschwung des schöpferischen marxistischen Denkens, freilich, wie immer in solchen Fällen, um den Preis, dass auch revisionistische Tendenzen Auftrieb erhielten. Von der Sprache ausgehend über das Denken zu reflektieren, lag, naturgemäß, dabei nahe. So betraf denn auch einer der sich entfaltenden Diskurse die Stellung des Marxismus zu Fragen der Logik.« (Band 10, S. 564 f.)
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Über die Empfindung des Schönen27 (1953) Es gibt Naturerscheinungen, die uns bisweilen den Gedanken nahe legen, dass Tieren und Menschen gewisse ästhetische Vorlieben gemeinsam sein mögen. Wir erfreuen uns am Anblick und am Duft geöffneter Blüten – auf die die Bienen fliegen. Wir bewundern die Farbenpracht des radschlagenden Pfaus – die in dessen Liebesleben eine sicher unwiderstehliche Rolle spielt. Kein geringerer als Darwin hat unter diesem Gesichtspunkt die geschlechtliche Zuchtwahl der Tiere interpretiert. Natürlich wäre es unzulässig, unsere eigene Empfindung des Schönen, etwas auszeichnend Menschliches, in das tierische Triebleben hinein zu deuten. Solchen Anthropomorphismus dürfen wir uns höchstens in der Fabel oder im Märchen leisten oder in ironisch gemeinten Analogien, mit denen wir dem naiven Weltbegreifen von Kindern bestimmte Naturvorgänge in erster Näherung zu veranschaulichen suchen. Chesterton hat sehr richtig die soziologisierenden Missdeutungen, die oft an die Schilderung von Tierstaaten geknüpft werden, mit der Bemerkung ad absurdum geführt, es sei zwar bekannt, dass die Ameisen Straßen Charles Darwin um 1850/1855 bauen, aber noch nie habe jemand feststellen können, dass sie an ihren Straßen auch die Statuen berühmter Ameisen aufstellen würden. Wir können hinzufügen, dass ihnen Blumen-Arrangements, Kammermusik-Abende und Gemälde-Galerien ebenso fern liegen. Eine merkwürdige Analogie Aber wenn den Tieren so etwas wie Kunstgenuss auch durchaus fremd ist, so ist die umgekehrte Vermutung vielleicht nicht gar so abwegig: Dass unsere tief im Vitalen verwurzelte Lust am Bunten und harmonisch Geformten sehr »alt« ist, dass sie mit vormenschlichen Triebkomplexen genetisch zusammenhängt, von denen sich etwas in uns erhalten und mit höheren, geistigen Antrieben erst sekundär verwoben hat. Wenn wir die Ästhetik nicht von vornherein auf die Theorie der Kunst reduzieren, sondern 27
(AH) Zuerst in: Sinn und Form, 6. Heft, 1953, S. 122–166.
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ihren Gegenstandsbereich so weit fassen, dass sich ein Begriff des Schönen von hinreichender Breite und Allgemeinheit gewinnen lässt – und nur so können wir sie zur Gesetzeswissenschaft erheben –, so gibt es keinen plausiblen Grund, darauf zu bestehen, dass das ästhetische Empfinden als etwas radikal und vollständig Neues, ohne stammesgeschichtlich auch nur vorbereitet zu sein, erst mit der Menschwerdung entstanden sei oder womöglich erst einer hohen Stufe menschlicher Entwicklung angehöre. Es liegt vielmehr eine Reihe von Gründen vor, die für das Gegenteil sprechen. Die Schwierigkeit ästhetischer Untersuchungen liegt vor allem darin, dass wir in ihnen stets zwei Intentionen von entgegengesetzter Richtung zugleich vollziehen müssen: Die der Analyse des ästhetischen Objekts (des Kunstwerks oder des Naturschönen als solchen) und die der Reflexion auf das von ihm affizierte und ergriffene Bewusstsein. Dabei hat freilich die erstere Intention den sachlichen Vorrang: Die primäre Aufgabe der Ästhetik ist es, jene Gegenstandsstrukturen zu bestimmen, die objektiv das Schöne, Erhabene, Komische, Liebreizende, Anmutige usw. ausmachen – ganz unabhängig vom Akt des Genießens, der ihnen von sich aus ja nichts hinzufügt. Theorien, die dies verleugnen, indem sie den Gegenstandsbereich der Ästhetik in deren psychologischem Teilaspekt aufgehen lassen, sind subjektivistischer Irrung schon im Ansatz ihrer Fragestellung ausgesetzt. Sie verkennen, dass den ästhetischen Objekten durchaus dieselbe Bewusstseinsunabhängigkeit zukommt wie dem Gegenstand der Erkenntnis. Dennoch gewinnen wir den Zugang zu jenen objektiven Strukturen zunächst nur mittelbar, nur über den Umweg der Reflektion auf das genießende Subjekt. Erst wenn wir an seiner Reaktionsweise (mit der nötigen Allgemeinheit) abgelesen haben, was es als schön, erhaben, komisch28 usw. empfindet, können wir auf der Gegenstandsseite die Gesetzmäßigkeiten herausheben, die dieses Empfinden determinieren. Wir haben es also, um in der Terminologie Nicolai Hartmanns29 zu sprechen, in der Ästhetik mit dem paradoxen Fall einer »intentio recta« zu tun, die auf die »intentio obliqua« ange28 29
(AH) Siehe hierzu u. a. Harichs Notizen Traktat über das Komische, entstanden höchstwahrscheinlich in den späten vierziger Jahren (abgedr. in: Band 1.3, S. 1972–1977). (AH) Harichs lebenslanger Auseinandersetzung mit der Philosophie Nicolai Hartmanns sind die Bände 2 und, vor allem, 10 dieser Edition gewidmet. Gerade in seinem Alterswerk kam Harich mehrfach auf die Ästhetik Hartmanns (oft im Vergleich mit der Ästhetik von Lukács, siehe Band 9) zu sprechen. In direkter zeitlicher Nähe zu diesem Aufsatz entstand Harichs Rezension von Hartmanns posthum erschienenem Werk Teleologisches Denken, veröffentlicht 1953 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (neu abgedr. in: Band 2, S. 652–666). Alle wichtigen und relevanten Informationen in Band 10.
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wiesen ist und nur durch sie hindurch sich erschließen lässt. Auch dort, wo die Theorie ausdrücklich vom Objektiven ausgeht, ja, überhaupt nur dieses in Betracht zu ziehen scheint, setzt sie entweder stillschweigend die Reflektion auf das reagierende Subjekt voraus, oder sie muss, falls sie das nicht tut, in ihr doch wenigstens nachträglich die Kriterien für die Gültigkeit ihrer Feststellungen gewinnen. Der ästhetische Genuss (respektive sein Ausbleiben) ist die Probe aufs Exempel, die in praxi zu erweisen hat, ob die gegebene Wesensbestimmung des Schönen zutrifft, oder ob das Schöne mit etwas ihm Äußerlichen, Unwesentlichen, identifiziert wurde. Diese Schwierigkeit ästhetischer Untersuchungen ist sachlich bedingt. Ihr liegt eine eigentümliche Koordination objektiver Gegenstandsstrukturen und subjektiver Reaktionsweisen zu Grunde, die nur durch die angegebene doppelte Intention theoretisch erfassbar wird. Zu dieser Koordination lässt sich nun aber in der ganzen uns bekannten Realität nur eine einzige, sehr merkwürdige Analogie aufweisen: Die Auslösung bestimmter tierischer Aktionen durch bestimmte Signale und Anschauungsschemata, die in der Umwelt des betreffenden Tieres vorkommen. Was also liegt näher, als diesen Typus der Koordination mit jenem in Zusammenhang zu bringen? Die Vorstellung, dass beide miteinander zu tun haben müssen, verdichtet sich zur Gewissheit, wenn wir zweierlei bedenken: Erstens üben mannigfaltige Erscheinungsformen dessen, was wir als Naturschönes bezeichnen, in der Tierwelt die Funktion solcher auslösenden Signale aus; zweitens ist unser Empfinden des Schönen vor allem eine sinnlich-gefühlsmäßige, mit den Instinkten eng verbundene Bewegung unseres Inneren. Es ist daher nicht überraschend, dass von bestimmten Entdeckungen der Tierpsychologie her neues Licht auch auf grundlegende Probleme der Ästhetik fällt. Diese Entdeckungen sind namentlich Konrad Lorenz zu danken, der auf dem Gebiet der tierischen Instinktlehre Bahnbrechendes geleistet hat. Sie zuerst im Hinblick auf unsere Frage ausgewertet zu haben, ist das Verdienst Arnold Gehlens, des wohl bedeutendsten deutschen Vertreters der modernen philosophischen Anthropologie. Von den Resultaten beider Forscher soll im Fol-
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genden die Rede sein. Wir werden sehen, dass sich aus ihnen Schlussfolgerungen ableiten lassen, die für die materialistische Theorie der Kunst ergiebig sind. Die Frage nach der Eigenart des ästhetischen Genusses Der ästhetische Genuss läuft über verschiedene Sinne. Er wird von diesen schon ausgekostet und wirkt bis in tiefste Bezirke des Emotionellen hinab beglückend. Er ist also, bei aller Vergeistigung des Inhalts, nicht nur Sache des Intellekts. Welche Erkenntnisse ein Kunstwerk auch vermitteln, welche ideellen und ethischen Motive es auch in sich bergen und zum Ausdruck bringen mag, es kann beidem durchaus nur Geltung verschaffen, wenn es die Bedingung erfüllt, Kunstgenuss zu gewähren. Die Geschichte lehrt, dass die Kunst nur lebensfähig ist, wenn sie sich irgend einem massiveren Nutzen harmonisch einzufügen weiß, angefangen von der Schmückung von Haushaltsgeräten bis zum Dienst an geschichtlich bewegenden Ideen, die dem Interesse einer Klasse entsprechen. Sie stirbt ab, sobald sie genötigt wird (oder vermeintlich von sich aus danach strebt), ihre Zwecke rein aus sich selbst zu ziehen. Nichtsdestoweniger will das ästhetische Interesse durchaus als solches ernst genommen und befriedigt werden. Es sträubt sich zum Beispiel dagegen, jene Machwerke modernistisch kahler Architektur als Errungenschaft zu akzeptieren, in denen die harmonischen Proportionen der Massenverteilung und das Schmückende froher Farben und kunstvoller Ornamente durch eine allzu direkte Intervention zwecktechnischer Erwägungen vertilgt sind. Und ebenso fühlt es sich genarrt und schlägt in tiefes Missbehagen um, falls es sich durch Literatur und Theater mit Belehrung abgespeist sieht. »Ist der Zweck der Kunst«, sagt Hegel, »in diesen Lehrnutzen gesetzt, so wird die andere Seite, die nämlich des Wohlgefallens, Unterhaltens, Ergötzens, für sich als unwesentlich ausgegeben und soll ihre Substanz nur in der Nützlichkeit der Lehre haben, deren Begleiterin sie ist.« (Ästhetik) Was aber ist das ästhetische Interesse eigentlich? Worin liegt das Wesen der Genüsse, nach denen es verlangt? Wodurch werden sie bewirkt, und welche spezifischen Empfindungen setzen sie ihrerseits in Bewegung? Was bedeutet zum Beispiel das eigentümliche Gefühl des Erlöstseins, das uns befällt, wenn wir – nach einem Gang durch graue Straßen, an eintönigen Häuserzeilen vorbei – auf einmal auf einen Platz mit hellgrünen Rasenflächen, bunten Blumenrabatten, gepflegten Kieswegen und einer silbernen
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Springbrunnen-Fontäne hinaustreten? Und was hat dieses Gefühl gemeinsam mit dem Anschauen eines schönen Menschenantlitzes oder mit dem Anhören großer Musik? Was bedeutet die merkwürdige tatenlose Aufmerksamkeit, mit der wir uns dem Genuss des als schön Empfundenen hingeben, dem Anblick eines Sonnenuntergangs am Meer, eines Gemäldes, eines verschlungenen orientalischen Ornaments, dem Anhören eines symphonischen Satzes, der uns mit seinem melodischen Reichtum, seinen Klangfiguren und Rhythmen bis zur Selbstvergessenheit in seinen Bann schlägt? Lässt all dies sich auf einen Nenner bringen, lässt es sich einer generellen Gegenstandsstruktur zuordnen, die im Naturschönen wie in der Mannigfaltigkeit der Kunstwerke grundsätzlich übereinstimmend gegeben sein muss, damit psychische Effekte eben dieser Art sich mit Notwendigkeit einstellen? Es kommt darauf an, das Phänomen hier so breit wie nur möglich zu fassen, um den naheliegenden Einwand abzuwehren, dass ja nicht alles Schöne von jedermann auch empfunden werde. Geistig anspruchsvollere Kunstwerke – etwa Beethovensche Symphonien oder Hölderlinsche Gedichte – setzen beim Hörenden oder Lesenden ein »Training« des Kunstgenusses voraus, das wohl zur Bildung zu rechnen ist, von einer Untersuchung des Elementaren und ganz Allgemeinen also ausgeklammert werden muss. Nicht auf die Erörterung hoch differenzierter, voraussetzungsvoller Kunsterlebnisse können wir uns demnach hier einlassen, sondern wir müssen die ästhetischen Kategorien und die ihnen korrespondierenden Gefühle zunächst so wählen, dass die Freude an Sonnenuntergängen, Rasenplätzen, Kornblumensträußen, phantasievoll garnierten Torten, ja, selbst die an ausgesprochenem Kitsch sich darin ebenso unterbringen lässt wie der Genuss der höchsten Kunstwerte. Wo jene Freude – wenn auch noch so unentwickelt oder geschmacklich noch so korrumpiert – in irgend einem Winkel des Gemüts lebendig ist, kann von hoffnungsloser Abstumpfung offenbar nicht die Rede sein. Was aber bedeutet sie? Worauf können wir die zurückführen? Auslöser und Instinktbewegungen Lorenz und Gehlen haben entdeckt, dass das Phänomen des ästhetischen Genusses keineswegs unableitbar und unerklärlich ist, dass man sehr wohl dahinter zurückfragen und seine fundamentalen Ursachen aufdecken kann. Ihre Forschungen betreffen das schwierige Grenzgebiet instinktiver und geistiger Vollzüge. Die Resultate, zu denen sie hier gelangten, ermöglichen es uns, die Kategorie des Schönen und das Wesen der ihr entsprechenden, von ihrem Erscheinen ausgelösten psychischen Bewegungen mit
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solcher Allgemeingültigkeit zu bestimmen, dass in der Mannigfaltigkeit der ästhetischen Gebilde zum ersten Mal ein einheitliches Gesetz greifbar wird. Die erste verblüffende Tatsache ist die: Es gibt Vorstufen des ästhetischen Empfindens im Bereich des animalischen Lebens, freilich auf qualitativ anderer Stufe als bei Menschen und in gänzlich anderem, nämlich rein biologischem Funktionszusammenhang, aber doch dem menschlichen Kunstgenuss noch so verwandt, dass dessen idealistische Mystifizierung als unhaltbar einleuchtet. Um dies zu verstehen, genügt es, die Konsequenzen der Darwinschen Selektionstheorie und die Lehre Pawlows von der Nerventätigkeit der Tiere im Hinblick auf die von Lorenz vorgenommene experimentelle Erforschung der Instinktbewegungen zu durchdenken. Nach Darwin ist der tierische Organismus in Folge der natürlichen Zuchtwahl der Gesamtheit seiner äußeren Lebensbedingungen angepasst. Diese Anpassung erstreckt sich nicht nur auf den Organe, sondern bestimmt auch die Art-Eigentümlichkeit seiner Antriebe und Aktionen. Es besteht in der Natur eine eindeutige – final anmutende, aber objektiv kausal verursachte – Zuordnung zwischen der Wahrnehmungsfähigkeit eines Tieres, seinen instinktiven Reaktionen und der Gesamtheit der vital bedeutsamen Objekte, die ihm innerhalb seiner Umwelt zur Nahrung und Fortpflanzung dienen, respektive es tödlich bedrohen können. Die instinktive Sicherheit, mit der das Tier sein Leben fristet, mit der es das Lebensdienliche wie das Bedrohliche bemerkt und in zweckmäßiger Weise darauf reagiert, beruht dabei auf dem arztspezifischen System »unbedingter Reflexe« (Pawlow), das allen einzelnen Exemplaren angeboren und auf die Lebensbedingungen in der gegebenen Umwelt eingespielt ist. Sein Funktionieren ist ebenso Resultat der natürlichen Zuchtwahl wie die gesamte Organausstattung. In gesetzmäßiger Weise leitet der Reiz, der jeweils vom vital bedeutsamen Objekte ausgeht und ein Sinnesorgan des Tieres affiziert, eine Erregung zu dessen Zentralnervensystem, wird dort in die entsprechende biologisch zweckmäßige Aktion umgeschaltet und löst so unmittelbar die erforderlichen Muskelbewegungen, Drüsenabsonderungen usw. aus, die das lebensdienliche Verhalten ausmachen. Auf solche »unbedingten Reflexe« lässt sich nun die instinktive Wurzel des ästhetischen Empfindens zurückführen, wenn auch nur in letzter Instanz. Dies ergibt sich aus den Lorenzschen Arbeiten zur tierischen Instinktlehre. Lorenz hat eine Fülle an Tatsachenmaterial zur Konkretisierung unseres Wissens um die Bedeutung der »unbedingten Reflexe« beigetragen. Die Resultate seiner Forschung zeigen, dass es artspezifische,
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angeborene, in jedem Exemplar zentral koordinierte Instinktbewegungen der Tiere gibt, die bei einem genügend hohen inneren Reizspiegel (zum Beispiel Hunger) von vital bedeutsamen Außenweltreizen geruchlicher, taktiler, akustischer oder visueller Art enthemmt werden. Diese Reize nennt Lorenz Auslöser: Es sind Umweltsignale typischer Prägung, die das vital bedeutsame Objekt – den Feind, die Beute, den Geschlechtspartner usw. – repräsentieren. Die Gesetzmäßigkeit der Korrelation zwischen den Auslösern einerseits und den ausgelösten Instinktbewegungen andererseits haben Lorenz, Heinroth und andere auf experimentellem Wege erforscht: Sie hielten Tieren Attrappen vor, die lediglich die Auslöser-Qualitäten enthielten, und erzeugten damit die typischen Reaktionen. Bei diesen Untersuchungen und Experimenten zeigte es sich nun, dass alle Auslöser eines gemeinsam haben: Sie wirken, nach Form oder Farbe, Klang oder Geruch, im Vergleich mit den Durchschnittseindrücken, die man innerhalb der gegebenen Umwelt gewinnen kann und die das Tier wahrscheinlich überhaupt nicht wahrnimmt, auffällig und werden vom Menschen spontan als schön empfunden. Lorenz spricht von ihrer »generellen Unwahrscheinlichkeit«. An diesem Punkt nun setzen die anthropologisch-ästhetischen Überlegungen Gehlens ein, der sich indessen auf die Analyse der optischen Auslöser beschränkt, um von hier aus zunächst einen Zugang zu den Reizen der konkreten Farbe und der abstrakten Gestalt – also zum rein Ornamentalen – zu gewinnen (Über einige Kategorien des entlasteten, zumal ästhetischen Verhaltens). Für Gehlens Betrachtungen sind die folgenden Ausführungen von Lorenz grundlegend: »Die Signalapparatur visueller Auslöser besteht aus körperlichen Differenzierungen wie bunten Farben oder auffallenden Formen, aus besonderen, auffallenden, meist rhythmischen Instinktbewegungen, meist aber aus einem System von morphologischem Merkmal und Bewegung, indem bestimmte körperliche Differenzierungen dem Auge des Artgenossen in spezifischer Weise dargeboten werden. (…) Als Organ des ›Imponiergehabes‹ (Heinroth 1910), durch das ein Männchen sowohl dem Geschlechtsgenossen wie dem Weibchen als solches kenntlich wird, finden sich bei Tintenfischen, Spinnen, Knochenfischen, Reptilien und sehr vielen Vögeln Organe, die fächerartig spreizbar sind und ein buntes Farbenmuster zeigen, wobei dann stets eine Orientierungsreaktion dafür sorgt, dass die volle Fläche des entfalteten Imponierorgans senkrecht zur Blickachse des Artgenossen steht. Die imponierenden Männchen spreizen bei Sepia
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den mit einem scharfen rot-schwarz-weißen Zeichnungsmuster versehenen vierten Mundarm, bei Knochenfischen ihre bunt gezeichneten Flossen oder die Kiemenhaut, bei Anolis ihre Kehlschwamme, beim Jagdfasan Schwanz und Kragenfächer, und sie bieten so in durchaus gleicher Weise das Signal plötzlich und in optimaler Orientierung dem Auge des Gegenüber dar. (…) Für die wundervollen Spiegelfärbungen so vieler Anatiden ist die auslösende Wirkung durch Zufallsbeobachtungen nachgewiesen, die den vollen Wert planmäßiger Attrappenversuche haben. Heinroth fand, dass Nilgänse und Kasarkas auf die zufällig gleiche Flügelspitzzeichnung der zoologisch fernstehenden Türkenente Cairina Moschata mit Nachfolgereaktion ansprechen.« Seine eigenen Beobachtungen und die Resultate Heinroths und anderer zusammenfassend, schreibt Lorenz: »Das allen Auslösern gemeinsame Merkmal der generellen Unwahrscheinlichkeit gepaart mit Einfachheit macht sie für den naturbetrachtenden Menschen ungemein auffallend. Aus dem Schwingungschaos des weißen Lichts, sind es gerade die in der Natur so seltenen reinen Spektralfarben, aus der unendlichen Fülle unregelmäßiger Formen die regelmäßigen, symmetrischen, aus der Unzahl möglicher Bewegungen die rhythmisch geformten, die im Auslöser Verwendung finden. Alle diese Dinge rufen beim Menschen die Empfindung des Schönen hervor.« Gehlen bringt hierzu noch eine Reihe anderer, ebenso überzeugender Beispiele: »Es ist kein Zufall, dass das Pfauenrad, dass ein Schmetterling, eine Blume, die prachtvolle Färbung vieler Fische und Vögel, dass sogar ein so ›unwahrscheinliches‹ Gebilde wie ein Hirschgeweih uns schön erscheinen. Es sind die symmetrischen, regelmäßigen, möglichst ›geometrischen‹ Musterungen (Streifen, Bänder, Punktgruppen), es sind die ›reinen‹ Farben oder Kombinationen beider, die dies ausmachen, und was im Tierreich als Auslöser instinktiver Bewegungen wirkt, das erweckt in uns jenes handlungslose ästhetische Entzücken, so wie die Farbe und der ebenso unwahrscheinliche Duft der Blüten die Signale für die Instinktketten der Insekten sind, während wir sie in einer Vase als Zimmerschmuck verwenden« (Über einige Kategorien etc.). Der Beweis für die Richtigkeit dieser Beobachtungen lässt sich nach Gehlen – was Lorenz entgangen ist – nun auch e contrario erbringen: Die Phänomene der Mimikry liefern die Gegenprobe auf die vitale Auszeichnung des »Unwahrscheinlichen«. Auch dieser Gedanke ist verblüffend. Wenn Würmer, Insekten, Mollusken, Krebse und Fische vielfach leblose Gegenstände ihrer Umgebung nachahmen, wenn Heuschrecken das Aussehen von Stengelstücken oder Blättern annehmen und Schollen in Farbe und
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Zeichnung ihrem Untergrund, dem Meeresboden, gleichen, so ist auch das eine Folge der natürlichen Selektion, nur dass der lebensdienliche Effekt in diesem Falle auf dem entgegengesetzten Wege erzielt wird. Das betreffende Tier »soll« gerade nicht Reaktionen hervorrufen. Es wird der Nachstellung seiner Feinde dadurch entzogen, dass es als »Auslöser« verschwindet, dass es unauffällig wird. Und das kommt so zu Stande, dass die auffallenden Exemplare der Gattung von deren Feinden jedes Mal ausgemerzt werden, bevor sie sich vermehren und ihre Eigenschaften vererben können. In der Mimikry verfährt, so können wir sagen, die Natur quasi »naturalistisch«: Die Schutzfärbung spiegelt mit ihren grauen, bräunlichen, gelblichen und dunklen Tönen, mit ihren unregelmäßig gesprenkelten oder verwaschenen Musterungen oder ihrer Anpassung an das Blattgrün (Heuschrecke) den optischen Durchschnittseindruck der Umgebung, das Gewöhnliche und quasi Mittelmäßige, wider – so wie es auf ihre Weise die ernüchternden, ästhetischen wertindifferenten Elaborate der »Neuen Sachlichkeit« tun oder die mitstenographierten psychischen Assoziationen in James Joyce’ Ulysses. Vergleichen wir die Ausführungen von Lorenz und Gehlen nun beispielsweise mit dem, was die Hegelsche Ästhetik über das Naturschöne aussagt,30 so ergibt sich eine frappante Übereinstimmung. Hegel rechnet zu den »Arten der abstrakten Form« des Naturschönen die Regelmäßigkeit, Symmetrie, Gesetzmäßigkeit und Harmonie, und unter dem Titel »Die Schönheit als abstrakte Einheit des sinnlichen Stoffs« schreibt er: »Reingezogene Linien, die unterschiedslos fortlaufen, nicht hier- oder dorthin ausweichen, glatte Flächen und dergleichen befriedigen durch ihre feste Bestimmtheit und deren gleichförmige Einheit mit sich. Die Reinheit des Himmels, die Klarheit der Luft, ein spiegelheller See, die Meeresglätte erfreuen uns von dieser Seite her. Eben dasselbe ist es mit der Reinheit der Töne. Der reine Klang der Stimme hat schon als solcher bloßer reiner Ton dies unendlich Gefällige und Ansprechende, während eine unreine Stimme das Organ mitklingen lässt und nicht den Glanz in seiner Beziehung auf sich selbst gibt, und ein unreiner Ton von seiner Bestimmung abweicht. In ähnlicher Art hat auch die Sprache reine Töne wie die Vokale a, e, i, o, u und gemischte wie ü, ö. Volksdialekte besonders haben unreine Klänge, Mitteltöne wie oa. Zur Reinheit der Töne gehört dann ferner, dass die Vokale auch von solchen Konsonanten umgeben seien, welche die Reinheit der Vokale nicht dämpfen, wie die nordischen Sprachen 30
(AH) Harich war sehr stolz darauf, dass unter seiner Regie die Hegelsche Ästhetik im Aufbau-Verlag neu herausgegeben wurde. Siehe hierzu vor allem die entsprechenden Hinweise in den Briefen an Georg Lukács (Band 9) sowie die Dokumente seiner Tätigkeit für den Aufbau-Verlag (Band 1.3, S. 1581–1650).
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häufig durch ihre Konsonanten sich den Ton der Vokale verkümmern, während das Italienische diese Reinheit erhält und deshalb so sangbar ist. Von gleicher Wirkung sind die reinen, in sich einfachen ungemischten Farben, ein reines Rot zum Beispiel oder ein reines Blau, das selten ist, da es gewöhnlich ins Rötliche oder Gelbliche und Grüne hinüberspielt. (…) Diese Kardinalfarben sind es, welche der Sinn in ihrer Reinheit leicht erkennt, obgleich sie zusammengestellt schwerer sind in Harmonie zu bringen, weil ihr Unterschied greller hervorsticht. Die gedämpften, vielfach gemischten Farben sind weniger angenehm, wenn sie auch leichter zusammenstimmen, indem ihnen die Energie der Entgegensetzung fehlt.« Hegel steht mit diesen Bestimmungen nicht allein da. Ausführungen wie diese lassen sich im Werk fast jedes Ästhetikers nachweisen, gleichviel, welche Konzeption er ansonst vertreten mag. Nach Karl Groos zum Beispiel, einem der Hegelschen Philosophie völlig fern stehenden Ästhetiker, ist es »unbestreitbar, dass uns die Natur nur ausnahmsweise ein freies, reines Auffassen und Auskosten des Räumlichen gestattet. Schöne Einzelformen sind ja freilich in Überfülle vorhanden, aber es fehlt nur zu häufig an den Bedingungen zu ihrem ungestörten Genuss. Da ist vielleicht eine prachtvolle deutsche Dogge; sie hat sich aber so träge und plump hingelegt, dass ich nichts von ihrem Anblick habe. Glücklicherweise erregt etwas die Aufmerksamkeit des Hundes, er richtet sich auf und würde jetzt ein Bild von Kraft und Eleganz sein, wenn er nur in dieser Stellung lange genug verweilen wollte: und wenn er darin verweilt, so hat er sich doch vielleicht so gedreht, dass ich seinen Körper nur in störenden Verkürzungen sehe; und wenn auch dieser Mangel wegfällt, so steht er gerade in einer ungünstigen Umgebung, etwa vor einem Hintergrund, gegen den er sich nicht recht abhebt, oder neben Gegenständen, deren Form die ästhetische Wirkung seiner Gestalt beeinträchtigt.« Der Künstler hat nun, nach Groos, den großen Vorteil – und die Aufgabe –, »die schwankende Erscheinung in dauernden Gestalten festzuhalten, die charakteristischen oder schönen Züge zu einer Idealdarstellung zusammenzufassen, den fruchtbarsten Moment auszuwählen, die Einzelgestalten in klare und harmonische räumliche Beziehungen zu versetzen« (Der ästhetische Genuss). Wir sehen, dass die Ästhetik dem Wesen des Schönen als der »generellen Unwahrscheinlichkeit« von Farbe, Form, Rhythmus, Tonfolge, Gestalt usw. und ihrer Entgegensetzung zum (nicht seltenen, nicht ausnahmsweisen) Durchschnittseindruck längst auf der Spur ist – und zwar in Theorien, die sonst nichts weiter als diese eine Ahnung
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verbindet. Nur die biologische Herkunft der dadurch ausgelösten Gefühle ist bis zu den Forschungen Lorenz’ niemals gesehen worden. Und so ist der ästhetische Genuss mysteriös geblieben. Das qualitative Novum im ästhetischen Empfinden des Menschen Nun stellt der Mensch auch dem höchsten Tier gegenüber etwas qualitativ Neues, Höheres dar. Es hat folglich auch mit den Instinktbewegungen bei ihm seine besondere Bewandtnis. Sie sind von denen der Tiere nicht nur graduell, sondern grundsätzlich unterschieden. Auch in dieser Frage geht es nicht an, die idealistische Mystifikation vom Standpunkt eines vulgären, metaphysischen Materialismus aus zu bekämpfen, diesesfalls um so weniger, als man damit sogleich den Gefahren des Biologismus erliegen würde. Wollten wir uns bei der Erklärung des menschlichen Schönheitsempfindens mit dem Nachweis der biologischen Herkunft seiner instinktiven Wurzel begnügen und alle Phänomene des Ästhetischen mit einem platten »Nichts anderes als …« erledigen, so würden wir das Problem prinzipiell verfehlen. Die rein naturwissenschaftlich orientierten Aussagen von Lorenz mögen einer biologistischen Deutung allenfalls noch Vorschub leisten. Mit der Entdeckung Gehlens steht es anders. Gehlen hat, wie wir sehen werden, durchaus die spezifisch menschlichen Erscheinungen in ihrer qualitativen Besonderheit im Auge und ist vor allem um deren Klärung bemüht. Wie in seinem anthropologischen Hauptwerk (Der Mensch – Seine Natur und seine Stellung in der Welt) geht es ihm auch auf ästhetischem Gebiet um das Verständnis des qualitativen Novums des Menschen. Freilich fehlen ihm, dem bürgerlichen Forscher, die Kategorien des dialektischen Materialismus, so dass er, bei aller Bedeutung seiner fachwissenschaftlichen Funde, nicht im Stande ist, die Kontinuität der Entwicklung und den qualitativen Sprung in ihrer gesetzmäßigen Einheit zu begreifen. Er lässt die Gegensätze unbewältigt nebeneinander stehen, beschränkt sich auf bloße Deskriptionen und redet in der Abstammungsfrage gar einer reaktionären Skepsis das Wort. Auch ist er weit davon entfernt, aus seiner eigenen Entdeckung sachlich sehr naheliegende Schlussfolgerungen zu ziehen, die die Ästhetik des Realismus von einer neuen Seite her rechtfertigen würden. Trotz alledem enthalten seine Ausführungen einen rationellen Kern, der sie derart bedeutend macht, dass die materialistische Ästhetik an ihnen nicht vorbeigehen kann.
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Um diesen Kern herauszuarbeiten, ist es erforderlich, bestimmte Grundgedanken der Gehlenschen Anthropologie wenigstens anzudeuten. Doch bevor das in diesem Zusammenhang geschehen kann, sei zunächst versucht, mit der Bestimmtheit einer Entgegensetzung die Empfindung des Schönen, wie sie dem Menschen eigen ist, von den entsprechenden Instinktbewegungen der Tiere abzugrenzen. Diese sind zwar das Fundamentale und genetisch Primäre, ohne sie als Vorstufen gäbe es das ästhetische Interesse nicht; sie werden aber durch das Neueinsetzen der höheren, spezifisch menschlichen Kategorien nicht nur »überformt« und »überbaut« (wie es dem »Schichtungs«gedanken in der Ontologie Nicolai Hartmanns entspräche)31, sondern gänzlich umgebildet und verwandelt, ja, im Sinne der Negierung aufgehoben – bis auf einen selber entbiologisierten Rest. Zuerst und vor allem ist festzustellen, dass im ästhetischen Genuss des Menschen die Instinktbewegungen sich vom unmittelbar Lebensdienlichen losgelöst und relativ verselbständigt haben. Sie sind nicht mehr eingespannt in jenen artspezifischen Funktionszusammenhang der Lebenserhaltung, der die unbedingten Reflexe der Tiere determiniert. Die menschliche Empfindung des Schönen luxuriert, während ihre tierischen »Vorläufer« ganz bestimmten Zwecken der Ernährung, Fortpflanzung, des Schutzes vor Feinden usw. untergeordnet sind. Sie ist gleichsam abgehängt von den Funktionen der Lebensfristung, die nun die Arbeit, die Produktion der materiellen Güter mittels selbst hergestellter Werkzeuge, übernommen hat. Sie bleibt zwar im Vitalen verwurzelt, ist aber der biologischen Funktion verlustig geworden. Daher ihre Offenheit für die Durchdringung mit spezifisch gesellschaftlichen Motiven, die dem ideellen und moralischen Gehalt des Kunstwerks zu Grunde liegen und dem Geschmack sein Gepräge geben. Daher aber auch ihre Überflüssigkeit, mithin ihre stete Gefährdung: Da sie nicht elementare Bedingung des Lebenkönnens ist, was die unbedingten Reflexe durchaus sind, kann sie zeitweilig aus dem Dasein einzelner Menschen, ja, ganzer Epochen weitgehend verbannt werden: Durch extreme Lebensnot oder asketische Ideale, durch abstumpfenden Business-Geist oder ausdörrende Gelehrsamkeit, und manches andere mehr. Damit ist schon vorausgesetzt, dass die Instinktbewegungen, aus denen der ästhetische Genuss hervorgegangen ist, durch den Prozess der Menschwerdung eigentümlich ge31
(AH) Ausführlich zur Ontologie Hartmanns (auch mit Verweisen auf Gehlens Kritik) in den Texten, Manuskripten und Briefen des bereits erwähnten 10. Bandes.
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schwächt sind. Gerade dadurch haben sie aber, wie es scheint, überhaupt erst den Charakter von Genüssen angenommen. Dass sie nicht mehr die Durchschlagskraft echter Instinkte haben, zeigt sich in ihrer Hemmbarkeit. Das Gewahrwerden der Auslöser schlägt beim Menschen nicht mehr in unmittelbarer Aktion um. Etwas Ähnliches wie eine Reaktion ist freilich noch da. Aber es ist eine Reaktion, die im Innern zurückbehalten wird und sich höchstens in einem gelösten oder versunkenen Gesichtsausdruck, in Ansätzen von rhythmischer Körperbewegung (beim Anhören von Musik) usw. äußert. In dieser von unbestimmtem Drang erfüllten Passivität, dieser handlungs- und tatenlosen Hingabe, diesem Nach-innen-Schlagen psychischer Energien, denen es verwehrt ist, sich in Aktionen zu entladen, besteht recht eigentlich der Genuss des Angeschauten und Gehörten. Er liegt wahrscheinlich im Auskosten der sensiblen Nervenerregung bei gleichzeitiger Hemmung der motorischen. Er ist ein unbedingter Reflex – ohne Reflex, eine Instinktbewegung – ohne Bewegung. Nur ein Sehnen und Drängen ist da, das nach dem ästhetischen Objekt hinstrebt, aber in der Empfindung seiner selbst gefangen bleibt und in ihr seine Beglückung, sein Entzücken findet. (Ähnliches ist uns aus der Liebe geläufig, so lange die Erfüllung, gar das Geständnis noch aussteht: ein aktionsgehemmtes, sich in sich selbst verzehrendes Begehren beim Anschauen der geliebten Person.) Tatsächlich ist – schon lange vor der Lorenz-Gehlenschen Entdeckung – von der psychologisch orientierten Ästhetik das »innere Miterleben« als Ansatz zu einer motorischen Aktion definiert worden. So schreibt Groos (1902): »Nach meiner Erfahrung ist der natürliche Verlauf (beim ästhetischen Miterleben, WH) der, dass wir, sobald wir nicht zu anderen Interessen abgelenkt werden, mit realen motorischen Vorgängen von Nachahmungscharakter beginnen. (…) Ja, es verhält sich sogar häufig so, dass die unwillkürlichen motorischen Vorgänge in unserem Körper (!) erst den Anlass zur vollen Konzentration unserer Aufmerksamkeit geben. (…) Ist es nicht buchstäblich zu nehmen, dass der noch empfindliche Mensch von guten Werken der bildenden Kunst, denen er zum ersten Male gegenübertritt, wie von einer Naturgewalt körperlich ergriffen wird? Beginnt nicht der lebenswarme Genuss eines gotischen Kirchturmes mit einem blitzartig wirkenden organischen Emporgerissensein, dem sich das ›Geistige‹ des Miterlebens erst anschließt? Und ist die Wirkung eines feurigen Rhythmus so zu verstehen, dass wir von bloß reproduktiven Vorgängen her erst allmählich die Ausstrahlung auf das
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Organische fühlen, oder ist nicht vielmehr auch hier die unwiderstehliche motorische Einstellung der Ausgangspunkt?« (Der ästhetische Genuss) Das hier Gesagte fügt sich gut mit dem, was Lorenz und Gehlen über die Auslöserfunktion des Schönen ausgemacht haben, zusammen. Wenn Groos jedoch hinzufügt, es bleibe deswegen bei bloßen »Andeutungen« motorischer Vorgänge, »weil die Aufmerksamkeit sonst nicht auf die Wahrnehmung des Objekts konzentriert bleiben könnte«, so unterschiebt er der Gehemmtheit der Aktion, die sich unwillkürlich aus der qualitativen Besonderheit der menschlichen Antriebsstruktur ergibt, etwas Absichtliches, das der Spontaneität des ästhetischen Genusses völlig fremd ist. In Wahrheit beruht das Hemmen und Zurückbehalten der (somit nach innen schlagenden) Aktion, das für die Empfindung des Schönen charakteristisch ist, grundsätzlich auf der Tatsache, dass bei Menschen der Zwang des Umschlagens der sensiblen Nervenerregung in einen motorischen Vollzug gebrochen ist. Das Bewusstsein, das ein ungehemmtes Freilassen der motorischen Andeutungen die ästhetische Konzentration als solche aufheben müsste, ist demgegenüber völlig äußerlich und braucht überhaupt nicht zu entstehen. Der Mensch ist also den Auslösern und den auf sie abzielenden Instinktbewegungen niemals so vollständig ausgeliefert wie das Tier. Einerseits steht es in seiner Macht, selbst auf biologisch relevante Reize nicht zu reagieren – deshalb kann er für das, was er tut und lässt, verantwortlich gemacht werden, und aus demselben Grunde ist es auch möglich, ihm vitale Askese abzuverlangen, ja, schier Unerträgliches zuzumuten. Andererseits laufen in seinem Bewusstsein stets verschiedene Motivationen nebeneinander her und ineinander, unabhängig davon, ob Anlässe ihrer Betätigung gegeben sind oder nicht. So vermag er zu der aktionslosen und zurückbehaltenen Bewegung, mit der er auf Auslöser reagiert, Distanz zu gewinnen; so bildet sich in ihm zugleich aber auch eine virtuelle Allgegenwart seiner möglichen Antriebe, die er als einen Innenraum voller nicht erfüllter Wünsche, nicht realisierter Entscheidungen sowie gegenwartsferner Ziel- und Idealbilder in sich vorfindet. In diesem Inneren nun entfaltet sich, neben anderen Motivationen, auch das Bedürfnis nach dem ästhetischen Genuss. Es ist die Bedingung dafür, dass das Erlebnis ästhetischer Objekte gesucht und erstrebt werden kann. (Da die Tiere, im Unterschied zum Menschen, von Moment zu Moment von jeweils anderen Reflexbewegungen total beherrscht werden, kann in ihnen ein eigentliches Bedürfnis nicht aufkommen.)
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Diese Besonderheiten implizieren, dass die Aktionen des Menschen nicht von biologisch festgelegten Instinkten determiniert sind. Daher fehlt bei Menschen auch die für das Tier charakteristische Zuordnung von Auslösern und angeborenen artspezifischen Instinktbewegungen. An ihre Stelle ist das Handeln getreten, dessen Motivationen auch dort, wo sie durch Vermittlungen hindurch auf biologische Selbstbehauptung abzielen, von der Gesellschaft angezogen und im tätig-praktischen Umgang mit den Dingen der Welt erworben sind. Da nun bei Menschen kein einziger Auslöser eine artspezifische Instinktreaktion hervorruft, sind ihm – im Unterschied zu den Tieren, die mit ihren Wahrnehmungen auf den engen Umkreis des für sie vital Bedeutsamen eingeschränkt bleiben – die ästhetischen Reize aller überhaupt möglichen Auslöser zugänglich. Ferner folgt aus diesem Fehlen eines undurchbrechbaren, weil biologisch festgelegten Instinktrepertoires die unabsehbare, unerschöpfliche Veränderlichkeit und Formbarkeit der ästhetischen Empfindungen des Menschen. Grundsätzlich können ihn Glasmurmeln und gotische Dome, Feldblumensträuße und impressionistische Bilder, kolorierte Ansichtspostkarten und Fugen von Bach, der Kopfputz von Indianerhäuptlingen und die Aphrodite von Melos, Jazz-Rythmen und Wagner-Arien gleichermaßen entzücken – oder auch nicht, je nachdem, in welche Richtung der Geschmacksentwicklung ihn die (nie ganz homogene) gesellschaftliche Umwelt seines Landes, seiner Zeit gedrängt hat. Das Fehlen fest »montierter«, bestimmten Auslösern naturgesetzlich zugeordneter Instinktbewegungen, das Bestehen unsicherer, formbarer und formierungsbedürftiger Instinktreste an ihrer Stelle ist mithin die anthropologische Bedingung für die Veränderung des Geschmacks im Leben der Einzelnen, wie namentlich in der Geschichte der Völker, Klassen, Gesellschaftsordnungen usf. (Wohlgemerkt: Es ist Bedingung, im Sinne der conditio sine qua non, nicht etwa positive Ursache dieser Veränderung!) Angeboren ist dem Menschen jeweils nur ein ästhetisches Aufgeschlossensein für »generell Unwahrscheinliches« überhaupt (das sich zum Beispiel beim Kleinkind im Interesse an Knöpfen äußert, beim Primitiven im Wohlgefallen an buntem Glas, bei fast allen Menschen in der Bevorzugung des rechten Winkels, der unmöglich spontan als Abweichung von einem Winkel von 88 Grad empfunden werden kann.) Die bestimmte geschmackliche Formung dieser ursprünglichen ästhetischen Disposition ist im Moment des Geborenwerdens ganz und gar nicht ausgemacht, sie wird im Laufe des Lebens erworben und kann in ihrem besonderen Inhalt jeweils nur von den gesellschaftlichen Zusammenhängen und Entwicklungsprozessen her erklärt werden.
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Diese Zusammenhänge und Prozesse objektivieren sich nun unter anderem in künstlerischer Produktion. Denn der Mensch hat die Fähigkeit, selbst das Schöne herzustellen, und er tut dies im Erschaffen von Kunstwerken – von der Verzierung seiner Gebrauchsgegenstände mit primitiven Ornamenten (Schnur- und Bandkeramik der Jungsteinzeit) bis zum Dichten von Sonetten und Elegien, bis zum Komponieren von Streichquartetten. Als Kunstschöpfer arbeitet er in unabsehbarer, nie abgeschlossener Mannigfaltigkeit immer neue Formen und Gestaltungen des Schönen heraus, durch deren Anschauungen er wiederum in sich selbst immer neue Tiefen des ästhetischen Empfindens erschließt, immer neue Bedürfnisse nach Schönheit entwickelt. Dabei spiegeln die Kunstschöpfungen – sei es direkt, wie in den darstellenden Künsten, sei es vermittelt, wie in der Musik und der Ornamentik – in je spezifischer Weise die Realität wider. Die Folge ist, dass sich im Erleben von Kunstwerken das ästhetische Entzücken mit einer besonderen Art von Erkenntnis zu einer wiederum neuen Qualität des Schönheitsempfindens zusammenschließt. Durch die Widerspiegelung der Realität im Kunstwerk wird also der ästhetische Genuss, der von einer Instinktbewegung abstammt und im Vitalen verwurzelt ist, ins Geistige erhoben. Auf seiner geistigen, d. h. eigentlich menschlichen Stufe wird er genussvolles Erkennen, erkennender Genuss. Zu alledem kommt hinzu, dass es keine vollständige Trennung der Kunst von den anderen Bereichen des Lebens gibt. Gerade die Widerspiegelungsfunktion verknüpft sie allseitig mit den Interessen und Tendenzen des menschlichen Daseins. Die Kunst gibt den magischen Riten der Primitiven das Gepräge, sie geht in den Rausch von Kulttänzen ein, sie erscheint als Zierrat an Häusern und Geräten, sie gibt den Gefühlen der Liebenden Ausdruck, sie baut der religiösen Andacht Tempel und Kirchen, dient der Prestigeprätention italienischer Renaissancefürsten und holländischer Kaufherren, stilisiert den Geist eines strengen Asketismus und das Pathos der Weltlust, ist Waffe im Kampf der Klassen, Mittel der Versinnlichung von Ideen und moralischen Werten. In ihr offenbaren sich alle Leiden und Freuden der Menschen, ihre Hochgefühle und ihre Verzweiflung, ihre Leidenschaften, Hoffnungen und Einsichten. Sinnenlust und Heroismus, Apotheose und Anklage, Schwelgerei der Herrschenden und Aufschrei der Unterdrückten werden durch sie in gemeißeltem Stein, in leuchtenden Farben, Klängen und Farben, in Versen und Erzählungen festgebannt.
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Diese Ausbreitung der Kunst über die Gesamtheit der Erscheinungen menschlichen Lebens bedeutet, dass sich alle Motivationen auch im ästhetischen Genuss formieren, rückempfinden und ihrer selbst bewusst werden können. So ist der Kunstgenuss eine Form der Vermittlung menschlicher Antriebe und Zielbildungen mit sich selbst. Die Kunst reproduziert in der Gesellschaft das epochale Lebensgefühl und den Geschmack, die sie auf der bestimmten historischen Stufe ihrer Entwicklung je hervorgebracht haben. Sie erzieht zu den Ideen und ethischen Haltungen, die in ihr veranschaulicht sind. Sie trägt in die Gefühle der Liebenden elegische Trauer und jauchzenden Überschwang hinein – dieselbe Trauer, denselben Überschwang, die in den Elegien und Hymnen ihren ästhetischen Ausdruck suchten. Sie verleiht den Ideen ihr Pathos, ihre mitreißende Kraft – dasselbe Pathos, zu dem die Kraft der Ideen hindrängte. Sie gibt die komischen Erscheinungen der Gesellschaft dem öffentlichen Gelächter preis – demselben Gelächter, das sie, mitsamt seinem Anlass aus der Öffentlichkeit empfangen und in einer Figur, einer Situation auf die Spitze getrieben hat. In diesen Prozess, in dem die Wirkungen immer wieder in Bedingungen ihre Ursache umschlagen (wobei freilich das Ganze unausgesetzt eine Mannigfaltigkeit neuer Gestaltungen durchläuft, sich bewegt, sich entwickelt), ist der ästhetisch Genießende eingeschlossen: Seine Antriebe und Motive formieren sich im Erlebnis ihres künstlerisch geformten Ausdrucks, sie werden dadurch »gebildet« – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne –, dass sie durch das Anschauen antiker und mittelalterlicher Plastiken, durch das Lesen von Gedichten Goethes, Hölderlins und Heines, durch das Anhören Bachscher Fugen und Beethovenscher Symphonien hindurch gehen. Sie können freilich auch hindurch gehen durch Marlitt-Romane, Melodien von Lincke, Militärmärsche, Foxtrott-Rythmen oder unsägliche Reise-Souvenirs – und fallen dann dementsprechend aus. Arbeit und Menschwerdung Für den marxistisch Geschulten ist es nicht allzu schwer, den qualitativen Sprung, der diese Besonderheiten unseres ästhetischen Empfindens vom tierischen Reagieren auf Auslöser scheidet, mit der Lehre von Friedrich Engels in Beziehung zu bringen, dass der Mensch sich durch die Arbeit selbst geschaffen hat. Dass die Rolle des Ästhetischen im menschlichen Leben die Arbeit voraussetzt, ist aus den letzten Bemerkungen des vorigen Abschnitts ohne weiteres ersichtlich: Unzweifel-
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haft ist das Hervorbringen des Schönen im Kunstwerk eine besondere Form der Arbeit und wie diese gekennzeichnet durch ideelle Antizipation des Resultats im Bewusstsein, durch Kombination einer Fülle von Handlungen unter dem Gesichtspunkt eines einheitlichen Zwecks, durch Veränderung und Umgestaltung eines gegebenen Stoffs, durch tätiges Überwinden von Widerständen, sowie durch ein Anpassen des Könnens an die Eigengesetzlichkeit des Arbeitsgegenstandes, die gerade dadurch beherrscht und menschlicher Zielsetzung unterworfen wird. Namentlich kann die Widerspiegelung der Realität im Kunstwerk nur durch Arbeitsvorgänge – Vorgänge des Darstellens und Abbildens – hervorgebracht werden. Auch muss alles Außerästhetische, das im Kunstwerk »zum Ausdruck kommt«, durch die Arbeit des Künstlers hindurchgegangen sein. Dass schließlich der Begriff des Erfindens die Phantasieproduktion im künstlerischen Schaffensprozess so treffend bezeichnet wie den technischen Einfall, ist gewiss nichts Zufälliges. Um also Künstler sein zu können, muss der Mensch allererst Homo Faber sein, und nur als solcher bringt er Objekte hervor, in deren Genuss sich ästhetischer Sinn entwickeln, durch Erkenntnis vergeistigen, mit ideellen Motivationen durchdringen und über die Gesamtheit menschlicher Antriebe ausbreiten kann. Der Mensch hat also nicht nur die Kunst, sondern mit ihr zugleich seinen Kunstgenuss und sich selbst als Kunstgenießenden durch die Arbeit geschaffen. In Parenthese sei hier bemerkt, dass das Naturschöne durch das Vorhandenseins von Kunst selbstverständlich nicht aufhört, beglückend zu wirken. Es tritt zwar, da es nicht durch die Widerspiegelungsfunktion überdeterminiert sein kann, im Umkreis des menschlichen Lebens an Bedeutung hinter dem Kunstschönen zurück, wird aber andererseits durch den am Kunstschönen gebildeten ästhetischen Sinn in immer weiterem Umfange erst neu entdeckt. Das Schöne in den faltigen Antlitzen alter Menschen zu bemerken, haben uns die Maler gelehrt, und Heine hat mit seinen Nordsee-Gedichten allererst die Schönheit des Meeres erschlossen. Indessen scheint es, wenn auch die Bildung des ästhetischen Sinnes durch das Kunsterlebnis auf den Homo Faber als Bedingung verweist, doch viel schwieriger zu sein, jene Besonderheiten menschlichen Schönheitsempfindens, die am Anfang des vorigen Abschnittes hervorgehoben und der tierischen Reaktion auf Auslöser entgegengesetzt wurden, zu erklären und auch sie mit der Arbeit in Beziehung zu bringen. Die Aus-
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führungen hierüber laufen alle auf ein einziges, anscheinend rätselhaftes Phänomen hinaus: Auf die Eigenart der menschlichen Instinktstruktur im Unterschied zur tierischen. Aber gerade hier erweist sich die Einsicht von Engels als ungemein fruchtbar und weittragend. Sie ist bisher nur noch nicht in Bezug auf diese Frage durchdacht worden. Es lässt sich jedoch zeigen, dass der Mensch durch die Arbeit auch die qualitative Besonderheit seiner eigenen Antriebe geschaffen hat. Dies ergibt sich zunächst aus der einfachen Überlegung, dass in der Produktion der eigenen Lebensbedingungen durch Arbeit (genauer: durch Herstellung und Benutzung von Werkzeugen) eine qualitativ neue, nicht mehr natürliche Umwelt geschaffen wird, in der nun ein Lebewesen existieren, sich fortpflanzen und sich phylogenetisch entwickeln kann, das biologisch unangepasste Eigenschaften auszubilden und zu vererben vermag, ohne ausgemerzt zu werden. Die Konsequenzen sind allgemein bekannt: Wir erwähnen hier nur, dass der Mensch in keiner einzigen natürlichen Umwelt existieren könnte, dass er wohl aber in jeder beliebigen Umwelt – vom Äquator bis zum Polarkreis, auf den Wellen des Meeres und unter der Erde – zu leben vermag, falls er dorthin ein Minimum seiner selbst produzierten Kulturumwelt »mitnimmt« oder es dort aufbaut. In diesen Zusammenhang gehören die enorme Schutzbedürftigkeit der heranwachsenden Menschen, die Retardationsphänomene der menschlichen Embryonalentwicklung, die Organprimitivismen (ungeschützte Haut, verkümmerte Molaren), sowie überhaupt die biologische Unspezialisiertheit des menschlichen Organismus. Das Zurücktreten der instinktiven Antriebe ist nur ein Aspekt der qualitativen Besonderheit der menschlichen Natur, die sich im Ganzen unter nicht mehr natürlichen, sondern künstlichen, durch Arbeit produzierten Lebensbedingungen entwickelt hat. Doch der Übergang zur Lebensfristung durch Arbeit hat noch eine andere Seite: Auch der einfachste menschliche Arbeitsvorgang impliziert wenigstens ein Minimum an vitaler Askese, nämlich »Treue« zum antizipierten Resultat, »Vertagung« unmittelbarer Bedürfnisse, »Durchhalten« des einmal Begonnen; denn »außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten«, sagt Karl Marx, »ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eigenen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den
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Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte genießt«.32 (Das Kapital, I, 5/1) Ein solches Verhalten ist eo ipso untierisch, und zwar nicht nur, weil es einen zweckmäßigen Willen und einen gegenüber den Anthropoiden qualitativ gesteigerten Ausbau der Intelligenzleistungen voraussetzt, sondern auch deswegen, weil es nur durch Zurückdrängung der instinktiven Antriebe durchgesetzt werden kann. Alle höheren Tiere bauen ihre Intelligenzleistungen nur im unmittelbaren Anziehungsfeld der Beute auf; der Mensch schaltet zwischen das Bedürfnis und dessen Befriedigung eine prinzipiell unabsehbare Mannigfaltigkeit vermittelnder Handlungen, die alle selbst zum Zweck werden müssen, wenn sie ihre Funktion als Mittel erfüllen sollen, die aber nur unter der Voraussetzung, dass kein biologischer Triebdruck sie stört, zum Zweck werden können. Wenn der Mensch also durch die Arbeit sich selbst geschaffen hat, so hat er sich durch Leistungen geschaffen, die in dem Maße, wie sie »nach außen« die Welt veränderten, gleichzeitig »nach innen« den Druck und Zwang der Instinkte abbauten und so die Entwicklung einer qualitativ neuen, spezifisch menschlichen, d. h. nicht-biologischen Antriebsstruktur erzwangen. Nur so konnte ein Wesen entstehen, dessen Aktionen von bewussten Zielsetzungen her determiniert sind. Nur so war aber auch die Ausbildung eines spezifisch menschlichen Erkenntnisvermögens möglich. Zwar hat die Zurückdrängung der instinktiven Antriebe einen Verlust zur Folge: Dem Menschen fehlt gänzlich jene angeborene zwangsläufige Sicherheit der Lebensorientierung, die allen Tieren auf Grund ihrer angepassten Organausstattung und des Mechanismus ihrer unbedingten Reflexe eigen ist. Aber dieser Verlust enthält nicht nur den Zwang zu seiner eigenen Kompensation durch qualitativ neue Mittel der Weltorientierung und Lebensfristung, sondern er ist selbst auch die Bedingung dieses Neuen: Nur ein Wesen, das so spezifisch untierisch reagiert wie der Mensch, das nicht beim Gewahrwerden eines jeden vital bedeutsamen Objekts zu einer biologisch festgelegten Reaktionsbewegung gezwungen ist, kann jene Distanz zu den Objekten gewinnen, die die Voraussetzung wirklicher Erkenntnis ist. Und wirkliche Erkenntnis bemerkt dann mehr als nur das vital Bedeutsame, sie ist aufgeschlossen für das Ansichsein der ganzen Realität, was wiederum dem Ausbau der 32
(AH) Das Zitat ausführlicher in anderen Texten dieses Bandes. Dort auch weitere argumentative Interpretationen dieser Stelle.
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Arbeitsleistungen, nämlich dem Ausfindigmachen neuer Mittel, Wege und Umwege zustatten kommt. Einzelne Aspekte dieses qualitativen Novums des Menschen sind lange gesehen worden. Der Mythos von der Menschwerdung in Platons Protagoras erzählt, dass Prometheus den Menschen die Kunstfertigkeit des Hephästos und der Athene samt dem Feuer zum Ausgleich für die Mängel ihrer Organausstattung geschenkt habe, nachdem Epimetheus alle natürlichen Fähigkeiten »für die Tiere aufgebraucht« hatte. Bei Thomas von Aquin heißt es: »Die geistige Seele hat, da sie das Universum zu fassen vermag, die Kraft zum Unendlichen. Und daher konnte es nicht sein, dass ihr von der Natur eindeutig bestimmte, instinkthafte Meinungen festgesetzt würden, (…) vielmehr besitzt der Mensch an Stelle all dieser Dinge von Natur die Vernunft und die Hände, welche die Werkzeuge der Werkzeuge sind.« La Mettrie sagt in L’Homme machine: »Trotz aller Vorrechte, welche der Mensch den Tieren voraus hat, erweist man ihm doch eine Ehre, wenn man ihn in die selbe Klasse einreiht. Tatsächlich ist er bis zu einem gewissen Alter mehr Tier als sie, weil er bei seiner Geburt weniger Instinkt mitbringt als sie. Welches Tier würde neben einem Milchstrom Hungers sterben? Nur der Mensch. (…) Er kennt weder die Nahrungsmittel, die sich für ihn eignen, noch das Wasser, das ihn ertränken, noch das Feuer, das ihn zu Asche verbrennen kann. (…) Die Natur hat uns also geschaffen, um unter den Tieren zu stehen, oder wenigstens, um gerade dadurch die Wunder der Erziehung, die uns allein aus ihrem Niveau empor zieht, um so auffälliger hervorstechen zu lassen.« Ähnlich sagt Herder in seiner Schrift Über den Ursprung der Sprache: »Als ein nacktes, instinktloses Tier betrachtet, ist der Mensch das elendste der Wesen. Da ist kein dunkler angeborener Trieb, der ihn in sein Element und in seinen Wirkungskreis zu seinem Unterhalt und an sein Geschäfte ziehe; kein Geruch und keine Wirkung, die ihn auf die Kräuter hinreiße, damit er seinen Hunger stille; kein blinder, mechanischer Lehrmeister, der für ihn sein Nest baue. (…) Doch so lebhaft dies Bild ausgemalt werde, so ist’s nicht das Bild des Menschen; es ist nur eine Seite seiner Oberfläche. (…) Wenn Verstand und Besonnenheit die Naturgabe seiner Gattung ist, so musste diese sich sogleich äußern, da sich die schwächere Sinnlichkeit und all das Klägliche seiner Entbehrungen äußerte. Das instinktlose, elende Geschöpf, das so verlassen aus den Händen der Natur kam, war auch vom ersten Augenblicke an das frei tätige, vernünftige Ge-
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schöpf, das sich selbst helfen sollte und nicht anders als konnte. Alle Mängel und Bedürfnisse als Tier waren dringende Anlässe, sich mit allen Kräften als Mensch zu zeigen.« Und schließlich Kant, in der Schrift Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht: Der Mensch »sollte (…) alles aus sich selbst heraus bringen. Die Erfindung seiner Nahrungsmittel, seiner Bedeckung, seiner äußeren Sicherheit und Verteidigung (wozu sie (die Natur, WH) ihm weder die Hörner des Stiers noch die Klauen des Löwen, noch das Gebiss des Hundes, sondern bloß Hände gab), alle Ergötzlichkeit, die das Leben angenehm machen kann, selbst seine Einsicht und Klugheit und sogar die Gutartigkeit seines Willens sollten gänzlich sein eigenes Werk sein. Sie scheint sich hier in ihrer größten Sparsamkeit selbst gefallen zu haben, und ihre tierische Ausstattung so knapp, so genau auf das höchste Bedürfnis einer anfänglichen Existenz abgemessen zu haben, als wolle sie: der Mensch sollte, wenn er sich aus der größten Rohigkeit dereinst zur größten Geschicklichkeit, innerer Vollkommenheit der Denkungsart und – so viel es auf Erden möglich ist – dadurch zur Glückseligkeit emporgearbeitet haben würde, hiervon das Verdienst ganz allein haben und es sich selber nur verdanken dürfen.« In all diesen Äußerungen sind die Erscheinungen des organischen Mangels der Instinktarmut und des Ausgleichs dieser Schwächen durch eine neue Weise der Lebensfristung (sie mag auf Vernunft, Besonnenheit, Erziehung oder was auch immer zurückgeführt werden) treffend angegeben. Aber es ist eines, ein Phänomen zu sehen und zu beschreiben, und ein anderes, es ursächlich zu erklären. Erst Engels in seiner Theorie vom Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen füllt hier die Lücke, die Platon und Thomas, La Mettrie, Herder und Kant gleichermaßen offen gelassen haben, indem er den qualitativen Sprung der Menschwerdung mit allen seinen historisch-sozialen und anthropologischen Konsequenzen aus dem Zentrum eines einzigen Moments her begreifbar macht. Entlastung und Instinktreduktion Das Phänomen der Zurückdrängung der Instinkte hat mit besonderer Gründlichkeit Arnold Gehlen in seinem anthropologischen Hauptwerk (Der Mensch etc.) behandelt. Von hier aus ist ihm die Bedeutung der Lorenzschen Forschungsergebnisse für die Grundlegung der psychologischen Seite der Ästhetik aufgegangen.
