Öko-Spiritualität: Ganzheitliche Lebensweisen auf den »Märkten des Besonderen« 9783839450437

Auf dem wachsenden Markt ökologisch produzierter Lebensmittel ist bei einigen Produzierenden, Konsumierenden und Verbänd

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Öko-Spiritualität: Ganzheitliche Lebensweisen auf den »Märkten des Besonderen«
 9783839450437

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Ökologie als Spiritualität
Ökologie / Spiritualität – Öko-Spiritualität
Ökologie – Spiritualität – Kapitalismus
Moralische, utopische und religiöse Muster in der Umweltbewegung und ihre Marktnischen
Zwischen Idealismus und Wirtschaftlichkeit
Die BIO-Landpartie
Idee und Geschichte des Hofes Medewege
„… so ein Stoffersatzdenken …, das ist mir ein bisschen zu wenig“ – eine Fallstudie
„Hundertprozentige Einstellungssache“ – eine Fallstudie
„Mit meinen Händen Gesundheit angedeihen lassen“ – eine Fallstudie
„Einfach ‘ne Lebenseinstellung“ – eine Fallstudie
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Hagen Fischer, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.) Öko-Spiritualität

rerum religionum. Arbeiten zur Religionskultur  | Band 4 Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.

In memoriam Peter Berger

Hagen Fischer (M.A.) ist Soziologe und Dozent beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben am Bildungszentrum Barth/Gutglück. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt Märkte des Besonderen an der Universität Rostock. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Stadtsoziologie, Ungleichheitsforschung und Agrarsoziologie. Klaus Hock (Dr. theol.), geb. 1955, ist Professor für Religionswissenschaft und interkulturelle Theologie an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Islam und christlich-islamische Beziehungen, Religionen (insbesondere afrikanisches Christentum), Religionshybride sowie Transkulturation. Thomas Klie (Dr. theol.), geb. 1956, ist Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät an der Universität Rostock. Seine Forschungsschwerpunkte sind Pastoral- und Religionsästhetik, spätmoderne Religions- und Kasualkultur und Religionshybride, Performanztheorie und Sepulkralkultur.

Hagen Fischer, Klaus Hock, Thomas Klie (Hg.)

Öko-Spiritualität Ganzheitliche Lebensweisen auf den »Märkten des Besonderen«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Olaf Hoppe, »Das geschenkte Universum«, 2009 Acryl auf Leinwand 85 x 140 cm Satz: Frank Hamburger, Rostock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5043-3 PDF-ISBN 978-3-8394-5043-7 https://doi.org/10.14361/9783839450437 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt Vorwort  | 7 Einleitung: Ökologie als Spiritualität Lebensmittel und Lebensmitte auf den „Märkten des Besonderen“

Klaus Hock/Thomas Klie  | 9

Ökologie / Spiritualität – Öko-Spiritualität Zwischen Differenzierung und Zusammenführung

Klaus Hock  | 15

Ökologie – Spiritualität – Kapitalismus Zur Entstehung und Transformation neuer marktförmiger Produktionsund Distributionsstrukturen alternativer Ernährung (Naturkosthandel und „Bio“-Branche) seit den 1970er Jahren

Jörg Albrecht  | 51

Moralische, utopische und religiöse Muster in der Umweltbewegung und ihre Marktnischen

Philipp P. Thapa  | 79

Zwischen Idealismus und Wirtschaftlichkeit Identitäts- und Profilbildung auf den Märkten des Besonderen

Hagen Fischer  | 95

Die BIO-Landpartie Ein Veranstaltungsformat des BUND für den Ökolandbau in Mecklenburg-Vorpommern

Burkhard Roloff  | 117

Idee und Geschichte des Hofes Medewege Gemeinsamkeit versus Gemeinschaft

Peter Zimmer  | 127

„… so ein Stoffersatzdenken …, das ist mir ein bisschen zu wenig“ – eine Fallstudie

Klaus Hock  | 145

„Hundertprozentige Einstellungssache“ – eine Fallstudie

Thomas Klie  | 155

„Mit meinen Händen Gesundheit angedeihen lassen“ – eine Fallstudie

Thomas Klie  | 161

„Einfach ‘ne Lebenseinstellung“ – eine Fallstudie

Rebekka R. Tibbe  | 169

Autorinnen und Autoren  | 177

Vorwort

Ökologie und Spiritualität waren und sind nicht nur in explizit religiösen Kontexten aufeinander bezogen, wie beispielsweise bei Hildegard von Bingen oder in der Cosmovisión andiner Religionen. Sowohl in den Anfängen des ökologischen Landbaus, dessen Wurzeln bis ins Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen, als auch in subkulturellen Milieus der „Öko-Bewegung“ ab den 1970er Jahren finden sich Bezüge zwischen Ökologie und religiös imprägnierten Deutungsangeboten. Der vorliegende Band beruht unter anderem auf den Beiträgen zu einem Workshop, der am 22./23. März 2019 durch das DFG-Projekt „Märkte des Besonderen. Religionshybride Netzwerke in Mecklenburg-Vorpommern“ an der Universität Rostock ausgerichtet wurde. In diesem Workshop stand unter anderem zur Debatte, ob über die herkömmliche, auf ökologisch produzierte Nahrungsmittel fokussierte Perspektive hinaus ein ‚ganzheitlicher‘ Anspruch (seitens der Erzeugerinnen und Erzeuger) oder eine entsprechende Erwartung (seitens der Verbraucherinnen und Verbraucher) feststellbar sind und inwiefern dabei über die Bereitstellung bzw. Inanspruchnahme ‚sinn‘-hafter Angebote auch transzendente Rückbezüge generiert werden. Weiterhin wurde neben der Vorstellung konkreter Fallbeispiele und Beobachtungen in historischer und vergleichender Perspektive nach den weiteren Kontexten und den Interferenzen von Ökologie, Ökonomie und ,religionshybriden‘ Phänomenen gefragt. Die Veröffentlichung dieses Bandes gibt zugleich für den Phänomenbereich „Ökologie und Spiritualität“ einen Einblick in die interdisziplinäre Arbeit des erwähnten DFG-Projekts, das damit zum Abschluss gekommen ist. Unser Dank gilt an dieser Stelle nochmals unseren Projektmitarbeiter – Hagen Fischer, Dr. Antje Mickan und Martin Tulaszewski – sowie unserem Kollegen Prof. Dr. Matthias Junge, den wir dafür gewinnen konnten, sich unserem Team als Ko-Projektleiter anzuschließen und damit die Fortsetzung des Forschungsvorhabens nach dem Tod unseres Kollegen Prof. Dr. Peter A. Berger (1955–2018), zu gewährleisten. Frank

8 | Öko-Spiritualität

Hamburger schließlich gilt unser ausdrücklicher Dank für seine wie stets umsichtige und zuverlässige Erstellung der Druckvorlage. Dieser Band ist dem Andenken von Peter Berger gewidmet. Rostock, im Sommer 2020 Klaus Hock und Thomas Klie

Einleitung: Ökologie als Spiritualität Lebensmittel und Lebensmitte auf den „Märkten des Besonderen“ Klaus Hock/Thomas Klie

„Das is’ einfach ‘ne Lebenseinstellung, das is‘ nich‘ eine Art des Wirtschaftens, die ich mache, sondern wir leben das.“1 Wenn auf einem Öko-Hof Lebensmittel hergestellt werden, die nicht nur frei von Zusatzstoffen und ökologisch unbedenklich sind, sondern diese Produktionsweise auch in eine „sinn“-voll organisierte Lebensform der Landwirte integriert ist, dann befindet man sich wirtschaftssoziologisch auf einem Feld, in dem es um singuläre Produkte geht. Und man bewegt sich kultursoziologisch in einem Terrain, das als religionshybrid interpretiert werden kann. Die Generalthese, die dieser Band konkretisiert, setzt voraus, dass die besonderen Szenarien der Vermarktung von Bio-Erzeugnissen und die weltanschaulich motivierte Melange aus Lebensform und Produktionsprozess nicht selten Hand in Hand gehen. Die hier versammelten Beiträge gehen auf den Workshop „Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität. Ganzheitliche Lebensweisen auf den ‚Märkten des Besonderen‘“ zurück (22./23. März 2019, Universität Rostock). Dieser Workshop fand im Rahmen des von der DFG geförderten Projekts „Märkte des Besonderen. Religionshybride Vernetzungen in Mecklenburg-Vorpommern“ statt (2017–19). Der Gegenstandsbereich, der im Mittelpunkt dieses Teilprojekts stand,2 auf das 1 Ö7, Z. 878–879. 2 Die anderen Teilprojekte befassten sich mit der Bildung von Netzwerken und dem Agieren auf Märkten in den Bereichen Heilung und Heil sowie Kunsthandwerk und spirituelle Kunst, die sich als gleichermaßen von signifikanter Bedeutung für die Herausbildung religionshybrider Phänomene erwiesen. Die Ergebnisse dieser Teilprojekte sind bereits veröffentlicht: Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A. (Hg.): Räume

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hier implizit und auch mehrfach explizit Bezug genommen wird, musste notwendigerweise ein Stück weit unterbestimmt bleiben, zumal er sich als äußerst wandelbar, fluide und teilweise diffus darstellt. Er liegt im Schnittbereich dessen, was Bourdieu als „erweitertes religiöses Feld“3 bestimmt, und einem zwar nicht unbedingt nicht-religiösen, aber gegenüber Religiösem indifferenten, wenngleich implizit offenen Gebiet. Beziehungen und sogar Überschneidungen zu schärfer konturierten Phänomenen sind damit nicht ausgeschlossen; diese selbst standen jedoch nicht im Fokus unserer Recherchen. Zu jenen „schärfer konturierten Phänomenen“ – bei ebenfalls beobachtbarer grundlegender Ambiguität und Fluidität – wären beispielsweise mehr oder weniger verbindliche, aus dem Kernbereich der Öko-Bewegung der 1970er Jahre stammende Vergemeinschaftungsformen zu zählen, die jedoch aufgrund ihrer historischen Verankerung in vornehmlich westdeutschen Subkulturen nur mittelbar auf die ostdeutschen, zumal mecklenburgvorpommersche Szenen eingewirkt haben. Gleichermaßen „schärfer konturierte Phänomene“ sind identifizierbar in Gestalt der dezidiert biologisch-dynamisch ausgerichteten und strikt anthroposophischen Lehren und Praktiken verpflichteten ökologischen Landwirtschaft, die sich auch in Nordostdeutschland finden; doch fällt auf, dass hier die Nähe zur institutionellen Anthroposophie seitens „bekennender“ Akteurinnen und Akteure nicht durch rigide Verbindlichkeitsregime geprägt sind. Ebenfalls „schärfer konturierte Phänomene“ wären weiterhin im Bereich spirituell orientierter Zweige der Tiefenökologie identifizierbar.4 zwischen Kunst und Religion (=rerum religionum. Beiträge zur Religionskultur, Band 01), Bielefeld: transcript 2019; Tulaszewski, Martin/Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Was Heilung bringt. Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde (=rerum religionum. Beiträge zur Religionskultur, Band 03), Bielefeld: transcript 2019. 3 Bourdieu, Pierre: Religion (=Schriften zur Kultursoziologie Bd. 5, hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger), Berlin: Suhrkamp 1975, S. 246. 4 Vollkommen ausgespart wurden hingegen die sog. „braunen Ökos“, die mit völkischatavistischer Ideologie nicht nur einen extremen Sonderfall darstellen, sondern trotz ihrer taktischen Bezugnahme auf vereinzelte Konzepte ökologischer Theorie und Praxis im Grunde Positionen vertreten, die der Weltsicht und Lebenspraxis der in unseren Recherchen untersuchten Akteurinnen und Akteure diametral entgegengesetzt sind; siehe insb. Röpke, Andrea/Speit, Andreas: Völkische Landnahme, Berlin: Ch. Links Verlag 2019; Heinrich-Böll-Stiftung/Heinrich-Böll-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern (Hg.): Braune Ökologen. Hintergründe und Strukturen am Beispiel Mecklenburg-Vorpommerns, Berlin 2011 (=https://www.boell.de/sites/default/files/Braune-Oekologen. pdf); Amadeu-Antonio-Stiftung (Hg.): Völkischer Rechtsextremismus in Niedersachsen, Hannover 2017 (=https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/publikationen/ voclkischer-rechtsextremismus-in-niedersachsen.pdf).

Einleitung: Ökologie als Spiritualität | 11

Alle diese Akteurinnen und Akteure waren bei unserem Vorhaben mit im Blick, unser Augenmerk richtete sich jedoch schwerpunktmäßig eher auf jene nicht leicht fassbaren, da diffuser und weniger formal institutionalisierten und inhaltlich festgelegten Phänomene, in denen Ökologie, Ökonomie und Weltsicht eine teilweise lose Verbindung eingehen und neue Melangen ausbilden, durch die mit der ganzheitlichen Integration von Produkten und Produktionsprozessen, Lebensformen und Vergemeinschaftungen neue Sinnhaftigkeit generiert wird. Die zentralen Grundbegriffe und Kategorien wurden im Kontext des oben genannten DFG-Projekts bzw. seiner Vorgängerprojekte erarbeitet und dienen ebenfalls für den Interferenzbereich von Ökologie und Spiritualität als wesentliche Orientierungspunkte. Religionshybridität steht für eine – akteursseitig bisweilen, aber mitnichten zwingend als „spirituell“ apostrophierte – Sinnsicht, die nicht bzw. nicht mehr im Zentrum der religionskulturellen Wahrnehmung ste­ht und sich in bestimmte Szenen verlagert oder dort neu erwächst. Sie ist weitgehend frei von dogmatischen Festlegungen bzw. sie wahrt eine kritische Distanz zu kirchlichen oder eindeutig religiösen Konventionen, um sich in bestimmten Biotopen und Szenen als alltagsästhetische Episoden neu zu materialisieren. Religionshybridität beschreibt Ausdrucksformen an der Schnittstelle von Religion und Kultur. Singuläre Produkte sind Güter und Dienstleistungen, die insofern auf besonderen Märkten gehandelt werden, als die Austauschprozesse, denen sie sich verdanken, im Bereich des „Guten“ und „Richtigen“ liegen. Sie werden auf eigenlogischen Märkten gehandelt, die die kapitalistische Verwandlung von Qualität in Quantitäten wieder zurücknehmen, indem sie eine „Ökonomie des Einzigartigen“5 etablieren. Bezieht man dies auf den ökologischen Landbau, dem sich v.a. kleine bäuerliche Betriebe im ländlichen Raum verschrieben haben, dann hat der Wert dieser Produkte Anteil an der jeweiligen Hof-Philosophie. Das verheißene Gute und Wahre der Ware muss also von den Verbrauchern geglaubt werden. Die in diesem Segment kultivierten Formen einer Direktvermarktung sind Teil eines komplexen Verifikationsprozesses. Auf dem ökologischen „Märkten des Besonderen“ wird die landwirtschaftliche Arbeit – im Unterschied zur Pionierzeit in den 1980er Jahren – weniger aus einer dogmatisierten Weltanschauung abgeleitet, sondern man deutet innerhalb der bäuerlichen Symbiose aus Arbeit und Leben seine Produktionsweise induktiv als sinnhaft. Mehrheitlich hat sich das Feld jedoch insbesondere in Richtung auf solche Bewegungen erweitert, die nicht primär an Ökospiritualität „an sich“ inte-

5 Karpik, Lucien: Mehrwert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt a. M.: Campus, 2011.

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ressiert sind, sondern die zunächst konkrete ökologisch orientierte Lebensformen praktizieren und gewissermaßen „induktiv“ dieses Handeln sinnhaft deuten. Klaus Hock liefert in seinem Grundsatzbeitrag das Theoriegerüst des vorliegenden Bandes. Es geht ihm um die – kulturgeschichtlich gewachsenen – porös gewordenen Grenzen zwischen Ökologie und Spiritualität. Während noch in den 1980er Jahren ein strikter Nichtkontakt zwischen den primär auf das ökologische Wirtschaften ausgerichteten Gruppen und denjenigen, die zu den weltanschaulichen Implikationen ihrer Produktions- und Lebensweise auch spirituelle bzw. religiöse Dimensionen zählen, kultiviert wurde, zeichnen sich derzeit vielfältige Übergänge und Allianzen ab. Dies lässt sich sowohl etymologisch wie auch kulturgeschichtlich zeigen an den beiden emphatisch geladenen Begriffen „Ökologie“ und „Spiritualität“. Sehr deutlich zeichnet sich die religionshybride Imprägnierung im biologisch-dynamischen Sektor ab. Rudolf Steiners „anthroposophische“ Melange aus Theosophie und Christentum bleibt unter dem Demeter-Label mehr oder weniger kenntlich. Auch die an sich nicht spirituell ausgelegte Permakulturbewegung erfährt in jüngster Zeit zunehmend religionshybride Lesarten, wie sich anhand einiger Projekte in Mecklenburg-Vorpommern nachweisen lässt. Jörg Albrechts rekonstruiert in seinem Beitrag die Entstehung und Entwicklung der Bio-Branche in Deutschland seit den 1970er Jahren. So kann er nachweisen, dass das heutige geläufige Epitheton „Bio“ weder objektiv feststellbare Qualitätsmerkmale von Lebensmitteln bezeichnet, noch quasi ‚gott‘- oder naturgegebene Kriterien ihrer Erzeugung. Die Transformation von der frühen Naturkost-Branche hin zur Bio-Lebensmittelwirtschaft, in deren Verlauf politische Präferenzen einer antikapitalistischen „Alternativökonomie“ erodierten, während sich die überdauernden Unternehmen zu ökonomisch erfolgreichen Betrieben verwandelten, vollzog sich in einer stimulierenden Wechselwirkung zwischen den Sektoren der Distribution und Produktion alternativer Ernährung. Philipp P. Thapa beschreibt in seinem Aufsatz die Umweltethik als den Versuch, die Sinnwelten von Umweltbewegten und die darin angelegten moralischen Imperative mit den Mitteln der Ethik einzuholen. Er kann hier plausibel nachweisen, dass in der Umweltethik vielfach auch religiöse und utopische Denkmuster wirksam sind. Selbst ethische Konzeptionen, die sich betont wissenschaftlich-objektiv geben, können durch religiöse Denkmuster geprägt sein. Hagen Fischer vertritt in seiner Analyse die von Lucien Karpik und Harrison White inspirierte These, dass auf den „Märkten des Besonderen“ in beträchtlichem Maße Aushandlungsprozesse zu beobachten sind, die sich zwischen den beiden Polen „Idealismus“ und „Wirtschaftlichkeit“ bewegen. Einerseits muss gut gewirtschaftet werden, um das Überleben des Unternehmens zu sichern, und andererseits soll bei der Bereitstellung des „Einzigartigen“ den individuellen Vor-

Einleitung: Ökologie als Spiritualität | 13

stellungen vom „richtigen“ und „guten“ Leben Rechnung getragen werden. Fischer konkretisiert seine Sicht der Dinge mit zwei Fallbeispielen. Burkhard Roloffs Bericht über die „Bio-Landpartie“ gibt einen guten Einblick in die „Erlebniswelten“ der Bio-Szene in Mecklenburg-Vorpommern. Auch wenn hier weder von Religion noch von Religionshybridem die Rede ist, wie die Kommentierung von Klaus Hock mit Recht herausstellt, so werden hier zumindest vernetzte Handlungsfelder jenseits traditioneller Management- und Ökonomiestrategien sichtbar, die sich in landesweit organisierten Events abbilden. Inszeniert man Bio-Landbau als eine synästhetische Schaustellung einer gesunden Lebensweise, dann deuten sich hier mögliche Übergänge vom allgemein Ästhetischen zum religionshybrid Ästhetischen an. Peter Zimmer, einer der Gründerväter der Bio-Betriebsgemeinschaft Hof Medewege bei Schwerin, zeichnet die Leitidee dieses mittlerweile überaus erfolgreichen Projekts nach. Er übernimmt von dem 1996 in den Niederlanden verstorbenen Sozialwissenschaftler und Anthroposophen Dieter Brüll den Gedanken, die Ansammlung der verschiedenen Bio-Gewerke auf Hof Medewege nicht als Gemeinschaft, sondern als Gemeinsamkeit zu beschreiben, als Menschen, die einen gemeinsamen Impuls haben, aber bildhaft eher mit dem Rücken zueinander stehen. Jeder verantwortet seinen eigenen Arbeitskreis, verspürt aber die „geistige Anwesenheit“ aller anderen. Rebekka Tibbe, Klaus Hock und Thomas Klie bilden in ihren insgesamt vier qualitativen Fallanalysen die empirische Basis des Forschungsprojekts ab. Sie führen Menschen vor Augen, die durch bestimmte biographische Prägungen und Brüche den Sprung in der Selbständigkeit gewagt haben und im ökologischen Landbau ihre Ideale vom richtigen Leben verwirklichen. Bei aller Individualität verbindet sie ein holistisch-zyklisches Denken, das vom Nachhaltigkeitsparadigma bestimmt wird und dabei immer auch eingelagert ist in religionshybride Orientierungen und Beliefs.

Ökologie / Spiritualität – Öko-Spiritualität Zwischen Differenzierung und Zusammenführung Klaus Hock

1.  P ORÖSE GRENZEN: ÖKOLOGIE UND SPIRITUALITÄT Noch in den 1990er Jahren schien die Sache relativ klar: Initiativen und Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Kontext der damals so genannten ‚New-Age‘-Szene definierten sich zunehmend als ökospiritualistische Bewegungen und grenzten sich dadurch bewusst vom Gros der im ökologisch-organischen Landbau engagierten Akteurinnen und Akteure ab,1 so etwa die sog. Beaulieu-Gruppe.2 Heute stellt sich die Sache etwas anders und zugleich komplexer dar, denn der Zugang zum Bereich des Ökologischen ist – übrigens: nach wie vor – nicht unbedingt von Gruppen und Diskursen bestimmt, die von vornherein einen spirituellen oder gar religiösen Zugang für sich in Anspruch nehmen. Das Spektrum hat sich sowohl erweitert als auch diversifiziert. So findet Ökospiritualität beispielsweise durchaus auch im Mainstream kirchlicher Kontexte seinen Platz, wobei auf franziskanische Traditionen3 ebenso zurückgegriffen werden kann wie auf die Ressourcen andiner

1 Krieger, David J./Jäggi, Christian J. (Hg.): Natur als Kulturprodukt. Kulturökologie und Kulturethik, Basel: Birkhäuser 1997, S. 252ff. u. passim. 2 Beaulieu-Gruppe (Hg.): Aufbruch von innen: Manifest für eine Ethik der Zukunft. Entwurf einer ökospirituellen Kultur, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch-Verlag 1991. 3 Vgl. etwa: Gefährten des heiligen Franziskus, Jahresthema 2013/2014: Verwunderung und Dankbarkeit. Ökospiritualität – der Aufschrei der Erde, s.a. http://www.cdsf.org/ spip/IMG/pdf/Verwunderung_und_Dankbarkeit.pdf, vom 23.03.2020.

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Religionen,4 und selbst in der lateinamerikanischen Befreiungstheologie lässt sich schon seit geraumer Zeit eine Öffnung gegenüber entsprechenden Diskursen beobachten.5 Mehrheitlich war und ist das Feld jedoch schon immer von solchen Initiativen und Bewegungen dominiert, die nicht primär an Ökospiritualität interessiert sind, sondern viel spezifischer daran ansetzen, konkrete ökologisch orientierte Lebensformen zu praktizieren und dieses Handeln gewissermaßen „induktiv“ sinnhaft deuten. Dabei kann und darf allerdings keineswegs a priori eine spirituelle oder gar religiöse Motivation unterstellt werden. Mehr noch: Wenn es um die Frage des Verhältnisses von Ökologie und Spiritualität geht, scheinen die Grenzen auf den ersten Blick relativ klar gezogen: zwischen jenen Gruppen, die auf ökologisches Wirtschaften ausgerichtet sind – durchaus mit Gespür und kritischem, reflektierten Bewusstsein für die weiterreichenden weltanschaulichen Implikationen einer solchen Orientierung – und jenen, die diese weltanschaulichen Implikationen auf ihre spirituellen oder auch religiösen Dimensionen hin ausziehen. Zumindest noch vor einigen Jahre konnten zwischen beiden Richtungen die „Animositäten aufgrund verschiedener Sichtweisen und Weltanschauungen“6 bisweilen so stark sein, dass sie sich in unterschiedlichen Netzwerken zusammenschlossen: die vornehmlich politisch ausgerichteten im „Kommuja-Netzwerk“7 und die eher spirituell orientierten im „come-together“.8 Die meisten Mitglieder des Kommuja-Netzwerkes 4 Siehe etwa: Quispe Aguirre, Richard: „Das Leben verteidigen. Der Geist und die Geister in der andinen und christlichen Theologie“, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 36/3–4 (2010), S. 280–304. 5 Unter anderem angestoßen durch die UN-Umweltkonferenz 1992 in Rio de Janeiro. Für die Erweiterung befreiungstheologischer Entwürfe um die ökologische Dimension war maßgeblich vor allem Boff, Leonardo: Unser Haus die Erde. Den Schrei der Unterdrückten hören, Düsseldorf 1996; Ders., Schrei der Erde, Schrei der Armen, Düsseldorf: Patmos-Verlag 2002; Ders.: Zukunft für Mutter Erde: Warum wir als Krone der Schöpfung abdanken müssen, München: Claudius 2012. Dabei knüpft die Befreiungstheologie gleichermaßen an franziskanischen wie an indigenen, vorkolumbianischen Traditionen an. 6 Kunze, Iris: „Bildet Gemeinschaften – oder geht unter!“ Eine Untersuchung selbstverwalteter, subsistenter Gemeinschaftsprojekte und Ökodörfer in Deutschland – Modelle für eine zukunftsfähige Lebensweise? Unv. Diplomarbeit, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für Geographie 2003, S. 12; online unter: https://repositorium. uni-muenster.de/document/miami/c6546285-1b8c-4ed3-8bc9-7b556b256760/diplomarbeit_kunze.pdf oder https://d-nb.info/1139360868/34 7 http://www.kommuja.de vom 22.03.2020. 8 I. Kunze, „Bildet Gemeinschaften“, S. 12f.