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Gehlen kennt die Arbeit von Engels nicht, wie er überhaupt vom Marxismus nicht Notiz nimmt. Das hat zur Folge, dass ihm in entscheidenden Fragen schwerwiegende Irrtümer unterlaufen. Da er sich zum Beispiel nicht erklären kann, wie es möglich ist, dass ein biologisch so unspezialisiertes Lebewesen wie der Mensch von einem so hochspezialisierten wie dem Anthropoiden abstammt, steht er den anthropogenetischen Problemen mit einem agnostizistischen Achselzucken gegenüber. Dabei polemisiert er mitunter geistreich und treffend gegen die Konstruktionen, zu denen die metaphysischen Anhänger Darwins gezwungen sind, wenn sie – ebenfalls in Unkenntnis der Engelsschen Schrift – die Besonderheiten des Menschen unmittelbar aus der Selektion abzuleiten versuchen. Diesen Konstruktionen weiß Gehlen aber selbst nur eine resignierte Skepsis entgegenzusetzen, wobei er sich vor allem auf die unhaltbare antidarwinistische Hypothese von Bolk beruft. Wo er gar die Grenzen seines Faches überschreitet und gesellschaftliche Zusammenhänge ins Auge fasst, für die der historische Materialismus zuständig ist, erliegt er meist völlig den obskuren Tendenzen der bürgerlichen Philosophie (so zum Beispiel in seiner Theorie der »obersten Führungssysteme«). Das ändert aber alles nichts daran, dass die Deskriptionen Gehlens und seine konkreten Analysen überall dort von außerordentlichem Wert sind, wo sie sich auf die neue Qualität des Menschen rein als solche beziehen und deren Wesenszüge allgemeingültig herauszuarbeiten suchen. Gehlen ist der erste, der die Besonderheit der Organausstattung des Menschen, seines Instinktlebens, seiner Sprach- und Denkleistungen, seiner Erkenntnisfähigkeit usw. als ein Ganzes sich wechselseitig bedingender, aufeinander verweisender Momente untersucht hat. Die überraschenden Ergebnisse, zu denen er dabei gelangt ist, und die den »getrennt marschierenden« Humanwissenschaften wie der Medizin, der biologisch orientierten Anthropologie, der Psychologie, Sprachwissenschaft usw. verborgen bleiben mussten, bestätigen die Engelssche Theorie voll und ganz und stellen faktisch einen wichtigen Beitrag zu ihrer Konkretisierung dar. Gehlen kämpft in seiner Anthropologie gegen drei Gegner: Erstens gegen die Rassentheorie, die den Hinweis auf differenzierende äußere, körperliche Merkmale für einen Einwand gegen das Bestehen allgemeiner Wesenszüge des Menschen hält; zweitens gegen alle Theorien, die den Menschen als Trieb- und Instinktwesen fassen (von Schopenhauer bis zur Psychoanalyse); drittens gegen die idealistische Geistmetaphysik, die die Bewusstseinsvorgänge verselbständigt und substanzialisiert und nur in ihnen das qualitative Novum der menschlichen Natur erblickt. Gleichfalls verfällt das ontologische Schichtungsschema der Ablehnung, das die beiden letzteren Anschauungen eklektisch
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verbindet und mit seinen Kategorien »Organismus«, »Seele«, »Geist« das umgreifende, einheitlich »durchlaufende« Strukturgesetz des Menschen unfassbar macht. Der Mensch wird von Gehlen in seiner physisch-geistigen Totalität als das handelnde, praktische Wesen interpretiert. Alle seine Besonderheiten werden dabei auf breitester erfahrungswissenschaftlicher Grundlage auf ein Zentrum bezogen: Auf die Handlung. So gelingt es, angefangen von den generellen anatomischen und physiologischen Merkmalen über den aufrechten Gang und die besonderen Gesetze des menschlichen Trieblebens bis hin zur Sinneswahrnehmung und zum Denken (das in seiner untrennbaren Einheit mit der Sprache erkannt wird), eine durchlaufende Gesetzmäßigkeit herauszuarbeiten, die nicht nur in ihren geistigen Äußerungen, sondern als Ganzes spezifisch menschlich ist. Der Mensch ist für Gehlen vermöge des Handelns – »Gegenbegriff zum Tier«. Das Verhalten der Tiere zeigt, dass sie alle – »vom Regenwurm bis zum Schimpansen« – in die Natur eingebunden und in ihren Aktionen durch Triebe bestimmt sind. Im Gegensatz dazu gewinnt der Mensch im Handeln Distanz zur Natur; sein Verhalten ist nicht festgelegt. Begründet liegt der Unterschied tierischen Verhaltens und menschlicher Handlung in einer unterschiedlichen Lebensausstattung. Gehlen weist dies in ausführlicher Untersuchung der morphologisch-konstitutionellen, sinnes-psychischen und triebmäßigen Erscheinungen nach und gelangt so zur Gegenüberstellung einer biologisch spezialisierten, umweltangepassten Organausstattung auf der einen und einer unspezialisierten, »weltoffenen« Mängelausstattung auf der anderen Seite. Der Mensch ist, vom Tier her gesehen, »Mängelwesen«; als solches findet er das Leben als Aufgabe vor und ist gezwungen, seine Mängel in Chancen seiner Lebensfristung umzuarbeiten – durch das Handeln, das Arbeit, Praxis, Voraussicht, Naturbeherrschung usw. einschließt. »In allen Handlungen des Menschen«, schreibt Gehlen, »geschieht ein Doppeltes; er bewältigt tätig die Wirklichkeit um ihn herum, indem er sie ins Lebensdienliche verändert, weil es eben natürliche, von selbst angepasste Existenzbedingungen außer ihm nicht gibt, oder weil die natürlichen, unangepassten Lebensbedingungen ihm unerträglich sind. Und, von der anderen Seite gesehen, holt er damit aus sich eine sehr komplizierte Hierarchie von Leistungen heraus, ›stellt‹ in sich selbst eine Aufbauordnung des Könnens ›fest‹, die in ihm bloß der Möglichkeit nach liegt, und die er durchaus eigentätig, auch gegen innere Belastungen handelnd, aus sich heraus zu züchten hat. D. h., der Inbegriff menschlicher Fähigkeiten, von den elementarsten bis zu den höchs-
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ten, wird von ihm in Auseinandersetzung mit der Welt erst eigentätig entwickelt, und zwar in der Richtung eines Führungs- und Unterordnungssystems von Leistungen, in denen die wirkliche Lebensfähigkeit erst nach langer Zeit erreicht wird. Eben diese Eigenart menschlichen Verhaltens setzt eine Antriebsstruktur voraus, die sich von der der Tiere nicht graduell, sondern qualitativ unterscheidet: » Das Antriebsleben (…) muss vor allem orientierbar sein, d. h. nicht nur bestimmte, lebensnotwendige Bedürfnisse enthalten, sondern auch die oft sehr bedingten Umstände ihrer Befriedigung, mit denen, weil diese ja selbst wechseln, es mitvariieren muss. Inhaltliche Vorstellungen, Phantasmen der Erfüllung und ihrer Sachgesetze müssen diese Orientierung gewährleisten. Die Verschiebbarkeit ist daher entscheidend wichtig, und sie muss so weit gehen, dass auch noch die bedingtesten und umständlichsten Handlungen – zum Beispiel die Vorbereitung zur Herstellung von Mitteln – ein Antriebsinteresse haben können, andernfalls man sie unterlassen oder unzuverlässig verrichten würde. Der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Antriebsstruktur ist daher die Handlung. Die oft bemerkte und beklagte Instinktlosigkeit des Menschen hat mithin seine positive Kehrseite. (…) Zwischen die elementaren Bedürfnisse und ihre äußeren, nach unvorhersehbaren und zufälligen Bedingungen wechselnden Erfüllungen ist eingeschaltet das ganze System der Weltorientierung und Handlung, also die Zwischenwelt der bewussten Praxis und Sacherfahrung, die über Hand, Auge, Tastsinn und Sprache läuft. Eben darin miteinander verknüpft, schiebt sich schließlich der gesamte soziale Zusammenhang zwischen die first-hand-Bedürfnisse des Einzelnen und deren Erfüllung. Es ist nun dieselbe Instinktreduktion, die auf der einen Seite den direkten Automatismus abbaut (…) und auf der anderen Seite ein neues, vom Instinktdruck entlastetes System von Verhaltensweisen in Freiheit setzt. (…) Der ›Handlungskreis‹, d. h. die Zusammenarbeit der Handlung, der Wahrnehmung, des Denkens usw. an einem zu verändernden Sachverhalt, kann, da entlastet, weitgehend auf sich selbst gestellt werden und seine Motive und Ziele aus sich selbst entwickeln. Er ist genötigt, dem Gesetz und dem Antwortverhalten der Tatsachen zu folgen, sich darauf einzulassen, ihnen nachzugehen und sie auszubauen. Diese Sachlichkeit des Verhaltens (…) erfordert auf der anderen Seite die Hemmbarkeit der Bedürfnisse: Es müssen diese eingeklammert oder aufgeschoben, an kurzschlüssiger Störung der Erfindung oder Orientierung gehindert werden können, gerade wenn diese Tätigkeit, ganz den Eigengesetzen des Sachumgangs hingegeben, künftigen Bedürfnissen dienen soll. Diese Fähigkeit, die Antriebe bei sich zu behalten, das einsichtige Verhalten unabhängig von ihnen zu variieren, legt überhaupt ein ›Inneres‹ erst bloß, und dieser Hiatus ist, genau
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gesehen, die vitale Basis des Phänomens Seele. (…) Die Hemmbarkeit des Antriebslebens, seine Besetzbarkeit mit Bildern und die Verschiebbarkeit oder Plastizität sind also Seiten desselben Tatbestandes, und in gewöhnlicher Rede nennen wir ›Seele‹ zunächst die Schicht der in Bildern und Vorstellungen sich meldenden Antriebe, bewussten Bedürfnisse und orientierten Interessen.« Eine wichtige Rolle spielt im Zusammenhang dieser Ausführungen die Kategorie »Entlastung«. »Dieses Prinzip bildet den Schlüssel zum Verständnis des Strukturgesetzes im Aufbau der gesamten menschlichen Leistungen. (…) Der Grundgedanke ist der, dass die sämtlichen ›Mängel‹ der menschlichen Konstitution, welche unter natürlichen, sozusagen tierischen Bedingungen eine höchste Belastung seiner Lebensfähigkeit darstellen, vom Menschen selbsttätig und handelnd gerade zu Mitteln seiner Existenz gemacht werden, worin die Bestimmung des Menschen zur Handlung und seine unvergleichliche Sonderstellung zuerst beruhen. Die Akte, in denen der Mensch die Aufgabe, sein Leben möglich zu machen, durchsetzt, sind daher immer von zwei Seiten zu sehen: Es sind produktive Akte der Bewältigung der Mängelbelastung – Entlastungen – und, von der anderen Seite gesehen, vom Menschen aus sich selbst hervorgeholt und, vom Tier her gesehen, ganz neuartige Mittel der Lebensführung.« Zur »Entlastung« gehört auch die »fortschreitende Indirektheit des menschlichen Verhaltens«. »Zwischen die Handlung und deren Ziel werden Mittelglieder eingeschoben, die ihrerseits Gegenstand eines abgeleiteten und umwegigen Interesses werden, und nicht den zufälligen Gebrauch eines vor Augen liegenden Werkzeugs für nächste Zwecke, sondern die Herstellung eines Werkzeugs für einen fernen Zweck halten wir für menschliches Tun.« Damit nun »die niederen Funktionen zu geführten und eingesetzten werden können, müssen die höheren gewisse Leistungen übernehmen, die jenen ursprünglich zukamen, vor allem die der Variation und Kombination, aber sie tun dies in einer uneigentlichen, andeutenden, mehr symbolischen Form. Sie sind also bewusst. (…) Das einfachste Beispiel ist ein Bewegungsentwurf. Die Bewegungen der Arme und Hände sind zuerst noch mit den Aufgaben der Ortsbewegung belastet und verlieren diese mit der Aufrichtnung. In der Fülle der Spiel-, Umgangs-, Tast- und Greifbewegungen haben sie einen großen Vorrat von Kombinationen und Variationen durchgespielt, in direktem Kontakt an den Sachen selbst. Das heißt aber: Sie haben keine Handlung im eigentlichen Sinn, keine vorausgeplante Arbeit geleistet. Erst wenn ein Entwurfsfeld der Phantasie entwickelt ist, können vorstellend, in einer nur angedeuteten Bewegungs- und Situationsphantasie alle Variationen und Kombinationen neu
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entworfen werden, und die reale Bewegung wird selbst zur geführten, zur einsetzbaren Arbeitsbewegung. Die Aufgaben der Bewegungsvariation und -zuordnung, mit deren Durchbuchstabieren das kleine Kind Jahre ausfüllt, werden also später von der virtuellen Bewegung übernommen, die reale Bewegung wird auf einfachem Wege geführt und kann zum Teil automatisieren. (…) In diesem Sinne bedeutet Entlastung: Dass die Schwerpunktbildung im menschlichen Verhalten zunehmend in die ›höchsten‹, nämlich die mühelosesten, nur andeutenden Funktionen fällt, also in die bewussten oder geistigen (…).« Gehlen verfolgt diesen Entlastungsvorgang in seinen Untersuchungen bis in den von Pawlow entdeckte bedingten Reflex hinein, bei dem sich die »Basisfunktion der Gewohnheitsbildung« zeigt, und weist andererseits darauf hin, dass jede Gesellschaft, zum Beispiel durch Vorratsbildung, »für eine einigermaßen regelmäßige und habituelle Dauererfüllung der elementaren biologischen Bedürfnisse sorgt«, worin ebenfalls, wenngleich auf anderer Stufe, ein Moment der Entlastung steckt. Durch die habituelle Dauererfüllung des Nahrungsbedürfnisses werden zum Beispiel »die nicht in der Großproduktion arbeitsteilig Befassten (…) in allen ihren höheren intellektuellen und praktischen Funktionen frei für Verhaltensweisen, die man ohne Sophistik nicht mehr als ›Appetenzverhalten‹ bezeichnen kann, indem sie zum Beispiel Dinge herstellen, die nutzlos oder schön sind, oder indem sie sich dem Ausbau, der Differenzierung, der Bereicherung der Handwerke, Künste und Riten hingeben.« Eine Entlastungsfunktion kommt endlich auch der Sprache zu. Im gesellschaftlichen Leben ermöglicht die Sprache Verständigung ohne demonstrierende Aktionen (Vormachen, Zeigen), und zugleich hat sie für jedes Individuum den »Wert einer gesamtmotorisch entlastenden Reaktion (…). Durch den Laut hat man bereits auf die Dinge geantwortet, die Handlung selbst behält man zurück: Entscheidend wichtig für alles höhere Verhalten, in dem die Handlung erst gesteuert und gezielt eingesetzt wird, wenn das vorgeschickte Denken einen Sachverhalt festgestellt hat. Die Entlastung von der Unmittelbarkeit der Situation, im rein sprachlichen Bewältigen derselben und im Zurückbehalten der Handlung, macht es dann möglich, auf Grund bloß ›vorgestellter‹, in der Sprache situationsfrei ›vergegenwärtigter‹ Lagen Handlungen anzusetzen.« Da nun weiter der Mensch mittels der frei verfügbaren und beliebig wiederholbaren Wörter und der von ihnen getragenen Gedanken »eine Welt symbolischer Gegenwart der Dinge um sich spinnt, auch ohne deren reale Anwesenheit«, wird »die immer schon
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angelegte Entlastung vom Druck der gerade so beschaffenen Gegenwart durch die Sprache zur Sprengung der Gegenwart überhaupt. Der Mensch wird vorstellendes Wesen in beliebig ›vergegenwärtigten‹ Welten, und Zeit und Raum, Zukunft und Ferne tun sich um ihn auf.« Alle diese Entlastungsvorgänge sind nun durch den Instinktmangel lebensnotwendig geworden; schon die »Überflutung« des Bewusstseins mit Reizen und Wahrnehmungen, die keine angeborene Signalfunktion haben, stellt zum Beispiel eine Belastung dar, die in besonderen Akten bewältigt werden muss. Gleichzeitig hat – umgekehrt – die ganze Hierarchie komplizierter, hochdifferenzierter Leistungen, die sich in der Entlastung und durch sie entfalten, den (damit selber entlastenden) Abbau des instinkthaften Dranges und Triebdrucks zur Voraussetzung. Die Indirektheit und Umwegigkeit des menschlichen Verhaltens, die Automatisierung erlangter Bewegungen, das Reservoir der Gewohnheiten, die sprachlich-gedankliche Vergegenwärtigung des nicht unmittelbar Gegebenen usw. – das alles könnte dem Druck tierischer Instinkte und dem damit notwendig verbundenen Gefangensein im Unmittelbaren niemals standhalten. Die menschliche Instinktschwäche ist also nach Gehlen nicht nur ein Mangel, sondern sie ist zugleich etwas eminent Positives, und zwar in doppeltem Sinne: Als Mangel, der zur Kompensation durch Ausbildung höherer Fähigkeit zwingt, und als offener Raum, der die freie Entfaltung eben dieser Fähigkeiten ermöglicht. So ergibt sich ein Bild vom Menschen, das der obskurantistischen Konzeption eines Klages, der Theorie vom »Geist als Widersacher der Seele«, diametral entgegengesetzt ist. Gehlen beruft sich auf Herder als seinen Vorläufer, und schon dieser hatte, gegen Rousseau polemisierend, gesagt: »Alle Mängel und Bedürfnisse als Tier waren dringende Anlässe, sich mit allen Kräften als Mensch zu zeigen; so wie diese Kräfte der Menschheit nicht etwa bloß schwache Schadloshaltungen gegen die ihm versagten größeren Tiervollkommenheiten waren, wie eine neuere Philosophie, die große Gönnerin der Tiere, will, sondern sie waren, ohne Vergleichung und eigentliche Gegeneinandermessung, seine Art. Der Mittelpunkt seiner Schwere fiel so auf diesen Verstand, auf menschliche Besonnenheit hin wie bei der Biene sogleich aufs Saugen und Bauen.« (Über den Ursprung der Sprache) Nun setzt die »Instinktreduktion« nach Gehlen aber nicht nur die Entlastungsvorgänge und damit jedes sachliche Handeln und objektive Erkennen in Freiheit. Sie ermöglicht zugleich auch das Bestimmt- und Bedingtsein des Individuums durch die Gesell-
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schaft. Diese Einsicht führt zu einer radikalen Ablehnung der gesamten metaphysischen Triebpsychologie mit ihren Katalogen menschlicher »Grundinstinkte«. »Beim Menschen«, sagt Gehlen, »gibt es ein instinktives Verhalten überall da, wo die Organe arbeiten, ›wie es sich gehört‹, also beim Saugen des kleinen Kindes, seinen Greifübungen, vielleicht bei der Umarmungsbewegung. Natürlich ist eine instinktive Wurzel des Geschlechtslebens sicher. Über diese und wenig andere, allenfalls noch diskutable Beispiele hinaus aber gilt, dass wir Menschen nur als Kulturmenschen kennen, also als tätig in unbeschreiblich vielseitigen, sozial vermittelten Handlungen, d. h. solchen, die ohne andere Handlungen anderer Menschen gar nicht zu verstehen sind, und die man gelernt hat. Hier hat es keinen Sinn, von vererbten Bewegungsfiguren zu sprechen, die auf Schlüsselsituationen einspringen, also von echten Instinkthandlungen. Nun können aber alle diese Verhaltensweisen, subjektiv gesehen, getrieben ablaufen, so voraussetzungsvoll sie sein mögen, und sie können eine Stabilität, Unablenkbarkeit und Automatisierung erreichen, die immer wieder dazu versucht, sie als Emanationen dahinter wirkender Triebe oder Instinkte aufzufassen. Diese potentielle Antriebsbesetzung schlechterdings aller menschlichen Tätigkeitsarten, von der Philosophie bis zur Kopfjägerei, die doch jeweils gelernte sind und deren Variationen stets ebenso denkbar bleiben wie ihr gänzlicher Wegfall, ist von großer Bedeutung. Sie muss aus derselben Instinktreduktion erklärt werden, die offenbar das Zurücktreten des echt instinktiven Verhaltens einschließt. Der Abbau echter Instinkthandlungen vollzieht sich anscheinend im komplementären Verhältnis zur morphologischen Foetalisierung und zur Großhirnentwicklung, bedeutet aber umgekehrt Entdifferenzierung der Antriebsstruktur derart, dass nun umgekehrt alle noch so hoch vermittelten und zufälligen Verhaltensweisen, von jeglichem Inhalt der Arbeit oder des Spiels, drangbesetzt und mit Sättigungswert auftreten können. Aus dieser inneren Plastizität der Antriebsstruktur heraus entsteht erst die Notwendigkeit, der jede Kultur auf ihre Weise folgt, eine bestimmte Hierarchie und Verteilungsregel der geforderten, tolerierten und verpönten Handlungen, und eben damit auch der Bedürfnisse auszubilden und sie den jungen Menschen zu oktroyieren. (…) Jedes konkrete Verhalten X ist sozial bedingt, Systemglied in einem kulturellen Zusammenhang, gelernt und grundsätzlich auch anders möglich, und doch der Möglichkeit nach drangbesetzt, in sich selbst bis zu einem Sättigungspunkt erfüllungsfähig (nicht etwa bloß ermüdbar) und sehr oft von einer deutlichen instinktresidualen Qualität oder Färbung.«
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Instinktreduktion, Entdifferenzierung, ästhetischer Genuss Diese Zitate können selbstverständlich nur einen sehr vagen Eindruck vom Inhalt der Gehlenschen Anthropologie vermitteln. Sie genügen aber, um nun seine Entdeckung auf ästhetischem Gebiet verständlich zu machen. Gehlen geht hier, wie gesagt, von den Forschungen Lorenz' aus. Er erklärt, dass Lorenz die tiefe biologische Verwurzelung des Schönen meisterhaft gesehen habe, vermisst aber die Markierung des »kategorialen Sprunges«, der sich »auf der Seite des Gegenstandes in der eigenartigen dynamischen Entmachtung zeigt, d. h. darin, dass diese Reize (die Auslöser, WH) bei uns ihre durchschlagende Enthemmungswirkung auf ein physisches Verhalten verlieren«. (Über einige Kategorien etc.) Auch dieses Phänomen erklärt Gehlen mit der »Instinktreduktion«: »Zweifellos ist der Mensch sehr arm an echten Instinktbewegungen, während umgekehrt seine Verstandesleistungen hoch entwickelt sind. Beide Funktionen scheinen in einem Ausschließungsverhältnis zu stehen. Man wird daher die Instinktarmut des Menschen als die Folge eines langsamen stammesgeschichtlichen Reduktionsvorganges ansehen können, mit der der Entwicklung der Intelligenz parallel ging, (…) wobei die feste Bindung des Instinktrepertoires an spezifische Umweltreize zerbrach, während in dem so entstandenen ›Hiatus‹, der nunmehr die Bedürfnisse von ihren äußeren Erfüllung trennte, das entlastete System Auge-Hand-Sprache ein nicht abschließbares Erfahrungsfeld für die intelligente Praxis des Menschen eröffnete. Dieser Reduktionsvorgang hat also zunächst die zentrale, automatische Koppelung zwischen den Sinnesreizen und den motorischen Zentren, ebenso aber die angeborenen, instinktiven Bewegungsfiguren weitgehend abgebaut. An die Stelle der letzteren treten vielmehr gelernte, plastische, eingewöhnte und sekundär bedürfnisinteressant gewordene Bewegungsweisen.« Die Instinktreduktion hat nun unmittelbar eine Reihe von Erscheinungen zur Folge, die Gehlen unter dem schon oben zitierten Begriff der »Entdifferenzierung« zusammenfasst. Gemeint ist damit das Sich-Verlieren der scharfen Grenzen zwischen den »Instinktresiduen« und deren vielfältige Kombination miteinander. Eine Form der »Entdifferenzierung« finden wir darin, dass die Sinnesorgane beim Menschen von dem scharf eingeschränkten Dienst frei werden, an den sie innerhalb der tierischen Funktionskreise gebunden sind. Eine andere Form offenbart sich zum Beispiel in der qualitativen Eigenart des menschlichen Geschlechtstriebs, der ebenfalls den Charakter eines »Instinktresiduums« hat.
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Wenn – wie Engels im Ursprung der Familie gezeigt hat – die individuelle Liebe nicht naturgegeben, sondern das Produkt einer bestimmten historischen Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft und ihrer Produktionsweise ist, so muss diese ökonomisch-soziale Determination auf einen Geschlechtstrieb auftreffen, der solcher heteronomen Beeinflussung und Formung von sich aus zugänglich ist, also nicht die Starrheit eines tierischen Instinktes haben kann. In der Tat tritt beim Menschen der Geschlechtstrieb – als reduzierter Instinkt, als Instinktresiduum – nicht mehr nur in unmittelbarer Bindung an die Begattungsfunktion auf, sondern kann grundsätzlich von ihr abgehängt sein und so zu einem sich relativ verselbständigenden, zurückbehaltenen »inneren Gefühl« werden. Als ein solches Gefühl verliert er aber notwendigerweise auch seine scharfe Differenziertheit von anderen Antrieben, mit denen er vielmehr mannigfaltige Kombinationen eingehen kann. Er kann sich zum Beispiel mit ästhetischen, sozialen, moralischen usw. Motiven verbinden – in der kapitalistischen Gesellschaft zumal mit finanziellen. Diesesfalls braucht es durchaus nicht so zu sein, dass ein Liebesgefühl um des in Wahrheit erstrebten Reichtums willen nur vorgetäuscht wird; vielmehr kann das finanzielle Motiv, als gesellschaftlich bedingtes, klassenmäßig herrschendes, den erotischen Antrieb bis in dessen innersten Kern durchdringen. »Es ist ganz falsch«, sagt Herr Macheath bei der Überprüfung seiner Gefühle für Polly Peachum, »sich zu fragen, ob man ein Mädchen ihres Geldes wegen oder ihrer selbst wegen heiratet. Das fällt auf zusammen. Es gibt wenig Dinge an einem Mädchen, die einen Mann sinnlich so reizen wie ein Vermögen.« (Brecht, Dreigroschenroman) Und umgekehrt kann der menschliche Geschlechtstrieb, als entdifferenzierter, auch seinerseits erhebliche Teile der übrigen Antriebstruktur erotisieren, indem er etwa als Komponente im Schaffensdrang eines Künstlers, als philosophischer Eros, als Haupttriebkraft ehrgeizigen Verhaltens und dergleichen auftritt.33 Der negative Grenzfall 33
(WH) Das erstgenannte Phänomen ist freilich das primäre und grundlegende. Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, dass die Kategorie »Entdifferenzierung«, auf die Äußerungen des Geschlechtstriebs beim Menschen angewandt, vom Anthropologischen her dem Pansexualismus der Freudschen Psychoanalyse den Boden entzieht. So unhaltbar biologistisch es nämlich ist, hinter allen beliebigen Motiven den sich dahinter vermeintlich verbergenden Sexus aufzuspüren, so sinnvoll und richtig ist es, die relative Loslösung der menschlichen Libido von ihrer biologischen Funktion zu betonen. Diese Loslösung ist die (selber historisch-gesellschaftlich verursachte) Bedingung dafür, dass ein spezifisch menschlicher, d. h. entdifferenzierter, formbarer und von gesellschaftlichen Motiven
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derartiger Kombinationen wäre dann die Entartung zum Perversen, welche Gefahr mit der »Entdifferenzierung« als Möglichkeit jederzeit mitgegeben ist – nicht weniger mitgegeben als die Möglichkeiten seelischen Reichtums, die in der relativen Verselbständigung des Eros gegenüber seinem biologischen Substrat beschlossen liegen. Als ästhetisches Analogon der Perversion ist uns die Korrumpierung des Geschmacks geläufig, die ja niemals als ein ursprünglicher Mangel des betreffenden Menschen, sondern stets nur als Verbildung des – so formbaren wie formierungsbedürftigen, weil eben entdifferenzierten – ästhetischen Sinnes begriffen werden kann. »Die Entdifferenzierung«, sagt Gehlen, »ergreift vor allem das Instinktrepertoire selber: Die Unsicherheit und Plastizität der instinktiven Komplexe, vor allem der sozialen, spottet jeder Beschreibung, und bei einer Gattung, wo Kannibalismus, institutioneller Kindesmord, rituelle Königstötung, Sklaverei usw. möglich sind, wird man vergeblich nach stabilen Sozialinstinkten suchen. Selbst der doch organrepräsentierte Geschlechtsinstinkt ist, wie jeder Psychiater weiß, außerordentlich verschiebbar, entdifferenziert und synthesebereit.« Und von dieser Überlegung aus gelangt Gehlen nun zur Anwendung seiner Theorie auf den ästhetischen Genuss. »Es gibt«, so schreibt er, »eine unmittelbare Freude aller Menschen an symmetrischen, regelmäßigen, geometrischen und spektralfarbigen Gebilden, ob sie nun einige oder alle dieser Merkmale zeigen. Die Phantasie der Künstler ist unerschöpflich, Naturformen zu ›stilisieren‹, d. h. durch Symmetrisierung und Vereinfachung die Unwahrscheinlichkeit der generellen Auslöserqualitäten optimal herauszuholen. (Akanthus, heraldische Lilie, Weinblatt, geometrisierte Tierformen usw. Dies, zuzüglich der Farbigkeit und der geometrischen Streifen- und Balkenmuster, machte die außerordentliche Schönheit der Wappen aus.) Die Erklärung liefern die Reduktions- und Entdifferenzierungsgesetze: Erhalten ist von der stammesgeschichtlichen uralten Auslöserwirkung offenbar ein funktionslos gewordener, entmachteter Rest, der aber deswegen über die ganze Breite des ›optischen‹ Feldes hinweg in unendlicher Mannigfaltigkeit sich öffnen kann. Abgebaut ist selbstverständlich die Bewegungsseite, die Koppelung mit angeborenen Bewegungsfiguren. Deswegen ist der ästhetische Genuss handlungslos. Doch ist auf der Instinktseite ein entdifferenzierter Reduktionsbestand übrig geblieben, nämlich ein unspezifischer Drang, den man etwa auf die Formel ›Hin-zu‹ bringen könnte, der durchaus innen bleibt und der ein sehr aufgeladener Eros mitsamt seiner historischen Wandelbarkeit sich herausbilden und höher entwickeln kann.
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starkes Lustgefühl trägt. Ohne auf die tiefen Schwierigkeiten des Lustproblems einzugehen, lässt sich doch sagen, dass alle an anschaulichen Dingen erlebbaren Lustgefühle den Erfüllungswert dieser Dinge anzeigen, also eine instinktive Wurzel haben. Das funktionslose Lustgefühl des primitiven ästhetischen Genusses ist (…) der noch erhaltene Reduktionsbestand jener entdifferenzierten Instinktresiduen, die den Zusammenhang mit angeborenen Bewegungsfiguren längst aufgegeben haben, aber noch auf die generellen Auslöserqualitäten ansprechen. In unserem Falle addiert sich dazu die vitale Aktionslust, die alle entlasteten Vollzüge des Menschen begleitet, von der Bewegungsfreude, dem Spiel, den hohen Automatismen gelernten Verhaltens an bis zur ästhetischen und denkenden freien Lebendigkeit. Der ›Reiz‹ des Objekts, zurückgeschnitten auf die generellen Auslöserqualitäten und gerade deshalb in unendlicher Mannigfaltigkeit auffindbar, bleibt ein rein optischer, es kommt nicht mehr zu einer Handlung (…), aber die Endphase des Verhaltens kann sehr leicht das Lustgefühl selbst werden, nämlich die reflektierte, sich selbst im schönen Dinge erlebende Lust. (…) Man sieht jetzt wohl, dass wir das Moment der Darstellung, des Bildes, der ›Bedeutung‹ mit Recht bei Seite stellten. Es ist anderer und von vornherein geistiger Herkunft, allerdings damit noch nicht notwendig rein geistiger Abzweckung. An Bildgehalten orientieren sich sehr gerne soziale Instinkte der Kommunikation. Andererseits wird man zugeben, dass aus der von uns beschriebenen Quelle über das Naturschöne, über Symmetrie, Farbigkeit und ›Komposition‹ hin sich ein breiter Grundstrom bis in die höchsten, spirituellsten Werke der Malerei fortsetzt. Ich möchte die Vermutung nicht unterdrücken, dass unsere Freude an reinen Klängen (›Spektraltönen‹) und ihren ganzzahligen Akkorden (arithmetische, nicht geometrische Symmetrie) eine genaue Analogie der ›unwahrscheinlichen‹ Auslöserwirkung auf akustischem Gebiet ist.« Zum Problem von Form und Inhalt Wie es scheint, berechtigt die Lorenz-Gehlensche Entdeckung zu der Annahme, dass das Schöne als das gegenständliche Korrelat des ästhetischen Genusses ausschließlich im Formalen zu suchen sei, unter welchem Begriff man, von Kunstwerken sprechend, gewöhnlich all das zusammenzufassen pflegt, was zum Farblichen, Gestaltlichen, Rhythmischen, zu den Strukturgesetzen der Genres usw. gehört – im Unterschied zum Inhalt, worunter das Thema oder das Sujet und auch der ideelle Gehalt verstanden wird. Das Problem der Lebenswahrheit, desjenigen also, was den Realismus des Kunstwerks ausmacht, werde hier, so könnte man meinen, gar nicht erst in Betracht gezogen. Das
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wohl bekannte »interesselose Wohlgefallen« Kants, von jeher Ausgangspunkt formalistischer und ästhetizistischer Konzeptionen, werde lediglich mit einer anthropologischen Ableitung und Fundierung versehen, die wohl der Psychologie interessante Aufschlüsse gebe, aber zur Klärung inhaltlicher Fragen nichts beitrage, mithin für die Fortbildung der materialistischen Ästhetik ohne Wert sei, ja, sie womöglich beeinträchtige. Derlei Einwände liegen nahe, wenn man von der stillschweigenden Voraussetzung ausgeht, dass der Gegenstand der Ästhetik überhaupt mit dem der Theorie der Kunst zusammenfällt. In der Meinung, eine formalistische Behandlung des Wesens der Kunst abwehren zu müssen, stellt man dann die unbillige Forderung, dass mit kunsttheoretischen Maßstäben, womöglich mit solchen einer bestimmten Kunstgattung (vorzugsweise literarischen), die ganze, weit umfassendere Sphäre des Ästhetischen gemessen werden müsse. Nun wohnt einer solchen Abwehrreaktion zwar insofern eine gewisse Berechtigung inne, als es Theorien gegeben hat, die den Fehler begingen, mit der Auffindung generell-ästhetischer Gesetzmäßigkeiten die Inhaltsprobleme der Kunst derart zu verflüchtigen, dass zum Beispiel die Widerspiegelungsfunktion als eo ipso außer-ästhetische Kategorie erschien. Das ist unzweifelhaft eine Verirrung, gegen die man aber nur erfolgreich ankämpfen kann, wenn man es vermeidet, sich selber auf den Boden ihrer Voraussetzungen zu begeben und dabei nur dem umgekehrten Extrem das Wort zu reden. Das tut man unweigerlich, wenn man sich über das Verhältnis von (allgemeiner) Ästhetik und Kunsttheorie nicht im Klaren ist, wenn man nicht begreift, dass die Bestimmung des Wesens der Kunst und ihrer Gesetzmäßigkeiten die Analyse der allgemeineren ästhetischen Strukturen ebenso wenig ersparen kann, wie sich umgekehrt mit dieser etwas Hinreichendes über die Kunst, gar über eine ihrer Gattungen aussagen lässt. Die Sphäre des Ästhetischen umfasst auch das Naturschöne, ja, dieses ist – worauf namentlich Tschernyschewski hingewiesen hat – allem Kunstschönen gegenüber das Primäre. Freilich ist es keineswegs das Höhere, Wertvollere. Aber seine fundamentale Bedeutung für die Ästhetik kann nicht angezweifelt, sondern nur gedankenloser Weise übersehen und vergessen werden. Das aber heißt, dass eine Ästhetik, die von vornherein und ausschließlich von Kunstwerken ausgeht, eben deswegen in der Luft schweben muss. Sie nimmt Abstraktionen vor, ohne sich vergewissert zu haben, wovon sie eigentlich abstrahiert, und spürt Gesetzmäßigkeiten nach, ohne deren Reichweite zu
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ermessen. In Folge dessen müssen ihr auch die spezifischen Züge des Gegenstandsbereichs, auf den sie sich beschränkt, unklar bleiben, da sie von den allgemeineren Kategorien nicht zu unterscheiden weiß. Überlegen wir nun, was sich mit dem Begriffspaar Form-Inhalt in Bezug auf das Naturschöne anfangen lässt, so sehen wir uns ziemlicher Ratlosigkeit ausgesetzt. Offenbar ist es in diesem weiten und wichtigen Bereich des Ästhetischen völlig unanwendbar. Natürlich können wir dem Begriff »Inhalt« (genauer: dem Wort) alles Mögliche unterschieben, etwa die Normalität des schönen Naturgegenstandes, sozusagen dessen »Gesundheit« (wenn wir zum Beispiel an die frisch geöffnete Blüte, an das graziös kraftstrotzende Fohlen, an den erhabenen Automatismus der dynamischen Gefüge des Kosmos denken). Aber diese Bestimmung ist der des Themas, des Stoffs, des Sujets, des sozialen und ideellen Gehalts, all dem, was wir in Bezug auf Kunstwerke als Inhalt bezeichnen, derart inkommensurabel, dass sich nicht einmal die Beziehung einer Analogie aufweisen lässt. Der Begriff zerfließt also in Vieldeutigkeit, sobald wir versuchen, ihn zu den allgemeinsten Kategorien der Ästhetik zu schlagen, das heißt: Er wird wissenschaftlich unbrauchbar. Und mit dem Begriff der Form steht es nur scheinbar anders. Zwar lässt vieles von dem, was für die Auslöserqualitäten charakteristisch ist, sich zwanglos auf den Nenner »Form« (oder »Geformtheit«) bringen. Im Bereich des Naturschönen ist dann aber das korrelative Gegenglied zur Form nicht der Inhalt, sondern die (in bestimmter Weise geformte) Materie. Der entscheidende Einwand ist in diesen Erwägungen aber noch gar nicht berührt: Dass sich nämlich die einmal angenommenen Begriffe völlig verschieben, sobald es sich um die Wiedergabe des Naturschönen im Kunstwerk handelt. Zweifellos besteht eine Gemeinsamkeit zwischen den Auslöserqualitäten des Naturschönen und den im prägnanten Sinne formalen Momenten aller Kunst. Alles symmetrisch Geordnete und Harmonische – zum Beispiel in der Musik die Regelmäßigkeit des Rhythmus, in der Poesie Versmaß, Alliteration und Reim, in der Architektur die Proportion der Massenverteilung usw. – spricht den Kunstgenießenden in derselben Weise an, wie dies die analogen Gebilde und Konfigurationen tun, die er in der Natur vorfindet. Es liegt also nahe, dies samt und sonders unter dem Begriff der Form zu subsumieren. Aber wenn nun das Naturschöne selbst zum Gegenstand künstlerischer Wiedergabe wird, dann
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macht es vielmehr den Inhalt des betreffenden Werks aus, und das Formale liegt in diesem Fall in der Art und Weise der Wiedergabe, in der Vollkommenheit etwa, mit der die Auslöserqualität artifiziell aus dem Sujet herausgeholt und zum Erscheinen gebracht wird. Wir sehen: Von welcher Seite her man das Problem auch anpackt, es bleibt dabei, dass das Begriffspaar »Form-Inhalt« dem Naturschönen unangemessen ist bzw. ihm nur um den Preis einer schlimmen Begriffsverwirrung aufgebürdet werden kann. Damit ist allerdings gesagt, dass dieses Begriffspaar nicht zu den allgemeinsten Kategorien der Ästhetik gehört. Aber nicht ist damit gesagt, dass es deswegen ästhetisch überhaupt bedeutungslos wäre. Es gibt legitime Probleme der Ästhetik, die der Unterscheidung von Form und Inhalt prinzipiell vorgeordnet sind. Wer sich mit ihnen auseinandersetzt, trifft damit noch keine Vorentscheidung über spezielle Fragen der Kunst, auch keine negative über das Inhaltsproblem. Wenn daher in den Lorenz-Gehlenschen Erörterungen die Widerspiegelungstheorie nicht vorkommt, so braucht das nicht zu bedeuten, dass sie damit eo ipso verneint würde, auch dann nicht, wenn Lorenz und Gehlen sie bewusstermaßen selber verneinen sollten. Worauf es ankommt, ist der Wert ihrer Leistung für die Klärung der allgemeinsten ästhetischen Fragen. Dass sie das Wesen der Kunst und ihrer Wirkung nicht erschöpft haben, ist sicher, kann aber nicht Gegenstand eines berechtigten Einwandes sein. Indessen stehen Allgemeines und Besonderes nie getrennt da. Die allgemeinen ästhetischen Bestimmungen kehren in jeder Kunstgattung, wenn auch abgewandelt, wieder. Was für den ästhetischen Genuss und sein objektives Korrelat generell gilt und an Beispielen aus der Sphäre des Naturschönen am einfachsten und einleuchtendsten verdeutlicht werden kann, muss sich auch in Bezug auf jedes Kunstwerk, auch auf das geistig anspruchsvolle, verifizieren lassen. Die Frage ist nur: Welche Seite des Kunstwerks ist die eigentlich ästhetische? Liegt das Auslösermoment nur im Formalen? Ist der Inhalt ästhetisch indifferent? Ist also der Kunst die Forderung nach Lebenswahrheit äußerlich, ist sie ihrem Wesen unangemessen? Oder wird die Lebenswahrheit selber zum ästhetischen Kriterium, sobald wir es mit einem Kunstwerk zu tun haben, das Dinge, Vorgänge, Personen und Situationen wiedergibt?
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Hier muss nun gesagt werden, dass Lorenz und Gehlen bei ihrer Untersuchung der tierischen Instinktreaktionen Folgendes nicht beachtet haben: Jeder Auslöser repräsentiert etwas, auf das er verweist, das gleichsam in ihm erscheint, mit dem er selbst aber nicht identisch ist. Das Tier wird durch den Auslöser auf etwas »hingerissen« (Herder), das er selbst nicht ist. Am ausgeprägtesten ist dieses Verhältnis im Fall des bedingten Reflexes, wo das vital bedeutsame Objekt durch etwas ihm völlig Heterogenes signalisiert und repräsentiert sein kann. Aber auch dort, wo das Signal mit dem triebwichtigen Gegenstand sachlich untrennbar verbunden ist, geht dieser in jenem nicht auf. Duft, Färbung, Gestalt der Blüte sind nicht ihr Nektariensaft. Wenn daher die Empfindung des Schönen von den durch Auslöser bewirkten Instinktbewegungen abstammt, so liegt es nahe, zu vermuten, dass sich in ihr auch ein modifizierter, qualitativ verwandelter Rest dieses Verhältnisses erhalten haben muss. Wenn wir uns nun vergegenwärtigen, dass die Auslöser für den Menschen entmachtet sind, dass sie im Menschen nur ein entdifferenziertes Instinktresiduum ansprechen, welches nicht mit einer motorischen Aktion, sondern mit einem innen behaltenen, sich selbst auskostenden Gefühl reagiert, so muss uns einleuchten, dass eben dieses Gefühl zwangsläufig den Reiz des vordergründig Gegebenen auf etwas anderes, hinter ihm Stehendes (oder als hinter ihm stehend Erwartetes) bezieht. Das ist nun in der Tat in der menschlichen Empfindung des Schönen der Fall. Inhaltlich ist die Erwartung des »anderen« freilich ganz unbestimmt, vage, ziellos, ein leeres, unaussagbares Ahnen und Raten, ein Suchen, das nicht weiß, was es sucht. Sie ist dies deswegen, weil die automatische Koppelung zwischen bestimmtem Triebobjekt und bestimmter Instinktreaktion zerbrochen ist, die instinktresiduale Gefühlsbewegung also luxuriert, und zwar notwendig ziellos. Aber die Erwartung ist da, und je unbestimmter und zielloser sie ist, desto intensiver bevölkert sie den transzendenten Raum des »anderen« mit ihren Phantasmen. Am geläufigsten ist dieses Phänomen wohl aus dem Hineinsehen und Hineinfühlen anthropomorpher Bestimmungswerte in das Naturschöne. Die psychologistische Einfühlungstheorie (Theodor Lipps) hat hieraus geschlossen, dass die ästhetischen Qualitäten des Gegenstandes als solche überhaupt nicht existieren, sondern in ihn erst durch den Menschen »hineingefühlt« würden, was die Behauptung einschließt, dass es sich in aller Empfindung des Schönen um nichts anderes als einen Selbstgenuss des Menschen
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handle, wenn auch einen indirekten, durch das Objekt, in das er sich einfühlt, veranlassten und vermittelten. Diese Theorie läuft auf eine subjektivistische Auflösung sämtlicher ästhetischer Kategorien hinaus; ohne Preisgabe ihrer eigenen Voraussetzungen kann sie daher auch in keinem Fall angeben, welche Gefühlsreaktionen von welchen gegenständlichen Beschaffenheiten veranlasst werden. Nichtsdestoweniger geht sie von einer wohl bekannten Tatsache aus, nur überträgt sie das, was allein für die Phantasmen gilt, mit denen der Genießende (in seiner Vorstellung) den Hintergrund des Schönen besetzt, auf das Schöne selbst. Der Zwang zu dieser Phantasiebetätigung ist an sich für den ästhetischen Genuss tief charakteristisch. Und er ist letztlich durch die biologisch entmachtete Signal- und Zeichenfunktion der Auslöserqualität bedingt, die in jedes ästhetische Empfinden die Hintergrund-Vordergrund-Spannung als ein von ihm unablösbares Moment hineinträgt, gerade auch dort, wo objektiv nichts außer dem Vordergrund existiert. Dabei weiß der Genießende sehr wohl zwischen dem objektiven Tatbestand und den subjektiven Phantasmen, die sein richtungsloses Erwarten in ihn hinein projiziert, zu unterscheiden. Die Bestätigung seiner Phantasie bedeutet nicht, dass er dieser erläge, dass er in Täuschung, Halluzination und dergleichen befangen wäre. Im Gegenteil: Die Entlastung vom Instinktdruck ermöglicht es ihm, im Empfinden des Schönen zugleich die Distanz des objektiv Erkennenden zu wahren und die eigenen Phantasiegebilde als solche zu durchschauen. Fragen wir nun, wie es mit dem Kunstwerk steht, das Dinge, Menschen, Situationen und dergleichen wiedergibt, so gelangen wir zu dem Ergebnis, dass hier der Leerraum des »anderen« bereits vom Objekt her erfüllt ist, dass hier beide Pole des Vordergrund-Hintergrund-Verhältnisses, beide zu unlöslicher Einheit verbunden, sich in gegenständlicher Bestimmtheit dem Erlebnis darbieten. Der ästhetisch Genießende wird so nicht mehr ins Unbestimmte und Ziellose verwiesen, sondern zum Wiedererkennen des Lebens veranlasst, das ihm in der künstlerischen Formung und durch sie hindurch erscheint. Was aber bedeutet das? Schon im Wahrnehmen des inhaltslosen und inhaltsindifferenten Naturschönen ist im Menschen die Bereitschaft lebendig, das unmittelbar Erlebte als transparent aufzufassen und in ihm das Erscheinen eines anderen, als es selber ist, zu erwarten. Im Kunstgenuss findet dieser Drang Erfüllung. Auch hier nicht in der Art
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einer Täuschung (ebenso wenig wie im Falle der erwähnten Phantasmen), sondern in Form eines distanzierten Gepacktseins. Dass die Leinwand nicht die Tiefe des Raumes hat, der als gemalter auf ihr erscheint, ist dem Genießenden ebenso bewusst wie das Weiterleben der Schauspieler, die er auf der Bühne in ihren Rollen sterben sieht. Aber bei vollem Bewusstsein des wahren Sachverhalts kostet er zugleich dessen Transparenz aus, die ihm den Ausblick auf ein gegenständlich völlig bestimmtes und dennoch scheinhaftes, auf ein die Wirklichkeit widerspiegelndes und dennoch dem Wirklichen enthobenes Sein eröffnet. Dieses Erscheinen des einen im anderen, zum Beispiel der Bewegung des sich aufbäumenden Pferdes im starren Marmor, der Weite der Landschaft in der zweidimensionalen Anordnung von Farbflecken auf der Leinwand, der menschlichen Persönlichkeiten und ihrer Geschicke in der Darstellung auf der Bühne usw. usf., ist für alle Kunst so charakteristisch und an ihm hängt in so hohem Maße das Kunsterlebnis, dass zum Beispiel Nicolai Hartmann allein durch dieses Phänomen das Wesen des Ästhetischen bestimmen zu können meint (Ästhetik). Die Frage, ob es Schönes ohne Widerspiegelungsfunktion, inhaltslos Schönes gibt, kann und muss also bejaht werden, ohne dass damit die Behauptung einer ästhetischen Wertindifferenz des inhaltlichen Moments der Kunst verbunden werden darf. Wohl treten beide Kategorien – Widerspiegelung und Schönes – auch getrennt auf. Wir finden das Schöne im abstrakten Ornament, im Schmuck, in Ketten und Ringen, bunten und gemusterten Stoffen, kunstvoll angeordneten Federn, Blumen, glänzenden Steinen oder auch im reinen, unbearbeiteten Naturschönen, und finden die Widerspiegelungsfunktion in jedem Akt der Erkenntnis und des Denkens, jeder Aussage und Mitteilung, im nackten historischen Bericht, in der Wissenschaft usw. Aber das »reine« Schöne weist für den Genießenden immer über sich hinaus, sofern ihm noch der (unbestimmt gewordene, weil entbiologisierte) Rest der Signalfunktion des Auslösers innewohnt. Deshalb eignet es sich einerseits für Symbolzwecke aller Art, findet in Kult und Magie, in Häuptlings- und Kastenzeichen, schließlich in Orden, Fahnen und dergleichen Verwendung, und kann andererseits vollständig in der Formung gegenständlicher Inhalte aufgehen. In beiden Funktionen ist es gleich ursprünglich, so dass wir Tätowierung und Bemalung, Schmuckwerke und Zierformen usw. bereits bei
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allen Primitiven und die Darstellung mittels Plastik und Gravierung schon in der Altsteinzeit antreffen. Vereinigt sich das Schöne mit der Widerspiegelungsfunktion, so springt es auf sie über, und zwar nicht als eine ihr an sich äußerliche Zutat, sondern so, dass das Erscheinungsverhältnis als solches durch und durch zum ästhetischen Reiz wird. Eben das Spannungsverhältnis zwischen Form und Inhalt bei völligem Einssein, das Erscheinen des Inhalts in der Form und durch deren Vermittlung ist die höchste Stufe, auf die die Verweisungsfunktion des Auslösers erhoben werden kann, während zugleich der gegenständliche Inhalt durch die Geformtheit in einem ihm gänzlich heterogenen Material (die in Töne und Rythmen »umgesetzte« Idee, der in Stein gemeißelter Reiter) selber den Reiz der »generellen Unwahrscheinlichkeit« annimmt. Doch auch diese Feststellungen genügen zur Charakterisierung der ästhetischen Funktion des Form-Inhalt-Verhältnisses noch nicht. Das Erscheinungsverhältnis als solches, wie immer ästhetisch reizvoll es sein mag, reicht nicht aus, die Lebenswahrheit des Kunstwerks als Schönheitskriterium zu erweisen. Die höchste Frage der Kunsttheorie, die der Einheit von Schönheit und Wahrheit, ist also noch gar nicht berührt. Bevor wir dieses Problem andeuten können, ist es erforderlich, noch ein Wort zur Klärung der Begriffe Form und Inhalt zu sagen. Wir haben gesehen, dass sie im weiten Bereich des Naturschönen unanwendbar sind. An dieser Stelle unserer Ausführungen jedoch, wo von der Kunst die Rede ist, sind sie legitim, ja, unentbehrlich. Aber auch hier fehlt ihnen oft die nötige Bestimmtheit. Man könnte meinen – und hat gemeint –, ästhetische Form wäre alles, was im Kunstwerk mit Farbe, abstrakter Gestalt, Symmetrie, Harmonie, reiner Klangfigur, Rhythmus, Alliteration, Versmaß, Reim usw. zusammenfällt, Inhalt dagegen wäre die Darstellung oder Abbildung als solche. Bestechend ist diese Einteilung gerade im Lichte der Lorenz-Gehlenschen Entdeckung deswegen, weil sie mit der Tatsache im Einklang steht, dass an diesen Momenten das Herausgehobensein des Kunstwerks aus dem Durchschnittlichen, Alltäglichen hängt, wie zum Beispiel Versmaß und Reim im Verhältnis zum Durchschnittseindruck der gewöhnlichen Sprache, Rhythmus und harmonische Klänge im Verhältnis zum amorphen Geräuschchaos des Alltags den Reiz des »Unwahrscheinlichen« haben.
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Indessen lässt sich das Problem durch eine so einfache Unterscheidung doch nicht lösen. Wenn auch zuzugestehen ist, dass alle die genannten Momente für die Formgebung entscheidend sind, so erwächst eine erste Komplizierung daraus, dass Form und Inhalt sich bei der Analyse konkreter Kunstwerke meist als relative Begriffe erweisen. In den Werken der Literatur hat zum Beispiel die Fabel im Verhältnis zu der allgemeinen gesellschaftlichen Erscheinung, die in ihr zu einem besonderen »Fall« individualisiert widergespiegelt wird, eine ausgesprochene Formfunktion zu erfüllen. Gleichzeitig ist sie ihrerseits etwas Inhaltliches im Verhältnis zu den Gesetzen des gewählten literarischen Genres, in dem sie dargestellt wird. Oft geht der Schriftsteller bewusstermaßen von diesem Inhalt zweiter Ordnung (eben der Fabel) aus, fasst ihn rein inhaltlich auf und ist sich gar nicht klar darüber, dass in ihm schon in bestimmter geformter Weise der Inhalt erster Ordnung (das gesellschaftlich Allgemeine) erscheint. Als Form teilt die Fabel dem gesellschaftlich Allgemeinen den Reiz des »Unwahrscheinlichen« insofern mit, als sie den durchschnittlichen Ereignissen des Lebens, in denen sich der gleiche Inhalt weniger prägnant, zugespitzt, »klassisch« (oder auch spannend) offenbart, das durch und durch Einleuchtende, für die unmittelbare Anschauung Überzeugende voraus hat. Als bloßer Inhalt dagegen bleibt sie immer noch reizlos, solange der Dichter nicht die ihr völlig gemäße Form (Roman, Novelle, Drama, Ballade usw.) zu finden weiß, die ein Maximum an ästhetischer Wirkung aus gerade diesem Stoff heraus holt und sie bis ins kleinste Detail durchgestaltet. Dasselbe lässt sich an allen Künsten nachweisen. Die Mannigfaltigkeit der Form-Inhalt-Relationen ist zwar jeweils verschieden groß, das Gesetz der Ineinanderschachtelung und der sich verschiebenden Relativität der Momente ist aber allenthalben maßgebend. Jedes Schöpfertum in der Kunst enthält also ein Element der Formfindung – vom Erfinden der inhaltlichen Konzeption bis zu den feinsten Nuancen der Gestaltung –, während umgekehrt in jeder künstlerischen Formung ein Stück Inhaltsbewältigung steckt. Die Kategorie »Form« breitet sich damit über eine größere Mannigfaltigkeit ästhetischer Phänomene aus, als die Hervorhebung von Farbe, Symmetrie, Harmonie, Rhythmus, Vers usw. vermuten lässt. Man kann angesichts dieses Sachverhalts darüber streiten, ob es nicht zweckmäßiger wäre, die ambivalente Kategorie des Inhalts fallen zu lassen und durch eindeutigere Begriffe wie Thema, Sujet, Stoff, Ideengehalt, Tendenz usw. zu ersetzen. Nicolai Hart-
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mann hat sich für diese Lösung entschieden und außerdem noch den Begriffe der Materie in die Theorie der Kunst eingeführt, der bei ihm Steine, Farben, Töne, das sprachliche Material usw. zusammenfasst. Jedes Kunstwerk ist in dieser Terminologie die Formung eines bestimmten Stoffs in einer bestimmten Materie.34 Der Gewinn an Eindeutigkeit wird dabei aber mit einem Verlust an theoretischer Tiefe bezahlt. Denn da das Kunstwerk ebenso Formung eines Ideengehalts in einem Stoff ist – gleichviel, ob dem Künstler bewusst oder nicht –, führt die Auflösung des Inhaltsbegriffs zur Verflüchtigung gerade derjenigen Momente, die die gesellschaftlich entscheidenden Vermittlungen ausmachen. Bei aller Notwendigkeit spezifizierter Termini muss also an der Kategorie »Inhalt« deswegen festgehalten werden, weil sich ohne sie Relationen wie die des Ideengehalts zum Stoff, des Stoffs zur Genre-Wahl, der thematischen Konzeption zur künstlerischen Gestaltung usw. in dem, was ihnen gemeinsam ist, nicht begrifflich bestimmen ließen. Für unser Problem ist an der Tatsache der Ineinanderschachtelung und sich verschiebenden Relativität von Form und Inhalt vor allem eines wichtig: Das Erscheinungsverhältnis wird um so überzeugender ausfallen, je mehr die Form dem Inhalt in allen Relationen, die das Kunstwerk in sich vereinigt, angemessen ist. An dieser Angemessenheit hängt die Transparenz, von der oben gezeigt wurde, dass sie eine Auslöserqualität ersten Ranges ist. Der Hintergrund des Naturschönen ist eine erfüllungsbedürftige Leere, der des symbolisch verwendeten Auslöser nur assoziativ durch einen ihm äußerlichen sozialen Konventionsgehalt geladen. Erst im Erscheinen des Inhalts durch die Transparenz der völlig gemäßen Form gewinnt der Hintergrund eine selber ästhetische Funktion. Was aber ist die angemessene Form? Sie kann beim Kunstwerk, das einen gegenständlichen, realitätsbezogenen Inhalt – wenn auch noch so vermittelt – wiedergibt, nichts Beliebiges sein. Ihre Angemessenheit kann nur daran liegen, dass sie dem Inhalt zu einem Maximum an Lebenswahrheit verhilft.
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(AH) Mit Hartmanns ästhetischen Anschauungen setzte sich Harich in den achtziger Jahren, im Zuge der Arbeit an seinen Hartmann-Manuskripten, intensiv auseinander. Seine entsprechenden Ausführungen sind im bereits erwähnten 10. Band nachzulesen.
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Es klingt paradox, wenn wir hier nun sagen, dass die Formung gerade im Dienst an der Lebenswahrheit den »unwahrscheinlichsten« Effekt erzielt. Aber es verhält sich in der Tat so. Die Kunstwerke, an denen das Formale, als solches überhaupt nicht mehr spürbar, vom Inhalt ganz und gar aufgezehrt zu sein scheint, sind die geformtesten, und in ihnen nimmt die Widerspiegelungsfunktion selbst den Wert des »generell Unwahrscheinlichen« an. Denken wir an die »einfache« Wiedergabe der menschlichen Gestalt in den reifsten Werken der antiken Plastik. Worin liegt ihr unvergleichlicher Reiz? Er liegt darin, dass sie das Natürliche in seiner vollendeten Normalität widerspiegeln, und zwar nicht abstrakt – wie ein anatomisches Modell –, sondern individualisiert bis in unwägbare Nuancen hinein, aber zugleich befreit von der Zufälligkeit seiner durchschnittlichen Erscheinungsformen. Eben dadurch lösen diese Bildwerke denn auch Entzücken aus: Der ästhetische Sinn genießt sie durchaus als »unwahrscheinlich«, nur ist es die Lebenswahrheit selbst, d. h. die Widerspiegelung des Wesentlichen in seiner Klassizität und Reinheit, die hier die ästhetische Funktion des »Unwahrscheinlichen« übernommen hat. Wenn wir der Wirkung solcher Kunstwerke, in denen Form und Inhalt absolut bruchlos zusammengewachsen sind, auf den Grund gehen, so begreifen wir, inwiefern das Typische Wahrheitskriterium und Schönheitsnorm zugleich ist. Typisch ist weder das Durchschnittliche und Mittelmäßige (das der Naturalismus möglichst genau zu kopieren sucht) noch das abstrakt Allgemeine (das von der begrifflichen Analyse erfasst wird). Das eine ist untypisch, weil es in jeder seiner individuellen Erscheinungsformen in Zufälligkeiten zerläuft, das andere deswegen, weil ihm ein entscheidender Wesenszug fehlt: Die individuelle Bestimmtheit, von der die Möglichkeit der Versinnlichung abhängt. Da das Allgemeine nur in der Mannigfaltigkeit seiner individuellen Besonderungen existiert und nicht ohne sie – in einem platonischen Ideenhimmel über den Dingen –, ist Individualität eine für das Typische konstitutive allgemeine Kategorie. Aber nicht jedes Individuum ist typisch und keines ist es in der Reinheit, deren die Kunst bedarf. Folglich muss die Kunst die Phantasieleistung aufbringen, Individualitäten zu gestalten, deren Besonderheiten völlig unverwechselbar und zugleich der konzentriertesten Ver-
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deutlichung des Allgemeinen dienlich sind. Sie muss also das gestalten, was es im Leben so nicht gibt, um ein Maximum an Lebenswahrheit zu erzielen. Dieses paradox anmutende Gesetz, dem die dialektische Einheit von Allgemeinem und Besonderem zu Grunde liegt, gilt für alle Künste. Wenn Engels an die Literatur die Forderung stellt, dass Verhalten typischer Charaktere unter typischen Umständen zu schildern, so fordert er, Personen, Handlungen, Situationen, Geschehnisse, Konflikte usw. zu erfinden, deren Einzigartigkeit das Allgemeine und Normale so gültig, plastisch und einleuchtend, in solcher klassischen Reinheit hervortreten lässt, wie das in der Realität niemals der Fall sein kann. Das Engelssche Postulat des Realismus läuft mithin auf Kunstwerke hinaus, die vom Inhaltlichen her den Reiz des »Unwahrscheinlichen« haben. Denn wenn wir vom Durchschnittseindruck des uns alltäglich Gewohnten ausgehen, sind Othello und Don Quichotte äußerst unwahrscheinliche Gestalten – und zwar deswegen, weil sie typisch sind, d. h. ein Maximum an gesellschaftlicher Wesentlichkeit mit einem Maximum an individueller Eigenart harmonisch in sich vereinigen. Die selbe »Unwahrscheinlichkeit« hat der Konflikt im Schauspiel an sich, der in einer zugespitzten, einzigartigen Situation alle wesentliche Momente eines großen gesellschaftlichen Gegensatzes widerspiegelt. Deshalb und in genau diesem Sinne verlangt Aristoteles von der Tragödie – nicht, dass sie historisch getreu, sondern dass sie in sich notwendig sei. Nur so kann sie das Wesentliche, Typische, statt des Zufälligen, wiedergeben, und nur wenn sie das tut, gilt für sie das Wort, dass die Poesie »philosophischer« als die Geschichtsschreibung ist. So gipfelt in der ästhetischen Funktion der Lebenswahrheit, die den Wert großer Kunst ausmacht, die Hierarchie der faszinierenden Gebilde, die wir unter dem Begriff des Schönen zusammenfassen.
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Vorwort zu Gehlens »Der Mensch«35 Vorwort zur italienischen Ausgabe des Hauptwerks von Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, im Verlag Feltrinelli, Mailand, 1978. I. Arnold Gehlen wurde am 29. Januar 1904 in Leipzig geboren. Er stammte von großbürgerlichen Vorfahren ab. Sein Vater besaß einen Verlag. 1914, wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, kam der Knabe auf das berühmte Thomas-Gymnasium, die traditionsreichste Oberschule der sächsischen Handelsmetropole. Hier hat er auch das Abiturium bestanden, gegen Ende der revolutionären Nachkriegsgeschichte, im Inflationsjahr 1923. Durch die Wirren der Zeit sah der Jüngling sich bestärkt in der ihm durch Elternhaus und Schule anerzogenen konservativen und nationalistischen Ideologie. Er hegte Antipathie gegen die aus der Novemberrevolution hervorgegangene Weimarer Republik, und mit Scham und Trauer erfüllte es ihn, dass das Deutsche Reich den Krieg verloren hatte. Beruflich entschied Arnold Gehlen sich für die Universitätslaufbahn auf dem Gebiet der Philosophie. Er studierte abwechselnd an den Universitäten Leipzig und Köln, neben seinem Hauptfach noch Psychologie und Sozialwissenschaften. In Köln beeindruckte ihn besonders Max Scheler, der eben damals, während seiner letzten Schaffensperiode, an einer neuen Grundlegung der vom philosophischen Denken lange Zeit vernachlässigten Anthropologie arbeitete. Promoviert hat Gehlen aber wieder an seiner Heimatsuniversität, 1927, mit einer Dissertation zum Thema Entelechie, das im Mittelpunkt der Lehre Hans Drieschs, seines Doktorvaters, steht. Driesch, einst Naturwissenschaftler, hatte sich 1891 von seinem Lehrer, dem Darwinisten Ernst Haeckel, getrennt und war in den darauf folgenden Jahren, als Mitarbeiter der Zoologischen Station in Neapel, durch idealistische Ausdeutung bestimmter biologischer Experimente zur Neubegründung eines an Aristoteles orientierten, teleologischen Vitalismus gelangt. Die Venia legendi erwarb Gehlen 1930. Seine zu diesem Zweck abermals bei Driesch in Leipzig eingereichte Habilitationsschrift, Wirklicher und unwirklicher Geist, nennt Helmut Schelsky einen »aus der ›Methode absoluter Phänomenologie‹ und der geistvollen Tradition der französischen Moralisten gewonnenen Vorgriff auf die Existenzphilosophie, noch bevor Karl Jaspers dazu sein großes Werk geschrieben« habe. Der 35
(AH) 12 Blatt, maschinenschriftlich, datiert auf den Mai 1978. Verschiedene hand- und maschinenschriftliche Korrekturen, stillschweigend eingearbeitet. Bisher nicht gedruckt.
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Gehlen-Schüler Friedrich Jonas hat 1966 versucht, bereits aus dieser wenig umfangreichen Jugendarbeit alle späteren philosophischen Positionen seines Lehrers zu interpretieren. Herausgekommen ist das schmale Werk 1931 im Verlag des Vaters. Inzwischen hatte der Verfasser, nunmehr Privatdozent, sich einer umfassenden Rezeption des klassischen deutschen Idealismus und insonderheit der Fichteschen Philosophie zugewandt. Frucht der daran anschließenden Überlegungen ist seine Theorie der Willensfreiheit. Nach deren Veröffentlichung, 1933, war er ein Jahr lang Assistent Hans Freyers am Soziologischen Institut der Leipziger Universität. Dann trat er die Nachfolge des emeritierten Driesch als Ordinarius für Philosophie an, mit erst dreißig Lebensjahren jüngster philosophischer Lehrstuhlinhaber Deutschlands. So legitim dieser schnelle Aufstieg, von den damals schon vorliegenden wissenschaftlichen Leistungen her gesehen, auch gewesen sein mag, begünstigt hat ihn sicher nicht zuletzt der Umstand, dass Gehlen sich eng an einen profaschistischen Soziologen wie Freyer angeschlossen hatte, ja, darüber hinaus Mitglied der Nazipartei geworden war. 1938 folgte er einer Berufung an die Universität Königsberg (heute Kaliningrad), wo er den dort ebenfalls lehrenden Pionier der Verhaltensforschung, Konrad Lorenz, persönlich kennen lernte. In Königsberg auch hat er sein philosophisch-anthropologisches Hauptwerk, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, vollendet. Es erschien in erster Auflage 1940. Im selben Jahr wurde Gehlen Nachfolger Robert Reiningers an der Universität Wien. An beiden Universitäten leitete er zeitweilig auch die Institute für Psychologie. Während des Zweiten Weltkriegs unterbrach er seine Lehrtätigkeit mehrfach wegen Heeresdienst. Auf die Möglichkeit, sich u. k. (unabkömmlich) stellen zu lassen, verzichtete er ganz, sobald die Anzeichen dafür sich mehrten, dass Deutschland abermals den Krieg verlieren könnte. Von 1942 an stand er daher nur noch als Reserveoffizier im Fronteinsatz. Den gegen Ende des Krieges bei den Kämpfen in Schlesien Schwerverwundeten transportierte man in ein Lazarett nach Südwestdeutschland. So geschah es, dass er sich nach der bedingungslosen Kapitulation, vom Mai 1945, in der französischen Besatzungszone befand. Im Zuge der Befreiung Österreichs verlor Gehlen, gleich allen nach dem Anschluss von 1938 im Hochschulwesen der »Ostmark« tätig gewordenen Reichsdeutschen, automatisch seinen Wiener Lehrstuhl. Unter den derart Entlassenen blieb jedoch er der einzige, dem die nun selbständig wieder erstehende Österreichische Akademie der Wis-
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senschaften die Würde eines korrespondierenden Mitglied antrug. Gehlen nahm die Ehrung an. Dagegen weigerte er sich, dem Vorschlag einer förmlichen »Entnazifizierung« zuzustimmen, den ihm, aus Respekt vor seinem Rang als Wissenschaftler und seiner menschlichen Integrität, philosophisch versierte Kulturoffiziere der französischen Besatzungsmacht unterbreiteten. In dem Jahrzwölft des »Dritten Reichs« hatte er sich nicht der Diskriminierung Andersdenkender schuldig gemacht, geschweige sich an Rassenverfolgung und Kriegsverbrechen beteiligt. Und nachweislich war seit dem Einmarsch der Wehrmacht in Prag, vom März 1939, der deutsche Annexionismus von ihm missbilligt worden. Nichtsdestoweniger verbot es ihm sein Stolz, seiner nazistischen Gesinnung nachträglich abzuschwören oder gar sie aus Opportunitätsgründen zu bagatellisieren. In Folge dessen fand er im westdeutschen Universitätsleben auf Jahre hinaus keine Verwendung mehr. Lediglich an der in der französischen Zone neu gegründeten Verwaltungsakademie in Speyer stellte man ihn 1947 als Dozenten für Soziologie an. In Speyer hat er denn auch sein zweites Hauptwerk, Urmensch und Spätkultur, enthaltend seine Lehre von den Institutionen, zu Papier gebracht. Veröffentlicht wurde es 1956. 1960 folgte, in dem Buch Zeit-Bilder, seine groß angelegte Auseinandersetzung mit der modernistischen Kunst der Gegenwart. 1962 wurde Arnold Gehlen auf den neu errichteten Lehrstuhl für Soziologie an der Technischen Hochschule in Aachen berufen. Man zeichnete ihn aus mit dem Konrad-Adenauer-Preis. Am Ende seiner akademischen Karriere erlebte er noch die linke Studentenrebellion der ausgehenden sechziger Jahre, die Aktivitäten der APO, die Wiedergeburt anarchistischer Protestformen. Den Abscheu des Konservativen gegen derlei Zeitströmungen artikuliert sein letztes Buch, Moral und Hypermoral (1969). 1974 traf dann der Tod seiner krebserkrankten Frau ihn seelisch so schwer, dass er zum Krüppel amputiert zu sein glaubte. Im Winter 1975/1976 musste er sich selbst einem kleinen chirurgischen Eingriff unterziehen. Er begab sich nach Hamburg, um in einer dortigen Klinik seines Vertrauens die Operation vornehmen zu lassen. Komplikationen und geschwächter Lebenswille führten am 30. Januar 1976, unmittelbar nach der Vollendung des 72. Lebensjahres, seinen Tod herbei, am selben Tage, an dem im selben Krankenhaus auch einer seiner besten Freunde, der von ihm am höchsten geschätzte zeitgenössische Psychiater Hans Bürger-Prinz, verstarb. An Nachkommen hat Arnold Gehlen eine Tochter, die mit einem in Augsburg praktizierenden Nervenarzt verheiratet ist, sowie zwei Enkelkinder hinterlassen. Seinem letzten Assistenten, Karl-Siegbert Rehberg in Aachen, haben die Erben und der Verlag
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Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, die Bearbeitung seines Nachlasses und die Edition seines Gesamtwerks anvertraut. II. Die italienische Ausgabe des umfangreichsten und bedeutendsten Werks von Arnold Gehlen wird jetzt von einem Verlag der Linken herausgebracht, der überdies durch ein Institut gleichen Namens eng mit den Traditionen des Marxismus und der revolutionären Arbeiterbewegung verbunden ist. Schon die eben aufgeführten Lebensdaten sind geeignet, das als höchst befremdlich erscheinen zu lassen. Sie werfen grundsätzlich die Frage auf: Wie sollen Linke sich zu einem Konservativen im Bereich des Geisteslebens stellen? Die Geschichte hat darauf, so glaube ich, die Antwort parat: Nicht in jedem Fall pauschal ablehnend.36 Karl Marx ist von dem konservativen preußischen Staatsphilosophen Hegel ausgegangen und hat aus dessen Geisteserbe alles Rationelle kritisch verarbeitet und weitergeführt. Die Einsicht, dass der Klassenkampf das Bewegungsgesetz der Geschichte sei, übernahm Marx von Historikern der französischen Restaurationsperiode, unter anderen von demselben Guizot, der, als konservativer Premierminister unter Louis Philippe, ihn aus Paris auswies. Balzac, dem legitimistischen Reaktionär, rühmten Marx und Friedrich Engels nach, aus seinen Romanen mehr über die Entwicklung und die Struktur der französischen Gesellschaft gelernt zu haben als von allen Historikern, Ökonomen und Statistikern ihrer Zeit zusammengenommen. Natürlich kann man sich auf solche Beispiele heute nicht ohne Vorbehalt berufen. Im Allgemeinen ist der Konservatismus der im Niedergang begriffenen kapitalistischen Gesellschaft zu intellektueller Sterilität, wenn nicht zu Schlimmerem, verurteilt. Es gehört zu seinem Wesen, nur wenig abzuwerfen, wovon zu lernen noch lohnte. Bei Gehlen scheint es sich da jedoch um einen Grenzfall zu handeln. Wie anders wäre es zu erklären, dass hervorragende Marxisten der Gegenwart, die politisch sehr unterschiedliche, um nicht zu sagen: gegensätzliche Richtungen repräsentieren, unabhängig voneinander an ihn angeknüpft haben? Man überprüfe einmal, wie oft in Georg Lukács’ Eigenart des Ästhetischen Gehlen zitiert wird, und überzeuge sich an den betreffenden Stellen davon, dass dort über weite 36
(AH) Diese Position vertrat Harich sein Leben lang. Zehn Jahre nach diesem Text machte er sie zur grundlegenden These seiner Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann (siehe Band 10).