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standen auch nicht im EUROTOPIA-Verzeichnis,9 „weil sie nicht neben spirituellen und hierarchischen Gemeinschaften aufgeführt werden wollen“10. Allerdings hat es hier in letzter Zeit viele Veränderungen gegeben, und bei genauerem Besehen ergibt sich inzwischen ein etwas differenzierteres und vor allem bunteres Bild. Das 1995 gegründete Ökodörfer-Netzwerk Global Ecovillage Network (GEN)11 etwa nimmt diese strikte Unterscheidung nicht vor, sondern „möchte auf globaler Ebene entstehende und existierende Ökodörfer vernetzen, Nord und Süd miteinander verbinden und Informationen über Ökologie, basisdemokratische Entscheidungsstrukturen, Spiritualität [hervorgehoben von mir; K.H.], sanfte Technologie und alternative Geschäftspraktiken verbreiten.“12

Zudem betonen die Nebenbestimmungen zur Satzung von „GEN Deutschland – Netzwerk für Gemeinschaften e. V.“ explizit ihre „Akzeptanz verschiedener Kulturen, Religionen und von spirituellen Wegen, Weltoffenheit und Freude am kulturellen Austausch sowie Achtung und Achtsamkeit gegenüber Anderen, dem Leben und der Natur sind uns wichtige Werte.“13

Auch die bei Kommuja gelistete Gemeinschaft Lebensbogen etwa erläutert unter ihren „Basisgedanken“: „In der Gruppe gestalten wir zu verschiedensten Anlässen Rituale, an denen die meisten, aber nicht immer Alle teilnehmen. Einige von uns geben in ihrer innere Arbeit auch der spirituellen Ebene eine große Bedeutung.“14

9 https://eurotopia.de vom 22.03.2020. 10 I. Kunze, „Bildet Gemeinschaften“, S. 36. 11 https://ecovillage.org; für Europa s. https://gen-europe.org/home/index.htm, für Deutschland s. https://www.gen-deutschland.de; siehe auch https://gaia.org vom 30.03.2020. 12 Zitiert nach I. Kunze, „Bildet Gemeinschaften“, 12. 13 https://gen-deutschland.de/wp-content/uploads/2020/02/20200130-GEN_D-Nebenbestimmungen_zur_Satzung.pdf vom 30.03.2020. 14 https://www.gemeinschaft-lebensbogen.de/gemeinschaft/basisgedanken/basisgedanken.html vom 22.03.2020.

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Kommuja ist zudem breit vernetzt – nicht nur zu Eurotopia, wenngleich sie auf ihrer Homepage lediglich auf den Eurotopia-Versand verlinken,15 sondern auch zu Oya,16 einer Zeitschrift, die doch auch eher spirituell orientierte Fragen thematisiert und in enger Verbindung mit der Gemeinschaft in Klein Jasedow17 steht.18 Das Eurotopia-Verzeichnis19 dürfte das wohl umfangreichste und breiteste Adressenwerk alternativere Öko-Initiativen sein. Zur Aktualisierung der Einträge in der Druckausgabe steht auf der Homepage von Eurotopia eine Website bereit, auf der zu Änderungen und Korrekturen sowie Nachträgen von Gemeinschaften, die nach Druck des Buches in die Datenbank aufgenommen wurden, recherchiert werden kann. Zur Spezifizierung der Suchfunktion finden sich unter anderem auch relativ viele Stichworte, die mehr oder weniger auf religiöse oder religionshybride Charakteristika verweisen: „LeiterIn/FührerIn/Guru; spirituell; christlich; ökumenisch; buddhistisch; taoistisch; esoterisch; … anthroposophisch; inneres Wachstum; Meditation; Yoga; Tantra“.20 Ohne Frage gibt es ein sehr breites und buntes Spektrum von ökologischen Initiativen, Projekten und Gemeinschaften, von denen eine erkleckliche Anzahl – im breitesten und allgemeinstem Sinne – implizit oder mehr oder weniger explizit durchaus religiöse, spirituelle oder religionshybride Assonanzen und Affinitäten erkennen lässt. Beziehungen zwischen Ökologie und Spiritualität sind hier also durchaus gegeben, wenngleich zunächst in der Regel offen bleibt, wie genau sie 15 Siehe https://www.kommuja.de unter „Vernetzung“, hier zum Eurotopia-Verzeichnis des Eurotopia-Versands https://www.eurotopiaversand.de/Buch-Print/eurotopia-Verzeichnis.html vom 22.03.2020. 16 https://oya-online.de/home/index.html vom 22.03.2020. 17 Siehe https://oya-online.de/about/wer.html und https://zukunftskommunen.de/kommunen/klein-jasedow/ vom 22.03.2020. 18 Mit der Gemeinschaft von Klein Jasedow hatte sich das „Religionshybride-Projekt“ – Vorgänger des Projekts „Märkte des Besonderen“ – verschiedentlich befasst. Siehe unter anderem insbesondere Liszka, Arnaud: „‚Wir sind nicht nur Hexen oder Spinner‘. Die Klein Jasedow Familie“, in: Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Hybride Religiosität – posttraditionale Gemeinschaft: Kirchenbauvereine, Gutshausvereine und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern, Berlin u.a.: LIT 2014, S. 131–154. Zum Projekt selbst siehe https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/175797485?context=projekt&task=showDetail&id=175797485& vom 30.03.2020 sowie Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer 2013. 19 Würfel, Michael et al. (Hg.): Eurotopia Directory: Intentional Communities and Ecovillages in Europe, Beetzendorf: Blühende Landschaften 2019. 20 https://eurotopia.de/buchsuche vom 23.03.2020.

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sich inhaltlich bestimmen, oder anders ausgedrückt: Selbst falls es solche Assonanzen und Affinitäten gibt, ist überhaupt noch nichts darüber ausgesagt, von welchem Gewicht und von welcher Quantität und Qualität diese Bezugnahmen sind.

2.  BASALE MELANGEN 2.1  Hybridphänomen Ökologie Hybrid – und zudem auch recht diffus – ist bereits das semantische Feld rund um den Begriff ‚Ökologie‘, insbesondere dessen Kern – ‚Öko‘ –, der in allen seinen Verbindungen inzwischen eine äußerst breite Deutungsoffenheit anzeigt. So gibt es zwischen Ökologie als „Lehre“ oder „Wissenschaft“ (griech.: logos) und Ökonomie als „Gesetz“ (griech.: nomos) vom „Haus“ (griech.: oikos) zunächst zwar eine bloß äußerliche Assonanz. Wie die „Märkte des Besonderen“21 hinsichtlich des „erweiterten religiösen (Interferenz-) Feldes“,22 also eines religiösen Feldes zweiten Grades, zeigen, besteht aber auch jenseits dieser oberflächlichen Beziehung ein tieferer Zusammenhang, als auf den ersten Blick zu erkennen ist. Aus ihrem vormals wissenschaftsspezifischen Bedeutungszusammenhang – Ökologie als jene Teildisziplin der Biologie, die sich mit der Wechselbeziehung von Organismen, also belebten Wesen, sowohl untereinander als auch zu ihrer Umwelt befasst – ist der Begriff insbesondere ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend erweitert worden: hin zur Beschreibung der (dann nicht mehr nur auf den akademischen Zugang begrenzten) Befassung mit der Umwelt generell. Umgangssprachlich wurde das Adjektiv „ökologisch“ oftmals verkürzt auf Einstellungen oder Handlungen gegenüber der Umwelt, namentlich im Sinne des Umweltschutzes. In diesem Zusammenhang verweist der Gedanke des nachhaltigen Wirtschaftens auf eine nicht unerhebliche Dimension des ressourcenschonenden Umgangs mit der Umwelt und annonciert damit nochmals einen weiteren Aspekt der Verbindung von Ökologie und Ökonomie. Diese Konnotation wieder21 https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/289663135?context=projekt&task=showDetail&id=289663135& vom 30.03.2020. Zum Aspekt des „Einzigartigen“ siehe Karpik, Lucien: MehrWert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt am Main: Campus Verlag 2011 (französisch 2007). 22 Im Anschluss an Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2000 (französisch 1971); siehe auch Ders.: „Die Auflösung des Religiösen“, in: Ders.: Religion. Schriften zur Kultursoziologie 5 (hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger), Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 2009, S. 243–249 (französisch 1985).

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um ist einerseits bereits in vorwissenschaftlichen Kontexten gegeben und wird im englischsprachigen Bereich bis heute insofern weiter aufrechterhalten, als ökologische Zusammenhänge mit dem Begriff der Ökonomie erfasst werden.23 Nicht nur in der Antike, in der Umweltereignisse als irdische Analogphänomene überirdischer Geschehnisse (beispielsweise in der Götterwelt) verstanden wurden,24 sondern bis ins 19. Jahrhundert hinein, also kurz bevor „Ökologie“ sich als Wissenschaftsbegriff etablieren konnte, war der Begriff polyvalent ausgewiesen.25 Obgleich er als Zoologe, Mediziner und Philosoph selbst nicht im Bereich der Ökologie forschte, entwickelte Ernst Haeckel (1834–1919) in den 1860er Jahren in verschiedenen Versionen nach und nach den Begriff der Ökologie, der jedoch erst später zur Bezeichnung einer wissenschaftlichen Disziplin avancierte – zunächst zu jener oben erwähnten Teildisziplin der Biologie.26 Nach der internen Ausdifferenzierung der Ökologie in ihrer formativen Periode während der folgenden Jahrzehnte kam es in den 1920er Jahren zu ihrer vertieften Ausarbeitung und einer dann bis zu den 1960er Jahren zunehmend erfolgten Integration spezialisierter Einzeldisziplinen – wohl auch unter dem Eindruck der „Entdeckung“ eines aus der Interaktion einzelner ökologischer Ordnungen erwachsenden globalen Öko-

23 Ricklefs, Robert/ Relyea, Rick: Ecology: The Economy of Nature, New York: Macmillan, 82018 (1976). 24 Siehe das Kapitel „Geschichte der Ökologie“ in: Bick, Hartmut: Grundzüge der Ökologie, Heidelberg/Berlin: Spektrum Akademischer Verlag 31998, S. 1–7. 25 So etwa im Bereich der Medizin als „die Lehre von der Anlage von Wohnungen, natürlich ebenfalls nur in Rücksicht auf Hygieine [sic!]“ (Vetter, Art. „Hygieine“, in: Busch, Dietrich Wilhelm Heinrich et al. (Hg.): Encyclopaedisches Wörterbuch der medizinischen Wissenschaften Band 17, Berlin: Boike 1938, S. 392–419, S. 415). Zu weiteren Verwendungszusammenhängen siehe Hachmann, Gerhard/Koch, Rainer: „150 Jahre Ökologie – eine Naturwissenschaft prägt den Naturschutz. Anmerkungen zur Geschichte und Verwendung der Begriffe ‚Ökologie‘ und ‚Artenschutz‘“, in: Natur und Landschaft 91/12 (2016), S. 587–589 sowie insbesondere http://www.biological-concepts. com/views/search.php?me=ökologie&ft=&q=Start vom 30.03.2020. 26 In seiner ersten Definition aus dem Jahr 1866 bestimmte Haeckel Ökologie als „die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ‚Existenz-Bedingungen‘ rechnen können. Diese sind teils organischer teils anorganischer Natur“ (Haeckel, Ernst: Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formen-Wissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformirte Descendenz-Theorie, Bd. 2, Berlin: Georg Reimer 1866, S. 286); s.a. https://www.biodiversitylibrary.org/ item/52177#page/454/mode/1up vom 30.03.2020.

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systems.27 Ab den 1970er Jahren folgte ein bis dahin beispielloser Ausbau ökologischer Forschung. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit, beispielsweise mit der Evolutionsbiologie, wurde ausgeweitet, und anwendungsbezogene Projekte gewannen an Bedeutung. Einen bedeutsamen Einschnitt brachte jedoch die in den 1970er Jahren erfolgte Politisierung der Ökologie mit sich – angestoßen u.a. durch die vom Club of Rome veröffentlichte Studie zu den „Grenzen des Wachstums“28 –, verbunden mit einer umgangssprachlichen Rezeption des Begriffs. Die daraus erwachsende Bedeutungsveränderung verwies nun weniger auf eine naturwissenschaftlich basierte Disziplin als auf ein positiv besetztes Handeln mit Blick auf einen zu erreichenden Zielhorizont, der sich fortan in der Ökologiebewegung, besser: den Ökologiebewegungen – von lokalen oder nationalen Initiativen zur Schaffung von Naturparks bis zum globalen Aktionsbündnis Fridays for Future – materialisierte. Innerhalb dieses in aller Kürze bis hin zur Verkürzung skizzierten Spannungsbogens zwischen Ökologie als naturwissenschaftlicher Disziplin und als Referenzpunkt und Zielhorizont für politisiertes (politische Ökologie) wie auch popularisiertes (Öko-Bewegung/en) Handeln verortet sich auch jener Themenbereich, der im Rahmen des Forschungsprojekts „Märkte des Besonderen“ als „erweitertes religiöses Feld“ in den Blick genommen wurde: Ökologie und Spiritualität. Dabei wird Ökologie im Sinne des ökologischen Landbaus zunächst zum Bereich von Orientierungen und Praktiken, die einerseits an (natur-)wissenschaftlichen – und wirtschaftlichen! –, andererseits an normativen, „idealistischen“ Zielsetzungen ausgerichtet sind, mit jeweils präferenziellen Schwerpunktsetzungen mehr in dem einen oder in dem anderen Bereich.29 Aus religionswissenschaftlicher Sicht interessieren diesbezüglich nicht nur „religionshybride“ (oder gar religiöse) Phänomene im Umfeld des „Idealismus“, sondern auch im Kontext von „Wirtschaftlich27 Diese Globalisierung war auf Akteurs-Seite nicht selten das Ergebnis von Initiativen ‚vor Ort‘, die eine Globalisierung quasi aus lokalem Engagement heraus betrieben; für diesbezügliche Fragen siehe beispielsweise Grundmann, Matthias/Kunze, Iris: „Transnationale Vergemeinschaftungen: interkulturelle Formen der sozial-ökologischen Gemeinschaftsbildung als Globalisierung von unten?“, in: Soeffner, Hans-Georg (Hg.): Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden: Springer 2013, S. 357–369. 28 Meadows, Dennis L. et al. (Hg.): Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1972. 29 Dass Wirtschaftlichkeit und Idealismus gewissermaßen zwei Pole eines Spannungsfeldes bilden, wird somit zum Entdeckungszusammenhang der Beziehungen. Siehe hierzu auch den Beitrag von Hagen Fischer in diesem Band.

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keit“ und „(Natur-)Wissenschaft“, soweit es um die Wechselbeziehung von Ökologie im weiteren Sinne und dem geht, was begrifflich häufig unter der diffusen Nomenklatur der „Spiritualität“ erfasst wird. 2.2  Spiritualität im religionshybriden Feld Spiritualität ist und bleibt ein äußerst nebulöser Begriff, wie der Religionssoziologe Detlef Pollack zutreffend festgestellt hat,30 der sich dabei auf die von ihm mit erhobenen Daten des „Religionsmonitors“ aus dem Jahr 2013 bezieht.31 Mehr noch als „Religion“ bleibt „Spiritualität“ zugleich umstritten, und Versuche, alternative Termini als religionswissenschaftliche Metasprache einzuführen, die es erlauben würden, das Phänomen beispielsweise unter der Kategorie einer fuzzy fidelity32 zu fassen, haben sich bislang nicht durchsetzen können. Semantisch vom Lateinischen „spiritus“ (Geist, Hauch etc.) abgeleitet, bezieht sich Spiritualität in allgemeinerem Sinn auf „Geistiges“ oder in engerem Sinn auf „Geistliches“, womit dann auch Verbindungen zu Religion – oder vielleicht genauer: zu Religiösem – impliziert sind. Tatsächlich gibt es eine Konnotation von Spiritualität und Religiosität in dem Sinne, dass Spiritualität „eher ergänzend und komplementär zum Begriff der Religiosität verwendet wird“.33 Dabei kommen zwischen beiden Termini bisweilen auch solche Unterscheidungen zum Tragen, 30 Siehe hierzu etwa Harmsen, Rieke C.: „Spiritualität in Deutschland: Was die Zahlen verraten“, in: Sonntagsblatt, 05.08.2017 (https://www.sonntagsblatt.de/artikel/weltreligionen/spiritualitaet-mystik/spiritualitaet-deutschland-was-die-zahlen-verraten vom 23.03.2020). 31 Pollack, Detlef/Müller, Olaf: Religionsmonitor – verstehen was verbindet: Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Gütersloh: Bertelsmann Stiftung 2013, insbesondere S. 10–19; siehe auch https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/GP_Religionsmonitor_verstehen_was_verbindet_Religioesitaet_und_Zusammenhalt_in_Deutschland.pdf vom 30.03.2020. 32 Vorgeschlagen vom Bevölkerungswissenschaftler Voas, David: „The Rise and Fall of Fuzzy Fidelity in Europe“, in: European Sociological Review, 25/2 (April 2009), S. 155–168, siehe auch https://academic.oup.com/esr/article/25/2/155/491158 vom 30.03.2020. Er greift dabei zurück auf Diskussionen innerhalb der Religionswissenschaft, siehe: Zinnbauer, Brian J. et al.: „Religion and Spirituality: Unfuzzying the Fuzzy“, in: Journal for the Scientific Study of Religion 36 (1997), S. 549–564. 33 Hemel, Ulrich: „Religionsphilosophie und Philosophie der Religiosität. Ein Zugang über die Typologie religiöser Lebensstile“, in: Angel, Hans-Ferdinand et al. (Hg.): Religiosität. Anthropologische, theologische und sozialwissenschaftliche Klärungen, Stuttgart: Kohlhammer 2006, S. 92–115, S. 106.

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die „Religiosität“ als Positionierung gegenüber einem Transzendenten beschreibt, während Spiritualität die aktive Hinwendung zu einer bestimmten Weltdeutung und ihre praktische Ausübung bezeichnen soll.34 Offen bleibt dabei auch, inwieweit Spiritualität Religion übergreift – oder vice versa – bzw. ob Religion und Spiritualität als Konkurrenz- oder gar Gegenbegriffe erscheinen. Von besonderem Interesse für das Verhältnis von Ökologie und Spiritualität ist im Rahmen unserer Überlegungen jedoch die Frage nach religiös ungebundener oder gar säkularer Spiritualität35 und nach den daraus resultierenden Hybridformen von Spiritualität – also die Diffundierung einer fuzzy fidelity hin zu einer fuzzy spirituality36 – sowie die Frage nach neuen Hybridbildungen, die möglicherweise mit einer weiteren Distanzierung gegenüber etablierteren Formen37 – nicht nur von Religion, sondern auch von Religiosität und Spiritualität38 – einhergehen könnten. Daneben wäre es jedoch auch möglich, Spiritualität ganz banal im Sinne einer Optimierungstechnik

34 Auch zum Folgenden vgl. beispielsweise die Diskussion bei Utsch, Michael: „Begriffsbestimmungen: Religiosität oder Spiritualität?“, in: Ders. et al. (Hg.): Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen, Berlin/Heidelberg: Springer 2014, S. 25–35. 35 Damit wird beides durchaus miteinander in Verbindung gebracht. So plädiert etwa der Schweizer Ordensprovinzial der Jesuiten dafür, „[t]heologische und säkulare Spiritualität nicht gegeneinander auszuspielen, sondern sie in ihrer Verschiedenheit aufeinander zu beziehen“ (https://www.zeitgemaess-glauben.at/cms/auslese/459-spiritualitaet vom 23.03.2020) und bringt damit beide Größen in engste Verbindung miteinander (siehe Rutishauser, Christian M.: „Religion und Spiritualität – Der Lärm der vielen Geister“, in: Neue Zürcher Zeitung, 24. Juni 2017, S. 12 – https://www.nzz.ch/meinung/religionund-spiritualitaet-der-geist-gottes-wird-im-laerm-der-vielen-geister-nicht-mehr-gehoert-ld.1302638 vom 30.03.2020). Der Sache nach ist dieser Gedanke jedoch schon älter – siehe Day, Abby et al. (Hg.): Social Identities Between the Sacred and the Secular, Farnham: Ashgate 2013 oder auch van der Veer, Peter: Spirituality in Modern Society (MMG Working Paper 09–10), Göttingen: Max-Planck-Institut 2009 https://pure.mpg. de/rest/items/item_1126671/component/file_2051462/content vom 30.03.2020. 36 Woodhead, Linda: “Real Religion and Fuzzy Spirituality? Taking Sides in the Sociology of Religion”, in: Aupers, Stef/Houtman, Dick (Hg.): Religions of Modernity. Relocating the Sacred to the Self and the Digital, Leiden: Brill 2010, S. 31–48. 37 Rötting, Martin/Hackbarth-Johnson, Christian (Hg.): Spiritualität der Zukunft. Suchbewegungen in einer multireligiösen Welt, St. Ottilien: EOS 2018. 38 Vgl. insbesondere den Beitrag von Pollack, Detlef: „Spirituell, aber nicht religiös? Analyse der Gegenwart und Thesen zu einer möglichen zukünftigen Entwicklung“, in: M. Rötting/Chr. Hackbarth-Johnson, Spiritualität der Zukunft, S. 25–42.

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zu verstehen, beispielsweise als „Spiritualität in der Managementpraxis“39, wobei ein quasimissionarisches Marketing christlich-spiritueller Angebote und deren Nutzbarmachung für Unternehmensführung oder Organisationsentwicklung eine ungewöhnliche Synthese eingehen, was aber nicht völlig unerwartet kommt: Akteure wie Anselm Grün haben schon seit Jahrzehnten nach neuen Formen der Spiritualität gesucht und diese unter anderem auch mit der Ökonomie in Verbindung gebracht.40 Vor dem Hintergrund momentaner Debatten um das Verständnis von „Spiritualität“ legt es sich nahe, von Spiritualitäten im Plural zu sprechen41 und dabei zunächst grob zwischen einem engeren Verständnis der Bezogenheit auf explizit, konkret und personal Transzendentes – „Gott“; zumeist erwachsen aus christlichen Ordenstraditionen – und der Bezogenheit auf ein transpersonales „größeres Ganzes“ sowie entsprechend zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Dimension der „Fähigkeit zur Selbsttranszendenz“ zu unterscheiden.42 Allerdings lassen sich beide kategorialen Zuteilungen nicht ganz zur Deckung bringen, wie sich am Beispiel der Orientierung am Leitbild der Ganzheitlichkeit in „holistischen Milieus“43 zeigt, das sowohl ‚vertikal‘ als auch ‚horizontal‘ konzipiert sein 39 Warode, Markus et al. (Hg.): Spiritualität in der Managementpraxis, Freiburg: Herder 2019. Siehe auch bereits Schoenauer, Hermann (Hg.): Spiritualität und innovative Unternehmensführung, Stuttgart: Kohlhammer 2012, insbesondere Kapitel 5. 40 Siehe hierzu über den mit mehreren hundert Veröffentlichung weithin bekannten „Popstar“ etwa die Broschüre von Walter, Rudolf: Anselm Grün – Mönch, Manager, Seelenführer. Das Themenheft von einfach leben, Freiburg: Herder 2014. 41 Zu diesen gehören auch Phänomene wie die „New-Age-Science“ (NAS), bei der einen Verbindung von Spiritualität und Wissenschaft gesucht wird. Siehe hierzu etwa Sheldrake, Rupert: Die Wiederentdeckung der Spiritualität. 7 Praktiken im Fokus der Wissenschaft, München: O.W. Barth 2018 (engl. 2017 unter dem Titel „Science and Spiritual Practices“ erschienen). Zum Thema NAS siehe auch Rademacher, Stefan: Das Wissenschaftsbild in der Esoterik-Kultur, Unveröffentlichte Dissertation, Bern 2010, http://biblio.unibe.ch/download/eldiss/10rademacher_s.pdf vom 30.03.2020. 42 Ich folge hier der Differenzierung, die in seiner äußerst kurz und kompakt gehaltenen Übersicht vorgeschlagen wird von Utsch, Michael: „Stichwort Spiritualität“, in: Materialdienst 11 (2018), S. 436–439, S. 436f. (Zitat S. 437 in Referenz auf Bucher, Anton: Psychologie der Spiritualität. Handbuch, Weinheim: Beltz 2014 sowie Straub, Jürgen: Religiöser Glaube und säkulare Lebensformen im Dialog. Personale Identität und Kontingenz in pluralistischen Gesellschaften, Gießen: Psychosozial-Verlag 2016). 43 Siehe hierzu u.a. Höllinger, Franz/Triold, Thomas: Ganzheitliches Leben. Das holistische Milieu zwischen neuer Spiritualität und postmoderner Wellness-Kultur, Bielefeld: transcript 2012.

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kann, wenngleich es zur personal-vertikalen Spiritualität in einer gewissen Spannung stehen dürfte. Entsprechend wäre dann Spiritualität nach religiösen, humanistischen oder säkularen Varianten zu differenzieren – was auch dem Phänomen scheinbar widersprüchlicher empirischer Befunde Rechnung tragen könnte, dass Selbstverortungen wie „nicht religiös, aber spirituell“44 oder „konfessionslos/keiner Religion zugehörig, aber spirituell“ durchaus häufig anzutreffen sind.

3.  I NTERFERENZEN VON ÖKOLOGIE UND SPIRITUALITÄT: HISTORISCHE KARTIERUNGEN Das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Märkte des Besonderen. Religionshybride Vernetzungen in Mecklenburg-Vorpommern“,45 aus dem der thematische Workshop Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität: Ganzheitliche Lebensweisen auf den ‚Märkten des Besonderen‘ und schließlich die hier veröffentlichten Beiträge erwuchsen, war von der doppelten Frage geleitet: • Zieht die Auflösung des traditionellen religiösen Feldes die Umbildung institutioneller Religion zu individueller, medial vermittelter „populärer“ Religion nach sich – • oder entstehen aus einem emergenten, erweiterten posttraditional-religiösen Feld neue Organisationsformen? Diese Doppelfrage lässt sich mit Blick auf die Interferenzbereiche von ökologischer Landwirtschaft und Öko-Spiritualität nicht einfach so vorbringen, als ob sie eindeutig entweder auf das eine („Ökologie“) oder das andere („Spiritualität“) zu beziehen wäre. Es ist nämlich zu berücksichtigen, dass die ökologische Landwirtschaft in Deutschland durchaus auch religiös „kontaminierte“ Wurzeln hat. Beide großen Stränge der ökologischen Landwirtschaft wurzeln im Umfeld der Lebensreform-Bewegung, die cum grano salis selbst schon als religionshybrides bzw. im erweiterten posttraditional-religiösen Feld angesiedeltes Phänomen betrachtet werden könnte: auf der einen Seite der „natürliche Landbau“, als dessen Wegbereiter Ewald Könemann (1899–1976) gilt, und auf der anderen Seite 44 Siehe etwa die Ergebnisse des Religionsmonitors 2013 sowie der gegenüber dem Religionsmonitor etwas älteren Studie von Streib, Heinz/Gennerich, Carsten: Jugend und Religion. Bestandsaufnahmen, Analysen und Fallstudien zur Religiosität Jugendlicher, Weinheim/München: Juventa-Verlag 2011. 45 Siehe die Hinweise oben unter Fußnote 21. In den folgenden Ausführungen wurden zum Teil Passagen aus dem Antragstext paraphrasiert oder übernommen.

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die „biologisch-dynamische Landwirtschaft“, die aus der Anthroposophie Rudolf Steiners (1861–1925) hervorgegangen ist – bzw. auf Englisch: organic farming und biodynamic agriculture. Die Frage bleibt jedoch, inwieweit die in der Regel strikt vorgenommene Unterscheidung zwischen zwei ökologisch orientierten Richtungen – einer nach streng wissenschaftlichen Kriterien arbeitenden, in der Regel als „biologisch-organischer“ oder „natürlicher Landbau“ referenziert, und einer eher spirituell orientierten, herkömmlicherweise als „biologisch-dynamisch“ oder „biodynamisch“ etikettiert – tatsächlich so eindeutig vorzunehmen ist, wie der erste Eindruck zu suggerieren scheint. Beispielsweise markiert die miomedi-Portalfamilie für Gesundheit und Medizin einerseits die Unterschiede ganz scharf: „Die Richtlinien für ökologischen Landbau erwähnen keine geistigen, seelischen, übernatürlichen oder religiösen Voraussetzungen … Es kommt bei der Produktion von Bio-Lebensmitteln also auf andere Aspekte an als auf die Spiritualität.“46

Andererseits sind Affinitäten und Schnittpunkte zwischen beiden Bereichen benannt, um allerdings sogleich wieder differenziert – und dann doch wieder relativiert zu werden, wenn es heißt: „Einer der ganz wenigen Faktoren, die in die Nähe von spirituellen Ansichten kommen, ist allerdings die Bevorzugung von nicht synthetischen Arzneimitteln. Neben der Pflanzenheilkunde kommen die Medikamente z. B. auch aus der Homöopathie … . Die Anbauverbände für ökologische Landwirtschaft … verlangen aber ebenfalls keine spirituellen Vorgaben. Ausnahme ist der Demeter-Bund, der nach der so genannten biologisch-dynamischen Landwirtschaft handelt. Diese hat einige Anforderungen, die mit übersinnlichen, kosmischen Energien zu tun haben. … Nicht nur Demeter-Betriebe, sondern auch Einzelbauern oder auch kleine Vereinigungen beziehen esoterische Aspekte mit ein …“.47

3.1  O rganisch oder dynamisch? – Konzeptionelle und personelle Verflechtungen Ein Blick in die Geschichte der Öko-Bewegungen insgesamt zeigt, dass es zwischen beiden Richtungen durchaus Affinitäten, Überschneidungen oder gar Gemeinsamkeiten gibt. In den meisten Darstellungen des Werdegangs des ökologischen Landbaus herrscht allerdings ein Differenznarrativ vor. 46 „Bio und Esoterik – Bio-Richtlinien“, http://www.miomedi.de/ernaehrung/alles-bio/ bio-esoterik/bio-richtlinien.html vom 23.03.2020. 47 Ebd.

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Üblicherweise gelten die Anthroposophie und die Lebensreformbewegung48 der 1920er Jahre als die beiden Wurzeln der ökologischen Bewegung, die indirekt auch ihre interne Differenzierung präfiguriert haben. Das offizielle Narrativ49 zieht dabei eine Linie von Ewald Könemann (1899–1976), einem Pionier der Lebensformbewegung, der zunächst in deren Umfeld wirkte und publizierte, über die Schweizerin Mina Hofstetter (1883–1967), die seine Gedanken aufgriff, zum Schweizer Ehepaar Hans (1891–1988) und Maria Müller (1894–1969). Die beiden Letztgenannten legten dann den Grundstein für den biologisch-organischen Landbau – er als Agrarpolitiker und Botaniker, der die Verwendung wirtschaftseigenen Düngers propagierte, sie als „Praktikerin“, die sich auf Fragen der konkreten Umsetzung ökologischer Prinzipien konzentrierte. Wissenschaftlich unterstützt wurden sie durch den Bakteriologen und Bodenkundler Hans-Peter Rusch (1906–1977), der durch seine Kreislauf-Hypothese der Wanderung von Mikroorganismen durch die Nahrungskette einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangte. Auf der anderen Seite stehen die Anthroposophie und Rudolph Steiner (1861– 1925), dem zugeschrieben wird, 1924 mit dem „Landwirtschaftlichen Kurs“ – einer Pfingsten 1924 vor Landwirten und Tierärzten gehaltenen Vortragsreihe50 – die biologisch-dynamische Landwirtschaftsweise begründet zu haben. Letztgenannten Begriff selbst hat jedoch nicht Steiner geprägt; er ist erst in den 1930er Jahren durch zwei bedeutsame Pioniere und Aktivisten dieser Richtung, Erhard Bartsch und Ernst Stegemann, dem Mitinitiator der soeben genannten Vortragsreihe, etabliert worden.51 Ein Blick in die Geschichte, aber auch die Vorgeschichte beider Traditionen zeigt, dass die Entwicklung der sich nach und nach ausdifferenzierenden Traditionen durchaus recht eng miteinander verschränkt war. Hier in Einzelheiten zu gehen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, zumal die hochdifferenzierte Detailforschung oftmals auch noch mit Indizien statt eindeutigen Belegen argumentieren muss. Wie Helmut Zander, der innerhalb des religionswissenschaftlichen Diskurses wohl profilierteste Kenner Steiners und der Anthroposophie, re48 Grundlegend ist hier die Untersuchung von Barlösius, Eva: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende, Frankfurt am Main: Campus Verlag 1997. 49 So u.a. popularisiert durch große Verbände wie etwa den Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (https://www.boelw.de/news/wie-ist-die-oekologische-landwirtschaftentstanden/). 50 Steiner, Rudolf: Geisteswissenschaftliche Grundlagen zum Gedeihen der Landwirtschaft, Dornach: Rudolf-Steiner-Verlag 52011. 51 Zander, Helmut: Anthroposophie in Deutschland, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 1579.

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cherchiert hat, ist es durchaus möglich, dass von Rudolf Steiner Gedanken des Agrarwissenschaftlers Richard Krzymowski (1975–1960) aufgegriffen wurden, die dieser in seiner 1919 veröffentlichten „Philosophie der Landwirtschaftslehre“ skizziert hatte.52 Wenngleich Krzymowskis Wissenschaftsverständnis lediglich darauf ausgerichtet war, zumindest im Pflanzenbau die grundsätzlich anerkannten naturwissenschaftlichen Verfahrensweisen verpflichteten Forschungen und Experimente durch agrargeographische und agrarhistorische Forschungsmethoden zu komplementieren, stand er selbst doch auch in einer Tradition, für die eine Verknüpfung von Spekulation, Empirie und experimenteller Methodologie durchaus selbstverständlich war. Ähnliches gilt mit Blick auf den Botaniker Raoul Heinrich Francé (1874–1943), wobei jedoch nicht belegt ist, ob und inwieweit Rudolf Steiner seine Schriften rezipiert hat. Doch die Verschränkungen unterschiedlicher Ansätze des ökologischen Landbaus gehen noch weiter zurück: Bereits seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurden Alternativen zum überkommenen Landbau diskutiert, die auf die eine oder andere Weise nicht nur in die Tradition des organischen Landbaus einflossen, sondern deren Ideen auch von der Anthroposophie rezipiert wurden. Insofern hatten Steiner und seine Adepten vornehmlich Gedanken und Vorstellungen aufgegriffen, die zumindest in vorangegangenen und zeitgenössischen Debatten um alternative Formen der Landwirtschaft quasi schon „in der Luft“ lagen und sowohl von Könemann als auch von Steiner geteilt wurden.53 Biologisch-dynamische und biologisch-organische Wirtschaftsweise waren somit also bereits in ihrer geschichtlichen Entwicklung sowohl konzeptionell als auch personell mehrfach ineinander verschränkt. So sind zwei im biologisch-dynamischen Kontext erarbeitete Prinzipien gleichermaßen zur Grundlage biologisch-organischen Selbstverständnisses und Wirtschaftens geworden: das Axiom, dass jeder bäuerliche Betrieb als „individueller Organismus“ zu betrachten sei; und der Grundsatz, Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung einer strengen Kontrolle zu unterziehen und dies mit einem Warenzeichen zu dokumentieren. Das wurde dann später in Gestalt der Zertifizierung von biologisch-organischen

52 Zander, Helmut: Rudolf Steiner. Die Biographie, München: Piper Verlag 2011, S. 458; Krzymowski, Richard: Philosophie der Landwirtschaftslehre, Stuttgart: Ulmer 1919. 53 Siehe Vogt, Gunter: Entstehung und Entwicklung des ökologischen Landbaus im deutschsprachigen Raum, Bad Dürkheim: SÖL 2000; siehe auch Ders.: „Geschichte des ökologischen Landbaus im deutschsprachigen Raum“, in: Ökologie & Landbau 118 (2/2001), S. 47–49 (Teil 1) und 119 (3/2001), S. 47–49 (Teil 2), siehe auch https://orgprints.org/1110/1/1110-vogt-g-2001-geschichte.pdf vom 30.03.2020 oder H. Zander, Anthroposophie, S. 1590f.

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Produkten beispielsweise durch das „Bioland“-Siegel und von biologisch-dynamischen Erzeugnissen durch „Demeter“ realisiert. Jenseits des Differenz-Narrativs stellen sich zudem die personellen Verflechtungen zwischen Akteur(inn)en der je unterschiedlichen Ausrichtungen viel komplexer, aber auch enger dar, als es auf den ersten Blick erscheint. Neben der genannten Pioniergeneration wäre noch eine ganze Reihe anderer Akteurinnen und Akteure zu erwähnen.54 Vor allem ist jedoch auffällig, dass mehrere von ihnen entweder als „Grenzgänger“ zwischen biologisch-dynamischer und biologischorganischer Wirtschaftsweise eingeordnet werden können oder diese Grenzen bewusst nicht beachteten. Dabei wäre zudem zu fragen, ob etwa in den 1950er und 1960er Jahren diese Grenzen tatsächlich so klar gezogen waren. Gertrud (1905– 1996) und Hannfried Franck (1906–1999) etwa, Öko-Protagonisten der 1950er und -60er Jahre auf dem Hofgut Oberlimpurg bei Schwäbisch Hall, wirkten in einem landwirtschaftlichen Kontext, der von – wenn auch zahlenmäßig wenigen – dynamisch-biologischen Höfen und Gärten geprägt war.55 Sie hatten private Kontakte zum Schweizer Ehepaar Müller, den Begründern der ökologisch-organischen Wirtschaftsweise, und Gertrud Franck veröffentlichte mehrfach in biologisch-dynamisch orientierten Publikationen.56 Die Vielfalt der Verbindungen und Verflechtungen ist sogar noch komplexer. So legte das Ehepaar Franck besonderen Wert darauf, seine Lehrlinge kulturell und musisch in der Tradition der evangelischen Bauernschulen auszubilden. Auch pflegten die beiden – u.a. durch Lehrtätigkeit – enge Beziehungen zur Bauernschule Hohenlohe, die „der wesentliche Impulsgeber dafür [war], dass in Süddeutschland … bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren Landwirte zumeist auf Biologisch-Dynamische Wirtschaftsweise umstellten.“57 Insbesondere Gertrud Franck pflegte zudem beste Kontakte zu den Benediktinerinnen der Abtei Fulda, die ihre landwirtschaftlichen Methoden übernahmen sowie weiterentwickelten und damit eine wichtige Multiplikatorenrolle einnahmen. Auch der ökologische Landbau biologisch-organischer Orientierung war und ist also durchaus durchlässiger, als die strikte Demarkierung gegenüber 54 Über Persönlichkeiten, die insbes. für die Entwicklung des biologisch-organischen Landbaus von maßgeblicher Bedeutung waren, siehe Schaumann, Wolfgang/Siebeneicher, Georg E./Lünzer, Immo: Geschichte des ökologischen Landbaus. Stiftung Ökologie & Landbau, Bad Dürkheim: SÖL 2000. 55 Vgl. Koepf, Herbert H./von Plato, Bodo: Die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise im 20. Jahrhundert, Dornach: Verlag am Goetheanum 2001, S. 179 ff. 56 Bross-Burkhardt, Brunhilde: Der private biologische Gartenbau in Süddeutschland seit 1945. Die Rolle der Pioniere und Veränderungen im Wissenstransfer, Langenburg: B. Bross-Burkhardt, insbesondere S. 31–44. 57 Ebd., S. 42.

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anderen Traditionen ökologischen Wirtschaftens glauben machen will – und zwar nach vielen Richtungen hin, insbesondere zur biologisch-dynamischen Produktionsweise. 3.2  B iologisch-dynamische Differenzaspekte des weltanschaulichen Überbaus Unstrittig ist jedoch, dass von Beginn an jene Traditionen, aus denen sich mit explizitem Bezug auf Steiner die biologisch-dynamische Landwirtschaft entwickelte, innerhalb eines identifizierbaren weltanschaulichen Rahmens verortet waren – und sich in mehr oder weniger expliziten Referenzen auf einzelne Aspekte bezogen, die über eine nüchterne (natur-)wissenschaftliche Arbeitsgrundlage hinausgingen. Letzteres war durchaus auch außerhalb anthroposophischer Rezeptionslinien des alternativen Landbaus anzutreffen, stellte allerdings kein konstitutives Merkmal der später als biologisch-organisch konzeptualisierten Produktionsweise dar. Inwieweit die spezifischen, in der und für die biologisch-dynamische Landwirtschaft entwickelten und dann auch angewandten Elemente der Wirtschaftsweise58 a priori ihrem charakteristisch anthroposophischen Überbau korrespondierten, wird sich vielleicht nicht mit letzter Sicherheit feststellen lassen.59 Unter historischen Gesichtspunkten ist zu konstatieren, dass in einer ersten Phase die weltanschaulich begründeten Einsichten biologisch-dynamischer Produktionsweise im Vordergrund standen. Sie bauten auf Steiners Vortragsreihe auf, deren Vorschläge in Versuchsbetrieben erprobt und dann durch den bereits 1924 gegründeten Anbauverband Demeter60 dauerhaft in die Praxis umgesetzt wurden. Ab den 1950er Jahren kam es dann neben einer weltanschaulichen Öffnung gegenüber nicht genuin anthroposophischen Zielvorstellungen – so etwa dem Engagement für den Erhalt agrarischer Strukturen und bäuerlicher Lebensweise – zur verstärkten und grundsätzlichen Rezeption und Integration von im strikten Sinne naturwissenschaftlichen Erkenntnissen.61 Gegen Ende des 20. Jahrhunderts rückten 58 Zum Folgenden s. Geier, Uwe u.a.: „Biologisch-dynamische Landwirtschaft“, in: Freyer, Bernhard (Hg.): Ökologischer Landbau. Grundlagen, Wissensstand und Herausforderungen, Bern: Haupt Verlag 2016, S. 101–123, S. 103ff. 59 Siehe H. Zander, Anthroposophie, insbesondere das Kapitel über „Die landwirtschaftliche Konzeption Steiners“, S. 1586–1590. 60 Demeter, heute „Demeter e.V., wurde 1954 als „Demeter-Bund“ mit dem Zweck der Vermarktung und Zertifizierung gegründet und bereits 1928 wurde das geschützte Markenzeichen „Demeter“ eingeführt. 61 G. Vogt, Entstehung und Entwicklung, S. 174–184ff.

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schließlich Aspekte des Umwelt- und Naturschutzes in den Vordergrund, was wiederum die traditionell biologisch-dynamische Produktionsweise um Aspekte ergänzte, die in Bereich eines erweiterten Ökologieverständnisses beheimatet waren und ebenfalls ‚von außen‘ übernommen und integriert wurden. Dennoch bleibt der Bezug zum anthroposophischen Überbau prägend, und entsprechende Zusammenhänge lassen sich recht konkret benennen: „Betriebsindividualität und lebendige Naturräume“ (Individualismus); die Methode der „Verlebendigung“ des Bodens (Zyklizität) durch „biologisch-dynamische Präparate“ (Organizität); Entwicklung von aufeinander bezogenen Methoden bei der Pflanzenzucht zur Bewahrung der pflanzlichen Eigenheiten (Integralismus) oder zur Erzeugung von „Lebensmitteln für Körper, Seele und Geist“ (Holismus); sowie die Berücksichtigung von ‚kosmischen Phasen‘ wie beispielsweise Mondzyklen (Analogizität).62 3.3  O rganisch vs. dynamisch? – Der Membrancharakter des ökologischen Landbaus Tatsächlich haben sich die beiden Traditionen später allerdings deutlich auseinanderentwickelt. So hat Könemann nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Nomenklatur der „Bionomie“63, die sich jedoch nicht durchsetzen konnte, den ökologischen Landbau konzeptionell auf eine strikt wissenschaftlich-naturgesetzliche Grundlage gestellt, während Rudolf Steiners Modell in den Gesamtentwurf seiner Anthroposophie eingebunden blieb. Die Differenz zwischen biologisch-organischer und biologisch-dynamischer Landwirtschaft war damit festgeschrieben. Als gemeinhin anerkannt darf gelten, dass die heutige ökologische Landwirtschaft mehrheitlich nicht auf der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise basiert, sondern auf dem biologisch-organischen Format des natürlichen Landbaus. Folglich wird sowohl in den meisten wissenschaftlichen Publikationen als auch auf seriösen Informationsportalen üblicherweise eine klare Unterscheidung zwischen beiden Paradigmen vorgenommen.64 62 So wird in der biologisch-dynamischen Produktionsweise mit dem Aussaat-Kalender der ‚Konstellationsforscherin‘ Maria Thun (1922–2012) gearbeitet (erstmalig: Thun, Maria: Anbauversuche über Zusammenhänge zwischen Mondstellungen im Tierkreis und einzelnen Kulturpflanzen, Darmstadt: Forschungsring für Biologisch-Dynamische Wirtschaftsweise 1963). Vorbild ist ein auf Anregung von Rudolf Steiner 1912/13 erschienener Konstellationen-Kalender. 63 Könemann, Ewald: Der Mensch im Reich der Ordnung. Lebensgesetze und Lebensordnung, Wien: Braumüller 1976. 64 Born, Peter-Matthias: Biologische Landwirtschaft. Bio-dynamisch, bio-organisch – wie sich die Landbaumethoden biologisch-dynamisch (Demeter) und biologisch-organisch

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Entsprechend eindeutig müsste sich dann in der Regel zwischen einer ökospirituellen und einer rein ökologisch-agrarischen Ausrichtung einzelner Akteure oder Verbände unterscheiden lassen. Das trifft sicherlich auch für den Fall zu, dass sich diese in ihrem Selbstverständlich eindeutig positionieren – so etwa „Bioland“ auf der einen oder „Demeter“ auf der anderen Seite. Dabei fällt allerdings auf, dass die ökologisch-dynamische – und damit recht klar identifizierbare „religionshybride“ – Ausrichtung bei Demeter, wo sie gewissermaßen programmatisch vorausgesetzt werden kann, zumindest bei der öffentlichen Internet-Präsenz kaum explizit herausgestellt ist und auf Stichworte wie „Religion“ oder „Spiritualität“ nicht bzw. kaum rekurriert wird.65 Dennoch ist zu vermuten, dass es fließende Übergänge gibt, die es schwierig machen, konkret auffindbare Projekte ökologischen Landbaus eindeutig der einen oder der anderen Seite zuzuordnen. Das mag damit zu tun haben, dass wir hier auf ein Übergangsfeld stoßen, das selbst einen Hybridcharakter „zweiten Grades“ aufweist bzw. wie eine Membrane zum „eindeutig“ öko-spirituellen Bereich hin wirkt bzw. funktional zu einer solchen wird.

4.  T RANSFORMATIONEN: DIE ÖKOLOGIE DES GANZEN 4.1  Empirisch, pragmatisch, wissenschaftlich, ganzheitlich Aufgrund dieses Membrancharakters der Öko-Landwirtschaft auch in ihren dezidiert nicht-religiösen und nicht-spirituellen Ausrichtungen war der ökologische Landbau in seiner ganzen Breite – also nicht nur hinsichtlich seiner biologischdynamischen Spielart – in den Fokus des genannten Forschungsprojekts über die „Märkte des Besonderen“ gerückt. Ebenfalls im weiteren Umfeld, das sich der ökologischen Landwirtschaft verbunden weiß – der Ernährung oder der Gesundheit – gibt es durchaus Phänomene einer analogen Membranwirkung in die eine oder in die andere Richtung. So fand sich beispielsweise auf der inzwischen aufgehobenen Website des damaligen „Vegetarierbundes“ vor mehreren Jahren ein (Knospe) entwickelten und wie sie sich unterscheiden (=Bildungsheft Nr. 6 des Konsumenten Verbandes) Russikon: Konsumenten Verband 2019. Ein kurzer Überblick findet sich auch auf der Website von Demeter: https://www.demeter.de/verbraucher/organisation/demeter-historie vom 30.03.2020. 65 Siehe hierzu http://www.demeter.de; die Abfrage über die Suchvorrichtung auf der Website am 30.08.2019 ergab zwar 41 (am 30.03.2020: 42) „hits“ für spirituell; diese waren jedoch sehr allgemeiner Art und nicht unmittelbar in Bezug auf die anthropologische „Ernährungsphilosophie“ expliziert.

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ausführliches Interview zum Thema „Spirituelle Landwirtschaft“,66 und das Thema „Religion“ spielte auch ganz explizit im Umfeld des Bundes immer wieder eine bedeutsame Rolle. Eine genauere Analyse der Diskurse und Diskussionsstränge, die hier zusammengeflochten werden oder auf die verwiesen wird, hatte – zusammengenommen mit dem im Umkreis dieses Portals auflaufenden Material – einige Grundparameter des Zusammenhangs von Veganismus/Vegetarismus und Religion/Spiritualität erkennen lassen. So lag es im allgemeinen Trend, „östliche“ Religionen als im Vergleich zu den „westlichen“ Religionen ethisch höherstehend zu markieren.67 Mit der 2017 erfolgten und auch in der Namensänderung abgebildeten Transformation des „Vegetarierbunds Deutschland e. V. (VEBU)“ zu „ProVeg Deutschland e. V.“ sind allerdings Referenzen auf „Religion“ oder „Spiritualität“ so gut wie völlig verschwunden und finden sich nur noch als deskriptive Reminiszenzen bei der Beschreibung von Motivationen zur veganen oder vegetarischen Ernährung aus religiösen Gründen.68 Ein anderes Beispiel für eine weitere Membranwirkung des ökologischen Landbaus wären etwa Kontaktstellen hin zur Schulmedizin im Kontext universitärer Ausbildung. So verweist der spirituell orientierte elraanis-Verlag in einem Beitrag69 lobend auf die Studienmöglichkeiten für ökologischen Land- und Pflanzenbau an der Universität Kassel70 und das Engagement der dortigen Studierenden, die zusätzliche Lehrveranstaltungen zur Naturheilkunde organisiert haben. Die Verschränkung von Öko-Landwirtschaft und spirituellen oder religionshybriden Phänomenen lässt sich auch durch weitere Beobachtungen belegen. Zum einen zeigen die Vorgeschichte und die Entwicklung des ökologischen Landbaus bis in die Gegenwart hinein diese membranhafte Offenheit gegenüber Dimensionen jenseits des strikt Empirisch-wissenschaftlichen und Pragmatischen. So hat beispielsweise der bereits oben erwähnte Hans-Peter Rusch das von ihm vertretene Kreislaufprinzip – das Prinzip des „Kreislaufs der lebendigen Substanzen“, eine der Grundlagen ökologisch-organischer Wirtschaftsweise – als „Prinzip des Lebendigen“ beschrieben und so gedeutet: 66 http://www.vebu.de/alt/nv/nv_2000_3__Spirituelle_Landwirtschaft.htm vom 22.08.2013; inzwischen allerdings nicht mehr verfügbar. 67 Siehe unter anderem die Sammlung „ethischer Zitate“, wo sich u.a. Swami Vivekananda findet: http://www.vebu.de/tiere-a-ethik/zitate?showall=1 vom 20.09.2013, inzwischen nicht mehr verfügbar. 68 https://proveg.com/de/ernaehrung/vegane-ernaehrung/ vom 30.03.2020. 69 http://www.elraanis.de/frontend/newspaper_show.php4?activ_cat1=9&activ_id=172 vom 20.09.2013, inzwischen nicht mehr verfügbar. 70 http://www.uni-kassel.de/fb11agrar/fachgebiete-einrichtungen/oekologischer-landund-pflanzenbau/ueber-uns.html vom 30.03.2020.

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„[Es] ist aber nicht der mineralische, leblose, chemisch nachweisbare Stoff, sondern die Organisation dieser Stoffe, die Ordnung im Ungeordneten, das sinnvolle und doch verwirrend vielgestaltige und wandelbare Prinzip, das uns als ‚lebendige Substanz‘ durch das Mikroskop erschlossen wurde. Dieses Prinzip ist im Einzelnen und in allen seinen Bildungsformen vielleicht auch als ‚Substanz‘ sichtbar und materialisiert, ist aber eigentlich ein rein geistiges Prinzip, die Substanz nur sein sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck.“71

Doch nicht nur Rusch stellt sich damit – vielleicht unbeabsichtigt – ideengeschichtlich in die Tradition des „Vitalismus“. Begründer des organisch-biologischen Landbaus im angelsächsischen Bereich wie Sir Albert Howard (1873– 1947) oder Lady Eve Balfour (1899–1990) verbanden ihre Kreislaufkonzeptionen ebenfalls mit vitalistischen Vorstellungen. Das tat auch ein anderer Mitbegründer des ökologisch-organischen Landbaus, der Biologe Raoul Heinrich Francé (1874–1943), der das Kreislaufparadigma in gleichsam religiöse Sprache kleidete, wenn er von der „Heimatscholle“ als „Mutter Erde, aus der wir kamen und zu der wir werden“72 sprach. Damit nicht genug: Selbst wichtige Protagonisten der Agrikulturchemie hatten bereits im 19. Jahrhundert analoge Gedankengänge von einer „Lebenskraft“ entwickelt, die den „toten Stoff“ zu lebendiger Materie mache, ohne dies jedoch mit ihren der Schulchemie verpflichteten Erkenntnissen zu vermitteln. So konnten vitalistische Traditionen nicht in der konventionellen agrochemischen Landwirtschaft, wohl aber im ökologischen Landbau – und eben auch und gerade in seinem biologisch-organischen Modus – Aufnahme finden.73 Zum anderen scheint das Interesse an und die Offenheit gegenüber einem nicht nur pragmatisch und strikt empirisch ausgerichteten Landbau nach wie vor vorhanden. Die vom Bioforum Schweiz organisierten „Möschberg-Gespräche“, ihres Zeichens Fortsetzung der Seminare der von Hans Müller 1932 errichteten Landbau- und Volkshochschule für Bauern auf dem Möschberg, „wagen den Seiltanz zwischen der fassbaren organischen Substanz der Erde und den feinstofflichen oder spirituellen Einflüssen in Boden und Frucht.“74 Aus Interviews nicht nur mit älteren Aktivistinnen und Aktivisten des organisch-biologischen Landbaus, sondern auch mit jüngeren Akteurinnen und Akteuren 71 Rusch, Hans Peter: Bodenfruchtbarkeit. Eine Studie biologischen Denkens, Heidelberg: Haug 1968, S. 33. 72 Francé, Raoul Heinrich: Das Leben im Boden. Das Edaphon, München: Edition Siebeneicher 1982 (1922), S. 51. 73 Patzel, Nikola: „Das Kreislaufprinzip, ein Urbild des Biolandbaus“, in: Kultur und Politik. Zeitschrift für ökologische, soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge 4 (2011), S. 15–17. 74 https://www.bioforumschweiz.ch/möschberg-gespräche/ vom 30.03.2020.