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Strecken eine kritisch-produktive Aneignung Gehlenscher Anregungen stattfindet. Oder man denke an Ernest Mandel, an dessen Marxistische Wirtschaftstheorie, die im ersten Kapitel ihre anthropologischen Grundaussagen ausdrücklich aus Gehlens Hauptwerk Der Mensch bezieht. Bereits mit dem Nazitum des Mannes muss Georg Lukács und Anna Seghers, 1952 es demnach seine besondere Bewandtnis gehabt haben. In der Tat: Obwohl er, wie gesagt, Mitglied der NSDAP war – und zwar nicht als opportunistischer Mitläufer, sondern aus nationalistisch-konservativer Überzeugung –, brachte er es fertig, in seinem Hauptwerk, das von der ersten bis zur letzten Zeile anthropologischen Problemen gewidmet ist, alle theoretischen Voraussetzungen des Rassismus, dieses Kernstücks der »nationalsozialistischen Weltanschauung«, zu zerschlagen. Und so emphatisch dasselbe Werk biologisch zu argumentieren beansprucht, faktisch ist es gegen jedweden Biologismus insofern gerichtet, als es den Menschen ausdrücklich nicht als Instinktwesen gelten lässt, womit es, en passant, auch jene »blonde Bestie«, die in der Nazizeit im Schwange war, von den Grundlagen her in Frage stellt. Demgemäß erweist das in der ersten Auflage, von 1940, zu findende Zitat aus Alfred Rosenberg sich bei näherem Zusehen als purer Hohn: Es deutet den Rosenbergschen Begriff der »Zucht«, der biologisches »Züchten« meint, kurzerhand ins Pädagogische, im Sinne eher des »Züchtigens«, um (was seinerzeit prompt übel vermerkt wurde). Gehlens durch nichts zu bestechende wissenschaftliche Aufrichtigkeit machte ihn im eigenen politischen Lager zu einem unbequemen, widerborstigen Nonkonformisten. Und diese Querköpfigkeit, faszinierend schon an dem Universitätslehrer in Leipzig, Königsberg und Wien, begegnet uns in seinem Alter wieder. In den Nekrologen auf ihn hat man Anfang 1976 bis zum Überdruss, lobend oder tadelnd, seinen Konservatismus betont. Aber rechts wie links wurde nicht erwähnt, dass dieser sehr eigenwillige Konservative bewundernden Respekt und Sympathie für die Sowjetunion hegte. Und gerade wenn sie sich international unbeliebt machte, engagierte er sich für sie. Im Druck und auf dem Bildschirm erklärte er, beispielsweise, volles Verständnis zu haben für den Einmarsch in die Tschechoslowakei und die Unterdrückung Solschenizyns. Auf negative Berichte aus sozialistischen Ländern pflegte er mit dem Satz zu reagieren: »Davon
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weiß ich nichts, denn das habe ich in den Zeitungen gelesen.« Die Sowjetunion, so prophezeite er, werde sich eines Tages als »die letzte Ordnungsmacht in Europa« bewähren. Feindselig verhielt Gehlen sich zu dem, was er den »liberalen Halbmarxismus« nannte, d. h. besonders zur Frankfurter Schule, namentlich zu Theodor W. Adorno. Hasserfüllt stand er jeder Art von Anarchismus gegenüber, und nichts ging ihm, dementsprechend, mehr gegen den Strich als jene antiautoritäre Bewegung von 1968. Sobald er aber eine Revolution in ihre konstruktive, ihre Aufbauphase eintreten und aus dem Chaos eine neue Ordnung errichten sah, da fing sie an, ihm Achtung abzunötigen. Mit Kommunisten als Opposition wollte er nichts zu tun haben. Kommunisten an der Macht imponierten ihm. Deshalb finden wir in seinem ganzen Werk, von den Anfängen in der ausgehenden Weimarer Republik bis zu seinem Tode, nirgends eine Zeile gegen einen sozialistischen Staat, und er hat auch nie ein Wort gegen die DDR geäußert. Als Adorno in einem Gespräch mit ihm einmal nachdrücklich für freie Selbstverwirklichung des Individuums eintrat, erwiderte Gehlen, halb salopp, halb ärgerlich: »Ach Gott, wissen Sie, ich suche eigentlich in der Wirklichkeit eine honorige Sache, der man dienen kann.« Der ihm seines Liberalismus wegen zutiefst suspekte Spiegel fügt dem im Nekrolog auf den Toten hinzu, dies sei der Kern seiner Philosophie gewesen. In einer Epoche des Verbraucherglücks, der Triebbefreiung, der Rebellion gegen Autorität überhaupt habe Gehlen, das Gegenteil von alledem anpreisend, gefordert: »Dienst!« So verhielt er sich wirklich. Nur bedarf aus linker Sicht diese Einschätzung der Ergänzung: Dass sie sich noch als Dienende zu verstehen wissen, das zog ihn an den Macht ausübenden Kommunisten des europäischen Ostens an. Gedankt haben die ihm das freilich bis heute kaum. Lediglich Außenseiter sind hier, wie bei den Linken im Westen, bereit, in ihm mehr und etwas anderes als einen unausstehlichen, indiskutablen Reaktionär zu sehen. III. Das größte wissenschaftliche Verdienst Arnold Gehlens ist es wohl, dass er als erster das Bild des Menschen umfassend und vollständig der dualistischen Missdeutung entzogen hat, von der bis zu seinem Auftreten die philosophische Anthropologie beherrscht war. Das spezifisch Menschliche suchte dieser Dualismus allein im Geist beziehungsweise in der Seele. So geschah es, seit Sokrates, in der Antike. So verfuhr desgleichen die jüdisch-christliche Tradition. Und die Neuzeit brachte darin keinen
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prinzipiellen Wandel. Im Gegenteil: Gerade Descartes, mit seiner Zwei-Substanzen-Lehre, trieb den Dualismus auf die Spitze. An gelegentlicher Opposition dagegen hat es freilich nicht gefehlt. Man erinnere sich an den Sophisten Protagoras, wie er uns aus zweiter Hand, durch Platon, überliefert ist, oder in der deutschen Aufklärung an Herder, den Gehlen übrigens seinen Vorläufer nennt, oder auch an gewisse Einfälle Ludwig Feuerbachs, wie etwa den, dass der Mensch, wäre er mit dem Magen eines Tigers ausgestattet, auch einen tigerhaften Verstand haben müsste, und dergleichen. Doch solche Denkansätze blieben stets sporadisch. Niemand arbeitete sie systematisch aus. Auch entbehren sie philosophiehistorisch jeder Kontinuität. Noch bei Max Scheler und erst recht implizit in der Schichten-Ontologie Nicolai Hartmanns war die moderne philosophische Anthropologie durchaus »cartesianisch«.37 Erst bei Gehlen hört die Leib-Seele-Geist-Einheit des Menschen auf, für das theoretische Begreifen bloßes Postulat zu sein. Gehlen erst hat entdeckt, dass der Mensch durchgängig, im Ganzen ein aller Natur gegenüber qualitatives Novum darstellt. Danach unterscheiden wir uns von der gesamten Tierwelt – angefangen von der Zecke bis hinauf zum Delphin und zum Schimpansen – nicht nur als Vernunftswesen, sondern ebenso auch durch die Beschaffenheit unserer Haut, den Bau unseres Gebisses, den aufrechten Gang, den Verlauf unserer ontogenetischen Entwicklung, die Eigentümlichkeiten unseres Antriebslebens, die »Sprachmäßigkeit« unserer Antriebe usw. usf., und in jeder Person hängen alle diese qualitativ neuen Momente untereinander zusammen und bedingen sich wechselseitig. Für die philosophische Grundlegung der Humanmedizin, der Verhaltensforschung, der Psychologie, der Charakterkunde, aber auch der Ethnologie und mancher anderen auf den Homo Sapiens bezogenen Wissenschaftsdisziplin hatte – und hat das immer noch – bahnbrechende Bedeutung. Und in mehrfacher Hinsicht berührt dieses Menschenbild, so wenig das Gehlen, als er sein Hauptwerk niederschrieb – und noch lange danach – auch bewusst gewesen ist, sich mit dem des Marxismus. Hinsichtlich der methodologischen Prinzipien möchte ich nur auf zwei dafür signifikante Punkte hinweisen. Einmal sind das qualitative Novum, als Resultat eines qualitativen Sprung in der Entwicklung, und desgleichen der Bedingungszusammenhang der konkreten Totalität Kategorien, die, nicht fortdenk37
(AH) Siehe hierzu die entsprechenden Hinweise im bereits genannten 10. Band, dort auch ausführlich zur Auseinandersetzung Gehlens mit Hartmann.
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bar aus der materialistischen Dialektik, hier zur Erhellung des Gegenstandes anthropologischer Forschung spezifiziert worden. Zum anderen fordert kein anderer als Marx, wenn er von der Struktur des Kapitalismus aus die diesem vorausgegangenen früheren Produktionsweisen zu erforschen verlangt, grundsätzlich, jeglichen Werdeprozess rückblickend aus der Perspektive seines reifsten Stadiums zu analysieren, und zieht zur Rechtfertigung dieses methodischen Vorgehens dabei den Analogiefall heran, dass die Anatomie des Menschen den Schlüssel zum Verständnis der Anatomie des Affen bilde. Die Relevanteste der Übereinstimmungen indes betrifft die spezielle Thematik des vorliegenden Buches selbst. Da Gehlen, bevor er seine Anthropologie konzipierte, einerseits, nämlich im Kontext seiner »Theorie der Willensfreiheit«, die Ergiebigkeit der Fichteschen Tathandlung neu durchdacht und, zugleich andererseits, den Winken Drieschs folgend, sich einen immensen Reichtum an Befunden biologischer Empirie angeeignet hatte, drängte sich ihm die Idee auf, dass der Mensch durchweg, in all seinen qualitativen Besonderheiten, interpretiert werden müsse aus der schlechthin zentralen Eigenschaft, handelndes Wesen zu sein. Und damit befand der bürgerliche, erzkonservative Denker sich ausgerechnet dort, wo sein Kardinalthema anhebt, in äußerster Nähe der marxistischen Klassiker. Um dies einzusehen, genügt es, sich an die Unterscheidung der Aktivitäten von Biene und Baumeister bei Marx, im 5. Kapitel des Kapitals, sowie an Engels’ Schrift Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen zu erinnern. Nicht nur das: Gehlen hat die bisherige Forschung der Marxisten auf diesem Gebiet durch die genialen Einzelanalysen, die er aus seinem – und ihrem – zentralen Ansatz herauszuholen wusste, übertroffen; so etwa in seinen sprachtheoretischen Reflexionen, so auch, wenn er dem Wesen des Charakters auf den Grund geht oder das Zusammenspiel von Auge und Hand im Erkenntnisprozess beschreibt – um nur einiges kurz anzudeuten. Sein Selbstverständnis vermeintlichen Inspiriertseins durch den amerikanischen Pragmatismus mag dazu verleiten, ein solches Urteil von vornherein als häretisch abzuqualifizieren. Vergebens: Dass Gehlen die subjektiv-idealistische Erkenntnistheorie der Pragmatisten so wenig mitvollzieht wie deren Reduktion der Wahrheit auf Nützlichkeit, macht den nahe liegenden Vorwurf gegenstandslos. Jeder Leser vermag im Übrigen anhand der einschlägigen Kapitel die Richtigkeit jener Feststellung zu überprüfen.
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IV. Einer kritiklosen Lektüre des vorliegenden Werks soll damit in keiner Weise das Wort geredet werden. Die philosophische Anthropologie Arnold Gehlen fügt sich in den dialektischen und historischen Materialismus nur unter der Voraussetzung harmonisch ein, dass man das, was in ihr als Ausgangspunkt der Menschwerdung erscheint, umgekehrt als Resultat dieses Prozesses auffasst. Dann erst entfällt das mit Recht meist als anstößig empfundene Schlagwort vom »Mängelwesen«, das nur mit negativem Vorzeichen, pessimistisch diffamierend, denselben unhaltbaren Biologismus reproduzieren hilft, der sonst die qualitative Überlegenheit des Menschen als selektiven Vorzug zu missdeuten pflegt. Und dann auch erst lässt Gehlens anscheinend totale Absage an die anthropogenetischen Hypothesen des Darwinismus sich auf ihren rationellen Kern eingrenzen: Auf die Erkenntnis, dass in der Entwicklung des organischen Lebens die Entstehung des Homo Sapiens kein linearer bruchloser Aufstieg und Fortschritt gewesen ist, sondern ein für das Begriffsinstrumentarium der Biologie allein nicht erfassbarer, weil in sich widerspruchsvoller, partiale Retardationen mit einschließender Qualitätssprung. Nebenbei bemerkt, wäre so auch die Berufung auf Herder als Vorgänger zu retten: Er erschiene nicht länger verfälscht zum Kronzeugen einer in Wahrheit präfaschistischen, an Palagyi und Klages geschulten Geistfeindlichkeit.38 Zu bedenken bleibt vor allem aber das tief Problematische der Gehlenschen Soziologie. Zu voller Entfaltung ist die freilich erst später, in Urmensch und Spätkultur, gediehen. Aber bereits im Schlusskapitel des Menschen wird sie exponiert, und zwar bezeichnenderweise unter dem Einfluss Carl Schmitts und Maurice Haurions sowie in Abwandlung der offen faschistiDie „Kosmiker“, um 1900, v. l. n. r.: Karl schen Konzeption »oberster FührungssysWolfskehl, Alfred Schuler, Ludwig Klages, teme« aus der ersten Auflage. Fasst man Stefan George, Albert Verwey diesen Punkt näher ins Auge, so wird man gewahr, dass die eben kritisierte Verkehrung von Ursache und Wirkung in den anthro-
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(AH) Der Zerschlagung dieser Thesen, der faschistischen Vereinnahmung Herders war Harichs Dissertation, Herder und die bürgerliche Geisteswissenschaft, gewidmet (abgedr. in: Band 1.2, 657–921). Siehe auch seine weiteren Editionsarbeiten und Manuskripte zu Herder (Band 4).
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pogenetischen Vorstellungen unseres Verfassers dieselbe Wurzel hat wie dessen fragwürdige politische Überzeugungen, die sie ergänzen. Gehlen kam, wie Eingangs bemerkt, von Denkern wie Scheler, Driesch und Freyer her. Den Marxismus hat er weder in seiner Jugend kennen gelernt, noch sich später jemals ernsthaft mit ihm auseinandergesetzt. Zeitlebens beging er in Folge dessen den fundamentalen Fehler, gesellschaftliche Prozesse in anthropologischen Kategorien gedanklich nachzuvollziehen. Statt dass sein Bild des Menschen aus einem adäquaten Gesellschaftsverständnis hervor gewachsen wäre, blieb bei ihm umgekehrt die Soziologie stets ein Anhängsel seiner Anthropologie. Nie versuchte er daher jener entökonomisierten Gesellschaftsdoktrin zu entrinnen, die Lukács als durchgängiges Charakteristikum der deutschen Soziologie der imperialistischen Periode, von Tönnies und Max Weber bis Freyer, herausgearbeitet hat. Kriterien für die Bewertung reaktionärer bzw. progressiver geschichtlich-gesellschaftlicher Erscheinungen fehlten ihm folglich ebenso wie diesen seinen Vorläufern. Gesellschaftswissenschaftlich dergestalt borniert, entdeckte er nun, dass dem Menschen die Starrheit des instinktgeleiteten Verhaltens der Tiere abgeht. Mit Recht sah er darin etwas Ambivalentes, nämlich sowohl einen Vorzug – die Möglichkeit weltverändernden Handelns –, als auch einen Nachteil: Die konstitutive Unsicherheit und Ausartungsbereitschaft unserer plastischen, variablen Antriebsstruktur. Also müsse, meinte er, der Mensch, um nicht nach allen Seiten hin zu zerfließen wie ein Brei, gleichsam auf Schienen gelegt bzw. es müssten ihm Korsettstangen eingezogen werden, und eben diese Außenstützung hätten die Institutionen ihm zu gewähren, die somit unter allen Umständen zu bejahen und zu verteidigen seien. Das stimmt soweit durchaus, wenn man stehen bleibt bei der Banalität, dass dem abstrakten Menschen überhaupt ein ebenso abstraktes Überhaupt an Gemeinschaftsordnung nottue. In der – keineswegs banalen – Geschichte jedoch haben wir es nicht mit derartigen Abstraktionen zu tun, sondern mit den Kämpfen von Klassen, die den sozialen Fortschritt der Menschheitsgattung teils hemmen, teils fördern. Und der Parteinahme in diesen Kämpfen glaubte Gehlen sich dadurch entziehen zu können, dass er wahllos die Institutionen schlechthin als für den Menschen lebensnotwendig legitimierte. In der konkreten Politik verband er dann inmitten der kapitalistischen Gesellschaft einen extremen Konservatismus, gerichtet gegen jede Art von Neuerungswillen bei Anarchisten, Kommunisten, Sozialisten, Demokraten und Liberalen, mit seinen
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pittoresken Huldigungen an die stählernen Institutionen des Sowjetstaates. So sehr die der Linken in bestimmten prekären Situation nützlich und hilfreich sein mochten und so anerkennenswert der Mut bleibt, den Gehlen bei solchen Gelegenheiten an den Tag zu legen pflegte, im Prinzip gilt doch für die Beurteilung solchen Verhaltens das Wort: »Gegen unsere Feinde werden wir uns schon selbst zu schützen wissen, aber Gott schütze uns vor diesem Freund!« Auf Grund seiner entökonomisierten Soziologie hat Gehlen einfach geschichtsfremd gedacht. Goethes »Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage« sagte ihm nichts. »Institution« war zuletzt das von ihm am meisten strapazierte Wort. Nie aber ist er mit dem – von Hegel und Marx auf den Begriff gebrachten – Phänomen gedanklich fertig geworden, dass dieselbe Institution eine Zeit lang historisch notwendig und segensreich sein kann, um dann eines Tages, erstarrt und veraltet, zum Hemmschuh der Entwicklung zu werden. Das heute in grundstürzendem Umbruch begriffene Italien ist denn auch gut beraten, sich mit Arnold Gehlen, dem philosophischen Anthropologen, vertraut zu machen. Die Kenntnisnahme des Gesellschaftsdenkers gleichen Namens mag es sich aufsparen für eine ruhigere Zeit. Berlin, Hauptstadt der DDR, im Mai 1978
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Brief an Arnold Gehlen1 (08. März 1952) Sehr verehrter Herr Professor! Ich habe soeben sowohl den Aufsatz von Frau Dr. Mahn, als auch Ihre Stellungnahme dazu, die Sie mir freundlicherweise zuschickten, gelesen. Eine auch nur halbwegs erschöpfende Stellungnahme zu der ganzen Diskussion ist mir selbstverständlich zur Stunde noch nicht möglich. Sehr vieles will gründlich durchdacht sein, und es fehlt mir momentan auch an Zeit, mich so gründlich damit auseinander zu setzen, wie es sachlich erforderlich wäre. Außerdem möchte ich zunächst den Brief abwarten, den Sie mir in Aussicht gestellt haben. Falls Sie dort auf meine Anfragen und kritischen Bemerkungen des Näheren eingehen sollten, so würde ich es vorziehen, Ihren Brief in die Betrachtung der Diskussion gleich mit einzubeziehen, damit nicht dasselbe doppelt und dreifach gesagt wird. Heute nur ein paar Worte zu dem »Telos« und der Lebensdienlichkeit. Meine Ansicht hierzu ist folgende: Ist es zulässig, von Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit usw. in der Natur zu sprechen? Ich glaube nicht. Was uns als Zweckmäßigkeit in der Natur erscheint, ist in Wirklichkeit Resultat der Ausmerzung des Unangepassten. So erklären sich auch die mannigfaltigen Phänomenen, die sich mit der Kategorie der Zweckmäßigkeit nicht fassen lassen. Stalin sagt einmal, es verändere sich in der Welt alles, aber es verändere sich nichts, ohne dass ein besonderer Grund dafür vorliegt. Bei der Ausmerzung des Unangepassten wird eben nicht die Art eindeutig auf Zwecke »zugeschnitten«, sondern es werden Eigenschaften kausal »abgeschliffen«, die dem Leben-Können unter bestimmten Umweltverhältnissen im Wege stehen. Dabei bleibt vieles erhalten, was zwar nicht lebensdienlich, aber auch nicht lebensstörend ist, und was dann als »zweckfrei« im Sinne einer Ausnahme von der Regel erscheint. Im einzelnen Fall bedürfen diese »zweckfreien« Phänomenen (die eben nur rätselhaft sind, wenn man von einem biologischen Teleologismus ausgeht) einer besonderen Untersuchung (zum Beispiel die bunten Flügel der Schmetterlinge oder das Neugierverhalten des Raben oder unser Blinddarm, unsere Fingernägel, Barthaare, die ja auch nicht unbedingt nötig sind). Es muss im Einzelfall festgestellt werden: Handelt es sich um Residuen einer früheren Stufe der Angepasstheit, um Residuen, die überflüssig geworden sind, ohne störend zu sein, und die sich deshalb erhalten konnten? Oder 1
(AH) 10 Blatt, maschinenschriftlich, 08. März 1952.
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liegt diesen Phänomenen doch ein verborgener »Sinn« zu Grunde, d. h. eine verborgene Beziehung zu den gegenwärtigen Lebensbedingungen der Art. Beides ist möglich. Jedenfalls ist die Zweck-Kategorie bei der Betrachtung der Natur falsch. Sie ist von uns – auf Grund unserer Nahstellung zu zweckbestimmten Phänomenen wie Arbeit, zielgerichtetes Handeln – auf die organische Natur übertragen worden. Sie lässt »eine Fülle von Realität außer sich«, um es à la Hegel auszudrücken. Allerdings ist sie in Grenzen – aber auch nur in Grenzen – brauchbar und in der Medizin sogar praktisch bewährt. Wir werden sie auch nie absolut überwinden können, denn es ist eben unmöglich, bei jedem Gegenstand aus dem Bereich des organischen Lebens die verwickelte Kausalität, die dem scheinbaren Telos zu Grunde liegt, bis ins Letzte aufzudecken. Aber die Aufgabe, dies zu tun, besteht nichtsdestoweniger, sie kann seit Darwin von niemandem mehr übersehen werden, und wenn wir im gegebenen Fall von Zweckdienlichkeit sprechen, so müssen wir uns zumindest im Stil der Kritik der Urteilskraft darüber klar sein, dass es sich um eine »Als ob«-Kategorie, eine Fiktion handelt. (Die Sprache lässt uns leider keine andere Möglichkeit als die, den Telos in Bezug auf das organische Leben in ausdrückliche Gänsefüßchen zu setzen.) Was den Menschen betrifft, so ist das eigenartige dies: Er gelangt zu einem wirklichen Telos (nämlich zum zweckgerichteten Handeln) gerade dadurch, dass er aus dem Rahmen des naturgegebenen, scheinbaren Telos (des Telos in Anführungszeichen) herausfällt, respektive umgekehrt: Er fällt aus dem Rahmen des naturgegebenen, scheinbaren Telos dadurch heraus, dass er zum wirklichen Telos gelangt. (Beides sind zwei Seiten einer Sache: Der Abbau natürlicher Angepasstheit ist das Resultat des Überganges zur Arbeit, zum Handeln, und der Übergang zur Arbeit, zum Handeln ist erzwungen durch den Verlust natürlicher Angepasstheit.) Dabei darf man zweierlei nicht übersehen: 1. Die natürliche Angepasstheit geht bei Menschen keineswegs restlos verloren: a) Der scheinbare Naturteleologismus bleibt im menschlichen Organismus soweit erhalten, soweit er als materielles Substrat auch der menschlichen, der qualitativ neuartigen Art und Weise der Existenzfristung unentbehrlich ist (daher Hunger, Geschlechtstrieb), b) erhalten bleibt mehr oder weniger alles, was der spezifisch menschlichen Existenzfristung nicht im Wege steht (daher unsere gänzlich »überflüssigen« Finger- und Fußnägel, unsere Barthaare usw.). Auf Grund dieser Phänomene hat die ontologische
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Schichtentorte nach wie vor ihre partielle Berechtigung:2 Es gibt in der Tat Organisches auch am Menschen, was mit den gleichen Kategorien begriffen werden kann (und begriffen werden muss) wie das sonstige organische Leben. Die Schichtentorte wird nur falsch, wenn sie über der Kontinuität des Organischen (die von den Viren bis zum menschlichen Organismus reicht) die somatische Seite der Besonderheit des Menschen vergisst. Die spezifisch menschliche Art der Lebensfristung setzt eben einen spezifisch menschlichen Organismus ebensowohl voraus, wie sie ihn zum Resultat hat. Dieser Organismus kann eben nur teilweise mit den organologischen Kategorien erfasst werden, die für die Tierwelt gelten. Die Phänomene der Unangepasstheit, der Instinktschwäche, der Organprimitivität, der Retardation usw., die auch materiell aufgewiesen werden können, sind eben etwas qualitativ völlig Neuartiges, müssen als etwas spezifisch Menschliches mit spezifischen Kategorien analysiert werden, und man kann sie nur verstehen, wenn man ihren untrennbaren Funktionszusammenhang mit den geistigen Tätigkeiten und Eigenarten des Menschen (Arbeit, Sprache, Handeln, Denken, »Exzentrizität« im Sinne Plessners usw.) versteht. Ihr großes, bleibendes Verdienst, sehr verehrter Herr Professor, besteht eben darin, dass Sie diese Phänomene genial aufgezeigt und gegen die ontologischen Körper-Seele-Geist-Schichttorten geltend gemacht haben. Dabei haben Sie freilich, verführt von der eigenen Entdeckung, die Sache überspitzt und so dargestellt, als ob der menschliche Organismus buchstäblich mit Haut und Haaren in den anthropologischen Kategorien, die Sie entwickeln, aufginge, und er geht eben nur mit der Haut darin auf, mit den Haaren nicht. Doch diese Überspitzungen liegen in der Natur einer großen Entdeckung, sie sind nicht das Wesentliche, sie werden entweder von Ihnen selbst oder von späteren Schülern und Epigonen (ich möchte meinen: von den Marxisten, denen die Zukunft gehört) kritisch abgebaut und revidiert werden. Entscheidend ist die Entdeckung, und die bleibt. 2. Man darf nicht übersehen, dass das »Zweckfreie« in der Natur auf einer ganz anderen Ebene liegt als das Zweckfreie im Verhalten des Menschen. In der Natur geht die Ausmerzung des Unangepassten nicht zweckmäßig von statten, und deshalb kann 2
(AH) Auf die hier gemeinte Ontologie Nicolai Hartmanns und Max Schelers wurde bereits verwiesen. Im 10. Band finden sich viele Querverweise, auch auf Gehlen, zu diesem Thema.
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biologisch Überflüssiges existieren oder unter Umständen als Begleiterscheinung irgend eines Anpassungsvorgangs – von diesem aus gesehen »zufällig« – neu entstehen. Im menschlichen Bereich liegen die Dinge ganz anders: Hier führt die Mannigfaltigkeit möglicher Motivationen des Handelns, die durch den Antriebsüberschuss gegeben ist, und die Mannigfaltigkeit der Zwischenhandlungen, die zwischen Absicht und Ziel dazwischengeschaltet werden, zu einer relativen Verselbständigung von Neigungen, Handlungen, Handlungsabläufen usw., die sich vom unmittelbar Lebensdienlichen unter Umständen so weit entfernen, dass ein Zusammenhang beim besten Willen nicht mehr nachgewiesen werden kann. Was heißt denn überhaupt lebensdienlich beim Menschen? Der Säufer und Wüstling sind Grenzfälle, die dem tierischen Beherrschtsein von den Trieben offenbar am nächsten stehen. Ist ihr Verhalten lebensdienlich auch nur für sie selbst? Der Revolutionär Blanqui, der sich Jahrzehnte in den Zuchthäusern Napoleons III. gefangenhalten ließ, obwohl er seiner Idee »nur« hätte abzuschwören brauchen, um frei zu werden, der Revolutionär Julis Fucik, der sich lieber zwei Jahre lang wöchentlich von der Gestapo foltern ließ, als seine Genossen zu verraten, haben offenbar ein Maximum an Verleugnung vitaler Bedürfnisse auf sich genommen. Kann man sagen, dass ihr Verhalten nicht lebensdienlich war? War es nicht lebensdienlich für die Arbeiterklasse? War es nicht auch lebensdienlich (wenn auch nicht gerade im biologischen Sinne) für sie selbst? Entweder man beschränkt sich bei der Analyse »des« Menschen auf ein als Modell fungierendes allgemeingültiges Individuum, dann kann man nur sagen, dass mit dem Antriebsüberschuss und mit dem Reichtum an Zwischenhandlungen, die zum Selbstzweck werden können, eine unabsehbare Fülle an möglichen Motivationen gegeben ist (von der Onanie bis zum Heldentum), die nur zum Teil als biologisch angesehen werden können, und von denen auch die triebhaften nur zum Teil lebensdienlich sind. Oder man spricht von der menschlichen Gesellschaft, dann muss man spezifisch gesellschaftliche Kategorien herausarbeiten, die es gestatten, die vom gesellschaftlichen Leben produzierten Motivationen der Individuen sachgemäß zu bestimmen. Das Schwierige ist eben, dass der Mensch sich der Zuordnung zu einem bestimmten Wissensgebiet entzieht. Er gehört zur Natur und zur Gesellschaft, aber er geht als Ganzes nicht nur in den Disziplinen der Natur- und der Gesellschaftswissenschaft nicht auf (obwohl sie für seine Erforschung unentbehrlich sind), sondern er besteht auch nicht einmal aus säuberlich geschiedenen Bereichen, von denen sich der eine der Na-
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turwissenschaft, der andere der Gesellschaftswissenschaft zuordnen ließe. Die biologischen Kategorien, deren man zu seiner Erforschung bedarf, haben einen spezifisch anthropologischen Einschlag, der mit den gesellschaftlichen Kategorien in untrennbarem Zusammenhang steht, und die gesellschaftlichen Kategorien wiederum, die für die Analyse von Menschengruppen (Klassen, Nationen usw.) angemessen sind, werden falsch und schief, so bald man mit ihnen die nur am Individuum greifbaren Wesenszüge des Menschen zu erfassen sucht. Die Isolierung der zu einer konkreten Einheit zusammengewachsenen Bestimmungen ist unentbehrlich, führt aber auf Schritt und Tritt zu Einseitigkeiten und Fehlern. Bei der Frage des Lebensdienlichen müssen, glaube ich, zwei Gegner bekämpft werden: Einerseits der Idealismus, der die Eigenarten des Menschen mit Kategorien wie »Geist« etc. substanzialisiert und damit jeder rationellen, wissenschaftlichen Erklärung dieser Eigenart den Weg abschneidet, andererseits der Vulgärmaterialismus, der dem ganzen Reichtum menschlicher Geistesschöpfung das »letzte Ziel des Brockens und Beissens« unterstellt (oder wie Freud: den Sexus). Diese beiden Gegner leisten sich im Übrigen wechselseitig Vorschub: je mehr der eine sich »metaphysisch« spreizt und mit der Religion kokettiert, desto »aufgeklärter« darf sich ungestraft der andere vorkommen. Und umgekehrt: Je dümmer und primitiver wiederum der andere ist, desto mehr sieht sich der eine in seinen metaphysisch-religiösen Hirnwebereien bestätigt. (In der ontologischen Schichttorte sind übrigens beide eklektisch miteinander versöhnt: »Unten« tierischer Organismus, »oben« substanzialisierter Geist, Ethos, »Wertempfinden«, sittliche Autonomie usw., und es gilt demnach die alte Spießerlitanei: Was ist der Mensch? Halb Tier, halb Engel!)3 Wie kann man diese beiden Gegner nebst ihrer ontologischen »Synthese« erfolgreich schlagen? Ich glaube: Nur dann, wenn man streng kausal nachweist, wie aus ursprünglich biologischen Ursachen (biologisch im Sinne der Welt des Tieres) die relative Loslösung aus dem Nur-Biologischen entstanden ist, wie das relativ Losgelöste (die neue Qualität des Menschen) rückwirkend auch das biologische Substrat grundlegend verändert (vermenschlicht) hat, wie dieses veränderte biologische Substrat (dieses unangepasste, teils primitivisierte, instinktschwache) – wiederum rückwirkend – sich als Bedingung weiterer Menschwerdung und als Zwang zu weiterer Menschwerdung, d. h. als Zwang zur Ausbildung und Komplizierung der spezifisch menschlichen Art 3
(AH) Zu diesem Themenkomplex siehe Harichs Notizen aus den letzten Jahren seiner Haftzeit (abgedr. in: Band 10, S. 816–866, ergänzend: Band 2, S. 757–776).
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der Lebensfristung, auswirkte, und wie sich im Verlauf der Entwicklung dann die Konsequenzen dieses »Sprunges in eine neue Qualität« relativ verselbständigten und sich als spezifisch gesellschaftliche Determinanten den biologischen überordneten. Diese Aufgabe erfordert meines Erachtens ein neues Buch über den Menschen, ein neues Buch, in dem alle unbestreitbaren Errungenschaften des alten fortbesteht sollten, in dem aber die folgenden Gesichtspunkte maßgebend sein sollten: 1. Eine positive Antwort auf das Problem der Menschwerdung unter Weiterentwicklung der Theorie von Engels (Übergang zur Arbeit als Quelle der Menschwerdung); 2. Herausarbeitung der historisch wandelbaren, von der Gesellschaft und ihren verschiedenen Entwicklungsstufen produzierten Motive, mit denen der höchst plastische, höchst wandelbare Antriebsüberschuss »besetzt« wird. (Als dritten Gesichtspunkt würde ich noch hinzufügen – aber das ist ein Thema für einen besonderen Brief: Die Aufgabe Nummer zwei darf nicht und auf keinen Fall im Sinne eines historischen oder soziologischen Relativismus missverstanden werden: Die philosophischen Ideen sind zwar auch, aber nicht nur einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe »nützlich«, sondern sie haben auch objektiven Wahrheitsgehalt, sind Stufen der Entwicklung des Wissens und müssen als solche gewürdigt werden.4 Ebenso steht es mit den »Moralen«, die abgesehen von ihrer unmittelbaren historisch-gesellschaftlichen Funktion der fortschreitenden Menschwerdung des Menschen, die nie abgeschlossen sein wird, dienen – wenn Sie wollen im Sinne von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts!) Ich will nicht sagen, dass das in Ihrem Werk »fehlt«. Ein Buch ist kein Warenhaus, und eine geniale Entdeckung hat Anspruch auf fragmentarische Ausführung, hat Anspruch sogar auf falsche Verabsolutierungen des neugewonnenen Gesichtspunkts. (In dieser Hinsicht hat Frau Mahn mit ihren Beanstandungen ganz gewiss unrecht!) Aber geleistet werden muss diese Erweiterung und Weiterentwicklung, wenn nicht von Ihnen 4
(AH) Diese Überlegung gehört zu den Grundlagen von Harichs Denken. In den fünfziger Jahren geriet er wegen dieser Einstellung gegenüber dem bürgerlichen (aber auch dem sozialdemokratischen usw.) Erbe in die Kritik der Partei. Übernommen hatte er diese Einstellung von seinen akademischen Lehrern Nicolai Hartmann und Eduard Spranger. Im Aufbau-Verlag bemühte er sich in diesem Sinne durchaus erfolgreich um die Edition solcher »Gipfelleistungen« bürgerlichen Schaffens. (Siehe: Band 1.3, S. 1581–1650.) Die Sache war ihm so wichtig, dass er noch in den siebziger und achtziger Jahren Pläne und Gutachten verfasste (nun vor allem für den Akademie-Verlag). Einige dieser Pläne, Einleitungen usw. kommen in der Edition zur Präsentation, so, um nur ein Beispiel zu nennen, ausführlich zum Sozialutopischen Erbe (siehe: Band 6.2, S. 1168–1179).
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selbst, so von anderen. Wenn Sie selbst sie leisten wollen, müssten Sie sich allerdings – wie ich glaube – mit dem Marxismus vertraut machen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will Sie nicht politisch »werben«, Sie nach dem »Osten« locken oder dergleichen. Ich will Sie nicht einmal – wie gern ich es auch täte – zu einer wohlwollenden Haltung zu meiner Partei veranlassen, Sie um eine Unterschrift für eine Friedensresolution usw. werben. Sie können politisch denken, was und wie Sie wollen, und auch wenn Sie der schwärzeste Reaktionär wären, ein Busenfreund von Herrn Adenauer oder was weiß ich – durch Ihre Leistung sind Sie sozusagen ein für alle Mal selbst zu einer unverlierbaren Entwicklungsstufe des objektiven Wissens geworden und werden es durch nichts mehr verhindern können, dass den kommunistischen Studenten von morgen und übermorgen die positiven Errungenschaften aus dem Menschen als obligatorischer Prüfungsstoff abgefragt werden. Nein, nicht um Politisches geht es mir, sondern darum, dass der »Sokrates und Asklepios in Einem«, nach dem Sie rufen, bereits längst existiert: Er heißt Marx. Ohne Marxismus können Sie die Frage – Biologisch oder nicht und wie weit und in welchem Sinne biologisch? – einfach nicht beantworten. Ohne Marxismus können Sie weder den Vulgärmaterialismus, noch die Vulgarismen der Psychoanalyse, noch die ontologische Schichttorte, noch die metaphysisch-idealistischen Schrullen von Litt, noch den Biologismus erledigen. Ohne Marxismus können Sie sich auch nicht von den Irrtümern des soziologischen und historischen Relativismus und des soziologisierenden Pragmatismus freimachen. Aber mit Marxismus könnten Sie eine Leistung vollbringen, die in historischer Bedeutung etwa der Hegelschen Phänomenologie gleichkäme. Zunächst einmal handelt es sich dabei um die einfache Ausfüllung einer – verstehen Sie! – Bildungslücke. Wenn Sie das Werk von Marx, Engels, Lenin und Stalin kennen würden, so würden Sie den folgenden Satz wahrscheinlich nicht zu Papier bringen, ohne sich ein wenig zu schämen: »Aber welches sind die treffenden soziologischen Kategorien? Denn diese sind uns ziemlich erst zum kleinen Teil bekannt, und so konnte ich (!) bisher erst zwei oder drei beitragen.« Ein paar Zeilen vorher sprechen Sie, was mich sympathisch berührt hat, von »gewissen Machwerken der abstrakten Kunst«. Nun, an diesen will ich Ihnen einmal zu zeigen versuchen, dass die »treffenden soziologischen Kategorien« fix und fertig zu Ihrer Verfügung stehen. Wir Marxisten erklären diese Machwerke folgendermaßen:
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1. Der Kapitalismus unterwirft die Kunst den Gesetzen der Warenproduktion. Daraus folgt: Produktion von leicht verkäuflicher Pseudokunst (Kitsch, Kriminalromane, reißerische Filme, Pornographie usw. usw.). Die Produktion dieser Pseudokunst orientiert sich auf den schlechten Geschmack der breiten Massen und reproduziert diesen schlechten Geschmack. 2. Der Kapitalismus hindert die ausgebeuteten Werktätigen daran, sich die Schätze der Kultur und Bildung anzueignen, hindert sie an der Entfaltung eines hohen ästhetischen Geschmacks und liefert sie damit der korrumpierten Pseudokunst aus. 3. Ein Teil der ernsthaften Kunstschaffenden verliert angesichts des allgemeinen Banausentums, das den Ton angibt, die demokratische Orientierung und flieht in Menschenverachtung, l’art pour l’art und ausgeklügelte Atelierprobleme. 4. Der untergehende Kapitalismus produziert Ideologien, die den Intellektuellen die Möglichkeit rein intellektueller »Rebellionen« vortäuschen. Diese »Rebellionen« verleihen das stolze Gefühl, »radikal« zu sein, und sind trotzdem sehr bequem, weil sie die Unbequemlichkeiten des Kampfes für die wirklich radikale Sache, für den Kommunismus, sozusagen ersparen. Solche »Rebellionen« sind: Nietzsches Schmähungen auf die Liberalen, der Trotzkismus und auch die abstrakte »Kunst«. Oftmals werden damit wirklich rebellische Tendenzen, ehrlich rebellische Tendenzen, ehrlicher Abscheu gegen Spießerei usw. abgefangen und entweder ins Harmlose abgelenkt oder sogar (siehe die »nationale Revolution« der Faschisten) unmittelbar der finstersten Reaktion dienstbar gemacht. 5. Die abstrakte »Kunst« trägt dazu bei, dass die Volksmassen dem Kitsch und Schund ausgeliefert bleiben, weil sie die Schwerverständlichkeit der Kunst ins Extreme steigert. 6. Die untergehende Bourgeoisie kann die Wahrheit in der Kunst nicht vertragen, deshalb begünstigen ihre Klasseninteressen sowohl süßliche Idealisierungen des Lebens, als auch abstrakte Verzerrungen der Wirklichkeit. 7. Die untergehende Bourgeoisie hat keine Ideen mehr, sie hatte die alten Ideen ihrer eigenen revolutionären Epoche entweder über Bord geworfen oder zu heuchlerischen Phrasen werden lassen, kann also der Kunst keine ideellen Impulse mehr geben.
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8. Da das Bedürfnis nach etwas Neuem – wenn auch unklar und verworren – in der Gesellschaft lebendig ist, da sich aber wirklich Neues, schöpferisch Neues mit den Interessen der Herrschenden nicht verträgt, werden Surrogate des Neuen (Moden, inhaltslose Originalität um jeden Preis) angebetet. 9. Dies alles ist natürlich von niemandem beabsichtigt, sondern vollzieht sich – wie alle kollektiven Entwicklungsprozesse im Kapitalismus – spontan, mit elementarer »Naturgewalt«, und je weniger sich die Beteiligten über die letzten Ursachen und Zusammenhänge im Klaren sind, desto ohnmächtiger stehen sie dem allen gegenüber. 10. Die Katastrophen des Zeitalters (Weltkriege, Weltkrisen) werden von denen, die ihnen nicht auf den Grund gehen – auf den ökonomischen Grund – als ausweglose Apokalypse missverstanden, und diese Mystifizierung der nicht begriffenen Realität kommt ebenfalls in der ästhetischen Formzertrümmerung der Abstrakten zum Ausdruck. Da haben Sie die »soziologischen Kategorien«, nach denen Sie fragen, verehrter Herr Professor! Es kommt nur darauf an, die oben angeführten zehn Momente nicht isoliert zu nehmen, sondern in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit, in ihrer gegenseitigen Verzahnung und Verschlingung zu begreifen – und das eben heißt dialektisch denken –, und man erkennt, durch welche konkreten Vermittlungen die ökonomische Basis ihren Einfluss auf das geistige Leben durchsetzt, und mit welchen historischen – nicht absoluten, nicht schlechthin menschlichen – Motiven sie den Antriebsüberschuss etwa der Künstler oder ihrer snobistischen Bewunderer besetzt. Die Ursache letzter Instanz: Dass der Kapitalismus, der einmal Entwicklungsbedingung der Produktivkräfte gewesen ist, zu deren entscheidendem Hemmnis geworden und ins Stadium allgemeiner Fäulnis, Zersetzung, allseitigen Niedergangs eingetreten ist. Freilich: Das alles darf nicht vulgär, nicht soziologisch-schematisch aufgefasst werden. Nichts wäre falscher, als die Entscheidungen der Individuen aus ihrer Zugehörigkeit zu dieser oder jener Klasse, aus ihrem »Milieu« ableiten zu wollen. Die Entwicklung der Klassen wird durch deren ökonomische Interessen bedingt, aber das Handeln der Individuen folgt anderen Gesetzen. Es gibt Denker, die – obwohl bürgerlich – um Wahrheit ringen und sich der existenzialistischen Verseuchung, dem »Nichts« (Passage nicht lesbar, AH), entgegenstemmen. (Sie und der selige Nicolai Hartmann gehören dazu, ferner Max Hartmann.) Es gibt Künstler, die den Realismus und die ästhetischen Werte verteidigen, Künstler, die gegen den Strom schwimmen (gegen den Kitsch sowohl
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wie gegen die abstrakten Scheinrebellionen und den Snobismus). Es gibt durch und durch bürgerliche Menschen, die ein mutiges Nein zum Krieg sagen und dafür einstehen. Aber warum kann es das geben? Weil der Mensch eben in keinem Sinne »festgestellt«, »festgelegt« ist, weder biologisch durch Triebe und Instinkte, noch auch soziologisch durch die Zugehörigkeit zu einer Klasse, durch ein »Milieu«. Beim Durchschnitt der Individuen einer Klasse ist die Antriebsstruktur zwar von klassenmäßig bestimmten Motiven besetzt, vor allem dort, wo politische und soziale Entscheidungen zu fällen sind. Aber in der Gesellschaft als konkreter Totalität sind eben nicht nur diese möglichen (und im Durchschnitt herrschenden) Motive wirksam, sondern auch ganz andere: Humanistische Ideen aus früheren Zeiten (aus der Zeit der Französischen Revolution, aus dem christlichen Humanismus usw.), Mannesmut vor Fürstenthronen, Erinnerungen an Goethe und Heine, Geschmackskultur, die an der Anschauung der Renaissancemalerei geschult ist, der kategorische Imperativ, wenn Sie wollen sogar eine hausbacken-konservative Offiziersehre, die sich bei manchen als immer noch besser erwies als die Naziideologie von gestern und die Söldnerideologie von heute, und die zur Basis echter Opposition werden konnte. (Vom Sozialismus, von dem Leben von Marx und Engels, dessen Spur sich im Leben jedes Menschen unserer Zeit irgendwie nachweisen lässt, will ich gar nicht reden!) Dies alles ist in der Gesellschaft als konkreter Totalität vorhanden und wirksam, weil weder die Gesellschaftsklassen noch die Zeitalter durch chinesische Mauern voneinander getrennt sind. Dies alles ist weder »ewig menschlich«, noch naturgegebenen, noch auch biologisch, sondern es ist historisch-gesellschaftlich geworden, nach eigenem, historischem Gesetz, wird historisch überliefert, übt historische Wirkungen aus und kann zur Determinante menschlicher Entscheidung werden. Es kann, aber ebenso kann auch ganz anderes dazu werden: Die feige Anpassung an das Gewünschte, die Hingabe an den Wettlauf um den Profit, das träge Sichwälzen in den schlechten Gewohnheiten, die einem durch ein schlechtes Milieu andressiert wurden, oder solche ebenfalls möglichen Determinanten wie Laster, Trunksucht, Verbrechen. Es kann auch Biologisches herrschen, wenigstens zeitweise: Etwa eine tolle, himmelstürmende Verliebtheit; aber dass sie eben den Himmel stürmt und nicht einzig und allein den Unterrock, auch das ist gesellschaftlich bedingt, weil historisch hindurch gegangen durch den Minnedienst der Feudalzeit und die Straßburger Lyrik des jungen Goethe und die Verse Heines usf.
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Der Mensch ist eben variabel und plastisch, er ist offen, nicht nur der Triebgebundenheit gegenüber. Er ist »offen« auch in dem Sinne, dass seine Antriebsstruktur in schier unerschöpflichen Kombinationen von gesellschaftlich wirksamen möglichen Motivierungen des Verhaltens besetzt werden kann. Und bei alledem ist er immer – das sehen Sie ganz richtig – das Resultat dessen, was er als primär Handelnder aus sich macht. Wenn er von den möglichen Motiven besetzt wird, so nicht in dem Sinne, dass er passiv wäre, dass sie ihn als Passiven determinierten. Nein, das letztlich Menschliche ist bei aller Determiniertheit das Moment der aktiven Wahl, des Sich-Entscheidens, das der Natur eines primär arbeitenden, also handelnden, praktischen Wesens entspricht. Deshalb ist er verantwortlich zu machen, für das, was er tut, und was er ist, deshalb wird sogar sein Charakter zu Recht als sein Verdienst ihm angerechnet oder als schuldhaft ihm übel genommen, obwohl sich sein Verschulden aus soziologischer usw. Bedingtheit erklären lässt. Die Verantwortung kann niemandem erspart werden, auch durch biologische, psychologische oder soziologische Erklärungen nicht. (Auch in diesem Punkt also darf der Marxismus nicht mit Vulgärsoziologie verwechselt werden. Wir sagen zwar: Verändert die Zustände, damit das Verbrechen verschwindet! Wir sagen aber nicht: Sprecht den Verbrecher frei, denn an dem, was er tat, sind die Zustände schuld. Denn die Zustände in ihrer objektiven Widersprüchlichkeit sind eben nicht nur an Verbrechen schuld, sondern auch an anderem: An der Menschlichkeit und Solidarität der Unterdrückten, an der heiligen Empörung und dem Heroismus derer, die für eine bessere Zukunft kämpfen usw.). Die Freiheit der Entscheidung in der »Situation«, das ist das, worin die Existenzialisten unbedingt Recht haben, und worin ihnen der Marxismus niemals widersprechen wird. Sie haben nur Unrecht, wenn sie damit die Leugnung der objektiven Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung begründen und ein Abstraktum der subjektiven »Wahlfreiheit« dem Abstraktum eines ungesetzlichen gesellschaftlichen Chaos gegenüberstellen.5 Ich will damit schließen. Wenn es Ihnen recht ist: Nur vorläufig! Verstehen Sie bitte meine Anpreisung des Marxismus nicht falsch. Ich kann nicht anders, als Ihnen, den 5
(AH) Zu diesem Themengebiet siehe Harichs Notizen zu Sartre (abgedr. in: Band 1.3, S. 1994–2013) sowie seine weiteren Ausführungen zum Existenzialismus, die sich vor allem im 9. Band nachlesen lassen (dort neben verschiedenen brieflichen Äußerungen gegenüber Georg Lukács die Texte: Lektoratsgutachten zu Existenzialismus oder Marxismus?, 1951, S. 128–133; Stellungnahme zu der Kritik des Genossen Dr. Klaus Schrickel an dem Buch Existenzialismus oder Marxismus? von Georg Lukács, 1952, S. 133–147)).
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ich verehre, und von dessen Drang nach Wahrheit ich tief, tief überzeugt bin, etwas von dem mitzuteilen, was ich selbst für die Wahrheit halte. Ich warte voller Begierde auf Ihren Brief. Mit bestem Gruß Ihr (AH) Den gerade wiedergegebenen Brief schickte Harich nicht ab. Stattdessen begann er noch einmal von vorn, das, was er zu sagen hatte, war ihm offensichtlich sehr wichtig. Aus zehn wurden vierundzwanzig Seiten. Der folgende Brief enthält zwar einige kleinere Überschneidungen zum vorhergehenden, aber diese sind insofern in Kauf zu nehmen, da sich die Bedenken und Argumentationsmuster von Harich sehr gut erkennen lassen. Den zweiten Brief sendete er dann ab.
Brief an Arnold Gehlen6 (08. März 1952) Sehr verehrter Herr Professor Gehlen! Ich habe soeben den Aufsatz von Frau Dr. Mahn und Ihre Antwort darauf gelesen. Eine auch nur halbwegs erschöpfende Stellungnahme zu dieser Diskussion ist mir selbstverständlich zur Stunde noch nicht möglich. Sehr vieles will erst gründlich durchdacht sein, und ich bin leider zur Zeit derartig mit Arbeit überhäuft, dass es mir schwerfällt, mich so gründlich damit auseinander zu setzen, wie es sachlich erforderlich wäre. Außerdem möchte ich zunächst den Brief abwarten, den Sie mir in Aussicht gestellt haben. Falls Sie dort auf meine Anfragen und kritischen Bemerkungen zu Ihrem Werk des Näheren eingehen sollten, so würde ich Ihren Brief in die Betrachtung der Diskussion gleich mit einbeziehen, damit nicht dasselbe doppelt und dreifach gesagt wird. Heute kann ich nur ein paar Fragen, die mir wesentlich zu sein scheinen, herausgreifen. 1. Ein Wort zu dem »Telos« und der »Lebensdienlichkeit«. Meine Ansicht hierzu ist die folgende: Ich halte es zunächst einmal prinzipiell nicht für zulässig, ohne weiteres von Zweckmäßigkeit, Nützlichkeit usw. in Bezug auf die organische Natur zu sprechen. Wenn man es tut, so gelangt man unweigerlich in der Konsequenz zu der platten Wolffschen Teleologie, nach der die Mäuse dazu da sind, von den Katzen gefressen zu werden, und die Katzen, um die Mäuse zu fressen, und beide, um die Weisheit des
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(AH) 24 Blatt, maschinenschriftlich, 08. März 1952.
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Schöpfers zu bekunden.7 Im Prinzip ist es dann auch gleichgültig, ob man diese Teleologie etwa à la Driesch »vertieft« oder ob man es bei ihren platten Versionen bewenden lässt. Nur wenn man grundsätzlich nicht mit teleologischen Vorurteilen an die organische Natur herangeht, kann man auch die mannigfaltigen Phänomene, die sich mit der Kategorie der Zweckmäßigkeit nicht fassen lassen, erklären. Stalin hat einmal gesagt, es verändere sich in der Welt alles, aber es verändere sich nichts, wenn nicht ein bestimmter Grund dafür vorliege. Was uns als Zweckmäßigkeit in der Natur erscheint, ist in Wirklichkeit Resultat der Ausmerzung des Unangepassten, und bei der Ausmerzung des Unangepassten, die ein Spezialfall des universellen Gesetzes des Kampfes der Gegensätze ist, wird eben nicht 7
(AH) Harich bezog sich (er verwendete diese Passage sehr häufig, zuletzt in den Hartmann-Manuskripten, Band 10) auf Engels’ Dialektik der Natur. Die Schrift war für den undogmatischen und der Parteiphilosophie kritisch gegenüberstehenden Marxismus der DDR-Intellektuellen von zentraler Bedeutung. Dort heißt es im hier relevanten Kontext: »So hoch die Naturwissenschaft der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts über dem griechischen Altertum stand an Kenntnis und selbst an Sichtung des Stoffs, so tief stand sie unter ihm in der ideellen Bewältigung desselben, in der allgemeinen Naturanschauung. Den griechischen Philosophen war die Welt wesentlich etwas aus dem Chaos Hervorgegangenes, etwas Entwickeltes, etwas Gewordenes. Den Naturforschern der Periode, die wir behandeln, war sie etwas Verknöchertes, etwas Unwandelbares, den meisten etwas mit einem Schlage Gemachtes. Die Wissenschaft stak noch tief in der Theologie. Überall sucht sie und findet sie als Letztes einen Anstoß von außen, der aus der Natur selbst nicht zu erklären ist. Wird auch die Anziehung, von Newton pompöserweise allgemeine Gravitation getauft, als wesentliche Eigenschaft der Materie aufgefasst, woher kommt die unerklärte Tangentialkraft, die erst die Planetenbahnen zu Stande bringt? Wie sind die zahllosen Arten der Pflanzen und Tiere entstanden? Und wie nun gar erst der Mensch, von dem doch feststand, dass er nicht von Ewigkeit her da war? Auf solche Fragen antwortete die Naturwissenschaft nur zu oft, indem sie den Schöpfer aller Dinge dafür verantwortlich machte. Kopernikus, im Anfang der Periode, schreibt der Theologie den Absagebrief; Newton schließt sie mit dem Postulat des göttlichen ersten Anstoßes. Der höchste allgemeine Gedanke, zu dem diese Naturwissenschaft sich aufschwang, war der der Zweckmäßigkeit der Natureinrichtungen, die flache Wolffsche Teleologie, wonach die Katzen geschaffen wurden, um die Mäuse zu fressen, die Mäuse, um von den Katzen gefressen zu werden, und die ganze Natur, um die Weisheit des Schöpfers darzutun. Es gereicht der damaligen Philosophie zur höchsten Ehre, dass sie sich durch den beschränkten Stand der gleichzeitigen Naturkenntnisse nicht beirren ließ, dass sie – von Spinoza bis zu den großen französischen Materialisten – darauf beharrte, die Welt aus sich selbst zu erklären, und der Naturwissenschaft der Zukunft die Rechtfertigung im Detail überließ. Ich rechne die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts noch mit zu dieser Periode, weil ihnen kein anderes naturwissenschaftliches Material zu Gebote stand als das oben geschilderte.« Engels: Dialektik der Natur, in: Marx/Engels: Werke, Band 20, Berlin, 1962, S. 315 f.
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die Art eindeutig auf Zwecke »zugeschnitten«, sondern es werden hier einerseits diejenigen Eigenschaften, die dem Lebenkönnen unter bestimmten Umweltverhältnissen im Wege stehen, »abgeschliffen«, andererseits wird sie zur Ausbildung neuer, angepasster, »zweckmäßiger« Eigenschaften gezwungen. Bei dem »Abschleifen« nun bleibt selbstverständlich vieles erhalten, was zwar nicht lebensdienlich, aber auch nicht lebensstörend ist, und was dann als »zweckfrei« im Sinne einer »Ausnahme von der Regel« erscheint. Aber weil die Regel keine teleologische Regel ist, kann man auch nicht von »zweckfreien« Phänomenen sprechen. Im einzelnen Fall bedürfen diese Phänomene (zum Beispiel die von Ihnen genannten bunten Flügel der Schmetterlinge oder das Neugierverhalten des Raben oder auch unser Blinddarm, unsere Fingernägel und Barthaare, die ja auch nicht unbedingt »nötig« sind, sondern ganz im Gegenteil) einer besonderen Untersuchung ihrer Herkunft. Es muss im konkreten Fall festgestellt werden: Handelt es sich um Residuen einer früheren Stufe der Angepasstheit, die »überflüssig« geworden sind, ohne störend zu sein, und die sich deshalb erhalten konnten? Oder liegt diesem Phänomenen doch ein verborgener »Sinn« zu Grunde, d. h. eine von der Forschung bislang noch nicht aufgedeckte Beziehung zu den gegenwärtigen Lebensbedingungen der Art? Oder ist das »Überflüssige« als Begleiterscheinung irgendeines Anpassungsvorgangs – von diesem aus gesehen: zufällig, aber an sich kausal notwendig – neu entstanden? Es ist doch wohl klar, dass die ganze Mannigfaltigkeit der Tier- und Pflanzenarten als solche überflüssig ist, dass sich eine teleologische determinierte Natur von erheblicher Armut denken ließe. Wenn man dies aber in Bezug auf das Ganze des organischen Lebens ohne weiteres zugeben muss, warum nicht auch in Bezug auf jeden beliebigen vorgefundenen Organismus? Die so genannten »Launen der Natur« sind eben Produkte jener zahllosen objektiven Zufällen in der Natur, die sich immer am Schnittpunkt mehrerer voneinander unabhängiger Kausalketten ergeben. Die Zweckkategorie ist bei Betrachtung der Natur jedenfalls falsch. Sie ist von uns – auf Grund unserer Nahstellung zu den von uns selbst vollzogenen Akten der Arbeit, des zielgerichteten Handelns usw. – auf die organische Natur übertragen worden, und sie lässt – um es mit den Worten Hegels zu sagen (die freilich nicht auf dieses Problem gemünzt sind) – »eine Fülle von Realität außer sich«. Allerdings ist sie in Grenzen – aber auch nur in Grenzen – brauchbar und bis zu einem gewissen Grade sogar praktisch bewährt. Wir werden diese Kategorie auch nie absolut überwinden können; denn es ist unmöglich, bei jedem Gegenstand aus dem Bereich des organischen Lebens die
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verwickelten Kausalketten, die dem scheinbaren Telos zu Grunde liegen, bis ins Letzte aufzudecken – jedes Ding ist unerschöpflich. Aber die Aufgabe, dies zu tun, besteht nichtsdestoweniger, und sie kann seit Darwin von niemandem mehr übersehen werden. Friedrich Engels schrieb im November 1859 an Marx: »Übrigens ist der Darwin, den ich jetzt gerade lese, ganz famos. Die Teleologie war nach einer Seite hin noch nicht kaputt gemacht, das ist jetzt geschehen. Dazu ist bisher noch nie ein so großartiger Versuch gemacht worden, historische Entwicklung in der Natur nachzuweisen, und am wenigsten mit solchem Glück. Die plumpe englische Methode muss man natürlich in Kauf nehmen.« Und Marx schrieb im Jahre 1861 an Lassalle: »Sehr bedeutend ist Darwins Schrift und passt mir sehr als naturwissenschaftliche Unterlage des gesellschaftlichen Klassenkampfes. Die grob englische Manier der Entwicklung muss man natürlich mit in den Kauf nehmen. Trotz allem Mangelhaften ist hier zuerst der Teleologie in der Naturwissenschaft nicht nur der Todesstoß gegeben, sondern der rationelle Sinn derselben empirisch auseinandergelegt.« Für die Richtigkeit dieser Äußerungen von Marx und Engels habe ich erst jüngst eine Bestätigung gefunden in der Naturphilosophie des verstorbenen Nicolai Hartmann, in dem Teil über die organologischen Kategorien. Dort wird auch sehr richtig ausgeführt, mit welcher kritischen Restriktion wir bei organischen Phänomenen von Telos sprechen können: Wir können es, wenn wir uns im Stil der Kritik der Urteilskraft darüber klar sind, dass es sich um eine »Als-ob«-Kategorie, um eine Fiktion handelt. (Die Sprache lässt uns leider keine andere Möglichkeit, als dies in der Weise auszudrücken, dass wir den Telos in Bezug auf das organische Leben in ausdrückliche Gänsefüßchen setzen.) 2. Was nun den Menschen betrifft, so ist das Eigenartige dies: Er gelangt zu einem wirklichen Telos (nämlich zur Arbeit und damit zum zielstrebigen Handeln) gerade dadurch, dass er aus dem Rahmen des naturgegebenen, scheinbaren Telos (des Telos in Gänsefüßchen) herausfällt. Respektive umgekehrt: Er fällt aus dem naturgegebenen scheinbaren Telos dadurch heraus, dass er sich zum wirklichen Telos erhebt. Beides sind zwei einander wechselseitig bedingende Seiten ein- und derselben Sache: Der Abbau natürlicher Angepasstheit ist Resultat des Übergangs zur Arbeit, zum Handeln, zu einer höheren Stufe der Lebensfristung, und der Übergang zur Arbeit, zum Handeln, zur Einsicht in die Sache, zur praktischen Beherrschung der Sache durch Einsicht usw. ist erzwungen durch den Verlust natürlicher Angepasstheit.
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Die eine Seite der Sache – das »Mängelwesen« – hat zuerst La Mettrie gesehen, als er darüber nachdachte, warum man bei einer jungen Ziege, die am Abgrund weidet, nicht befürchten müsse, dass sie in den Abgrund fällt, wohl aber bei einem kleinen Kind, das am Abgrund spielt. Herder hat dann diesen Ansatz in der genialen Schrift über den Ursprung der Sprache weiter ausgesponnen und zuerst die Phänomene der »Entlastung« beschrieben, und die Fortsetzung dieser in der Geschichte der Philosophie verschütteten Linie auf der höheren Ebene der Forschungsresultate von Bolk u. a. ist Ihr großes Verdienst. (Ein früherer Vorläufer in der Antike ist übrigens Platon, Protagoras, 321a– 324, wo auch schon das Feuer, die Staatsweisheit und die Tugenden als Kompensation der organischen »Mängel« erfasst werden!) Die andere Seite – die Arbeit als das grundlegende Moment des menschlichen Telos – hat der junge Hegel bei seinen Studien der englischen politischen Ökonomie (vor allem Smith) entdeckt (siehe Jenenser Realphilosophie, I, Seite 220–221, und II, Seite 198–199). In der Wissenschaft der Logik hat Hegel später aus dieser seiner Entdeckung weittragende Schlussfolgerungen gezogen (zum Beispiel in Bezug auf die Erkenntnis und Beherrschung der Natur durch den Menschen, Werke, V, Seite 217, oder in Bezug auf den Zusammenhang zwischen schlussfolgerndem Denken und Benutzung von Werkzeugen, Werke, V, S. 226!).8 Die Linie der Entdeckung dieser Seite gipfelt bei den Klassikern des Marxismus. Marx sagt im Kapital: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigene Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer 8
(AH) Zeitgleich zu diesem Brief und seinen anthropologischen Studien arbeitete Harich intensiv zur klassischen deutschen Philosophie des Idealismus im Allgemeinen und zu Hegels Philosophie im Besonderen. Es entstanden zahlreiche Manuskripte und Aufsätze, die zum großen Teil im 5. Band (siehe auch die Bände 3, 4, 6.1, 6.2) präsentiert werden. Dort auch der Abdr. von Harichs skandalumwitterter Hegel-Vorlesung (S. 437–714).
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seiner eigenen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist im urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seine Willen unterordnen muss. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eigneen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.«9 Engels schreibt in seinem nachgelassenen Fragmenten über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen: »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums, sagen die politischen Ökonomen. Sie ist dies – neben der Natur, die ihr den Stoff liefert, den sie in Reichtum verwandelt. Aber sie ist noch unendlich mehr als dies. Sie ist die erste
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(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Das Kapital, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 23: Das Kapital, Band I, Berlin, 1968, S. 192 f. Weiter heißt es: »Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel. Die Erde (worunter ökonomisch auch das Wasser einbegriffen), wie sie den Menschen ursprünglich mit Proviant, fertigen Lebensmitteln ausrüstet, findet sich ohne sein Zutun als der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit vor. Alle Dinge, welche die Arbeit nur von ihrem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erdganzen loslöst, sind von Natur vorgefundene Arbeitsgegenstände. So der Fisch, der von seinem Lebenselement, dem Wasser, getrennt, gefangen wird, das Holz, das im Urwald gefällt, das Erz, das aus seiner Ader losgebrochen wird. Ist der Arbeitsgegenstand dagegen selbst schon sozusagen durch frühere Arbeit filtriert, so nennen wir ihn Rohmaterial. Z. B. das bereits losgebrochene Erz, das nun ausgewaschen wird. Alles Rohmaterial ist Arbeitsgegenstand, aber nicht jeder Arbeitsgegenstand ist Rohmaterial. Rohmaterial ist der Arbeitsgegenstand nur, sobald er bereits eine durch Arbeit vermittelte Veränderung erfahren hat.« (Ebd., S. 193.)
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Grundbedingung alles menschlichen Lebens, und zwar in einem solchen Grade, dass wir in gewissem Sinn sagen müssen: Sie hat den Menschen selbst geschaffen.«10 Und in den Notizen Lenins zu Hegels Logik heißt es: »Für Hegel ist das Handeln, die Praxis, ein logischer Schluss, eine Figur der Logik, und das ist wahr. Natürlich nicht in dem Sinne, dass die Figur der Logik ihr ›Anderssein‹ in der Praxis des Menschen hätte (= absoluter Idealismus), sondern dass vice versa die Praxis des Menschen sich dadurch, dass sie sich milliardenmale wiederholt, im Bewusstsein des Menschen als logische Figur einprägt. Diese Figuren haben gerade (und nur) Kraft dieser milliardenmaligen Wiederholung die Festigkeit eines Vorurteils und axiomatischen Charakter.«11 Oder Marx in seinen Thesen über Ludwig Feuerbach aus dem Jahre 1845: »(1.) Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts 10
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(AH) Zitat nachgewiesen in: Engels, Friedrich: Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 20, Berlin, 1962, S. 444. Die von Harich zitierte Passage eröffnet das Fragment. Weiter heißt es: Weiter heißt es: »Vor mehreren hunderttausend Jahren, während eines noch nicht fest bestimmbaren Abschnitts jener Erdperiode, die die Geologen die tertiäre nennen, vermutlich gegen deren Ende, lebte irgendwo in der heißen Erdzone – wahrscheinlich auf einem großen, jetzt auf den Grund des Indischen Ozeans versunkenen Festlande – ein Geschlecht menschenähnlicher Affen von besonders hoher Entwicklung. Darwin hat uns eine annähernde Beschreibung dieser unserer Vorfahren gegeben. Sie waren über und über behaart, hatten Bärte und spitze Ohren, und lebten in Rudeln auf Bäumen. Wohl zunächst durch ihre Lebensweise veranlasst, die beim Klettern den Händen andere Geschäfte zuweist als den Füßen, fingen diese Affen an, auf ebener Erde sich der Beihülfe der Hände beim Gehen zu entwöhnen und einen mehr und mehr aufrechten Gang anzunehmen. Damit war der entscheidende Schritt getan für den Übergang vom Affen zum Menschen. Alle noch jetzt lebenden menschenähnlichen Affen können aufrecht stehen und sich auf den beiden Füßen allein fortbewegen. Aber nur zur Not und höchst unbehülflich. Ihr natürlicher Gang geschieht in halbaufgerichteter Stellung und schließt den Gebrauch der Hände ein. Die meisten stützen die Knöchel der Faust auf den Boden und schwingen den Körper mit eingezogenen Beinen zwischen den langen Armen durch, wie ein Lahmer, der auf Krücken geht. Überhaupt können wir bei den Affen alle Übergangsstufen vom Gehen auf allen vieren bis zum Gang auf den beiden Füßen noch jetzt beobachten. Aber bei keinem von ihnen ist der letztere mehr als ein Notbehelf geworden. Wenn der aufrechte Gang bei unseren behaarten Vorfahren zuerst Regel und mit der Zeit eine Notwendigkeit werden sollte, so setzt dies voraus, dass den Händen inzwischen mehr und mehr anderweitige Tätigkeiten zufielen.« (Ebd., S. 444 f.) (AH) Zitat nachgewiesen in: Lenin: Konspekt zur »Wissenschaft der Logik«, in: Lenin: Werke, Band 38, Berlin, 1964, S. 207 f.
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oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis; nicht subjektiv. Daher die tätige Seite abstrakt im Gegensatz zu dem Materialismus vom dem Idealismus – der natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt – entwickelt. Feuerbach will sinnliche – von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte: Aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. Er betrachtet daher im Wesen des Christenthums nur das theoretische Verhalten als das echt menschliche, während die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform gefasst und fixiert wird. Er begreift daher nicht die Bedeutung der ›revolutionären‹, der ›praktisch-kritischen‹ Tätigkeit. (2.) Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Lenin, 1920 Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, i. e. die Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage. (3.) Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss.«12 Auch hierzu haben Sie mit Ihren Analysen des Menschen als eines primär handelnden Wesens Neues und Wichtiges beigetragen, ja, man kann sagen, dass Sie in bestimmten Kapiteln und Teilen Ihres Buches diese genialen Hinweise der Klassiker des Marxismus (wahrscheinlich ohne es zu wissen und zu wollen) konkretisiert haben. Nur ist es eben so, dass die Arbeit das grundlegende Moment in dem ganzen Komplex von Handeln, Tätigkeit, Praxis, menschlicher Teleologie, Naturerkenntnis, Naturbeherrschung, Logik 12
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin, 1969, S. 5 ff. Harich zitierte die ersten drei Thesen. Die dritte geht wie folgt weiter: »Sie muss daher die Gesellschaft in zwei Teile – von denen der eine über ihr erhaben ist – sondieren. Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.« (Ebd.)
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und biologischer Retardation und Rückbildung darstellt. Denn einerseits stellt die Arbeit das plausible Zwischenglied zwischen dem »Lebensdienlichen« und den abgeleiteten, entfernteren Modifikationen der handelnden »Natur« des Menschen dar, andererseits hat die Arbeit jene nicht mehr natürlichen Lebensbedingungen geschaffen, unter denen die Wirksamkeit des Gesetzes der natürlichen Zuchtwahl aufgehoben wird, so dass ein organisches »Mängelwesen« entstehen kann und entstehen muss und seine Mängel biologisch vererben kann. Was übrigens Marx 1845 mit dem Idealismus meint, der die »tätige Seite« im Gegensatz zum Materialismus entwickelt habe, »aber nur abstrakt«, ist für jeden Kenner der Geschichte der Philosophie klar: 1. Den aktiv-energetischen Charakter der Leibnizschen Monaden. 2. Die Kantische Entdeckung des »spontanen« (d. h. aktiven) Charakters des Denkens (dessen Ursprung aus dem Nachdenken über die Experiment-Praxis sich gar nicht leugnen lässt, wenn man – wie Sie es zu meiner Freude irgendwo tun – die Stellen aus der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, B XII-XVII – in Betracht zieht). 3. Die Fichtesche Wissenschaftslehre. 4. Hegels Phänomenologie und Wissenschaft der Logik. Das alles hatte Feuerbach mit dem Idealismus über Bord geworfen, und Marx hat es gerettet und auf der Grundlage des dialektischen Materialismus weiterentwickelt.13 Sie haben noch eine lebendige Beziehung zu dieser großen Tradition deutschen Denkens, die im Marxismus »aufgehoben« ist. Aber weil Sie den Marxismus nicht kennen – oder ausschließlich in Form der politischen Agitation der Kommunistischen Partei –, lassen Sie sich auf Schritt und Tritt von den pragmatistischen Missverständnissen des Wesens der Praxis verführen. (Doch davon weiter unten!) 3. Man darf nicht vergessen, dass die natürliche Angepasstheit auch beim Menschen keineswegs restlos verloren geht. Einerseits bleibt der scheinbare Naturteleologismus im menschlichen Organismus und dessen Funktionen soweit erhalten, so weit er als materielles Substrat auch der menschlichen Art der Existenzfristung unentbehrlich ist (daher Hunger und Geschlechtstrieb usw.) Andererseits bleibt mehr oder weniger alles erhalten, was der spezifisch menschlichen Art der Existenzfristung nicht im Wege steht. Im Wege stünde ihr zum Beispiel das tierische Unterworfensein unter den Mechanismus 13
(AH) Zu Leibniz, Fichte, Hegel, Kant, Feuerbach usw. siehe die jeweiligen Texte dieser Edition. Einen guten Überblick zu Harichs Positionen bieten die entsprechenden Vorlesungen (abgedr. in den Bänden 3, 4, 5, 6.1, 6.2).