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„ergibt sich, dass sie es in der heutigen Situation vermissen, dass Sinn stiftende Werte vermittelt werden. Der Aspekt der Ganzheitlichkeit, der Sinnstiftung [Hervorhebung von mir; KH] kommt ihnen zu kurz. Sie fühlen sich in einem Landbausystem, das auf fast ausschließlich kommerziellen Prinzipien beruht und bis ins Detail reglementiert ist, nicht mehr verortet.“75

Mit dieser Feststellung ist jedoch sofort ein grundsätzliches Caveat zu verbinden. Wie die Interviews nämlich ebenfalls ergeben haben, „brauchen [die interviewten Akteurinnen und Akteure] einen Ort für ihre Ideale, wobei sie keine moderne Esoterik suchen, sondern Werte, die sich mit ihrer Grundeinstellung vereinbaren lassen und die einer wissenschaftlichen Überprüfung standhalten.“76

Es kann also nicht angehen, die beobachtbare Offenheit gegenüber einem nicht nur pragmatisch und strikt empirisch ausgerichteten Landbau religiös umzudeuten oder ihm deshalb von vornherein eine spirituelle Dimensionierung zu unterstellen. Auch dürfen die eindeutigen Differenzen zwischen einem wissenschaftlich orientierten, einem vorwissenschaftlich experimentierenden und einem spirituell bzw. religiös inspirierten Landbau nicht verwischt werden. Beispielsweise lässt sich das von Gertrud Franck vertretene Verständnis des ökologischen Landbaus und die von ihr betriebene Praxis als empirisch und handwerksmäßig kategorisieren und ist entsprechend als protowissenschaftlich (im Sinne Thomas S. Kuhns)77 und protoprofessionell beurteilt worden.78 Umgekehrt darf diese notwendige Differenzierung nicht ausgespielt werden gegen die mehrfach erwähnte, grundsätzliche Offenheit ökologisch-organischer Wirtschaftsweise gegenüber Dimensionen, die

75 Bross-Burkhardt, Brunhilde/Hoffmann, Heide: „Identifikationsbildung des organischbiologischen Landbaus“, in: Mayer, Joche: u.a. (Hg.), Werte – Wege – Wirkungen: Biolandbau im Spannungsfeld zwischen Ernährungssicherung, Markt und Klimawandel. Beiträge zur 10. Wissenschaftstagung Ökologischer Landbau, ETH Zürich, 11.–13. Februar 2009, Band 1: Boden, Pflanzenbau, Agrartechnik, Umwelt- und Naturschutz, Biolandbau international, Wissensmanagement, Berlin: Köster 2009, S. 510–513 (512). 76 Ebd., S. 512f. 77 Kuhn, Thomas S.: „Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit?“, in: Lakatos, Imre/Musgrave, Alan (Hg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig: Vieweg 1974, S. 1–24. 78 Inhetveen, Heide: „Das Labor im Garten. Pionierinnen des Ökologischen Landbaus und ihre Gärten“, in: Hubenthal, Heidrun/Spitthöver, Maria (Hg.): Frauen in der Geschichte der Gartenkultur, Bd. 1, Kassel: Universität Kassel 2002, S. 65–83.

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spirituellen oder religiösen Charakter annehmen können – selbstverständlich nicht notwendigerweise müssen. 4.2  D urchlässigkeit und Ambivalenz: Permakultur als Transformation Diese Potenzialität und gleichzeitige Ambivalenz lässt sich exemplarisch und besonders eindrücklich an einem weiteren Modus der Bio-Landwirtschaft aufzeigen, die sich seit einigen Jahren als dritter Zweig des ökologischen Landbaus, nahe an der „ganzheitlich“ ausgerichteten Tiefenökologie79, positioniert: die sog. Permakultur (von permanent agriculture) nach Bill Mollison und David Holmgren.80 Die Permakultur verbindet ursprünglich intensiven ökologischen Landbau mit linker oder grün-alternativer Gesellschaftskritik und zielt auf die Schaffung von autarken lokalen Einheiten – nicht zwangsläufig Landkommunen o.ä. – auf der Basis von Selbstversorgung und Kreislaufwirtschaft. Permakultur lehnt vor allem unter dem Stichwort der Multifunktionalität jede Art von landwirtschaftlicher Spezialisierung ab und spricht der artgerechten Tierzucht eine viel größere Bedeutung zu, als der biologisch-organische Landbau es tut; Tiere („Mitlebewesen“) – von Kühen und Schweinen über Hühner bis hin zu Regenwürmern – gelten nicht nur als landwirtschaftliche Produkte, sondern vornehmlich als „Mithelfer“. Der bekannteste Vertreter der Permakultur im deutschsprachigen Raum ist der Österreicher Sepp Holzer, der gerne charismatisch als „Agrar-Rebell“ – so auch der Titel seiner Autobiographie81 – auftritt. Im Mittelpunkt seiner „Lehre“ steht die Achtung vor dem „Wunderwerk der Schöpfung“82 – ohne dass dies jedoch weiter religiös aufgeladen ist. Vielmehr konstatiert Holzer:

79 Begründet durch Arne Næss (1912–2009), der Anfang der 1970er Jahre den Begriff prägte (Næss, Arne: „The Shallow and the Deep Long-Range Ecology Movement: A Summary“, in: Inquiry 16 (1973), S. 95–100. Tiefenökologie beschreibt einen normativen philosophischen Ansatz, der auf ökologische Harmonie und ökologisches Gleichgewicht ausgerichtet. Grundlegend: Næss, Arne u.a. (Hg.): Glasser, Harold: Deep Ecology of Wisdom. Explorations in Unities of Nature and Cultures, Selected Papers, Dordrecht: Springer 2005; einführend Drengson, Alan R./Inoue, Yuichi (Hg.): The Deep Ecology Movement. An Introductory Anthology, Berkeley: North Atlantic Books 1995. 80 Grundlegend: Mollison, Bill/Holmgren, David: Permakultur. Landwirtschaft und Siedlungen in Harmonie mit der Natur, Darmstadt: Pala-Verlag ²1984. 81 Holzer, Sepp: Der Agrar-Rebell, Graz: Leopold Stocker Verlag 2002. 82 Sepp Holzer: Sepp Holzers Permakultur, Graz: Leopold Stocker Verlag, 2004, S. 264.

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„die Natur ist perfekt und hält alles im Gleichgewicht […] Was soll ich an der Natur verbessern können, wo doch alles perfekt funktioniert?“83

Gegen eine religiöse oder spirituelle Interpretation der Permakultur verwehrt sich auch Bill Mollison: „As I have often been accused of lacking that set of credulity, mystification, modern myth and hogwash that passes today for New Age Spirituality, I cheerfully plead guilty. Unqualified belief, of any breed, disempowers any individuals by restricting their information. Thus, permaculture is not biodynamics, nor does it deal in fairies, devas, elves, after-life, apparitions or phenomena not verifiable by every person from their own experience, or making their own experiments.“84

Die Permakultur ist an sich und erklärterweise also nicht spirituell. Sie wurde und wird allerdings zunehmend spirituell gedeutet, was sich im Zuge der „Spiritualisierung“ von Teilen der alternativen Bewegung, unter anderem insbesondere an der Gründung von „öko-spirituellen“ Siedlungen, wie etwa der „Findhorn Foundation“ in Schottland, exemplifizieren ließe.85 Permakultur-Konzepte stehen insbesondere hinter den Gestaltungskonzepten von „Ökodorf Sieben Linden“86, „Lebensgarten“ Steyerberg87 und „ZEEG - Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“88 sowie hinter Klein Jasedow in Mecklenburg-Vorpommern. Auch Sepp Holzer89 tritt gelegentlich in „spirituellen Zentren“ auf, wo seine Lehre gerne entsprechend gedeutet wird.90

83 Ebd., S. 14f. 84 http://www.skepteco.wordpress.com/2012/01/09/does-the-spiritual-have-a-place-inpermaculture vom 30.03.2020. 85 https://www.findhorn.org vom 30.03.2020. 86 http://siebenlinden.org/de/start/ vom 30.03.2020. Siehe auch Stanellé, Chironya/Kunze, Iris: 20 Jahre Ökodorf Sieben Linden, Beetzendorf: eurotopoia Buchversand 2017. 87 https://www.lebensgarten.de vom 30.03.2020. 88 https://www.zegg.de/de/ vom 30.03.2020. 89 https://www.seppholzer.at/willkommen vom 30.03.2020. 90 „Mein Vorbild für dieses Projekt sind die Naturverhältnisse die Sepp Holzer im Lungau, dem Sibirien Österreichs geschaffen hat. Die Schaffung einer derartigen Umgebung auf unserem Acker wird ein tiefer spiritueller Prozess sein, denn es erfordert still zu werden, zu lauschen und zu beobachten, wie sich die Dinge verhalten und dann daraus zu lernen. Es ist ein ,sich bewusstwerden‘ der Lebendigkeit aller Dinge, der perfekten Ordnung und der Lebenskreisläufe in der Natur und wie man sich als Mensch darin

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Die Permakultur spielt ebenfalls in der Anastasia-Bewegung – so genannt nach den Büchern des Schriftstellers Wladimir Megre über die russische Heilerin Anastasia – und in Projekten zur Gründung von Familienlandsitz-Siedlungen nach Anastasia eine (allerdings untergeordnete) Rolle.91 Das Netzwerk „Familienlandsitz-Siedlungen“ verzeichnete seinerzeit (2014) zwölf Siedlungsprojekte in Deutschland, davon zwei in Mecklenburg-Vorpommern: das Projekt „Nordlicht“ bei Ferdinandshof (bereits mit Land) und das Projekt „Goldbach“ auf der Mecklenburgischen Seenplatte (noch ohne Land), initiiert von Iris Wetzig, seit 2010 Veranstalterin des Yogafestivals Mecklenburg – damals auf Schloss Daschow,92 zuletzt 2017 am Plauer See93 –, die sich inzwischen schwerpunktmäßig am Aufbau des Familienlandsitzes Landolfswiese im brandenburgischen Grabow bei Blumenthal engagiert.94 Ein weiteres Siedlungsprojekt (noch ohne Land) sollte außerhalb dieses Netzwerks auf Rügen initiiert werden. Inzwischen haben investigative Reportagen die rechtsextremistische und antisemitische Orientierung der Anastasia-Bewegung thematisiert.95 Recherchen in diesem Feld sind äußerst schwierig und Veröffentlichungen werden von Akteuren aus der neurechten Szene durch orchestrierte Abmahnungen zu verhindern versucht, was jedoch nur bedingt

einbinden kann.“ (https://hingabejetzt.wordpress.com/category/spiritualitat-im-alltag/ ernahrung vom 30.03.2020). 91 https://www.familienlandsitz-siedlung.de vom 30.08.2018; zur Zeit (30.03.2020) ist die Website wegen „Wartungsarbeiten …“, wie es heißt, nicht zugänglich. Seinerzeit befand sich auf der Homepage auch ein Verweis auf Sepp Holzer (https://www. familienlandsitz-siedlung.de/links-und-empfehlungen.html vom 30.08.2018). Schon damals hieß es zwar, dass die Arbeit des Netzwerkes momentan ruhe (https://www. familienlandsitz-siedlung.de/kontakt.html vom 30.08.2019) allerdings wurden Termine für Treffen und Veranstaltungen seinerzeit noch aktuell eingepflegt (https://www. familienlandsitz-siedlung.de/treffen.html vom 30.08.2019). Momentan (30.03.2020) ist diese Website nicht aufzufinden. 92 http://www.familienlandsitz-siedlung.de/siedlungsprojekte.html vom 30.08.2019; momentan nicht mehr aufrufbar. 93 http://www.yogafestival-mecklenburg.de vom 30.03.2020. 94 http://www.landolfswiese.de/familienlandsitz-landolfswiese/ vom 30.03.2020; die Website wird nach eigenen Angaben seit 2017 nicht mehr gepflegt. 95 Beispielsweise in der RBB-Dokumentation „Bio, braun und barfuß – Rechte Siedler in Brandenburg“ der Kontraste-Redaktion; siehe https://www.ardmediathek.de/rbb/player/Y3JpZDovL3JiYi1vbmxpbmUuZGUvZG9rdS8yMDE5LTA1LTE1VDIxOjE1OjAwXzdjM2VhOTY0LThjMTUtNDU2Ny1iZDllLTdjMDg5NWI2ZmJkNy9iaW8tLWJyYXVuLXVuZC1iYXJmdXNz/ vom 30.03.2020.

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von Erfolg gekrönt ist.96 Beispielsweise konnte trotz aller juristisch flankierten Einschüchterungsversuche eine aktualisierte Neuauflage des binnen kürzester Zeit vergriffenen Bandes „Völkische Landnahme“ erscheinen.97 Mit Blick auf die auch als rechtsesoterisch einzuordnende Anastasia-Bewegung ist wohl die Lesart zutreffend, dass ihr Interesse an der Permakultur eher dazu dient, die Permakulturszene zu unterwandern.98 Entsprechend ist letztere darum bemüht, sich von der Anastasia-Bewegung zu distanzieren.99 Im Klanghaus Klein Jasedow100 und in Pulow (dem Sitz vom „Kräutergarten Pommerland“) fand „seit 2003 ein Ausbildungszyklus Permakultur statt – die heilende Kunst von der Gestaltung der Beziehung von Mensch und Natur“101, und in der Zeitschrift OYA gibt es eine Rubrik „Permakultur und Tiefenökologie“, verantwortet von Ulrike Meißner, ihres Zeichens diplomierte Permakulturdesignerin, freie Journalistin, Tutorin der Permakultur-Akademie Deutschland und Mitglied im Permakultur Institut e.V.102 Klein Jasedow spielt dabei auch für die Popularisierung des Permakultur-Gedankens ein wichtige Rolle: „Ende des Jahres [2013] erscheint im Klein Jasedower Drachen Verlag ein lange erwartetes Buch erstmals in deutscher Übersetzung: ‚Permakultur. Gestaltungsprinzipien für zukunftsfähige Lebensweisen‘, das Standardwerk des australischen Permakultur-Pioniers David 96 Siehe etwa Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel, 8. Oktober 2019 (https://www.boersenblatt.net/2019-10-08-artikel-abmahnwelle_gegen__voelkische_landnahme_-titel_des_ch._links_verlags.1738621.html vom 23.03.2020; siehe auch  https://www.buchjournal.de/1740394/;  https://www.deutschlandfunk.de/meinungsfreiheit-und-rechte-akteure-pen-deutschland-autoren.691.de.html?dram:article_id=461610 vom 30.03.2020 oder https://www.buchmarkt.de/meldungen/links-undrowohlt-setzen-sich-gegen-abmahnung-zur-wehr/ vom 30.03.2020). 97 Röpke, Andrea/Speit, Andreas: Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos, Berlin: Chr. Links 22019. Zur Anastasia-Bewegung siehe insbesondere S. 142–148. 98 https://www.remid.de/blog/2019/04/leben-nach-der-heiligen-anastasia-rechtsradikalismus-in-gruen/ vom 30.03.2020. 99 Vgl. hierzu etwa https://permakultur.de/neuigkeit/anastasia-und-familienlandsitzbewegung/ vom 30.03.2020 oder, etwas deutlicher, https://oya-online.de/article/read/2777anastasia_die_macht_eines_phantoms.html vom 30.03.2020. 100 https://eaha.org/lernorte vom 30.03.2020. 101 http://eaha.org/de/projekte/index.html vom 30.08.2019; inzwischen nicht mehr auffindbar; es wird aber (https://eaha.org/links vom 30.03.2020) auf den Kooperationspartner Permakultur Akademie e.V. (www.permakultur-akademie.net) verwiesen. 102 http://www.oya-online.de/about/wer.html vom 30.03.2020.

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Holmgren. Das Buch geht weit über eine Praxisanleitung zum Gärtnern hinaus und besticht durch seinen breiten Horizont und seine Weitsicht. Erstmals 2002 auf Englisch erschienen, stellt es Ethik- und Gestaltungsprinzipien vor, die auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft anwendbar sind und Wege zu einer postfossilen, zukunftsfähigen Kultur weisen.“103

Weitere Projekte in Mecklenburg-Vorpommern beziehen sich mehr oder weniger explizit auf die Permakultur. Dabei findet teilweise eine weit über den ökologischen Landbau hinausgehende Öffnung zu anderen Dimensionen statt – Kunst, Kultur oder auch Heilung. Kunst und Natur verbindet der gleichnamige „Kunst und Natur e.V. Steinfurth“. Eines der naturbezogenen Projekte ist das Anlegen eines „Waldsaumgartens“: „Die Idee des Waldgartens, den indigene Völker auf mehreren Kontinenten praktizieren, hat der Engländer Robert Hart in Europa bekannt gemacht […] Eine Weiterentwicklung ist der Waldrandgarten […] Wir gestalten unseren Waldsaumgarten auch nach den Prinzipien der Permakultur […] Es entsteht ein zwar künstlich geschaffener ‚naturkreativer‘, jedoch vielfältiger Lebensraum für zahlreiche Wildtiere, der positive Erlebnisse und Erfahrungen für uns Menschen ermöglicht. In diesem Garten können […] Erwachsene Ruhe und Kraft schöpfen, sei es bei Gartenarbeit, Kontemplation oder Kunstschaffen, inspiriert von der Natur.“ 104

Aber es gibt auch kulturelle Angebote, wie etwa Lesungen.105 Daneben engagieren sich die Initiatoren auch für ein eigenes Kunstprojekt.106 – Der Heil-Kunst-Garten Zempow wiederum verknüpft entsprechend seinem programmatischen Namen Heilung, Kunst und Natur.107 „Permakultur ist unsere Lebensphilosophie und Gartenstrategie – das Problem ist die Lösung“108 – „Im Heil-Kunst-Garten wirken Natur, Kunst und heilende Kräfte zusammen.

103 https://oya-online.de/news/590-permakultur_auf_deutsch.html vom 30.03.2020. 104 http://www.kunstundnatur-steinfurth.de/waldsaumgarten/ vom 30.03.2020. 105 https://kunstundnatur-steinfurth.de/geschichte-des-vereins/; https://kunstundnatursteinfurth.de vom 30.03.2020. 106 https://kunstundnatur-steinfurth.de/kunstoffen-2015/; https://kunstundnatur-steinfurth. de/kulturhaus/ http://www.charismata-art.de/kulturhaus.html vom 30.03.2020. 107 http://www.heil-kunst-garten-zempow.de/ferien-und-gesundheitshof-ginkgo/heilkunstgarten.html vom 30.03.2020. 108 http://www.palohamet-ginkgo.de/ferien-und-gesundheitshof-ginkgo/heilkunstgarten. html vom 30.03.2020.

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Auf ‚Sinuswegen‘ gelangen Sie vom ‚Wirbelhaus‘ zum indianischen Medizinrad und vom Glöckchenwald zum Kräuterhügel und Wassergarten.“109

Aus Impulsen der Permakultur ist inzwischen bereits eine weitere globale Initiative hervorgegangen: die 2006 in Irland um Rob Hopkins entstandene TransitionTown-Bewegung. „Rob Hopkins’ Lösungsvorschlag ist: ‚Relocalisation‘, das heisst die Stärkung der örtlichen Ökonomie und der sozialen Bindungen, und ‚Resilience‘, das heisst Systeme anpassungsfähig zu machen. Ein anderer entscheidender Punkt ist, dass eine positive Vision entwickelt wird. Die Motivation kommt also nicht aus der Angst vor der Katastrophe, sondern von dem positiven Bild, wie unsere Zukunft aussehen kann (die zugrunde liegende psychologische These ist, dass wir nur handeln, wenn wir eine Zukunft sehen, für die es sich zu handeln lohnt). Hopkins hat ein klares Design des Übergangsprozesses entwickelt, dem die Permakultur Prinzipien zugrunde liegen.“110

Seit 2010 gibt es auch in Deutschland Transition-Town-Initiativen. Im Frühling 2013 wurde in vielen Städten der Dokumentarfilm „Voices of Transition“ vorgeführt – mit anschließender Diskussion, um die Gründung neuer Initiativen anzuregen. Die Vorführung in Schwerin fand im Hof Medewege (Mai 2013) statt. Nach der Vorführung in Rostock wurde eine Initiative111 gegründet, die sich in der Heiligen-Geist-Kirche trifft – doch diese Ortswahl sollte nicht zu falschen Schlüssen verleiten: Wie Bill Mollison hinsichtlich der Permakultur, so verwehrt sich auch Rob Hopkins grundsätzlich gegen eine spirituelle oder religiöse Deutung der Transition-Town-Bewegung und wendet sich auch explizit gegen eine entsprechende Interpretation des postulierten „inneren Wandels“.112 Doch weder Mollison noch Hopkins ist es gelungen, ihr reklamiertes Deutungsmonopol gegenüber den grassierenden „spiritualisierenden“ Interpretationen ihrer Initiativen und der daraus erwachsenden Bewegung(en) durchzusetzen, zumal selbst die öffentlichen Medien ihre eigenen, davon abweichenden Auslegungen ohne Rücksicht auf das programmatische „Reinheitsgebot“ der jeweiligen Gründer kundtun. Beispielsweise hat ein Hörfunk-Beitrag von WDR 5 (gesendet am 03.07.2011) im 109 http://www.zempow.sichelschmiede.org/Erlebnisse-1.htm vom 30.03.2020). 110 https://permakultur-info.de/transition-towns/ vom 30.03.2020. 111 https://transitiontownrostock.wordpress.com/2013/07/09/transition-town-initiativerostock-in-grundung/; s. a. https://transitiontownrostock.wordpress.com/termine/ vom 30.03.2020. 112 http://transitionwhatcom.ning.com/profiles/blogs/rob-hopkins-and-michael  vom 30.03.2020.

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Zusammenhang mit der Transition-Town-Bewegung den Begriff „Spiritualität des Wandels“ geprägt: „Transition bedeutet soviel wie Übergang oder Transformation. Wir sollten uns dabei aber stets auch vor Augen halten – und es letztlich verinnerlichen – dass dieser Wandel nicht nur ein Wandel im Außen, sondern auch ein Wandel im Inneren ist. Im Inneren eines jeden einzelnen von uns“

– oder wie es in der Ankündigung des Audio-Beitrages hieß: „Auf der weltweiten Suche nach einer ‚anderen Welt’ wird die Spiritualität als wesentliches Werkzeug sozialen Wandels wiederentdeckt. Die Bewegung der ‚Transition Towns’, die sich auf die postfossile Zukunft ohne Erdöl vorbereitet, sieht den ‚inneren Wandel’ als ebenso wichtig wie die politische Aktion.“113

5.  RÜCKBLICK UND ZWISCHENBEOBACHTUNG Wie bereits festgestellt, war das gesamte Spektrum der ökologischen Landwirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern aufgrund ihrer Offenheit, Vieldeutigkeit und Ambivalenzen in den Beobachtungs- und Analysehorizont unseres Forschungsprojekts gerückt. Besondere Aufmerksamkeit hatten wir dabei den membranhaften Übergängen mit ihren jeweiligen Deutungen gewidmet, die als „religionshybride“ Phänomene par excellence gelten können. Darüber hinaus waren die institutionellen Vernetzungen, Einbettungen und Verflechtungen einzelner Gruppen, Vereine, Institutionen oder Initiativen nicht nur untereinander, sondern auch in Bereiche jenseits der „Öko-Szene“ von besonderem Interesse. Wie eine solche Vernetzung aussieht, lässt sich exemplarisch an folgenden zwei Schaubildern darstellen.114 Dazu sind zwei Anmerkungen zu machen. Zum einen waren sie im Rahmen der Vorrecherchen für das Projekt „Märkte des Besonderen“ erstellt worden, bilden also nicht die aktuelle Situation ab; diese dürfte von der damaligen aber le113 Zit. nach https://www.facebook.com/search/top/?q=%22die%20sich%20auf%20die%20 postfossile%20Zukunft%20ohne%20Erdöl%20vorbereitet%22&epa=SEARCH_BOX vom 30.03.2020. 114 Die beiden Schaubilder sind im Rahmen der Vorrecherche für den Projektantrag zur Erforschung der „Märkte des Besonderen“ von den Mitarbeitenden im Vorgängerprojekt „Religionshybride“ (Thomas Käckenmeister, Arnaud Liszka und Marlen Schröder) erstellt und von mir lediglich anonymisiert sowie für den Schwarzweiß-Druck aufbereitet worden.

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diglich dadurch unterschieden sein, dass sich die hier skizzierte Vernetzung in der Zwischenzeit noch weiter ausdifferenziert hat. Zum anderen sind die auf den Abbildungen genannten Akteure und Institutionen anonymisiert – abgesehen von Demeter und den Waldorfschulen im zweiten Schaubild. Letzteres wiederum hat damit zu tun, dass der Verband vor Ort zwar nicht konkret als organisatorischmaterialisierte, wohl aber als institutionalisiert-ideelle Größe ins Blickfeld kam, da er als zentraler Referenzpunkt präsent war und entsprechend auch hier in der Abbildung prominent, wenngleich nicht-mittig, repräsentiert ist. Beides tut der Tatsache jedoch keinen Abbruch, dass der diesen Darstellungen zugrundeliegende Befund eindeutig bleibt. Im Zentrum des ersten Schaubildes steht der Ökohof „Vernetzungstyp“, dessen Zugehörigkeitsgruppen – nach Bewohnern und Mitarbeitern differenziert – in vier bzw. fünf thematisch unterscheidbaren internen Bereichen arbeiten und engagiert sind. Gliedern wir den „Kulturverein“ als allgemeine, alle aufgeführten Domänen übergreifende Dimension und den „Waldorfkindergarten“ als besondere Initiative mit spezifischer Zielsetzung aus, bleiben Landwirtschaft, Kunsthandwerk und Heilung als drei Felder übrig – genau jene, die hinsichtlich ihres hypothetisch angenommenen religionshybriden Potentials je als „erweitertes religiöses Feld“ in den Blick genommen wurden, wobei die auch personelle enge Wechselbeziehung zwischen Kunsthandwerk und Heilung auffällt. Eine Art institutionellen Brückenkopf zum Außenbereich bildet der Waldorfkindergarten.

Abbildung 1: Ökohof „Vernetzungstyp“ – Innenbereiche und interne Bezüge

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Wird aus dem internen Bereich des Ökohofs auf externe Vernetzungsbezüge herausgezoomt, lassen sich vornehmlich drei Beobachtungen machen: Erweiterung, Differenzierung und De-Zentrierung. Gegenüber dem „Religionshybride“-Projekt war bei der Vorrecherche für das Folgeprojekt, bei der unter anderem diese beiden Schaubilder entstanden waren, vor allem die neue, beschleunigte und erweitere Vernetzung des Hofes aufgefallen, namentlich zum benachbarten „Kirchbauverein Dorfkirche“, der unter anderem Veranstaltungen im Hofcafé des Ökohofs „Vernetzungstyp“ organisiert. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Vernetzungen ihrem Charakter nach zunehmend durch einen wechselseitigen, gleichberechtigten und – vielleicht nicht quantitativ, aber qualitativ – „paritätischen“ Austausch gekennzeichnet sind. Dieser ist insofern mit einer gewissen De-Zentrierung verbunden, als verschiedene Akteure und Initiativen sich mehr und mehr auf gleicher Ebene begegnen, in der ökonomische und ideelle Dimensionen auf der Grundlage gemeinsam geteilter ‚beliefs‘ im Sinne von „Grundannahmen“ – wie wenig konkret diese auch immer konzeptualisiert sein mögen – integriert sind.115 Auf die Kategorie von beliefs wird in diesem Zusammenhang deshalb rekurriert, weil sie sich recht gut eignet, diese zunächst diffuse Basis für die Ökonomisches und Ideelles integrierende Interaktionsebene zumindest grob zu bestimmen. Im Wissenschaftsdiskurs findet sich auf allgemeinster Ebene und insbesondere im Kontext psychologischer Zugänge dabei unter anderem ein Verständnis von beliefs im Sinne von „Gefühlen“.116 Empirisch-analytische und philosophisch-er115 Die Kategorie der beliefs spielt eine tragende Rolle innerhalb des Forschungsdesigns wie auch der einzelnen Forschungsvorhaben im interdisziplinären DFG-Graduiertenkolleg Deutungsmacht – Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten (siehe https://www.deutungsmacht.uni-rostock.de). Im Zuge des Projekts „Märkte des Besonderen“ erwies sich das Konzept der belief systems allerdings insofern nicht als zentral oder von tragender Bedeutung, als es eher die einzelnen beliefs selbst waren, die gerade in ihrer Fluidität und Diffusität sowie ihrer Intransigenz gegenüber allen Versuchen einer systematischen Verortung die entscheiden Faktoren darstellten – „beliefs im Sinne von elementaren Formen des Glaubens oder Überzeugungen“ (https://www.deutungsmacht.uni-rostock.de/storages/uni-rostock/Alle_THF/Deutungsmacht/GRK_1887_ Deutungsmacht_Fortsetzungsantrag_-_Antrag_-_Theorie.pdf, Antragstext S. 17, vom 30.03.2020). Von daher wird auch im Folgenden darauf verzichtet, die Frage nach den belief systems vertieft weiter zu verfolgen. 116 Das wird vorgeschlagen von dem australischen Neurologen Jonathan Leicester, der zwischen intellektualistischer, Veranlagungs- und Gefühls-Theorie unterscheidet und im Sinne der letzteren von beliefs als Gefühlen spricht und sie im Rahmen einer Gefühlstheorie konzeptualisiert (Leicester, Jonathan: What Beliefs are Made From, Syd-

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Abbildung 2: Ökohof „Vernetzungstyp“ – Außenbereiche und externe Bezüge

kenntnistheoretische Zugänge117 fokussieren stärker auf belief systems und nehmen entsprechend eher (auf im weitesten Sinne ‚systemische‘ Größen ausgerichtete) strukturierende und systematisierende Operationen vor. Dies alles kann hier nicht weiter diskutiert werden. Als sicher kann aber gelten, dass wir es beim Gros der im Rahmen des Projekts untersuchten Phänomene nicht mit ‚harten‘, systematisch in sich geschlossenen belief systems im engeren Sinne zu tun haben, jedenfalls nicht mit klar fassbaren – abgesehen vielleicht von dem der biologischney: Bentham Science Publishers 2016; siehe auch schon Ders.: „The Nature and Purpose of Belief“, in: The Journal of Mind and Behavior 29/3 (2008), S. 217–237. Damit steht Leicester allerdings nicht unbedingt für die Mehrheitsmeinung. 117 Erstere wurden bereits ab den 1960er Jahren diskutiert – eine Übersicht und erste Systematisierung dieser Zugänge findet sich beispielsweise bei Cobb, Roger W.: „The Belief-Systems Perspective: An Assessment of a Framework“, in: The Journal of Politics 35 (1973), S. 121–153 –, letztere erwuchsen aus Debatten innerhalb der Theologie und wurden insbesondere von Platinga und Wolterstorff weiter ausgearbeitet (siehe beispielsweise Plantinga, Alvin/Wolterstorff, Nicholas (Hg.): Faith and Rationality. Reason and Belief in God, Notre Dame, Ind.: Notre Dame University 1983. Ich verdanke diesen Hinweis Josua Folkerts, einem der Kollegiaten des o.g. Graduiertenkollegs.

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dynamischen Produktionsweise zugrundeliegenden anthroposophischen. Bestenfalls ließen sich so etwas wie individuelle belief systems rekonstruieren, wie sie sich bei den in diesem Band vorgenommenen Fallanalysen andeuten.118 Es scheint aber wenig zielführend, die doch spärlichen und wenig spezifizierten Hinweise hinsichtlich recht variabler und fluider beliefs als – wenngleich individuell rückgebundene – systematische Größe zu konzeptualisieren. Ein belief system wäre in diesem Fall dann nämlich als System zu postulieren, in dem verschiedene beliefs bereits vorfindlich miteinander in Beziehung gesetzt sind. Dies wird von den in unserem Projekt befragten Akteurinnen und Akteuren jedoch in der Regel nicht getan. Wir haben es vielmehr mit sehr unterschiedlichen und teilweise in sich variablen beliefs zu tun, deren Charakteristikum unter anderem darin besteht, dass sie sich eben diesen Systematisierungsversuchen immer wieder entziehen. Hand in Hand gehend mit Prozessen der Diversifikation, Expansion, Differenzierung und De-Zentrierung entsteht lediglich so etwas wie eine fluide Sphäre, ein Fluidum miteinander lose kommunizierender beliefs, die sich im Gesamtblick bestenfalls polyzentrisch auf bestimmte (im weitesten Sinne: institutionelle) Referenzpunkte ausrichten. Das zweite Schaubild oben spiegelt recht gut wider, dass sowohl der Öko-Hof als auch der Bio-Verband in Vernetzungen eingebunden sind, die keine klaren Hierarchisierungen oder Vorordnungen erkennen lassen. Insofern sind die in der Graphik verwendeten Pfeile auch dort, wo sie nur in eine Richtung gehen, nicht als Vektoren zu verstehen. Vielmehr bilden sie bestimmte Impulse in einer Momentaufnahme ab, wobei die Darstellung auch über den Augenblick hinausgehend insofern stimmig ist, als sich die verschiedenen Akteurinnen und Akteure bzw. Initiativen auf den Bio-Verband beziehen bzw. Mitglieder sind. Dieser selbst setzt jedoch keine maßgeblich transformierenden Impulse, wirkt also nicht als ‚Missionsagentur‘, und versucht auch nicht, sein belief system anderen zu oktroyierten. Innerhalb des soeben konstatierten Fluidums unterschiedlicher beliefs ließen sich auf ideeller Ebene bestenfalls einige Kristallisationspunkte ausmachen, die mit Stichworten markiert werden könnten, auf die bei unserer Erhebung seitens der befragten Akteurinnen und Akteure immer wieder referenziert wurde: ‚Kreislauf‘, ‚Ganzheit‘, ‚Zusammenbasteln‘, ‚Lebenspraxis‘ etc. Dieses Fluidum ist trotz sei118 Das würde jedoch voraussetzen, dass die individuellen belief systems als kognitive Schemata verstanden werden müssten, die auf ein kollektives belief system als Referenzrahmen bezogen sind (siehe hierzu insbesondere Converse, Philip E.: „The Nature of Belief Systems in Mass Publics“, in: Critical Review 18 (1964), S. 1–74, S. 34 u. ö.). Doch sowohl die Reduktion auf das Kognitive als auch die Referenzierung auf einen identifizierbaren Referenzrahmen ist im Falle der von uns interviewten Akteurinnen und Akteure in der Regel eben gerade nicht gegeben.

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ner Unstrukturiertheit allerdings dann doch von solcher Wirkmächtigkeit, dass es als alltagstranszendierende Sphäre außerordentliches Gewicht und prägende Bedeutung erlangt: als Ressource für ein Selbst- und Weltverhältnis, das auf die beiden Bereiche ‚Natur‘ (und die Beziehung zu ihr) und ‚Ökonomie‘ (hinsichtlich der aus der Natur erwirtschafteten Produkte und des weiteren Umgangs mit ihnen) wie auf zwei Brennpunkte einer Ellipse fokussiert ist. Gerade die mangelnde Konkretheit der beliefs macht die Stärke dieser fluiden Sphäre aus. Sie erlaubt die unmittelbare Bezugnahme der Einzelnen auf diesen belief oder jenen, um daraus starke Impulse der (Selbst-)Ermächtigung zu beziehen, aber ohne sich einem bestimmten belief verschreiben zu müssen. Dies lässt sich mit Blick auf die Frage nach dem Stellenwert ökologischen (Land-)Wirtschaftens auch so beschreiben, dass der Öko-Landbau zum Bewährungsfeld eines Selbst- und Weltverhältnisses wird, auf dem die Akteurinnen und Akteure ‚aus sich selbst heraus‘ im Medium einer alltagstranszendierenden Sphäre handeln. Analog dem Befund „Das Heil ist entthront worden, an seine Stelle ist die Heilung getreten“119 – der so gelesen werden kann, dass Gesundheit selbst de facto eine transzendentale Bedeutung erlangt –, ließe sich für den Bereich der ökologischen Landwirtschaft entsprechend feststellen: Über den Transmissionsriemen einer „Naturalisierung“ von Kultur und Lebensführung, mit der tatsächlich jedoch Natur als Kulturprodukt konzeptualisiert wird, erfährt die programmatische Maxime des „natürlich(er) Lebens“ eine – zunächst: unbestimmte – (Selbst-)Transzendierung. Dabei ist vorerst offen zu lassen, inwieweit diese Selbsttranszendierung immanent bleibt oder tatsächlich auf Transzendentes ausgreift. Formal betrachtet ließe sich für beide Fällen konstatieren: „Die Religion ist entthront worden, an ihre Stelle ist die Ökologie getreten.“

6.  EPILOG In Hinsicht auf das Konzept des erweiterten religiösen Feldes hat die Frage nach Interferenzen zwischen Spiritualität und Ökonomie zunächst ergeben, dass wir es hier mit zwei Größen zu tun haben, die in sich selbst bereits hybriden Charakter tragen. Eine strikte differenztheoretische Trennung zwischen ‚rein‘ (natur-) wissenschaftlich fundamentierter ökologischer Landwirtschaft hier und weltanschaulich, spirituell oder gar religiös inspirierter Landwirtschaft dort lässt sich zumindest in historischer Perspektive nicht eindeutig vornehmen. Die Ausdiffe119 Beck-Gernsheim, Elisabeth: „Gesundheit und Verantwortung im Zeitalter der Gentechnologie“, in: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 316–335, 319.

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renzierung zwischen beiden ist prozesshaft verlaufen und war stets von gegenseitiger Bezugnahme aufeinander begleitet. Im Laufe der Zeit kam es jedoch zu einer weitergehenden Differenzierung, die – verstärkt beispielsweise durch Prozesse der zunehmenden Institutionalisierung oder Zertifizierung, aber auch durch weltanschaulich oder ideologisch begründete Abgrenzungsdiskurse – einer deutlicheren Unterscheidung Vorschub leisteten, namentlich in der Konzeptualisierung als biologisch-organisch vs. biologisch-dynamisch. Wie wir gesehen haben, gab und gibt es jedoch jenseits dieser Polarität Akteurinnen und Akteure sowie Gruppen, die sich vielleicht einer der beiden Traditionen zuordnen, aber nicht einem bestimmten belief system verschreiben, sondern unterschiedliche, gegebenenfalls scheinbar unvereinbare beliefs miteinander kombinieren. Abgesehen davon haben die formalen Differenzkriterien, die etwa seitens biologisch-dynamischer oder biologisch-organischer Verbände ihrer Zertifizierung zugrunde legen, für die Kundinnen und Kunden, aber zum Teil auch für die Produzentinnen und Produzenten eine eher pragmatisch-geschäftliche und nicht eine grundlegend konstitutiv-ideelle Bedeutung: Man kann als Öko-Bauer für Demeter produzieren, aber den anthroposophischen Überbau ignorieren, solange die für die Zertifizierung vorgeschriebenen Standards eingehalten werden, oder man kann seine Produkte über Bioland vermarkten und sich dennoch am Maria-Thun-Kalender orientieren und seinen Hof nach den anthroposophischen Prinzipien des Betriebskreislaufs betreiben. Und man kann als Kunde Demeter-Produkte genießen, aber dennoch die anthroposophischen Grundlagen der Produktion für Humbug halten, oder Bioland-Erzeugnisse konsumieren, und trotzdem auf die Wirkkraft des Mondes oder homöopathischer Produkte vertrauen. Hinsichtlich der Thematik Ökologie/Spiritualität ist noch ein Aspekt bedenkenswert, der die Beschreibung und Analyse des hier untersuchten Phänomenbereichs aus der Perspektive der Religionswissenschaft ebenso betrifft wie die Religionswissenschaft selbst, die sich über den Umgang mit ihren Gegenständen ebenso Rechenschaft ablegen muss wie auch über ihr Selbstverständnis und damit zugleich über sich selbst. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass die ersten Spurenelemente des Anfangs der ‚Öko-Bewegung‘ avant la lettre und im breitesten Sinne bis in jene Zeit zurückreichen, die auch für die Entstehung der Religionswissenschaft als eigenständiger Disziplin konstitutiv war, nämlich die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert. „Die Erfindung der Religionsgeschichte“120 und die Wurzelspitzen des ökologischen Landbaus liegen also zeitlich recht nahe beieinander. Diese auf den ersten Blick völlig zufällige Koinzidenz ist insofern von Interesse, als für die Konstitution der Religionswissenschaft die Unterscheidung von 120 Kippenberg, Hans G.: Die Entdeckung der Religionsgeschichte: Religionswissenschaft und Moderne, München: C. H. Beck 1997.

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Religion und Nicht-Religion ebenso bedeutsam war wie die zwischen Religion und Wissenschaft – eine für die ‚Religions-Wissenschaft‘ besonders pikante Herausforderung. Für den natürlichen Landbau wiederum wurde die Frage thematisch, ob er in Theorie und Praxis auf das Wirken geistiger bzw. spiritueller oder physischer bzw. materieller Kräfte und Prinzipien zu gründen sei, wobei beide Optionen für sich beanspruchten, auf (natur-)wissenschaftliche Erkenntnisse zu rekurrieren. Beides – die Anfänge der Religionswissenschaft und die Vorgeschichte des natürlichen Landbaus – muss also mittelbar und indirekt doch ‚irgendwie‘ zusammenhängen.121 Das ‚missing link‘ dürfte in den damaligen Diskursen über das Verhältnis von Natur, Religion und Wissenschaft zu finden sein. Nicht nur exemplarisch und mehr als nur symptomatisch wäre in diesem Zusammenhang Ernst Haeckel zu nennen, der, wie oben vermerkt, den Begriff der Ökologie eingeführt hat. Haeckel vertrat nicht nur einen radikalen Monismus, mit dem er einen integralen Zusammenhang von Religion und Wissenschaft postulierte,122 sondern ging von einer allem zugrundeliegenden „Einheit der Natur“123 aus, auf deren Fundament er eine naturwissenschaftliche „monistische Religion“124 begründen wollte. Dabei verband er einen kategorischen Evolutionismus mit aggressiver Kritik am seiner Meinung nach irrationalen Christentum und propagierte dessen Ablösung durch eben jene naturwissenschaftliche Religion auf der Grundlage eines materialistischen Weltbildes. Haeckel positionierte sich damit zugleich gegen alle Formen der Esoterik. Die Esoterik jedoch wurde von ihren Vertreterinnen und Vertretern ebenfalls als vollumfassend kompatibel mit der Naturwissenschaft konzipiert, allerdings ohne die religionskritische Verve, wie sie Haeckel an den Tag legte, 121 Die Anstöße zu den folgenden Überlegungen verdanke ich Michael Bergunder, und dabei unter anderem auch jüngst seinem gerade in Druck gehenden Beitrag: „Umkämpfte Historisierung. Die Zwillingsgeburt von ‚Religion‘ und ‚Esoterik‘ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Programm einer globalen Religionsgeschichte“, in: Hock, Klaus (Hg.): Wissen um Religion: Erkenntnis — Interesse. Epistemologie und Episteme in Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie (=Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie [VWGTh] Bd. 64, Leipzig 2020, im Druck). 122 Haeckel, Ernst: Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturforschers, vorgetragen am 9. October 1892 in Altenburg beim 75jährigen Jubiläum der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes, Bonn: Strauss 1892. 123 Ausgearbeitet im gleichnamigen 14. Kapitel seines erstmals 1899 veröffentlichten und 1908 überarbeiteten und ergänzten, exorbitant erfolgreichen Werkes: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Leipzig: Krömer

1919, S. 261–302 (zugänglich unter http://www.zeno.org/Philosophie/M/

11

Haeckel,+Ernst/Die+Welträtsel, abgerufen am 27.03.2020). 124 Haeckel, Welträthsel, S. 342–358 (18. Kapitel).

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und unter Zurückweisung einer materialistischen Grundlegung sowie des Materialismus im Allgemeinen. Doch nicht nur Protagonistinnen und Protagonisten aus dem Bereich der Esoterik vertraten das Modell einer ‚naturwissenschaftlichen Religion‘ auf nicht-materialistischer Grundlage,125 sondern auch Philosophen, Naturwissenschaftler und Psychologen.126 Die Anfänge der Religionswissenschaft und die Vorgeschichte des ökologischen Landbaus haben Diskurse generiert, die einerseits mit der Trennung von Naturwissenschaft und Religion und andererseits dem Versuch der Überwindung dieser Trennung verbunden waren. Dieser komplexe Zusammenhang, den Michael Bergunder für das Konzept einer globalen Religionsgeschichte untersucht hat,127 ist damit jedoch nicht abgeschlossen, sondern geht bis in die Gegenwart weiter. Daraus erklären sich auch jene „Überlappungen“ von Wissenschaft, Religion und Esoterik, wie wir sie in unserem Projekt immer wieder beobachten konnten, sowie die Bemühungen, die Bereiche von „Religion“ und „Naturwissenschaft“ mit Blick auf die Ökologie zu trennen – oder zusammenzuführen. Zu ergänzen wäre dies vielleicht um die oben skizzierte Beobachtung eines Tertium datur: einer fluiden Sphäre, in der die Frage nach dem Verhältnis zwischen beiden Bereichen vorsätzlich offen gehalten wird, zumal sich das religiöse Feld – als „erweitertes religiöses Feld“ – nicht nur weiter differenziert, sondern ‚verflüssigt‘ hat. Die Forschungsdesiderate sind damit nicht weniger geworden.

125 Bergunder, Michael: „Das Streben nach Einheit von Wissenschaft und Religion. Zum Verständnis von Leben in der modernen Esoterik“, in: Herms, Eilert (Hg.), Leben – Verständnis. Wissenschaft. Technik (Kongressband des XI. Europäischen Kongresses für Theologie, 15.-19. September 2002 in Zürich, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2005, S. 177–213 nennt in diesem Zusammenhang insbesondere Helena P. Blavatsky (1831–1901) und Frederic W. H. Meyers (1843–1891). 126 Bergunder, Michael: „,Religion‘ and ,Science‘ within a Global Religious History“, in: Aries 16 (2016), S. 86–141 verweist exemplarisch unter anderem auf Paul Carus (1852–1919), Ernst Mach (1838–1916) und William James (1882–1910). 127 Bergunder, Michael: „Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft“, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19 (2011), S. 3–55.

Ökologie – Spiritualität – Kapitalismus Zur Entstehung und Transformation neuer marktförmiger Produktions- und Distributionsstrukturen alternativer Ernährung (Naturkosthandel und „Bio“-Branche) seit den 1970er Jahren Jörg Albrecht

1.  EINLEITUNG Im Zusammenhang mit den im Rahmen des Workshops „Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität“ bzw. dieses aus ihm hervorgegangenen Sammelbandes verhandelten Themen konzentriert sich mein Beitrag auf den häufig unterstellten inhärenten Zusammenhang von Alternativer Ernährung und Ökologie. Dieser ist eng verknüpft mit dem Phänomen der sogenannten „Bio“-Produkte, das heißt mit der Frage nach ihrem Status oder ‚Wesen‘ bzw. ihrer besonderen Qualität. Handelt es sich um sogenannte „singuläre Produkte“ im Sinne Lucien Karpiks1 auf den „Märkten des Besonderen“? Die Kategorie „Bio“ erscheint uns heutzutage so selbstverständlich, dass man meinen könnte, sie wäre selbsterklärend und schon immer vorhanden gewesen.2 Dem ist aber mitnichten so. Es handelt sich bei „Bio“ weder um objektiv feststellbare Qualitätsmerkmale von Lebensmitteln, noch um 1 Karpik, Lucien: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, Frankfurt am Main: Campus 2011. 2 Was sich etwa in Auffassungen der Art niederschlägt, dass vor der Entstehung der modernen chemisch-technisch intensivierten (=„konventionellen“) Landwirtschaft ausschließlich „Bio“-Erzeugnisse existiert hätten. Diese retrospektive Sichtweise imaginiert einerseits eine homogene ‚traditionelle‘ vor-agrarwissenschaftliche Landwirtschaft und ignoriert, dass die Herausbildung Alternativer Landbausysteme nur aus

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quasi ‚gott‘- oder naturgegebene Kriterien ihrer Erzeugung. Was ist „Bio“ denn eigentlich? Seit wann existiert es? Dieser Aufsatz widmet sich daher einer historischen Rekonstruktion der Entstehung und Entwicklung der Bio-Branche in Deutschland seit den 1970er Jahren. Für die Darstellung dieser Zusammenhänge stütze ich mich auf die Ergebnisse meiner religionswissenschaftlichen Dissertation, in welcher ich mich mit dem Phänomen der Alternativen Ernährung auseinandergesetzt habe. Darin untersuche ich ihre Geschichte in Deutschland von der Herausbildung des organisierten Vegetarismus im 19. Jahrhundert bis zum sogenannten „Bio-Boom“ und der Problematisierung des Fleischkonsums in der Gegenwart.3 Dies aber nicht, weil es sich bei der Alternativen Ernährung auch um ein religiöses Phänomen handeln könnte,4 etwa wegen der zahlreich vorhandenen und sich verändernden Bezugnahmen auf oder der (Selbst- und Fremd-)Zuschreibungen von ‚Religion‘ mit unterschiedlichen Intentionen.5 Vielmehr interessierte ich mich für ihre kulturelderen oppositioneller Relation zur agrikulturchemischen ‚Orthodoxie‘ des sogenannten konventionellen Landbaus verstehbar ist. 3 Die Arbeit wurde unter dem Titel „Vom ‚Kohlrabi-Apostel‘ zum ‚Bionade-Biedermeier‘. Zur kulturellen Dynamik Alternativer Ernährung“ an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften der Universität Leipzig eingereicht und im Februar 2019 erfolgreich verteidigt. 4 So stellt sich die theoretische Frage: Ist Alternative Ernährung eigentlich „spiritual“, „quasi-religious“ oder gar „essentially non-religious“? Vgl. Hamilton, Malcolm: „Eating Ethically: ‚Spiritual‘ and ‚Quasi-religious‘ Aspects of Vegetarianism“, in: Journal of Contemporary Religion 15 (2000), Nr. 1, S. 65–83, S. 65; Otterloo, Anneke H. van: „Die Bewegung für natürliche und gesunde Nahrung als ‚Petite Religion‘“, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie 18 (1993), Nr. 4, S. 41–52. 5 Vgl. stellvertretend folgende Literaturauswahl: Finger, Joachim: „Vegetarismus“, in: Baer, Harald et al. (Hg.): Lexikon neureligiöser Gruppen, Szenen und Weltanschauungen. Orientierungen im religiösen Pluralismus, Freiburg im Breisgau: Herder 2005, Sp. 1342ff.; Gregory, James: „,A Lutheranism of the Table‘: Religion and the Victorian Vegetarians“, in: Grumett, David/Muers, Rachel (Hg.): Eating and Believing: Interdisciplinary perspectives on Vegetarianism and Theology, London u. New York: T&T Clark 2008, S. 135–151; Nath, Jemál: „,God is a vegetarian‘: The food, health and bio-spirituality of Hare Krishna, Buddhist and Seventh-Day Adventist devotees“, in: Health Sociology Review 19/3 (2010), S. 356–368; Miller, Ian: „Evangelicalism and the Early Vegetarian Movement in Britain c.1847–1860“, in: Journal of Religious History 35/2 (2011), S. 199–210; Zeller, Benjamin E.: „Quasi-religious American Foodways: The Cases of Vegetarianism and Locavorism“, in: Ders./Dallam, Marie W./Neilson, Reid L./Rubel, Nora Lynne (Hg.): Religion, Food, and Eating in North America,

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le Dynamik:6 Die grundlegende Aufgabe bestand darin, den Zusammenhang von Nonkonformismus, Innovation und kultureller Dynamik historisch und theoriegeleitet am Fallbeispiel der Alternativen Ernährung zu untersuchen. Das heißt, im theoretischen Fokus dieser Rekonstruktion eines ernährungshistorischen Wandels über einen langen Zeitraum standen vielmehr jene allgemeineren Prozesse von kulturellen Transfers und Transformationen, durch welche sich vormalig nonkonforme Vorstellungen und Praktiken ausbreiten – und anerkannten, bisweilen sogar hegemonialen Status in einer Gesellschaft erlangen können. Ich möchte in diesem Beitrag die Auffassung vertreten, dass es sich bei der Kategorie „Bio“ aus meiner Sicht vielmehr um eine innovative soziokulturelle Konstruktions- und Klassifikationsleistung im Bereich der Ernährung handelt. Sie stellt eine spezifische Folgeinnovation dar, die aus der kulturellen Dynamik der Alternativen Ernährung im 20. Jahrhundert hervorgegangen ist. Sie bildete sich im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre in einem Zusammenspiel verschiedener Prozesse heraus, welche von unterschiedlichen Akteuren mit teils sehr divergierenden Interessen getragen wurden. Dabei handelt es sich um miteinander verflochtene teils transnationale, teils lokale Prozesse der Ökologisierung, Ökonomisierung und Verwissenschaftlichung verschiedener Vorstellungen und Praktiken Alternativer Ernährung sowie ihrer institutionalisierten Sektoren der Distribution und Produktion. Im Laufe der Entwicklungen wurden bestimmte Elemente Alternativer Ernährung aufgewertet, das heißt, sie wurden ins hegemoniale System integriert bzw. mit konventionellen Elementen zu neuen Synthesen verbunden, sie erhielten gesellschaftliche Anerkennung und schließlich staatliche Unterstützung, während hingegen andere Elemente exkludiert oder umgedeutet wurden.