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der Triebe und Instinkte, das unmittelbare Umschlagen der Reize in Reaktionen, die Verengung der Wahrnehmung auf das vital Bedeutsame – all das, was im Prozess der Menschwerdung mitsamt seinen somatischen Substraten »abgebaut« wird. Im Wege steht der spezifisch menschlichen Art der Existenzfristung aber manches andere nicht, und da sich nichts verändert, wenn nicht ein besonderer Grund dafür vorhanden ist, haben wir zum Beispiel unsere für unser Menschsein gänzlich »überflüssigen« Finger- und Fußnägel, unsere Barthaare usw. Auf Grund dieser Phänomene, die teilweise auch Frau Dr. Mahn im Sinn hat, hat die ontologische »Schicht-Torte« à la Nicolai Hartmann nach wie vor ihre partielle Berechtigung: Es gibt in der Tat auch am Menschen Organisches, was mit den gleichen Kategorien begriffen werden kann (und begriffen werden muss) wie das übrige organische Leben. Die ontologische »Schichten-Torte« wird nur grundfalsch, wenn sie über der Kontinuität des organischen Lebens – die von den Viren bis zum menschlichen Organismus reicht – die somatische Seite der Besonderheit des Menschen vergisst, die nicht mit den gleichen Kategorien erfasst werden kann, und auf die es ankommt, wenn vom Menschen die Rede ist. Nur aus der Perspektive des primär handelnden, praktischen Wesens kann diese somatische Seite der Besonderheit des Menschen erschlossen werden. Die spezifisch menschliche Art der Lebensfristung setzt einen spezifisch menschlichen Organismus ebensowohl voraus, wie sie ihn zum Resultat hat. Dieser Organismus entzieht sich in allen seinen entscheidenden Besonderheiten dem Begreifen, wenn man an ihn mit den organologischen Kategorien herangeht, die für die Tierwelt gelten. Die Phänomene der Unangepasstheit, der Instinktschwäche, der Organprimitivität, der Retardation, des Festhaltens gewisser embryonaler Formen usw. – alles Dinge, die auch materiell aufgewiesen werden können –, sind eben etwas qualitativ völlig Neuartiges, müssen als etwas spezifisch Menschliches mit spezifischen Kategorien analysiert werden, und man kann sie nur verstehen, wenn man ihren untrennbaren Funktionszusammenhang, ihre dialektische Wechselwirkung mit den geistigen Tätigkeiten und Eigenarten des Menschen, vor allem aber mit seiner Eigenart, primär handelndes, tätiges Wesen zu sein, versteht, wenn man sie mit der Arbeit, der Sprache, dem Handeln, dem Denken, der »Exzentrizität« im Sinne Plessners, dem Ethos usw. als einheitlichen Komplex einander wechselseitig bedingender Momente auffasst. Ihr großes, bleibendes Verdienst, sehr verehrter Herr Professor, besteht eben darin, dass Sie – unter schöpferischer Weiterentwicklung gewisser Anregungen Herders – diese
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Phänomene genial aufgezeigt, sie durch Forschungsresultate der Wissenschaft (Bolk usw.) empirisch unanfechtbar belegt und gegen die simplifizierenden Körper-Seele-Geist-Einheitsschichttorten kämpferisch geltend gemacht haben. Dabei haben Sie nun freilich, verführt von der Faszinationskraft der eigenen Entdeckung, die Sache überspitzt und so dargestellt, als ob der menschliche Organismus buchstäblich »mit Haut und Haaren« in den anthropologischen Kategorien, die Sie entwickeln, aufginge, und er geht eben nur mit der Haut darin auf, mit den Haaren nicht, genauer: nicht mit allen Haaren. Doch diese Überspitzungen liegen in der Natur einer großen, bahnbrechenden Entdeckung. Sie finden sich – in anderer Weise – bei Darwin auch. Sie sind nicht das Wesentliche, sie werden entweder von Ihnen selbst oder von späteren Schülern und Epigonen – ich möchte meinen: namentlich von den Marxisten, denen die Zukunft gehört – kritisch abgebaut und revidiert werden. Entscheidend ist die Entdeckung, und die bleibt, und die ist so bedeutend, dass das säuerliche Eingeständnis Ihrer »Verdienste«, wie es sich bei Frau Dr. Mahn findet, denn doch reichlich kläglich und beckmesserhaft wirkt. (Wenn nach der ganzen Litt-Schule kein Hahn mehr krähen wird, wird Ihr Buch vom Menschen, ungeachtet aller Überspitztheiten und Fehler, immer noch als eine unentbehrliche Entwicklungsstufe des fortschreitenden Wissens gelten!) Es ergibt sich aber, abgesehen von der Überspitzung, noch eine andere Frage: Ist es zulässig, die neuen Kategorien, die Sie herausgearbeitet haben, noch als biologische zu bezeichnen? Man kann das freilich tun und die Angelegenheit als terminologische Bagatelle ansehen. Man hat auch in Grenzen ein sachliches Recht dazu; denn diese Kategorien erfassen Phänomene, die ihre somatische, biologische Seite haben. Aber erstens lassen Sie selbst keinen Zweifel darüber, dass es sich hier nicht um Biologie schlechthin, sondern um eine spezifisch menschliche Biologie handelt – warum sollte man dann nicht zum Zwecke sauberer Unterscheidung der Begriffe von anthropologischen Kategorien, von einer spezifisch anthropologischen Betrachtungsweise sprechen? Und zweitens – das ist meine Meinung – ist die somatische Seite der von Ihnen entdeckten und beschriebenen Erscheinungen das entwicklungsgeschichtlich Sekundäre, da es sich um biologische Auswirkungen der Lebensweise eines Organismus handelt, der durch Arbeit seine künstlichen Lebensbedingungen selbst produziert. Sie werden sich wundern, so etwas von einem Materialisten zu hören, aber Sie hören es von einem
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dialektischen Materialisten, der das materielle Substrat des menschlichen Lebens in der Sphäre der Produktion und Reproduktion der materiellen Güter sieht, nicht in der Natur. »Worin besteht der Hauptfaktor im System der Bedingungen des materiellen Lebens der menschlichen Gesellschaft, der das Gepräge der Gesellschaft, den Charakter der Gesellschaftsordnung, die Entwicklung der Gesellschaft von einer Ordnung zu anderen bestimmt? Diesen Faktor sieht der dialektische und historische Materialismus in der Art und Weise der Gewinnung der Mittel für den Lebensunterhalt, die für die Existenz der Menschen notwendig sind, in der Produktionsweise der materiellen Güter – Nahrung, Kleidung, Schuhwerk, Wohnung, Heizung, Produktionsinstrumente u. ä. –, die notwendig sind, damit die Gesellschaft leben und sich entwickeln kann.«14 (Stalin) Und drittens: Wenn Sie konsequent Nietzsches Gedanken einer biologischen Interpretation des Menschen durchführen wollen, müssen Sie zu kolossalen Missverständnissen spezifisch gesellschaftlicher Erscheinungen gelangen, zu Missverständnissen, die die Eselsbrücke zu einer philosophisch »vertieften« Neubegründung der faschistischen Ideologie bilden. Ihre »obersten Führungssysteme« liegen hart an der Grenze des Faschismus, und nicht zufällig berufen Sie sich in diesem Zusammenhang ja auch auf Alfred Rosenberg (jedenfalls in der mir vorliegenden Auflage von 1940). (Ich nehme Ihnen das, nebenbei bemerkt, gar nicht übel, denn den Verführungen Nietzsches sind zeitweise auch solche konsequenten Demokraten wie Bernard Shaw und Thomas Mann erlegen, und wenn ihnen ein radikaler Denker von Ihrem Format erliegt, dann muss er in Konklusionen, die sich aus dieser falschen Prämisse ergeben, zwangsläufig noch sehr viel weiter gehen. Im Übrigen ist niemand, der den Marxismus nicht kennt und durchdacht hat, gegen Rückfälle in barbarische Ideologien ganz und gar immun. Heute kommt es nur darauf an, dass Sie um der Weiterentwicklung Ihrer eigenen genialen Leistung willen diese Irrtümer radikal überwinden. Möge der Humanismus 14
(AH) Stalins Werk, aus dem Harich hier zitiert, Über dialektischen und historischen Materialismus war einer der wichtigen Bestandteile der sowjetischen Ideologie. Mit den Ausführungen, in denen Stalin an die philosophischen Arbeiten Lenins bewusst anknüpfte, wurde 1938 die neue Staatsdoktrin der UdSSR verbindlich festgelegt. Stalin: Über dialektischen und historischen Materialismus, in: Geschichte der KPdSU (Bolschewiki), Kapitel IV: Menschewiki und Bolschewiki in der Periode der Stolypinschen Reaktion. Formierung der Bolschewiki zu einer selbständigen marxistischen Partei (1908–1912), Abschnitt 2. Als Broschüre war Stalins Text in den ersten Jahren der DDR weit verbreitet. Harich griff oft auf diese Schrift zurück und verwendete auch das hier gebrachte Zitat häufiger. Siehe exemplarisch den § 5: Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Produktionsweise der Vorlesung Der historische Materialismus (in: Band 6.2, S. 1515–1525).
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unseres großen Herder in Ihnen den endgültigen Sieg über Nietzsches Verführungen erringen, dann werden Sie unweigerlich auch den Weg zu Marx, Engels, Lenin und Stalin finden und Ihre eigene Leistung tiefer und richtiger verstehen!)
Thomas Mann, Erika Mann, Johannes R. Becher, 1955 in Weimar
Ich sagte: Wenn Sie konsequent den Gedanken einer biologischen Interpretation des Menschen durchführen, gelangen Sie zum Faschismus. Ich muss hier das Wort »wenn« energisch unterstreichen. Denn was Sie mit »biologisch« meinen, lässt durchaus auch die Entscheidung für eine ganz andere Lösung offen. Wenn Sie nämlich den Gedanken einer anthropologischen Interpretation des Menschen konsequent durchführen, wenn Sie die biologischen Kategorien, die Sie entwickeln, so spezifisch menschlich verstehen, wie Sie es tun, dann kann es gar nicht ausbleiben, dass Sie die gesellschaftliche Geprägtheit dieser Kategorien, deren spezifischen sozialen »Einschlag« erkennen, und die soziologischen Anspielungen in Ihrem Rundfunkvortrag zeigen, dass Sie zur Zeit nach einer solchen Lösung tasten. (Auch gewisse Bemerkungen in Ihrer Antwort auf die Kritik von Frau Dr. Mahn zeigen die gleiche Tendenz.)
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Nur werden Ihnen eben die Kategorien der bürgerlichen Soziologie nicht weiterhelfen. Die bürgerliche Soziologie kann Ihnen wohl Tatsachenmaterial liefern, das Ihnen wesentliche Aufschlüsse gibt, aber mehr kann sie nicht; denn sie sieht den Menschen nur in seiner sozialen Bedingtheit, ignoriert aber, dass er primär handelndes Wesen ist. Soziale Kategorien in unlösbarer dialektischer Verknüpfung mit dem Gesichtspunkt der Praxis, der sich mit Ihrem Gesichtspunkt des handelnden Wesens weitgehend deckt, finden Sie nur bei Marx. Auch die bürgerliche Vulgärsoziologie stellt nur eine Verfeinerung der Beschränktheiten des alten Materialismus des 18. Jahrhunderts dar, auch sie sieht nur die eine Seite: »Dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind«, vergisst aber, »dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss«, dass also »das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden kann.«15 (Marx) 4. Man darf nicht übersehen, dass das »Zweckfreie« in der Natur (das dort ebenso zweckfrei ist wie das vermeintlich Zweckgebundene) auf einer ganz anderen Ebene liegt als das Zweckfreie im Verhalten des Menschen. In der Natur geht die Ausmerzung des Unangepassten eben nicht zweckmäßig vonstatten, und deshalb kann und muss biologisch »Überflüssiges« konserviert bleiben oder aber als Begleiterscheinung irgend eines Anpassungsvorganges – von diesem ausgesehen: zufällig – neu entstehen. Im menschlichen Bereich liegen die Dinge ganz anders: Hier ist einmal das sozial Lebensdienliche, das in letzter Instanz von den Entwicklungsgesetzen der Produktion abhängt, dem biologischen Lebensdienlichen übergeordnet, hier werden zum anderen sowohl das sozial Lebensdienliche, als auch das biologische Lebensdienliche auf so verwickelte Weise, über derartig komplizierte Zwischenglieder und Vermittlungen hinweg realisiert, dass sie sich nur als herrschende Tendenzen, mit statistisch erfassbarer Gesetzmäßigkeit, durch eine unabsehbare Mannigfaltigkeit relativ zweckfreier Erscheinungen hindurch geltend machen; und hier führt schließlich die Mannigfaltigkeit möglicher Motivationen des Handelns, die durch den »Antriebsüberschuss« und den Zwang zur »Entlastung« gegeben ist, sowie die Mannigfaltigkeit der Zwischenhandlungen, die jeweils zwischen Absicht und Ziel dazwischen geschaltet werden (und von denen jede zum Selbstzweck werden kann), zu einer relativen Verselbständigung von 15
(AH) Zitat bereits wiedergegeben, nachgewiesen in: Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin, 1969, S. 5 ff.
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Interessen, Neigungen, Überzeugungen usw., die sich vom unmittelbar Lebensdienlichen unter Umständen so weit entfernen, dass der Nachweis eines Zusammenhanges auf eine Pedanterie hinausliefe. Die Märtyrer des Christentums, die sich als lebendige Fackeln verbrennen ließen, haben im biologischen Sinne zweifellos nicht »lebensdienlich« gehandelt. Bedeutet das, dass ihr Verhalten jeglicher Rückbindung an das Lebensdienliche entbehrt? Bedeutet es, dass das Ethos sozusagen frei in der Luft schwebt? Keineswegs! Für jeden, auch den einfachsten Arbeitsvorgang ist ein Minimum an Askese Voraussetzung: Das Absehenkönnen von ablenkenden Reizen, die »Treue« zum ideell antizipierten Resultat über die mühseligen Zwischenhandlungen seiner Verwirklichung hinweg, also auch das Unterdrücken vitaler Antriebe, das Unterordnen eines Antriebs unter einen höheren, das Aufschieben und »Vertagen« der Befriedigung nahe liegender Bedürfnisse usw. Das alles ist nur dem Menschen möglich. Gibt es aber einmal ein Wesen mit der Fähigkeit zu solch vitaler Askese, ist dieses Wesen spezifisch gesellschaftlichen Lebensbedingungen ausgesetzt (und dazu gehört, dass es im untergehenden Rom zum Beispiel vom Christentum erfasst und durchdrungen sein kann), so kann sich diese seine Fähigkeiten im Dienste einer Idee selbständig machen, zum hauptsächlichen Motor der ganzen Lebensführung werden und schließlich zu radikaler Verleugnung und Preisgabe des eigenen Lebens, zum Ertragen von Folter und qualvollem Tod führen. Da haben Sie das Ethos, das Frau Dr. Mahn in Ihren Analysen vermisst, da haben Sie aber auch die kompliziert vermittelte »Rückbindung« an das Lebensdienliche, an dem Sie – als im Grunde materialistischer Forscher, dem die »metaphysischen« Flausen ein Gräuel sind – unter allen Umständen und mit Recht festhalten wollen. Was nun das Christentum als solches betrifft, so schwebt es natürlich ebenfalls nicht ohne »Rückbindung« in der Luft. Man denke an die Wurzeln der christlichen Religion:16 a) Die Niedergangsphase der athenischen Demokratie vom Ende des 5. bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts v. u. Z. ist von Engels in ihrer ökonomischen Bedingtheit erklärt worden. Aus der Niedergangsphase der athenischen Demokratie erklärt sich die Tendenz 16
(AH) Zu den folgenden Ausführungen siehe Harichs Vorlesungen, vor allem zur Philosophie der Antike (abgedr. in: Band 6.1, S. 53–424) und seine Ausführungen zum Mittelalter in der Vorlesung Die großen europäischen Denker des 17. Jahrhunderts (abgedr. in: Band 6.1, S. 437–644, zum Mittelalter S. 439–472).
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zur Lebensverachtung und Weltflucht, die sich zuerst bei Platon findet (wenn sich seine Philosophie auch nicht auf diese Tendenz reduziert). Platons Gorgias, Phaidon und sehr vieles aus dem Staat sind Quellen des Christentums (die gesellschaftliche Bedingtheit – vermittelt durch verzweifelt ausweglose Kritik des Bestehenden – wird sichtbar in Gorgias, 515–518, und im achten und neunten Buch des Staat!). b) Ursprung des Christentums in einem mehrfach von Fremdherrschaft unterdrückten Volk, daher der Messias-Glaube, der – wegen der objektiven Aussichtslosigkeit der Situation dieses Volkes – bei einer bestimmten Sekte vom Politischen ins Religiöse und Metaphysische umschlägt. c) Die Lage der Sklaven und der armen Freien im untergehenden römischen Weltreich. d) Die Entwicklung des Christentums von der Sklaven-Utopie zur Staatsreligion, ist nur möglich deshalb, weil sich die Unterdrückten und Ausgebeuteten mit Jenseitsvertröstungen, mit der Betonung der Gleichheit aller Menschen (aber erst im Himmel) usw. usf. ausgezeichnet in Botmäßigkeit halten ließen. e) Verschmelzung des Christentums mit dem antiken Idealismus in dem Maße, wie sich die Herrschenden, die auch die Gebildeten waren, des Christentums zu bemächtigen begannen. Für wen ist nun dieses Christentum »lebensdienlich«? Im biologischen Sinne ist es das in keiner Hinsicht. Aber es entspricht den gesellschaftlich bedingten Bedürfnissen bestimmter Klassen in bestimmten Situationen: Der Erlösungssehnsucht der Sklaven (daher die Märtyrer) und den Klasseninteressen der Ausbeuter von Konstantin dem Großen bis zur CDU. So kann es – bei der schier unendlichen Plastizität der menschlichen Antriebsstruktur – bestimmendes Motiv von allem Möglichen sein: Von ergreifenden Helden- und Märtyrertaten und auch von widerlicher Heuchelei im Dienste handgreiflicher ökonomischer und politischer Interessen. Wie bald Sie mit Ihrem bornierten Begriff des »Lebensdienlichen« stecken bleiben müssen, mag Ihnen nicht nur hieraus, sondern auch aus folgender Überlegung klar werden: Der Säufer, der Wüstling usw. sind Grenzfälle, die dem tierischen Beherrschtsein von den Trieben offenbar am nächsten stehen (wenn auch nicht auf tierischer, sondern spezifisch menschlicher Ebene). Ist das Verhalten des Säufers und des Wüstlings
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deswegen lebensdienlich? Ist es lebensdienlich auch nur für sie selbst? Kommt auch nur ihr Egoismus auf seine Rechnung? Wie aber, wenn wir an den Revolutionär Julius Fucik denken, der sich in Prag lieber zwei Jahre lang wöchentlich von der Gestapo grauenhaft foltern und dann in Berlin-Moabit erschießen ließ, als seine Genossen zu verraten? Offenbar hat er ein Maximum an Verleugnung vitaler Bedürfnisse auf sich genommen. Kann man sagen, dass sein Verhalten nicht lebensdienlich war? War es nicht lebensdienlich für die tschechoslowakische Arbeiterklasse und ihre Partei, die bei einem Verrat Fuciks ihre besten und erfahrensten Funktionäre eingebüßt hätte? War es nicht auch lebensdienlich für Fucik selbst (wenn auch nicht im biologischen Sinne)? Mir scheint, dass Sie bei der Weiterentwicklung Ihres großen Werkes vor folgendem Dilemma stehen: Entweder Sie beschränken sich bei der Analyse »des« Menschen auf ein als Modell gedachtes allgemeingültiges Individuum. Dann müssen Sie sich darüber klar sein, wovon Sie abstrahieren (nämlich von dem Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse und der historischen Entwicklungsprozesse). Dann können Sie aber auch nur sagen, dass mit dem Antriebsüberschuss und mit dem Reichtum an Zwischenhandlungen, die alle zum vital »zweckfreien« Selbstzweck werden können, eine unabsehbare Fülle an möglichen Motivationen gegeben ist (von der Onanie bis zum Heldentum der Jeanne d’Arc). Und bei dieser Beschränkung müssen Sie dann radikal auf Aussagen über spezifisch gesellschaftliche Erscheinungen verzichten, weil diese eben niemals »aus biologischer Sicht« erschlossen werden können, ja, nicht einmal aus der anthropologischen Sicht des isolierten und abstrahierten Modell-Individuum. Hier gilt nach wie vor die Kritik von Marx an Feuerbach: »Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. Von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann daher nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefasst werden.«17 »Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben 17
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Thesen über Feuerbach, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 3, Berlin, 1969, S. 5 ff. Harich zitierte die 6. These.
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oder schon wieder verloren hat. Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewusstsein, weil sie eine verkehrte Welt sind.«18 Wenn Sie bei einer solchen Beschränkung nicht stehen bleiben wollen, wenn Sie über den Rahmen des abstrakt-isolierten Modell-Individuums hinausgehen, ja, wenn Sie auch nur dieses Modell-Individuum als solches in seinen konkreten Bestimmungen verstehen wollen, dann müssen Sie sich für die andere Möglichkeit entscheiden: Für die Möglichkeit, »den« Menschen auch von den gesellschaftlichen Beziehungen her zu sehen. Dann müssen Sie aber auch mit spezifisch gesellschaftlichen Kategorien arbeiten, die es gestatten, die vom gesellschaftlichen Leben produzierten möglichen Motivationen menschlichen Handelns sachgemäß zu bestimmen. Das Schwierige dabei ist eben, dass der Mensch sich der Zuordnung zu einem bestimmten Wissensgebiet durchaus entzieht. Er gehört zur Natur und zur Gesellschaft, aber er geht als »der« Mensch nicht nur in den Disziplinen der Natur- und Gesellschaftswissenschaft auf (obwohl sie für seine Erforschung unentbehrlich sind), sondern er besteht auch nicht aus säuberlich geschiedenen Bereichen und ontologischen »Schichten«, von denen sich die eine der Naturwissenschaft, die andere der Gesellschaftswissenschaft zuordnen ließe. Die biologischen Kategorien, deren man zu seiner Erforschung bedarf, haben einen spezifisch anthropologischen, über-biologischen oder auch unter-biologischen (»Mängelwesen«) Einschlag, und dieser anthropologische Einschlag steht mit gesellschaftlichen Kategorien in untrennbarem Zusammenhang, und die gesellschaftlichen Kategorien wiederum, die für die Analyse von Menschengruppen (Klassen, Nationen usw.) angemessen sind (Klassenkampf, »Mentalität« soziale Schichten usw.), werden wiederum 18
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 1, Berlin, 1976, S. 378. Weiter heißt es in den berühmten Sätzen: »Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d’honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.« (Ebd.)
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falsch und schief, sobald man mit ihnen die nur am Individuum greifbaren Wesenszüge »des« Menschen zu erfassen sucht. Denn das Denken, Sprechen, Handeln usw. in ihrer allgemeinen Struktur haben eben nicht Klassencharakter, sind auch nicht vom Nationalcharakter oder dergleichen abhängig. Die Isolierung der im Menschen zu einer konkreten Einheit zusammengewachsenen Bestimmungen ist für die Detailforschung unerlässlich, sie führt aber auf Schritt und Tritt zu Einseitigkeiten, Fehlern und Verzerrungen. Die fundamentale Aufgabe der von Ihnen begründeten Anthropologie für die anderen Wissenschaften scheint mir daher auch darin zu bestehen, dass das Wesen des Menschen in seiner Einheit so klar erfasst wird, dass die vom Menschen handelnden anderen Wissenschaften lernen können, wovon sie bei ihrer unentbehrlichen Detailforschung in jedem Fall abstrahieren und warum die an der jeweiligen Abstraktionen erarbeiteten Einsichten nicht verabsolutiert werden dürfen. Freud leitete gesellschaftliche Phänomene aus dem Mechanismus des Sexus ab, der sowjetische Sprachforscher Marr fabrizierte unter der falschen Voraussetzung, dass die Sprache ein Teil des ideologischen Überbaus der Gesellschaft sei und Klassencharakter habe, ganz unglaubliche Konstruktionen. Die Quellen aller dieser Verzerrungen der Wahrheit können von Ihnen aufgedeckt und ein für alle Mal unschädlich gemacht werden. 5. Bei der Frage des »Lebensdienlichen« müssen, glaube ich, vor allem zwei Gegner bekämpft werden: Einerseits der Idealismus, der die Eigenarten des Menschen mit Kategorien wie »Geist« etc. substantialisiert und damit jeder rationellen, wissenschaftlichen Erklärung dieser Eigenarten und vornherein den Weg verstellt, andererseits der Vulgärmaterialismus, der dem ganzen Reichtum menschlicher Geistesschöpfung das »letzte Ziel des Brockens und Beißens« oder – wie Freud – den Sexus unterstellt. Diese beiden Gegner leisten sich im Übrigen wechselseitig Vorschub: Je mehr der eine sich »metaphysisch« spreizt und mit der Religion kokettiert, desto »aufgeklärter« darf sich ungestraft der andere vorkommen. Und umgekehrt: Je dümmer und primitiver wiederum der andere ist, desto mehr sieht sich wieder der erstere in seinen metaphysisch-religiösen Hirnwebereien bestätigt. (In der ontologischen »Schicht-Torte« sind übrigens die bornierten Gesichtspunkte der beiden feindlichen Brüder eklektisch miteinander versöhnt, sie wohnen dort in einem Haus, und dieses hat Stockwerke: »Unten« tierischer Organismus, »oben« substantialisierter Geist, Ethos, »Wertempfin-
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den«, sittliche Autonomie, Bindung ans »Transzendente« und alles, was gut und teuer ist. Hier gilt die alte Spießer-Litanei: Was ist der Mensch? Halb Tier, halb Engel!) Wie kann man diese beiden Gegner – nebst ihrer ontologischen Schichtungs»synthese« – erfolgreich schlagen? Ich glaube, nur dann, wenn man streng kausal nachweist: a) Wie aus ursprünglich biologischen Ursachen (biologisch im Sinne der Welt des Tieres) die relative Loslösung aus dem Nur-Biologischen entstanden ist; b) wie das relativ Losgelöste – die neue Qualität des Menschen – rückwirkend auch das biologische Substrat verändert, vermenschlicht hat (sowohl geschwächt wie verfeinert, siehe Herder); c) wie dieses veränderte biologische Substrat – wiederum rückwirkend – sich als Bedingung weiterer Menschwerdung und als Zwang zu weiterer Menschwerdung (als Zwang zur Ausbildung und Komplizierung der spezifisch menschlichen Art der Lebensfristung) auswirkte; d) wie sich im Verlauf der Entwicklung dann die Konsequenzen dieses »Sprunges in eine neue Qualität« relativ verselbständigten und sich als spezifisch gesellschaftliche Determinanten den biologischen überordneten.
Diese Aufgabe erfordert meines Erachtens ein neues Buch über den Menschen, ein neues Buch, in dem alle unbestreitbaren Errungenschaften des alten fortbestehen sollten, in dem aber die folgenden Gesichtspunkte maßgebend sein müssen: a) Eine positive Antwort auf das Problem der Menschwerdung unter Anerkennung dessen, was am Darwinismus echte, bleibende Errungenschaft ist, unter Weiterentwicklung der Theorie von Engels (Übergang zur Arbeit als Quelle der Menschwerdung) und unter Anwendung der dialektischen Widerspruchskategorie (das handelnde Mängelwesen als Entfaltung einer eigentümlichen Coincidentia oppositorum). b) Herausarbeitung der historisch wandelbaren, von der Gesellschaft auf ihren verschiedenen Entwicklungsstufen produzierten Motive, mit denen der höchst plastische, höchst wandelbare Antriebsüberschuss besetzt wird. c) Als dritten Gesichtspunkt würde ich noch hinzufügen: Die Aufgabe Nummer 2 darf auf keinen Fall im Sinne eines historischen oder soziologischen Relativismus missverstanden werden: Die philosophischen Ideen sind zwar auch, aber nicht nur einer be-
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stimmten gesellschaftlichen Gruppe in bestimmter historischer Lage »nützlich«, sondern sie haben auch objektiven Wahrheitsgehalt, sind Stufen der Entwicklung des Wissens und müssen als solche gewürdigt werden. Lenin sagt: »Die materialistische Dialektik schließt den Gesichtspunkt der Relativität unbedingt ein, aber sie reduziert sich nicht darauf, d. h. sie gibt die Relativität aller unserer Ideen und Kenntnisse zu, aber nicht im Sinne einer Leugnung der absoluten Wahrheit, sondern im Sinne der fortschreitenden Annäherung unserer Kenntnisse an die absolute Wahrheit.« In diesem Sinne bekämpft auch Stalin jene Vulgarisierungen des Marxismus, die darauf hinauslaufen, jede beliebige Erscheinung des gesellschaftlichen Bewusstseins damit abzutun, dass sie Ideologie dieser oder jener Klasse, Bestandteil dieser oder jenes Überbaus sei. (So in seiner Arbeit über die Fragen der Sprachwissenschaft.) (Der Relativismus ist in Ihrer Lehre von den »obersten Führungssystemen« mindestens ebenso falsch wie der partielle Biologismus.) Ähnlich steht es mit den »Moralen«, die – abgesehen von ihrer unmittelbaren historisch-gesellschaftlichen Funktion – der fortschreitenden Menschwerdung des Menschen, die nie abgeschlossen sein wird, dienen – im Sinne von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts, nur sehr viel komplizierter und widerspruchsvoller. Das Prinzip der Individualität, der Persönlichkeit und die damit zusammenhängenden Imponderabilien der Moral sind beispielsweise zwar Produkte des bürgerlichen Zeitalters, haben aber nicht die moralischen Errungenschaften der Feudalzeit (den humanistischen Kern des Christentums, das Gewissen usw.) negiert, sondern ungemein verfeinert, und sie werden ihrerseits im Sozialismus und Kommunismus nicht etwa »abgeschafft«, sondern auf eine höhere Stufe gehoben, gemäß der Losung des Kommunistischen Manifests: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die freie Entwicklung aller ist.«19 d) Als vierten Gesichtspunkt möchte ich noch hinzufügen: Das handelnde Wesen, das der Mensch vor allem ist, darf nicht pragmatistisch missverstanden werden. In diesem Zusammenhang hat meines Erachtens Frau Dr. Mahn unbedingt recht, wenn sie schreibt: »Die einverseelbaren Für-mich-Bedeutungen sind nur die subjektiven Hinsichten an den Dingen, aber nicht deren volle Realität, und die eigentliche Objektivität derselben ist das für sich nicht Einverseelbare, das der subjektiven Aktion Entge19
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 4, Berlin, 1959, S. 482.
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genstehende, das Gegenständliche.« (S. 80) Sie hat auch Recht, wenn sie sagt, dass die Gegenstände der Welt, an denen sich der Vollzug auswirkt, ein Sein haben müssen. (S. 92) Unrecht hat sie nur insofern, als sie mit diesen Argumenten auch das substantialisierte »Sein« des Menschen retten will. Von einem »Sein« des Menschen zu sprechen, hat nur Sinn in Bezug auf dessen reale Existenz in der Welt (Existenz nicht im Sinne der Existenzphilosophie, sondern im schlichten Wortsinn). Von diesem »Sein« abgesehen, hat der Mensch durchaus kein »Sein«; denn sein Organismus ist ein Komplex von Prozessen, und ansonst ist der Mensch – wie Sie ihn sehen – handelndes, tätiges Wesen, und Sie sehen ihn richtig so. Wovon sich die neue Fassung Ihres Buches indessen freimachen müsste, das sind alle Reste von Relativismus und subjektivem Idealismus, die mit Ihrer Orientierung auf den Pragmatismus zusammenhängen und das Resultat dieser Orientierung sind. Ich will nicht leugnen, dass Ihnen James und Dewey »neue Phänomene der Wirklichkeit aufgeschlossen« haben. Empirisches Material ist immer und unter allen Umständen wertvoll, und Sie haben Recht, wenn Sie es benutzen. (Auch Hitler hat prächtige Autobahn bauen lassen, und es wäre reines Troglodytentum, sie aus antifaschistischem Purismus nicht zu befahren.) Sie müssen sich nur davor hüten, mit den wertvollen Aufschlüssen des amerikanischen Pragmatismus auch gleich die Prinzipien seiner Erkenntnistheorie zu übernehmen. Wenn man die Existenz einer objektiven, vom Bewusstsein unabhängigen, an sich gesetzmäßigen Realität leugnet, wenn man den Begriff der Wahrheit fiktionalistisch verdreht, bestreitet man die Grundlagen jeder Wissenschaft. Freilich: Die Praxis des Menschen ist das Kriterium der Wahrheit, der objektive Kausalzusammenhang zwischen dem Leuchten der Sonne und der Erwärmung der Erde lässt sich am sichersten dadurch beweisen (und gegen die Humesche Skepsis verteidigen), dass man die Sonnenstrahlen in einem Brennglas auffängt und damit ein Stück Papier in Brand steckt. Aber erstens hat die Kategorie der Kausalität, die auf diese Weise praktisch erprobt wird und nur durch solche Praxis in unser Bewusstsein »hineingekommen« ist, den Charakter objektiver Wahrheit und ist keine Fiktion, keine bloß subjektive »Hinsicht«, und zweitens stellt sie in ihrer Zuverlässigkeit und Objektivität nur eine Annäherung an die absolute Wahrheit dar, erfasst nur eine Seite des Gegenstandes, wenn auch eine wesentliche Seite; der vom Bewusstsein unabhängige Gegenstand als solcher ist unerschöpflich.
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Was die »nützlichen« Fiktionen der Pragmatisten betrifft, wem können Fiktionen schon nützen? Der Vermenschlichung des Menschen gewiss nicht. Für die Konzernherren an Rhein und Ruhr war es freilich nützlich, dass Hitler und Rosenberg mit den Fiktionen der barbarischen Rassenirrlehre das deutsche Volk für den Zweiten Weltkrieg reif machten. Aber war es nützlich für das deutsche Volk? Und war es – bei Lichte betrachtet – auch nur nützlich für die Konzernherren selbst, die mit ihrem Krieg den Verlust aller ihrer Ausbeutungsobjekte jenseits der Elbe, die eigene Unterordnung unter die amerikanischen Konzernherren und die Beschleunigung des Untergangs des Kapitalismus erreicht haben? Mir scheint, dass gerade in unserer Zeit angesichts der Irrlehren des Pragmatismus, der eine widerliche Business-Man-Ideologie ist, das herrliche Wort von Goethe gilt: »Beim Zerstören helfen alle falschen Argumente, beim Aufbauen keineswegs. Was nicht wahr ist, baut nicht.«20 Fruchtbar wird der Gesichtspunkt der Praxis nur, wenn er in diesem Goetheschen Sinne gebraucht wird, auch für Ihr Werk. Nutzen Sie aus, was Sie bei Nietzsche, James und Dewey an aufschlussreichem Tatsachenmaterial finden, aber trennen Sie sich entschieden von den Theorien, die diese Reaktionäre gratis dazu liefern! 6. Ich will nicht sagen, dass das alles in Ihrem Werk »fehlt«. Ein Buch ist kein Warenhaus, in dem man alles finden muss, und eine geniale Entdeckung hat Anspruch auf fragmentarische Ausführung, hat Anspruch sogar auf falsche Verabsolutierungen des neu gewonnenes Gesichtspunktes und auf Einsprengsel reaktionärer Ideologie. (Man denke nur an den zugleich fruchtbaren und hemmenden Einfluss, den der barbarische Bourgeois-Ökonom Malthus auf Darwin ausübte!) Wenn Ihnen Frau Dr. Mahn vorrechnet, was alles nicht in Ihrem Werk zu finden sei, so ist das einfach lächerlich, und ich möchte keinesfalls den Eindruck erwecken, dass ich hier in gleicher Weise verfahre. Es handelt sich nur darum, dass Verbesserung, Erweiterung und Weiterentwicklung Ihres Werkes so oder so geleistet werden wird – nämlich im Prozess der fortschreitenden Annäherung an die absolute Wahrheit –, wenn nicht von Ihnen selbst, so von anderen. Es wäre jedoch gut und würde komplizierte Umwege und Verzögerungen ersparen, wenn Sie selbst, der Sie von allen lebenden Denkern diese Materie am relativ richtigsten und tiefsten erfasst haben, diese Weiterentwicklung leisten könnten. Die bürgerli20
(AH) Harich verwendete das Goethe-Zitat in den fünfziger Jahren mehrfach, siehe zum Kontext unter anderem die entsprechenden Stellen in der Vorlesung Der Materialismus (abgedr. in: Band 1.1, S. 573) und in dem Aufsatz Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung (abgedr. in: Band 6.1, dort mit weiteren ähnlichen Zitate auf S. 764).
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chen Philosophen sind dazu ausnahmslos unfähig – vergleichen Sie doch nur die jämmerlichen Elaborate der Heidegger, Jaspers und wie sie alle heißen mögen mit den Dimensionen Ihres Werkes –, und im marxistischen Lager, das die richtigen Kategorien und die richtige Methode mitbringt, ist man noch lange nicht so weit, hier stehen zunächst noch ganz andere Probleme auf der Tagesordnung. Wenn Sie selbst diese Arbeit leisten wollten, müssten Sie sich allerdings – wie ich glaube – sehr gründlich mit dem Marxismus vertraut machen. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch: Ich will Sie nicht etwa politisch »werben«, nicht nach dem »Osten« locken, ja, nicht einmal politisch überzeugen – wie gern ich es auch täte. (Über Politik diskutiere ich mit Ihnen nur, wenn Sie ausdrücklich versichern, dass Ihnen das in keiner Hinsicht lästig ist.) Auch wenn Sie subjektiv dem Kommunismus noch so feindlich gegenüberstehen sollten – durch Ihre Leistung sind Sie sozusagen ein für alle Mal selbst zu einer unverlierbaren Entwicklungsstufe des objektiven Wissens geworden und werden es durch nichts mehr verhindern können, dass den kommunistischen Studenten von morgen und übermorgen die positiven Errungenschaften aus Ihrem Buch als obligatorischer Lehrstoff abgefragt werden. Nein, um Politisches geht es hier ganz und gar nicht, sondern darum, dass der »Sokrates und Asklepios in einem«, nach dem Sie rufen, bereits längst existiert: Er heißt Marx. Ohne Marxismus können Sie die Frage: Biologisch oder nicht und wie weit und in welchem Sinne biologisch? einfach nicht beantworten. Ohne Marxismus können Sie weder den Vulgärmaterialismus, noch die Vulgarismen der Psychoanalyse, noch die Ontologie, noch die metaphysisch-idealistischen Schrullen von Litt, noch den Biologismus erledigen. Ohne Marxismus können Sie sich auch nicht von den Irrtümern des soziologischen und historischen Relativismus und von denen Nietzsches und des Pragmatismus freimachen, von Irrtümern, die Ihnen selbst das richtige Verstehen der eigenen bahnbrechenden Entdeckung ganz ungemein erschweren. Zunächst einmal handelt es sich dabei um die einfache Ausmerzung einer – verzeihen Sie! – sehr bemerkenswerten und aufschlussreichen Bildungslücke, einer Bildungslücke, die wieder einmal die marxistische These von der Klassenbedingtheit der Ideologien beweist (praktisch beweist). Wenn Sie das Werk von Marx, Engels, Lenin und Stalin wirklich kennen würden, so würden Sie den folgenden Satz wahrscheinlich nicht zu Papier bringen – den Satz: »Aber welches sind die treffenden soziologischen Kategorien? Denn diese sind uns nämlich erst zum kleinsten Teil bekannt und so konnte ich (!!!) bisher (!) erst zwei oder drei beitragen.« Sie konnten beitragen! Wissen Sie eigent-
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lich wirklich nicht, dass die »treffenden soziologischen Kategorien« zwischen pazifischem Ozean und Elbe, zwischen nördlichem Eismeer und Vietnam den ABC-Schützen beigebracht werden? Können Sie sich vorstellen, dass Kant, Fichte und Hegel nicht von der Französischen Revolution Notiz genommen hätten? Ich weiß nicht recht, wo ich die treffenden soziologischen Kategorien für die Kennzeichnung eines solchen exemplarischen Beispiels bürgerlich-intellektueller Weltfremdheit hernehmen soll! Wenn ich es marxistisch definieren wollte, würde man mir glatt vulgäre Einseitigkeit vorwerfen. (»So einfach dürfen Sie es sich mit der bürgerlichen Intelligenz aber nicht machen, Genosse Harich!«) Ein paar Zeilen vorher sprechen Sie, was mich sympathisch berührt hat, von »gewissen Machwerken der abstrakten Kunst«. (S. 96) Nun, an diesen Machwerken will ich Ihnen einmal zu zeigen versuchen, dass die »treffenden soziologischen Kategorien« fix und fertig zu Ihrer Verfügung stehen. Wir Marxisten erklären diese Machwerke nämlich folgendermaßen (ich deute wieder, wie beim Christentum, nur stichwortartig an): 1) Der Kapitalismus unterwirft die Kunst den Gesetzen der Warenproduktion und des Absatzes. Daraus folgt: Massenproduktion von leicht absetzbarer Pseudokunst, die den schlechten Geschmack der Massen als ergiebigen Markt benutzt und gleichzeitig diesen ergiebigen Markt fortlaufend reproduziert. Was begehrt ist, wird geliefert, gleichzeitig sorgt das Gelieferte dafür, dass die Begehrnisse im Zustand der Minderwertigkeit erhalten bleiben. (Unter Pseudokunst verstehe ich hier: Kitsch jeder Art, Schlager, Kriminalromane, seichte Operetten, amoralische Filme, pornographische Magazine usw. usf.) 2) Der Kapitalismus, eine Ausbeuteordnung, hindert die Massen der Werktätigen daran, sich die Schätze wirklicher Kultur und Bildung anzueignen, hindert sie damit an der Entfaltung eines guten ästhetischen Geschmacks und liefert sie so der Pseudokunst aus. 3) Ein erheblicher Teil der ernsthaften Kunstproduzenten verliert angesichts des allgemeinen Banausentums, das den Ton angibt, die demokratische Orientierung, flüchtet sich in Menschenverachtung, snobistische Esoterie, l’art pour l’art und ausgeklügelte Atelier»probleme«.
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4) Der untergehende Kapitalismus, der so schändlich ist, dass er nicht mehr als Kapitalismus gerechtfertigt werden kann, produziert Ideologien der »indirekten Apologie«, Ideologien, die den Intellektuellen die Möglichkeit der »Rebellion« vortäuschen und sie gleichzeitig daran hindern, zum Kern der Sache vorzudringen. Diese »Rebellionen« verleihen das »erhabene« Gefühl, »radikal« zu sein, und sind trotzdem sehr bequem, weil sie die Unbequemlichkeit des Kampfes für die wirklich radikale Sache, für die proletarische Bewegung, für den Kommunismus, sozusagen ersparen. Solche »Rebellionen« sind: Nietzsches Schmähungen auf den liberalen »Philister«, jede Art von Propaganda für die »Befreiung« wessen? des Penis (so bei Wedekind!), der Trotzkismus und neben vielem anderen auch die abstrakte »Kunst«, die sich ungeheuer umstürzlerisch vorkommt, aber den »Umsturz« im Salon veranstaltet. Oftmals werden damit ehrlich rebellische Tendenzen, ehrlicher Abscheu gegen Spießerei usw. abgefangen und entweder ins absolut Harmlose abgelenkt oder sogar – siehe die »nationale Revolution« der Faschisten – unmittelbar der finstersten Reaktion dienstbar gemacht. 5) Die abstrakte »Kunst« trägt dazu bei, dass die Volksmassen dem Kitsch und Schund wehrlos ausgeliefert bleiben, weil sie die Schwerverständlichkeit der Kunst ins Extreme steigert. Sie erzeugt geradezu Ressentiments gegen die Kunst, leider nicht nur gegen sich selbst, sondern auch gegen die große, wahre Kunst. 6) Die untergehende Bourgeoisie kann die Wahrheit in der Kunst nicht vertragen, deshalb begünstigen ihre Klasseninteressen sowohl süßliche Idealisierungen des Lebens (in dieser Hinsicht liegt der Märchenprinz aus der Operette mit den Gipsheroen des Herrn Thorack auf einer Stufe), als auch abstrakte Verzerrungen der Wirklichkeit, beides je nach Lage der Dinge abwechselnd. 7) Die untergehende Bourgeoisie hat keine Ideen mehr. Sie hat die alten Ideen ihrer eigenen revolutionären Epoche entweder über Bord geworfen und durch barbarische Ideologien ersetzt (Hitler) oder zu ausgehöhlten, heuchlerischen liberalen Phrasen werden lassen (»Freiheit« im Munde von McCloy!). Gleichzeitig muss sie sich mit Händen und Füßen dagegen zur Wehr setzen, dass die neuen Ideen des Kommunismus auf die Intelligenz Einfluss gewinnen. In ihrer völligen Ideenlosigkeit kann die untergehende Bourgeoisie der Kunst keine ideellen Impulse mehr geben. Die Kunst wird so selbst zu einem ideenlosen Plunder.
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8) Da das Bedürfnis nach etwas Neuem – wenn auch unklar und verworren – bei den Intellektuellen lebendig ist (man befindet sich in einer Umwälzungsepoche), da sich aber wirklich Neues, schöpferisch Neues mit den Interessen der Herrschenden nicht verträgt, werden Surrogate des Neuen (Moden, inhaltslose Originalität um jeden Preis) angebetet. 9) Die gesellschaftlichen Katastrophen des Zeitalters (Weltkriege, Weltkrisen, Revolutionen, Bürgerkriege) werden von denen, die ihnen nicht auf den Grund gehen (auf den ökonomischen Grund), als eine einzige ausweglose Apokalypse missverstanden, und diese Mystifizierung der nicht begriffenen gesellschaftlichen Realität, in der scheinbar »alles drunter und drüber geht«, spiegelt sich ebenfalls in der ästhetischen Formzertrümmerung der »Abstrakten« wider. 10) Dies alles ist natürlich von niemandem beabsichtigt, sondern vollzieht sich – wie alle gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse im Kapitalismus – spontan, mit elementarer »Naturgewalt«, und je weniger sich die Beteiligten über die letzten Ursachen und Zusammenhänge im Klaren sind, desto ohnmächtiger stehen sie dem allen gegenüber. Da haben Sie, in kurzen Andeutungen, die »soziologischen Kategorien«, nach denen Sie fragen, verehrter Herr Professor! Es kommt nur darauf an, die oben angeführten Momente nicht isoliert zu nehmen, sondern in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit, in ihrer gegenwärtigen Verschlingung und Verzahnung zu begreifen – und das eben heißt dialektisch denken –, und man erkennt ohne weiteres, durch welche konkreten Vermittlungen die ökonomische Basis ihren Einfluss auf das geistige Leben durchsetzt, und mit welchen historischen – nicht absoluten, nicht schlechthin menschlichen und schon gar nicht biologischen – Motiven sie den Antriebsüberschuss etwa eines Künstlers oder seines snobistischen Bewunderers seligiert und »besetzt«. Die Ursache letzter Instanz: Dass der Kapitalismus, der einmal Entwicklungsbedingung und Vehikel der produktiven Kräfte des Menschen gewesen ist (von der Renaissance bis zum Ende des 19. Jahrhunderts), zum entscheidenden Hemmnis der Produktivkräfte geworden und in das Stadium seines Sterbens, seines parasitären, greisenhaften Dahinvegetierens, seiner allgemeinen Zersetzung und Fäulnis eingetreten ist. Durch die Existenz der Sowjetunion und des roten China und durch die Revolution der kolonialen und abhängigen Völker wird praktisch bewiesen, dass es mit ihm zu Ende geht.
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Freilich: Das alles darf nicht vulgär, nicht soziologisch-schematisch aufgefasst werden. Nichts wäre falscher und dümmer, als die Entscheidungen und Haltungen der Individuen aus ihrer Zugehörigkeit zu dieser oder jener Klasse, aus ihrem »Milieu« ableiten zu wollen. Die ökonomischen Interessen sind in der Tat die mächtigen Triebfedern der geschichtlichen Bewegung der Klassen, aber das Handeln der Individuen folgt anderen Gesetzen. Die oben angeführten zehn Momente erklären vieles, enthalten aber nicht die ganze Wahrheit. Es gibt bürgerliche Denker, die aufrichtig auch heute um Wahrheit ringen, die nicht über das »Nichten des Nichts« »philosophieren« (obwohl man auch mit einer solchen Hanswursterei berühmt werden und in zahllosen Salons achtungsvolles Emporziehen der Augenbrauen hervorrufen kann), sondern denen es um wissenschaftliche Erkenntnis geht (ich denke an Sie, an den verstorbenen Nicolai Hartmann, an Max Hartmann, vielleicht auch ein wenig an das mir sonst unbekannte säuerliche Frl. Dr. Mahn). Es gibt Künstler, die den Realismus und die ästhetischen Werte durch ihre schöpferische Arbeit verteidigen, die tapfer gegen den allgemeinen Strom der Nivellierung, des Kitsches, der abstrakten Scheinrebellionen und der Snobisterei, schwimmen. Es gibt durch und durch bürgerliche Menschen, denen auf einmal die Politik der Vorbereitung eines neuen Krieges »zu bunt wird«, die ein mutiges Nein zum Kriege sagen und dafür auch einstehen. Das alles gibt es. Aber warum kann es das geben? Weil der Mensch eben letzten Endes in keinem Sinne »festgestellt«, »festgelegt« ist, weder biologisch durch Triebe und Instinkte, noch auch soziologisch durch irgendein »Milieu«. Beim Durchschnitt der Individuen ist zwar die Antriebsstruktur von klassenmäßig bestimmten Motiven besetzt, vor allem dort, wo politische und soziale Entscheidungen zu fällen sind. Aber in der Gesellschaft als konkreter Totalität sind eben nicht nur diese möglichen – und im Durchschnitt vorherrschenden – Motive wirksam, sondern noch ganz andere: zunächst alles, was von der kämpfenden Arbeiterbewegung ausgeht, die immer vernehmlicher und unentrinnbarer an die Pforten schlägt (ich hoffe, auch in diesem Brief!), aber auch humanistische Ideen aus früheren Zeiten, aus der Zeit der Französischen Revolution und der Aufklärung, aus dem christlichen Humanismus, aus der Antike, ferner Mannesmut vor Fürstenthronen, gediegene Urvätersitten, auch Erinnerungen an Goethe und Heine, auch Geschmackskultur, die an der Anschauung der Renaissance-Malerei geschult ist, der kategorische Imperativ von Kant usw., wenn Sie wollen sogar eine hausbacken-konservative Offiziersehre, die sich bei manchem als immer noch stärker und besser erwies
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als die Rowdy-Ideologie der Nazis von gestern und der Mischmasch von Business-Geist und Söldnerideologie von heute, und die durchaus zur Basis echter Opposition werden kann.21 Dies alles ist in der Gesellschaft als konkreter Totalität vorhanden und wirksam, weil weder die Gesellschaftsklassen, noch die Zeitalter durch chinesische Mauern voneinander getrennt sind. Dies alles ist weder »ewig menschlich«, noch naturgegeben, noch auch biologisch, sondern es ist historisch-gesellschaftlich geworden, nach eigenem, historischem Entwicklungsgesetz, wird historisch überliefert, übt historische Wirkungen aus und kann zur maßgebenden Determinante menschlicher Entscheidung und Haltung werden (zum »Zuchtbild«, wenn Sie wollen). Es kann! Aber ebenso gut kann gegebenenfalls auch ganz anderes dazu werden: Die feige Anpassung an das Gewünschte, die Hingabe an den Wettlauf um den Profit, das träge Sichwälzen in den schlechten Gewohnheiten, die einem durch ein schlechtes Milieu andressiert wurden, oder solche ebenfalls möglichen Determinanten wie Laster, Trunksucht und jegliches Verbrechen. Es kann beim Individuum, nie bei der Klasse, auch Biologisches herrschen, wenigstens zeitweise: Etwa eine tolle, himmelstürmende Verliebtheit; aber dass sie eben den Himmel stürmt und nicht einzig und allein den Unterrock, auch das ist gesellschaftlich bedingt, weil historisch hindurchgegangen durch den Minnedienst der Feudalzeit und die Straßburger Lyrik des jungen Goethe und durch Heine-Gedichte, vertont von Schubert usf. Der Mensch ist eben variabel plastisch, er ist »offen«, nicht nur der Triebgebundenheit gegenüber, sondern auch in dem Sinne, dass seine Antriebsstruktur in schier unerschöpflichen Kombinationen von gesellschaftlich wirksamen möglichen Motivierungen des Handelns und Sich-Verhaltens »besetzt« werden kann. Und bei alledem ist er immer – das sehen Sie ganz richtig – was er, als das primär handelnde Wesen, aus sich macht. Wenn er von »Anlagen« oder von den gesellschaftlich gegebenen möglichen Motiven ergriffen und »besetzt« wird, so nicht in dem Sinne, dass er dabei nur passiv wäre, dass nur sie ihn als Passiven determinierten. Nein, das letztlich Menschliche ist bei aller Determiniertheit das Moment der aktiven Wahl, das Moment des Sich-Entscheidens, Sich-Verhaltens, das der »Natur« eines primär arbeitenden, weltverändernden, praktischen, also handelnden Wesens entspricht. Deshalb ist er verantwortlich zu 21
(AH) Ähnlich lautende Thesen und sogar Formulierungen lassen sich noch in den achtziger Jahren in Hartmann-Manuskripten finden. (Siehe: Band 10.)
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machen für das, was er tut, und was er ist, deshalb wird ganz zu Recht sogar sein Charakter ihm als Verdienst angerechnet oder als schuldhaft übelgenommen, obwohl sich das Verschulden in jedem Fall aus soziologischer usw. Bedingtheit erklären lässt. Die Verantwortung kann niemandem erspart werden, auch durch biologische, psychologische oder soziologische Erklärung des Verhaltens nicht. Kurzum und nochmals: Der Marxismus darf nicht mit Vulgärsoziologie verwechselt werden. Wir sagen: Verändert die Umstände, damit das Verbrechen verschwinde! Wir sagen aber nicht: Sprecht den Verbrechern frei, denn an dem, was er tat, sind die Zustände schuld. Die Zustände in ihrer objektiven Widersprüchlichkeit sind eben nicht nur an Verbrechen schuld, sondern auch am Gegenteil: An der kreuzbraven Ehrlichkeit der meisten Darbenden und an der Menschlichkeit und Solidarität der Unterdrückten und an der heiligen Empörung und dem Heroismus derer, die für eine bessere Zukunft kämpfen usw. usf. Die Freiheit der Entscheidung in der »Situation«, dass ist das, worin die Existenzialisten relativ recht haben und worin ihnen der Marxismus niemals widersprechen wird. Sie haben nur Unrecht, wenn sie damit die Leugnung der objektiven Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung »begründen« und ein leeres Abstraktum subjektiver »Wahlfreiheit« dem Abstraktum eines ungesetzlichen gesellschaftlichen Chaos gegenüberstellen. Ich will damit schließen. Wenn es Ihnen recht ist: nur vorläufig! Verstehen Sie bitte meine Anpreisung des Marxismus nicht falsch. Es soll keine Proselytenmacherei von der billigen Sorte sein. Ich kann nicht anders, als Ihnen, den ich verehre, und von dessen Drang nach Wahrheit ich tief, tief überzeugt bin, etwas von dem mitzuteilen, was ich selbst als Wahrheit erkannt habe. Es ist Sonntag, der 9. März, morgens 10:00 Uhr. Ich habe Ihnen die ganze Nacht durch geschrieben. Darf ich Sie bitten, mir gelegentlich neue Arbeiten von sich zu schicken, oder ist das sehr unverschämt? Ich habe nur Theorie der Willensfreiheit und den Menschen in der Auflage von 1940. Wenn Sie wollen, würde ich mich mit Buchsendungen revanchieren, mit meiner Heine-Ausgabe und mit philosophischen Neuerscheinungen, die beachtlich sind, zum Beispiel: Georg Lukács, Existenzialismus oder Marxismus? und Ernst Bloch Subjekt-Objekt – Bemerkungen zu Hegel. Kommen Sie an die Werke der marxistischen Klassiker heran? Auch hiermit stehe ich jederzeit zu Diensten. Ich warte voller Begierde auf Ihren Brief und bin mit bestem Gruß Ihr
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Brief an Arnold Gehlen22 (22. März 1952) Sehr verehrter Herr Professor Gehlen! Ich habe am 18. März Ihren freundlichen Brief und heute den Sonderdruck Ihrer Arbeit erhalten. Für beides danke ich Ihnen herzlich. Auf Ihre Arbeit will ich heute, Ihrem Wunsche entsprechend, noch nicht eingehen, sondern erst den zweiten Brief, den Sie mir in Aussicht stellen, abwarten. Ich will Ihnen nur so viel andeuten: Sie haben da meines Erachtens nicht nur einen, sondern mehrere sehr wesentliche »Funde« gemacht: Erstens haben Sie die »Entdifferenzierung« herausgearbeitet, die in vielerlei Hinsicht bedeutsam ist: Sie liegt zum Beispiel dem Phänomen der gesellschaftlich-kulturellen Formung vitaler Antriebe zu Grunde. Ihre Entdeckung ist ein Schlag gegen die Simplifizierungen der Psychoanalyse. Zweitens haben Sie (auf den Seiten 326/327) einen ganz entscheidenden Beitrag zur Enträtselung des »Ich«, der »Einheit der Person«, geleistet. Drittens haben Sie die »unbestimmte Verpflichtung« entdeckt, und darauf können Sie wirklich stolz sein. Das wird eines Tages in Soziologie, Pädagogik, Ethik, Ästhetik einen Ruck geben, verlassen Sie sich darauf. (Ich selbst habe zunächst einmal beschlossen, mir daraufhin nochmals den Le Bon – Psychologie der Massen – durchzulesen. Es ist ein widerwärtiges Buch, enthält aber Tatsachenmaterial, das eventuell für einen, der die unbestimmte Verpflichtung kennt, interessant wird.) Wie gesagt: Mehr will ich hierüber vorerst nicht sagen, weil ich’s vor Lektüre Ihres zweiten Briefes ja nicht darf. Aber Sie erlauben, dass ich wenigstens in großem Respekt vor Ihnen den Hut ziehe. Sie haben völlig recht: Die »Entlastung« und die »unbestimmte Verpflichtung« haben weder Hegel noch Marx gewusst. Nur darf man nicht meinen, dass Marx jemals mit dem Anspruch aufgetreten sei, alles »schon zu wissen«. Er war nicht Hegel. Nun ein paar Bemerkungen zu Ihrem Brief vom 16. März. Sie schreiben, dass Ihre Interessen zunehmend positiv-wissenschaftlich und abnehmend philosophisch werden. Vortrefflich! Das ist ein Bekenntnis, das Ihnen jeder Marxist zur allerhöchsten Ehre anrechnen wird. Mit dieser Orientierung sind Sie schon beinahe bei uns, und wenn Sie es nicht wären, würde ich ja auch nicht ein so beharrliches Liebeswerben um Sie veranstalten, das mir bei zehn Vorlesungsstunden in der Woche viel Mühe kostet. Ich darf Sie auf folgende Zitate aufmerksam machen, die bei uns – wenn Sie so wollen – »Dogmen« sind. 22
(AH) 25 Blatt, maschinenschriftlich, 22. März 1952.
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»Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klar zu werden, ist jede besondere Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang, d. h. jedes philosophische System, überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehen bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formale Logik und die Dialektik. Alles andere geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.« (Friedrich Engels, Anti-Dühring, S. 29.) Und: Der Marxismus »lässt die für jeden Einzelnen unerreichbare ›absolute Wahrheit‹ laufen und jagt dafür den erreichbaren relativen Wahrheiten nach auf dem Weg der positiven Wissenschaften und der Zusammenfassung ihrer Resultate vermittelst des dialektischen Denkens«. (Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie.) Und schließlich: »Die Eigenart der Entwicklung der Philosophie besteht darin, dass mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Kenntnisse von der Natur und der Gesellschaft sich eine positive Wissenschaft nach der anderen von der Philosophie absondert, so dass sich deren Gebiet ununterbrochen zu Gunsten der positiven Wissenschaft verkleinert, – ein Prozess, der – nebenbei bemerkt – bis heute noch nicht beendet ist. Und diese Befreiung der Naturwissenschaften und der Gesellschaftswissenschaften von der Philosophie stellt sowohl für die Wissenschaft, als auch für die Philosophie selbst einen Prozess des Fortschritts dar.« (Shdanow: Kritische Bemerkungen zu Alexandrows »Geschichte der westeuropäischen Philosophie«, 1947.)23 23
(AH) Gemeint ist: Andrei Alexandrowitsch Shdanow, geb. am 26. Februar 1896 in Mariupol, gest. am 31. August 1948 in Moskau. Treuer Mitarbeiter Stalins, der dessen brutales Vorgehen unterstützte. Von 1934 bis 1944 in Leningrad für die »Säuberungen« zuständig, die er radikal durchsetzte. Nach 1945 war er dann verantwortlich für die nach ihm benannte repressive Kulturpolitik (Shdanowschtschina). Dabei ging er auch gegen die »Speichellecker des Westens«, gegen Achmatowa, Pasternak, Soschtschenko, Eisenstein, Prokofjew und Schostakowitsch vor, um nur die bekanntesten zu nennen. Von 1949 bis 1952 war Shdanows Sohn Juri mit Stalins Tochter Swetlana verheiratet. Für die Diskurse in der DDR und die philosophischen Debatten der fünfziger Jahre Jahre wurde folgende Schrift von ihm bedeutsam: Kritische Bemerkungen zu G. F. Alexandrows Buch: Geschichte der westeuropäischen Philosophie. Rede auf der Philosophentagung in Moskau, Juni 1947, in: Ders.: Über Kunst und Wissenschaft, Berlin, 1951, S. 80–114. Harich hatte Shdanows Konzeption immer wieder kritisiert, im Zuge der Hegel-Debatte auch öffentlich und überaus wirksam. Die Abrechnung mit Stalin brachte dann auch das Ende der offiziellen Bezugnahme auf Shdanow, die von diesem entwickelten Prinzipien der Kulturgängelung blieben jedoch erhalten.
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Sie sind also, wie Sie sehen, auf einem ziemlich bolschewistischen Wege, und vielleicht liegt es daran, wenn Ihr Aufsatz über die »unbestimmte Verpflichtung« im Westen überhaupt nicht beachtet wurde. Dieses Berufen auf fachwissenschaftliche Quellen, dass für alle Ihre Arbeiten charakteristisch ist, hat man in der bürgerlichen Philosophie von heute gar nicht gerne, und es passt ins Bild, wenn Frau Dr. Mahn auf Ihre wissenschaftlichen Quellen (Bolk usw.) auch nicht mit einem Sterbenswörtchen eingeht. Einschränkend möchte ich zu Ihrem positiv-wissenschaftlichen Bekenntnis nur Folgendes zu bedenken geben: Einmal ist es eine Tatsache, dass noch längst nicht alle für die Wissenschaft relevanten und aufschlussreichen Gedanken aus der Geschichte der Philosophie ausgeschöpft sind. Ihr eigenes Werk bietet dafür hinreichend Beispiele; denn vor Ihnen hat noch keiner die tiefen anthropologischen Ahnungen unseres großen Herder für die Wissenschaft fruchtbar gemacht. Es gibt also in der Philosophie noch viel für die Wissenschaft zu erben. Ich selbst führe daher in meiner Partei und an der hiesigen Universität einen hartnäckigen Kampf für eine sorgfältigere Beachtung gewisser Einsichten und Ahnungen von Platon, Aristoteles, Stoa, Kant usw., die für den Marxismus wertvoll sind, obwohl sie durch den Riesen Hegel »an die Wand gedrückt« wurden. Zum anderen ist, wie Shdanow richtig bemerkt, der Prozess der völligen Auflösung der Philosophie in positive Wissenschaft noch immer nicht abgeschlossen. Daher ist es einerseits möglich, dass sogar solche Irrlehren wie der Pragmatismus oder die höchst philosophische Soziologie des Faschisten Pareto24 immer noch hier und da wertvolle, 24
(AH) Im Aufbau-Verlag war Harich in den Jahren der Entstehung dieser Briefe als Lektor für die Bücher von Georg Lukács zuständig. An den ungarischen Philosophen schrieb er am 20. September 1952 über die Zerstörung der Vernunft: »Werden Sie sich in Ihrem Buche auch mit Vilfredo Pareto auseinandersetzen? Es wäre, namentlich im Hinblick auf den Kampf gegen den Pragmatismus, sehr wichtig, wenn eine Äußerung von Ihnen über Pareto existierte.« (Abgedr. in: Band 9, S. 188.) Und in seiner Rezension des Werkes führte Harich aus: »Das Vorwort (S. 5–29) erörtert zunächst die Gesichtspunkte der Auswahl und Disposition, begründet die Methoden, denen die Darstellung folgt, und fügt im Anschluss daran den Darlegungen des Hauptteils eine Reihe wichtiger Ergänzungen hinsichtlich der internationalen Verbreitung des Irrationalismus in der imperialistischen Periode hinzu. Dabei wird auf Bergson, William James, Croce und Sorel näher eingegangen, Pareto, Boutroux u. a. werden am Rande erwähnt: Der leitende Gedanke ist hier der, dass die imperialistische Grundlage der bürgerlichen Philosophie des 20. Jahrhunderts zwar allenthalben irrationalistische Tendenzen hervortreibt, dass aber nichtsdestoweniger Deutschland als Zentrum des modernen Irrationalismus angesehen werden muss, sofern man nur die Weltwirkung Nietzsches und der Lebensphilosophie in Betracht zieht und
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beachtliche Aufschlüsse abwerfen, die man nicht ignorieren darf. Andererseits ist es eine Tatsache, dass gewisse Gegenstandsgebiete von heute bis zu einem erheblichen Grade von der Philosophie okkupiert werden, weil sich ihrer die Wissenschaft noch nicht bemächtigt hat, weil sie von der Wissenschaft links liegen gelassen werden. Hierzu gehört zum Exempel die Ethik. Nur die eine Seite der Ethik – die historisch-gesellschaftliche Erklärung der »Moralen« – hat der Marxismus verwissenschaftlicht. Die andere Seite wird noch von der Philosophie besetzt gehalten, und den ersten Schritt zur Verwissenschaftlichung dieser Seite haben meines Wissens Sie getan – mit Ihrer noch erheblich philosophischen, aber auch schon erheblich wissenschaftlichen Anthropologie. Das Problem der Freiheit der Entscheidung, der Verantwortung, des »inneren Konflikts« usw. lässt sich ohne die von Ihnen herausgearbeiteten anthropologischen Kategorien nicht wissenschaftlich behandeln.25 Das Wichtigste aber, was ich Ihnen zu bedenken geben möchte, ist dies: Das Bekenntnis zur positiven Wissenschaft darf nicht im Sinne eines platten Empirismus aufgefasst werden. Es ist nämlich die Regel, dass die positiven Wissenschaftler, je freier und unbeschwerter sie von jeglicher Philosophie zu sein glauben, nur desto tiefer im Sumpf aller möglichen falschen und überwundenen Philosophien darin stecken. Diese Wissenschaftler tragen in ihrer katastrophalen philosophischen Unbildung und in ihrem unbewussten Beherrschtsein von bestimmten gesellschaftlichen Denkformen und Denkgewohnheiten ganz naiv handfeste philosophische Voraussetzungen mit sich herum. Sie ziehen daher oft aus ihren eigenen – an und für sich grandiosen – Forschungsresultaten und Entdeckungen verallgemeinernde Schlussfolgerungen, die einfach falsch sind, und die wiederum den ungeheuerlichsten philosophischen Theorien neuen Auftrieb geben. Ich erinnere Sie an den ganzen positivistischen Dreck, den die Relativitätstheorie mit sich herumschleppt:26 An die Leugnung des qualitativen Unterschiedes der Raumdi-
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an das Einmünden der obskuren Strömungen in die Ideologie des deutschen Faschismus denkt.« (Abgedr. in: Band 9, S. 291.) (AH) Harich setzte sich mit dem »Problem der Freiheit« oft auseinander. Einschlägig sind seine Ausführungen in dem Vortrag Das Rationelle in Kants Konzeption der Freiheit, den er auf der Konferenz Das Problem der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus. Konferenz der Sektion Philosophie der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (8. bis 10. März 1956), gehalten hatte. Neu abgedr. in: Band 3, S. 359–376. Dort weitere Hinweise usw. (AH) In den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren hatte sich Harich intensiv mit der Physik und vor allem mit der philosophischen Verallgemeinerung der neuesten phy-
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mension und der Zeitdimension, an Einsteins haarsträubende Definition der Gleichzeitigkeit, an die Theorie der räumlichen und zeitlichen Endlichkeit der Welt, an den Versuch, mit Hilfe der als Dopplereffekt gedeuteten Rotverschiebung in den Spektren der Nebel das »Alter« und den »Radius« des Weltalls auszurechnen usw. Ich erinnere Sie weiter an das Geschwätz von der »Akausalität«, ja, »Willensfreiheit« im Atom, an die barbarische Gesellschaftsphilosophie des »sozialen Darwinismus«, der sich schließlich auch auf die positive Wissenschaft beruft, an die Leugnung der Entstehung von Zellen aus nichtzellularer Materie in der auf Virchow eingeschworenen höchst philosophischen Medizin usw. In allen diesen Fällen schlägt der scheinbar unphilosophische platte Empirismus in handfeste Metaphysik um. Für die wissenschaftlichen Koryphäen, auf die Sie sich berufen, und deren positive Leistungen Sie mit vollem Recht für die Anthropologie fruchtbar machen, gilt meines Erachtens dasselbe: Bolk hat mit der Entdeckung der Retardation eine großartige, bahnbrechende Leistung vollbracht. Aber er hat es nicht lassen können, über seine Resultate zu »philosophieren«, und dabei kommt Folgendes heraus: »Nicht weil der Körper sich aufrichtete, wurde die Menschwerdung vorbereitet, sondern weil die Form sich vermenschlichte (?), richtete sich der Körper auf.« (Gehlen, Auflage 1940, S. 106 f.) Dabei weiß jedes Kind, dass die Perpendikularstellung schon durch das Baumleben der Affen vorbereitet ist. Außerdem bekennt sich Bolk, wie Sie schreiben, als »überzeugter Anhänger der Lehre von der Ungleichheit der Rassen«. (Gehlen, 1940, S. 117) Um die »Philosophie« von Schindewolf und Ranke steht es nicht viel besser. Ranke scheint anzunehmen, dass Katzen, Kühe und Wale von Menschen abstammen; denn wie soll man folgenden Satz verstehen: »Der Gang ist sonach umgekehrt so, wie ihn die landläufige Entwicklungslehre postulieren zu können meint: Nicht vom Niedrigen zum Höheren aufsteigend, sondern absteigend vom Höheren zum Niedrigeren. Die höchste Form der Schädelbildung, die menschliche, ist der gemeinschaftliche Ausgangspunkt der Schädelentwicklung der gesamten Säugetierreihe.« (Gehlen, 1940, S. 88) sikalischen Erkenntnisse beschäftigt. Verschiedene Schriften aus diesem Kontext kommen in der vorliegenden Edition zum Abdruck, darunter unter anderem im 3. Teilband der Frühen Schriften verschiedene Dokumente und Briefe zu und an Victor Stern. In der Deutschen Zeitschrift für Philosophie setzte er sich dafür ein und ermöglichte als Chefredakteur, dass die dauerhafte Diskussionsrubrik zu Grundfragen der modernen Physik eingerichtet wurde, in der verschiedene Physiker und Philosophen die Theorien von Victor Stern im Speziellen und die Forschungsresultate der modernen Physik im Allgemeinen diskutierten. Zahlreiche weiterführende Hinweise, die Gedanken Harichs usw. präsentiert der 10. Band (Nicolai Hartmann. Der erste Lehrer).