New York: Columbia University Press 2014, S. 294–312; Funkschmidt, Kai: „Erlösung durch Ernährung. Veganismus als Ersatzreligion (Teil I)“, in: EZW Materialdienst 11 (2015), S. 403–412 und Ders.: „Erlösung durch Ernährung. Veganismus als Ersatzreligion (Teil II)“, in: EZW Materialdienst 12 (2015), S. 445–455. 6 Darunter verstehe ich Veränderungen, die mit dem Wandel von NonkonformismusKonstellationen bzw. der soziokulturellen Spannung zwischen ‚Orthodoxien‘ und ‚Heterodoxien‘ in unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen oder Feldern einhergehen. Den Hintergrund meines religionswissenschaftlichen Interesses an dieser Art von Veränderungen stellte dabei der interdisziplinäre Forschungskontext des DFG-Graduiertenkollegs „Religiöser Nonkonformismus und kulturelle Dynamik“ an der Universität Leipzig dar.

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2.  HISTORISCHER KONTEXT Mit Beginn der 1970er Jahre setzte bei einer bemerkenswerten Gleichzeitigkeit von Kontinuitäten und Diskontinuitäten7 eine neue Konjunktur der Alternativen Ernährung als gegenkulturelle Praxis ein. Getragen wurde diese vordergründig von einer neuen Generation von Akteuren (die schließlich mit den post-1968er Alternativ- und Umweltbewegungen verbunden waren). Diese gründeten – neben den bereits seit der Jahrhundertwende existierenden Reformhäusern – die neuen alternativen „Naturkostläden“. Die daraus entstehende Naturkostbranche transformierte sich im Verlauf der 1970er und 80er Jahre mit der Neucodierung Alternativer Ernährung im Rahmen des ökologischen Paradigmas in intensiven Wechselbeziehungen und -wirkungen mit dem Produktionssektor des Alternativen Landbaus zum „Bio“-Sektor der Ernährungswirtschaft. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es in (West-)Deutschland zu einschneidenden Veränderungen im Ernährungssystem gekommen: Stichpunktartig wären darunter vor allem die ‚Modernisierung‘ und Industrialisierung der Landwirtschaft zu verstehen, die zu einer vorher unvorstellbaren Steigerung der Erträge führte. Zeitgleich kam es mit der Durchsetzung des Massenkonsums vor allem im Hinblick auf die zurückliegenden Entbehrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit mit den veränderten Lebensbedingungen auch zu einschneidenden Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten, wozu ein steigender Konsum von Fleisch und Fertiggerichten gehörte, wie auch die zunehmende Außer-Haus-Verpflegung.8

7 Vgl. Albrecht, Jörg: „Reformkost und Naturkost. Kontinuitäten und Brüche alternativer Ernährung zwischen Lebensreform und Alternativmilieu“, in: Siegfried, Detlef/Templin, David (Hg.): Lebensreform um 1900 und Alternativmilieu um 1980. Kontinuitäten und Brüche in Milieus der gesellschaftlichen Selbstreflexion im frühen und späten 20. Jahrhundert (Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 15/2019), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, S. 173–192. 8 Vgl. aus konsumhistorischer bzw. -soziologischer Perspektive folgende nichtrepräsentative Auswahl: Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.): Durchbruch zum modernen Massenkonsum. Lebensmittelmärkte und Lebensmittelqualität im Städtewachstum des Industriezeitalters, Münster: Coppenrath 1987; Andersen, Arne: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt am Main/ New York: Campus 1997; Teuteberg, Hans-Jürgen (Hg.): Die Revolution am Esstisch. Neue Studien zur Nahrungskultur im 19./20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner 2004; Hälterlein, Jens: Die Regierung des Konsums, Wiesbaden: Springer VS 2015; Spiekermann, Uwe: Künstliche Kost. Ernährung in Deutschland, 1840 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018.

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Vor diesem Hintergrund kam es seit Beginn der 1970er Jahre, verbunden mit transnationalen Entwicklungen und Kulturtransfer-Prozessen in der alten Bundesrepublik, zu einer Re-Innovation und Neu-Kontextualisierung Alternativer Ernährung.9 Bis dahin war sie in Form von Vegetarismus und Vollwertkost mit der im 19. Jahrhundert entstandenen lebensreformerischen Tradition und hier insbesondere mit ihrem spezifischen Distributionsweg der „Reformhäuser“ verbunden. Diese neue Variante alternativer Ernährung hingegen wurde mit anderen Beweggründen praktiziert, zunächst vorwiegend von Angehörigen des ab dieser Zeit entstehenden sogenannten Alternativen Milieus der alten Bundesrepublik getragen.10 Sie manifestierte sich schließlich in der Entstehung der sogenannten „Naturkostläden“. Sichtbar wurden deren Anfänge zunächst in den Berichten über die Gründung der ersten sogenannten „Landkommunen“ in Deutschland, die sich an Vorbildern der Hippies und Yippies aus der seit den 1960er Jahren entstandenen amerikanischen Counter Culture orientierten.11 Diese Landkommunen waren Teil des entstehenden linksalternativen Milieus und repräsentierten ein nonkonformistisches Ideal des Ausstiegs12 aus der – schließlich durch Selbsttransformation statt Revolution zu überwindenden – als kapitalistisch und autoritär geprägt wahrgenommenen Gesellschaftsform. In ihnen sollten neue Formen nicht-entfremdeten, selbstbestimmten und authentischen Zusammenlebens, Wohnens und Arbeitens verwirklicht werden. In einem Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1971 erfährt man dabei Folgendes über die speziellen Konsumvorlieben der Mitglieder einer dieser ersten neuen Landkommunen: „Wenn sie weiter Lebensmittel vom Reformversand beziehen, so hängt das mit dem Gebot der Reinheit zusammen, dem sie […] größte Bedeutung beimessen. Der glücklich-neue Mensch braucht: makrobiotisch einwandfreie Haferflocken und Nüsse, ungeschälten Reis und reinen, braunen Zucker. Wer noch saubere Drogen zu kleinen Preisen bringt, der be9 J. Albrecht, Reformkost. 10 Reichardt, Sven/Siegfried, Detlef (Hg.): Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen: Wallstein 2010; Reichardt, Sven: Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin: Suhrkamp 2014. 11 Miller, Timothy: The 60s Communes. Hippies and Beyond, New York: Syracuse University Press 1999. Zu den Landkommunen in Deutschland: S. Reichardt, Authentizität, S. 459–498. Ein Bezug auf die deutsche Tradition kommunalen Lebens vor dem Zweiten Weltkrieg ist unwahrscheinlich, vgl. Linse, Ulrich (Hg.): Zurück, o Mensch, zur Mutter Erde. Landkommunen in Deutschland 1890–1933, München: dtv 1983. 12 Fischer, Alexander: „Existenzielle Spannungsverhältnisse: Überlegungen Zum Begriff ,Aussteiger‘“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 57 (2015), S. 259–275.

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treibt in den Augen dieser Scene [sic] ein ‚reines, überaus ehrliches Geschäft‘ – ein Missionar des inneren Wandels.“13

Aus dieser Bemerkung wird unter anderem deutlich, dass diese besondere Ernährungsweise Teil eines umfassenderen Programms für den zunächst individuellen, schließlich aber für den langfristig angestrebten gesellschaftlichen Wandel darstellt. Ein konstitutives Reinheitsgebot hinsichtlich der Qualität der Nahrungsmittel korrelierte dabei mit der Opposition gegen das hegemoniale (politische und kapitalistische) „Establishment“ und damit die Lebensmittelindustrie. So heißt es weiter im zitierten Artikel: „[…D]er sich erneuernde Erdenbürger […] läßt sich nicht von der Industrie ‚in den Mund scheißen‘.“14 Stattdessen werden besondere Nahrungsmittel benötigt, deren Qualität „makrobiotisch“ sein müsse. Der Bezug dieser Produkte erfolgt angeblich über einen „Reformversand“. Dabei ist nicht ganz klar, ob es sich um einen Verweis auf das Distributionsnetzwerk der alten Lebensreformbewegung handelt oder um einen Hinweis auf einen möglicherweise zu dieser Zeit bereits existierenden (internationalen) Versandhandel mit makrobiotischen Lebensmitteln. Jedenfalls zeigt sich hierin ein Mangel eigener alternativer Versorgungsstrukturen sowie die noch nicht erreichte, aber angestrebte Selbstversorgung der Kommune. Im Unterschied zur traditionellen ‚naturgemäßen Lebensweise‘ der Lebensreformer schließt diese besondere Ernährungsweise der neuen Kommunarden allerdings den Drogen-(bzw. Genussmittel-)konsum explizit nicht aus, ganz im Gegenteil: Die entsprechenden Substanzen sollen sogar ähnlichen Reinheitskriterien genügen. Die meisten der im Laufe der 1970er Jahre gegründeten Landkommunen erreichten nicht das Ziel der Selbstversorgung und begannen, sofern sie nicht eingingen, ihre Existenz durch verschiedene alternative Dienstleistungen zu sichern, etwa durch handwerkliche Arbeiten und Kleinhandel, insbesondere aber auch durch Kurse und Seminare zu alternativen Praktiken und Themen. Durch die vielen Besucher, die die Anzahl der dauerhaften Bewohner bei weitem übertrafen, wurden hier erworbene Erfahrungen und gesammeltes Wissen über das Kernmilieu hinaus in die soziale Umwelt diffundiert. Nicht zuletzt auf diesem Wege soll die Infrastruktur der Kommunen auch „zur institutionellen Genese zeitgenössischer Spiritualität“ beigetragen haben.15 Gleichwohl den Landkommunen innerhalb der 13 Brügge, Peter: „Wir wollen, daß man sich an uns gewöhnt“, in: Der Spiegel, 1971, Nr. 33, S. 36–51, S. 40. 14 Ebd. 15 Hero, Markus: „Von der Kommune zum Kommerz? Zur institutionellen Genese zeitgenössischer Spiritualität“, in: Mohrmann, Ruth-Elisabeth (Hg.): Alternative Spiritualität heute, Münster u.a.: Waxmann 2010, S. 35–53.

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umfangreicheren Alternativökonomie im Vergleich zu Anzahl und Umfang anderer „Projekte“ nur eine untergeordnete Bedeutung zukam, gingen aus einigen von ihnen wichtige Impulse für die Entwicklung eines eigenen Distributionssektors Alternativer Ernährung im Verlauf der 1970er Jahre hervor. Dessen Transformationen und damit verbunden sein Ideal der „Naturkost“ können zeitlich – analog zu den Entwicklungsphasen des Alternativen Milieus nach Rucht16 – in drei Phasen unterteilt werden, die spezifische ideologische als auch strukturelle Merkmale aufweisen: 1) In der Phase der „Entstehung“ (ca. 1970–1976) des Alternativen Milieus werden die ersten Läden gegründet. Sie endet mit den ersten überregionalen Treffen ihrer Betreiber und dem Aufbau von rudimentären Großhandelsstrukturen. Im Zentrum der Ernährungsvorstellungen und Praktiken steht die japanische Makrobiotik und die Läden stellen Szenetreffs der Gegenkultur da. 2) In der „Hochphase“ des Alternativen Milieus (ca. 1977–1983) nimmt die Anzahl der Läden weiter zu und kommt es zur Konsolidierung des Naturkostsektors als Teil einer breiteren Alternativwirtschaft: Die Bedeutung der Ökologie, die Lehre der Vollwertkost und die wachsende Kooperation mit dem Alternativen Landbau prägen diesen Abschnitt. 3) Mit dem „Zerfall“ des Alternativen Milieus ab der Mitte der 1980er Jahre setzt die umfangreiche Umwandlung und Professionalisierung zur Bio-Branche ein: Im Zentrum steht die „Biokost“, d.h. es wird ein konventionelles Vollsortiment in Bio-Qualität angestrebt, während Bio-Produkte in den konventionellen Handel Eingang finden. Schließlich kommt es 1991 zu einer EG-weiten einheitlichen Definition und Verrechtlichung der „Bio“-Qualität, ihrer Kontrolle und ihrer Kennzeichnung.

3.  P  HASE I: DIE ENTSTEHUNG DER NATURKOSTLÄDEN AUS DEM GEIST DER MAKROBIOTIK 3.1  Naturkostläden Die ersten Naturkostläden in Deutschland wurden zu Beginn der 1970er Jahre in westdeutschen Universitäts- und Großstädten eröffnet. Korrekterweise müsste man eigentlich eher von ‚Makrobiotik-Läden‘ sprechen: Denn die Motivationen ihrer Gründer, die dem entstehenden Alternativen Milieu zugezählt werden 16 Rucht, Dieter: „Das alternative Milieu in der Bundesrepublik. Ursprünge, Infrastruktur und Nachwirkungen“, in: S. Reichardt/D. Siegfried, Das Alternative Milieu, S. 61–86, S. 70–80.

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können, vereinte in dessen kultureller Heterogenität vor allem ein Merkmal: Sie waren Anhänger der Makrobiotik, einer japanischen Ernährungslehre mit holistischen und spirituellen Dimensionen (siehe auch unten im nächsten Abschnitt). Die „Ladner“ genannten Betreiber waren zugleich notwendigerweise als beschaffende Händler für ihre Waren tätig, denn die makrobiotischen Spezialitäten und andere diesem Ansprüchen genügenden – als „Naturkost“ geltenden – Waren mussten zunächst selbst über transnationale Netzwerke aus Europa oder gar Übersee organisiert werden: „Bei der Ware, die zum großen Teil aus Japan importiert wurde, war der biologische Aspekt zunächst nicht so wichtig.“17 Im Unterschied zur retrospektiven Wahrnehmung spielten ökologische Beweggründe im heutigen Verständnis bemerkenswerterweise zunächst keine Rolle. Der wahrscheinlich erste derartige Laden soll 1971 als „Peacefood“ in (West-) Berlin gegründet worden sein und wurde zusammen mit einem makrobiotischen Restaurant betrieben. Eine zeitgenössische – allerdings bereits Ende der 1970er Jahre verfasste – Beschreibung zeichnet folgendes Bild dieses Etablissements: „Da ist beispielsweise Peace Food – Friedensspeise – in Berlin, einer der vielen Treffs, die in den letzten Jahren im Milieu der jugendlichen Subkultur entstanden sind. Peace Food wird von Ananda Marga18 betrieben: ein kleines Restaurant, in dem nach den Regeln der 17 Heldberg, Helma: Die Müsli-Macher. Erfolgsgeschichten des Biomarktes und seiner Pioniere, München: oekom 2008 (unter Mitarbeit von Ulrich Walter und Immo Lünzer), S. 81. 18 Nicht bekannt ist, ob die Gründer die Einrichtung abgaben oder selbst Anhänger wurden. Ananda Marga („path of bliss“, Glückseligkeitsweg) ist eine indische religiös-soziale Bewegung und wurde 1955 von dem spirituellen Lehrer und Sozialphilosophen Prabhat Ranjan Sarkar (1921–1990) gegründet. Diese Bewegung strebt eine Transformation der Gesellschaft an, praktiziert spirituelle Techniken (Yoga, Meditation etc.) und propagiert eine vegetarische Lebensweise. Sie wurde auch international erfolgreich aktiv und im Westen ähnlich wie andere indische neue religiöse Bewegungen im Alternativen Milieu rezipiert. Während des politischen Ausnahmezustands in Indien (1975– 1977) unter der Regierung von Indira Gandhi wurde die Bewegung als terroristisch eingestuft und (zusammen mit vielen anderen) verboten. Sakar war bereits 1972 wegen Anstiftung zum Mord inhaftiert worden, und in der Folge kam es zu weltweiten Protesten mit Selbstverbrennungen seiner Anhänger. Auch in Deutschland erregten zwei derartige Fälle entsprechendes Aufsehen und begründeten eine typische Pathologisierung im aufkommenden „(Jugend-)Sekten“-Diskurs Ende der 1970er. In Indien fand 1978 (unter der folgenden Regierung) ein Revisionsprozess statt, Sakar wurde freigesprochen und aus der Haft entlassen. Die Bewegung wird in vielen lexikalischen Beiträgen theologischer oder religionswissenschaftlicher Standardwerke erwähnt, eigenständige Literatur, die nicht von der Gruppe selbst stammt, ist aber eher spärlich und unter-

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Makrobiotik zubereitete vegetarische Speisen gereicht werden – man sitzt auf Kissen am Boden um eine große runde Tischplatte herum; ein Lagerraum, in dem biologisch-dynamisch angebaute Lebensmittel, Schriften der Subkultur, Räucherstäbchen und andere asiatische Accessoires verkauft werden; das rückwärtige Zimmer, in dem tibetische Andachtsbilder hängen, dient der Meditation und geistlichen Lehrvorträgen. Die Besucher sind junge Leute aus allen Bevölkerungsschichten; sie kommen meist einzeln, ab und zu eine junge Familie. Die Atmosphäre ist offen, harmonisch, solidarisch, eher ‚unpolitisch‘ als revolutionär, von einem Lebensstil geprägt, der sich in den Anfängen der Hippiebewegung als betonte Alternative zum gängigen Verhaltenskodex herausgebildet hatte, inzwischen zum allgemeinen Jeans- und Indienlook vermarktet ist und höchstens von Randgruppen wie eben den Peace Food-Leuten noch bewußt – und das bedeutet auch: in seinen geistigen Ansprüchen – gepflegt wird.“19

Ein weiterer, statt eines geplanten makrobiotischen Restaurants, 1972 in Hamburg eröffneter Laden trug den Namen „Schwarzbrot Naturspeisewaren“ und hatte eine andere Schwerpunktsetzung: Neben den makrobiotischen Lebensmitteln wurden in ihm Tees und vor allem internationale anarchistische Publikationen verkauft.20 Das 1973 in Münster eröffnete „Makrohaus“ hingegen trug seine zentrale Fokussierung auf die japanische Ernährungslehre direkt im Namen.21 Auch das heute schiedlich neutral: Vgl. Juppenlatz, Peter: „Glückseligkeit auf indisch“, in: Nannen, Henri (Hg.): Die himmlischen Verführer. Sekten in Deutschland, Hamburg: Gruner + Jahr 1979, S. 105–126; Robeck-Krauß, Helga: „Ananda Marga – ein neuer Weg zum Heil?“, in: EZW Orientierungen und Berichte V/12 (1983), (online unter: http://www. ezw-berlin.de/downloads/ Orientierungen_u_Berichte_12.pdf vom 19.03.2015). Voix, Raphaël: „Denied Violence, Glorified Fighting. Spiritual Discipline and Controversy in Ananda Marga“, in: Nova Religio 12/1 (2008), S. 3–25; Crovetto, Helen: „Ananda Marga and the Use of Force“, in: Ebd., S. 26–56. 19 Mildenberger, Michael: Die religiöse Revolte. Jugend zwischen Flucht und Aufbruch, Frankfurt am Main: Fischer 1979, S. 17f. 20 H. Heldberg, Die Müsli-Macher, S. 76f. 21 Der seit 2011 hauptsächlich als Unternehmensberater in der Biobranche tätige Gründer des „Makrohauses“ in Münster (1973), Mitbegründer des Naturkost-Großhandels „Biogarten“ (1980) und Gründer des Unternehmens „Davert Mühle“ (1984) – Rainer Welke erzählt über diese Hintergründe auf seiner Internetseite sehr freimütig und persönlich: „Alles fing damit an, dass ich mich Anfang der ‚Wilden Siebziger‘ sehr intensiv mit fernöstlicher Philosophie beschäftigte. Ich studierte in langen Nächten nur schwer entschlüsselbare Schriften, darunter das tibetanische Totenbuch. Und wenn das nicht mehr weiterhalf, dann musste das ägyptische Totenbuch her. Hermann Hesse war ohnehin Pflichtlektüre und natürlich studierte ich auch die Philosophie Chinas. Irgendwann las

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noch bekannte Naturkostunternehmen „Rapunzel“ ging aus einer ursprünglich makrobiotisch ausgerichteten Selbstversorgerkommune auf einem Bauernhof im Allgäu hervor: Der 1975 in Augsburg eröffnete erste Laden sollte zunächst der finanziellen Absicherung dienen, entwickelte dann aber eine weitreichenden Eigendynamik.22 Rapunzel spielte später eine entscheidende Rolle bei dem Aufbau von Groß- und Zwischenhandelsstrukturen der Naturkost sowie bei der Vernetzung der Akteure und ihrer Konstitution zur Branche. Die erste entsprechende überregionale Versammlung von Naturkostladenbetreibern fand 1975 statt und hieß bezeichnenderweise noch „Makrotreffen“.23 Damit lässt sich für die erste Phase zusammenfassend festhalten: Bei den Beweggründen spielten ökologische Erwägungen, wie man erwarten könnte, noch überhaupt keine Rolle. Die jeweiligen Läden bzw. Unternehmen waren in ihren ideologischen Ausrichtungen so heterogen und bunt wie das Milieu, zu dem sie gehörten. Doch ihre hervorstechende Gemeinsamkeit war der enge Bezug zur Makrobiotik, einer spirituell orientierten japanischen Ernährungslehre. 3.2  Makrobiotik Was aber ist diese Makrobiotik, die in Namen und Anspruch auf die berühmte diätetische Schrift des um 1800 in Weimar wirkenden königlichen Leibarztes Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) anspielt?24 Es handelt sich um eine ich den Tao Te King des Laotse. Hier lief mir zum ersten Mal der Begriff des Yin und Yang über die Zeilen. 1971, ich war damals frische 21 Jahre jung, führte mich mein Weg nach Amsterdam und dort in eine auch für Amsterdamer Verhältnisse interessante Einrichtung namens ‚De Kosmos‘. Es gab dort öffentliche Meditationsräume. In der Teestube spielte ein junges Hippie-Mädchen am Klavier ‚Let it be‘ von den Beatles. Und im Souterrain gab es ein sehr schönes makrobiotisches Restaurant. Dort saßen wir alle im Schneidersitz auf dem Boden und aßen zum ersten Mal Vollkornreis mit Gemüse, Meeresalgen und Tamari. Die Atmosphäre war sehr gedämpft. Man sprach, wenn überhaupt, sehr betont und bewusst. Ich war begeistert und glaubte bereits zu spüren, wie mich das erste makrobiotische Gericht meines Lebens körperlich und seelisch geheilt hat.“ Welke, Rainer: „45 Jahre Naturkost … ‚Wie alles begann … eine persönliche Zeitreise zurück zu der Geburtsstunde des Naturkosthandels in Deutschland‘“, online unter: http://rainerwelke.com/bio-geschichte/40-jahre-naturkost/ vom 05.07.2019. 22 H. Heldberg, Die Müsli-Macher, S. 64. 23 Ebd. 24 Hufeland, Christoph Wilhelm: Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern, Jena: Akademische Buchhandlung 1797. Den Zusatz „Makrobiotik“ enthielt der Titel erst ab der 3. Auflage von 1805.

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aus Japan stammende Alternative Ernährungsform, die heute global verbreitet, aber in der medialen Wahrnehmung kaum noch präsent ist. Im Gegensatz dazu erfreute sie sich in Nordamerika und Westeuropa von etwa Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre unter den Angehörigen der Gegenkultur („Hippies“) einer erstaunlich großen Popularität. Während man Anfang der 1980er Jahre noch rückblickend von einer „Makrobiotik-Welle“ in Deutschland sprach,25 scheint die Erinnerung an diese Ernährungsmode heute weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden zu sein. Die japanische Makrobiotik selbst hat eine transnationale Verflechtungsgeschichte, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht.26 Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurde sie unter diesem Namen durch den Japaner Georges Ohsawa (Nyoiti Sakurazawa, 1893–1966) zunächst in Europa und dann wesentlich folgenreicher in Nordamerika verbreitet. Er vertrat den Anspruch, dass sie auf uralten fernöstlichen Erkenntnissen beruhe. Im Zentrum von Ohsawas „Einheitsprinzip“27 genannten, universalistischen – Philosophie, Religion und Politik umfassenden – Reformansatz stand eine medizinisch-praktische Ernährungslehre. In dieser wurden Lebensmittel entsprechend ihrer vermeintlichen ‚Eigenschaften‘ aufwändig nach dem daoistischen Yin-Yang-Dualismus klassifiziert: Beispielsweise galt sogenannter „brauner“ (also ungeschälter ‚Natur‘- oder ‚Vollkorn‘-) Reis als zentralstes Hauptnahrungsmittel. Ziel war die Wiederherstellung bzw. die Erhaltung einer ganzheitlich gedachten – also körperlichen und geistigen – Gesundheit, die in einem gegebenenfalls auszugleichenden Verhältnis bzw. in einer harmonischen Balance von Yin und Yang bestünde. Dies ermögliche nicht nur die individuelle Gesundheit, sondern sei zugleich die grundsätzliche Voraussetzung gesunder und friedlicher Gesellschaftsverhältnisse. Die westliche Rezeption der Makrobiotik gestaltete sich unterschiedlich: Zunächst konnte Ohsawa in Europa einige Anhänger gewinnen. Bereits 1957 wurde in Belgien mit „Lima“ (benannt nach der Ehefrau Ohsawas) ein erstes und heute noch existierendes makrobiotisches Unternehmen für den Import und später die 25 Freese, Gunhild: „Handeln soll wandeln. In Bio-Läden werden Waren und Ideen umgesetzt“, in: Die Zeit, Nr. 47, 19.11.1982, S. 25f. (online unter: http://www.zeit. de/1982/47/handeln-soll-wandeln vom 22.11.2010). 26 Kotzsch, Ronald Ernst: Macrobiotics: Yesterday and Today, Tokyo and New York: Japan Publications 1985. Vgl. Albrecht, Jörg: „The ,religious exoticism‘ of the Zen-Diet: Georges Ohsawa’s spiritual Macrobiotics and its transnational impact on alternative diets in Europe.“ Vortrag bei der 16th Annual Conference of the European Association for the Study of Religions (EASR) in Bern (Schweiz), 17. bis 21. Juni 2018. 27 Sakurazawa, Nyoiti: Principe Unique de la Philosophie et de la Science d'Extrême-Orient, Paris: Vrin 1931.