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Wie gesagt: Als leidenschaftlicher Bejaher jeder positiv-wissenschaftlichen Neuerung bestreite ich nicht, dass die Bolk, Schindewolf, Ranke usw. als Forscher bahnbrechende Leistungen vollbracht haben. Ich stelle nur fest, dass sie auf Grund philosophischer Voraussetzungen und Vorurteile, die sie unbewusst an die Wirklichkeit herantragen, ihre eigenen Entdeckungen nicht verstehen und deshalb zu wissenschaftsfeindlichen Schlussfolgerungen gelangen. Diese Schlussfolgerungen wiederum sind hoch philosophisch und stehen in allerengstem Zusammenhang mit den lebenswidrigen reaktionären Ideologien unserer Epoche. Ein Hinweis: Kennen Sie Thomas Manns Doktor Faustus? Ich muss bei Bolk, Schindewolf, Ranke usw. immer an den Doktor Chaim Breisacher denken, in dessen Mund das Wort »Fortschritt« die verächtlichste Vokabel ist. »Wenn man ihn hörte, setzten da Verfall, Verdummung und der Verlust jeglicher Fühlung mit dem Alten und Echten so frühzeitig und an so respektabler Stelle ein, wie niemand es sich hätte träumen lassen. Ich kann nur sagen: Es war im Ganzen wahnsinnig komisch. Für ihn waren solche jedem Christenkinde ehrwürdigen biblischen Personagen wie die Könige David und Salomon, sowie die Propheten mit ihrem Salbadern vom lieben Gott im Himmel, bereits die heruntergekommenen Repräsentanten einer verblasenen Spät-Theologie. Alles Moralische galt ihm als ein ›rein geistiges‹ Missverständnis des Rituellen usw.« (Thomas Mann, Doktor Faustus, Ausgabe Suhrkamp, 1948, S. 441 ff.) Das etwa kommt dabei heraus, wenn man sich »unbefangen«, d. h. als platter Empirist, in einem gesellschaftlich-geistigen Milieu bewegt, wo derartige Ideologien virulent sind, und wenn man dann die Retardation und die Organprimitivismen entdeckt. Wie anders Herder! Er steht insofern zwar unter Bolk, weil er zu seiner Zeit noch nicht über dessen Forschungsresultate verfügte. Aber er bewegte sich dafür, als Schüler Kants, als Freund von Lessing, Diderot, Goethe, August von Einsiedel und Jean Paul, auch in einem sehr anderen Milieu. Der Humanismus der protestantischen Kirche, der Fortschrittsgedanke der Aufklärung und die Ideen der Französischen Revolution waren ihm in Fleisch und Blut übergegangen, und so sah er in der Schwächung der Instinkte und Organe zugleich die Verfeinerung. A propos »Unbefangenheit«! Sie schreiben: »Sehen Sie, das ist mein Geschäft: Ich weiß nicht sehr viel Metaphysisches, aber ab und zu gelingt ein Forschungsfund, etwas wirklich Neues, das ich deswegen (bilde ich mir ein) finden kann, weil ich gar keine Theorie habe, völlig unbefangen bin und die wahrscheinlich sehr bürgerliche Eigenschaft
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habe, dass mir meine eigenen Gedanken am meisten interessant sind.« – Der sehr bürgerliche Goethe hatte diese sehr bürgerliche Eigenschaft nicht. Aber Goethe war sehr bürgerlich in einer Zeit, als die bürgerliche Klasse noch nicht so verkommen war, wie sie es heute ist. Kaspar Hauser ist also zum Leitstern bürgerlicher Geisteshaltung erst geworden. Bei Goethe können Sie lesen: »Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie wir wollen. (…) Selbst das größte Genie würde nicht weit kommen, wenn es alles seinem eigenen Innern verdanken wollte. (…) Ich habe Künstler gekannt, die sich rühmten, keinem Meister gefolgt zu sein, vielmehr alles ihrem eigenen Genie zu danken zu haben, die Narren! Als ob das überall anginge. Und als ob die Welt sich ihnen nicht bei jedem Schritt aufdrängte und aus ihnen trotz ihrer eigenen Dummheit etwas mache (…).« Dies zum Ersten. Zum Zweiten aber: Sie sind sehr im Irrtum, wenn Sie meinen, dass Ihnen Ihre eigenen Gedanken am meisten interessant sind. Darf ich Sie daran erinnern, wie interessant und aufschlussreich Ihnen Herder, Kant, Schiller, W. v. Humboldt, Novalis, Schopenhauer, Nietzsche, James, Dewey, Pareto, Uexküll, Köhler, Bolk, Schindewolf, Julian Huxley, K. Lorenz, Whitman, Heinroth, Storch, Portmann, Nicolai Hartmann, Plessner, Trilles, Mead, Malinowski, Heard, Toynbee und viele, viele andere sind? Ihre eigenen Gedanken sind etwas wirklich Interessantes, weil Schöpferisches, Neues, aber sie stellen eine Weiterentwicklung von Vorgefundenem dar, das andere vor Ihnen geschaffen haben, und wenn Sie es sich genau überlegen, so sind auch Sie – um das berühmte Bekenntnis Goethes abzuwandeln – ein »Kollektivwesen namens Gehlen«. Was Sie groß und schöpferisch macht, ist gerade Ihre vielseitige Orientierung, Ihr vielseitiges Anknüpfen an philosophische und wissenschaftliche Leistungen anderer, Ihr – wie es scheint – sehr umfangreiches Studium medizinischer, anthropologischer und psychologischer Fachzeitschriften. Es ist also reine Koketterie, wenn Sie sich als Kaspar Hauser ausgeben. In Wirklichkeit sind Sie von solcher Narretei sehr weit entfernt, weiter als irgend ein bürgerlicher Philosoph im heutigen Deutschland. Und zum Dritten: Unbefangen, theorielos sind Sie ganz und gar nicht. Ihr Gesichtspunkt des einheitlichen Strukturgesetzes ist eine Theorie, und zwar eine sehr gute, die es Ihnen ermöglicht, zahllose wissenschaftliche Anregungen, Hinweise und »Funde« so schöpferisch zu assimilieren, dass ganz neue Einsichten gelingen. Wie kommt es denn, dass Sie es fertig bringen, in einem Artikel von 26 Druckseiten drei revolutionierende Entdeckungen zu gebären? Es kommt daher, weil Sie eine respektable Gebärmutter in sich tragen, die durch Berührung mit allen empirischen Daten, die die
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Wissenschaft Ihnen liefert, auf der Stelle hoch-schwanger wird. Für andere bedeuten die Hinweise der Bolk, Huxley, Lorenz, Whitman, Heinroth, Storch, Portmann usw. nicht viel, sie lesen darüber hinweg, weil sie auch ihre Theorien haben, aber falsche Theorien, unfruchtbare. Bei Ihnen dagegen schlagen diese Hinweise ein. Warum? Weil sie auf den fruchtbaren Boden ihrer richtigen Theorie fallen. Andererseits: Auch Sie tragen, wie alle bürgerlichen Intellektuellen, falsche Denkformen mit sich herum, von denen Sie beherrscht werden. Beispiel: Dass ein so unspezialisiertes Wesen wie der Mensch von einem so hochspezialisierten Wesen wie dem Affen abstammen soll, finden Sie ungeheuerlich. Sind Sie sich darüber klar, dass Sie damit auf genau denselben philosophischen Voraussetzungen basieren wie der klassische Darwinismus in seiner bornierten Darwin-Haeckelschen Form? Für Darwin-Haeckel war der Mensch höchstes Produkt einer einfachen, linearen Höherentwicklung der Natur. Sie kannten die Kategorie des qualitativen Sprunges und die Kategorie der coincidentia oppositorum nicht, wandten sie nicht an, waren daher blind für die neue Qualität des Menschen und machten es sich leicht, indem sie die Organprimitivismen, die Retardationen usw. einfach übersahen. Ergebnis: Die Substantiierung des Geistes in der idealistischen Metaphysik blieb unangefochten bestehen, konnte durch den Darwinismus nicht aus der Welt geschafft werden, konnte vielmehr ihrerseits den Darwinismus als primitiv abtun. Bolk und andere entdeckten dann die Organprimitivismen und die Retardationen, kannten die Kategorien des qualitativen Sprunges und der coincidentia oppositorum aber ebenfalls nicht, wandten sie gleichfalls nicht an und gelangten daher – auf der Grundlage der gleichen philosophischen Voraussetzungen wie Darwin und Haeckel, nur anhand anderer Tatbestände – zur Leugnung der Abstammung des Menschen vom Tier. Ferner: Abgesehen von der Übereinstimmung in den allgemeinen philosophischen Voraussetzungen kennen beide – Darwin-Haeckel und Bolk-Schindewolf – die fundamentale Bedeutung der Kategorie »Arbeit« nicht. Beide sehen die Erscheinungen, die sie untersuchen, isoliert von den Lebensbedingungen und Tätigkeiten des Menschen. Die einander ausschließenden Theorien des Darwinis-
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mus und der Bolk-Richtung sind also im Grunde nur Kehrseiten ein- und derselben bornierten Denkweise. Und woran liegt das, dass alle diese Denker, die als Wissenschaftler so achtenswerte, unentbehrliche Leistungen zu Stande gebracht haben, gleichzeitig als Philosophen – die sie unbewusst sind – einer so hoffnungslosen Borniertheit zum Opfer fallen? Es liegt daran, dass die Klassenverhältnisse des niedergehenden Kapitalismus a) die Wissenschaftler im platten Empirismus gefangen halten und ihr Denken den philosophischen Traditionen entfremden (weder Darwin-Haeckel, noch Bolk-Schindewolf kennen Herder, Hegel usw.), b) eine schier unübersteigbare Barriere zwischen den bürgerlichen Intellektuellen und dem Marxismus aufrichten und auf diese Weise c) die wissenschaftsfeindlichen Tendenzen der bürgerlichen Ideologie zusammen mit den entsprechenden methodischen Voraussetzungen in den Köpfen der Intellektuellen, diesen selber unbewusst, fixieren. Daher sagt Lenin: »Keinem einzigen dieser Professoren, die im Stande sind, auf Spezialgebieten – Chemie, Geschichte oder Physik – die wertvollsten Arbeiten abzuliefern, darf man auch nur ein einziges Wort glauben, sobald von der Philosophie die Rede ist.« Wie kann ein so unspezialisiertes Wesen wie der Mensch von einem so hochspezialisierten wie dem Affen abstammen? Das ist die Frage. Diese Frage ist aber gar nicht so vertrackt, wie es aussieht. Für den Marxisten ist es prinzipiell nicht überraschend, dass der gleiche Entstehungsprozess, aus dem etwas qualitativ Neues hervorgeht, gleichzeitig und in untrennbarer Einheit Aufwärts- und Abwärtsentwicklung, Fortschritt und Rückschritt ist. Wir Marxisten sehen zum Beispiel in der Überwindung der urkommunistischen Gentilverfassung durch die Sklaverei einen historisch notwendigen Fortschritt und einen Vorgang der Degradation. Engels sagt hierzu im Zusammenhang mit der Behandlung der irokesischen Gens: »Die Macht dieser urwüchsigen Gemeinwesen musste gebrochen werden – sie wurde gebrochen. Aber sie wurde gebrochen durch Einflüsse, die uns von vornherein als eine Degradation erscheinen, als ein Sündenfall von der einfachen sittlichen Höhe der alten Gentilgesellschaft. Es sind die niedrigsten Interessen – gemeiner Habgier, brutale Genusssucht, schmutziger Geiz, eigensüchtiger Raub an Gemeinbesitz –, die die neue, zivilisierte Gesellschaft einweihen.«27 (Ursprung der Familie, III)
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(AH) Zitat nachgewiesen in: Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke, Band 21, Berlin, 1962, S. 97.
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Sie werden sagen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun. Aber es hat damit zu tun, denn die Menschwerdung und die Herausbildung der Sklaverei sind beide Vorgänge der Realität von ähnlichem Typus, sind beide Entstehungsprozesse von neuen Qualitäten und weisen daher allgemeine gesetzmäßige Züge auf. Außerdem lehrt die materialistische Dialektik, dass bei der Entstehung einer neuen Qualität in der Regel Neues und Altes miteinander streiten, wobei das Neue, obwohl anfangs schwach, unscheinbar und gefährdet, unweigerlich das Alte besiegt. Das Alte – das sind im Fall der Menschwerdung die hochspezialisierte Organausstattung, die hochspezialisierten Instinkte und der entsprechende Triebdruck, das Neue – das sind die Keimformen und Ansätze der Produktion der eigenen Lebensbedingungen durch Arbeit. Dieses Neue kann sich überhaupt nur durch Verdrängung des Alten durchsetzen, ohne dass dadurch aber seine Entstehung aus dem Alten im mindesten in Frage gestellt ist. Nur für den marxistisch nicht versierten bürgerlichen Ideologen ist es rätselhaft, dass Neues aus Altem durch Verdrängung des Alten entsteht. Er spricht entweder – als Darwinist – von einfacher Höherentwicklung und unterstellt dabei eine quantitative Höherentwicklung der Besonderheiten der alten Qualität, wobei er die Phänomene der neuen Qualität ignoriert, oder er sieht, wie Bolk, die neue Qualität, beschreibt deren spezifische Züge, kann sich dann aber nicht mehr vorstellen, dass sie aus der alten Qualität entstanden ist. Aber der Dampf ist aus erhitztem Wasser entstanden und das faschistische System ökonomischer Reglementierung aus der freien Konkurrenz und der unspezialisierte Mensch aus dem hochspezialisierten Affen. Der langen Rede kurzer Sinn: Es wäre gut, wenn Sie sich die Feststellung, dass Sie gar keine Theorie hätten und »völlig unbefangen« seien, noch einmal sorgfältig überlegen würden. Ich behaupte: a) Sie gehen durchaus nicht unbefangen, sondern sehr wohl mit theoretischen Voraussetzungen an die Wirklichkeit heran – und zwar im positiven und im negativen Sinne; b) so weit es sich dabei um negative, erkenntnishemmende, theoretische Voraussetzungen handelt, sind es im Grunde genau die gleichen Voraussetzungen, die die nur scheinbar gegensätzlichen Beschränktheiten des klassischen Darwinismus und der Bolk-Richtung bedingen. Es sind die Voraussetzungen des metaphysischen Denkens, das die Fakten isoliert betrachtet, die Kategorien statisch auffasst, das Entstehen neuer Qualitäten aus alten Qualitäten ignoriert und von den Realgesetzen des inneren Widerspruchs der Erscheinungen keinen deutlichen Begriff hat. (»Metaphysisch« hier im Sinne von undialektisch. Hegel spricht von »Reflexionsphilosophie«.)
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Ich behaupte aber noch mehr. Gegen Ihre falschen theoretischen und methodischen Voraussetzungen setzen sich bei Ihnen – weil das Prinzip des »einheitlichen Strukturgesetzes« richtig ist – wesentliche Einsichten (teilweise Ahnungen) durch. Sie können sich dem Gefühl nicht entziehen, dass Sie es in Ihrer Anthropologie mit höchst widerspruchsvollen, dialektischen Erscheinungen zu tun haben. Sie schreiben (in Ihrer Antwort auf die Kritik von Frau Dr. Mahn): »Überhaupt ist das Fragmentarische einer wissenschaftlichen Konzeption kein Gegenstand eines berechtigten Einwandes, nicht einmal Widersprüche würden einen solchen begründen. Sie könnten in der Sache liegen!« Sehr richtig: Die Widersprüche liegen in der Tat in der Sache. Es kommt jedoch darauf an, dass man sie methodisch bewusst als Widersprüche der Sache erfasst. Nur dann kann man sie in einer logisch widerspruchsfreien Theorie aussprechen. Tut man dies nicht, so spricht man die Widersprüche der Sache aus, indem man sich selbst widerspricht. Und das kann dann allerdings ein Gegenstand sehr berechtigter Einwände werden. Im Prinzip ist dieses Dilemma des metaphysischen Denkens nicht neu. Aristoteles erfasst zum Beispiel in seiner Metaphysik das widerspruchsvolle Aufeinander-Bezogensein des Allgemeinen und Besonderen nicht, aber es macht sich in seiner Theorie in der Weise geltend, dass er sich selbst auf Schritt und Tritt widerspricht, indem er nämlich einmal behauptet, nur das Einzelne sei real (im Kampf gegen Platons Hypostasierung des Eidos), und dann wieder erklärt, nur das Allgemeine sei begrifflich erkennbar. Ähnlichen logischen Widersinn, der sich ebenfalls aus der metaphysischen Behandlung dialektischer Phänomene ergibt, findet man in Hülle und Fülle bei Adam Smith in dessen genialem Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Smith kommt bisweilen der Entdeckung des Mehrwerts um Haaresbreite nahe. Er erkennt zum Beispiel, dass die Kapitalisten nicht produzieren, um durch die Produkte ihre Bedürfnisse zu befriedigen, dass sie überhaupt nicht im Hinblick auf Konsumtion (weder eigene noch fremde), sondern um des Mehrwerts willen produzieren, und er leitet auch Titelblatt von An Inquiry into the Naden Mehrwert ganz richtig ab aus dem Wert, den ture and Causes of the Wealth of Nations
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die Arbeiter dem Rohstoff zusetzen über den im Lohn empfangenem Wert hinaus. Das ist schon beinahe marxistisch. Da aber Smith auf Grund der Erkenntnisschranken, die die bürgerliche Ideologie bereits in der revolutionären Entwicklungsphase des Kapitalismus aufweist, keinen exakten Begriff des Mehrwerts hat, da er Mehrwert und Profit durcheinanderbringt und ihm das objektiv widerspruchsvolle Verhältnis zwischen beiden schleierhaft ist, bringt er es fertig, gleich darauf zu erklären: Die Kapitalisten hätten kein Interesse daran, ein größeres Kapital statt eines kleineren anzuwenden, wenn ihre Profite nicht in einem bestimmten Verhältnis zur Größe des vorgeschossen Kapitals stünden. Und damit widerspricht er sich selbst; denn auf einmal erklärt er den Profit (der ihm gleich Mehrwert gilt) aus dem »Interesse«, dem Wunsch der Kapitalisten, nicht aber aus der Formverwandlung des Rohstoffs durch die Leistung der Arbeiter – eine glatte Albernheit, die später von seinen vulgären Nachbetern zu einer Psychologisierung der kapitalistischen Ökonomie ausgebaut wurde. Es sind diese logischen Unstimmigkeiten, die Marx meint, wenn er schreibt: »Die Widersprüche Adam Smiths haben das Bedeutende, dass sie Probleme enthalten, die er zwar nicht löst, die er aber dadurch ausspricht, dass er sich widerspricht. Sein richtiger Instinkt in dieser Beziehung wird dadurch am besten bewiesen, dass seine Nachfolger gegeneinander bald die eine, bald die andere Seite aufnehmen.« (Theorien über den Mehrwert, Band I, S. 171.) Das Kapital von Marx ist, im Gegensatz zu den Werken der Klassiker der bürgerlichen Ökonomie, logisch völlig widerspruchsfrei, aber es ist deswegen widerspruchsfrei, weil Marx die Widersprüche, die in der Sache liegen, mittels der dialektischen Methode als Widersprüche der Sache erfasst (so das Verhältnis von Mehrwert und Profit). Der Widerspruch der Sache, mit dem nun Sie in Ihrer Anthropologie gedanklich nicht fertig werden, ist die Abstammung des unspezialisierten Menschen vom hochspezialisierten Tier. Dieses Phänomen ist Ihnen so unheimlich und unbegreiflich, dass Sie es am liebsten mit einem agnostizistischen Achselzucken übergehen und sich gänzlich auf die bloße Deskription des Vorgefundenen zurückziehen würden. Sie tun dies auch weitgehend, haben dabei aber ein schlechtes Gewissen und operieren dann doch – wenigstens in der Auflage von 1940 – mit Ansätzen und Elementen einer eigenen Hypothese. Und dabei passiert Ihnen dann Folgendes: Sie formulieren die »drei einzig möglichen Lösungsschemata der Menschwerdung« und heben als deren gemeinsamen Vorzug hervor, dass alle drei »während der eigentlichen Epoche der Menschwerdung eine besonders günstige optimale Zufallsumwelt, ein Paradies annehmen; denn ein
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unspezialisiertes Tier, bevor es Werkzeugintelligenz besaß, war unangepasst und schutzlos, kann also nur in einem Mutterschoß der Natur gelebt haben.« (Seite 127) Damit widersprechen Sie sich aber selbst: Denn alles, was Sie sehr richtig über »das« Tier als »Gegenbegriff« zum Menschen, also über die gemeinsamen Eigenschaften aller Tiere (vom Regenwurm bis zum Schimpansen) ausgeführt haben, setzt voraus, dass es nirgends in der Natur einen solchen »Mutterschoß der Natur« geben kann. Logisch gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder war die ganze Vorfahrenreihe des Menschen biologisch unspezialisiert, dann muss sie auch selbst ihre Lebensbedingungen produziert, also »schon immer« menschlich gewesen sein. Dann ist der Mensch aber auch im Prinzip eine fertig gegebene Schöpfung (fragt sich: wessen?). Oder der Mensch ist historisch entstanden, dann kann er nur von den Tieren abstammen, dann muss ihm aber auch ein biologisch spezialisierter Vorfahr vorausgegangen sein, der sich zu einem unspezialisierten Wesen entwickelt hat. Die zweite Annahme, die einzig und allein ohne göttliche Schöpfung des Menschen auskommt, die einzig und allein mit der historischen Entstehung unseres Planetensystems und unserer Erde und mit den universellen Entwicklungsgesetzen der organischen Natur verträglich ist, kann jedoch nur begriffen werden, wenn man erkennt, dass organische Rückbildung einerseits und Höherentwicklung auf qualitativ neuer Stufe andererseits einen einheitlichen Prozess ausmachen. Nur wenn man mit methodischem Bewusstsein diesen Widerspruch der Sache aufdeckt, kann man eine logisch widerspruchsfreie Theorie entwickeln. Die Anwendung der Dialektik bietet also die Gewähr, die Ansprüche der Logik bis zur letzten Konsequenz zu erfüllen, während metaphysische Denkgewohnheiten – gerade dann, wenn sie spontan das vermeintlich »unbefangene« Bewusstsein des Forschers beherrschen – zu unabsehbaren logischen Unstimmigkeiten führen. War der »Mutterschoß« der Natur eine Steinwüste? Wie konnte darin der bereits unspezialisierte Menschenvorfahr leben? Oder war der »Mutterschoß« der Natur ein Stück Natur voller organischen Lebens, mit Pflanzen und Tieren? Wie ist dann die Existenz von Pflanzen und Tieren denkbar ohne die Vorgänge der natürlichen Zuchtwahl, die die Ausmerzung des Unangepassten besorgen und auf diese Weise umwelteingepasste Organismen entstehen lassen? Wenn aber das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl in diesem »Mutterschoß« herrschte – warum betraf es nicht den Vorfahren des Menschen? Solange er noch nicht seine Lebensbedingungen durch Arbeit produzierte, muss es ihn betroffen haben. Solange es ihn aber betroffen hat, war er auch umwelteingepasst, biologisch spezialisiert, also kein Mensch,
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sondern ein Tier. Wie aber kann von einem spezialisierten Tier der unspezialisierte Mensch abstammen? Aus diesen vertrackten Zirkel kommen Sie nur heraus, wenn Sie sich von den Denkgewohnheiten der Metaphysik (Reflexionsphilosophie) frei machen und Dialektik studieren. »Unbefangen« werden Sie auf keinen Fall sein, weder als Metaphysiker, noch als Dialektiker. Aber als Metaphysiker wissen Sie nicht, wovon Sie befangen sind. Als Dialektiker wissen Sie es genau: Sie gehen mit den methodischen Prinzipien an die Realität heran, die der bewusstseinsunabhängigen Gesetzmäßigkeit der Sache angemessen sind. Damit bin ich nun an einem Punkt angelangt, wo ich die Methode des dialektischen Materialismus gegen Ihr Misstrauensvotum verteidigen muss. Sie schreiben: Diese Methode sei in dem Sinne metaphysisch, dass sie alles erkläre und nicht widerlegbar sei. Verzeihen Sie: Das ist ein Irrtum, es ist sogar eine Unterstellung. Die Methode des dialektischen Materialismus erklärt nämlich überhaupt nichts. Sie ist nichts, gar nichts ohne die konkrete Tatsachenforschung, ohne das Experiment, ohne die Praxis, ohne ein reiches empirisches Material, die allein zuverlässige Erkenntnis begründen können. Die materialistische Dialektik gibt nur die Anleitung, die Erscheinungen in ihren realen Zusammenhängen zu studieren, sie in ihrer Bewegung, Veränderung und Entwicklung zu sehen, sich bei allen Prozessen in der Realität auf qualitative Sprünge gefasst zu machen, die die harmonische Evolution an bestimmten Punkten durchbrechen, und die inneren Widersprüche in den Erscheinungen aufzudecken. Das klingt alles sehr banal, so lange man etwa bei Bewegung und Veränderung an die Unbeständigkeit des Wetters und an lebhaften Straßenverkehr denkt, oder solange man den qualitativen Sprung nur am Schulbeispiel der Verwandlung von Eis ins Wasser und von Wasser in Dampf erläutert. Es ist aber gar nicht banal, wenn man mit diesen methodischen Prinzipien radikal Ernst macht. Sie werden wissen, dass sich die Medizin lange Zeit nur in der Richtung der isolierenden Organpathologie entwickelte. Damit hängt zusammen, dass Abhängigkeiten elementaren Charakters erst verhältnismäßig spät bekannt wurden. Das rheumatische und Herzerkrankungen zum erheblichen Teil durch chronische Tonsillitis bedingt sind, ist eine verhältnismäßig moderne Einsicht, die über die bloße Organpathologie hinausgeht. Selbstverständlich ist dieser Zusammenhang nicht vom dialektischen Materialismus aufgedeckt worden, auch nicht dadurch, dass die Mediziner, die ihn aufdeckten, vorher
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marxistisch geschulten worden wären. Die Medizin ist vielmehr auf der Grundlage der therapeutischen Praxis über die bornierten Schranken der Organpathologie hinausgegangen. Die Frage ist nur, warum derartige Zusammenhänge erst so verhältnismäßig spät bekannt wurden, warum man sie nicht viel früher wenigstens in Betracht zog, warum man nicht viel früher experimentweise Rheumatikern die vereiterten Tonsillen herausnahm. Auf diese Frage gibt es nur eine Antwort: Weil in der Medizin niemals die Methode der materialistischen Dialektik bewusst angewandt wurde. Die Medizin wurde erst durch eine Fülle zufälliger empirischer Daten gezwungen, den bornierten Standpunkt der Organpathologie zu verlassen. Wenn sie dagegen von vornherein systematisch mit Methodenbewusstsein alle nur denkbaren Zusammenhänge, gerade auch verborgene, nicht offensichtliche, in Betracht gezogen und sie experimentell »durchprobiert« hätte, so hätte sie sich Umwege ersparen und den Weg zur Aufdeckung der wesentlichen Zusammenhänge abkürzen können. Die Erziehung zu einem solchen Methodenbewusstsein ist aber erst möglich, wenn der dialektische Materialismus zur herrschenden Weltanschauung der Gesellschaft geworden ist. Solange das nicht der Fall ist, wird die Mehrzahl der Mediziner bestenfalls spontan, unter dem Zwang der Sache, dialektisch denken und angesichts komplizierter, tief verborgener – aber nichtsdestoweniger vorhandener – Zusammenhänge immer wieder in die metaphysische Denkweise zurückfallen. Im Prinzip handelt es sich nun bei der Aufdeckung des Zusammenhanges zwischen chronischer Tonsillitis und Rheuma um genau dasselbe wie bei der Enträtselung des Wesens und der Funktion des Staates. Der Staatsapparat ist eine aus der Sphäre der Produktion hervorgehende selbständige Macht, das Parlament wird vom Volk gewählt, und die parlamentarische Mehrheit stellt die Regierung, die also – wie es scheint – im Namen der Mehrheit und im Interesse der Mehrheit regiert. Die Regierung und Staatsgewalt stehen überdies – wie es scheint – neutral über den privaten Interessenkonflikten aller Bürger.28 So sah es die primitive, vormarxistische Arbeiterbewegung. Sie appellierte dann auch an den Staat, um Schutz vor der Willkür der Unternehmer zu erhalten. Sie sah im Staat eine neutrale, über Arbeitern und Unternehmern stehende 28
(AH) Siehe zu diesem Themenfeld Harichs Ausführungen im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Anarchismus (abgedruckt in Band 7). Siehe zudem seine Aufsätze in der Neuen Welt.
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Macht. Sie sah also den Staat isoliert von den Klassenverhältnissen der Gesellschaft. Und der Schein gab ihr recht: Denn die Fäden, die den Staat mit der herrschenden Klasse verbinden, sind ebenso unsichtbar wie die Krankheitsstoffe, die von den vereiterten Tonsillen ausströmen und Herz, Gelenke und Muskeln befallen. Erst durch zahllose empirische Beweise, erst durch zahllose Vorgänge, die bewiesen, dass die privaten, rein ökonomischen Lohnkonflikte zwischen Arbeitern und Unternehmern immer wieder von staatlichen Behörden zu Gunsten der Unternehmer geregelt wurden (und sei es mit Mitteln der Gewalt, mit brutaler Unterdrückung von Streiks, mit Polizeischutz für Streikbrecher usw.), lernten die Arbeiter, dass der Staat keine neutral über den Klassen stehende Macht ist. Was ihnen nun Marx von vornherein voraus hatte, und was er den rückständigen, nicht klassenbewussten Teilen des Proletariats bis heute voraus hat, ist die Dialektik, das dialektische Methodenbewusstsein, das ihn befähigte, den von der Bourgeoisie im Interesse der Bourgeoisie verschleierten Zusammenhang zwischen Bourgeoisie und Staat aufzudecken, die Illusionen des bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus zu zerschlagen und nachzuweisen, dass der Staat seinem Wesen nach immer Herrschaftsinstrument der einen Klasse zur Unterdrückung der anderen Klasse ist. Indem die Marxisten diese dialektische Einsicht in das Proletariat hineintragen, heben sie den proletarischen Klassenkampf von der bloß ökonomischen, tradeunionistischen Stufe auf die Stufe des politischen Kampfes mit dem Ziel des Sturzes der öffentlichen Gewalt, der Zerschlagung des alten Staatsapparats und der Errichtung eines neuen, proletarischen Staates, des Staates der Diktatur des Proletariats. Es ist leicht zu begreifen, welche Bedeutung der erste Grundzug der materialistischen Dialektik – die Forderung, die Erscheinungen in ihrem Zusammenhang zu sehen – für die Arbeiterbewegung hat.29 Diese methodische Forderung hat aber nicht nur für die Arbeiterbewegung 29
(AH) Stalins Über dialektischen und historischen Materialismus war in der SBZ/DDR weit verbreitet und innerhalb der Philosophie bis zur Abrechnung mit Stalin grundlegend. Harich kannte die Broschüre sehr gut durch seinen Vorlesungszyklus Einführung in den dialektischen und historischen Materialismus, den er seit 1948 mehrere Jahre an der Berliner Humboldt-Universität gehalten hatte. Das Vorlesungsprogramm zerfiel in vier Teile, der erste brachte Die Entstehungsgeschichte der Philosophie des Marxismus, der zweite die Grundzüge der Dialektik, der dritte Den philosophischen Materialismus und der vierte Den historischen Materialismus. In der Version, die Harich ab April 1949 vortrug, kommt der Zyklus zum Abdruck. Band 1.1 (Frühe Schriften, Teilband 1: Neuaufbau im zerstörten Berlin), S. 407–498. Der zweite Teil ist, wie gesagt, den Grundzügen der Dialektik nach Stalin gewidmet. Zum Einstieg erklärte Harich: »Den Teilen 2 bis 4 dieser Vorlesung liegt
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Bedeutung, sondern ist gleichzeitig – weil sie Bestandteil einer zutiefst wissenschaftlichen Methode ist – außerordentlich fruchtbar für alle Wissenschaften. Sie kann aber erst dann die Einzelwissenschaften durchdringen, wenn die Arbeiterklasse herrscht und die Intellektuellen im Geiste ihrer Weltanschauung zu erziehen die Macht hat. Mit der Kategorie des Widerspruchs verhält es sich sehr ähnlich. Die materialistische Dialektik lehrt die Menschen, ihre Aufmerksamkeit den offenen oder verborgenen Widersprüchen in den Erscheinungen zuzuwenden. Gerade daran muss die Arbeiterklasse zu allererst interessiert sein; denn von der Bourgeoisie wird ihr eingeredet, dass die politischen Interessen der Bourgeoisie identisch seien mit den Interessen des ganzen Volkes. »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche«, sagte Wilhelm II. bei Beginn des Ersten Weltkrieges, der dann aber nicht der Verteidigung der Interessen des deutschen Volkes, sondern der Raubgier der deutschen Bourgeoisie diente und den Volksmassen nichts als Not und Tod eintrug. Hitler redete von »Volksgemeinschaft«. Um diese Betrügereien entlarven und sich vor ihnen schützen zu können, muss die Arbeiterklasse den unversöhnlichen Gegensatz zwischen den Interessen der Bourgeoisie und ihren eigenen Interessen aufdecken, ein Gegensatz, der von der Bourgeoisie verschleiert wird. Sie kann das nur, wenn sie die materialistische Dialektik auf die gesellschaftlichen Erscheinungen anwendet. Widersprüche und Gegensätze sind aber nicht nur im gesellschaftlichen Leben wirksam, sondern in der ganzen Realität. Auf dem Widerstreit von Assimilation und Dissimilation beruht die relative Stabilität der Organismen, aber der gleiche Widerstreit ist auch Bedingung ihres Untergangs. Die diese Schrift Stalins zu Grunde. Warum? Nicht, weil wir im sowjetischen Sektor Berlins leben und weil Stalin das Oberhaupt der SU ist. (Obwohl ich es als bemerkenswerte Tatsache festzuhalten bitte, dass das Staatsoberhaupt der SU Lehrbücher der Philosophie schreibt. Winston Churchill malt Landschaften und der König von Schweden spielt Tennis.). Sondern aus einem sachlichen und einem didaktischen Grund. Sachlicher Grund: Die marxistische Theorie ist der Inhalt der Erfahrungen der Arbeiterbewegung aller Länder. Sie entwickelt sich in dem Maß weiter, in welchem die Weltgeschichte ihren Fortgang nimmt, sie nimmt neue Inhalte, neue Erfahrungen auf. Schon Marx’ und Engels’ Lehre hätte nicht entstehen können, ohne die realen geschichtlichen Erfahrungen der vormarxistischen Arbeiterbewegung. (Marx und Engels haben selbst ihre Lehre anhand von neuen Erfahrungen weiterentwickelt.) Deshalb ist es heute notwendig, von der modernsten Erscheinungsform, des Marxismus auszugehen, die gesättigt ist mit den Erfahrungen von einem Jahrhundert Marxismus und dem Aufbau des Sozialismus in der SU.« (Ebd., S. 427.)
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dynamischen Gefüge des Kosmos werden durch widerstreitende Tendenzen zusammengehalten, gehen aber auch an diesen widerstreiten Tendenzen schließlich zu Grunde. Und auf andere Weise ist auch die Menschwerdung ein in sich widerspruchsvoller Prozess. Die Kategorie des Umschlags quantitativer Veränderungen in qualitative Veränderungen, das Entstehen neuer Qualitäten, hat für das Proletariat entscheidende Bedeutung, weil es in seinem Kampf nur bestehen kann, wenn es sich rechtzeitig vorbereitet auf die heranreifenden objektiven Bedingungen des revolutionären Umsturzes. Es muss sich auf qualitative Sprünge im gesellschaftlichen Leben, im historischen Prozess gefasst machen und dann, wenn der Sprung eingetreten ist, auf der qualitativ neuen Stufe mit neuen Mitteln den Prozess der Entwicklung der Produktivkräfte vorantreiben. Aber welche Bedeutung die Kategorie des qualitativen Sprunges für die Wissenschaft überhaupt hat, ist ersichtlich nicht nur an der Eigenart chemischer und organischer Prozesse, sondern auch an einem solchen Problem wie der Menschwerdung. Und schließlich: Das Proletariat ist sehr interessiert daran, zu wissen, dass die kapitalistische Ordnung nicht ewig, sondern historisch entstanden und historisch vergänglich ist. Aber gibt es irgend eine Erscheinung der realen Welt, die man richtig verstehen kann, wenn man sie als ewige Gegebenheit hinnimmt, wenn man sie verabsolutiert? Dass Zellen aus Zellen entstehen, lässt sich freilich nicht bestreiten. Aber wenn man annimmt, dass dies immer so sein müsste, wenn man die Zelle zum unveränderlichen, »letzten« Ausgangspunkt und Bauelement der lebenden Materie erklärt, wie dies Virchow tat, dann mystifiziert man das organische Leben und ist letzten Endes zur Annahme eines Schöpfungsaktes gezwungen – ein Irrtum, der nicht nur philosophisch misslich ist, sondern auch in der medizinischen Praxis zu verhängnisvollen Konsequenzen führt: Warum hat die medizinische Forschung so lange Zeit die Untersuchungen des nichtzellulären Stützgewebes im menschlichen Organismus vernachlässigt und bei der Ergründung von Krankheiten (Krebs) nicht genügend in Betracht gezogen? Antwort: Weil sie in den erkenntnishemmenden metaphysischen Denkgewohnheiten der Virchowschen Zellularpathologie befangen war! Verstehen Sie dies alles bitte nicht falsch!! Es handelt sich nicht darum, dass der Wissenschaftler sozusagen auf »Parteibefehl« und unter Androhung sibirischer Verbannung gezwungen wird, »Realrepugnanz« zu konstatieren, wo keine ist. Die Dialektik gibt ihm lediglich den Hinweis, bei der Forschung die Möglichkeit von objektiven Wider-
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sprüchen der Sache im Auge zu behalten und der zahllosen Fälle eingedenk zu bleiben, in denen bestimmte Phänomene nur so lange rätselhaft waren, so lange der Widerspruch, der in ihnen steckt, verbogen war. Ebenso soll der Wissenschaftler keineswegs gezwungen werden, zu bestreiten, dass tatsächlich Zellen aus Zellen entstehen. Die Dialektik warnt ihn nur, aus der Feststellung dieser Tatsache eine »absolute Wahrheit letzter Instanz« zu machen und sich so auf eine bestimmte abschließende Gesetzesform festzulegen, die eines Tages neue Phänomene als mysteriös erscheinen lassen könnte. Es besteht auch gar kein Anlass zu der Befürchtung, dass den Wissenschaftlern zugemutet werden könnte, Zusammenhänge zu konstruieren, die nicht bestehen. Aber die Forderung, prinzipiell in Zusammenhängen zu denken, soll sie befähigen, verborgene Zusammenhänge, die wesentlich sind, ans Licht zu ziehen. Die materialistische Dialektik als Methode des Herangehens an die Erscheinungen der Realität, als Methode der Erforschung der Erscheinungen, schneidet keineswegs der Forschung den Weg ab (das bleibt den metaphysischen Denkgewohnheiten vorbehalten). Sie ist kein Hebel der Konstruktion à la Hegelianertum. Sie präsentiert nicht irgendwelche »absoluten Wahrheiten«. Sie verpflichtet den Forscher nicht, auf gewollte und von vornherein »gewünschte« Resultate zuzusteuern, sie ist in jeder Hinsicht undogmatisch, ist der Todfeind jedes Dogmatismus. Sie weiß nicht alles schon vorher. Sie kann auch niemals die konkrete Forschung ersparen; denn wie gesagt: Ohne empirisches Tatsachenmaterial, ohne Experiment und Praxis ist und bleibt sie unfruchtbar. Sie zwingt auch nicht die Erscheinungen in ein festgelegtes Schema, sondern erfordert im Gegenteil, dass alle nur erdenklichen Möglichkeiten erwogen werden. Sie ist die schlechthin elastischste, der Realität am meisten sich anschmiegende Denkmethode. Wem sie in Fleisch und Blut übergegangen ist, der trägt in seinem Bewusstsein den inneren Appell, bei keiner Oberfläche haften zu bleiben, keine Erscheinung ungeprüft so hinzunehmen, wie sie sich auf den ersten Blick gibt, keine Erscheinung – und sei sie von so achtbarer Konstanz wie unser Sonnensystem – als etwas ewig Gegebenes, Unveränderliches anzusehen, sondern nach den Bedingungen ihrer Entstehung und den Bedingungen ihres möglichen Vergehens zu fragen. Wer dialektisch denkt, ist vor allem mit Ehrfurcht vor dem Speziellen und Speziellsten ausgerüstet und gefeit gegen falsche Verabsolutierungen partieller Erkenntnisse. Und vergessen Sie nicht: Die Dialektik hat Marx und Engels befähigt, vor hundert Jahren die historische Notwendigkeit der proletarischen Weltrevolution vorauszusehen. Die Dialektik hat Lenin befähigt, im Jahre 1902, als die russische Revolution erst zu
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keimen begann, die prophetischen Worte niederzuschreiben: »Die Geschichte hat uns, den russischen Marxisten, jetzt die nächste Aufgabe gestellt, welche die revolutionärste von allen nächsten Aufgaben des Proletariats irgend eines anderen Landes ist. Die Verwirklichung dieser Aufgabe, die Zerstörung des mächtigsten Bollwerks nicht nur der europäischen, sondern auch der asiatischen Reaktion, würde das russische Proletariat zur Avantgarde des internationalen revolutionären Proletariats machen.« (Lenin, Was tun?, Ausgewählte Werke, Band 2, S. 50.) Die Dialektik hat Stalin befähigt, im Jahre 1939, durch Abschluss des Nichtangriffspaktes mit Hitler, England und Frankreich zur Kriegserklärung an Deutschland zu veranlassen und damit die antifaschistische Weltkoalition des Zweiten Weltkrieges gegen den Willen der englischen, französischen und amerikanischen Bourgeoisie zu erzwingen. Die Dialektik befähigte Mao Tse Tung, das riesige China zu revolutionieren. Der große Heine schrieb im Jahre 1834 – zu einer Zeit, als Marx sechzehn und Engels vierzehn Jahre alt war: »Die deutsche Revolution wird darum nicht milder und sanfter ausfallen, weil ihr die Kantsche Kritik, der Fichtesche Transcendentalidealismus und gar die Naturphilosophie vorausging. Durch diese Doktrinen haben sich revolutionäre Kräfte entwickelt, die nur des Tages harren, wo sie hervorbrechen und die Welt mit Entsetzen und Bewunderung erfüllen können. (…) Der Gedanke geht der Tat voraus, wie der Blitz dem Donner. Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: Der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht. Bei diesem Geräusche werden die Adler aus der Luft tot niederfallen, und die Löwen in der fernsten Wüste Afrikas werden die Schwänze einkneifen und sich in ihren königlichen Höhlen verkriechen. Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte.« Leider, leider wurde das Stück bisher gerade in Deutschland noch nicht aufgeführt, aber es sind deutsche Gedanken, es ist die von Hegel geschaffene, von Marx und Engels materialistisch umgestülpte Dialektik, die das Stück seit 1917 in der ganzen Welt aufführt. Kurzum: Es lohnt, sich mit dieser Dialektik – in ihrer marxistischen, materialistischen Gestalt – sehr eingehend zu befassen Doch zurück zu Ihren Brief: Sie haben den Eindruck, dass der dialektische Materialismus alles erklärt und daher nicht widerlegbar sei, ebenso wie der Darwinismus und die Psychoanalyse. Hierzu ist Folgendes zu sagen:
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1. Der Darwinismus erklärt im Bereich der organischen Natur sehr viel. Er erklärt aber in der klassischen, von Darwin und Haeckel ausgearbeiteten Form auch hier nicht alles. Es bedarf also der schöpferischen, an der konkreten Tatsachenforschung orientierten Weiterentwicklung. Sehr beachtliche Ansätze zu dieser Weiterentwicklung liegen bei Timirjasew, dem russischen Haeckel, und bei den sowjetischen Biologen und Biochemikern Mitschurin, Lyssenko, Oparin und Lepeschinskaja vor. Auch mit ihren Leistungen ist die Entwicklungen des Darwinismus freilich durchaus noch nicht abgeschlossen. Viele Einseitigkeiten sind überwunden: So wurde die abstrakte Formel »struggle for life«, die übrigens Marx und Engels schon kritisiert hatten, als unzulänglich erkannt. Neue Entdeckungen wurden gemacht: So wurde die Vererbung erworbener Eigenschaften experimentell bewiesen. (Wenn es Sie interessiert, schicke ich Ihnen das einschlägige Material: Dicke Wälzer von Timirjasew und Mitschurin und das stenografische Protokoll der Moskauer Biologentagung von 1947.) Aber natürlich: Es gibt sehr, sehr vieles, was der Darwinismus auch in seiner heutigen, reiferen Gestalt noch nicht erklären kann. Das kann auch gar nicht anders sein. Denn jeder Gegenstand ist an sich unerschöpflich, und der absoluten Wahrheit kommen wir im historischen Prozess der fortschreitenden Erkenntnis nur immer näher, erreichen können wir sie nie. Was die gesellschaftlichen und historischen Erscheinungen und die meisten anthropologischen Erscheinungen betrifft, so hat der Darwinismus zu ihrer Erkenntnis wenig oder gar nichts beigetragen. Wenn er auf diese Gebiete übergreift, kann er sehr wohl widerlegt werden. Der »soziale Darwinismus« ist vom Marxismus längst und unwiderruflich widerlegt. Auf dem Gebiet der Anthropologie haben Sie selbst die Beschränktheit des Darwinismus aufgezeigt. Allerdings haben Sie mit keiner Ihrer Entdeckungen die Richtigkeit der Abstammungshypothese aus der Welt schaffen können. 2. Dass die Psychoanalyse gewisse wertvolle, ausbaufähige und vor allem klinisch praktikable Einsichten gezeitigt hat, ist ganz unbestreitbar. Die marxistische Wissenschaft erkennt die Leistungen Freuds in ihren Grenzen voll und ganz an. (Wir sind weder prüde, noch Antisemiten.) Nur ist es unzulässig, die Psychologie auf Psychoanalyse zu reduzieren, und wenn versucht wird, dies zu tun, so kann man die verabsolutierenden Übergriffe der Psychoanalytiker – inklusive Freuds – sehr wohl widerlegen. Mir scheint, dass Ihre eigene Anthropologie sehr wesentliche Gesichtspunkte zur Widerlegung psychoanalytischer Übergriffe enthält. Bei der Behandlung sozialer und historischer
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Erscheinungen versagt die Psychoanalyse vollständig und ist mit Leichtigkeit widerlegbar. Freuds Kulturkritik ist kindischer Unsinn. 3. Beim Marxismus muss man zweierlei unterscheiden: Auf der einen Seite die Methode der materialistischen Dialektik, die als solche – wie gesagt – noch keine einzige Erkenntnis begründen kann, die aber universell anwendbar ist und sich in der konkreten Anwendung auf empirisches Forschungsmaterial als überaus fruchtbar erweist und deren Wesen unter anderem gerade darin besteht, Verabsolutierungen unmöglich zu machen, und daneben die konkreten wissenschaftlichen Leistungen der verschiedenen Marxisten mit den Klassikern des Marxismus – Marx, Engels, Lenin, Stalin – an der Spitze. Diese Leistungen sind sehr groß: Marx entdeckte, dass die Produktion der unmittelbaren materiellen Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe der Gesellschaft – die dialektische Einheit von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen – die Grundlage bildet, aus der sich die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die philosophischen und religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen entwickelt haben, er entdeckte weiter das spezielle Entwicklungsgesetz der kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gesellschaft, er entdeckte den Mehrwert und entschleierte damit das Geheimnis der kapitalistischen Ausbeutung, er erkannte die historische Notwendigkeit des proletarischen Klassenkampfes, er schuf die Umrisse der Theorie der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats usw. Engels, der an allen diesen Leistungen beteiligt war, wandte außerdem in sehr genialer Weise die materialistische Dialektik auf die Probleme der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts an. Marx und Engels schufen unerreichte Muster marxistischer Geschichtsschreibung. Lenin und Stalin entwickelten den Marxismus unter den neuen Bedingungen des 20. Jahrhunderts weiter, begründeten die Theorie des Imperialismus und der allgemeinen Krise des Kapitalismus, begründeten die Lehre vom Aufbau des Sozialismus in einem Land, begründeten die marxistische Theorie der nationalen Frage, arbeiteten bis ins Einzelne die Strategie und Taktik der proletarischen Revolution und die marxistische Staatstheorie aus, schufen die politische Ökonomie des Sozialismus und zerschlugen endgültig alle Formen des subjektiven Idealismus in der Erkenntnistheorie (Positivismus, Pragmatismus, Relativismus, Empiriokritizismus, Neukantianismus). Außerdem ver-
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teidigten sie den Marxismus gegen mechanistische und ökonomische Vulgarisierungen. Das alles sind ungeheure wissenschaftliche Leistungen, an denen man als gebildeter Mensch im 20. Jahrhundert nicht achtlos vorbeigehen kann. Man kann auch nicht vorbeigehen an den Einsichten von Rosa Luxemburg, Rudolf Hilferding, Franz Mehring und Georg Lukács auf dem Gebiet der politischen Ökonomie, der Geschichtsschreibung, der Literaturwissenschaft usw. Aber mit allen diesen Leistungen ist noch keineswegs, wie Sie unterstellen, »alles erklärt«. Mit einem solchen Anspruch ist keiner dieser Denker jemals aufgetreten. Es handelt sich jedes Mal um ganz konkrete, klar umgrenzte Sacherkenntnisse anhand eines reichen und tief durchdachten empirischen Materials. Es handelt sich weiter – ebenfalls auf den Gebieten, die mit dem proletarischen Klassenkampf zusammenhängen – um praktisch verifizierte Erkenntnisse – die Praxis ist die Revolution selbst, wobei, was niemand leugnet, gelegentlich auch falsche Prognosen unterlaufen sind wie in jeder Wissenschaft. (So die Hoffnungen, die Marx im Kommunistischen Manifest an die deutsche Revolution von 1848 knüpfte, oder die falsche Auffassung der Bauernfrage durch Stalin im Jahre 1906 oder zahlreiche Irrtümer der Rosa Luxemburg.) Begangene Irrtümer selbstkritisch einzugestehen und zu korrigieren, war für die marxistischen Klassiker immer Ehrensache. Der Satz des Kommunistischen Manifests, dass die Geschichte immer vom Klassenkampf beherrscht gewesen sei, erwies sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die neuen Forschungsresultate von Morgan, Maurer und Bachofen als unhaltbar: Marx und Engels revidierten ihre Auffassung sofort und brachten sie mit dem Stand der Geschichtsforschung in Einklang. Die revolutionäre Praxis der Pariser Kommune von 1871 verhalf Marx zu neuen Einsichten in das Wesen der proletarischen Diktatur, die ihm bis dahin gefehlt hatten. Er vertiefte seine Staatstheorie dementsprechend, und in der neuen, vertieften Form bewährte sie sich in den Revolutionen von 1905 und 1917 vorzüglich. Lenin und Stalin erkannten, dass die alte Auffassung der Marxisten, wonach die Revolution nur in allen Teilen der Welt gleichzeitig siegen könne, unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts unhaltbar geworden sei, warfen diese veraltete Formel über Bord und begründeten die Theorie vom Aufbau des Sozialismus in einem Land, die sich in der Praxis als richtiger erwiesen hat als die starr-dogmatische Revolutionsformel der pseudoradikalistischen Trotzkisten.
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Mit alledem will ich gar nicht leugnen, dass es auch in unseren Reihen starre Dogmatiker, Buchstabengelehrte und Talmudisten gibt.30 Das ist unvermeidlich bei einer Philosophie, die nicht das Geheimnis eingeweihter Professoren ist, sondern in die Massen hineingetragen wird. Da entsteht dann ein breites pseudointellektuelles Adeptentum, das sich aus Unsicherheit, aus Mangel an geistiger Souveränität, kurzum: aus Mangel an marxistischem Denken – an auswendig gelernte Formeln klammert. Überreste unbewältigter bürgerlicher Ideologie tun das ihre. Mit dem Marxismus selbst hat das aber nichts zu tun. Für den Marxismus gibt es eigentlich nur ein einziges »Dogma«: Die Welt ist unerschöpflich und immer viel komplizierter, reicher, vielseitiger als selbst die beste Theorie. Deshalb kann es keine Theorie geben, die alles erklärt, sondern nur die konkrete Forschung, die diese oder jene Erscheinung, diese oder jene Seite der Realität erklärt. Die Aufgabe des Menschengeistes ist daher: Forschung, Forschung und nochmals Forschung. Aber: Der Forschende tut allerdings gut daran, die methodischen Gesichtspunkte der materialistischen Dialektik zu berücksichtigen, wenn er sich in der unabsehbaren Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zurechtfinden will. Leider geht es nun aber auf einem speziellen Forschungsgebiet, auf dem Gebiet der Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft, um Leben und Tod der beteiligten Menschheit (die im Weltganzen nur ein Stäubchen ist), und deshalb haben die Theorien der Marxisten über die damit zusammenhängenden Probleme eine so große Bedeutung, deshalb drängen Sie sich mit solchem Ungestüm auf. Aber deswegen ist mit diesen Theorien noch lange nicht »alles erklärt«. Verständlicherweise sind im Marxismus, der sich zunächst und vor allem die Dinge der Revolution angelegen sein lässt, sogar große, weite Gebiete sehr vernachlässigt, und es ist schon sehr viel, wenn Engels zu Ihrem Gebiet, sehr verehrter Herr Professor, wenigstens das Fragment einer Broschüre beigesteuert hat. Die Kritik am Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie und der Briefwechsel mit den russischen Narodniki waren nämlich dringender. Und für Stalin sind der Atlantikpakt und manches andere 30
(AH) Gegen die dogmatischen Tendenzen und den sektiererischen Irrsinn in der Partei kämpfte Harich in den 50er Jahren immer wieder an und geriet dadurch mehrfach in die Kritik. (Siehe die Bände 1, 2, 3 und 5) Dass er hier gegenüber Gehlen ein mehr als »schöngefärbtes« Bild zeichnete, lässt den Schluss zu, dass sein Anliegen, Gehlen vom Marxismus zu überzeugen, durchaus Ernst gemeint war.
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im Moment leider noch sehr viel dringender als die Frage der Sprachwissenschaft, und es ist schon viel, wenn er auch zu einer solchen Frage ein paar wegweisende Richtigstellungen liefert, die dem Vulgär- und Pseudomarxismus das Handwerk legen. Wie es vieles andere im Marxismus noch nicht gibt, so auch nicht die »Entlastung« und die »unbestimmte Verpflichtung«. Aber was daran sachlich richtig ist, dafür ist im Marxismus Platz. Und wenn dadurch gewisse, noch recht naive Gedanken aus Engels’ Schrift Über den Anteil der Arbeit unhaltbar werden sollten, so müssten diese Gedanken ohne Rücksicht auf Engels’ Autorität unbedingt über Bord geworfen werden (vor allem der völlig missdeutete sprechende Papagei von Seite 9!). Aber Sie müssen Ihre pragmatistischen und biologistischen Reste, Ihren historischen Relativismus und Ihr agnostizistisches Achselzucken über die Abstammungsfrage auch über Bord werfen. So kommen wir zusammen: Auf dem Boden rücksichtsloser, konsequenter Wissenschaftlichkeit, auf dem Boden rücksichtsloser Kritik und Selbstkritik! Fortsetzung vom 23. März 1952 Gestern habe ich fast den ganzen Tag lang an Sie geschrieben. Nun will ich aber endlich zu einem Abschluss kommen und daher nur noch andeutungsweise ein paar offen gebliebene Fragen Ihres Briefes beantworten: 1. Zur Arbeit muss die Kategorie »Spiel« hinzutreten. Sehr richtig. Zur Arbeit muss überhaupt noch manches hinzutreten, aber es tritt nicht von außen (woher?) zu ihr hin zu, sondern es entfaltet sich aus ihr und mit ihr. 2. Arbeit ist auch der einsame Prozess des Erfindens. Sehr richtig. Es wäre eine schlimme Simplifizierung, wollte man unter Arbeit nur die kollektive Produktion materieller Güter verstehen. Sie ist freilich das Fundamentale, von dem sich – auf einer gewissen Stufe der Arbeitsteilung – die höheren geistigen Tätigkeiten erst loslösen, bevor sie sich relativ verselbständigen. Aber auch wenn sie sich verselbständigt haben (wobei es eine weitere Frage ist, ob sie dann indirekt im Dienst der Produktion stehen oder nicht), bleiben sie nichtsdestoweniger Arbeit. Unter Umständen sogar höhere, fruchtbarere Arbeit. Wir Marxisten stehen weder auf dem Standpunkt des Aristoteles, der beleidigt gewesen wäre, wenn man seine Arbeit – die »Theoria« – für Arbeit erklärt hätte, noch sind wir etwa Antiintellektualisten, die die »Intelligenzbestien« mit missbilligenden Blicken betrachten und nur der schwieligen Faust die Würde der Arbeit zugestehen. Je
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vergeistigter die Arbeit, um so höher steht sie. Nur ist einerseits zu bedenken, dass auch die schwielige Faust ein Recht nicht nur auf Seife, sondern auch auf Vergeistigung hat – und dafür kämpfen wir –, und andererseits können wir Intellektuellen nur durch die schwielige Faust vor den Anschlägen einer geistfeindlichen Reaktion geschützt werden. Unser Ziel: Die völlige Überwindung des Unterschiedes zwischen körperlicher und geistiger Arbeit durch restlose Technisierung und maximale Automatisierung aller Produktionsprozesse und durch Hineinpumpung von jeglicher Bildung und Kultur in die werktätigen Massen. Was indessen die Einsamkeit im Prozess des Erfindens betrifft: Kein noch so einsamer Forscher ist ein Kaspar Hauser. Er ist von anderen zum Forschen erzogen worden, er liest Bücher oder hat sie gelesen, er hat von der Gesellschaft die Sprache empfangen, er findet Neues, indem er von bereits Gefundenem, das ihm überliefert wird, ausgeht, er entwickelt also immer, was andere schufen, weiter. Goethe hat »im einsamen Prozess des Erfindens« den Faust erfunden, aber den Knittelvers hat er von Hans Sachs und die Gestalt des Faust aus dem Volksbuch und dem Puppenspiel und den Famulus Wagner aus der Sturm- und Drang-Kritik am philiströsen Aufkläricht. Einsamkeit scheint mir also ein recht relativer Begriff zu sein. 3. Das primäre Moment in einem Komplex einander wechselseitig bedingender Erscheinungen. Es ist durchaus keine Willkür, wenn man ein bestimmtes Moment herausgreift und als das primäre, grundlegende, »in letzter Instanz« bestimmende bezeichnet. Es muss nur das richtige Moment sein, das entscheidende Glied, an dem die ganze Kette hängt. Kann man es finden? Ich glaube: Ja! Ich möchte Sie an eines der Beispiele erinnern, die ich Ihnen in meinem zweiten Brief zur Verdeutlichung dessen, was ich meine, auseinandergesetzt habe: An die Unterdrückung nationaler und religiöser Minoritäten. Wenn die Minderheit keine kollektiven psychischen Eigenarten annähme, die auf die unterdrückende Majorität provozierend wirken, so wäre es offensichtlich gar nicht möglich, dass die Unterdrücker ihr diskriminierendes und gewalttätiges Verhalten mit dem Hinweis auf die negativen Eigenschaften der Minorität begründen und rechtfertigen. Was sie zu dieser Verdrehung der Tatsachen und Zusammenhänge befähigt, ja, was in ihrem eigenen Bewusstsein diese Verdrehung der Tatsachen zu einem wirklich geglaubten, subjektiv ehrlichen Vorteil macht, ist eben eine wirklich existierende Erscheinung. Falsche Theorien können nämlich überhaupt nicht geglaubt werden, wenn es nicht Phänomene gibt, die ihnen
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recht zu geben scheinen. Trotzdem ist es nur eine Erscheinung, die – so wirklich ist sie auch ist – das Wesen verdeckt. Das Wesen der Sache liegt aber darin, dass die Unterdrückung das primäre Moment ist, und dass die negativen psychischen Eigenarten – oder die als negativ empfundenen – der Minorität durch die Unterdrückung aufgezwungen worden. Krankhafte Selbstkritik, Unterwürfigkeit, Kriecherei auf der einen, Hinneigung zu oppositionellen, revolutionären, »zersetzenden« Bewegungen auf der anderen Seite sind – in ihrer Widersprüchlichkeit – typische Züge des Kollektivcharakters unterdrückter Minoritäten, und man kann sehr gut verstehen – wenn man nicht gerade die antisemitischen Vorurteile der Unterdrücker teilt –, dass diese Eigenschaften nicht »von Natur« da sind, sondern sich erst unter den Bedingungen der Unterdrückung und durch diese verursacht historisch herausgebildet haben. Wenn die Unterdrückung verschwindet, wenn völlige soziale, religiöse und kulturelle und politische Gleichstellung der Minorität erfolgt und Antisemitismus mit 25 Jahren Zwangsarbeit bestraft wird, verschwinden diese Eigenschaften früher oder später auch, und mit ihnen verschwindet die entsprechende Aversion bei den rückständigen Teilen der Majorität. Ist es Willkür, die Unterdrückung das primäre Moment zu nennen? Herr Gehlen, Sie ahnen nicht, wie schnell einem hier in der so genannten »Sowjetzone« die primären und sekundären Momente klar werden. Hier heiraten die Studentinnen mit 18 Jahren. Die Folge ist: Wenn man ein Mädchen auf der Straße nach der Uhrzeit fragt, sagt es einem gleichgültig, wie spät es ist, und geht ebenso gleichgültig seiner Wege. Andererseits werden einem mit einer geradezu pathetischen Nüchternheit nach der Vorlesung zuweilen gemeinsame Nächte »vorgeschlagen«. Es ist gar nicht zu glauben, wie schnell sich die Frauen, bei fehlender sozialer Hintansetzung und wenn gleichzeitig frühes Heiraten die Regel ist, sich verändern. Erstens fühlen sie sich nicht mehr unter allen Umständen umworben. Zweitens werben sie selbst, als ob gar nichts dabei wäre. Weshalb bereitet denn nun die Frage nach dem primären Moment im Prozess der Menschwerdung des Menschen so große Schwierigkeiten? Doch nur deshalb, weil für uns dieser Prozess in fast undenkliche, unvorstellbare Vorzeiten entrückt und in keiner Hinsicht beobachtbar ist, noch weniger beobachtbar als die Entstehung des Antisemitismus, und das will schon viel sagen: Aber die Entstehung des Planetensystems liegt noch weiter zurück, ist noch weniger beobachtbar, und trotzdem gibt es hierüber
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plausible Hypothesen, und sie werden fortschreitend immer plausibler! Gibt es irgend eine Erscheinung der realen Welt, die nicht historisch entstanden wäre? Außer dem Weltganzen selbst gibt es das nicht. Wenn man annehmen wollte, dass die Eigenart des Menschen im Prinzip seit Ewigkeit existierte, so würde man damit nicht nur die Abstammungslehre, sondern auch den historischen Entstehungsprozess des Lebens auf der Erde und letzten Endes auch die Entstehung der Erde und des Planetensystems leugnen, sich also auf den überwundenen Standpunkt von Newton, Linné und Albrecht von Haller stellen, die entweder Schöpfung mit einem Schlage oder Ewigkeit des Seienden, wie es ist, annehmen mussten. Wenn aber zugegeben wird, dass die neue Qualität des Menschen nicht »schon immer« existiert haben kann, so gibt man zu, dass sie historisch entstanden sein muss. Dann aber ist die Frage nach den Ursachen ihrer Entstehung schlechterdings unabweisbar. Die Hypothesen über diese Ursachen und über diesen Entstehungsprozess können freilich niemals absolute Sicherheit beanspruchen. Sie könnten dies nur, wenn es gelänge, sie experimentell zu verifizieren, etwa durch künstliche Entwicklung von Anthropoiden zu Menschen (was prinzipiell durchaus möglich ist, aber praktisch kaum vorstellbar). Aber wie dem auch sei:
Illustration von Christian Jeremias Rollin in Hallers Icones anatomicae
Es gibt eine Hypothese, mit der man allen Phänomenen gerecht werden kann: Die Theorie, dass sich der Mensch durch Arbeit selbst geschaffen hat. Sie verträgt sich mit der auf ihren Geltungsbereich reduzierten klassischen Abstammungstheorie, liefert den Schlüssel zum genetisch-historischen Verständnis der Retardation, der Organ-Primitivismen, der Entlastung usw., erklärt auf plausible Weise den Übergang vom biologisch zum sozial »Lebensdienlichen«, sichert den Anschluss an die fundamentalen gesellschaftswissenschaftlichen und historischen Kategorien und wird der Aktivität des menschlichen Verhaltens absolut gerecht. Zugegeben – man kann es vorerst bei einer deskriptiven Anthropologie bewenden lassen und wird dann auch immer sehr beachtliche und vorwärtsweisender Einsichten zu Stande bringen: Ihre Arbeiten beweisen das. Aber es kommt darauf an, dass man als
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Wissenschaftler in der Situation, in der man lebt, das Maximum an Wahrheit ausspricht, dessen man fähig ist. Und das kann man nur, wenn man sich mit der bloßen Beschreibung der vorgefundenen Phänomene nicht zufrieden gibt, sondern sie historisch-genetisch zu erklären versucht, und das wiederum erfordert eine Synthese »Gehlen plus Darwinismus plus Marxismus«! Nur dann kann man auch den Platz der Anthropologie im Gesamtzusammenhang der Wissenschaften bestimmen. Und nun noch etwas sehr Ernstes: Die Zeit ist nicht mehr fern, dass der Kommunismus endgültig siegen wird. Wenn Ihr Werk dann nur in den vorliegenden Fassungen vorliegt (mit Berufungen auf Nietzsche, Pareto usw. und ohne plausible Hypothese über die Menschwerdung), kann es möglicherweise lange Zeit missverstanden bleiben, bis endlich einer entdeckt, was an Wertvollem darin steckt. Vielleicht wird es uns beide dann nicht mehr geben? In der Zwischenzeit werden Anthropologie und Psychologie auf Pawlows »bedingten Reflexen« herumreiten, die nur ziemlich simple Teilwahrheiten sind. Können Sie das vor der Zukunft verantworten? Können Sie es verantworten vor den Millionen Studenten von 1970 und 1980? Na, und Ihr Weltruhm liegt Ihnen gar nicht am Herzen? Ein Weltruhm, den Sie im kapitalistischen Lager nicht haben, weil man dort wissenschaftliche Philosophie nicht brauchen kann, und den Sie sich in unserem Lager mit Nietzsche-Pareto-Überwucherungen und mangelnder Abstimmungshypothese unter Umständen auf lange Zeit ebenfalls verscherzen? Aber die Weiterentwicklung Ihrer Anthropologie ist nicht nur aus taktischen Rücksichten geboten, sondern vor allem um der Wahrheit willen, um des Maximums an Wahrheit willen, zu dem Sie verpflichtet sind. Bis jetzt sind Sie nur der Newton der Anthropologie. Das ist schon viel. Aber wenn Sie doch auch der Kant und Laplace der Anthropologie sein können, warum wollen Sie denn dann der Newton bleiben? Das Schlagwort »Newtons metaphysische Beschränktheit« und die ehrfurchtsvolle Nennung von Kants Allgemeiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels31 gehören seit Engels 31
(AH) Die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels hat Harich immer wieder positiv hervorgehoben und in ihrer Bedeutung gewürdigt. In seinen Vorlesungen spielte sie eine tragende Rolle bei der Interpretation der deutschen Philosophie der Aufklärung und des Entwicklungsgedankens. (Siehe die entsprechenden Verweise in den Bänden 6.1 und 6.2.) Das Werk erarbeitete Kant 1755 und veröffentlichte es anonym. In Über Hegels Konzeption der Philosophiegeschichte schrieb Harich: »Es sei nur daran erinnert, dass im neuzeitlichen Philosophieren von Anfängen evolutionistischer Naturbetrachtung ja erst seit der Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels des frühen Kant (1755) die
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Rede sein konnte, dass die universal verallgemeinerte Dialektik noch in der Naturphilosophie der Romantiker rein spekulativen Charakter besaß und dass, was den Geschichtsprozess anbelangt, z. B. das Umschlagen quantitativer in qualitative Veränderung überhaupt erst durch die Französische Revolution als Phänomen der gesellschaftlichen Entwicklung fassbar geworden ist und erst von Hegel, 1806, übrigens unter Berufung auf vage Analogien aus der organischen Natur, auf den Begriff gebracht wurde. Es genügt, sich diese Daten der Wissenschaftsgeschichte und dazu die Entferntheit und anscheinende Unverbundenheit der verschiedenen Punkte, an denen das dialektische Weltbegreifen da ansetzte, zu vergegenwärtigen, um einzusehen, wie schwer es den Philosophen fallen musste, der allgemeinen Zusammenhangs- und Entwicklungsgesetzlichkeit auf die Spur zu kommen, die den neu gesehenen bzw. neu geschehenden und nur dialektisch zu erfassenden Sachverhalten zu Grunde lag.« Harich: Über Hegels Konzeption der Philosophiegeschichte, in: Band 5, S. 285. In Harichs Schriften finden sich immer wieder Verweise auf Kants epochales Werk. Diese Hochschätzung der Allgemeinen Naturgeschichte war innerhalb der marxistischen Intellektuellen der DDR Allgemeingut. Bei Bloch, um nur ein Beispiel zu nennen, war in diesem Sinn zu lesen: »Denn wäre nichts von Kant übrig geblieben als die Allgemeine Naturgeschichte (…), dann würde er als der erste, der eine mechanische Kosmogonie gab, allein schon unsterblich sein. Er würde triumphierend mit Demokrit, Epikur, Lukrez, mit den französischen Materialisten gefeiert werden als philosophischer Vollender der Bahn Kopernikus, Galilei, Kepler und Newton.« Bloch: Zweierlei Kant-Gedenkjahre, in: Ders.: Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie, Frankfurt am Main, 1985, S. 455. Stützen konnten sich Harich, Bloch, Georg Klaus u. a. auf Engels, der in der Dialektik der Natur geschrieben hatte: »Ich rechne die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts noch mit zu dieser Periode, weil ihnen kein anderes naturwissenschaftliches Material zu Gebote stand als das oben geschilderte. Kants epochemachende Schrift blieb ihnen ein Geheimnis, und Laplace kam lange nach ihnen. Vergessen wir nicht, dass diese veraltete Naturanschauung, obwohl an allen Ecken und Enden durchlöchert durch den Fortschritt der Wissenschaft, die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beherrscht hat und noch jetzt, der Hauptsache nach, auf allen Schulen gelehrt wird. Die erste Bresche in diese versteinerte Naturanschauung wurde geschossen nicht durch einen Naturforscher, sondern durch einen Philosophen. 1755 erschien Kants Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels. Die Frage nach dem ersten Anstoß war beseitigt; die Erde und das ganze Sonnensystem erschienen als etwas im Verlauf der Zeit Gewordenes. Hätte die große Mehrzahl der Naturforscher weniger von dem Abscheu vor dem Denken gehabt, den Newton mit der Warnung ausspricht: Physik, hüte dich vor der Metaphysik! – sie hätten aus dieser einen genialen Entdeckung Kants Folgerungen ziehen müssen, die ihnen endlose Abwege, unermessliche Mengen in falschen Richtungen vergeudeter Zeit und Arbeit ersparte. Denn in Kants Entdeckung lag der Springpunkt alles ferneren Fortschritts. War die Erde etwas Gewordenes, so musste ihr gegenwärtiger geologischer, geographischer, klimatischer Zustand, mussten ihre Pflanzen und Tiere ebenfalls etwas Gewordenes sein, musste sie eine Geschichte haben nicht nur im Raum nebeneinander, sondern auch in der Zeit nacheinander. Wäre sofort in dieser Richtung entschlossen fortuntersucht worden, die Naturwissenschaft wäre jetzt bedeutend weiter, als sie ist. Aber was konnte von der Philosophie Gutes kommen?« Engels, Friedrich: Dialektik der Natur, in: Karl Marx; Friedrich Engels: Werke, Band 20, Berlin, 1962, S. 315 ff.
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zum guten Ton im marxistischen Lager. Können Sie sich wirklich damit abfinden, der Newton der Anthropologie zu bleiben? Im Übrigen: Arbeit erscheint mir nicht nur in sehr vielen anderen Zusammenhängen als primäres Moment, sondern ist es auch wirklich. Die unwiderleglichen Beweise finden Sie in den marxistischen Büchern, die ich Ihnen geschickt habe, und mit denen ich Sie fernerhin so lange bombardieren werde, bis Sie’s begriffen haben, respektive bis es Sie ergriffen hat. Lesen Sie Engels, Stalin, Plechanow, Mehring, Luxemburg und Lukács! Sie werden sich unweigerlich von der Stichhaltigkeit der dort ausgebreiteten Argumente überzeugen. Und da nun einmal Quantität in Qualität umzuschlagen pflegt, wird Ihnen – bei gehörigen Quanten marxistischer Lektüre – die materialistische Dialektik sehr bald in Fleisch und Blut übergehen. Die Voraussetzungen bringen Sie mit dem »einheitlichen Strukturgesetz« und der positiv-wissenschaftlichen Orientierung mit. 4. Sie beschweren sich darüber, dass ich mich über Ihre Unkenntnis der »treffenden soziologischen Kategorien für ein bestimmtes Phänomen« mokiert hätte. Über den Ton, den ich damals in meinem Brief plötzlich anschlug, muss ich wirklich beschämt sein. Aber was die Sache betrifft, so kann ich meine Kritik auch nach Kenntnisnahme der »unbestimmten Verpflichtung« nicht abschwächen. Diese »unbestimmte Verpflichtung« ist eine allgemein menschliche Kategorie und nicht gebunden an die historisch-gesellschaftlichen Bedingungen einer bestimmten Epoche. Die Machwerke der abstrakten Kunst aber sind an bestimmte Bedingungen einer bestimmten Epoche gebunden: Nicht einmal an den Kapitalismus schlechthin, sondern an die Niedergangsphase des Kapitalismus, und hierfür sind die marxistischen soziologischen Kategorien zuständig, die sich aber – wie mir scheint – mit der »unbestimmten Verpflichtung« durchaus vertragen. Mit der Sprache gehört die »unbestimmte Verpflichtung« nämlich zu den Erscheinungen, die nicht Überbaucharakter haben. Allerdings wird die »unbestimmte Verpflichtung« von den »Überbauten«, die sich über den diversen Produktionsverhältnissen erheben, jeweils überformt und gestaltet. Aber nun bin ich bereits bei einem Thema, was ich ja erst nach Empfang Ihres nächsten Briefes anschneiden darf. Es wird Zeit, dass ich schleunigst Schluss mache! Es grüßt Sie sehr herzlich Ihr getreuer
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Brief an Arnold Gehlen32 (26. April 1952) Sehr verehrter Herr Professor Gehlen! Die Entscheidung über meine Vortragsreise nach Westdeutschland ist nunmehr gefallen. Bis zum 24. Mai werde ich an der Universität mit den Zwischenprüfungen beschäftigt sein und dann eine Woche ausspannen müssen. Am 1. Juni werde ich von Berlin nach Hamburg abfahren, dort am 3. Juni einen Vortrag halten und dann bis Mitte Juni nacheinander die Städte Düsseldorf, Köln, Frankfurt am Main, Heidelberg, München, Göttingen und Hannover besuchen. Vortragsthemen: »Herders Vermächtnis in unserer Zeit« und »Heinrich Heine und das deutsche Kulturerbe«. Veranstalter: Der westdeutsche Kulturbund. Der Herder-Vortrag steht im Vordergrund und dient der Vorbereitung des 150. Todestages von Herder im Jahre 1953. Wenn ich in Heidelberg gesprochen habe, werde ich für ein, zwei Tage nach Speyer kommen, um Sie dort zu besuchen. Den genauen Termin werde ich Ihnen noch mitteilen. Für Unterkunft u. dgl. brauchen Sie nicht zu sorgen. Nur in einem Punkt sollten Sie sich rechte Umstände machen: Ich bin ein Freund des Alkohols und verwöhnt durch dieselben Wodka-Sorten und grusinischen Weine, die der Marschall Budjonny mit dem feuerroten Knebelbart, ein Held des russischen Bürgerkriegs, trinkt. Ob es wohl Rhein- und Moselweine gibt, die da einen Vergleich aushalten? Mal sehen, was die »abendländische Zivilisation« zu bieten hat! (Fassen Sie diesen Wink mit dem Zaunpfahl aber bitte nicht als Symptom von Pleonexie = Begehrlichkeit auf!) Es ist gut, wenn ich Ihnen hier gleich die Punkte sage, die ich in der Hauptsache mit Ihnen besprechen will: 1) Ich komme zu Ihnen als Parlamentär des Aufbau-Verlages und will die Frage »ventilieren«: Was kann getan werden, um Ihr Werk auch in der Deutschen Demokratischen Republik zu verbreiten? Meine Freunde und ich sind der Ansicht, dass wir vom »handelnden Wesen«, von der »Entlastung« und von Ihrer Sprach-Denktheorie sehr, sehr viel lernen können, und dass es nicht angeht, unseren Menschen diese Errungenschaften länger vorzuenthalten. Wir würden auch gerne unseren sowjetischen, polnischen und tschechoslowakischen Freunden, namentlich den Pawlow-Schülern und den von Stalin aus ihren Fesseln befreiten Sprachwissenschaftlern, diese Ihre Leistungen zugänglich machen. 32
(AH) 8 Blatt, maschinenschriftlich, 26. April 1952.
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Andererseits gibt es auch in der vierten Auflage Ihres Buches (die jetzt hier bei Parteitheoretikern etc. kursiert) gewisse Stellen, wo sich manches in uns sträubt: Novalis, Nietzsche und Pareto lieben wir nicht, am wenigsten Pareto. Wir sind uns zwar klar darüber, dass es auch bei diesen Denkern wertvolle Einsichten gibt, und sehen deutlich, dass Sie ausschließlich solche Einsichten im Menschen zitiert haben, ohne in irgendeiner Hinsicht dem romantischen Obskurantismus und der faschistischen Ideologie Vorschub zu leisten. Aber es gibt eben heute noch Wunden, die nicht vernarbt, Tränen, die nicht getrocknet sind, und erst in Jahren werden wir so weit sein, das partielle Gute uns auch aus Nietzsche und Pareto heraus zu picken und gebührend zu würdigen. Dass der Pragmatismus »die einzige bisher erschienene Philosophie« sein soll, »welche grundsätzlich den Menschen als handelndes Wesen ansieht« (Seite 329), will uns auch nicht munden. Alle diese Beanstandungen treffen zwar niemals das Wesentliche Ihrer Theorie. Aber könnte man nicht dafür Sorge tragen, dass sich das Wesentliche bei uns recht bald und ohne Missverständnisse durchsetzt – ohne Missverständnisse, die unabsehbare Umwege, Verzögerungen und Anfeindungen seitens dogmatischer Flohknacker mit sich brächten? Mit anderen Worten: Ich will Sie zu einer überarbeiteten Lizenz-Ausgabe des Menschen für die DDR veranlassen. Wenn Sie dies ablehnen sollten, so würde ich nach meiner Rückkehr hier für Sie vorbereitend die Reklametrommel rühren: Einerseits durch kritische Würdigung Ihrer Leistung in Form von Essays, Artikeln, Vorträgen usw., andererseits durch interne Diskussionen mit führenden sowjetischen und deutschen Genossen. Ich glaube, dass ich es dann schaffen würde, die Verbreitung Ihres Werkes in der DDR auch mit Nietzsche- und Pareto-Zitaten durchzusetzen; aber das würde natürlich länger dauern, und mir scheint, dass wir in einer Zeit leben, in der der »Weltgeist« Eile hat, in der man es sich also eigentlich nicht leisten kann, mit solchen wichtigen Dingen zu säumen. Kurzum: Dies muss ich mit Ihnen besprechen. 2) Ich komme zu Ihnen als Dozent der Berliner Humboldt-Universität. Ebenfalls, um »vorzufühlen«. Ich finde nämlich, dass Sie in der Staatlichen Verwaltungsakademie Speyer sehr fehl am Platze sind; denn ich kann mir vorstellen, dass die »staatliche Verwaltung«, deren Nachwuchs in Speyer ausgebildet wird, ein »schneidiger« Nachwuchs vermutlich!, nicht gerade zu jenen Institutionen gehören dürfte, die »Anknüpfungspunkt und Verhaltens-Unterstützung höherer Interessen sein, ja den anspruchsvollsten und edelsten Motivationen noch Daseinsrecht und Realitätschancen geben« können. Den Ruf nach solchen Institutionen habe ich in Ihrer Broschüre über die sozialpsychologi-
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schen Probleme der industriellen Gesellschaft dick unterstrichen und daneben an den Rand geschrieben: »Dem Manne kann geholfen werden!« Kurzum: Wie wäre es denn – unter uns gesagt! – mit einem Ordinariat in Berlin? Mit dem Lehrstuhl Fichtes und Hegels? Sie brauchen uns, und wir brauchen Sie! Sie brauchen uns, denn die Auseinandersetzung mit den Sowjetwissenschaftlern, sowie mit Leuten wie Fred Oelßner, Walter Ulbricht, Ernst Bloch, Paul Rilla, Bertolt Brecht, Erich Wendt, Alfred Meusel, Anna Seghers, Johannes R. Becher usw. würde dem Menschen entschieden zu Gute kommen. Und wir brauchen Sie, denn die Berliner Universität ist in Punkto Philosophie seit dem Fortgang von Spranger und Hartmann sehr auf den Hund gekommen. Darf ich Ihnen unser philosophisches Lehrpersonal – unter Erwartung strengster Diskretion – einmal in kurzen Andeutungen vorstellen?33 a) Prof. Dr. Liselotte Richter, ein dickes Fräulein mit schiefen Absätzen, Leibniz-Philologin der Akademie der Wissenschaften, für Religionsphilosophie, Kierkegaard und dergleichen schwärmend. Sie lehnt Nicolai Hartmann ab, weil er ihr »zu kalt« (!) ist, und lässt vom Marxismus nur den jungen Marx gelten, in dessen »Jugendrebellion« sie etwas »Authentisches«, weil »Existenzielles« sieht. Wir haben die Gute im Verdacht, dass sie nur deswegen bei uns »Totalitaristen« so wacker aushält, weil sie im Westen von den Koryphäen der bürgerlichen Philosophie rettungslos an die Wand gedrückt werden würde. Sie aber gibt vor, dass sie berufen sei, in unserer »Finsternis« das Licht des »freien, abendländischen Geistes« leuchten zu lassen. Man lässt sie leuchten, soviel sie mag. b) Nicht minder übel ist Professor Dr. Walter Hollitscher, Direktor des Philosophischen Instituts, ein österreichischer Kommunist, dem ich jedoch nicht über den Weg traue. Hollitscher ist voll gestopft von Psychoanalyse, was er aber jetzt in ganz übertriebener Weise verleugnet (nicht aus wirklicher Meinungsänderung, sondern aus Opportunismus und schofler Charakterlosigkeit). An allem, was dieser Mann von sich gibt, klebt außerdem der ganze positivistische und relativistische Dreck einer modernen naturwissenschaftlichen Halbbildung. Er hat in London in der Emigration eine Art psychoanalytischer Praxis für unbefriedigte alte Damen und deren Schoßhunde geleitet, hat dann nach dem Kriege in Wien Feuilletons für die Arbeiterpresse über »das Leben im Wassertropfen« geschmiert und sich schließlich hier in Berlin, unter Ausnutzung persön33
(AH) Zu den gerade und im Folgenden genannten Personen hat sich Harich immer wieder geäußert, weitere Verweise entfallen hier.
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licher Beziehungen, einen Lehrstuhl erschlichen (wobei die Genossen, zu denen er Beziehungen hat, auf seine Talmi-Universalität hereinfielen). In Sachen der Philosophie ist dieser Bursche ein völliger Ignorant, und seinen Mangel an Marxismus macht er mühsam dadurch wett, dass er mit Hingabe in alle verfügbaren Ärsche kriecht. Ich führe gegen ihn einen erbitterten und leidenschaftlichen Kampf, unter Berufung auf Marx und Engels, bei denen es heißt: »Erstens müssen diese Leute, um der proletarischen Bewegung zu nutzen, auch wirkliche Bildungselemente mitbringen. Dies ist aber leider bei der großen Mehrzahl der deutschen bürgerlichen Konvertiten nicht der Fall. Weder die Zukunft noch die Neue Gesellschaft haben irgend etwas gebracht, wodurch die Bewegung um einen Schritt weitergekommen wäre. An wirklichem, tatsächlichem oder theoretischem Bildungsstoff ist da absoluter Mangel. Statt dessen Versuche, die sozialistischen, oberflächlich angeeigneten Gedanken in Einklang zu bringen mit den verschiedensten theoretischen Standpunkten, die die Herren von der Universität oder sonstwoher mitgebracht und von denen einer noch verworrener war als der andere, dank dem Verwesungsprozess, in dem sich die Reste der deutschen Philosophie heute befinden. (…) Solche Bildungselemente, deren erstes Prinzip ist, zu lehren, was sie nicht gelernt haben, kann die Partei gut entbehren.«34 Hollitscher hat etwas davon läuten hören, dass wir für den Materialismus sind; nun hält er es für »marxistisch«, an Kant und Hegel sein Bein zu heben, respektive frei nach Aristoxenos zu behaupten, dass Plato aus der typischen Niederträchtigkeit aller Idealisten (!) die Werke Demokrits verbrannt hätte, um damit den ganzen antiken Idealismus abzutun. Bei der Bekämpfung dieses Schurken gibt es natürlich sehr viel Ärger, aber unser Prinzip von Kritik und Selbstkritik ist zum Glück schon so weitgehend entfaltet, dass man solche Kämpfe – und zwar öffentlich – ohne Rücksicht führen kann, und wenn der Herr sich nicht auf den Hosenboden setzt, wird er jämmerlich Schiffbruch erleiden. 34
(AH) Zitat nachgewiesen in: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke u. a. Geschrieben am 17./18. September 1879, in: Karl Marx; Friedrich Engels: Werke, Band 19, Berlin, 1962, S. 150–166, Zitat S. 164. Die Auslassung lautet: »Statt die neue Wissenschaft vorerst selbst gründlich zu studieren, stutzte sich jeder sie vielmehr nach dem mitgebrachten Standpunkt zurecht, machte sich kurzerhand eine eigene Privatwissenschaft und trat gleich mit der Prätention auf, sie lehren zu wollen. Daher gibt es unter diesen Herren ungefähr soviel Standpunkte wie Köpfe; statt in irgend etwas Klarheit zu bringen, haben sie nur eine arge Konfusion angerichtet – glücklicherweise fast nur unter sich selbst.« (Ebd.) Zum Zirkularbrief siehe die entsprechenden Hinweise im 10. Band, dort auch eine ausführliche Interpretation Harichs.
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c) Professor Kurt Hager, Ordinarius für dialektischen und historischen Materialismus, ein sehr positiver, gründlicher und achtenswerter Mensch, dabei ein ausgezeichneter Parteitheoretiker und Didaktiker, der den Studenten etwas wirklich Solides beibringt, aber nicht gerade von den Musen geküsst ist. In Geschichte der Philosophie ist er nicht bewandert, von Literatur und Kunst versteht er wenig, und so entwickelt er auch keine neuen Gedanken. Vortrefflich, dass er bescheiden ist und seine Grenzen genau kennt. Beste Tradition der alten KPD.
Kurt Hager im Gespräch mit Hermann Kant und Stephan Hermlin, 1985
d) Professor Dr. Schröter, hervorragender Experte für mathematische Logik, aber von Forschungsarbeit in seinem eigenen Institut so beansprucht, dass er für die Ausbildung von Fachphilosophen nur sehr bedingt zur Verfügung steht. e) Dr. Schrickel, ein halbgebildeter Schnösel, der nach meiner Meinung aus purer Faulheit von der Medizin zur Philosophie umgesattelt ist und skandalös primitive Vorlesungen hält. f ) Dr. Wolfgang Harich, mit allen Schwächen eines achtundzwanzigjährigen Anfängers behaftet. Das alles ist bei weiten nicht gut genug. Es entspricht weder den Traditionen einer Universität, an der Fichte und Hegel gelehrt haben, noch entspricht es den Verpflichtungen, die die Universität bei Heranbildung der wirklich prachtvollen Studenten erfüllen müsste. Unsere Studenten sind nämlich ein einziger Dorn der Freude: Fast
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alles Arbeiterkinder oder selbst junge Arbeiter, die sich durch deutschen theoretischen Sinn, rücksichtslos kritische Geisteshaltung und eine enorme Lernkapazität auszeichnen. Es ist ein Jammer, zu sehen, dass sich diese jungen Menschen mit Vorlesungen von Hollitscher und Schrickel abfinden müssen. Ein Gehlen, den sie »kritisch aneignen«, wäre ihnen als Lehrer sehr, sehr zu wünschen, und solange wir ihnen das nicht bieten können, bleiben unsere Errungenschaften – unser Stipendiensystem, wonach es ein Tüchtiger auf bis zu 500,– DM im Monat bringen kann, und die systematische Einführung in die marxistischen Klassiker – nur eine halbe Sache. Also, wie wär’s: Wollen Sie nicht herkommen? Natürlich wird Hollitscher, der vor Ihrer Anthropologie höllische Angst hat, weil sie ihm »zu hoch« ist, mit wahrem Eifer den Rosenberg aus der ersten Auflage des Menschen und manches andere noch hervorkramen, um sich seine fragwürdige Autorität zu sichern. Aber er wird Ihnen nichts anhaben können; unsere Partei hat Sinn für Qualität, und alles, was bei uns wirklichen Einfluss besitzt, dürstet danach, neuen Erkenntnissen den Weg zu bereiten, und so wird man dem Hollitscher rechtzeitig – und ohne dass er erst Schaden anrichten kann – das Maul stopfen. Dies also ist der zweite Punkt, den ich mit Ihnen im Juni besprechen möchte, und mit diesem zweiten Punkt würde sich natürlich auch der erste schneller erledigen. Denn ein Unterdrücken von Publikationen hiesiger Universitätslehrer gibt es nicht, und da uns überdies die Option eines bekannten Gelehrten für die DDR auch aus politisch-propagandistischen Gründen höchst willkommen wäre, würde man sogar die Pareto-Zitate im Menschen mit Glacéhandschuhen anfassen. Natürlich würden Ihre Publikationen hier kräftig kritisiert werden, aber die erste und wohl ziemlich erschöpfende Kritik würde von mir stammen, und Sie wissen, dass ich von dem Wertvollen Ihrer Leistung zutiefst überzeugt bin. Politische Bekenntnisse würde man von Ihnen nicht verlangen. Aber ein gründliches Studium des Marxismus würden Sie wahrscheinlich von sich selbst verlangen; denn Sie würden ja den Fragen und Meinungen Ihrer Studenten standhalten wollen. Ein großer Vorteil des geistigen Lebens in der DDR liegt darin, dass die maßgebenden Leute in Politik, Wirtschaft und Kultur fast ausnahmslos witzige, kluge und gebildete Menschen sind. Ein weiterer Vorteil ist, dass hier philosophische Bücher wirklich gekauft und gelesen werden. Die Bücher von Lukács sind bei uns – und wir sind auf ein Drittel Deutschlands angewiesen – in Auflagen von bis zu 50 000 Exemplaren erschienen
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und immer sehr bald vergriffen gewesen. Ernst Blochs kompliziertes und anspruchsvolles Hegel-Buch erschien in 20 000 Exemplaren. Die Auflagenziffern von Spinoza, Kant, Herder, Goethe und Hegel gehen ins Phantastische, von den marxistischen Klassiker ganz zu schweigen. Sehr viel Spaß macht es auch, Vorträge über wissenschaftliche Probleme vor Betriebsarbeitern zu halten. Das ist das dankbarste, aufnahmefähigste und klügste Publikum, das man sich denken kann. Natürlich wird allzu schwierige Terminologie zuerst ein wenig übel genommen, man muss in einer einfachen menschlichen Sprache sprechen. Aber die Probleme »liegen an« und werden heiß und leidenschaftlich diskutiert. Die Partei tut alles, um Restbestände antiintellektuellen Misstrauens zu beseitigen. Was aber das Beste ist: Man ist hier auf Schritt und Tritt aufgefordert, gegen jede üble und hemmende Erscheinung rücksichtslos anzukämpfen, und wenn man dies ernsthaft tut, erringt man sichtbare stabile Erfolge. Das eben macht unsere Institutionen für jeden, der sie zu gebrauchen versteht, beglückend und faszinierend. Jeder (Wort nicht lesbar, AH) ist für jedes Problem zugänglich. Und was unser Spezialgebiet betrifft, so kann man mit dem Engels-Zitat, dass rücksichtslose Wissenschaftlichkeit am besten im Einklang mit den Interessen der Arbeiterklasse stehe, und mit dem Stalin-Zitat, dass es ohne Freiheit keine Kritik und ohne Meinungskampf keine Entwicklung der Wissenschaft gebe, falsche Götter sehr bald und gründlich stürzen, respektive zur Bescheidenheit und zur sachlichen Arbeit zwingen. Wo es Protektion, Karrierismus, Kriecherei und dergleichen noch gibt, handelt es sich um kleinbürgerliche Restbestände, und man ist herzlich eingeladen, sie zu beseitigen. Ferner: Wenn man irgend einen begabten jungen Menschen entdeckt, den man fördern will, kann man ihm sofort, ohne alle Schwierigkeiten, ein phantastisches Stipendium verschaffen, ihn von allen Belastungen befreien und ihn zu einem vielseitig gebildeten Menschen entwickeln. Nochmals also: Wie wär’s mit einem Ordinariat in Berlin? Es ließe sich machen. Wenn Sie im zweiten Punkte nicht mit sich reden ließen, so bliebe der erste Punkt zu besprechen. Über den ersten Punkt können Sie nicht allein befinden, hierüber müssten wir uns verständigen; hier handelt es sich ja nicht mehr um Ihre Person, sondern um Ihre Ideen, die sozusagen Stufe des »Weltgeistes« sind, der vor Zonenschranken nicht halt macht. Ich möchte nur, dass Sie reiflich überlegen und selbst entscheiden, in welcher Form dasjenige, was an Ihnen »Weltgeist« ist, bei uns seinen legitimen Platz
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erobern soll. Sie sollen frei darüber entscheiden und sollen wissen, dass meine Freunde und ich im Falle Ihrer Option für Speyer Ihre Ideen in einer Weise rezipieren und propagieren würden, die Ihnen in Speyer nicht schadet – eventuell durch entsprechende Akzentuierung der kritischen Vorbehalte. Sie sehen, dass ich sehr offen zu Ihnen bin. Wahrscheinlich bin ich offenherziger, als es mir von meinen Freunden gestattet werden würde, aber auch das ist natürlich propagandistisch berechnet; denn soweit ich Sie aus Ihrem Opus kennen, kann man nur so Ihr Vertrauen erringen. Also auf Wiedersehen im Juni in Speyer ich will diesen Brief abschließen; denn heute muss ich noch auf einen Studentenball der Pädagogen gehen und mit den angehenden marxistischen Deutsch-Lehrerinnen von Neuruppin und Chemnitz Tango tanzen, sonst werde ich beim nächsten Ausspracheabend wegen »überheblicher Einstellung zu den Massen« von den werten sächselnden und berlinernden Damen »zur Kritik gestellt«. Mit bestem Gruß Ihr
Brief an Arnold Gehlen35 (25. April 1953) Lieber, sehr verehrter Herr Gehlen! Unsere Briefe haben sich gekreuzt. Vorgestern schickte ich Ihnen ein kurzes Schreiben, nachdem mir mein Freund, nach Berlin zurückgekehrt, von seinem vergeblichen Versuch, Sie in Speyer anzutreffen, und von seiner Begegnung mit Ihrer Frau Gemahlin berichtet hatte. Und gestern erhielt ich Ihren Brief vom 22. April, über den ich mich sehr, sehr gefreut habe, und für den ich herzlichst danke. Um gleich in medias res zu gehen: Mit der Eigenkonstitution: sinnvoll automatisierte Handlung, der in der Außenwelt etwas korrespondiert, worauf man »anspringt«, haben Sie wieder etwas Wichtiges gefunden (während ich mich, nun fast ein Jahr lang, ganz vergeblich damit abquälte, durch Beobachtung meines Babys und der Anwendung Ihrer Kategorien dahinter zu kommen, was eigentlich Lachen ist).
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(AH) 3 Blatt, maschinenschriftlich, 25. April 1953.
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Zunächst zur subjektiven Seite, zu den sinnvoll automatisierten Handlungen. Diese – und zwar gerade diejenigen unter ihnen, deren mühselige Erlernung bis zum qualitativen Sprung des »Könnens« man völlig bewusst vollziehen musste (also Schwimmen, Radfahren, Auto-Steuern, acht Webstühle gleichzeitig bedienen, Orgelspielen (mit Händen und Füßen!), nicht so sehr Gehen-Können, das man, bewusst geworden, bereits als fertige »Eigenschaft« an sich vorfindet) – sind, wie ich glaube, selber genussvoll, was sich übrigens schon aus allen dieses Problem streifenden Analysen in Ihrem Hauptwerk ergibt; alle diese – primär gelernten – Automatismen haben, um es mit einem besonders koketten Gehlen-Terminus auszudrücken, »Eigenwertsättigung«. Deshalb vor allem kann Arbeit – physische wie geistige –, in die ja immer viele derartige, ursprünglich erlernte, dann automatisierte Handlungen und Handlungskombinationen eingehen – vom verlängerten Fingerspitzengefühl einer richtig gehandhabten Kartoffelhacke bis zum fließenden Schreiben eines guten Stils –, nicht nur Bedürfnisse befriedigen, sondern selbst Bedürfnis werden – immer mit dem Anreiz, Neues, Vollkommeneres, noch eleganter Gekonntes hinzu zu lernen und dann seinerseits zu automatisieren usw., und immer mit der Tendenz des sich steigernden Ausbaus der »Entlastung«. (Dabei tritt etwas Analoges ein wie beim Entstehen des eigengesetzlichen, immanenten Telos von Institutionen, abgesehen von deren primär gewolltem Zweck: Ein spontanes Umspringen des Zweckhaften aufs Mittel selbst.) Nebenbei bemerkt: Dieser Selbstgenuss der eigenen sinnvollen Automatismen des Handelns hat, marxistisch angesehen, ungeheure Bedeutung. Es ergibt sich daraus nämlich: Die Tatsache, dass Arbeit als Lust und Qual empfunden und im dolce far niente das Glück gesehen wird, spricht nicht gegen die Arbeit als solche, sondern nur gegen die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sie getan wird. Nicht die Bibel hat recht, die die Arbeit, als Sündenfall, anthropologisch als Fluch deklariert, sondern Marx, der betont, dass sie das Wesen des Menschen, das Wesen der menschlichen Natur ausmache, dass sie schon deswegen für den Menschen, seiner Natur gemäß, »eigentlich« Genuss und Selbstzweck sein müsse, aber unter den Bedingungen der »Entfremdung« (in allen Ausbeutergesellschaften, vornehmlich im Kapitalismus) zum Fluch pervertiert werde. Interessanterweise fügt Marx hier hinzu, dass eben dadurch – durch die zum Fluch pervertierte Arbeit – alles übrige, nicht zur Arbeit gehörige Tun (Essen, Zeugen) einen unmenschlichen, tierischen Zug erhalte, sofern es als Hauptzweck erscheine. So sagt Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten (1844), in prächtig hegelnden
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Wendungen: Der Arbeiter fühlte sich im Kapitalismus »erst außer der Arbeit bei sich und in der Arbeit außer sich (…). Seine Arbeit ist nicht Befriedigung eines Bedürfnisses, sondern sie ist nur Mittel, die Bedürfnisse außer ihr zu befriedigen. (…) Es kömmt daher zu dem Resultat, dass der Mensch nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch Wohnung, Schmuck etc. sich freitätig führt, und in seinen menschlichen Funktionen (Arbeit) nur mehr als Tier. Essen, Trinken und Zeugen sind zwar auch echt menschliche Funktionen (!!!! – welch ein Schlag ins Gesicht der ontologischen ›Seinsschichtung‹, die den spezifisch menschlichen Organismus, den Gehlenschen samt entdifferenzierten Instinktresiduen, also auch Essen und Zeugung als ›echt menschliche Funktionen‹ nicht kennt!! – Harich), in der Abstraktion aber, die sie von dem übrigen Umkreis menschlicher Tätigkeit trennt und zum letzten alleinigen Endzweck macht, sind sie tierisch.« (MEGA, I, 3. Band, S. 86) Das ist junger Marx, d. h. Feuerbachs »realer Humanismus« frisch verlobt mit Ricardos Ökonomie. Aber womöglich noch bestimmter proklamiert 1870 die Kritik des Gothaer Programms, polemisch gegen die flache Lassallesche Forderung nach »unverkürztem Arbeitsertrag«, als Ziel: »Nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden ist; nachdem mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind und alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen – erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahnen schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Und Stalin, Ende 1953, in seinem letzten Werk, proklamiert wieder dasselbe und zeigt den konkreten Weg, es zu erreichen. Der Kommunismus wird also den Menschen – auch anthropologisch gesehen – dadurch in Freiheit setzen, dass er, nach Aufhebung der Entfremdung, die Produktion der materiellen und kulturellen Güter in einer Art riesenhaften Tennis-Platz verwandeln wird, auf dem – täglich etwa vier Stunden lang – sinnvoll automatisierte Handlungen mit vollautomatisierten Maschinen genussvoll und faszinierend kommunizieren werden, während im Übrigen Musik und Literatur getrieben werden wird. (A propos Tennis: Schon der Laborcharakter moderner Produktionsmittel schreit nach tennis-hafter weißer Kleidung und nach einer Arbeiterklasse, so lecker und propper wie ein Filmliebling in der Rolle eines Chirurgen, der Hausmusik treibt. Während das wirkliche Tennis wahrscheinlich nur ein Surrogat für freitätige Arbeit ist, das die Entfremdung aufzwingt – man denke!)
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Was die objektive Seite Ihrer Entdeckung anbetrifft, so hat sie natürlich denselben ästhetischen Aspekt wie alles »generell Unwahrscheinliche«. Ein Urwald nämlich, in dem die Naturgesetze wie Kraut und Rüben durcheinander geschmissen sind – Fallgesetze und Anpassungsgesetze, welch ein Menü! – ist in diesem Punkte »wahrscheinlich«. Aber in den Automatismen – sowohl in den maschinellen wie in den kosmischen – geben sich Druck und Stoß, Anziehung, Kausalität et tutti quanti mit unwahrscheinlicher Plastizität – klassisch wie der Busen der Venus oder wie Hexameter vom alten Voß oder wie der Geiz bei Molière. Versteht sich, dass mir unter diesem Gesichtspunkt auch die unwahrscheinlichen Korrespondenzen – wie Fisch-Wasser – sehr einleuchten; man sollte dieses Problem, meine ich, auch kulinarisch durchdenken, bzw. Kulinarisches unter dem Gesichtspunkt dieses Problems, zum Beispiel Eisbein-Sauerkraut – die entsprechenden Gaumengefühle wären dann das, was Friedrich Heinrich Jacobi eigentlich mit dem »unmittelbaren Wissen« gemeint hat, und was er nur ästhetisch nicht zu charakterisieren wusste. Überhaupt ist die Kochkunst barbarischer Weise wenigstens in der abendländischen Philosophie noch nie als Gegenstandsbereich der Ästhetik gesehen worden; auch sie sollte via Anthropologie erschlossen werden. Wenn Westdeutschland einmal sozialistisch sein wird, also Sie mit den Chinesen zu einer Gesellschaftsordnung gehören werden, kann man hoffen, dass die Ästhetik auch in dieser Hinsicht komplettiert wird. Damit genug für heute! Schicken Sie mir bitte bald Ihren Vortrag vor den Technikern! Herzlichst Ihr PS. Was mir eine Freude machen könnte? Wenn Sie einen Aufsatz über Herder (zum 150. Todestag im Dezember) für die Deutsche Zeitschrift für Philosophie schreiben würden. Aber das werden Sie ja wohl doch nicht tun!
Brief an Arnold Gehlen36 (22. Juli 1965) Hochgeehrter, lieber Herr Professor Gehlen! Über Ihren Brief vom 14. Juli 1965 und darüber, mit Ihnen nun wieder in Verbindung zu stehen, freue ich mich riesig. Haben Sie heißen Dank dafür. Das letzte, was ich vor 36
(AH) 4 Blatt, maschinenschriftlich, 22. Juli 1965.
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der langen Pause von Ihnen bekam, war 1956 Ihr, von mir telegraphisch bei Ihnen angefordertes schönes Buch Urmensch und Spätkultur. 1957/1958 hatte ich es dann einige Monate ständig bei mir, so das ich es mehrmals gelesen und mit Randnotizen beschmiert habe.37 Dass ich in ganz fundamentalen Fragen seit langem Ihre Anhänger bin, wissen Sie, also kann ich mich darauf beschränken, Ihnen heute, statt des fälligen Lobes und der Zustimmung, für die mir im Moment die Zeit zu knapp ist (und ich möchte diesen Brief nicht lange vertagen), nur ein paar Beanstandungen mitzuteilen, die Sie vielleicht interessieren werden. Aber vorher will ich Ihnen zu beliebiger Verwendung in künftigen Arbeiten noch zwei Funde schenken, bei denen ich, als ich auf sie stieß, sofort dachte: Das wäre etwas für Gehlen. Erstens ein Beispiel dafür, wohin es führen kann, wenn man Tier und in Folge dessen rein instinktmäßig reagierendes Wesen ist, statt sich, wie der Mensch, das »Mängelwesen«, der abstandschaffenden Instinktreduktion zu erfreuen. Leo Tolstoi behauptet, in Krieg und Frieden, Berlin, 1947, Band II, S. 333, dass »ein Affe, der die Hand in den Hals eines engen Kruges gesteckt und eine Hand voll Nüsse gepackt hat, seine Faust nicht öffnen kann, weil er das Ergriffene nicht verlieren will (!! – sic! statt ›will‹ würden Sie natürlich einen anderen Terminus einsetzen), und so sein Verderben (unter Umständen durch Verhungern!!!) herbeiführt«. Ob das stimmt, weiß ich freilich nicht, Sie müssten es noch experimentell nachprüfen. Aber von dieser Kleinigkeit abgesehen – vielleicht gibt Ihr neues Institut in Aachen die Mittel dafür her –, scheint es mir gut in eine neue Auflage Ihres Menschen, etwa ins Kapitel »Leistungsgrenzen der Tiere«, hinein zu passen. Übrigens benutzt Tolstoi selbst diese Angelegenheit nur für einen Vergleich, der es aber in sich hat. Er meint nämlich, die Franzosen hätten 1812 in Russland deswegen zu Grunde gehen müssen, weil sie beim Abzug aus dem brennenden Moskau den aus den vorhergehenden Plünderungen stammenden Raub mitgeschleppt und es ebenso wenig fertig gebracht hätten, ihn beizeiten fortzuwerfen, wie der Affe die Hand mit den Nüssen aufzumachen vermag. (Hier könnten Sie nun wieder eine Brücke schlagen zu Le Bon und etwa sagen, dass das von diesem beschriebene Reagieren in der Masse die – beim menschlichen Individuum ausgeschaltete – Instinktbeherrschtheit des Tuns und Lassens wieder herstellt!) 37
(AH) Während seiner Haftzeit war Harich, bis auf wenige Ausnahmen zumeist in Einzelhaft und von allen Nachrichten und Büchern abgeschnitten. Erst 1963 durfte er wieder ausgewählte Bücher lesen und sich Notizen anfertigen, es handelte sich dabei zumeist um Werke der Parteiliteratur. Die Lektüre von Gehlens Buch muss also vor oder nach der Haft stattgefunden haben.
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Und der zweite Fund, den ich Ihnen präsentiere: Sie beziehen sich ja auf G. H. Mead, Mind, Self and Society, und loben es mit Recht. (Nebenbei: Wie wäre es, wenn Sie einmal eine deutsche Übersetzung davon anregten??) Nun gibt es bei Korolenko, einem liberalen Ukrainer, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte und den jungen Gorki protegierte, eine Novelle, Der blinde Knabe, in der die Meadsche Theorie durch ein frappantes Beispiel belegt, illustriert und gestützt wird. Korolenko schreibt: »Wir Sehenden bemerken die Widerspiegelung seelischer Regungen auf den Gesichtern der anderen und haben es daher gelernt, unsere eigenen zu verbergen. Blinde dagegen sind in dieser Beziehung völlig schutzlos.« Bei dem Verbergen der eigenen Gemütsregungen im Falle der Sehenden findet, glaube ich, der paradoxe Vorgang statt, dass das »Übernehmen der Rolle des anderen« in ein »Sichhüten, die Rolle des anderen zu übernehmen« umschlägt. Können Sie das auch gebrauchen? Es sollte mich freuen. Nun zu Urmensch und Spätkultur. Da gibt es einen Zentralpunkt, mit dem ich nicht einverstanden bin, und dementsprechend einen Komplex von Einwänden, den ich in meinen kritischen Notizen mit dem Stichwort: »Grundfehler: Entökonomisierung der Soziologie« überschrieben habe. Und im einzelnen bezieht sich das auf Stellen, die in der ersten Auflage (Bonn, 1956) auf den Seiten 26, 39, 41, 44, 58, 68, 70, 74, 77, 95, 119, 178, 234, 237, 238/239, 242 stehen. Mit den Unterstreichungen von drei einzelnen Seitenzahlen (gemeint sind 44, 74, 242, AH) habe ich wohl seinerzeit – wie gesagt: es ist lange her, dass das von mir aufnotiert wurde – Stellen gemeint, die mir in dieser Beziehung besonders aufgefallen sind. Ach nein: Nochmalige Nachprüfung ergibt, dass auf den Seiten, deren Seitenzahlen von mir unterstrichen sind, Sie sich selbst als Theoretiker der Ökonomie versuchen oder sich zustimmend auf andere Sozialpsychologen beziehen (wie auf S. 242 auf Hofstätter), die das tun, und dabei zu Ergebnissen gelangen, die ich mit einem großen Fragezeichen versehen muss. Das Eigentliche und Besondere der »entökonomisierten Soziologie« tritt gerade an den anderen Stellen besonders markant hervor. Hier meine Randbemerkungen: Zu Seite 26, letztes Drittel, schrieb ich. »Diese Analogie stimmt aber nur ganz bedingt. Es besteht zwischen Auslöserwirkung und werkzeugbedingter ›Sollsuggestion‹ doch ein qualitativer Unterschied. Sonst wäre physisch oder ökonomisch erzwungene Arbeit (physisch erzwungene in der Sklaverei, ökonomisch erzwungene beim modernen Industrieproletariat) eine contradictio in adjecto.«
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Zu Seite 39, erstes Drittel: »Das Beispiel, mit dem hier das ›Umschlagen der Arbeit in eine eigenwertgesättigte Habitualisierung‹ belegt wird, zeigt geradezu klassisch, dass die Entökonomisierung der Soziologie zu ganz weltfremden Einfällen führen kann. Der Bauer bestellt die Felder bei Leibe nicht deswegen, weil diese Arbeit für ihn ›eigenwertgesättigt-habitualisiert‹ ist, oder jedenfalls nicht in erster Linie aus diesem Grunde; aber natürlich auch nicht, weil ›die Menschen (d. h. die anderen) zu essen haben müssen‹, sondern: Er selbst will leben und möglichst gut leben, und das kann er in der warenproduzierenden Gesellschaft nur, wenn er irgendwelche Produkte, eben Waren, auf den Markt zu bringen vermag, und die stellt er auf dem Felde her. Und vor der Entstehung der Warenproduktion, in jeder auf Naturalwirtschaft basierenden Gesellschaft, ist es ihm um seine eigene Ernährung mittels der auf dem Felde erzeugten landwirtschaftlichen Produkte zu tun. Im Feudalismus überdies, der mit der Naturalwirtschaft oder auch mit Warenproduktion Hand in Hand gehen kann, handelt es sich darum, dass der Fronbauer die Mittel für die ihm politisch-juristisch aufgezwungenen Abgaben an den Feudalherren durch Feldbestellung etc. aufbringen muss. Damit, oder doch damit primär, sind die ausschlaggebenden, alles andere beherrschenden Motive bäurischen Verhaltens gegeben. Sie sind determiniert durch die in der jeweiligen Gesellschaft herrschenden ökonomischen Gesetzmäßigkeiten und allenfalls noch dadurch, dass das bäurische Individuen jeweils in eine familiär-professionelle Tradition hineinwächst und so sich nach der Väter-Weise, eben als Bauer, diesen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten unterwirft. Hätte in der Landwirtschaft die ›eigenwertgesättigte Habitualisierung‹ der Arbeit wirklich die Bedeutung, die Gehlen ihr hier beimisst, so bliebe Gehlen die Erklärung dafür schuldig, warum denn dieser Faktor in den verschiedenen Gesellschaftsformationen mit unterschiedlicher Stärke wirkt, warum zum Beispiel der Kapitalismus die Kraft hat, ihn derart außer Kraft zu setzen, dass ein Phänomen wie die Landflucht entsteht.« Und nochmals: Die entökonomisierte Soziologie führt zur Weltfremdheit: Sie überschätzt sekundäre und tertiäre Motivkomponenten und unterschätzt die banalen egoistisch-materiellen Antriebe, die das Verhalten der überwiegenden Mehrheit der Menschen bestimmen und es gestatten, die generelle Tendenz gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse auf ökonomische Ursachen zurückzuführen, den Geschichtsprozess materialistisch zu erklären. Ein Soziologieprofessor mag durch den Anblick seiner Schreibmaschine zur eigenwertgesättigt-habitualisierten Abfassung eines riesigen Manuskripts angereizt werden und dabei ökonomisch so selbstlos sein, dass er es auf sich
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nimmt, unter jahrelangem Darben etwas zu tun, wofür sein Verleger auf dem Markt doch keine Abnehmer findet. Das sind aber Ausnahmen, die nicht den Gang der Welt bestimmen. Einem Bauern dagegen (und der bestimmt den Gang der Welt in starkem Maße!) würden Pflug und Egge ankotzen, wenn die Feldbestellung für ihn nicht ökonomisch lebensnotwendig wäre. Und wenn die Arbeit mit diesen Geräten dann doch für ihn einen Eigenwert erhält, so deshalb, weil es einen Mechanismus der seelischen Anpassung an Widerwärtiges gibt, der das Leben besser ertragen hilft (so wie ein Mitgiftjäger den reichen Vater eines hässlichen Mädchens als unwiderstehlichen erotischen Reiz an eben diesem Mädchen zu empfinden pflegt). Nur unter diesem Gesichtspunkt lässt sich realistische Literatur schreiben. Würde ein Schriftsteller dagegen an die Tatsachen des Lebens Maßstäbe anlegen, die der Theorie von der eigenwertgesättigten Habitualisierung der Arbeitsvorgänge entnommen sind, so könnte dabei allenfalls so etwas wie das »Werkethos« aus Rudolf Herzogs Die Stoppelkamps und ihre Frauen herauskommen. Das soll natürlich nicht heißen, dass man den Eigenwert der Arbeit nicht propagieren soll, eine Gesellschaft vorausgesetzt, in der man ihn moralisch mit gutem Gewissen propagieren kann: Eine klassenlose, von Ausbeutung freie Gesellschaft. Hier ist es ganz am Platze, die Motivlage und Mentalität des Bauern auf das Niveau des selbstlosen Soziologieprofessors zu heben, aber der Übergang dazu kann auch unter diesen sozialen Bedingungen nur dann gelingen, wenn man zunächst einmal vom Vorwiegen der materiell-ökonomischen Motive in der Masse der Menschen als einer Realität ausgeht, sie realistisch in Rechnung stellt, an sie anknüpft und – vor allem – ihre Befriedigung zu einer absolut fraglosen, keiner Erörterung mehr bedürftigen Selbstverständlichkeit des gesellschaftlichen Lebens macht. Betont man dagegen den Eigenwert der Arbeit in einer Gesellschaft, die so strukturiert ist, dass die Arbeit für diejenigen, die wirklich arbeiten müssen, ein Fluch ist, dann macht man sich Illusionen oder, was schlimmer ist, hilft sie verbreiten, ohne ihnen selber erlegen zu sein, liefert also unbewusst und bona fide oder bewusst und verlogen – Apologetik für die herrschende Schicht. Dass die Bauern arbeiten, weil von den Ackergeräten eine »Sollsuggestion« ausgeht: Das ist ein Ziel, ein Ideal, auf das wir hinsteuern sollten. Noch höher freilich stünde der Gesellschaftszustand, in dem sie arbeiten, »damit die Menschen zu essen haben«. Vorderhand jedoch gilt es zu sehen, dass es so gut wie jedem einzelnen Bauern zunächst einmal um sein eigenes Essen, Trinken und
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Wohlergehen zu tun ist und dass für ihn sowohl die gekonnte, meisterliche Nutzung von Vieh, Boden, Ackergeräten (bei der ein bisschen Eigenwert noch mit abfallen mag) als auch die Lieferung von Nahrungsmitteln für die anderen Menschen (die aber dafür bezahlen müssen, in Notzeiten mit Perserteppichen für Kartoffeln) nur Mittel darstellen, zu jenem materiell-ökonomisch-egoistischen Kardinalszweck zu gelangen. Um aber diesen realen, nun einmal gegebenen Zustand abzuändern, d. h. um die sozialistischen Bedingungen für die Veredlung der bäurischen Motivlage zu schaffen, darf man als Soziologe um Himmels willen den Bauern nicht einreden, dass der Eigenwert ihrer Arbeit sonderlich wichtig sei oder dass sie für die Ernährung anderer Menschen schuften müssten, sondern muss sie, ganz im Gegenteil, die einleuchtenden Realitäten, so wie sie sind, sehen lehren, zu dem Zweck, sie für die Veränderung dieser Realitäten zu mobilisieren. (AH) An dieser Stelle bricht der Brief ab. Harich sendete ihn nicht ab, legte ihn bei Seite und begann am 23. Juli, am darauf folgenden Tag, neu. Dieser, dann tatsächlich abgeschickte, Brief kommt im Folgenden zum Abdruck.
Brief an Arnold Gehlen38 (23. Juli 1965) Hochgeehrter, lieber Herr Professor Gehlen! Aus dem an der Ostsee verbrachten Sommerurlaub zurückkehrend, fand ich zu Hause Ihren Brief vom 14. Juli vor, über den ich mich riesig gefreut habe und für den ich Ihnen vielmals danken möchte. Es ist sehr schön für mich, mit Ihnen nun wieder in Verbindung zu stehen. Das Letzte, was ich vor der langen Pause von Ihnen bekam, war 1956 Ihr – ich glaube damals von mir sogar telegraphisch erbetenes – Buch Urmensch und Spätkultur. Es kam damals leider nicht mehr dazu, dass ich mich darüber zu Ihnen äußern konnte, aber in den Jahren 1957/1958 hatte ich das Buch, das mir großen Genuss bereitete und viele wichtige Erkenntnisse vermittelte, monatelang ständig bei mir, mit dem Ergebnis, dass es jetzt, von oben bis unten mit Randnotizen beschrieben, neben mir liegt.
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(AH) 4 Blatt, maschinenschriftlich, 23. Juli 1965.
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Diese Notizen will ich nun in den nächsten Wochen noch einmal durchlesen und dann in einem späteren Brief an Sie wenigstens stichwortartig zu einigen Fragen, in denen ich mit Ihnen nicht ganz einverstanden bin, Stellung nehmen. Dass ich in Grundpositionen Ihr begeisterter Anhänger bin, versteht sich nach wie vor von selbst. Meine Einwände möchte ich vorläufig in dem Vorwurf »Entökonomisierung der Soziologie« zusammenfassen. Was ich des Nähren darunter verstehe, will ich Ihnen später in Ausführungen vor allem zu Seite 38 unten bis Seite 39 erstes Drittel Ihres Buches konkret auseinandersetzen. Heute nur soviel, dass ich es im Ganzen genommen wieder ein großartiges Werk finde. Vielleicht interessiert es Sie auch zu hören, dass Brecht sich in den letzten Monaten vor seinem Tode ziemlich intensiv mit Urmensch und Spätkultur beschäftigt hat, mit mir noch darüber sprach und von seiner Zitierung darin angenehm berührt war. Brechts damaliger Assistent, der jetzige Chefregisseur des Berliner Ensembles, Manfred Wekwerth, hat sich denn auch inzwischen zu Ihrem Anhänger, mit gewissen Vorbehalten, entwickelt und sich in einem hier im Aufbau-Verlag erschienenen Buch teilweise auf Theorien von Ihnen gestützt und sie mit Brechts Konzeptionen verschmolzen. Ihr Streitgespräch mit Adorno ließ er neulich mitschneiden, und Maurer, der für einen Tag von Leipzig nach Berlin gekommen war, war ihm dann böse, dass er nicht extra diesen Tag lang seine Proben ausfallen ließ, um ihm, Maurer, das Band vorzuspielen und anschließend zu dritt – mit mir als Drittem – darüber zu diskutieren. Wekwerth und ich finden, dass Sie gegen Adorno im Recht sind, vorausgesetzt, dass die »Institutionen überhaupt«, die Sie für lebensnotwendig für den Menschen erklären, nicht gerade mit bestimmten, konkreten, historisch gegebenen Institutionen identifiziert werden, die vielmehr oft selbst ein Faktor der Chaotisierung und Unsicherheit sein können. Wenn Sie also zum Beispiel das Eigentum als Institution bejahen, dann stimmen wir dem zu, fügen aber gleich die Frage Manfred Wekwerth mit Gisela May bei den Proben hinzu: Was für ein Eigentum? Wessen zur Mutter Courage, 1978
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Eigentum? Eigentum welchen Umfangs? Denn dass das Eigentum der Herren Krupp und Flick an den chaotischen und krisenhaften Entwicklungen des hinter uns liegenden Jahrhundertteils, die so viel Unsicherheit und Unstabilität, von der Weltpolitik über das Wirtschaftsgefüge bis in die menschliche »Antriebsstruktur« hinein, erzeugt haben, nicht ganz unbeteiligt gewesen ist, scheint uns kaum zweifelhaft zu sein. Dieser Vorbehalt ändert aber nicht das Geringste daran, dass wir Ihre These, das menschliche Verhalten überhaupt müsse durch stabile Institutionen auf Schienen gelegt werden, um nicht beliebig zu entgleisen und auszuwuchern, akzeptieren und den Adornoschen Ruf nach Emanzipierung der Individuen vom Institutionellen radikal ablehnen. Übrigens glauben wir, dass dieser Ruf, weil von vornherein utopisch und realitätsfremd, die Institutionen ja doch nicht beseitigen, sondern sich im Endeffekt nur zur Leitidee einer der schlechtesten Institutionalisierungen, die sich denken lässt, auswachsen kann. Leider haben Sie in dem Streitgespräch quantitativ zu wenig gesagt und es sich streckenweise gefallen lassen, dass Adorno Sie gar nicht zu Wort kommen ließ, und an manchen Stellen fielen uns Zitate aus Ihren Büchern ein, die als schlagende Antworten auf Adornos Argumentation am Platze gewesen wären, die Sie aber vorzubringen versäumten. (Nicolai Hartmann hatte sich seine eigenen Bücher besser eingeübt und verstand es ausgezeichnet, mit scheinbarer Improvisation von ihnen Gebrauch zu machen.) Alles in allem: Ein Vortrag von Ihnen über Adorno wäre uns lieber gewesen. Heute möchte ich Ihnen, zu beliebiger Verwendung in künftigen Arbeiten, noch zwei kleine Funde »schenken«, bei denen ich, als ich in den letzten Jahren auf sie stieß, sofort dachte: Das wäre etwas für Arnold Gehlen. (Wiedergabe der beiden Beispiele, analog zum Briefentwurf vom 22. Juli 1965, hier weggelassen, AH.) In den letzten Jahren habe ich – bis Herbst 1962 – vorwiegend manuell gearbeitet, aber auch sehr, sehr viel lesen können. Als großes Glück betrachte ich es, dass ich als Erwachsener Gelegenheit hatte, nochmals so gut wie alle Schullektüre-Klassiker zu lesen, und das nun in erwachsenem Zustand, wo einem nicht so viel entgeht und viele Dinge, die einem die Penne und die eigene Unreife verekelt hatten, neuen, ungeahnten Glanz bekommen. Auch meine Kenntnis der Literatur des 19. Jahrhunderts, der deutschen, russischen, englischen, französischen, konnte ich ganz enorm komplettieren. Ab Herbst 1963 wurde mir dann konzediert, nur noch wissenschaftlich zu ar-
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beiten, und ich wählte mir zum Thema – Jean Paul. In einem Zuge habe ich sein ganzes riesiges Lebenswerk, samt Briefwechsel, gelesen und bin ein rechter Jean-PaulEnthusiast geworden. Der Titan zumeist steht seither bei mir auf der Anbetungskonsole, ich stelle ihn sogar über den Wilhelm Meister. Falls Sie ihn sich bisher haben entgehen lassen, so holen Sie das Versäumte recht bald nach, Sie werden es nicht bereuen. Und ein soziologisch-anthropologischer Essay von Ihnen über eine der zentralen Gestalten des Titan, Roquairol, ist ein Desiderat, das keines bleiben darf. Für Ihre Glückwünsche zu meiner in absehbarer Zeit bevorstehenden Verehelichung (die aber bis jetzt, entgegen voreiligen westlichen Pressenotizen, noch nicht vollzogen ist), danke ich Ihnen aufs Herzlichste. Dass sich diese Frau, mit der ich nächstens meine Instinktresiduen auf Institutions-Schienen legen will, gefunden habe, ist für mich ein großes Glück. Sie heißt Gisela May, ist ein Jahr jünger als ich und eine in Ost und West sehr erfolgreiche und vor allem phänomenal vielseitige Schauspielerin und Diseuse. Vom blasierten Teenager über Maria Stewart und die Prinzessin Eboli bis zur Mutter Wolffen im Biberpelz gibt es nichts, was sie nicht gespielt hat und spielen kann. Vor acht Jahren wurde sie außerdem von Hanns Eisler als Chansonette entdeckt. So kam es, dass sie, Schauspielerin in Brechts »Berliner Ensemble«, zugleich auch in der Staatsoper Unter den Linden in den Sieben Todsünden der Kleinbürger von Weill/Brecht singt und mit abendfüllenden Brecht- und Tucholsky-Programmen, Chansons singend und rezitierend, in aller Herren Länder herumreist, eine Mischung von Marlene Dietrich und Lotte Lenya in jünger und sich von sonstigen Brecht-Interpretinnen durch dezidierte Damenhaftigkeit unterscheidend. Zudem ist sie eine rechte deutsche Hausfrau, die gut kocht und darauf achtet, dass das blütenweiße Linnen symmetrisch angeordnet im Schrank liegt – gänzlich frei von Bohème-Allüren, unter den Ahnen viele Schulräte. Ein kleines Photo füge ich bei, die Haarfarbe stimmt allerdings nicht mehr ganz, ist jetzt blonder. In Aachen ist GM bis jetzt noch nicht aufgetreten, was bedeutet, dass sie es sicher tun würde, wenn sich dort einmal eine Gelegenheit dafür bietet, und dann würde ich ihr sagen, dass sie Sie besuchen soll. Gelesen hat sie von Ihnen freilich noch nichts, kennt aber Ihre Theorien, da sie ja mit mir, als der wandelnden Volksausgabe Ihre gesammelten Werke, liiert und am Berliner Ensemble Wekwerth ihr Chef ist. In Jean Pauls Titan kommt sie auch so ungefähr vor, dort unter dem Namen Linda. (Linda ist allerdings keine gute Hausfrau.)
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Interessieren würde mich, was inzwischen aus Ihrer Tochter geworden ist, die ich ja 1952 in Speyer kennen lernte, als sie noch ein Backfisch war. Meine Tochter, von der ich Ihnen damals ein Baby-Photo zeigte, Katharina genannt Kattrin, ist jetzt eine stark akzellerierende Dreizehnjährige, die Twist tanzt, alles »toll« findet, sich in Männer mit grauen Schläfen »verknallt« und gute Zensuren in Deutsch und Geschichte und Fremdsprachen, schlechte in Physik und Mathematik hat. Sie will Luftstewardesse werden. Mit Philosophie ist vorläufig bei ihr noch nicht zu machen. Ich wollte ja neulich erklären, dass ich sie Katharina genannt habe, weil das ein beliebig abwandelbarer Name (Katja, Käthchen oder auch Trine) und sie nach Nietzsche ein »nicht festgestelltes Tier« und nach Scheler und Gehlen »weltoffen« ist; ich hätte sie daher nicht von vornherein festlegen wollen durch einen Namen, der nur für einen bestimmten Typ und Charakter passt und sich nicht mehr abändern lässt. Sie begriff das kaum. Mit der Lösung der Berufsfrage, wie sie für mich gefunden wurde, bin ich recht zufrieden. Ich arbeite für den Verlag der Akademie der Wissenschaften auf dem Gebiet der philosophischen Klassiker-Edition von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, brauche dabei kaum je im Büro zu sitzen, kann mir in Folge dessen meine Zeit nach Gutdünken selbst einteilen und so neben dem unmittelbaren Brotverdienst viel lesen und schreiben. Ich habe eine gemeinsame Wohnung mit meiner Mutter, bin aber auch oft zu Besuch bei meiner zukünftigen Frau, und beide verwöhnen mich recht, wobei die Letztgenannte darauf dringt, dass ich äußerlich den Eindruck einer französierten Eleganz erwecke. Für Ihr Angebot, mich mit neuen Büchern versorgen zu wollen, danke ich Ihnen von Herzen. Ich werde es mir, mit einer Ausnahme, durch den Kopf gehen lassen und mich gerne an Sie wenden, wenn ich besondere Wünsche habe. Die Ausnahme, die ich mir nicht erst durch den Kopf gehen zu lassen brauche, betrifft die inzwischen von Ihnen erschienenen Bücher und Schriften, an denen ich natürlich brennend interessiert bin: Das Buch gegen die modernistische Kunst, von dem ich hörte, und die beiden Titel, die in Rowohlts Deutscher Enzyklopädie erschienen sind, und vielleicht weiteres, wovon ich nichts weiß. Damit mag es für heute genug sein. Mit herzlichen Grüßen, auch an Ihre Angehörigen, bin ich Ihr
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Brief an Arnold Gehlen39 (17. August 1965) Lieber Herr Professor Gehlen! Vielen heißen Dank für Ihren zweiten lieben Brief vom 5. August 1965 und für die Übersendung Ihrer Zeit-Bilder, die wohlbehalten vor ein paar Tagen hier eingetroffen sind. Ich bin jetzt auf Seite 42 und von allem schon sehr getan, obwohl meine Kenntnisse auf diesem Gebiet ja nun nicht von weit her sind. Um systematisch vorzugehen, möchte ich Ihnen aber zunächst einmal etwas über Ihr Früheres, nämlich Urmensch und Spätkultur, schreiben, wozu die Notizen schon seit so sehr langer Zeit bereit liegen, vorher jedoch die Zeit-Bilder, weil sie vielleicht zusätzlich Aufschlüsse auch über das Frühere geben, wenigstens ein erstes Mal ganz durchgelesen haben. Also im nächsten Brief werde ich damit anfangen, mir weitere Zusendungen Ihrer in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten im Schweiße meines Angesichts zu verdienen. Es ist das sehr weise von Ihnen, mir’s derart dosiert zuzuteilen, und es fördert ein bisschen meine Produktivität. Hier zunächst nun ein paar unsystematische Kleinigkeiten, die mir bei der Lektüre der Zeit-Bilder, d. h. der ersten 43 Seiten davon, und beim Durchfliegen der Register eingefallen sind. 1) Sonderbar, dass Sie nicht von Sedlmayr (so schreibt er sich wohl, ich habe im Moment nichts von ihm bei mir) Notiz genommen zu haben scheinen, ihn jedenfalls nicht ausdrücklich erwähnen. Irre ich mich, wenn ich vermute, dass der auf katholisch Ähnliches will? (Eine Vermutung, die Sie nicht kränken soll: Sie selbst sagten mir vor 13 Jahren in Speyer mal, als wir da um den Dom herum spazierten, Sie freuten sich darüber, dass die »Mängelausstattung« bei Thomas von Aquin vorkäme und in Marx gut hineinpasste; da müsse es wohl seine Richtigkeit damit haben, wenn solche Extreme nun auch noch mit Ihnen konform gingen.) 2) Auf Seite 25, erster Absatz, wäre noch eine Bemerkung über die Funktion der Ahnengalerien bei Adelsgeschlechtern am Platz gewesen. (Ein Adelsspross, der mit mir das gleiche Neuruppiner Gymnasium besuchte, sagte mir mal, diese Bilder im väterlichen Schloss seien die »Korsettstangen« seines Standesdünkels, der ohne das zerlaufen würde.) 39
(AH) 3 Blatt, maschinenschriftlich, 17. August 1965.
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3) Seiten 38–39: Hier kommt ein sehr vielschichtiges Problem zur Sprache, das über die Thematik dieses Buches weit hinausreicht: Nämlich dass die verschiedenen Gesellschaftsformationen den verschiedenen Sphären dessen, was Hegel »objektiver Geist«, was Marx »Überbau« nennt, sehr unterschiedlich abträglich oder zuträglich sind. Man musizierte und komponierte zur Zeit Bachs viel besser und ewigkeitshaltiger, als man gleichzeitig und unter gleichen Bedingungen zum Beispiel philosophierte, derart, dass die Ontologie von Christian Wolff sich mit der Matthäuspassion nicht messen kann.40 Despotien waren oft literaturverhindernd, aber musikfördernd. Auffallend, andererseits, ist die Armseligkeit der Malerei in der von großer Dichtung und Philosophie so überschäumenden Goethezeit, da fand etwa das Umgekehrte statt wie der Vorgang, den Sie auf Seite 38 feststellen: Dass die höchsten literaturfähige Sprache das Sichausdrücken und Weltwiderspiegeln in Bildern unnötig machte. 4) Seite 39, »Beginn der Kunstkrise«, erster Absatz: »Eine wirklichkeitsbetonte Darstellungsart, die sich im Süden noch lange in die ideelle Bildform einschiebt«, also die italienische Renaissancemalerei mit ihren christkatholischen oder antimythologischen Themen. Man könnte meinen, dass dieses Festhalten an der ideellen Bildform der wirklichkeitsbetonten Darstellungsart mehr oder weniger abträglich gewesen wäre, aber das war es – soweit ich sehe – gar nicht. Mehr als der Protestantismus im Norden, samt der ihm zugehörigen Malerei, trug dieses italienische Sichdurchsetzen des Realismus innerhalb der ideellen Bildform dazu bei, das Diesseits, wie Sie es nennen, zu »neutralisieren« und der unbefangenen Forschung freizugeben, was man auch nennen könnte: Das Weltbild zu verdiesseitigen. (An dieser Stelle musste ich an den schönen Satz von Heine denken, dass die Schenkel der Tizianschen Venus gründlichere Thesen gewesen seien als die, die Luther an die Schlosskirche zu Wittenberg geschlagen habe.) 5) Seiten 40–43: Zu allen diesen wichtigen und vortrefflich beschriebenen Faktoren, die das Entstehen abstrakter Kunst begünstigen, kommt wohl noch einer hinzu: Die 40
(AH) Dieser Gedanke taucht in den Hartmann-Manuskripten der späten achtziger Jahre wieder auf. In den Hartmann-Dialogen – in denen Harich im Gespräch mit sich selbst war – heißt es beispielsweise: »Zu den Beispielen, die mir hierzu einfielen, gehörte auch der Umstand, dass im selben Land, zur selben Zeit die selben gesellschaftlichen Verhältnisse sowohl die Musik Johann Sebastian Bachs als auch die Leibniz-Wolffsche Schulmetaphysik getragen und determiniert haben. Sie sagten noch, zwischen den Perücken Bachs und Wolffs bestünden kleine Unterschiede, der Klassencharakter ihrer Werke sei identisch. Und ich wieder meinte, gleichwohl sei Wolff auf der Strecke geblieben, aber Bach lebe unsterblich weiter.« (Abgedr. in: Band 10, S. 538.)