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Produktion der speziellen Lebensmittel gegründet.28 Neben dem erwähnten braunen Reis waren dies vor allem traditionell fermentierte Sojaprodukte wie Miso und Shoyo. Lima war später für eine lange Zeit auch der Hauptlieferant für die deutschen Naturkostläden.29 In den USA popularisierte sich diese Ernährungsweise ab Mitte der 1960er Jahre als „Zen Macrobiotics“ oder auch schlicht „Zen Diet“30 vor allem unter den jugendlichen Mitgliedern der amerikanischen Counter Culture besonders Kaliforniens, von deren transnationaler Ausstrahlung sie profitieren konnte.31 Attraktiv war sie wohl neben ihrer asiatisch-religiösen Exotik zunächst vor allem wegen der dieser Ernährungsweise zugeschriebenen Fähigkeit zur gründlichen ‚Reinigung‘ des Körpers nach Drogenexzessen ebenso wie wegen ihrer spirituellen Dimension: „[…] the diet promised a quick fix – perfect physical and mental health, plus – some species of enlightenment – in the ten days of the Diet Seven rice cure.“ Darüberhinaus sei sie „cheap“ gewesen, ein nicht zu unterschätzender Aspekt für die vielen obdachlosen Aussteiger der Counter Culture ohne ökonomische Basis: „And in a subculture where much of the ready cash came from handouts or welfare, and much of it went for drugs, economy was an advantage. […] Many, probably most, combined a brown rice-based diet with the free use of drugs.“32 Dieser bemerkenswerte Zusammenhang zwischen makrobiotischer Ernährung und ‚alternativem Genussmittelkonsum‘ – sowohl in hedonistischer als auch spiritueller Absicht, etwa zur sogenannten „Bewusstseinserweiterung“ – schlug sich auch auf einer anderen Ebene nieder und verdeutlicht deren nonkonformistische Haltung zur gesellschaftlichen Umwelt: Die alternativen ‚Start-Ups‘ im Lebensmittelbereich praktizierten in der notwendigen Kapitalbeschaffung für die Gründung der Naturkostläden scheinbar häufiger ein unkonventionelles Anschub-

28 Vgl. die Unternehmensseite: https://www.limafood.com/de-de/geschichte vom 05.07.2019. 29 H. Heldberg, Die Müsli-Macher, S. 142. 30 Ohsawa, Georges: Zen Macrobiotics. The Art of Rejuvenation and Longevity, Los Angeles: Ohsawa Foundation; Ignoramus Press 1965. In den verschiedenen Phasen seines Wirkens habe Ohsawa seine Ansichten den jeweils zeitgenössischen kulturellen und intellektuellen Moden angepasst präsentiert (R. E. Kotzsch, Macrobiotics, S. 154. 31 Zu diesem bis jetzt noch nicht näher untersuchten transnationalen Kulturtransferprozess vgl. die knappe Bemerkung bei Kotzsch: „In the late ‘60s and early ‘70s there was an influx of young Americans into Europe. Many had been involved in the drug culture and the peace movement or other early aspects oft he counterculture. Many had some experiance and understandings of macrobiotics as it was developed in the [United] States […].“ (R. E. Kotzsch, Macrobiotics, S. 219). 32 Ebd., S. 170.

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finanzierungsmodell: „Das Startkapital kam aus, sagen wir mal, dem Verkauf von Oblaten künstlicher Paradiese.“33 In meiner Dissertation komme ich zu dem Schluss, dass die japanische „Makrobiotik“ als ein entscheidender – wenngleich nicht hinreichender – Faktor kultureller Innovation und Dynamik für das Entstehen der „Naturkost“- respektive der „Bio“-Branche angesehen werden muss. Die Initiative für den Aufbau eigener Distributionsstrukturen folgte zunächst aus der von einigen Anhängern empfundenen Notwendigkeit, die speziellen japanischen Lebensmittel für die makrobiotische Ernährungsweise zu organisieren. Die Bedeutung der Makrobiotik für den frühen Naturkostsektor spiegelte sich auch in den Erwartungen der zugehörigen Konsumenten, wie ein Zitat vom Gründer des oben erwähnten „Makrohauses“ in Münster verdeutlicht: „Es gab aber auch damals schon einige echte [Makrobiotik-] Hardliner, von denen ich einmal völlig zur Sau gemacht wurde, weil ich einem Kunden in meinem Laden erlaubt hatte, eine Apfelsine zu essen, die natürlich extrem Yin ist. Aber was sollte ich machen? Es waren die besten Kunden.“34

4.  P  HASE II: NATURKOST ALS SYNTHESE AUS ÖKOLOGIE UND VOLLWERTLEHRE Mit der Entwicklung der Naturkostbranche verschoben sich die Akzente: Für das konstitutive Ideal der „Naturkost“ verlor die Makrobiotik ab Mitte der 1970er Jahre in der Naturkostszene des Alternativen Milieus an Bedeutung und trat zunehmend in den Hintergrund.35 An die Stelle der japanischen Ernährungslehre trat 33 Griesbach, Klaus („Schwarzbrot“) in: H. Heldberg, Die Müsli-Macher, S. 77. Vgl. dieses Beispiel: „Ein Unterschied zu anderen [Läden] fällt Heinz-Dieter Gasper aber doch ein, wenn er an seinen ersten Laden denkt: ‚Unser Laden war der erste, der nicht auf Drogengeschäften aufgebaut war. Alle anderen Ladengründungen in Köln, das waren Leute, die haben nebenbei noch mit Haschisch gedealt oder mit Trips oder so was. Das war die Grundlage, um ins Bio-Geschäft zu kommen, im Prinzip war die ganze Szene eigentlich immer kurz davor, in den Knast zu kommen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz.‘“ (Ebd., S. 101). 34 Welke, Rainer: „45 Jahre Naturkost … ‚Wie alles begann … eine persönliche Zeitreise zurück zu der Geburtsstunde des Naturkosthandels in Deutschland‘“, online unter: http://rainerwelke.com/bio-geschichte/40-jahre-naturkost/ vom 05.07.2019. 35 Dieser Prozess verlief dabei so unauffällig schleichend, dass er kaum bemerkt worden zu sein scheint, zumindest finden sich keine zeitgenössischen Hinweise. Über die Gründe kann rückblickend nur spekuliert werden: Anscheinend war die Makrobiotik insbesondere in ihren Extremen nicht weiter an die breiteren Ernährungsbefindlichkeiten

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einerseits die neue Vorstellung eines „ökologischen Vegetarismus“, der allerdings im – nur auf den ersten Blick erstaunlichen – Gegensatz zum gegenwärtigen ökologisch begründeten Fleischverzicht, nicht auf die Folgen der Ernährung für Umwelt und Klima rekurrierte. Andrerseits wurde er ergänzt und überlagert durch eine vermeintlich wissenschaftlich begründete Ernährungslehre namentlich der „Vollwerternährung“, die pflanzliche gegenüber tierischen sowie unverarbeitete gegenüber verarbeiteten Lebensmitteln als ‚höherwertig‘ ansah. Zudem sollten diese möglichst ‚rückstandsfrei‘ erzeugt worden sein. Auf der strukturellen Ebene begannen sich in diesem Zeitraum parallel die Läden und Zulieferer nun als Branche zu konstituieren, was schließlich in der Gründung eines Branchenverbandes kulminierte. Das nun anzustrebende „Naturkost“-Ideal war eine ‚vollwertige‘ Auswahl der Nahrungsmittel in ‚biologischer‘ Qualität aus Alternativem Landbau.36 4.1  Ökologische Revolution und ökologische Lebensführung Wie aber fanden nun im weiteren Sinne ‚ökologische‘ Erwägungen Eingang in die Vorstellungen von Alternativer Ernährung? Zunächst ist dies in einem allgemeineren historischen Kontext zu verorten: Um das Jahr 1970 herum kulminierten bereits längerfristige transnationale Prozesse und epistemologische Veränderungen unter dem Topos des „Umweltschutzes“ in einem Umbruch der traditionellen Naturschutzbewegungen und der behördlichen Administration von Verschmutzungsproblemen sowie in einem allgemeineren Wandel von Wahrnehmungsmustern, Redeweisen und Verhaltensstilen.37 Dies markiert den Beginn eines umfassenderen Paradigmenwechsels, der von Umwelthistorikern zugespitzt als „ökologische Revolution“ bezeichnet wird.38 Dabei vollzog sich ein signifikanter Bruch zum anschlussfähig, die sich nun um Ökologie und Gesundheit zu zentrieren begannen, oder sie verlor einfach ihren exotischen Reiz. 36 Ruhrmann-Adolph, Gisela: Die Distribution von Naturkost in der BR Deutschland. Bedeutung und Entwicklungstendenzen in verschiedenen Formen des Handels, Hamburg: diplom.de 1997 (Diplomarbeit, Bonn 1988). 37 Engels, Jens Ivo: Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn: Schöningh 2006. Vgl. Uekötter, Frank: Am Ende der Gewissheiten. Die ökologische Frage im 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York: Campus 2011, S. 103. 38 Uekötter, Frank: Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution. Eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880–1970, Essen: Klartext Verlag 2003; Radkau, Joachim: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München: C. H. Beck 2011; Uekötter, Frank: „Eine ökologische Ära? Perspektiven einer neuen

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traditionellen und eher konservativ orientierten Naturschutz nicht nur in bestimmten neueren Mobilisierungs- und Protestformen: Vor allem hatte die neue Umwelt- und Ökologiebewegung, sich überschneidend beispielsweise mit der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung, ihre soziale Basis im sogenannten Alternativen Milieu. Die von nun an langfristig vorherrschende politische Zuschreibung der Ökologie als „linksalternativ“ vollzog sich dabei als „dissidente Kaperung“ des Umweltschutzes.39 Eine entscheidende Brücke für die damit verbundene „Übertragung marxistischer Interpretationen auf Umweltthemen“ stellten die Auseinandersetzungen um die Nutzung der Atomkraft dar.40 Verbunden mit einer breit angelegten und antikapitalistisch orientierten Konsumkritik konnte Alternative Ernährung nun im Modus des asketischen Konsumverzichts zum Vollzug und Ausdruck einer ökologischen Lebensführung avancieren.41 So finden sich neben der Makrobiotik auch nicht-spirituell ausgerichtete Ansätze, sich anders zu ernähren. Die US-amerikanische Ernährungsaktivistin Frances Moore Lappé (*1944) beispielsweise plädierte 1971 mit ihrer einflussreichen Schrift Diet for a small Planet42, die als „the vegetarian text of the ecology movement […]“ gilt,43 für den Fleischverzicht in der Ernährung. Dieses interessante Beispiel zeigt dabei einerseits die Problematik sich überlagernder und verkoppelter Motive und Begründungen für den Vegetarismus, wie auch andererseits im Vergleich zur Gegenwart eine Verschiebung des Bedeutungsfelds ‚ökologisch‘: Moore Lappé forderte den Fleischverzicht weder aus prinzipiell tierethischen noch aus gesundheitlichen Erwägungen in der Weise, wie im traditionellen Vegetarismus der Verzehr von Fleisch als ungesund an sich angesehen wurde. Sie präsentierte ihn vielmehr (vielleicht im unbewussten Rückgriff auf das traditionelGeschichte der Umweltbewegungen“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 9/1 (2012), S. 108–114. 39 Engels, Jens Ivo: „Umweltschutz in der Bundesrepublik — von der Unwahrscheinlichkeit einer Alternativbewegung“, in: Reichardt, Sven; Siegfried, Detlef (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen: Wallstein 2010, S. 405–422, S. 413 und 421. 40 J. Radkau, Die Ära der Ökologie, S. 156; F. Uekötter, Am Ende der Gewissheiten, S. 110; Ders., Eine ökologische Ära, S. 112. 41 J. I. Engels, Umweltschutz, S. 417ff. 42 Moore Lappé, Frances: Diet for a Small Planet, New York: Ballantine Books 1971. 43 „[…] selling in the next ten years almost two million copies in three editions and six languages.“ Belasco, Warren James: Appetite for change: How the counterculture took on the food industry, Ithaka, N.Y.; London: Cornell University Press ²2007 [1989] (updated edition), S. 56 (Hervorhebung im Original).

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le ökonomische Argument für den Vegetarismus) als Beitrag zur Lösung des virulenten Welthungerproblems44: das heißt als ethisch-altruistisches Anliegen, gegenüber den im globalen Ernährungssystem strukturell benachteiligten Mitmenschen. Sie machte ihn ihren Lesern aber durch ein egoistisch-‚ökologisches‘ Argument schmackhaft, welches doch wieder auf die individuelle Gesundheit zielte: Durch den Verweis auf die sich erhöhende Konzentration von allgemeinen Umweltgiften und speziellen Rückständen aus der chemisch-technisch intensivierten Agrarwirtschaft in den Lebensmitteln, je weiter sich diese am Ende der Nahrungskette befinden würden. Dafür konnte sie sich auf eine bereits seit den 1960er Jahren entwickelte und verbreitete Argumentationslinie stützen. Mit dem einflussreichen „Öko-Klassiker“ Silent Spring (1962) der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson (1907–1964) begann die öffentlichkeitswirksame Problematisierung der Pestizide und die Kritik an ihrem inflationären Einsatz in der industrialisierten Landwirtschaft.45 Moore Lappés Buch erschien schließlich 1978 in deutscher Übersetzung im Fischer-Verlag in der Reihe „fischer alternativ“ mit einem signifikant modifizierten Titel: Die Öko-Diät. Wie man mit wenig Fleisch gut ißt und die Natur schont.46 Hierin zeigt sich eine weitere Verschiebung, indem nun die Ernährungspraxis nicht mehr nur im Hinblick auf benachteiligte Mitmenschen oder den eigenen Körper als ‚ökologisch‘ relevant angesehen wurde, sondern auch hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Umwelt, die ihn umgibt. So kann für diese zweite Phase festgehalten werden, dass es erst im Verlauf der 1970er Jahre zu einer Ökologisierung Alternativer Ernährung kam. Vor dem Hintergrund zunehmend problematisierter Schadstoffbelastungen in der Nah44 Gerlach, Christian: „Die Welternährungskrise 1972–1975“, in: Geschichte und Gesellschaft 31/4 (2005), S. 546–585. Wieters, Heike: „Die Debatten über das ‚Welternährungsproblem‘ in der Bundesrepublik Deutschland, 1950–1975“, in: Collet, Dominik/ Lassen, Thore/Schanbacher, Ansgar (Hg.): Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität, Göttingen: Universitätsverlag Göttingen 2012, S. 215–241. 45 Carson, Rachel: Der stumme Frühling. Der Öko-Klassiker mit einem Vorwort von Joachim Radkau, München: C. H. Beck 2013. Zu diesem Buch siehe auch: Bergthaller, Hannes: Ökologie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Untersuchungen zur Literatur der modernen amerikanischen Umweltbewegung: Aldo Leopold, Rachel Carson, Gary Snyder und Edward Abbey, Bonn 2004 (Dissertation auf dem Hochschulschriftenserver der ULB Bonn: http://hss.ulb.uni-bonn.de/diss_online. Verfügbar unter: http://d-nb.info/973469889/34 vom 23.03.2015), S. 206–226 und J. Radkau, Die Ära der Ökologie, S. 118–123. 46 Moore-Lappé [sic], Frances: Die Öko-Diät. Wie man mit wenig Fleisch gut ißt und die Natur schont, Frankfurt am Main: Fischer 1978.

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rungserzeugung mehrte sich unter den konsum- und kapitalismuskritischen Alternativköstlern des Alternativen Milieus – aber langfristig eben signifikant auch darüber hinaus – der Bedarf nach schadstofffreien bzw. -armen Lebensmitteln: vorzugsweise und, sofern verfügbar, aus Alternativer Landwirtschaft. Deren Erzeugnisse galten unter ihren wenigen Kennern bereits traditionell als besonders ‚natürlich‘ und waren nun vermeintlich auch frei von Rückständen: Dies manifestierte sich auch an einer allgemein zunehmenden Problematisierung der konventionellen Landwirtschaft.47 Die hieraus entstehende dynamisierende Wechselwirkung zwischen Distributions- und Produktionssektor Alternativer Ernährung ist wiederum kennzeichnend für die dritte Phase der Entwicklung. Bevor ich mich aber ausführlicher dem Produktionssektor widme, das heißt der Problematisierung der konventionellen Landwirtschaft sowie ihrer Herausforderung durch den Alternativen Landbau, verbleibe ich noch bei einem weiteren Aspekt der Konsumebene, welcher einen spezifisch deutschen Entwicklungspfad darstellen dürfte: Die entscheidende konzeptionelle Referenz für die ‚naturköstliche‘ Zulässigkeit von Auswahl und Zubereitung der Lebensmittel unter den Naturkostanhängern wurde in dieser zweiten Phase nun die vorrangig gesundheitlich orientierte Lehre der „Vollwerternährung“. 4.2  Vollwerternährung Die Vollwertkost erfreute sich ab Mitte der 1970er Jahre zunehmender Beliebtheit im Alternativen Milieu und in der Naturkostszene. Im Sortiment der Läden manifestierte sich dies beispielsweise an der Bedeutung von Vollkorngetreideprodukten, insbesondere dem „Müsli“ und entsprechendem Zubehör wie Getreidemühlen zur Selbstherstellung von Frischkornbreien und Getreideschrot zum Backen von Vollkornbrot. In vermutlicher Unkenntnis ihrer Geschichte konnte diese Lehre scheinbar zunächst unkompliziert in die spezifischen umwelt- und gesundheitsbezogenen sowie kernkraft- und kapitalismuskritischen Befindlichkeiten einiger Teile des Alternativen Milieus integriert werden. Ein Zeitgenosse meinte: „Für mich war damals Kollaths Vollwertlehre so revolutionär und spannend wie vor-

47 Siehe bspw. eine Fernsehsendung der ARD mit dem Titel „Gemüse ohne Gift“ von 1972 (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42805207.html; vgl. Treitel, Corinna: Eating Nature in Modern Germany: Food, Agriculture, and Environment, c. 1870 to 2000, Cambridge: Cambridge University Press 2017, S. 265f. (oder einen Spiegel-Titel von 1978: „Vergiften uns die Bauern?“ Der Spiegel, 44, 1978).

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her Marx. Hier wie dort ging es darum, eine bessere Welt für die Menschen zu schaffen.“48 Dies wirkt rückblickend in gewisser Hinsicht erstaunlich, wenn man sich den historischen Entstehungskontext dieser Ernährungslehre vor Augen führt (andererseits dürfte diese Art von ‚Geschichts-nicht-Bewusstsein‘ eine notwendige Voraussetzung für derartige kulturelle Aneigungsprozesse darstellen): Der Mediziner, Rassehygieniker und Ernährungswissenschaftler Werner Kollath (1892–1970) entwickelte seine Ernährungslehre einer systematischen „Ordnung der Nahrung“ seit den 1930er Jahren.49 Dies geschah im Nationalsozialismus vor dem Hintergrund der selektiven staatlichen Aufwertung von Elementen Alternativer Ernährung lebensreformerischer Provenienz in biopolitischer und kriegswirtschaftlicher Absicht. Zur Verbesserung der „Volksgesundheit“ und der Verwirklichung der „Autarkie“ wurde beispielsweise im Rahmen der „Verbrauchslenkung“ auch der Verzehr von Vollkornbrot politisch forciert.50 Kollath hierarchisierte die Lebensmittel nach ihrer „biologischen“ Wertigkeit und nach ihrem Verarbeitungsgrad und definierte als „Vollwertkost“ eine Ernährung, die „alles enthält, was der Organismus zu seiner Erhaltung und zur Erhaltung der Art benötigt“.51 Kollath wurde nach dem Krieg wissenschaftlich marginalisiert und war nun hauptsächlich im lebensreformerischen Milieu der Nachkriegszeit aktiv, welches um die Reformwarenwirtschaft zentriert war52. Er konnte erfolgreich ein „Kollath-Frühstück“ über die Reformhäuser vermarkten. Zur erneuten Popularisierung der Vollwert48 Mock, Wolfgang (Getreidemühlen-Hersteller, u.a. KoMo Gmbh), in: https://naturkost. de/naturkost-von-a-z/wer-sind-die-bios/die-siebziger-jahre/ vom 22.11.2017 → https:// web.archive.org/web/20170407041654/https://naturkost.de/naturkost-von-a-z/wersind-die-bios/die-siebziger-jahre/ 49 Kollath, Werner: Die Ordnung unserer Nahrung. Grundlagen einer dauerhaften Ernährungslehre, Stuttgart: Hippokrates 1942. Vgl. Spiekermann, Uwe: „Der Naturwissenschaftler als Kulturwissenschaftler: Das Beispiel Werner Kollaths“, in: Neumann, Gerhard/Wierlacher, Alois/Wild, Rainer (Hg.): Essen und Lebensqualität. Natur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Frankfurt am Main: Campus 2001, S. 247–274. Zu Kollaths Biographie und Werk ausführlich: Melzer, Jörg: Vollwerternährung: Diätetik, Naturheilkunde, Nationalsozialismus, sozialer Anspruch, Stuttgart: Franz Steiner 2003, S. 207–282. 50 Spiekermann, Uwe: „Vollkorn für die Führer. Zur Geschichte der Vollkornbrotpolitik im Dritten Reich“, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 16/1 (2001), S. 91–128. 51 Kollath, Werner: Die Ordnung unserer Nahrung, Stuttgart: Haug 17[!]2005, S. 61. 52 Vgl. Fritzen, Florentine: „Gesünder leben“. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner 2006.

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kost im Alternativen Milieu der 1970er Jahre trugen einige Nachfolger Kollaths bei – die als Ärzte öffentlich die Lebensmittelindustrie sowie durch sie verursachtes Ernährungsverhalten angriffen und die Vollwerternährung wegen ihrer gesundheitlichen Vorteile propagierten – wie beispielsweise die Ärzte Max Otto Bruker (1909–2001) und Johann Georg Schnitzer (*1930).53 Ende der 1970er Jahre wirkte diese erneute Popularisierung Alternativer Ernährung in Form der Vollwertlehre sogar auf das Wissenschaftssystem selbst zurück. Studentische Initiativen der Ernährungswissenschaft in Göttingen begannen sich mit der Vollwerternährung auseinanderzusetzen und überzeugten schließlich den Ernährungswissenschaftler Claus Leitzmann (*1933), sie wissenschaftlich zu untersuchen.54 Auch wenn die meisten von Kollaths theoretischen Annahmen nicht haltbar waren, so zeigte doch die Ausübung dieser Ernährungsweise in der „Gießener Vollwert-Ernährungsstudie“ gesundheitliche Effekte, was schließlich zu ihrer Re-Etablierung in der Ernährungswissenschaft führte.55 Die grundsätzlichen Prinzipien der Lebensmittelauswahl und die entsprechenden Zubereitungsund Verzehrsnormen der Vollwerternährung finden sich nicht zuletzt in den Empfehlungen der „Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)“ wieder. Die vereinzelte Bewusstwerdung und Problematisierung möglicher Parallelen und Vorläufer Alternativer Ernährung im Nationalsozialismus setzte aber erst im Verlauf der 1980er Jahre ein.

5.  P  HASE III: VON DER NATURKOSTBRANCHE ZUR BIO-LEBENSMITTELWIRTSCHAFT In der Phase des „Zerfalls“ des Alternativen Milieus ab Mitte der 1980er Jahre veränderte sich auch die Naturkostbranche drastisch: Von einem Zerfall kann dabei jedoch keinesfalls die Rede sein. Eher von einer einschneidenden Transformation, in deren Verlauf zwar zentrale Elemente der „Alternativökonomie“ (antikapi53 J. Albrecht, Naturkost. Zu Bruker und Schnitzer siehe J. Melzer, Vollwerternährung, S. 355–388 und S. 326–344. 54 J. Melzer. Vollwerternährung, S. 392–404. 55 Koerber, Karl von/Männle, Thomas/Leitzmann, Claus: Vollwert-Ernährung. Grundlagen einer vernünftigen Ernährungsweise, Heidelberg: Haug 1981. Dieses Konzept wurde auch ins ökologische Paradigma integriert und firmiert als erweiterter, ganzheitlicher Ansatz unter dem Titel „Ernährungsökologie“. Vgl. Leitzmann, Claus/Spitzmüller, Eva-Maria: „Ernährungsökologie — eine ganzheitliche Betrachtung des Ernährungssystems“, in: Diedrichsen, Iwer (Hg.): Humanernährung. Ein interdisziplinäres Lehrbuch, Darmstadt: Steinkopff 1995, S. 121–152.