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Herausbildung einer parasitären Intelligenzschicht, die praktisch machtlos und abhängig ist, auch geistig nur Handlangerdienste leistet, aber ihr Selbstbewusstsein nur behaupten kann in der Form eines Überlegenheitsdünkels, der den Snobismus, die Sucht nach dem Ausgefallenen und – vor allem und als Wichtigstes – die Neigung zu politisch gefahrlosen, nicht polizeiwidrigen, daher geduldeten, ja, von oben her mitunter sogar als Unzufriedenheitsventil benutzten »Epater le bourgeois«-Exzessen erzeugt. Der ganze Expressionismus war in diesem Sinne radikal tuende Begleitmusik zum weißen Terror, dem 1918/1919 Karl und Rosa zum Opfer fielen; Opium nicht fürs Volk, wohl aber für Atelier und Romanisches Café. Ganz besonders gefällt mir Ihr Pro-Rationalismus, ihr Verhöhnen des Institutionsdusels, ihr rühmendes Herausstreichen des Umstandes, dass die Malerei in der Renaissance zu allererst dem Ideal exakter Wissenschaft verpflichtet gewesen sei und es verwirklicht habe wie bis heute keine Wissenschaft sonst. Tja, und weiter bin ich bis jetzt noch nicht gekommen, freue mich aber schon auf das Kapitel »Malraux«, das schon aufgeschlagen auf dem Nachttisch liegt. Da Ihnen die Meine so gefällt, will ich Ihnen nächstens ein paar »Prospekte« über sie schicken, d. h. Programmhefte ihrer Chanson-Abende mit Photos. Sie hat das vielgestaltigste und wandlungsfähigste Gesicht, das mir je begegnet ist – Sie werden staunen. Jetzt bin ich strohverwitwet, da das Berliner Ensemble zwischen 8. und 29. August in London im »Old Vic« gastiert, mit drei Brecht-Stücken (Der aufhaltsame Aufstieg des Arthuro Ui, Dreigroschenoper, Tage der (Pariser) Commune) und der Brechtschen Bearbeitung des Coriolan. Sie spielt in Commune die Madame Cabet, eine französisch-charmante Pariser Näherin Mitte fünfzig, die ohne große Ideale, aus ganz handfesten materiellen Motiven den Kampf der Kommunarden von 1871 mitmacht. Außerdem spielt sie, da das Berliner Ensemble auf Ensemblegeist achtet und da auch die Stars manchmal Komparsenrollen übernehmen müssen, die dritte Hure im Puff der Dreigroschenoper, schwarz angemalt als Mulattin. Sehr interessiert mich das neue Buch von Konrad Lorenz, Das sogenannte Böse. Ich brauche Sie aber nicht deswegen zu belästigen, denn ein in West-Berlin lebender alter Freund von mir, ein Arzt, hat es mir bereits empfohlen und will es mir schicken. In meinem Lektüreplan kommt es nach den Zeit-Bildern an die Reihe.
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Das Imponiertsein durch höfische Allüren bei Goethe – noch stärker ist das im Tasso ausgeprägt, oder vielmehr: Da fängt es an. Auch in dieser Beziehung ist der Titan von Jean Paul als Gegenbeispiel lehrreich und zu empfehlen, auch der Hesperus: Hier wird die höfische Welt kritisch gesehen und komisch gefunden, und zwar im Titan gerade die von Weimar. Vielen Dank nochmals und viele herzliche Grüße, auch an die Tochter im Volkswagen! Ihr PS. Durch den Tasso geht ein Bruch, weil im selben Stück noch Sturm- und Drang-Protest und schon Imponiertsein vom Höfischen. Daher der Widerspruch im Titelhelden, den kein Schauspieler weg kriegt: Dass der Tasso erst als Idealfigur erscheint und später als negativ, als exaltierter Hysteriker, dem »ganz recht geschieht«; dementsprechend Antonio erst als hassenswert, dann als im Recht befindlich. Das ist nur so zu erklären, dass Goethe, während er das schrieb, einen Positionswechsel vollzog. Vorher war er auch Frankfurter Bürgersohn, aber mit bürgerlichem Selbstbewusstsein; dann mauserte er sich, und das Bürgerliche in ihm zeigte sich auf einmal von einer ganz anderen Seite: Als Aufblick zu Adel und Hof, als »Imponiertsein«!41 Vgl. auch das Rühmen des Adels schon im Urmeister!
Brief an Arnold Gehlen42 (20. August 1965) Lieber Herr Professor Gehlen! Ich bin zwar in den Zeit-Bildern jetzt eigentlich erst auf Seite 77, habe aber undisziplinierter Weise vorgeblättert – auf Seite 150 f. Was erwarten Sie anderes, wenn Sie mir ein Buch von sich schicken, wo im Register steht: »Lenin 150«? Da juckt es mich doch, da muss ich doch einfach … Sie schreiben, dass die modernistischen Maler (so will ich sie einmal abgekürzt nennen) politisch links gestanden hätten, sie seien Gegner der bestehenden Verhältnisse gewesen 41
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(AH) In den späten vierziger und fünfziger Jahren hatte Harich dies durchaus noch anders eingeschätzt und beurteilt. Es klingt an dieser Stelle jenes Goethe-Bild durch, dass er dann in der Jean-Paul-Monographie vorstellte. Siehe mit weiterführenden Hinweisen usw.: Heyer. Der gereimte Genosse. Goethe in der SBZ/DDR, Baden-Baden, 2017. (AH) 5 Blatt, maschinenschriftlich, 20. August 1965.
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und die bürgerliche Kultur ihnen verhasst. Dann aber sei in der Sowjetunion die abstrakte Malerei geächtet worden, und da »geschah etwas sehr Entscheidendes: sie (die Sowjets) entpolitisierten damit die moderne westliche Malerei, denn es war jetzt unmöglich geworden, die jeweils neueste Richtung mit politischen Vorstellungen nach links hin glaubhaft zu verbinden. Damit wurde die Kunstrevolution von den politischen Nebengeräuschen befreit, d. h. in die bloße Kunstimmanenz hinein gezwungen. (…) Der Malerei wurde geradezu die L’art-pour-l’art-Rolle aufgenötigt, sie wurde in den Netzhaut-Optimismus abgedrängt.« Mit dieser Erklärung bin ich nicht ganz einverstanden. Um das aber zu begründen, muss ich Sie bitten, folgende Unterscheidung zu akzeptieren: Die Unterscheidung zwischen den sozialen Anschauungen und politischen Sympathien und Antipathien eines Künstlers einerseits und andererseits den Tendenzen, die seinem Schaffen objektiv das Gepräge geben. Beides deckt sich nicht immer. Die Literatur kennt hierfür klassische Beispiele: Balzac war seiner politischen Gesinnung nach schroffer Legitimist, gab aber ein Bild der französischen Gesellschaft seiner Zeit, aus dem Marx, wie er bekannte, für seine so revolutionäre Doktrin mehr und Wesentlicheres lernen konnte als aus seinen wissenschaftlichen Vorläufern, den linksstehenden Theoretikern der politischen Ökonomie, den zum Sozialismus übergelaufenen Schülern Ricardos, Thompsons usw. Thomas Mann schrieb die erzkonservativen Betrachtungen eines Unpolitischen, war aber zugleich als Romancier und Novellist, und zwar schon lange vor seiner späteren republikanisch-demokratischen Mauserung in den zwanziger Jahren, ein Gesellschaftskritiker von erheblicher Sprengkraft, tiefer und gründlicher wirkend als sein politisch-unmittelbar viel radikalerer Bruder Heinrich.43 So etwas gibt es. Und es gibt das Umgekehrte: Dass jemand trotz linker Sympathien rechte Literatur macht: Paul Rilla hat das einmal schlagend an Zuckmayers Dramen nachgewiesen. Nun zur moderne Malerei. Hat die Ächtung der Abstrakten in der Sowjetunion westliche modernistische Maler politisch verärgert? Wahrscheinlich. Aber sie hat den Linkstrend dieser Leute, so er überhaupt bei ihnen ausgeprägt war, nie aus der Welt schaffen können, und es ließen sich prominente Beispiele dafür anführen, dass modernistische Maler im Westen, einfach weil ihnen das Hemd näher war als der Rock, linksradikal engagiert blieben, ohne sich durch die Vorgänge in der SU beirren zu 43
(AH) Eine andere Position bezog Harich in seinen Zeitungsartikeln zu den Brüdern Mann, siehe vor allem: Der Abgrund. Zu Heinrich Manns 75. Geburtstag, zuerst am 23. März 1946 im Kurier, neu abgedr. in: Band 1.3, S. 1378–1383.
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lassen – oder in weiser Erkenntnis, dass dort die Bedingungen und die Forderungen des Tages andere seien. So trat Picasso der kommunistischen Partei bei. Andererseits: Einen wirklich revolutionären Gehalt der abstrakten Malerei hat es nie gegeben, und demzufolge konnte er ihr durch den sozialistischen Realismus der Sowjetunion auch nicht ausgetrieben werden: Einem nackten Mann kann man nicht in die Tasche fassen, sagt der Berliner. Wo immer moderne Malerei soziale Anklage zum Ausdruck brachte und politisch revolutionierend wirkte, war sie gegenständlich, war sie realistisch. Ich blättere wieder in Ihrem Register und suche Käthe Kollwitz. Richtig, Sie haben Sie nicht vergessen, und zu meiner großen Freude rühmen Sie »den gänzlich unverzerrten Ernst ihrer Leidensaussage« (S. 149). Mir fällt noch George Grosz ein: Der rangiert bei Ihnen unter »expressionistischer Elendsmalerei« (die mit ihm und Dix abgelebt sei, S. 151). Ich würde ihn eher den eindringlichsten Entlarver des Gesichts der herrschenden Klasse nennen, den Mann, der die Proleten der zwanziger Jahre die Staatsanwälte, Richter, Generale und Großunternehmer der Weimarer Republik richtig sehen gelehrt hat und sie so in den Leserkreis der Roten Fahne hineinzog. Und wie sollte ich als Bewohner der Winsstraße in Berlin NO nicht an Heinrich Zille denken, dessen Gefährlichkeit für die Herrschenden von keinem Geringeren als Tucholsky gewürdigt wurde? (Bei alledem halte ich die Möglichkeit der bildenden Kunst, revolutionär aktivierend zu wirken, für außerordentlich begrenzt, und pflege in hiesigen Kunstdebatten dafür zu plädieren, die Maler und Zeichner in dieser Beziehung nicht mit Ansprüchen zu überfordern, die von der Literatur hergenommen sind. Aber so weit die bildende Kunst überhaupt im Stande ist, proletarisch-sozialistisches Klassenbewusstsein zu erwecken, kann sie das nur, wenn sie sich realistischer Mittel bedient.) Unter den ausländischen Malern, die nicht nur in ihren Ansichten und Sympathien, sondern in dem, was sie als Künstler leisten, revolutionär sind, fallen mir noch die großen Mexikaner ein, die in unserer Zeit das Fresko erneuert haben: Orozco, Siqueiros, der Name des dritten Großen ist mir im Moment entfallen. Demgegenüber handelt es sich in der abstrakten Malerei immer nur um Scheinrebellionen, um den sich radikal gebärdenden Snobismus (der für die Polizei völlig uninteressant ist), um einen Sturm im Wasserglas – nämlich in den Wassergläsern auf den Marmortischen des Romanischen Cafés, um eine Verlagerung der Revolution ins Formale, die die Inhalte, auf die es ankommt, schon deswegen unberührt lässt, weil sie von Natur aus und per definitionem überhaupt keine Inhalte in den Griff bekommt.
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Und das war schon so, längst bevor die Sowjetunion sich entschloss, dieses Pseudorevolutionärtum, das innerhalb des kapitalistischen Systems unter Umständen sogar durchaus eine Ablenkungsfunktion erfüllen kann, nicht auch noch zu honorieren. (Mir gefällt sehr gut in Ihrem Buch der Hohn auf die Radikalismen des Herrn Malraux. Sie sprechen Seite 47 von dessen Hass auf das Bürgerliche, lehnen ihn mit Recht ab und berufen sich auf Marx, der »weit korrektere Vorstellungen von der Wucht der bürgerlichen Diesseitseroberungen« gehabt habe. Ja, sehr richtig: Die wirklichen Revolutionäre wollen Erben und Fortsetzer dieser bürgerlichen Diesseitseroberung sein und zollen ihr daher Anerkennung und Respekt. Der »revolutionäre« Malraux dagegen ist Minister des Generals de Gaulle geworden.) Damit ist aber nur ein Motiv für die »Ächtung der abstrakten Malerei« in der SU angedeutet. Folgende Faktoren kommen noch hinzu: 1) Es handelt sich in der es nur um eine neue, eine unter Geburtswehen und Kinderkrankheiten im ganzen aufsteigende Gesellschaftsformation, und Goethe sagt (29. Januar 1826) zur Eckermann: »Alle im Rückschreiten und in der Auflösung begriffenen Epochen sind subjektiv, dagegen aber haben alle vorschreitenden Epochen eine objektive Richtung.« Und Sie zeigen in den Zeit-Bildern meisterhaft, dass die abstrakte Malerei das Endprodukt einer, mit dem Impressionismus einsetzenden, in sich reflektierten Subjektivität ist. Der Konflikt zwischen der Sowjetkunst und dem westlichen Modernismus war also unausbleiblich. Von diesem bemerken sie ganz richtig: Seine »Opposition war insofern selbst noch bürgerlich, als sie an den noch stehenden Gegner gebunden blieb«. Konnte auf gleicher Linie fortopponiert werden, als der Gegner seit 1917 in einem Teil der Welt nicht mehr »stand«? Natürlich nicht. Ich würde aber noch weiter gehen und sagen, dass die Opposition der Abstrakten a) von ihrem noch stehenden Gegner selbst infiziert war (von seiner Fäulnis) und dass sie b) eine echte Opposition überhaupt nicht gewesen ist (siehe oben!). 2) Im Zuge der sozialistischen Umwälzung wird selbstverständlich der exklusiven, snobistischen, vom Leben abgekapselten parasitären Intelligenzschicht, die zur Bourgeoisie dazugehört und von ihr erzeugt wird (auch wenn sie mit ihr unzufrieden ist), der Boden entzogen: Ihre Atelierprobleme werden bei Seite geschoben. Es hält sich nur, wer die neuen Ideen und sozialen Gehalte so in Kunstwerke umzusetzen weiß, dass sie den Volksmassen verständlich und vertraut werden. Die »Liebe des Volkes« aber »errangen« nie die Abstrakten, sondern – wie Sie Seite 149 richtig sagen – »Franz
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Marc, der die Eleganz der Linie nicht preisgab und gefühlsmäßig zugänglich blieb, auch wohl noch Macke aus ähnlichen Gründen, und Käthe Kollwitz wegen des gänzlich unverzerrten Ernstes ihrer Leidensaussage«. .
3) Wo so viel verändert wird, wie in sozialistischen Ländern, da muss man aufpassen, dass nicht Kinder mit der Badewanne ausgeschüttet werden. Unter diesen Umständen wird für die Kultur zur Erzgefahr ein Revoluzzertum, das schlechthin alles umwälzen will, außer Schlechtem und Unnötigem auch Gediegenes, Wertvolles, Bewährtes – und zuweilen Gleichgültiges, das der Mühe nicht lohnt. Vor etlichen Jahren wollten hier Studenten das Beifallsklopfen in den Hörsälen als »bürgerlich« abschaffen und durch Klatschen ersetzen, in der SU wurden in der Revolution erstmal die »zaristischen« Offiziersschulterstücke abgeschafft. Später besann man sich eines Besseren und gab diese kindischen und äußerlichen »Neuerungen« wieder auf. Sie hatten natürlich nicht viel geschadet, aber auch nicht im Mindesten genutzt, und es gab »Neuerungen« aus gleicher Gesinnung und von größerer kultureller Bedeutsamkeit, die furchtbar geschadet haben. Das sind nun Erfahrungen, die gerade bei den besten, vernünftigsten und umsichtigsten Kommunisten einen Hang zur Verteidigung des Erbes, zur Pflege der wertvollen Traditionen aus früheren Epochen, der Errungenschaften, die der feudalen wie der bürgerlichen Vergangenheit zu danken sind, des Erhaltenswerten schlechthin, erzeugt haben.44 Und diese Leute sind es, die – zum Segen ihrer Länder – aus den sozialistischen Staatskassen Millionengelder für die Erhaltung von Zarskoje Sselo oder Sanssouci abzweigen und dafür sorgen, dass wahrlich nicht-marxistische Philosophen wie Leibniz oder Kant in hervorragenden Editionen gedruckt werden. Und aus denselben Motiven wehren dieselben Leute sich dagegen, dass in der heutigen Kunstübung unter dem Einfluss der westlichen Moderne die Errungenschaften der Renaissance und des bürgerlichen Realismus abgebaut werden, dass – mit anderen Worten – das Schielen der Künstler nach den westlichen scheinradikalen Moden auch bei uns ein asylum ignorantiae, oder genauer: impotentiae, erzeugt, in dem die Trauben als sauer gelten, weil man sie nicht mehr malen kann.
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(AH) Harich sprach an dieser Stelle von sich selbst und seinem Freund Georg Lukács, von jener Position, die beide in den fünfziger Jahren vertreten hatten und auch nach den Ereignissen von 1956 weiter bezogen.
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Alle Errungenschaften der Vergangenheit über Bord zu werfen: Das war in der Sowjetunion in den zwanziger Jahren die Losung des so genannten Proletkult, und dessen Vertreter waren meist pro-abstrakt. Dieser Anschlag musste abgewehrt werden, und er wurde abgewehrt, und da hat Väterchen Stalin im Grundsätzlichen etwas Gutes und Vernünftiges getan (was nichts daran ändert, dass er in anderen Fragen auch Böses und Schlechtes und Falsches getan hat und dem Ultraradikalismus, dem er hier die Stirn bot, andernorts selbst wieder erlag). Auch bei der Überwindung der Stalinschen Epoche sollte nicht das Kind mit der Badewanne ausgeschüttet werden. Ich glaube nicht, dass ich mit diesen Ausführungen gegen Sie überhaupt noch polemisiere, ich glaube vielmehr, dass ich hier Ihre Ausführungen in diesem einem Punkt eher ergänze. Sagen aber will ich, dass, wenn es die von Ihnen konstatierte Entpolitisierung der modernen westlichen Kunst unter dem Eindruck des sowjetischen sozialistischen Realismus gibt, es mit der spontanen Linksorientierung der Künstler, bei denen sie sich findet, nicht weit her sein kann: Es ist eine Linksorientierung ohne historischen Blick, ohne weiten Horizont, ohne Einfühlung in die Besonderheiten und Erfordernisse sozialistischer Kultur. Und bekennen möchte ich, dass ich es zwar begrüße, wenn in den sozialistischen Ländern jetzt, gegenüber der Epoche des Stalinschen Personenkults, den Künstlern viel mehr Bewegungsfreiheit für formale Eigenwilligkeiten gewährt wird – das kann à la longue der Entwicklung der Kultur nur zustatten kommen –, dass ich selbst aber innerhalb dieses erweiterten Toleranzraums nur desto energischer für einen gehaltvollen und technisch gemeistert Realismus eintrete und gegen den Morgenluft witternden Abstraktionismus Partei nehme. (Genau dasselbe tut ja auch Lukács!) Ich kann mich eben nicht glaubwürdig dafür einsetzen, dass Leibniz im Studienplan breiter behandelt werden muss und dass uns eine vollständige Hegel-Ausgabe not tut und dass anerkannt werden sollte, dass es bei Nicolai Hartmann und bei Ihnen noch viel für uns zu lernen gibt, wenn ich gleichzeitig Agitation für den Bildungswert irgendwelcher verbogenen Drahtspiralen oder undefinierbarer Klecksereien mache. So stehen die Fragen hier. Und da soll ich nun auch noch darauf Rücksicht nehmen, dass ich potentiell linkssympathisierende Bohémiens in den Ateliers und Cafés von Düsseldorf nicht vor den Kopf stoße? Da bin ich einfach überfordert, das ist zu viel verlangt. Damit mag es für heute genug sein. Ich hoffe, dass Sie für meine Darlegungen ein bisschen Diltheysches »Verstehen« aufbringen werden. Mit herzlichen Grüßen bin ich Ihr
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Brief an Arnold Gehlen45 (09. September 1965) Hochverehrter Herr Professor Gehlen! Ich retiriere auf die heute beliebte »Masche«, die man den Zwischenbescheid nennt. Die Zeit-Bilder, dieses außerordentliche, mich von Seite zu Seite mehr fesselnde Buch, habe ich nun gelesen, mit immerfort wachsender Bewunderung und innigem Vergnügen, habe es partienweise anderen vorgelesen und, als ich selbst fertig war, sofort weiterverborgt. Sobald ich nun im Laufe der nächsten 14 Tage ein bisschen mehr Muße finden werde, schicke ich Ihnen zunächst ein paar der seit neun Jahren ausstehenden Bemerkungen zu Urmensch und Spätkultur. Hat man mir die Zeit-Bilder dann zurückgegeben, dann schreibe ich Ihnen Näheres darüber. Heute nur soviel, dass ich nicht wüsste, wann je ein so tief lotender Denker so viel blendenden Witz gezeigt hat; bei vielen Formulierungen blieb mir einfach der Atem weg, und auch den anderen, denen ich das zitierte. Na, und was denken Sie, wie es dem Berliner Ensemble wie Öl glatt heruntergegangen ist, dass Sie Brecht an der Spitze der Schriftsteller nennen, denen eine neue »peinture conceptuelle« Gleiches zur Seite stellen sollte. Man stritt erst, ob das nicht etwa an der alphabetischen Reihenfolge der aufgeführten Namen läge. Aber da Be (Benn) dann vor Br stehen müsste und es doch nicht tut, ist man aufs Höchste befriedigt. Nur die Prinzipalin, Helene Weigel, die ich »Frau Cosima Brecht« nenne, weiß es noch nicht, weil sie derzeit auf Urlaub ist. Aber sie wird es erfahren und Sie in ihr Herz schließen. Also, bis nächstens! Herzliche Grüße Ihr
Brief an Arnold Gehlen46 (26. Oktober 1965) Lieber Herr Professor Arnold Gehlen! Haben Sie vielen Dank für Ihren lieben Brief vom 10. Oktober. Nachdem Sie das Gesicht meiner Frau in verschiedenen Lesarten kennen gelernt haben, werden wir Ihnen bei Gelegenheit auch noch die Stimme schicken. Es kommt jetzt hier eine neue Langspielplatte heraus: Chansons, hart auf der Grenze zur Schnulze, außerdem die alten Dienstmädchenlieder auf einer kleineren Platte. Und dann will jetzt die westdeutsche Firma Philips mit ihr eine Langspielplatte Brecht/Weill produzieren: Das, was 45 46
(AH) 1 Blatt, maschinenschriftlich, Durchschlag einer Postkarte, 09. September 1965. (AH) 12 Blatt, maschinenschriftlich, 26. Oktober 1965.
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ihr eigentlich gemäß ist. Allerdings braucht man für die Ausführung von Platten in den Westen eine Sondergenehmigung, die wird man ihr aber sicher erteilen. Heute kann ich Ihnen etwas sehr Erfreuliches vermelden, falls Sie es noch nicht wissen sollten. Es ist Ihnen, und zwar in großem Stil, geglückt, nunmehr auch offiziell und namentlich genannt in den heutigen Marxismus einzudringen. Vor zehn Jahren setzte sich Georg Lukács an seine große Ästhetik, damals siebzig Jahre alt. 1955 und 1956 hatte ich viermal ausgiebig Gelegenheit, mit ihm darüber zu sprechen und ihn, als er mir in großen Zügen seine Konzeption auseinandersetzte, auf Ihre philosophische Anthropologie aufmerksam zu machen, die er, wie ich ihm sagte, vor der Niederschrift des geplanten Werks unbedingt gelesen haben müsse. Nun liegen die beiden ersten Bände – zusammen etwa 1500 Seiten – gedruckt vor, Deutsch im Luchterhand-Verlag, Bundesrepublik, und wenn Sie sich das Namensregister ansehen, werden Sie feststellen, dass Sie oft und ausgiebig zitiert sind. Ich habe das Monsterwerk noch nicht zu lesen angefangen, es ist mir – und meinen westdeutschen Bekannten – auch zu teuer, und da warte ich erstmal die DDR-Ausgabe ab. Aber von meinem Freund Wolfgang Heise, der für die hiesige Deutsche Zeitschrift für Philosophie die Rezension darüber schreiben soll, weiß ich bereits, dass Lukács sich im Wesentlichen in positivem und anerkennendem Sinne auf Sie bezieht und in Ihnen vor allem einen Gewährsmann für hieb- und stichfeste empirisch-wissenschaftliche Fakten sieht. Auch daran, dass er häufig Nicolai Hartmann anführt, den er früher nicht kannte, bin ich übrigens nicht unschuldig. Dessen Ästhetik, ebenso wie Ihren Menschen, habe seinerzeit ich ihm per Post zugeschickt. Ob der nun achtzigjährige Altmeister der materialistischen Dialektik die Zeit-Bilder schon zu Gesicht bekommen hat, weiß ich freilich nicht, und ich möchte deswegen auch nicht bei ihm anfragen, weil wir beide ja seit 1956/1957 ähnlichen Dreck am Stecken haben und sicher gut daran tun, uns noch ein Weilchen zu meiden. Aber wichtig und ein »gefundenes Fressen« wären die Zeit-Bilder schon für ihn, und wenn Sie bereit wären, noch ein weiteres Ihrer Belegexemplare zu opfern, würde ich Ihnen die Budapester Adresse des Altmeisters zugehen lassen, vorausgesetzt, dass Sie in einem etwaigen Begleitschreiben mich ganz aus dem Spiel lassen und sich, am besten, nur auf Ihre Zitierung in der Eigenart des Ästhetischen (so heißt das Monsterwerk) beziehen.
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(Nebenbei bemerkt: Fassen Sie die obige Erwähnung der Tatsache, dass ich die Lukácssche Ästhetik noch nicht in Händen habe, bitte unter gar keinen Umständen als ein Wink mit dem Zaunpfahl auf, dass etwa Sie sie für mich erstehen sollten. Ich käme im nächsten halben Jahr doch nicht dazu, mich in sie zu vertiefen, und bis dahin werde ich sie mir ganz gewiss auch auf anderem Wege verschaffen können. Auch will besagter Rezensent, der Heise, sie mir gerne für lange Zeit leihweise überlassen. Es wäre mir wirklich äußerst peinlich, wenn Sie dächten, ich ginge Sie darum an, so ungefähr 120,– West-DM für mich locker zu machen.) Nun zu Urmensch und Spätkultur. Im Ganzen bin ich mit diesem Buch sehr einverstanden und finde es außerordentlich genial und fruchtbar. Meine Einwände betreffen lediglich Einzelheiten, nie den Kern, nie das Ganze. Da sind zunächst diejenigen Einwände, die ich in dem Vorwurf »Entökonomisierung der Soziologie« zusammenfassen möchte. Sie beziehen sich auf Sätze, die auf folgenden Seiten (der ersten Auflage, Bonn, 1956) stehen: Zu Seite 26: Ich finde, dass Sie die »Auslöserwirkung« des Geräts, dessen »Sollsuggestion« doch überschätzen. Sie hat ganz sicher nicht die Durchschlagskraft, die der echte, biologische Auslöser in seiner Wirkung auf den tierischen Instinkt hat. Ihre Ausführungen legen den Gedanken nahe, beim Menschen sei die Sollsuggestion des Werkzeuges an die Stelle des – in Folge der Instinktreduktion abgeblassten – Auslösers getreten, und das ist eine Annahme, die ganz gewiss zu weit geht. Was die Menschen primär zur Arbeit treibt, ist der Zwang, sich Lebensbedingungen zu schaffen, die die Natur von sich aus, als unbearbeitete, nicht hergibt. Sekundär tritt in gewissen Gesellschaftsformationen (zum Beispiel in der Sklaverei) der, meist bewaffnete, Zwang hinzu, mit dem die Herrschenden die Unterdrückten zu Arbeitsleistungen anhalten. Tertiär erst kommt, aber auch nur unter Umständen, die liebwerdende Gewöhnung an die Meisterung bestimmter Arbeitsvorgänge hinzu. Und was die Sehnsucht angeht (Sie nennen die des passionierten Beamten nach den Akten), so ist weit verbreitet ja auch der umgekehrte Fall: Dass man sich gerade nach dem sehnt, was man eigentlich nicht kann. (So schätzte zum Beispiel Furtwängler das Dirigieren, weil es ihm zweiter Natur geworden war, gar nicht hoch ein und fand sich einen großen Komponisten, der er nicht war. Auch der Reiz der Feierabend-Hobbies liegt darin, dass man sich auf Gebieten betätigt, wo man nur zu diletieren vermag, und gerade nach denen sehnt man sich.)
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Zu Seite 38, letzter Absatz, Seite 39, erster Absatz: Natürlich sagt der Bauer nicht: »Die Menschen müssen zu essen haben«, wenn er darauf Antwort geben soll, warum eigentlich die Felder bestellt werden müssen. Oder er gibt diese Antwort (wenn er sie gibt) nur Altruismus heuchelnd, nur in Beschönigung seiner wirklichen Motive. Aber dass er die wahre Antwort nicht wüsste, stimmt nicht. Bei einem freien Bauern unter den Bedingungen der Naturalwirtschaft lautet sie: »Ich muss mich und meine Familie ernähren«, bei einem Leibeigenen: »Ich muss die Fron abarbeiten, um nicht vom Gutsherrn bei Leib und Leben bedroht zu sein, und außerdem noch für meinen und meiner Familie Eigenbedarf aufkommen«, bei einem Bauern unter den Bedingungen der entfalteten Warenproduktion, zumal unter kapitalistischen: »Ich muss Kartoffeln, Getreide, Milch, Geflügel, Schweine- und Rindfleisch auf den Markt bringen und dort absetzen, um zu Geld zu kommen«. Das heißt, es ist völlig richtig, wenn Sie schreiben, mit der Antwort »Die Menschen müssen zu essen haben«, werde nur die Funktion des Gefüges beschrieben, aber nicht das eigene Motiv des Bauern selbst. Aber nicht richtig ist die Vorstellung, dass dieses eigene Motiv primär durch das »Umschlagen der Arbeit in eine eigenwertgesättigte Habitualisierung« bedingt sei, denn unvergleichlich viel elementarer, stärker, mit dem eigenen Gedeih und Verderb fester verknüpft und eben deswegen funktionell auch zuverlässiger ist das ökonomische Interesse (dessen je spezifische Erscheinungsform von den gesellschaftlich herrschenden Produktions- und Austauschverhältnissen bedingt ist und mit ihnen historisch wechselt – daher die Unterschiede in den – nichts beschönigenden – Antworten der Bauern, die Glieder verschiedener Gesellschaften – Feudalismus, Kapitalismus usw. – sind). An dieser Stelle, die ich in dem ganzen Buch als die fragwürdigste empfinde, melde ich den grundsätzlichen Einwand an: Ich halte es für falsch, halte es für eine Verzerrung der wirklichen sozialen Zusammenhänge, wenn Ihre Motivforschung die Antriebe menschlichen Verhaltens – bisweilen ausschließlich, bisweilen hauptsächlich – auf die Gegebenheiten des Arbeitsprozesses zurückbezieht und dabei die ökonomisch-sozialen Gegebenheiten, d. h. das handgreifliche materielle Interesse (und dessen geschichtliche Modifizierung durch die einander ablösenden Gesellschaftsstrukturen, Produktions- und Austauschverhältnisse) auslässt. Zu Seite 44: Zeremonialisierung des Labour-Management-Konflikts. Der ganze zweite Absatz von Seite 44 mit der – von Ihnen leider ohne kritische Vorbehalte zitierten – Idee Hofstätters ist national-ökonomisch und politisch eine einzige Naivität.
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Erstens sind die Konflikte zwischen Labour und Management immer nur eine Vordergrunderscheinung, die das Wesen der Sache verdeckt: Dass es sich in Wahrheit um den Interessengegensatz von Arbeit und Kapital handelt (wobei freilich die Kapitalisten, besonders neuerdings, in hochindustrialisierten Ländern, die dadurch bedingten Konflikte durch ihre Manager mit den Arbeitern und deren Gewerkschaften austragen lassen). Zweitens: Dass die sozialen Spannungen der Vergangenheit darin ihren Grund gehabt hätten, dass das Sozialprodukt, weil nicht genügend produziert werden konnte, so klein gewesen sei, und in Folge dessen in dem Maße gegenstandslos werden müsste, wie die Produktion sich ausdehne, ist völlig falsch. Dann hätten ja im Mittelalter mit seiner wahrlich niedrigen Arbeitsproduktivität die sozialen Spannungen schärfer sein müssen als im 19. Jahrhundert mit seinen Dampfmaschinen, und das Umgekehrte ist tatsächlich der Fall. Drittens: Überproduktionen an Waren gibt überhaupt nicht die Gewähr für die Befriedigung sozialer Gegensätze (siehe die Wirtschaftskrisen im Kapitalismus, die durchweg Überproduktionskrisen und zugleich Unterkonsumtionskrisen sind und eben dadurch die Klassenkämpfe verschärfen). Viertens: Ausweitung der Produktion kann unter der Voraussetzung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse nur dann den Anteil der arbeitenden Massen am Sozialprodukt vergrößern, wenn sie a) mit Vollbeschäftigung Hand in Hand geht (was nicht immer der Fall zu sein braucht; man kann auch durch drastische Rationalisierung des Produktionsprozesses, neue Fertigungsverfahren usw. die Produktion ausweiten und gleichwohl zur selben Zeit Massenarbeitslosigkeit haben) und wenn b) die Arbeitergewerkschaften so gut organisiert und geführt und so kampfentschlossen sind, dass sie den Unternehmern hohe Löhne abzutrotzen vermögen – was wiederum ein hochgradiges Klassenbewusstsein der Arbeiter des betreffenden Landes im ganzen, zumindest aber deren hochentwickeltes ökonomisches Interessenbewusstsein voraussetzt. Wenn heute zum Beispiel die Arbeiter in Westdeutschland relativ sehr gut leben, so nicht, weil die westdeutsche Industrie so viele Waren erzeugt, sondern deshalb, weil die herrschende Klasse in Westdeutschland vor dem Kommunismus Angst hat, weil, mit anderen Worten, in allen Lohnverhandlungen zwischen Regierung bzw. Unternehmerverbänden auf der einen und Arbeitergewerkschaften auf der anderen Seite unsichtbar und doch drohend (den Unternehmern drohend) die DDR mit am Tisch sitzt. Der Klassenkampf
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der Arbeiter, weit entfernt, durch die enorme Produktion überflüssig zu werden, ist also die conditio sine qua non dafür, dass die Arbeiter bei der Verteilung des Sozialprodukts nicht zu kurz kommen. Würden sie es sich einfallen lassen, diesen Kampf zum bloßen Zeremoniell zu machen, so würden sie unweigerlich das Nachsehen haben, es mag noch so viel produziert werden. Fünftens: Was als ausreichende Bedürfnisbefriedigung und hoher Lebensstandard gelten kann, ist selbst geschichtlich relativ. In Zeiten, in denen es Fernsehapparate gar nicht gab, konnten sie auch nicht Gradmesser des Wohlstandes sein. Seit ihr Besitz gesellschaftlich zur Selbstverständlichkeit geworden ist, ist es nicht ausgeschlossen, dass ihre Eigentümer ausgebeutet sein und im Elend leben können, einfach deswegen, weil die Entwicklung der Zivilisation die Maßstäbe des Verelendetseins verschoben hat. Die Vorstellung also, dass eines Tages im Kapitalismus die Straßenbettler in Autos fahren könnten, ist nicht utopisch und nicht absurd. Absurd und utopisch aber ist die Hofstättersche Auffassung, dass, wenn es so weit gekommen sein wird, die Gegensätze von Kapital und Arbeit jede Bedeutung verlieren werden. Himmelschreiendes soziales Elend wird dann eben darin bestehen, mit der letzten Monatsrate für das eigene Weltraumschiff säumig zu sein. Zu Seite 58: Die Theorien über den Ursprung des Eigentums von W. Nippold und W. Schmidt. »Wer etwas macht, dem gehört es aus diesem Grunde.« Sehr fragwürdig, von Thesen, die aus der Erforschung von Urzuständen der Gesellschaft gewonnen sind, zu derartigen Verallgemeinerungen aufzusteigen, denen bereits eine so frühe Kultur wie die der griechisch-römischen Antike, mit der Sklaverei als festen, nach Aristoteles sogar naturgegebenen Institution, auf der ganzen Linie Unrecht gibt. Oder habe ich etwas missverstanden? Dann deswegen, weil Ihre und Schelskys meines Erachtens sehr treffenden Ausführungen über die Kategorie des Beisichbehaltens in dem Augenblick missverstehbar werden, wo Sie sich in dieser Form auf Nippold und Schmidt als Gewährsleute beziehen. Was an dieser Stelle meinen Widerspruch herausfordert, ist der (von mir geargwöhnte) Versuch einer Anthropologisierung des Privateigentums, ist dessen Aufbauschung zu etwas Allgemeinmenschlichem in der Absicht, für das Privateigentum an Produktionsmitteln eine neue Apologetik zu schaffen. (Auf derselben Seite 58 übrigens Zeile 14 v. o. ein Schreib- bzw. Druckfehler: Es muss ihrer statt seiner Rätselhaftigkeit heißen.)
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Zu Seite 68: Ende des ersten Absatzes. Der Vergleich mit dem Briefwechsel als einer »Institution«, die Gewissensregungen erzeugt, klingt zwar geistreich, nimmt aber Ihrer Argumentation die Überzeugungskraft, die er ihr doch gerade geben sollte. Bei jedem Versuch, in Auseinandersetzungen über dieses Thema diesen Briefwechselvergleich in die Debatte zu werfen, wurde mir von den jeweiligen Partnern immer (mit Recht) entgegnet: Das schlechte Gewissen hat in der Vernachlässigung des Menschen, mit dem ich sonst Briefe wechsle, seinen Ursprung und gilt durchaus nicht der etwa zum Selbstzweck gewordenen Institution des Briefwechsels selbst. Wenn ich nämlich hingehe, um den anderen zu besuchen, beruhigt sich das schlechte Gewissen sofort, auch ohne dass wieder ein fälliger Brief geschrieben wird. Zu Seite 69 (die letzten zwei Zeilen) bis Seite 70 (ganz): Hier notierte ich an den Rand (Seite 70 oben): Anders: Das, was uns überhaupt dazu nötigt, uns in die Institution einzufügen und uns ihr unterzuordnen, ist ein lebenswichtiges, zumeist ökonomisches Interesse; indem wir uns einfügen, nehmen wir es aber auch auf uns, Funktionsträger der Eigengesetzlichkeit der Institution zu werden. Und zum letzten Absatz von Seite 70 notierte ich: Aha! Aber die Sicherung der Existenz ist in allen Gesellschaften durchaus davon abhängig, dass wir uns den Normen und Sachgesetzen der Institutionen fügen; tun wir das nämlich nicht, so hören die primären Bedürfnisse (ich würde sie nicht biologische, sondern ökonomische nennen) sofort auf, trivial zu sein. Und umgekehrt: Das Verhalten der überwiegenden Mehrheit der Menschen von heute wird unzuverlässig, sobald der ökonomische Druck aussetzt, der, in letzter Instanz, sie in die Institutionen hineinzwingt. Zu Seite 74: Die hier aufgezählten Motive stehen nicht auf gleicher Stufe nebeneinander und haben nicht gleiche Kraft. Bei einem bestimmten Individuum mag aus je besonderen Gründen das eine das andere überwiegen. Im gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt jedoch – und damit bei der Masse der Individuen – bilden diese Motive eine Hierarchie, in der das ökonomische Interesse stärker ist und fundamentaler als die Gewohnheit oder die Verpflichtung an einen Ehrenkodex. Hier wie an anderen Stellen scheint mir, dass Sie von einer Basis aus verallgemeinern, die zu schmal ist. Bei Ihnen mag Pflicht zur Neigung geworden sein. Aber bei Ihrer Portierfrau? Den Beamten der preußischen Könige war die Unbestechlichkeit in Fleisch und Blut übergegangen. Aber denen von Väterchen Zar? Es sind Ausnahmefälle, in denen der »Raum für die verschiedensten subjektiven Tendenzen« wirklich so breit ist, wie Sie meinen; in der Regel ist er ziemlich beengt.
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Zu Seite 95, zweiter Absatz: Frage: Sollten Eigentumsschutz, Erhaltung ständischen Prestiges, sogar Sicherung knapper Wild- und Viehbestände wirklich nur sekundäre, unerwartete Nebenerfolge gewesen sein???? Zu Seite 119: Hier schrieb ich an den Rand: Hier wie schon auf Seite 74 kommt bei Gehlen der neokonservativistische Pferdefuß zum Vorschein. Sein richtiger und vernünftiger Lobgesang auf die Institutionen überhaupt schlägt an diesen Stellen in eine Rechtfertigung des Bestehenden, unbesehen, ob es gut oder schlecht ist, um. Das ist erstens politisch und weltanschaulich reaktionär, zweitens aber auch unlogisch bei einem Denker, der ansonst die Relativität aller konkreten, historisch gegebenen Institutionen so scharf betont, der so Tiefes und Wahres darüber gesagt hat, dass die Definition des generell Menschlichen sich nicht von den Vorlieben und Vorurteilen irgend eines einzelnen Zeitalters abhängig machen darf. – Natürlich bedarf der Mensch der institutionellen Eingefasstheit überhaupt, aber er bedarf keineswegs auf die Dauer der bestehenden bürgerlichen Institutionen, so wenig wie er der feudalen Institution bedurfte. – Auf der gleichen Seite verweist ein Pfeil auf Seite 118, zweiter Absatz, letzter Satz: »Und das haben wir erlebt, was aus den Menschen wird, wenn sie usw.« An den Pfeil schrieb ich noch die Bemerkung: 1) Es kommt darauf an, in welcher Richtung die Menschen aus ihren Institutionen heraus gezwungen werden und in welche neuen man sie hinein zwingt. (Es kommt auch vor, dass einer sich von einem speckigen, alten Hut nicht trennen kann und sich dann schließlich doch wohler fühlt, wenn die Eheliebste ihn zum Kauf eines neuen gezwungen hat.) 2) Wurden im Faschismus – den Gehlen hier meint – die Menschen denn wirklich auf der ganzen Linie aus bestehenden Institutionen heraus gezwungen? War der Faschismus nicht vielmehr umgekehrt ein Weg, schlechte, überlebte Institutionen krampfhaft zu verteidigen und zu verewigen, in Spanien sogar mit den Mitteln militärischer Intervention von außen, gegen den erklärten Willen des Volks? Zu Seite 178, dritter Absatz: »Man kann auch zweitens keine Dauerinstanz usw.« Richtig! Aber das Angewiesensein auf Nahrung, Kleidung, Behausung usw. wirkt als ständige Triebfeder! Zu Seite 233, letzter, Seite 234, erster Absatz: Der Unterschied des »Status« von der »Rolle« könnte soziologisch tiefer gefasst sein, wenn er aus den Unterschieden von Feudalismus und Kapitalismus abgeleitet wäre.
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Zu Seite 237, zweiter Absatz, letzter Satz: Doch! Der Staat ist immer, seit er existiert, ein Instrument der Herrschenden zur Unterdrückung der beherrschten Gesellschaftsklassen, und eben dies ist das durchaus vorhandene gemeinsame inhaltliche Merkmal für das Negersultanat, Sparta, Rom, das ottonische Kaiserreich, Byzanz und – die Bundesrepublik. Zu Seite 242: Wieder Hofstätter. Hierzu wäre dasselbe zu sagen wie zu Seite 44. Zu ergänzen ist an dieser Stelle: Die Hofstättersche Zeremonialisierungsprognose lässt sich in keiner Weise mit dem Nicht-Gegensatz der beiden großen Parteien in USA belegen. Worum es sich hier vielmehr tatsächlich handelt, ist die Sicherung der Herrschaft der Großbourgeoisie durch einen Mechanismus, der es möglich macht, jede Opposition elastisch abzufangen. Dabei gibt es zwischen Demokraten und Republikanern in der Tat (wenigstens in der Regel) keine akuten Gegensätze; aber das heißt nicht, dass diese Gegensätze in der amerikanischen Gesellschaft überhaupt nicht existieren. Sie können nur nicht in einer das bestehende System gefährdenden Weise zum Austrag kommen. Und in Krisenzeiten kommt es vor, dass plötzlich die Scheingegensätze doch zum Ausdruck wirklicher Gegensätze werden und die Zeremonie auf einmal aufhört, eine zu sein, zum Beispiel in der ersten Roosevelt-Wahl (1932), bis zu einem gewissen Grade auch 1964 bei der Besiegung Goldwaters durch Johnson. So viel nur zur Begründung des Vorwurfs »Entökonomisierung der Soziologie«, der übrigens nicht Sie allein trifft, sondern die ganze neuere nichtmarxistische Soziologie seit Comte (nicht dagegen deren grandiose Erzväter, bei denen Nationalökonomie und Soziologie noch eine unlösbare Einheit bildeten: Saint-Simon, Fourier, Owen). Nun noch ein paar zusammenhanglose Einzelbemerkungen. Zu Seite 24: Nicht nur bei Menschen geht die Wahrnehmung in ihrer Überschussleistung weit über das Lebensnotwendige, ja, überhaupt Brauchbare hinaus: Sterne und Schatten werden auch von Schimpansen wahrgenommen. (Überhaupt ist mir in letzter Zeit durch Lektüre verschiedener Verhaltensforscher manches an dem scharfen Trennstrich, den Ihre Anthropologie auch in diesem Punkt zwischen Mensch und Tier zieht, doch wieder fraglich geworden. Haben Sie sich neuerdings mal mit den Delphinen beschäftigt? Wenn wir im Wasser lebten, würde ich sagen, dass diese Guten uns doch ziemlich nahe kommen. Und wenn wir Abkömmlinge nicht von Anthropoiden, sondern von Delphinen wären, müssten Sie in Ihrem Menschen wohl einiges noch umschreiben.)
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Zu Seite 28, zweiter Absatz: »Tatsachenverhalt«, »die Teilphasen der einen Serie antworten jeweils auf die der anderen«. Als Beispiel das Öffnen eines Schlosses mittels eines Schlüssels. »Dabei schwebt der Entwurf des stimmenden Verlaufs des Ganzen jeweils als ›Sollform‹ vor.« Gewiss, aber wem denn? Doch nicht dem Schloss! Auch nicht dem Schlüssel! Denen schwebt gar nichts vor. Die geläufige Trennung von Subjekt und Objekt lässt sich durch dieses Beispiel also doch wohl nicht aus der Welt schaffen und durch den Begriff »Tatsachenverhalt« ersetzen bzw. überbrücken. Zu Seite 31, erster Absatz: Die These von W. Grebe. Vergleiche hierzu die im Grunde dasselbe besagenden Ausführungen Ernst Blochs über das »Dunkle des gelebten Augenblicks« im Prinzip Hoffnung, I, zum Beispiel Kapitel 20, Seite 312 ff. Zu Seite 36, zweiter Absatz: Zusammenstoß von je eigenem Ethos im Menschen mit Institutionen. Diese Ausführungen wären noch wirkungsvoller, wenn sie durch literarhistorische Beispiele belegt würden (zum Beispiel Antigone usw.). Zu Seite 47, zweiter Absatz: Die Umwegigkeit des menschlichen Verhaltens ist auch von außen sichtbar, vorausgesetzt nur, dass man weiß, dass die jeweils bearbeiteten Gegenstände nicht unmittelbar lebensdienlich sein können. Zum Beispiel der Unterschied zwischen dem Buntspecht, der auf einen Baum, und Ihrer Stenotypistin, die auf ihre Schreibmaschine einhackt. Um diesen Unterschied von außen zu sehen, genügt es ja, zu wissen, dass die Brötchen, die das Mädchen sich vom nächsten Gehalt, das Sie ihr zahlen werden, kaufen wird, nicht in der Maschine drin stecken. Zu Seite 53, Zeile 9, v. u.: Druck- bzw. Schreibfehler. Richtig muss es heißen: »nichts von deinen Lebensmitteln« statt von »unseren«. Zu Seite 63, erster Absatz: Gehen die letzten beiden Sätze dieses Absatzes gegen Litt? Ich denke ja. Zu Seite 64, Zeile 9, v. u.: Derselbe Gedanke bis in die Formulierung hinein beim frühen Hegel, Glauben und Wissen: »der Hain der Hölzer (…)«. Zu Seite 66: Pagets Theorie, dass die Sprache erst 10 bis 30 000 Jahre alt sein, halte ich für ganz abwegig und vor allem mit den Grundsätzen Ihrer Anthropologie für völlig unvereinbar. Sie, Herr Gehlen, haben ja gezeigt, dass und warum die Sprache ein
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Konstituens des Menschen überhaupt ist, und das ist eines Ihrer größten Verdienste. Warum nennen gerade Sie jetzt Pagets Schluss ohne jede Spur einer kritischen Distanzierung bemerkenswert? Zu Seite 81, erster Absatz: Es wäre schön und dankenswert gewesen, wenn Sie in diesem Zusammenhang noch eine Polemik gegen Heideggers Anti-»Man« (SuZ, § 27) eingebaut hätten. Zu Seite 83, zweiter Absatz: »Der auftretende Gegenstand« bis »akutes Bedürfnis vorliegt.« Hier schrieb ich an den Rand: So kommt viel überflüssiger Beischlaf zu Stande. Zu Seite 97, zweiter Absatz: »Aus diesen Einsichten« bis »Möglichkeiten zulässt«: In irgend einer anderen Schrift von Ihnen (oder stammte sie von einem anderen Autor?) las ich in diesem Zusammenhang die sehr treffende Formulierung »Originalität von der Stange«, die hier auch gut am Platze wäre. Zu Seite 102: Mit dem Vulgärdualismus, der aus cartesischen und idealistischen Restbeständen gemischt ist, meinen Sie doch sicher die N. Hartmannsche Ontologie – oder? Ich habe mich aber mehr und mehr zu der Einsicht durchgerungen, dass man mit diesen neutralen Termini (»behalten« u. dgl.) den realen Unterschied zwischen Psychischem und Physischem unmöglich aus der Welt schaffen, ihn nur als Problem zudecken und auf sich beruhen lassen kann. Den wirklichen Fehler der Schichten-Ontologie sehe ich jetzt woanders (davon mal in einem späteren Brief ). Übrigens würde ich den N. Hartmannschen Vulgärdualismus nicht einen cartesisch-idealistisch gemischten nennen, sondern eher eine durch Descartes vermittelte Kreuzung zwischen Platon und Büchner-Vogt-Moleschott. Zu Seite 104: »Das Wort Geist ist kein Dienstsiegel.« Wieder gegen Litt? Zu Seite 106, vierter Absatz: Da ist zunächst die Sache usw.: Geht gegen Sartre, ja? Zu Seite 107, zweiter Absatz: Neu zu bemerken ist jetzt usw.: Statt »Beobachtung« müsste es »Selbstbeobachtung des Verfassers« heißen, denn nur angeborene Bescheidenheit verbietet Ihnen, zu sagen, dass Sie in diesem Absatz ein Selbstporträt von sich geben. So jedenfalls würde ich Sie sehen.
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Zu Seite 108: Hier bin ich ernstlich böse. Wie konnten Sie Hitler einen Revolutionär nennen und sich in einem Atemzug auf ihn und auch Marx und Lenin beziehen? Nie hat Hitler die Gesellschaft verändern wollen, vielmehr wollte er sie samt allem Schlechten, das es in ihr gab, krampfhaft, gewaltsam, mit terroristischen Mitteln erhalten, und eben deswegen brauchte er das Asyl auch nicht; denn der »Asylschutz, missbrauchter Grundrechtsartikel« – was ist das überhaupt???? Zu Seite 112: Bei den Griechen »natürlich« kein Monotheismus oder nur sporadisch? Ich denke nein! Denken Sie an Xenophanes. Sporadischer Monotheismus bei Platon, bei Aristoteles nicht-sporadischer. Bei Epikur zwar Götter (Plural, in den Intermundien), aber von der Welt zurückgezogene, womit der gleiche Effekt der »Neutralisierung der Faktenaußenwelt« erreicht ist. Zu Seite 114, erster Absatz: Genauer. 1) In gewissem Sinne gibt es im Mittelalter wieder einen Polytheismus und eine Bevölkerung der Welt mit Geistern. 2) Dem Descartes ist die Anknüpfung an Griechisches (in der Renaissance) vorausgegangen. Zu Seite 114, zweiter bis vierter Absatz: Alles vollständig richtig, nur müsste hier, um einem historisch-relativistischen Missverstehen vorzubeugen, klar gesagt werden, dass die moderne Weltanschauung die wahrere und darum höher stehende ist. Zu Seite 116: Zeiterfassung. Diese Darlegungen bestätigen, dass die Raum-Zeit-Konzeption der Relativitätstheorie ein raffiniert begründeter Rückfall in primitives Denken und die Polemik Einsteins gegen die angebliche Anschauungsgebundenheit der so genannten »klassischen« Raum-Zeit-Vorstellung reine Demagogie ist. Zu Seite 116, dritter Absatz: Die beiden Bereiche der Faktenaußenwelt: a) Rohstoff, der in unsere Kultur eingeht, b) der unergiebige Bereich des schlicht Vorhandenen. Zwischen beiden Bereichen liegt der, der auf dem Wege der Verwendung des erstgenannten Bereichs mitbetroffen, aber nicht zu irgendeinem menschendienlichen Zweck verwendet wird, jedoch auch nicht nur »schlicht vorhanden« ist (Klimaänderung durch Waldraubbau usw.). Zu Seite 117, erster Absatz: Wissenschaftsgeschichtliche Ergänzung hierzu: So setzte die klassische Nationalökonomie (Smith, Ricardo) die Kategorien der Warenproduktion und namentlich des Kapitalismus absolut und fasste sie als einzig naturgemäß auf.
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Die damals noch vorhandenen feudalen Wirtschaftsweisen galten dann als unnatürlich, der Natur »des« Menschen schlechthin widersprechend. Hier hat erst Marx die historische Relativität des »Natürlichen« entdeckt und dabei zugleich als erster den Gedanken ausgesprochen, dass es für die »Natur des Menschen« gerade bezeichnend ist, dass die unterschiedlichsten und gegensätzlichsten Produktionsverhältnisse ihr natürlich sein können, vorausgesetzt nur, dass sie die Bedingungen erfüllen, der Entwicklung der Produktion selbst auf die Dauer förderlich zu sein. Das gleiche Argument, mit dem Marx so, im Namen des Sozialismus, die historische Vergänglichkeit des Kapitalismus begründete, diente ihm dazu, der Sklaverei und dem Feudalismus historisch besser gerecht zu werden, als es die Smith und Ricardo vermochten. Zu Seite 118, zweiter Absatz, Anfang: »Anthropologisch muss man sich darüber klar sein, dass es eine vorkulturell fassbare menschliche Natur überhaupt nicht gibt.« Sehr, sehr wahr! »Der Mensch kann keine direkten zutreffenden Aussagen über sich machen, er fasst sich nur über sein Nichtmenschliches hinweg.« Auch sehr richtig. Aber wieso folgt das eine aus dem anderen? Wieso hat der erste Sachverhalt in dem zweiten seine, wie Sie schreiben, Ursache? Das vermag ich nicht einzusehen. Ich sehe hier beim besten Willen keinen Zusammenhang, keine Möglichkeit, die eine These mit der anderen zu begründen. Zu Seite 122, erster Absatz: Das zwischen Gut und Böse Schweben, der Mensch Dantes und Shakespeares, Balzacs und Tolstois. Das schlagendste Beispiel hierfür findet sich jedoch bei – Victor Hugo, und zwar in dem Kapitel in Les Misérables, wo Jean Valjean sich zu dem Entschluss durchringt, für den ihm ähnlichen unschuldigen Angeklagten selbst ins Bagno zu gehen. Dieses Kapitel ist für Sie eine anthropologische und ethische Fundgrube, Sie sollten es unbedingt einmal lesen und daraufhin durchdenken. Zu Seite 122: Zwischen dem zweiten und dritten Absatz scheint mir der Zusammenhang unklar zu sein. Zu Seite 125, erster Absatz: Die treffendsten Ausführungen über das »Meinen«, die »persönliche Meinung« bei Hegel (namentlich in der Rechtsphilosophie), ganz in Ihrem Sinne.
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Zu Seite 149 (erster Absatz, das heißt letzter Absatz von Kapitel 27) und Seite 166 (erster Absatz): Diese beiden, in Ihrem Buch voneinander getrennten Stellen sollten Sie einmal zu einem Ganzen ineinander arbeiten, dann haben Sie eine komplette neue Theorie der Entstehung des Ichbewusstseins geschaffen, die jetzt in der Fülle dessen, was Sie zu bieten haben, untergeht und schwer bemerkt wird. Gäbe es ein Nobelpreis für Philosophie, so müsste er Ihnen hierfür allein schon verliehen werden. Warum stellen Sie dieses Licht (aus Ihrem strahlenden Weihnachtsbaum) so unter den Scheffel? Manchmal kann man Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie Ihre Funde nicht gut an den Mann zu bringen verstehen. Zu Seite 150, Zeilen 4–8, v. o.: Beschränkt sich die Auslöserwirkung in der Regel auf einen Gefühlsstoß??? Na, da muss ich aber sehr bitten: Unsere Erektionen sind etwa nichts? Zu Seite 150, letzter Absatz: Hier wäre m. E. zu ergänzen, dass das von Lorenz aufgedeckte Instinktresiduum der Kinderpflege bei uns Menschen einerseits so weit »aufgefächert« ist, dass es, wie Sie richtig sagen, »alles Hilflose, Kleine, Rundliche noch in sich hineinnimmt«, andererseits aber auch, wieder, und das sagen Sie mir, so labil und eben bloß residual, folglich durch andere, entgegengesetzte Motive ausschaltbar ist, dass leider die Kindsmörderin oder eine Ungeheuerlichkeit wie der SS-Mann, der es fertig bringt, die Köpfe jüdischer Babys an einer Wand zu zerschmettern, zu den Menschenmöglichkeiten gehören. Zu Seite 160, letzter Absatz: Kennen Sie die Stelle bei Balzac, in Père Goriot, wo der eine Held dem anderen auseinandersetzt, dass jeder zum Morden fähig sei, und das damit begründet, dass er selbst, obwohl ein sanftmütiger Mensch, es ohne weiteres fertig bringen würde, einen anderen zu töten, wenn der ihm nur fremd genug und weit genug entfernt sei? Wenn ihm zum Beispiel jemand, so sagt er, eine große Summe Geldes dafür böte, dass er einmal mit dem Kopf nickt, so würde er auch dann nicken, wenn er mit absoluter Sicherheit wüsste, dass durch eben dieses Nicken gleichzeitig in China ein Mandarin sterben muss. Das ist die schlagendste Polemik gegen das Ideal der »Fernstenliebe« und dessen verblasene Abstraktheit, die mir je bekannt geworden ist. Zu Seite 161, letzte zwei Zeilen, bis Seite 162, erster Absatz: Ist hier indirekte Polemik gegen Sartre beabsichtigt?
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Zu Seite 163, zweiter Absatz: Und doch gibt es auch heutzutage noch das Phänomen einer Virulenz bloßer Worte. Zu Seite 163 letzte Zeilen bis Seite 164, Anfangszeilen: Also Analogie des biogenetischen Grundgesetzes im Geistigen: Der Grundgedanke der Hegelschen Phänomenologie. Zu Seite 166: Siehe meine Bemerkung zu Seite 149! Zu Seite 167, zweiter Absatz: »Das oft gerühmte Erlebnis der Gemeinschaft« bis »dies ist das Problem des Totemismus.« Fundamentaler scheint mir dies zu sein: Dass das Gemeinschaftsbewusstsein der Gruppe sich aus der Begegnung (feindlichen oder friedlichen) mit anderen Gruppen und deren besonderen Gebräuchen, Sprache usw. ergibt. (»Wir« und »die anderen«.) Zu Seite 170: Begriff »Hunger« hochabstrakt? »Bedürfnis« ja, aber »Hunger«??? Zu Seite 182, erster Absatz: Mehr noch: Der Imperativ nimmt geradezu eine instinktive Färbung an. Das doch sozial bedingte Inzesttabu erzeugt Ekel vor der Geschlechtlichkeit der eigenen Schwester und Mutter und macht die Vorstellung, diese zu begatten, unvollziehbar. Zu Seite 192, zweiter Absatz (letzter Absatz von Kapitel 33): Nur um den Preis der Unfähigkeit usw. Das liegt aber nicht an der Naturerkenntnis als solcher, sondern daran, dass deren Rationalismus noch nicht auf die Entwicklung der Gesellschaft ausgedehnt ist. Diesen entscheidenden Schritt tut dann der Marxismus. Zu Seite 199, letzter Absatz: Daher ist der subjektive Idealismus notwendige Entwicklungsstufe des philosophischen Gedankens – ohne ihn keine Abhebung des Subjektiven von der (objektiven) Situation, als deren Bestandsstück es (das Subjektive) unreflektiert erlebt worden war. Zu Seite 230, zweiter Absatz: »In Küchenabfällen« bis »kultischen zu erklären.« Hier teilweiser Widerspruch zu Seite 20. Zu Seite 258: »Überwältigende Indifferenz«. Lieblingsformulierung Nicolai Hartmanns.
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Zu Seite 262, Zeile 9: »Wie wir sahen«. Hier würde ich einfügen, vgl. S. 186 ff. Zu Seite 283, erster Absatz, erster Satz: »Die inneren Folgen für die Menschheit sind noch nicht abzusehen.« Wieso inneren Folgen??? Zu Seite 289: Großes, großes Fragezeichen!! Zu Seite 295/296: Großes Fragezeichen zu den letzten drei Absätzen des Buchs. Damit mag es für heute genug sein. Das nächste Mal will ich mich zu den Zeit-Bildern äußern, was mir allerdings schwer fallen wird, weil es hier fast nur Zustimmung gibt und es sich in den Punkten, in denen ich etwas anderer Auffassung bin, eigentlich nur um gustibus handelt, über die bekanntlich non disputandem est. Mit den herzlichsten Grüßen bin ich Ihr
Brief an Arnold Gehlen47 (27. November 1969) Lieber Herr Professor Gehlen! Nach langen Jahren melde ich mich heute wieder einmal bei Ihnen, und ich tue es diesmal deswegen, weil ich Sie schonend darauf vorbereiten und gleichzeitig um Ihr Verständnis dafür bitten möchte, dass ich ein Büchlein geschrieben habe, worin unter anderem auch gegen Sie heftig polemisiert wird. Ich darf Sie kurz über den Zusammenhang aufklären. Wie Sie sich leicht vorstellen können, bin ich stark interessiert an dem Phänomen »unruhige Jugend« in der Bundesrepublik und in Westberlin. Interessiert soll heißen: Ich betrachte es mit sehr gemischten Gefühlen – einerseits erfreut über den auffälligen Linksrutsch, andererseits aber auch besorgt über den vielen Blödsinn, der da mit hoch geschwemmt wird und der der Linken, wie ich glaube, so schadet (angefangen beim Kreieren bizarrer Haarmoden über die Promiskuität in so genannten »Kommunen« bis zu einer sich apolitisch verzettelnden Gewalttätigkeit gegen untaugliche Objekte). Bei diesen – vom marxistischen Standpunkt aus negativen und desorientierenden – Erscheinungen handelt es 47
(AH) 3 Blatt, maschinenschriftlich, 27. November 1969.
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sich offensichtlich um ein Wiederaufleben des lange Zeit, seit dem Fall Barcelonas Anfang 1939, totgeglaubten Anarchismus, um Absurditäten also, die nicht gar so neu und originell sind, wie sie zu sein glauben, die es vielmehr beim alten Bakunin und den Seinen auch schon gegeben hat. Es ist diese Erkenntnis, die mich dazu veranlasst hat, jetzt eine Schrift mit dem Titel Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. Eine Abrechnung mit dem alten und dem neuen Anarchismus abzufassen.48 Im Untertitel hätte ich sie ebenso gut auch ein »Vademecum für westdeutsche linke Studenten« nennen können. Ich vermied das nur, weil ich finde, dass man politische Polemik grundsätzlich an politische Richtungen adressieren soll und nicht an biologische Kategorien von der Art der Generationen. Wahrscheinlich werden Sie nun erstaunt fragen, was denn Sie um Himmels willen damit zu tun hätten und was in einer solchen Arbeit eine Auseinandersetzung ausgerechnet mit Ihnen zu suchen habe. Sie haben recht, zu den Erzvätern der APO gehören Sie, weiß Gott, nicht. Aber: Ihre so konservativ gemeinten Warnungen vor dem »Verunsichern von Institutionen« (zum Beispiel in Urmensch und Spätkultur, Bonn, 1956, p. 27, 74, 99, 118 f., 284) sind nichtsdestoweniger von dem neoanarchistischen Flügel der vielflügeligen APO, nachdem die Frankfurter Soziologie-Studiosi anscheinend durch Adorno darüber belehrt worden, dass Institutionen dem Menschen abträglich seien, dass sie dessen »autonome Subjektivität« ersticken würden usw., aufgegriffen und in den Schlachtruf »Auf, lasst uns die Institutionen verunsichern!« umgepolt worden, wobei übrigens – und ich vermute Ihren sprachschöpferischen Prioritätsanspruch – die von Ihnen einst geprägte Vokabel »Verunsichern« gleich Duden-reif wurde, so verbreitet ist sie jetzt. Da konnte ich es mir nicht versagen, den ungebärdigen jungen Leuten klarzumachen, dass die Umkehrung des Wortakzents, die Auswechselung des bei Ihnen negativen gegen ein positives Vorzeichen sie (kleingeschrieben) nicht davor schützt, die – verzeihen Sie bitte! – pauschale Abstraktheit und Uferlosigkeit Ihres Institutionenbegriffs unbewältigt in die neue linksextremistische Ideologie mit hinüber zu nehmen, mit dem Erfolg, dass im Zeichen dieser Ideologie nun nicht etwa gegen die gesellschaftlich 48
(AH) Das 1971 erschienene Werk liegt in dieser Edition neu gedruckt vor (Band 7, S. 81–220). Der Band enthält zudem den umfangreichen Nachtrag, den Harich 1972 verfasste: Die Baader-Meinhof-Gruppe. Ein Interview (ebd., S. 223–386). In Zur Kritik der revolutionären Ungeduld beschäftigt sich das Kapitel VI. Exkurs über die Ideengeschichte des Verunsichern von Institutionen mit Gehlen (ebd., S. 141–169).
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präponderanten Institutionen, auf die es, nach Marx und Lenin, ankommt, aufbegehrt wird, sondern diffus gegen Autoritäres überhaupt und in jeder Form, ganz so, wie es der klassische Anarchismus auch schon tat, wenn er amtliche Akten verbrannte, antiautoritäre Kindergärten gründete und sinnlose Bombenanschläge verübte. Schon damals – sage ich den Neoanarchisten –, schon im Heroenzeitalter der Internationale von Saint-Imier ist bei alledem so gut wie nichts herausgekommen, und auch heute kann nichts dabei herauskommen, es sei denn, dass die Revolution kompromittiert wird. Und ich füge hinzu: Erstens kann die Revolution sehr, sehr viele alte Institutionen, ohne Schaden an ihrer Seele zu nehmen, ein paar Generationen lang unbehelligt stehen lassen und ruhig abwarten, wie eine klüger gewordene Zukunft sie modeln, umfunktionieren und, gegebenenfalls, auch zum Absterben bringen wird (was sogar für die ja in allen sozialistischen Ländern, mit Ausnahme Albaniens, tolerierten Kirchen gilt, erst recht natürlich für die monogame Familie), und zweitens bedarf sie, die Revolution, selbst massiver Institutionalisierung, wenn sie mit der einen alten Institution, die in der Tat vernichtet zu werden verdient, nämlich mit dem kapitalistischen Privateigentum an den Produktionsmitteln, gründlich und auf die Dauer fertig werden will – was eben nur mit Hilfe höchst autoritärer, repressiver Mittel möglich ist. Ich frage Sie, verehrter Meister, würden Sie an meiner Stelle es sich nehmen lassen, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass Adornos APO-inspirierendes Nein zu den Institutionen mit Gehlens Bejahung und Verteidigung derselben jene pauschale Abstraktheit teilt, die den Primat der ökonomischen Basis der Gesellschaft, der Besitzverhältnisse, und die ausschließliche Relevanz politischer Fragen im Klassenkampf verstellt? Würden Sie es fertig bringen, diese Trumpfkarte nicht auszuspielen gegenüber einer Pseudorebellion, die von Ihrer Soziologie so weit entfernt zu sein glaubt wie von der Politik des weiland Dr. Adenauer? Darauf zu verzichten, brachte ich nicht übers Herz. Um so weniger, als ja obendrein auch noch der Begriff »Verunsichern«, wie viele Gehlen-Begriffe »psycho-physisch neutral«, d. h. diesesfalls: die Unterscheidung von aufklärerischer Theorie und revolutionärer Praxis dahingestellt sein lassend, dem neoanarchistischen Tun und Treiben so überaus zupass kommt. Denn: Wo die Marxisten eine Institution, die sie als fortschrittshemmend betrachten, entweder zerstören oder sie, falls ihre Kräfte dazu nicht ausreichen, theoretischer Kritik unterwerfen, da entfalten die Anarchisten gegen sie (die Institution) eine Aktivität, die praktisch noch viel weniger ausrichtet als bloße Kritik, aber, weil sie die Form des
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Handelns hat, zu der wohltuenden Einbildung zu berechtigen scheint, man lasse es nicht bei Worten bewenden, sondern vollbringe Taten. Und eben für dieses unklar schillernde Mittelding von subversiver Praxis und subversiver Theorie, das die »Propaganda durch die Tat« schon immer war, passt der Terminus »Verunsichern« ausgezeichnet. Schon Bakunin wäre schier entzückt gewesen, hätte bereits ihm dieses Wort zu Gebote gestanden. Schon er »verunsicherte« die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts sein Lebtag lang, während Marx sich, nach dem Scheitern der Revolution von 1848, gelehrter Arbeit zuwandte – wofür Anarchisten nur Verachtung übrig haben. Besagte Schrift von mir wird übrigens zunächst in einer um vier Fünftel ihres eigentlichen Umfangs verminderten Kurzfassung vorab gedruckt werden, und zwar in dem demnächst erscheinenden Anarchismus-Heft des Kursbuch (Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main). In dieser gekürzten Fassung werden Sie und Ihre Warnungen vor dem »Verunsichern von Institutionen« nicht vorkommen, ebenso wenig wie Adorno mit seinem Verdikt des Institutionellen überhaupt. Aber dann, 1970, wird die Schrift im ganzen erscheinen, ich weiß nur noch nicht, bei welchem Verlag, möglicherweise zuerst in der DDR, vielleicht aber auch erst (oder sogar nur) im Westen.49 Auf die Kurzfassung 49
(AH) Im Frühjahr 1969 kam von Hans Magnus Enzensberger die Einladung zur Beteiligung am Kursbuch Nummer 19, das der Anarchie-Problematik gewidmet sein sollte. Es ist nicht klar, warum Enzensberger Harich ausgerechnet zu diesem Thema als Autor wollte, eventuell ging dies auf verschiedene Gespräche etc. zurück. Harich sagte seine Mitarbeit zu und begann zügig mit der Herstellung des Manuskript. Doch während der Arbeit verselbständigten sich Gedanken und Text und aus dem geplanten Aufsatz wurde ein Buch. Der ihm nun vorliegende Text war für das Kursbuch viel zu lang. Harich nahm das fertige Manuskript und kürzte es zusammen. Verschiedene Passagen oder Kapitel ließ er dabei ganz weg, allerdings blieb die Originalstruktur voll erhalten. Der so entstandene Text (dessen Anmerkungsapparat ebenfalls reduziert wurde) umfasste insgesamt 43 Seiten des Kursbuchs und erschien unter dem Titel Zur Kritik der revolutionären Ungeduld. (In: Kursbuch 19, Dezember 1969, S. 71–113.) In dem ersten Nachtrag zur Buchversion der Basler Auflage berichtete Harich 1970 wie folgt über den Entstehungsprozess der Anarchie-Studien: »Die vorliegende Arbeit ist im Frühjahr 1969 von Hans Magnus Enzensberger und Karl Markus Michel angeregt worden, die damals das Kursbuch-Heft 19 (Kritik des Anarchismus) vorzubereiten begannen und u. a. auch an mich die Aufforderung richteten, dafür einen Beitrag zu schreiben. Als ich die Niederschrift, nach mehrmaliger Unterbrechung, im November beendet hatte, war das Manuskript für den vorgesehenen Zweck viel zu umfangreich geraten und der mir gesetzte Termin bereits leicht überschritten. Um die Redaktion nicht im Stich zu lassen, musste ich binnen weniger Tage für das Kursbuch eine Kurzfassung herstellen. Von den acht Abschnitten des Originals fehlen in ihr drei ganz, die übrigen sind durch Streichungen stark reduziert. Im Dezember 1969 ist sie erschienen. Eine Gelegenheit, den ungekürzten Text zu veröffentlichen, bietet sich
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im Kursbuch legte ich deswegen Wert, weil die Zeitschrift zu den Leib- und Magenblättern der »Neuen Linken« gehört und ich deren neoanarchistische Neigung vor allem »verunsichern« helfen möchte. Indes unter Enzensbergers redaktioneller Regie gegen Sie polemisieren, das wollte ich denn doch nicht. Daher – und nicht nur aus Raummangel – die Kürzung und gerade diese spezielle Kürzung. Fürs Weihnachtsfest wurde mir von befreundeter Seite Ihr neuestes Buch als Geschenk in Aussicht gestellt. Sie sollen darin – sagt man mir – das Ende der Geschichte konstatieren. Ich bin sehr gespannt und werde, wenn ich’s gelesen habe, wieder von mir hören lassen. Mit herzlichen Grüßen derweil, auch an Fräulein (oder Frau) Tochter bin ich Ihr
Brief an Arnold Gehlen50 (27. Februar 1974) Lieber Arnold Gehlen! Ich habe Ihnen lange – seit 1969 – nicht mehr geschrieben, weil ich mir Ihr Schweigen auf die gegen Sie gerichtete Polemik in meiner Schrift Zur Kritik der revolutionären Ungeduld nur so erklären konnte, dass Sie mir böse seien, und ich das auch völlig verständlich fand und über die Sache erst einmal »Gras wachsen lassen« wollte. Später war dann ich Ihnen böse, weil ich bei jeder neuerlichen Beschäftigung mit Ihnen fand, Sie hätten mit der Rezeption und Adaption der Freud-Lorenzschen Aggressionstrieb-Geschichte »Verrat« begangen an Ihrer einstigen, von mir sehr geliebten »Ablehnung der Trieblehren« (Der Mensch, 1. Aufl., Berlin, 1940, p. 373 ff.). So ging denn in meinem »Antriebsüberschuss« der Antrieb unter, Ihnen unter Aufbietung aller Liebenswürdigkeit, die mir zu Gebote steht, und mit vielen Bitten um menschliches Verständnis zu erklären, dass ich in der Auseinandersetzung mit meinen anarchistisch irrenden Brüdern unmöglich auf den Einfall verzichten konnte, diese mit dem Nachweis zu beschämen,
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mit erst jetzt.« (Band 7, S. 208.) Doch wohin mit dem vollständigen Manuskript? Das Buch erschien schließlich 1971 in Basel, in der bis zu diesem Zeitpunkt gänzlich unbekannten, da neu gegründeten »edition etcetera« (Basel, 1971). Im 7. Band ein Nachwort des Herausgebers (Die Entstehung von Harichs Schriften zur Anarchie, S. 451–472), das ausführlich über Entstehungs- und Druckgeschichte von Harichs Anarchie-Studien berichtet. (AH) 3 Blatt, maschinenschriftlich, 27. Februar 1974.
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ausgerechnet von Ihnen indirekt geistig abhängig zu sein. (Stellen Sie sich vor, Georg Strasser hätte 1932 bei Hitler eine jüdische Großmutter entdeckt, und Sie werden, bei aller Gekränktheit, meine Triumph Gefühle verstehen, als ich bei den APO-Anarchisten die Formel vom »Verunsichern der Institutionen« wieder fand.) So wäre unsere Beziehung, die sonst nächsten Silberhochzeit feiern könnte – denn 1949 (oder 1950) schrieb ich Ihnen zum ersten Mal –, beinahe definitiv in die Brüche gegangen, und darüber war ich, sobald mir das in der Großhirnrinde aufflackerte, jedes Mal sehr deprimiert. Doch da erfuhr ich plötzlich, zu meiner riesengroßen Freude, Sie seien bereit, mit mir (und mit Augstein; ursprünglich war obendrein auch noch Enzensberger vorgesehen) in Düsseldorf, am 2. April, öffentlich über »Pessimismus und Optimismus heute« zu diskutieren. Jetzt ist es mir ein Bedürfnis, Ihnen dafür von ganzem Herzen zu danken, und Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich darüber freue, Sie bei dieser Gelegenheit nach so langer, langer Zeit wieder zu sehen. Hoffentlich finden auch Sie, dass wir es bei der Absolvierung des Disputierpensums coram publico nicht bewenden lassen, sondern hinterher, etwa bei askese-freiem Mahl (unser wohlhabender Gesprächspartner aus Hamburg wird sich ja wohl nicht lumpen lassen), die Chance zu persönlicherer Kommunikation ausgiebig wahrnehmen sollten. (Am 3. oder 4. April, je nachdem, wie lange mein Ausreisevisum befristet sein wird, werde ich dann wieder in die DDR zurückkehren.) Lassen Sie mich, um denkbare Missverständnisse auszuräumen und um unsere Begegnung am 2. April vorsorglich zu »entlasten«, noch folgende »Grundsatzerklärung« über meine heutige Einstellung zu Ihnen andeuten: 1) Sie sind für mich einer der geistvollsten Menschen, die heute unseren überbevölkerten Planeten bewohnen (und, ausnahmsweise, nicht übervölkern), und darunter wieder der brillanteste deutschsprachige Stilist, soweit jedenfalls die Prosa theoretischer Texte in Betracht kommt. (Ohne Formulierungsanleihen bei Ihnen käme ich gar nicht aus.) 2) Ich hege nach wie vor Bewunderung für all das an Ihrer Doktrin, was sich damit begnügt, philosophische Anthropologie zu sein, d. h. das qualitative Novum des Menschen auf den Begriff zu bringen. Mit diesen Aspekten Ihrer Werke haben Sie sogar, finde ich, ungewollt einen unentbehrlichen Eckstein für das Weltbild des Marxismus geliefert, wofür wir Ihnen irgendwann einmal, im 21. Jahrhundert, ein Denkmal werden errichten müssen. (Und darin, dass ich hierauf 1955 den – damals in Bezug
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auf Sie völlig ahnungslosen – Georg Lukács aufmerksam gemacht habe, der dann auch prompt partialer Gehlenianer wurde, besteht mein größtes, wahrscheinlich einziges Verdienst um die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie. Ich gleiche da so quasi jenen – an sich belanglosen – Ortschaften wie Bebra oder Hof, die im Kursbuch als Eisenbahnknotenpunkte wichtig sind.) 3) Meine unter Punkt 2 bezeugte Bewunderung für Sie ist leicht eingeschränkt, wie gesagt, seit Sie den Aggressionstrieb anerkennen. Meine Verabschiedung Freuds sträubt sich dagegen, und Schuster Lorenz, finde ich, sollte bei seinen Leisten, den Graugänsen nämlich, bleiben und Aussagen über Menschliches (auch Allzu-Menschliches) besser ganz sein lassen. Aber: Der anerkannte Aggressionstrieb steht so verquer in Ihrem Menschenbild, dass er sich von den linken Adepten, die Sie haben, leicht wieder daraus wird entfernen lassen – so wie das Obskure des späten Schelling aus dessen verdienstvoll-pantheistischer Naturphilosophie, ohne die Feuerbach nicht denkbar wäre. 4) Da, wo Sie über Geschichtlich-Gesellschaftliches sprechen und immerfort die Institutionen zu stabilisieren empfehlen, betrachte ich Sie als Erz-Klassenfeind. Hier bin ich mit allen Fraktionen der Linken, von Ulrike Meinhof bis, sagen wir, Augstein, rabiat gegen Sie; denn die Institution schlechthin ist im Westen (aber auch uns durch Fernwirkung, Aufzwingen von Abwehrmaßnahmen etc. viel Verdruss bereitend) nun einmal das kapitalistische Privateigentum, und das muss eben weg. 5) Was aber wiederum nicht ausschließt, dass ich andere Dinge, an denen Ihr preußisch-konservatives Herz hängt (bzw. die von Ihnen betrauert werden, falls es Sie nicht mehr gibt), auch meinerseits erhalten zu sehen wünschen. Das reicht von den großgeschriebenen Substantiven in der deutschen Rechtschreibung, die ich mit Klauen und Zähnen verteidige, über alles in der Kunst Unübertroffene (Renaissance-Malerei, Verse Goethes etc.) bis zum guten Benehmen bei Jugendlichen (das Letztere eingedenk der Tatsache, dass Robespierre die Manieren eines Rokoko-Kavalier hatte und die Söhne von Justizrat Marx in Trier und Oberschulrat Uljanow in Simbirsk aus durchaus guter, strenger Kinderstube kamen). Ja, ich gestehe, sogar den preußischen Stechschritt zu goutieren, den es ja nur noch auf Paraden der DDR-Armee und beim Aufziehen der Wache vor dem Ehrenmal Unter den Linden gibt, während Scharnhorst und Gneisenau daneben freundlich und etwas verblüfft von ihren Denkmalssockeln herab blicken. Nur eben: Dies Altbewährte kriegt oft ein historisch gutes Gewissen erst wieder dadurch, dass die Reichen verschwinden und nur noch Leistung fürs Ganze,
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Vermögen aber gar nichts mehr gilt. Nein: Den Kapitalismus schenke ich Ihnen nicht für Ihre Institutionen-Sammlung. Den nicht. Zum Diskussionsthema des 2. April schweige ich mich besser aus. Da sollten wir unvorbereitet und unabgesprochen aufeinanderprallen, und nicht einmal das werde ich Ihnen verraten, ob ich für (oder gegen) den Optimismus (oder Pessimismus) bin. An Persönlichem gibt’s zu berichten, dass nach wie vor die Gisela May die Meine ist (leider liegt sie im Moment im Krankenhaus mit einer – nun aber glücklich abklingenden – Thrombose) und dass ich ein ganz dickes Buch über Jean Paul (630 Druckseiten à 44 Zeilen) geschrieben habe, das im Mai in der DDR, im Juni in der BRD erscheinen wird. Bei uns will es die bedauerlichste Lücke, die Lukács in seiner Interpretation deutscher Klassik offen gelassen hat, ausfüllen und bei Euch zugleich die jugendliche Linke, unter Zuhilfenahme eines dezidiert demokratischen Klassikers, zu Respekt vor großer Kulturleistung zurückführen helfen. (Der Jean Paul des revolutionsfreundlichen Titan, so zeige ich, bekämpfte den Wilhelm Meister, wie überhaupt Goethe, nicht nur, sondern ging bei ihm auch in die Lehre – man kann das miteinander vereinbaren, und nichts ist dümmer als linke Pauschalverwerfung großer Tradition, wie man sie in Sachen Goethe etwa bei Börne fand.) Irgendwann im Frühjahr müssen Sie den 70. Geburtstag haben. Ich erinnere mich nicht mehr an den genauen Tag und muss daher den sehr von Herzen kommenden Glückwunsch dazu terminlich hiermit etwas ins Blaue hinein loslassen. Grüßen Sie auch Ihre Tochter, die mir als Vierzehnjährige noch lebhaft vor Augen steht. Seien Sie selbst voller Vorfreude auf den 2. April herzlichst gegrüßt von Ihrem (AH: Handschriftlicher Zusatz:) Hat Ihnen Rowohlt meinen Aufsatz Der entlaufene Dingo, das vergessene Floß geschickt? Ich bat darum.
Brief an Arnold Gehlen51 (07. April 1974) (AH) Von dem Brief existiert eine frühere Variante, datiert auf den 31. März 1974, 5 Blatt, maschinenschriftlich, die mit dem im Folgenden abgedruckten Brief weitgehend identisch ist. 51
(AH) 6 Blatt, maschinenschriftlich, 07. April 1974.
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Harich hatte lediglich einige einzelne Punkte etwas ausführlicher dargestellt. Von daher wird auf den Abdruck verzichtet.
Lieber Herr Gehlen! Im Sinne meines Telegramms vom 30. März wollte ich Ihnen eigentlich schon vor einer Woche schreiben, habe es dann aber doch noch etwas vertagt, um bei der Gelegenheit gleich zu den – damals noch ausstehenden – Presseberichten Stellung nehmen zu können. Diese liegen nun vor, und soweit sie mir bekannt geworden sind, kommt der Artikel im Tagesspiegel, vom 31. März, der Wahrheit am nächsten, während der in der Süddeutschen Zeitung, trotz nicht ganz richtiger Darstellung des von mir Erlebten und erstaunlicher Unterbewertung der Rolle, die Augstein in unserem Gespräch hätte spielen sollen, doch noch einige entlarvende Details über das Verhalten des WDR mitteilt, die mir neu waren (siehe die Süddeutsche vom 3. April, Feuilleton). Aus meiner Sicht stellt sich der Fall folgendermaßen dar. Herr Hölters vom ASG-Bildungsforum Düsseldorf hatte mir im Oktober 1973 in Aussicht gestellt, dass unser Streitgespräch vom Fernsehen des WDR Köln für das III. Programm aufgezeichnet werden würde. In dem Schreiben, worin ich um eine Ausreisegenehmigung ersuchte, habe ich damals auch dies dem Kulturminister der DDR, Hans Joachim Hoffmann, mitgeteilt. Ende des vorigen Jahres erfuhr ich dann durch Hölters, dass nunmehr diese Aufzeichnung fest zugesichert worden sei. Ich unterrichtete davon meinen Vorgesetzten, den Direktor des Verlages der Akademie der Wissenschaften der DDR, Dr. Werner Mußler, der, auf Anweisung des Kulturministers, meine Fahrt nach Düsseldorf, als Dienstreise für den Verlag deklariert, formell beantragen sollte. Gegen die Fernsehaufzeichnung gab es hierorts keine Einwände, ebenso wenig wie gegen unser Gespräch. Beides war vom Minister, in einem persönlichen Telefongespräch mit mir am 10. November, genehmigt worden. Am 21. März 1974 rief mich plötzlich Herr Hölters an, um mir, stark verärgert, zu eröffnen, dass die Aufzeichnung für das III. Programm nicht zu Stande kommen werde. Der WDR sei »an Gehlen und Augstein nicht interessiert«; die könne er »immer haben«. Herr Höfer wolle stattdessen mit mir allein ein großes Interview für das I. Programm des Fernsehens veranstalten. Dies sei ihm, Hölters, durch Herrn Falkenberg vom WDR, einem der engsten Mitarbeiter Höfers, erklärt worden mit dem Zusatz, zu Harich hätte der WDR »sowieso den älteren Draht« (was sich wohl auf einstige
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Chanson-Sendungen Gisela Mays für den WDR und eine von da her datierende flüchtige Bekanntschaft zwischen ihr und Höfer bezog). Auf Hölters Anfrage, was ich davon hielte, antwortete ich (sofort, am Telefon), ich dächte nicht daran, bei dieser dreckigen Geschichte mitzumachen. Erstens sei ich nicht bereit, die Ausschaltung meiner beiden westdeutschen Gesprächspartner hinzunehmen, und erst recht käme es für mich gar nicht in Frage, eine Solo-Publicity bei denselben Leuten einzuheimsen, die meine Partner dermaßen beleidigend zu behandeln vorhätten. Einem Mann von Ehre ein solches Angebot zu machen sei eine glatte Unverschämtheit. Herr Falkenberg scheine bei mir die Moral eines Ganoven vorauszusetzen, usw. Zweitens gehe es nicht um irgendeinen – rein privaten und zufälligen – »älteren Draht«, sondern darum, dass schließlich das Bildungsforum Düsseldorf zum ersten Mal seit meiner Haftentlassung (Ende 1964) eine offenbar auch für die DDR akzeptable Kombination für ein öffentliches Auftreten von mir in der Bundesrepublik gefunden habe. Wenn daher jetzt der WDR eben diesen Bildungsforum unter Bruch früherer Zusagen die III. Programm-Sendung verweigere und damit finanziellen Schaden zufügen wolle, dann würde es sehr undankbar von mir sein, das gutzuheißen und zu unterstützen, ja, daraus auch noch selber Nutzen zu ziehen. Und drittens wolle ich bei meinem Aufenthalt in Westdeutschland nichts tun, was nicht den Behörden der DDR bei Erteilung der Ausreisegenehmigung bereits als Zweck der Düsseldorf-Reise bekannt gewesen sei. Gegen eine Aufzeichnung des Gesprächs fürs III. Programm habe man hier nichts gehabt. Ein Solo-Auftritt von mir im I. Programm, bei gleichzeitigem Fortfall der Aufzeichnung des Gesprächs im III., sei aber eine ganz andere Sache. Mit dieser meiner Entscheidung war Herr Hölters sehr zufrieden. Er lobte besonders, geradezu überschwänglich, die »Loyalität und Fairness«, die ich sowohl ihm als auch Augstein und Ihnen gegenüber an den Tag gelegt hätte, und fand auch mein drittes Motiv absolut berechtigt. Mit meiner Ablehnung des Falkenbergschen Vorschlags als Druckmittel wandte er sich dann an Höfer direkt, und der verlegte sich nun auf folgende Hinhalte-Taktik: Er versprach, »alles in seiner Macht Stehende« tun zu wollen, um den Status quo ante wiederherzustellen, fügte aber hinzu, dass dies »technisch sehr, sehr schwierig« sein werde. Die fixen Jungs vom Fernsehen, die in den entferntesten Winkeln des Erdballs dabei sind, wenn irgend etwas passiert, und es uns stets noch am selben Abend via Bildschirm in die Wohnstuben zu liefern pflegen, können nämlich nicht genau wissen, ob sie es »technisch« zwischen dem 21. März und 2. April noch schaffen werden, ihre Kameras in einer Düsseldorfer Schulaula aufzubauen. Höfers
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Bescheid bedeutete also, dass er erst einmal abwarten wollte, bis ich im Westen sein würde, um mir dann sein Sonderangebot noch einmal persönlich zu unterbreiten. Von den Bemühungen um Wiederherstellung des »Status quo ante« wusste ich im Übrigens nichts. Ein Telegramm von mir an Hölters, er möge mich sofort verständigen, wenn sich in der Angelegenheit der Aufzeichnung für das III. Programm doch noch etwas ändern sollte, blieb fünf Tage lang, bis zu meiner Absage am 28. März, unbeantwortet. Von mir hatte nun der Leiter des Akademie-Verlags, Mußler, verlangt, ihn über etwaige Änderungen des ursprünglichen Konzepts meiner Reise sofort zu unterrichten. Und derartige Änderungen waren in der Folgezeit bereits eingetreten: Schon im November hatte Hans Magnus Enzensberger, ursprünglich als vierter Disputant vorgesehen, seine Teilnahme abgesagt, was bedeutete, dass ich als der einzige Linke in der Runde übrig geblieben war. Der Hessische Rundfunk, Redaktion Titel, Thesen, Temperamente, hatte mir für den Vormittag des 3. April ein Gespräch über mein – demnächst im Akademie-Verlag und bei Rowohlt erscheinendes – Jean-Paul-Buch vorgeschlagen. Der Termin der Düsseldorfer Disputation war von März auf den 2. April verschoben worden. Hölters hatte einen anderen Titel, zugkräftiger als »Pessimismus oder Optimismus heute«, gewünscht, und Sie hatten daraufhin »Risiken und Chancen der Zukunft« vorgeschlagen. All dies war von Mußler anstandslos akzeptiert worden. Aber als ich ihm dann am 22. März die Höfer-Falkenberg-Geschichte erzählte, da fing er an, sein Gesicht in besorgte Falten zu legen, von denen ich mir vorstellen könnte, dass sie sich bei einschlägigen Konsultationen auf höherer Ebene (im Akademie-Präsidium oder im Kulturministerium oder auch bei irgendwelchen Parteiinstanzen, wer weiß) nicht wieder geglättet haben. Jedenfalls lobte er mein Nein zu dem neuen WDR-Vorhaben und sagte, über diese Wendung der Dinge müsse er »noch einmal ein bisschen nachdenken«. Ich war zu diesem Zeitpunkt nach wie vor bereit, nach Düsseldorf zu fahren, schon um den gänzlich unschuldigen Hölters nicht im Stich zu lassen, aber auch deswegen, weil ich mir nicht nachsagen lassen wollte, vor der Konfrontation mit Ihnen und Augstein im letzten Augenblick gekniffen zu haben. Mußler hatte dafür auch volles Verständnis. Doch am späten Vormittag des 28. März sah das Ergebnis seines sechstägigen Nachdenkens plötzlich so aus: Höfer und Falkenberg, sagte er, hätten eindeutig zu erkennen
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gegeben, dass ihnen der Meinungsstreit Gehlen-Augstein-Harich samt dem Thema, auf das er sich beziehe, völlig gleichgültig sei, dass sie nur mich allein, wegen meiner interessanten Vita, vor die Linse des I. Programms kriegen wollten, und dies sei ein unerträgliches Symptom für die Absicht gewisser westlicher Massenmedien, meine Düsseldorf-Reise zu einem gegen die Interessen der DDR gerichteten Sensationsrummel um meine Person zu missbrauchen, wie er in die Landschaft des derzeitigen »Dissidenten«-Booms (Solschenizyn-Affäre etc.) hinein passe. Er bitte mich daher, noch einmal zu überdenken, ob ich die Reise nicht lieber absagen wolle. Das richte sich in keiner Weise gegen mich; ein Ausreise-Verbot für mich nach dem Westen liege nicht vor; bei einer ohnehin für mich vorgesehenen Dienstreise Ende April oder Mai nach Mailand, zum Verlag Feltrinelli, bliebe es nach wie vor; es richte sich auch nicht gegen das Düsseldorfer Bildungsforum, geschweige gegen Augstein und Gehlen (die, obwohl natürlich politische Gegner, integre Persönlichkeiten und respektable Gesprächspartner seien); wohl aber richte es sich gegen die Unverschämtheit und die zu vermutenden hinterhältigen Absichten des WDR sowie ähnlicher westlicher Medien. Zwei Stunden später wurde aus der »Bitte, zu überdenken« die »dringende Bitte, nicht zu fahren«. Was sollte ich das tun? So, wie die Dinge lagen, konnte ich Mußlers Argumentation nichts Überzeugendes entgegensetzen. Außerdem ist zu bedenken, dass es Mußler war, der mich Anfang 1965, unmittelbar nach meiner Haftentlassung, an den Akademie-Verlag engagiert und sich in all den folgenden Jahren gegen mancherlei Widerstände und Anfeindungen immer für mich eingesetzt hat; erst im Juli 1973 hat er, nach Lektüre meines neuen Jean-Paul-Manuskripts, nicht nur dieses für den Akademie-Verlag angenommen, sondern darüber hinaus verfügt, dass mir in Zukunft außer philosophischen auch literaturwissenschaftliche Lektoratsaufgaben anvertraut und dafür monatlich 600,– M mehr zu zahlen seien. Einem solchen Mann eine dringende Bitte abzuschlagen fällt schwer. Ich schickte also am Nachmittag des 28. März an Hölters ein Absage-Telegramm mit der gleichzeitigen Bitte, mich sofort anzurufen. Bei dem so zu Stande gekommenen Telefongespräch (Gespräche von West nach Ost kommen schneller durch als umgekehrt) nun machte Hölters gegenüber dem, was er am 21. März telefonisch zu mir gesagt hatte, plötzlich einen teilweisen Rückzieher. Er, Hölters, hätte sich seinerzeit nur »momentan verärgert« über den WDR geäußert; die ganze Sache sei ein Missverständnis gewesen, der – inzwischen direkt angesprochene – Höfer ein guter Mann und eifrig dabei, die III. Programm-Sendung doch noch »technisch zu ermöglichen«; Falkenberg
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von Höfer ausgeschaltet und durch einen anderen Redakteur ersetzt usw.; und »soeben« sei die Entscheidung gefallen: der Status quo ante werde wiederhergestellt; auch stehe bereits der Sendetermin, im Mai, fest. Schließlich in beschwörendem Ton: »Sie können unmöglich von mir verlangt, Herr Harich, dass ich den WDR als Schuldigen hinstelle; denn ich bin vom WDR materiell abhängig.« Prompt wurde dann auch von Hölters in einer Presseerklärung, abgegeben am nächsten Tage in Düsseldorf (29. März), der WDR weitgehend reingewaschen und einiges von dem, was ich zu Hölters am Telefon, zur Begründung einer Absage, verlautbart hatte, entstellt und verzerrt wiedergegeben. Aber Gott sei Dank hatte ich zu diesem Telefongespräch als unverdächtigen Zeugen den in der DDR akkreditierten Spiegel-Korrespondenten Mettke in meine Wohnung geladen, der, während ich mit Düsseldorf sprach, neben mir saß und mir am nächsten Abend, als ihm Hölters' Erklärung vorlag, bestätigte: »So haben Sie das nicht gesagt!« Hölters Einstellung heute scheint, nach allem, was darüber zu mir durchdringt, zu besagen, die Hauptschuld trage die DDR mit ihrer Überempfindlichkeit; schuld sei in geringerem Maße der WDR, da er ja alles getan habe, um die Sache doch noch »technisch zu ermöglichen«. Man soll aber nicht glauben, dass der WDR Herrn Hölters diese Willfährigkeit danke, ohne nein! Vor recherchierenden Pressereportern in Köln und auch vor mir – nämlich auf dem Umwege über Wibke Bruhns, eine gemeinsame Bekannte von Höfer und mir, die mich am Nachmittag des 30. März aus Bonn anrief – hat Höfer den ihn eifrig reinwaschenden Hölters als einen Mann verleumdet, der anscheinend nicht ganz seriös sei, da er vage Möglichkeiten als feste Zusagen ausgegeben, d. h.: die präsumtive Gesprächsrunde belogen, habe. Zumindest ist dem einem Punkt hat Ihr Buch Moral und Hypermoral also recht: Man lebt in Zeiten des Im-Stich-Lassens. Zu der so genannten »momentanen Verärgerung« Hölters’ ist übrigens noch Folgendes zu bemerken: Mit dem Datum (und Poststempel) des 19. März hat Hölters mir einen Brief geschrieben, dessen Inhalt er mir dann zwei Tage später, am 21. März, mit Rücksicht auf die Langwierigkeit der Postbeförderung zwischen West und Ost, auch noch telefonisch explizierte, so dass der »Moment« seiner Verärgerung mehrere Tage gedauert haben muss. Dieser Brief erreichte mich am 27. März, und sein letzter Absatz lautet wörtlich: »Leider muss ich Ihnen eine Enttäuschung bereiten. Das WDR-Fernsehen, 3. Programm, möchte in blitzartiger Erkenntnis unsere Disputation nicht aufzeichnen; etwas fadenscheinige technische Gründe werden vorgeschoben. Sowieso
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verfüge man über den älteren Draht (sprich Gisela May, WH) zu Ihnen. Vielleicht findet sich noch eine andere Fernsehanstalt. Der Witz liegt darin, dass der WDR Sie lieber außerhalb unserer Geschichte interviewen möchte, was mich natürlich wenig begeistert. Vielleicht sprechen wir darüber, wenn ich Sie am Zug abhole. Freundliche Grüße ihres F. H. Hölters.« Ich denke, es erübrigt sich jeder Kommentar. Dass wir in der DDR auf derartige Vorkommnisse mitunter überempfindlich und nicht souverän genug reagieren, zuweilen sogar – was für Kommunisten etwas ganz Schlimmes ist – unter Verzicht auf die Möglichkeit eigener geistiger Offensive, daran ist allerdings etwas Wahres. Aber erstens kommt diese Empfindlichkeit ja nicht von ungefähr, sondern hat ihre historischen Gründe (die Doktrin von den »innerdeutschen Sonderbeziehungen«, die den Kulturaustausch zwischen DDR und BRD belastet, trifft zusammen mit der Vorliebe des Westens für das Hochspielen unserer – tatsächlichen oder bloß vermeintlichen – Dissidenten). Und zweitens muss ein politisch erfahrener Mann wie Herr Höfer diese Empfindlichkeit doch so weit kennen, um höchst überflüssige Dinge zu vermeiden, die ihr neue Nahrung geben können. Hätte der WDR sich strikt an das einmal Vereinbarte gehalten, wäre er nicht plötzlich mit neuen Geschichten gekommen, dann hätte unser Düsseldorfer Gespräch auch stattgefunden. Mir sind an dem Fall zwei Dinge geradezu widerlich: Einmal die Selbstverständlichkeit, mit der die WDR-Leute bei mir die Moral des »Im-Stich-Lassens«, d. h. die freudige Bereitschaft, Sie und Augstein »abzuhängen«, vorausgesetzt haben, zum anderen die Maßstabslosigkeit, mir, nur wegen meiner Zuchthaus-Jährchen, vor einem Mann wie Ihnen den Vorrang zu geben. Ich leide nicht an Minderwertigkeitskomplexen, gewiss nicht, und ich empfinde Sie, Ihres Konservatismus wegen, als politischen und weltanschaulichen Gegner. Aber daran, dass Sie, verglichen mit mir Pygmäe, ein Riese sind und ich geschmeichelt und stolz sein kann, von Ihnen einer gemeinsamen öffentlichen Disputation für würdig befunden zu werden, gibt es bei mir nicht den geringsten Zweifel. Und auch Augstein ist ja nicht der »journalistische Moderator«, den man in ihm, laut Süddeutscher Zeitung, gesehen zu haben scheint. Immerhin verbindet sich in seinen Büchern eine von Karl Kraus herkommende große polemische Kultur in ziemlich einzig dastehender Weise mit recht fundierter Geschichtswissenschaft bzw. Anti-Theologie. Aber sobald am Horizont ein östlicher »Dissident« auftaucht, gelten im Westen Qualität und Leistung, selbst der eigenen, bürgerlichen Koryphäen, offenbar nichts mehr. Da heißt es dann: Gehlen und Augstein »können wir immer haben«. Es ist wirklich zum Speien.
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Und nun rechnen Sie sich aus, wie das auf die Eitelkeit und Publikationssüchtigkeit so manches Literaten bei uns wirkt. Es gibt Leute bei uns, die schreiben renitente Stellen in ihre Manuskripte, nur weil sie darauf spekulieren, damit leicht zu Westruhm zu gelangen, ohne im Osten noch etwas wirklich Ernstes riskieren zu müssen. Mit mir kann man aber so etwas nicht machen. Ich denke nicht daran, und nach dem jüngsten Vorfall weniger denn je, meine längst angestaubte Märtyrerkrone wieder neu aufzupolieren, nur weil das mit einem WDR-Interview honoriert wird. Trotzdem tut es mir natürlich schrecklich leid, dass aus unserem Wiedersehen – nach langen 22 Jahren – nichts geworden ist. Wie wäre es, wenn Sie mich nächstens einmal in Berlin besuchen kämen? Zugleich im Namen von Gisela May möchte ich Sie hiermit aufs Herzlichste dazu einladen. Mit freundlichen Grüßen Ihr
Brief an Arnold Gehlen52 (13. Juni 1974) Lieber Arnold Gehlen! Die Nachricht über den schrecklichen Verlust, der Sie und die Ihren traf, war lange unterwegs. Mir bleibt nur übrig, Ihnen und Caroline mit von Herzen kommendem Beileid in Gedanken fest die Hand zu drücken. Denn gekannt habe ich Ihre Frau ja nicht. Als ich vor über 20 Jahren in Speyer Ihr Gast war, befand sie sich gerade auf einer Reise. Lebhaft erinnere ich mich jedoch an das rührende Vater-Tochter-Idyll, das ich damals zwei Tage lang mit erleben durfte, und wenn ich daran zurückdenke, scheint es mir gewiss zu sein, dass Ihre Frau mit Ihnen beiden zur Seite ein glücklicher Mensch gewesen sein muss. Mögen nun Tochter und Enkel dem späten Gehlen an steter Fürsorge und warmer Menschennähe alles geben, was er braucht, um in den geistigen Kämpfen der Zeit ganz da zu sein. Es grüßt Sie Ihr
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(AH) 1 Blatt, maschinenschriftlich, 13. Juni 1974, Im Literaturarchiv Marbach findet sich im Nachlass Gehlens die handschriftliche Version des hier gedruckten Entwurfs, leichte Abweichungen.
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Beileidskarte53 (Februar 1976) Erschüttert verneige ich mich vor der Totenbahre Arnold Gehlens, des bewunderten Feindes und geliebten Menschen. Der Konservatismus hat seinen weltweit letzten bedeutenden Denker verloren, die deutsche Sprache einen ihrer glänzendsten Stilisten, das europäische Geistesleben der Gegenwart einen alten Querkopf von riesigem Format und verehrungswürdiger Lauterkeit. Allen Angehörigen drücke ich in tief empfundener Anteilnahme fest die Hand. Wolfgang Harich
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(AH) 1 Blatt, handschriftlich, Entwurf, abgesendete Version nicht erhalten, adressiert an »Familie Gehlen«.
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Goethes Beitrag zum Materialismus. Zum 165. Jahrestag der Entdeckung des Zwischenkieferknochens1 (27. März 1949) Am 27. März 1784 schrieb Goethe an Herder: »Ich habe gefunden weder Gold noch Silber, aber was mir unsägliche Freude macht: das os intermaxillare beim Menschen.« Und an Frau von Stein: »Es ist mir ein köstliches Vergnügen geworden, ich habe eine anatomische Entdeckung gemacht, sage aber niemand ein Wort.« Was hat es mit diesem »os intermaxillare« (dem Zwischenkieferknochen) auf sich? Es handelt sich hier um dasjenige Knochenstück des Oberkiefers, das die vier oberen Schneidezähne trägt und das ursprünglich in sich selbst paarig gespalten und von den äußeren Knochenteilen des Oberkiefers getrennt ist, aber bereits beim Embryo im Prozess der Schädelbildung mit seinen Nachbarteilen und in sich selbst verwächst. Goethe wies auch am menschlichen Oberkiefer Spuren der Nahtstellen zwischen dem »os intermaxillare« und den äußeren Knochenteilen nach (diese Naht trägt in den Lehrbüchern der Anatomie seither den Namen »sutura incisiva Goethei = Goethesche Schneidezahnnaht!). Da nun beim Tierschädel (einschließlich dem der Menschenaffen) die Nahtstellen (suturae) sichtbar bleiben, während beim Menschenschädel die Verwachsung des Oberkiefers so vollkommen ist, dass sie nahezu völlig verschwindet, glaubten die Anatomen vor Goethe, in dem Fehlen des Zwischenkieferknochens beim Menschen einen Beweis für die absolute Trennung zwischen Mensch und Tier erblicken zu können. Und selbstverständlich zogen die Ideologen der feudalen und klerikalen Reaktion aus dieser Auffassung theologische und idealistische Schlussfolgerungen: Das angeblich nicht existente »os intermaxillare« musste als Rechtfertigung für die Lehre von der Gottgeschaffenheit des Menschen, der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur und der absoluten »Autonomie des Geistes« herhalten. Goethes Entdeckung fällt zeitlich in die erste Periode seines Aufenthalts in Weimar (1775–1786). Wenn Goethes dichterischer Schaffensprozess in dieser Periode seines Lebens komplizierter, schwieriger, langwieriger war, als er es in der Frankfurter Genie1
(AH) Zuerst in: Tägliche Rundschau vom 27. März 1949, S. 4. Zeitgleich entstanden verschiedene weitere Artikel und Aufsätze Harichs zu Goethe – was sicherlich dem Goethe-Jubiläum geschuldet war. Siehe vor allem, die hier entwickelten Thesen ausführlich begründend: Bemerkungen zu Goethes Naturanschauung (abgedr. in: Band 6.1, S. 739–794). Zum Kontext: Heyer: Der gereimte Genosse. Goethe in der SBZ/DDR, Baden-Baden, 2017.
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zeit gewesen, so lag das nicht zuletzt daran, dass Goethe jetzt das praktische gesellschaftliche Handeln und die Vervollkommnung seiner wissenschaftlichen Kenntnisse über die dichterische Schöpfung stellte. Dabei bestand zwischen seiner gesellschaftlichen und seiner wissenschaftlichen Praxis ein enger Zusammenhang. Beide Tätigkeitsgebiete waren erleuchtet von den großen Ideen der bürgerlichen Aufklärung. Und als kühner Aufklärer, der gewillt war, der Vernunft zum Siege über die Vorteile der Religion zu verhelfen, packte er auch die Probleme der Naturwissenschaft an. Aber während Goethe politisch in der deutschen Misere, der Stickluft feudalabsolutistischer KleinKupferstich nach Goethes Zeichstaaterei mit seiner Aufklärermission tragisch scheinungen zu seiner Arbeit über den tern musste (die italienische Reise war 1786 eine Zwischenkieferknochen Flucht aus dieser hoffnungslosen deutschen Kleinstaatenge), wuchs er als Naturwissenschaftler bereits weit über die Grenzen der Aufklärung hinaus. Denn was besagte die Entdeckung des »os intermaxillare«? Dass der Mensch kein »autonomes«, ewig unveränderliches Geistwesen, sondern dass er aus der Natur entstanden ist, aus niederen, tierischen Formen der Materie sich empor entwickelt hat und – wie hoch er sich geistig auch erheben mag – seiner elementaren Grundlage, der Natur, der Materie, verhaftet bleibt. Goethe war der Dialektik in der Natur auf die Spur gekommen: Der Einheit der Gegensätze, dem allseitigen Zusammenhang der Erscheinungen, der ständigen Bewegung und Veränderung, der Entwicklung vom Niederen zum Höheren – und diese bewegte und verschlungene Wirklichkeit in ihrer Kompliziertheit, Lebendigkeit und Fülle zu fassen, waren die Kategorien des mechanistischen Materialismus des 18. Jahrhunderts zu eng und starr. Und als Dialektiker wandte er sich gegen Albrecht von Hallers »Nil noviter generari« (Nichts Neues entsteht), gegen Carl von Linnés metaphysisch starre Lehre von der Konstanz der Arten. Die Überlieferung bot Goethe, als philosophische Grundlage seiner Naturauffassung, die Lehre Spinozas von der Einheit und Unendlichkeit der Weltsubstanz. Goethes
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»Pantheismus« entsprang dem Bedürfnis, die dialektische Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens zum umfassenden Weltbild zu verallgemeinern. Die modernen Ideologen der deutschen Reaktion haben sich krampfhaft bemüht, Goethes dialektische Natur- und Weltanschauung in einen bodenlosen irrationalistischen »Mythos« umzulügen. Mit diesen Verfälschungen und Missdeutungen hat der Naturforscher Goethe nichts gemein. Er war ein exakter, fortschrittsbemühter, methodisch klarer, materialistischer Wissenschaftler und himmelweit entfernt von dem irrationalen Gefasel und den Goethe im 62. Lebensjahr närrischen »metaphysischen« Gespreitztheiten (nach dem Gemälde von Luise Seidler, Weimar 1811) jener wissenschaftsfeindlichen bürgerlichen Reaktion, die sich heute sehr zu Unrecht auf ihn beruft. Und wenn die universale Weltanschauung, die Goethe – über die konkrete, materialistische Einzelforschung hinaus – anstrebte, in seiner Zeit auch nur geniale Ahnung, kühne Vorwegnahme kommender Erkenntnis sein konnte, so ist den heutigen Vernunftschändern doch das grandiose Wort entgegenzuhalten, mit dem Goethe den missverstandenen, mystisch verzerrten Pantheismus der Romantiker abwehrte: »Die Wissenschaft ist eigentlich das Vorrecht des Menschen, und wenn er durch sie immer wieder auf den großen Begriff geleitet wird, dass das All ein harmonisches Eins sei, so wird dieser Begriff weit reicher und voller in ihm stehen, als wenn er in einem bequemen Mystizismus ruhte, der seine Armut gern in einer respektablen Dunkelheit verbirgt.« Diese Dunkelheit Jacobis, Schellings und der Romantik mochte noch »respektabel« sein, die der heutigen Dunkelmänner ist es längst nicht mehr.
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Größe und Grenzen Lamarcks. Zum 120. Todestag des großen französischen Biologen2 (17. Dezember 1949) Vor 120 Jahren, am 18. Dezember 1829, starb in Paris im Alter von 85 Jahren Jean-Baptiste de Monet, Chevalier de Lamarck, einer der genialsten französischen Naturforscher, der zu den entscheidenden Vorläufern und Mitbegründern der materialistischen Richtung in der biologischen Wissenschaft gehört. Lamarck wurde 1744 in Bezentin in der Picardie geboren. Nachdem er noch unter der absoluten Monarchie als Offizier im Kriegsdienst gestanden hatte, widmete er sich umfangreichen naturwissenschaftlichen Forschungen und Studien, gelangte aber erst in den letzten Jahrzehnten seines Lebens zu seinen umwälzenden Entdeckungen und Hypothesen. Während der Französischen Revolution, am Vorabend der Jakobinerdiktatur, wurde er Professor am Pariser Jardin des Plantes. In der napoleonischen Ära gab er elf Jahre lang ein meteorologisches Jahrbuch heraus. In seiner Flora française entwickelte er auf dem Gebiet der Botanik eine neue analytische Einteilungsmethode, die dem Linnéschen System gegenüber einen wesentlichen Fortschritt bedeutete. In der zoologischen Systematik trennte er die wirbellosen Tiere (Mollusken usw.), denen sein spezielles Forscherinteresse galt, von den Wirbeltieren. Seine Abstammungslehre begründete er 1809 in der zweibändigen Philosophie zoologique (Zoologische Philosophie) und 1815 bis 1822 in seiner siebenbändigen Histoire naturelle des animaux sans vertrèbes (Naturgeschichte der wirbellosen Tiere). Dieses gewaltige Werk, dessen erster Band in Form einer allgemeinen theoretischen Einleitung die präziseste Darlegung seiner wegweisenden Gedanken enthält, verfasste Lamarck als erblindeter Greis. Lamarcks großes und bleibendes Verdienst in der Geschichte der biologischen Wissenschaft besteht darin, dass er mit der zu seiner Zeit herrschenden metaphysischen und idealistischen Theorie von der Unveränderlichkeit (Konstanz) der Arten entschieden brach und die Veränderlichkeit der Pflanzen- und Tierarten, die Abstammung der höheren, komplizierteren Lebewesen von den niedrigeren feststellte, wobei er vor allem 2
(AH) Zuerst in: Tägliche Rundschau vom 17. Dezember 1949, S. 6.
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den Zusammenhang der Artveränderung mit den Umweltbedingungen und die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften nachwies. Damit lehrte Lamarck, die Lebewesen nicht als ein für alle Mal fertig gegebene, unwandelbare »Geschöpfe« Gottes, sondern in ihrer geschichtlichen Veränderung und Entwicklung und in ihrem kausalen Zusammenhang mit den sie umgebenden natürlichen Lebensbedingungen und in ihrer Abhängigkeit von der Umwelt zu betrachten. Jean-Baptiste de Lamarck
In seiner Philosophie zoologique schrieb er: »Die systematischen Einteilungen, die Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten sowie deren Benennungen sind willkürliche Kunsterzeugnisse des Menschen. Die Arten oder Spezies der Organismen sind von ungleichem Alter, nacheinander entwickelt und zeigen nur relative, zeitweilige Beständigkeit; aus Varietäten gehen Arten hervor. Die Verschiedenheit in den Lebensbedingungen wirkt verändernd auf die Organisation, die allgemeine Form und die Teile der Tiere ein, ebenso der Gebrauch oder Nichtgebrauch der Organe. Im ersten Anfang sind nur die allereinfachsten, niedrigsten Tiere und Pflanzen entstanden und erst zuletzt diejenigen von der höchst zusammengesetzten Organisation.« Bereits 50 Jahre vor dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk erstreckte Lamarck den Entwicklungsgedanken auch auf die Erklärung der Entstehung des Menschen. Das Menschengeschlecht, so lehrte er, sei aus affenartigen Säugetieren hervorgegangen, die sich in einem allmählichen Entwicklungsprozess die aufrechte Gangart und die Mitteilung von Bestrebungen und Gedanken durch eine Lautsprache »angewöhnt« hätten. Nichtsdestoweniger blieb Lamarck in einigen schwerwiegenden Fehlern und Irrtümern befangen. Er nahm Erkenntnisse vorweg, die erst Jahrzehnte später an Hand eines reichen Forschungsmaterials exakt begründet werden konnten. So wies Friedrich Engels, der Lamarcks Verdienste gegen die Anwürfe Dührings verteidigte, darauf hin, dass erst nach Lamarcks Tod zwei ganz neue Wissenschaften entstanden, die für die Begründung der materialistischen Entwicklungslehre von größter Wichtigkeit sind: Die Embryolo-
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gie und die Paläontologie, die »eine eigentümliche Übereinstimmung zwischen der stufenweisen Entwicklung der organischen Keime zu reifen Organismen und der Reihenfolge der nacheinander in der Geschichte der Erde auftretenden Pflanzen und Tiere« nachweisen. Dieser Hinweis von Engels verpflichtet uns Heutige, Lamarck historisch gerecht zu werden, das heißt den rationellen, fortschrittlichen Kern seiner Lehre, seine bleibenden Erkenntnisse und Errungenschaften, von seinen historisch bedingten Irrtümern sorgfältig zu unterscheiden. Lamarcks entscheidender Fehler bestand darin, dass er die Umweltbedingtheit der Artveränderungen und die Tatsache der Vererbung erworbener Eigenschaften nicht restlos materialistisch zu erklären vermochte, sondern teilweise auf eine aktive Anpassung der Organismen an die Außenwelt zurückführte, als ob zum Beispiel die Kampflust der Stiere deren Hörner und das Tastbedürfnis der Schnecke deren Fühler hervorgebracht habe. Unter dieser Voraussetzung gelangte Lamarck zu der wissenschaftlich unhaltbaren Behauptung, dass jedem Lebewesen eine ursprüngliche, zweckgerichtete »Lebenskraft« innewohne, die die Entwicklung des Organismus gerade in die Richtung lenke, die durch die veränderten Umweltbedingungen erfordert werde. Lamarcks Theorie wurde von der offiziellen Wissenschaft in Frankreich, die krampfhaft an ihren idealistischen und theologischen Vorteilen festhielt, lange Zeit hindurch bekämpft und unterdrückt. Im Ausland war sie bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein fast völlig unbekannt. In Deutschland kannte selbst Goethe Lamarcks Werke nicht – der gleiche Goethe, der bereits im 18. Jahrhundert durch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten zu ganz ähnlichen Resultaten wie Lamarck gelangt war. Seit dem Erscheinen von Darwins Hauptwerk, seit dem Auftreten Haeckels in Deutschland und Timirjasews in Russland im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde und wird die materialistische Richtung in der Biologie bis auf den heutigen Tag von den reaktionären Genetikern (Weismann, Johannsen, Morgan usw.) und den faschistischen Rassen»theoretikern«, die übereinstimmend eine vom lebenden Organismus unabhängige »ewige« Erbsubstanz annehmen, als »Lamarckismus« und »Neolamarckismus« bekämpft. Sie versuchen, wie Franz Mehring es ausdrückte, von verschiedenen Seiten, aber von der gleichen weltanschaulichen Grundlage her, »das Lebendige an Lamarck
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durch Kunstgriffe zu töten und das Tote an ihm durch ebensolche Kunstgriffe zu beleben«. Demgegenüber ist heute der schöpferische Darwinismus, der in der sowjetischen Wissenschaft, in der Mitschurinschen Biologie, seinen derzeitigen Gipfelpunkt erreicht hat, der einzig legitime Erbe aller vorwärtsweisenden Erkenntnisse und echten Errungenschaften Lamarcks. Mitschurin und Lyssenko haben aus der Tatsache, dass die Veränderungen der Arten von den Umweltbedingungen abhängen und dass erworbene Eigenschaften vererbbar sind, die kühne Schlussfolgerung gezogen, dass die Eigenschaften der Tier- und Pflanzenarten durch Schaffung der erforderlichen Bedingungen von den Menschen planmäßig und zweckbewusst verändert werden können. Die Richtigkeit dieser konsequent materialistischen Auffassung wurde durch die grandiosen praktischen Erfolge der sowjetischen Agrobiologie bewiesen. Die Anhänger der Mitschurinschen Biologie stehen dabei Lamarck ebenso kritisch gegenüber, wie sie sich der Tatsache bewusst sind, dass seine Lehre in der Entwicklungsgeschichte der Wissenschaften einen gewaltigen Fortschritt bedeutete. Der sowjetische Biologe F. A. Dworjankin erklärte in diesem Sinne: »Unsere Einstellung zum klassischen Erbe in der Biologie ist ein schöpferisch-kritisches Verarbeiten und kein einfaches Schlucken von Fertigem, kein bloßes Methodensammeln von rechts und links (…). Was halten wir für richtig an Lamarck? Die Wechselwirkung von Organismus und Außenwelt, die Vererbung der Eigenschaften, die der Organismus im Prozess dieser Wechselwirkung erworben hat (…). Dagegen verwerfen wir bei Lamarck die fehlerhafte Seite seiner Lehre – den autogenen Prozess der Selbstvervollkommnung des Organismus, der angeblich allen Lebewesen immanent ist. Aber wo findet gerade diese Seite der Lamarckschen Lehre ihre Entwicklung? Eben bei den Leuten, die uns Lamarckisten nennen und dabei zu erwähnen vergessen, dass sie selbst, die Mendelisten-Morganisten, diese Seite der Lamarckschen Lehre weiterentwickeln.«
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Notizen zu Gehlens Der Mensch3 (1952) Seite 1: »Mensch ein lebendiges Wesen, das zu sich selbst Stellung nehmen muss, wozu ein Bild des eigenen Wesens, eine – wie immer geartete – Deutungsformel des eigenen Seins notwendig ist.« Das kann in dieser Allgemeinheit nicht behauptet werden. Beim Animismus der Primitiven bestimmen vielmehr die Wesenszüge des eigenen Seins zunächst – d. h. vor der Reflexion auf das eigene Sein – die Deutungsformel der Vorgänge und Erscheinungen der Natur. (Anthropomorphismus aller religiösen Vorstellungen.) Bedürfnis nach Stellungnahme zu sich selbst ist demgegenüber sekundär! Seite 2: »Christentum und Darwinismus hätten die gemeinsame Voraussetzung, dass der Mensch nicht aus sich selbst, sondern nur durch Kategorien des Außermenschlichen begriffen werden könnte.« Das ist Unsinn! Der Gott des Christentums, der den Menschen geschaffen haben soll, ist nur für das Christentum etwas Außermenschliches, an sich ist er ein Phantasieprodukt der Menschen. (Die Christen sehen sich als Geschöpfe ihres Phantasieprodukts.) Die Abstammungslehre Darwins leitete den Menschen aus einer Realität her (Tierreich) als Entwicklungsstufe der Materie. Freilich reichte der Darwinismus nicht aus. Die neue Qualität des Menschen muss »aus sich selbst« begriffen werden. Aber es ist unsinnig, Religion und Wissenschaft über einen Kamm zu scheren. Seite 2: »Dass der Mensch in sich und mit sich Darwin erste Skizze seines Stammbaums des Lebens, 1837 eine Aufgabe vorfindet. Durch die Lösung der Aufgabe hat der Mensch sich zu etwas zu machen.« Nietzsche – der Mensch, das »noch nicht festgestellte Tier«. Bedeutet: a) Es ist noch nicht festgestellt, was der Mensch ist, und b) der Mensch ist »unfertig«, »festgerückt«. – Unendliche Entwicklungsmöglichkeit des Menschen. Ausbau immer neuer, höherer,
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(AH) 17 Blatt, handschriftlich, nicht datiert. Reine Zitate werden, auch in den folgenden Exzerpten, Notizen, nicht wiedergegeben.
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komplizierterer Leistungen. Grundlage: Mangel an biologischer Festgelegtheit, Mangel an natürlicher Angepasstheit. Seite 3: »Wissenschaft vom Menschen in der Gesamtheit seiner hauptsächlichen Eigenschaften, Merkmale usw., im Hinblick auf die wirkliche Besonderheit des Menschlichen.« (Also vor der Gesellschaftswissenschaft, die die verschiedenen historischen Gesellschaftsformationen untersucht.) Ist eine solche Fragestellung möglich? Ja, es handelt sich um die Untersuchung von Phänomenen, die von den Besonderheiten der verschiedenen Gesellschaftsformationen unabhängig sind (Arbeit überhaupt, Sprache überhaupt, Denken überhaupt usw.). Nur ist es notwendig, zu beachten, dass es sich um eine – wenn auch mögliche und nötige – Abstraktion handelt. 1) Das spezifisch Menschliche ist nichts fertig Gegebenes. 2) Es entfaltet sich nicht beim isolierten Individuen, sondern nur in der Gesellschaft (Eigenschaften, die zwar am Individuum – und nicht ohne weiteres an der Gesellschaft – auftreten, aber nur dadurch, dass das Individuum in der Gesellschaft lebt, von ihr geformt wird). 3) Das spezifisch Menschliche existiert, wo es überhaupt existiert, immer nur in bestimmter Gesellschaftsformation. Ist wissenschaftliche Anthropologie möglich? 1) Sie ist keine Biologie, da sie nicht auf die Abstammung des Menschen reflektiert, nicht dessen biologische Entstehung zu erklären sucht, sondern das spezifisch Menschliche als solches behandelt, obwohl sie zugibt, dass es nicht ein für alle Mal fertig Gegebenes, sondern historisch entstanden und zu weiterem Ausbau und höherer Entwicklung fähig ist. 2) Sie ist keine Gesellschaftswissenschaft, denn sie bezieht sich auf Phänomene, die in jeder beliebigen Gesellschaftsformation, ohne durch deren Besonderheiten grundlegend berührt zu werden, auftreten (wie die Sprache). Ebenso wenig, wie man die Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens (zum Beispiel die Spontaneität der Entwicklung der Produktivkräfte) dadurch erklären kann, dass man sich an Eigenschaften des menschlichen Individuums hält (zum Beispiel Zielbewusstheit und Absichtlichkeit des Handelns), ebenso wenig kann man die anthropologischen Phänomene, die nur am Individuum (wenn auch am vergesellschafteten Individuum) existieren, mit den Kategorien der Gesellschaftswissenschaft, mit Basis und Überbau und dergleichen erfassen! (Zum Beispiel Sprechen, Denken, Handeln usw.) Die Gesellschaft wird vielmehr erst im Kommunismus zum menschlichen Subjekt.
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Seite 3: Sonderstellung des Menschen. Wovon besondert er sich? Vom Tier – ganz im Sinne der populären Unterscheidung. Gibt es »das« Tier? Gibt es generelle Eigenschaft aller Tiere, die diese Abstraktionen als sinnvoll rechtfertigen? Eigenschaften, die nur die Tiere haben, und die kein Mensch hat? Die Beantwortung dieser Frage müsste bereits die Frage »Was ist der Mensch?« lösen. Seite 4: Aufgabe, den Begriff »das Tier« als sinnvoll aufzuzeigen. Seite 4: Warum gibt es noch keine Anthropologie? a) Man bringt das »Äußere« und das »Innere« nicht zusammen (Morphologie und Psychologie, Leib und Seele bleiben durch unüberbrückbaren Hiatus getrennt). Auch die Feststellung, der Mensch sei eine Leib-Seele-Geist-Einheit, bleibt leer. Sie hat lediglich Wert durch Negierung des Dualismus. Aber sie zeigt nicht positiv, worin diese Einheit besteht, warum gerade diese Physis dieses Bewusstsein und umgekehrt hat, sie ist also – wie jede Ganzheitsformel – abstrakt. b) In die Anthropologie müssen mehrere Einzelwissenschaften eingehen: Biologie, Psychologie, Erkenntnistheorie, Sprachwissenschaft, Physiologie, Gesellschaftswissenschaft. Seite 5: »Sobald man einzelne Merkmale oder Eigenschaften ansah, fand man nichts spezifisch Menschliches?« Merkmale oder Eigenschaften – ja. Aber es geht um Funktion: Denken, zielbewusst handeln, wollen, arbeiten usw. Fragt sich nur: Welche dieser Funktionen ist die grundlegende? Seite 5: »Es gibt genügend Tiere, die Wohnungen bauen. Elefanten sind auch klug.« Das ist Unsinn. Denken tun Elefanten nicht, und die Zelle existiert nicht vorher im Kopf der Biene – als bewusste Antizipation des gewollten Resultat. Seite 5: »Irrtumsfähigkeit und Störbarkeit des Bewusstseins.« Das Denken bewegt sich in Kombinationen des Allgemeinen. Es kann daher, wenn diese Kombinationen der Realität entsprechen, diese tiefer und richtiger widerspiegeln als die an den individuellen konkreten Fall gebundene sinnliche Wahrnehmung. Es kann aber auch falsch kombinieren. Es gilt, Wahrheit und Irrtum aus einer Wurzel zu begreifen.4
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(AH) Im Rahmen seiner zeitlich parallel erfolgenden Studien zur Logik, die ein wichtiger Teil der Logik-Debatte der jungen DDR-Philosophie waren, zeigte Harich, wie er diese Forderung verstanden wissen wollte. Siehe die entsprechenden Texte des 2. Bandes.
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Seite 5: Leib-Seele-Geist-Einheit. Gibt es durchgängige Kategorien? Gehirnvorgänge sind das notwendige Substrat von Denkvorgängen. Aber: Lässt sich das Phänomen Wahrheit-Irrtum durch Kategorien der Hirnphysiologie erfassen? Seite 5/6: »Zentraler Gesichtspunkt, der das Ganze des Menschen betrifft.« Die Arbeit. Seite 6: »Nicht an isolierte Merkmale halten, weil diese immer irgendwo im Tierischen wiederzufinden seien.« Die Begründung ist falsch. 1) Vernunft ist nicht bei Tieren zu finden, auch nicht »irgendwo«. 2) Arbeit ist ein Merkmal. Richtig ist, dass es eine Funktion sein muss, die einerseits alles spezifisch Menschliche bedingt, andererseits alles spezifisch Menschliche voraussetzt. Das ist die Arbeit. Sie ist die Grundlage des Denkens und Wollens, und sie setzt Denken, Wollen usw. voraus. Seite 7: Angriff auf die »klassische« Abstammungslehre – betrifft den Darwinismus, sofern er nicht zum dialektischen Materialismus weitergeht. Seite 7: »Jede unmittelbare Ableitung vom Tier (Großaffen, Schimpansen) müsste von vornherein die Fragestellung, die sich auf das spezifisch Menschliche bezieht, versperren?« Ja, aber nur, wenn diese Ableitung über den Rahmen des bloß Biologischen hinausgeht und ins Gegenstandsgebiet des historischen Materialismus übergreift, d. h. nur dann, wenn sie die Menschwerdung als biologische Höherentwicklung auffasst, nicht aber, wenn sie das qualitative Neue des Menschen durch die Arbeit erklärt. Seite 7: Klassischer Darwinismus drängt sich auf, wenn man an den Menschen von außen herangeht und Kenner der zoologischen Entwicklungsgeschichte, der Fossilien usw. ist. Damit lasse sich aber nicht erklären: Was ist Sprache, was ist Phantasie, was ist Erkenntnis, was ist Moral? Alles richtig. Aber die Arbeit erklärt alle diese Phänomene. Seite 8: Seit Nietzsche eine Reihe von Versuchen, die Psyche biologisch zu betrachten. Diese Versu-
Darwin-Karikatur, 22. März 1871 im Magazin The Hornet, Titel: “A venerable Orang-Outang. A contribution to unnatural history”
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che schlagen deshalb fehl, weil man nicht von einer spezifisch menschlichen Biologie ausgeht und so zur mechanistischen Überschätzung von Determinanten (Sexualtrieb, Hunger usw.) gelangt, die eine Fülle von Phänomenen unerklärlich lassen, zum Beispiel die Moral. Ist der Antrieb des Ethischen verkappter Sexualtrieb oder sublimierter Hunger – worin besteht die Verkappung, worin die Sublimierung? Zum Beispiel Aufopferung. – Die Fähigkeit dazu ist die Fähigkeit, gegen die eigenen vitalen Bedürfnisse zu handeln. Das setzt spezifisch menschliche Biologie voraus, d. h. eine nicht bloß vital determinierte Antriebsstruktur. Ebenso: Weitgesteckter Ehrgeiz, der sich über nahe liegende, bequeme Erfolgsmöglichkeiten und über Möglichkeiten nahe liegender Bedürfnisbefriedigung hinwegsetzt, bestimmte »kleinliche Vorteile« missachtet! – Wie kann ein Organismus biologisch funktionsfähig sein, der die Reize, die von solchen vitalen Lockungen ausgehen, ignorieren kann? Man denke sich einen hungrigen Löwen, der ein Beutetier laufen lässt, ja, nicht beachtet, weil es von »höheren Interessen« ablenken würde! Für den Menschen sehr wichtig: Hierarchie übergeordneter und untergeordneter Interessen, ständiges Ausgeliefertsein an Alternativen. Fähigkeit zum Durchhalten weit gesteckter Ziele und gleichzeitig Ablenkbarkeit. Seite 8: Doch, solche »Übergänge« von der tierischen zur menschlichen Existenz gibt es, aber nur als quantitative Summierung von Intelligenzleistungen in der Sphäre der Tiere, denen dann der qualitative Sprung folgt. Die »Einsicht« der Affen. Seite 9: Frage nach den Existenzbedingungen des Menschen. Wie kann der Mensch sein Dasein fristen? Dazu braucht er alle seine spezifisch menschlichen Leistungen. Die Sprache, das Denken, die Pedanterie, den Willen, das Ethos. – Wie würde sich eine unbeaufsichtigte Gruppe von Irren verhalten, die man in freier Natur aussetzte und sich selbst überließe? Würden sie arbeiten? Seite 10: Es sei für den Menschen schon eine beträchtliche Leistung, nächstes Jahr noch zu leben, eine Leistung, die den ganzen Einsatz spezifisch menschlicher Eigenschaften und Fähigkeiten erfordert. Dies gilt auch für einen Menschen, der als Parasit lebt? Auch für einen Kranken, der im Bett liegt und den andere pflegen? Frage: Welches Minimum an spezifisch menschlichen Leistungen ist notwendig für den extremsten Fall an parasitärer Existenz? Seite 10: Der Mensch lebt nicht, er führt sein Leben. Richtig, aber nicht absolut: Die Gesellschaft bestimmt die Grenzen, innerhalb derer er es führt.
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Seite 10: Das Risiko einer Physis, die aller beim Tier so wohlbewährten organischen Gegensätzlichkeit widerspricht. Dieses Risiko ist aber zugleich Offenheit für eine Unendlichkeit von Chancen. Seite 10: Schlüssel zum Wesen eines Lebewesens: Die Frage, unter welchen Bedingungen es existiert. Seite 10: Die besondere biologische Leiblichkeit des Menschen mache seine Intelligenz notwendig. Das ist richtig. Aber es genügt nicht. a) Diese Intelligenz setzt diese besondere Leiblichkeit voraus. Eines ist Bedingung und Resultat des anderen. b) Genetisch war erst die Unangepasstheit des vormenschlichen Organismus da – dann deren Kompensation durch Arbeit, dann Ausbau der Arbeit zu spezifisch menschlichen Leistungen und in dem Maße gleichzeitig Abbau der spezifisch tierischen Eigenschaften – wobei der weitere Verlust an tierischer Biologie Bedingung für den weiteren Ausbau der menschlichen Leistungen war. Seite 10: Sprache setzt ein System tiefer liegender Bewegungs- und Empfindungszusammenhänge fort. Seite 10: Untierische und einmalige Antriebsstruktur des Menschen. Seite 10: Aufgabe: Ein System einleuchtender wechselseitiger Beziehungen aller wesentlichen Merkmale des Menschen, vom aufrechten Gang bis zur Moral. Grundfunktion: Die Arbeit. Ein System, in dem sich alle Funktionen gegenseitig voraussetzen. Seite 11/12: Gegen Max Schelers Stellung des Menschen im Kosmos. 1) Schelers Standpunkt. Unterscheidung zwischen gewohnheitsmäßigem und intelligentem Verhalten, die beide hervorgehen aus dem instinktiven Verhalten, das in einem bestimmten Rhythmus verläuft (was ist das?), sinnvoll (müsste heißen: angepasst), nicht erworben (warum erworben?), artdienlich ist. Gewohnheitsmäßiges Verhalten kommt jedem Lebewesen zu, das sein Verhalten auf Grund früherer Erfahrungen (bedingte Reflexe) in einer lebensdienlichen und zweckmäßigen Weise langsam und stetig abändert, in strenger Abhängigkeit von der Zahl der Versuche und der so genannten Probierbewegungen. Gewohnheit bildet sich durch
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Festhalten und Herausüben bewusster Probierbewegungen. Hierauf beruht auch das Gedächtnis. (Eng verbunden mit Handlungs- und Bewegungsnachahmung.) Intelligenz. Wenn ein Tier neuen, weder art- noch individualtypischen Sachverhalten gegenüber ohne Versuche ein sinngemäßes Verhalten vollzieht. Affen haben diese Fähigkeit, aber nur im Anziehungsfeld triebhaft interessanter Neuaufgaben. Das neue Prinzip, das den Menschen zum Menschen macht, sei ein allem Leben überhaupt entgegengesetztes Prinzip; stehe außerhalb des Lebens: der Geist. Existenziell entbunden, ablösbar vom Bann und von der Abhängigkeit vom Organischen. Nicht mehr trieb- und umweltgebunden, sondern umweltfrei und weltoffen. Widerstandszentren der Umwelt werden zu Gegenständen erhoben. Akt der Isolierung, trennt Dasein und Wesen. Asketischer Akt der Hemmung der eigenen triebhaften Zuwendung zu den Dingen hebt den Realitätsdruck der Welt auf und fasst das Sosein der Dinge, abgesehen von ihrem Dasein, auf. (Interessant: Denken, d. h. Widerspiegelung des Allgemeinen, abgelöst vom individuell konkreten Fall, setzt Askese voraus.) Geist lebt von den Kräften, die nicht in der Welt umgesetzt, sondern ihr entzogen werden (durch Askese), bewegt sich außerhalb des Lebens und auf Kosten des Lebens. (Klages-Idee.) 2) Meine Stellungnahme. Gewohnheitsmäßiges Verhalten müsste aus bedingten Reflexen erklärt werden. Fragt sich nur: Bei welchem Tier fängt es an (Pantoffeltierchen?), bei welchem hört es auf bzw. wird es zu intelligentem Verhalten? Welche neue Gehirnleistung unterscheidet gewohnheitsmäßiges von intelligentem Verhalten? Der Affe löst nur triebhaft interessante Neuaufgaben. Setzt deren erfolgreiches Handeln aber nicht immer schon ein Minimum an Askese voraus? Falsch, dass »Geist« substantialisiert wird. Falsch, dass »Geist« außerhalb des Lebens stehe, denn er ist nur auf der Grundlage seines biologischen Substrats (Gehirn) möglich. Falsch, dass nicht nach Entstehung und Entwicklung des Geistes gefragt, sondern das fertige Resultat einfach hingenommen wird. Falsch, dass Geist einfach als neue, höhere Schicht auf einen ansonst tierischen Organismus mit tierischen Gewohnheiten und Intelligenzakten aufgesteckt wird (ontologisch, Schichtenschema!). Falsch, dass nicht das grundlegende Moment des Neuen – die Arbeit – gefasst und mit den materiellen Existenzbedingungen des Menschen, als deren Voraussetzung, als deren Herstellungsmittel und als deren Resultat in Beziehung gesetzt wird.
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Im Einzelnen: Ablösbar vom Bann: Voraussetzung und Resultat der Konzentration auf Mittelglieder in der Arbeit unter Festhalten des Ziels und unter Möglichkeit, störende Reize, die dazwischen kommen, unbeantwortet zu lassen. Ablösbar von der Abhängigkeit vom Organischen. Das heißt – nicht biologisch vital bedeutsame Objekte können Gegenstand werden usw. Nicht mehr trieb- und umweltgebunden: Der Verlust an biologischer Spezialisiertheit und an Spezialisiertheit des Wahrnehmungshorizonts. Askese – macht die Konzentration auf ein Ziel und das Durchhalten dieses Zieles über Entbehrungen hinweg möglich. Andererseits ist Askese die Bedingung für die Distanz gegenüber dem konkret-individuellen Fall und für die Erfassung des Allgemeinen. (Teilweise nicht lesbar, AH.) Der rationelle Kern der Kritik der praktischen Vernunft: Es gehört zum Wesen des Menschen, Reize, die von vital bedeutsamen Objekten ausgehen, oder von Objekten, die uns mehr »reizen« als die mühselige, aufopfernde, asketische Hingabe an ein übergeordnetes Ziel, unbeantwortet lassen zu können. Seite 13: Sehr gut. Gegen ontologische