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talistisches Wirtschaften, Selbstorganisation, Basisdemokratie, gleicher Lohn und Rotationsprinzip etc.) verloren gingen, sich aber die überdauernden Unternehmen zu ökonomisch erfolgreichen, marktwirtschaftlich organisierten Betrieben verwandelten, die gleichwohl immer noch – zumindest in ihrer Selbstwahrnehmung – den alternativen Idealen verpflichtet blieben. Das entscheidende Alleinstellungsmerkmal der Naturkost- resp. Bio-Läden wurde die Produktqualität „Bio“ (bzw. „Öko“), die sich zu konkretisieren begann. Dies vollzog sich parallel in einer stimulierenden Wechselwirkung zwischen den Sektoren der Distribution und Produktion Alternativer Ernährung. 5.1  Professionalisierung und Ökonomisierung Bereits während der 1970er Jahre hatte die Anzahl der Naturkostläden stetig zugenommen. Deren Betreiber begannen sich zu vernetzen und konsolidierten sich letztendlich als Branche mit eigenen Zwischen- und Großhandelsstrukturen. Noch immer mit dem besonderen Anspruch, etwas Neues zu verwirklichen und das Althergebrachte zu überwinden. Im Selbstverständnis befanden sich die ‚Alternativen‘ in nonkonformistischer Spannung zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung und experimentierten mit alternativen Formen des Wirtschaftens, auch in der zunehmend engen Kooperation mit dem Alternativen Landbau: „Getreide von Umstellungsbetrieben wurde noch nicht gekennzeichnet, die Landwirte erhielten dafür zum Teil sogar mehr Geld als später für Bio-Getreide. Nicht um sie zu ködern, sondern weil sie erst Erfahrungen mit dem Bio-Landbau sammeln sollten und auch deutlich geringere Ernten hatten. ‚Dass das betriebswirtschaftlich nicht der richtige Weg war, ist mir im Nachhinein schon klar. Hat aber, glaube ich, dazu geführt, dass es erstmal einen Grundstock gegeben hat. Und man darf auch nicht vergessen, wir hatten den Ansatz: Wir werden hier die Gesellschaft verändern, wir werden dieses gesamte kapitalistische System vorführen und danach zerstören. Da waren die Regeln der Marktwirtschaft nicht so angesagt.‘“56

Im Verlauf der 1980er Jahre jedoch begann sich die Naturkost-Branche einschneidend zu verändern: Trotz eines anhaltenden Wachstums – sowohl hinsichtlich von Neueröffnungen von Läden als auch insbesondere hinsichtlich der wachsenden Nachfrage nach naturbelassenen Lebensmitteln über die Anhänger des Alternativen Milieus hinaus – mussten viele Läden schließen. Dafür finden sich verschiedene Gründe, unter anderem auch die ökonomische Ineffizienz und interne Wider-

56 H. Heldberg, Müsli-Macher, S. 57 (Zitat im Zitat: Hellmut Vollmer, Bäckermeister, Bohlsener Mühle).

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sprüchlichkeiten der Alternativwirtschaft.57 Entscheidender dürfte aber gewesen sein, dass der konventionelle Lebensmittelsektor begann, sich für dieses Spezialsortiment zu interessieren, was einen Verdrängungswettbewerb einleitete. Denn von Seiten der Produzenten wurde der Naturkostsektor nicht mehr als ausschließlicher Absatzkanal angesehen.58 Zudem mehrten sich die sogenannten „PseudoBio“-Produkte, welche das Marketingpotenzial der rechtlich ungeschützten Vorsilbe „Bio“ abschöpfen wollten.59 Die Naturkostbranche reagierte, indem sie sich professionalisierte und rationalisierte – zumindest der Teil, der diesen Prozess ‚überlebte‘: Aus „Unterlassern wurden Unternehmer“, wie es rückblickend hieß.60 Die Läden vergrößerten sich bis hin zu den Gründungen der ersten Bio-Supermärkte Ende der 1980er Jahre. Auch im Großhandel und bei den Herstellern fanden entsprechende Entwicklungen und Konzentrationsprozesse statt: Selbstverwaltungen und genossenschaftliche Strukturen wandelten sich entweder in marktwirtschaftlich agierende Unternehmen oder sie mussten aufgeben. „Da gab es zum Beispiel ein kleines Bäckerkollektiv in Lauenburg, die hatten im Hamburger Raum die Nase vorn. Doch es waren solche Freaks, dass sie ihre Chancen dann völlig verschlafen haben. Die hätten die Hamburger Bio-Bäckerei sein können. Wenn man sowas gesehen hat, wie die auf der Stelle stehen blieben, dann langsam wieder rückwärts gingen, dann sagt man sich: ‚Aha, bloß so nicht.‘ Im Gegenteil: [I]n dieser Zeit reifte der Entschluss, ein vollständig ökologisches, modernes und effizientes Unternehmen aufzubauen.“61

Innerhalb der Branche setzte parallel eine intensive Diskussion über einheitliche und verbindliche Kriterien für Naturkost ein. Dies war eng verbunden mit der Gründung eines eigenen Branchenverbandes zur Interessenvertretung: 1983 wurde der „Naturkost e.V.“ gegründet, aus dem schließlich 1988 die „Bundesverbände Naturkost Naturwaren (BNN)“ Herstellung, Großhandel und Einzelhandel hervorgingen.62 Was die Herstellungsqualität der Lebensmittel anging, orientierte 57 „Da hätte man immer zu viel diskutiert und zu wenig kaufmännisch gearbeitet.“ H. Heldberg, Müsli-Macher, S. 147. 58 G. Ruhrmann-Adolph, Distribution, S. 1. 59 Ebd., S. 9. 60 Vgl. https://naturkost.de/naturkost-von-a-z/wer-sind-die-bios/ (Seite nicht mehr erreichbar, Abbild unter: https://web.archive.org/web/20170716155119/https://naturkost. de/naturkost-von-a-z/wer-sind-die-bios/ vom 01.07.2019). 61 Volker Krause (Bohlsener Mühle), in: H. Heldberg, Müsli-Macher, S. 109 (Hervorhebung im Original). 62 H. Heldberg, Müsli-Macher, S. 170–177. Diese vereinigten sich 2013 zu einem „Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN)“ (http://www.n-bnn.de/pressemel-

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man sich an den Richtlinien der Anbauverbände und des sich international vernetzenden und homogenisierenden Alternativen Landbaus. Was die Auswahl zulässiger Lebensmittel und ihrer Verarbeitung betraf, war umstritten: Schließlich wurden in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre von einigen Naturkostherstellern die ersten Produkte auf den Markt gebracht, die nicht mehr mit den strengen Auswahl-Normen der Vollwertkost konform gingen. Dies führte zunächst zu einem „Aufschrei“ in der Branche, wie das Beispiel der Schokolade zeigt: „Als die Schokolade auf den Markt gebracht wurde, da war Rapunzel der Feind. Das war absolut verpönt, denn wir haben ja damals versucht, uns zuckerfrei zu ernähren, das heißt[,] wir hatten gar keine Ware mit Zucker und keine Ware mit Weißmehl. Wir hatten nur Vollkornprodukte und Produkte ohne Zucker, die einzige Ausnahme war Honig.“63

Trotz der anfänglichen Widerstände glich sich das Sortiment der Naturkostbranche zunehmend dem des konventionellen Lebensmittelhandels an: Weißmehlprodukte, zuckerhaltige Produkte wie Süßwaren, Kaffee und schlussendlich sogar Fleisch und Fertiggerichte fanden Einzug in die Auslagen und Regale. Mit einem entscheidenden Unterschied: Sie waren nun nahezu vollständig in „Bio“-Qualität verfügbar. Die Naturkostbranche transformierte sich im Zuge dieser strukturellen und ideologischen Veränderungen – parallel mit der Anerkennung und Aufwertung der Alternativen Landwirtschaft als Ökologische Landwirtschaft – zur ökologischen „Bio“-Lebensmittelwirtschaft. Sie definierte sich nun über diese spezielle Produktqualität der Erzeugnisse aus Alternativer Landwirtschaft und die mit ihr verbundenen Assoziationen und Erwartungen der Konsumenten, nicht mehr über die Auswahl bestimmter Lebensmittel. 5.2  Alternativer Landbau und die Konstruktion von „Bio“ Um diesen gleichzeitigen Prozess der Ökologisierung und Ökonomisierung der Alternativen Ernährung zu verstehen, der schließlich zu einer ‚Konstruktion‘64 der dungen/12092013-bundesverband-naturkost-naturwaren-zieht-zwischenbilanz-bnn250-tage vom 16.11.2017). Daneben existiert seit 1990 ein Einzelhandelsverband „Naturkost Süd e.V.“ (https://naturkost-sued.de vom 16.11.2017). 63 H. Heldberg, Müsli-Macher, S. 81. 64 Für den Begriff der „Konstruktion“ in diesem Zusammenhang beziehe ich mich auf Broberg, der diesen Prozess am Fallbeispiel des Produktes Bio-Milch in Schweden untersucht hat. Vgl. Broberg, Oskar: „To Do Business, to Practise Ethics, and to Produce Knowledge: The Construction of ,Organic Milk‘ in Sweden in the late 20th Century“, in: Food & History 5(2 (2007), S. 171–202. Siehe auch: Ders.: „Labeling the Good:

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Lebensmittelqualität „Bio“ führte, das heißt ihre lebensmittelrechtlich geregelte Definition und Kennzeichnung, ist abschließend ein kurzer historischer Rückblick auf die diskontinuierlichen Wechselwirkungen zwischen Produktion und Distribution Alternativer Ernährung zu werfen. Die Ansätze für einen Alternativen Landbau wurden bereits unter den ersten Vegetariern Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert: Das Ideal einer „naturgemäßen“ Landwirtschaft meinte dabei allerdings zunächst einfach eine ohne Tiere bzw. den Einsatz aus Tierhaltung stammender Mittel.65 Erst später ersetzte die Problematisierung des Düngers – zunächst in Form von importierten (organischen) Mineraldüngern – das ‚Dogma‘ der tierfreien Landwirtschaft durch das ‚Dogma‘ der düngerfreien Landwirtschaft. Dies verschärfte sich noch mit der durch die Stickstoffsynthese möglich gewordene, industrielle Herstellung von „Kunstdünger“. Auch in der seit den 1920er Jahren entstehenden biologisch-dynamischen Landwirtschaft66 wurde der vorsätzliche „Kunstdünger“-Verzicht als nonkonforme bäuerliche Praxis neben dem Einsatz spezieller ‚Präparate‘ zum konstitutiven Merkmal der Alternativbewirtschaftung. Dies stellte aber eine grundsätzliche Infragestellung und Herausforderung der hegemonialen – sich zunehmend rationalisierenden und chemisch-technisch intensivierenden – Landwirtschaft dar. Dadurch geriet der Alternative Landbau in Konfrontation zu den sich überlagernden Interessen von Düngemittelindustrie und agrikulturchemischer Landbauwissenschaft.67 Neben und aus der biologischdynamischen Wirtschaftsweise entstanden mit der Zeit auch weitere Alternative Landbausysteme wie der „natürliche“ bzw. „biologische“ Landbau in lebensreformerischer Tradition oder der zusätzlich durch den angelsächsischen organischen

Alternative Visions and Organic Branding in Sweden in the Late Twentieth Century“, in: Enterprise and Society 11/4 (2010), S. 811–838 (2010). Vergleichbare historische oder konsumsoziologische Studien für Deutschland existieren meines Wissens nach nicht. 65 Treitel, Corinna: „Artificial or Biological? Nature, Fertilizer, and the German Origins of Organic Agriculture“, in: Phillips, Denise; Kingsland, Sharon (Hg.): New Perspectives on the History of Life Sciences and Agriculture, Cham: Springer International 2015, S. 183–203. Vgl. Dies., Eating Nature. Die Idee einer tierlosen Landwirtschaft wird erneut seit Mitte der 1990er Jahre von Großbritannien ausgehend als „Vegan Organic“- bzw. als „bio-veganer“ Landbau popularisiert. 66 Vogt, Gunter: Entstehung und Entwicklung des ökologischen Landbaus im deutschsprachigen Raum, Bad Dürkheim: SÖL 2000, S. 98–192. 67 Uekötter, Frank: Die Wahrheit ist auf dem Feld. Eine Wissensgeschichte der deutschen Landwirtschaft, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, S. 232–242.

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Landbau beeinflusste biologisch-organische Landbau nach Müller-Rusch.68 Allerdings kam es für den Absatz ihrer Erzeugnisse zu keiner exklusiven oder dauerhaften Kooperation mit den „Reformhäusern“. Zeitgleich mit der Herausbildung des Naturkostsektors setzte auch die oben erwähnte transnationale Vernetzung der Alternativen Landwirtschaft ein. Unter dem Schirm der 1972 gegründeten internationalen Dachorganisation „International Federation of Organic Agriculture Movements (IFOAM)“ sammelten sich verschiedene Landbausysteme zum Wissens- und Erfahrungsaustausch und arbeiteten an der Standardisierung und Vereinheitlichung ihrer Normen.69 Ab den 1970er Jahren, vor allem aber ab den 1980er Jahren gründeten sich in Deutschland dann neben dem Demeter-Verband für die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise die neuen Anbauverbände der ab dem Ende der 1980er Jahre sogenannten Ökologischen Landwirtschaft.70 Dies resultierte nicht zuletzt auch aus der sich seit den 1970er Jahren intensivierenden Interaktion zwischen Alternativer Ernährung in Form der Naturkost und dem Alternativen Landbau in Form der Ökologischen Landwirtschaft. Deren Erzeugnisse wurden immer wichtiger und schließlich, wie gezeigt, zum exklusiven Merkmal des Naturkostsortiments. Einige Naturkost-Distributoren waren sogar im größeren Ausmaß erfolgreich, Bauern zu überzeugen, auf Alternativen Landbau umzustellen.71 Zudem gab es auch alternative Quereinsteiger, die ihre politischen und ökologischen Ideale umsetzen wollten und als neue Landwirte hinzukamen. Jedoch dürften die Bemühungen der Naturkost-Distributoren einen entscheidenden Faktor für die Zunahme alternativ bewirtschafteter Flächen bis zum Ende der 1980er Jahre gewesen sein, konnten sie doch den umstellungswilligen Bauern deren damit verbundene betriebliche Risiken zumindest mit einer stabilen Nachfrage mindern. Mit der Einbettung in das ökologische Paradigma vollzog sich zeitgleich die Institutionalisierung, Verwissenschaftli68 G. Vogt, Entstehung, S. 60–97, S. 197–236 und S. 237–258. Vgl. Pain, Johannes: „Landbau als Kulturkritik. ‚Boden‘ als Kristallisationspunkt gesellschaftsreformerischer Bestrebungen in den Landbaukonzepten von Hans-Peter Rusch und Ewald Könemann“, in: Anliegen Natur 31/1 (2007), S. 28–33. 69 Gerber, Alexander/Hoffmann, Volker/Kügler, Michael: „Das Wissenssystem im ökologischen Landbau in Deutschland. Zur Entstehung und Weitergabe von Wissen im Diffusionsprozeß“, in: Berichte über Landwirtschaft 74/4 (1996), S. 591–627; Schmid, Otto: „Development of Standards for Organic Farming“, in: Lockeretz, William (Hg.): Organic Farming: An International History, Wallingford, UK: CABI 2007, S. 152–174 und Geier, Bernward: „IFOAM and the History of the International Organic Movement“, in: Ebd., S. 175–186. 70 G. Vogt, Entstehung, S. 261–288. 71 H. Heldberg, Die Müsli-Macher, S. 56.

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chung und gesellschaftliche Anerkennung der nun nicht mehr nonkonform geltenden und fortan als „Ökologische Landwirtschaft“ bezeichneten Wirtschaftsweise. Aufgrund unterschiedlicher Bedürfnisse und Interessen, nicht zuletzt um über das niedrigere Ertragsniveau des Alternativen Landbaus die Agrarmärkte von der subventionierten Überproduktion zu entlasten, kam es ab Ende der 1980er Jahre zur finanziellen Förderung sogenannter „umweltschonender Landbauweisen“ durch die Europäische Gemeinschaft. Schließlich folgte mit der EG-Öko-Verordnung von 1991 die lebensmittelrechtliche Regulierung der Erzeugnisse des Ökolandbaus.72 Innerhalb dieser Aushandlungsprozesse, in welchen die IFOAM die Interessen der alternativen Erzeuger vertrat, mussten zahlreiche Kompromisse eingegangen werden: Beispielsweise liegen bekanntermaßen die gesetzlichen Anforderungen an die Erzeugung unter den selbstgesetzten der entsprechenden Anbauverbände. Zudem kam es auf der ideologischen Ebene zu einschneidenden Umdeutungen. Konsumkritische oder gar antikapitalistische Werte, die im Alternativen Milieu eine zentrale Stellung hatten, verloren gegenüber einem breiter geteilten Umweltbewusstsein an Bedeutung: Ökologie und Ökonomie wurden nicht mehr generell als unvereinbar gedacht. Die Definitionsmacht darüber, was „Bio“Qualität ist, ging in diesem Prozess von den privatrechtlichen Vereinbarungen der Verbände auf den Staat über.73 Das Ergebnis war eine lebensmittelrechtliche Definition der „Bio“-Qualität durch ihre besondere, normierte und kontrollierte Produktionsweise, nicht aber eine inhaltliche Bestimmung von Eigenschaften (wie etwa Gehalte von Nähr- oder Schadstoffen etc.) der Produkte.74

6.  FAZIT Mit dieser Rekonstruktion konnte ein Einblick in die komplexen und verschlungenen Vorgänge, die zur Herausbildung der „Bio“-Produktqualität führten, gewonnen werden. Die Innovation dieser Nahrungsmittelqualität kann dabei auch 72 „VERORDNUNG (EWG) Nr. 2092/91 DES RATES [der Europäischen Gemeinschaften] vom 24. Juni 1991 über den ökologischen Landbau und die entsprechende Kennzeichnung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse und Lebensmittel“ (online unter: http:// eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:31991R2092&from=DE vom 21.02.2018). 73 Dabbert, Stephan; Häring, Anna Maria: „Vom Aschenputtel zum Lieblingskind – Zur politischen Förderung des Ökolandbaus (Organic farming: A grassroots movement taken over by policy?)“, in: Gaia 12 (2003), Nr. 2, S. 100–106. 74 Rathke, Kurt-Dietrich/Kopp, Heinz-Joachim/Betz, Dietmar: Ökologischer Landbau und Bioprodukte. Recht und Praxis, München: C. H. Beck ²2010.

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als eine Folge verschiedener Prozesse einer langfristigen kulturellen Dynamik Alternativer Ernährung angesehen werden, die teilweise auch durch religiöse Motive, gekoppelt mit anderen Beweggründen bestimmter Akteure, angestoßen wurden. Solche Prozesse einer kulturellen Dynamik vollziehen sich nicht-linear und nicht vorhersehbar und können daher immer nur retrospektiv rekonstruiert werden. Diese historische Rekonstruktion weicht in einigen Punkten signifikant von der Selbsthistorisierung der Akteure – sozusagen: der ‚Heilsgeschichte‘ – der Bio-Bewegung ab. Ökologische Motive, so wie wir sie heute verstehen, standen weder am Anfang der Alternativen Landwirtschaft noch der Alternativen Ernährung überhaupt. Die entscheidenden Prozesse der Ökologisierung setzten erst im Laufe der 1970er Jahre ein und führten (u.a.) schließlich zur kulturellen Innovation der „Bio“-Qualität. Das Interesse an Alternativer Ernährung trat in diesem Zeitraum zunächst in Form der exotischen und spirituell orientierten japanischen Makrobiotik in Erscheinung und ihre Anhänger errichteten die ersten Läden und Handelsstrukturen. Ihr besonderes Lebensmittelsortiment entwickelte sich zur Naturkost für Vegetarier und Anhänger der Vollwerternährung. Ihr Ideal bestand in einer Kombination von Regeln der Auswahl und Zubereitung der Lebensmittel wie auch im Anspruch einer besonders ‚natürlichen‘ Erzeugungsqualität durch eine auf den Einsatz von Düngern und Pestiziden verzichtende alternative Erzeugung. Das Ideal der „Naturkost“ verlor über die Zeit parallel mit der ideologischen Bedeutung der Vollwerternährung an Geltung, während die mit dem „alternativen“ (bzw. seit Ende der 1980er Jahre zunehmend als „ökologisch“ bezeichneten) Landbau assoziierte Produktqualität „Bio“ zum entscheidenden Merkmal des alternativen bzw. ökologischen Konsum- und Lebensstils und – damit in Wechselwirkungen verbunden – der entsprechenden Branche wurde. Weder die Kriterien des Verarbeitungsgrades noch der messbaren Rückstandsfreiheit oder eine andere inhaltliche Bestimmung definierten schließlich die „Bio“-Qualität von Lebensmitteln. Sie wurde schließlich über ihre Produktionsweise zu Beginn der 1990er Jahre europaweit mit der EG-Öko-Verordnung gesetzlich geregelt. Von hier aus kann die eingangs gestellte Frage nach dem Zeitpunkt, seit wann die Bio-Qualität existiert, folgendermaßen beantwortet werden: Auch wenn es auf sprachlicher Ebene Bezeichnungen wie „biologisches Qualitätserzeugnis“ oder „Bio-Kontroll-Produkt“ seit den 1950er Jahren gab,75 findet sich ein kollektives Bewusstsein für ihre Existenz, das sich in einer steigenden Nachfrage niederschlug, erst seit dem Ende der 1970er Jahre. Gleichwohl entsprach dies nicht einem generellen Konsens und einer gesellschaftlichen Anerkennung: So existierten unterschiedliche privatrechtliche Vereinbarungen hinsichtlich Standards und Anforderungen an die Erzeugung durch die verschiedenen Anbauverbände 75 G. Vogt, Entstehung, S. 247ff.

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Alternativer Landwirtschaft, die durch ihre eigenen Kontrollinstanzen und Kennzeichnungen sichergestellt wurden. Die Vermarktung ihrer besonderen Erzeugnisse war trotzdem auf ein spezifisches Vertrauensverhältnis zwischen Produzenten und Konsumenten gestützt. Auf juristischer Ebene fanden zudem in den 1970er Jahren in der Schweiz und in den 1980er Jahren in Deutschland zwischen Aufsichtsbehörden und Produzenten bzw. Distributoren Auseinandersetzungen darüber statt, ob es sich bei mit „Bio“ gekennzeichneten Produkten um grundsätzliche Verbrauchertäuschung handele. Nimmt man daher streng die lebensmittelrechtliche Ebene zum Ausgangspunkt, so gibt es „Bio“-Produkte in Deutschland erst seit der EG-Öko-Verordnung von 1991. Ein eigenes staatliches Bio-Siegel wurde erst 2001 mit der Neuausrichtung der Agrarpolitik infolge der BSE-Krise eingeführt. Auf nationaler Ebene erfolgte die gesetzliche Durchführung der EG-Öko-Verordnung sogar erst mit dem „Ökolandbaugesetz (ÖLG)“ von 2007. Aus Sicht der Konsumenten verbinden sich in den „Bio“-Produkten in einer typischen Kopplung egoistischer und altruistischer Motive die Wertschätzung von Gesundheit und Nachhaltigkeit bzw. Umweltschutz.76 Diese Kombination von individuellen und kollektiven Heilsdimensionen war weit über das linksalternative Milieu hinaus anschlussfähig. Damit verbunden war die Ablösung der antikapitalistischen Konsumkritik durch einen sogenannten ‚kritischen Konsum‘ in der Ernährung aber auch darüber hinaus, der als Mittel der „Nachhaltigen Entwicklung“ die mit dem Weltwirtschaftssystem verbundenen ökologischen und sozialen Auswirkungen wie Armut und Umweltzerstörung durch reflektierte und freiwillige Entscheidungen der Konsumenten im Rahmen marktwirtschaftliche Prozesse von Angebot und Nachfrage gestalten soll.77

76 Hoffmann, Ingrid/Spiller, Achim (Hg.): Abschlussbericht. Auswertung der Daten der Nationalen Verzehrstudie II (NVS II): Eine integrierte verhaltens- und lebensstilbasierte Analyse des Bio-Konsums, o.O. 2010 (online unter: http://orgprints.org/18055/ vom 28.01.2011), S. 115. 77 Hälterlein, Jens: Die Regierung des Konsums, Wiesbaden: Springer VS 2015.

Moralische, utopische und religiöse Muster in der Umweltbewegung und ihre Marktnischen Philipp P. Thapa

1.  EINLEITUNG Die menschlichen Phänomene, die in den Religionswissenschaften als Formen des Religiösen untersucht werden, sind auch anderen Deutungen zugänglich. So gewinnt das Rostocker Forschungsprojekt „Märkte des Besonderen: Religionshybride Vernetzungen in Mecklenburg-Vorpommern“, das mit seinem Teilprojekt „Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität“ den Anlass zum vorliegenden Band gibt, seine Erkenntnisspannung daraus, dass menschliches Handeln in einigen Lebensbereichen ebenso als religiöse oder religionshybride Performanz1 beschrieben werden kann wie als Marktgeschehen. In diesem Beitrag möchte ich zusätzlich ein etwas anders aufgespanntes Netz von Betrachtungsweisen betonen, die dem Projekt aber nicht fremd sind. Wir können die fraglichen Situationen und Handlungen auch primär als Ausläufer der Umweltbewegung auffassen und zusätzlich nach den Rastern des Moralischen und Utopischen deuten. Eine solche Betrachtungsweise, die Ökospiritualität in einen Zusammenhang mit Umweltbewegung, Moral und Utopie bringt, drängt sich mir schon aus meiner Beschäftigung mit der Umweltethik auf. Als Forschungsprogramm, das historisch aus dem Diskurs der Umweltbewegung abzweigt, geht die philosophische Umweltethik von der Idee aus, dass wir ein neues, ökologisches Weltbild und neue Werte benötigen, um der dräuenden Umweltkrise zu begegnen. In einem weit rezipierten Aufsatz von 1967 spricht der Historiker Lynn White genauer gesagt von der Notwendigkeit einer „neuen Religion“ und verweist auf die weltanschaulichen

1 Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer VS 2013.

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Suchbewegungen in der Gegenkultur seiner Zeit.2 Nachdem Fachphilosophinnen und -philosophen diese Impulse in die Frage nach „einer neuen, einer UmweltEthik“ übersetzt hatten,3 verengte sich das vorherrschende Programm der neuen Forschungsströmung bald darauf, eine bzw. die neue ethische Theorie zu entwickeln. Die Fachdebatte der Umweltethik bog sich auf formale, metaethische und ontologische Fragen zurück, wie etwa, was als gute ethische Theorie durchgehen dürfe oder inwiefern es haltbar sei, den moralischen Respekt über die menschliche Spezies hinaus zu erweitern (Nicht-Anthropozentrismus), dabei aber wieder bestimmte Wesen auszugrenzen, die nicht Kriterien wie Empfindungsfähigkeit oder Lebendigkeit genügen. Und können Spezies oder Ökosysteme, für die Umweltund Naturschützer häufig eintreten, überhaupt als Wesen gelten, und falls doch, sind Wohl, Interessen, Gesundheit oder Ähnliches für sie bestimmbar? – und so fort in wissenschaftlich-philosophische Teildebatten, die wenig gesellschaftliche Wirkung zeigen.4 Auch aus diesem Grund kann die konventionelle Umweltethik das Versprechen, den Schlüssel zu einer besseren Welt zu liefern,5 nicht einlösen – jedenfalls nicht alleine. Für die praktisch-politische Umweltbewegung spielen mehr oder weniger konkrete Visionen alternativer Gesellschaftsordnungen, oder (ökologische) Utopien, eine viel größere Rolle. Ich spreche in diesem Zusammenhang von utopischem Denken oder Teilen und Vorstufen davon und verstehe es als das Denken in ganzheitlichen alternativen Gesellschaftsentwürfen einschließlich ihres Verhältnisses zur Umwelt.6 Gegenläufig zur Verästelung der Umweltethik ins abstrakte Detail weitet das utopische Denken die Aufmerksamkeit auf die konkrete (Re-)Konfiguration der gesamten Gesellschaft und Kultur aus, nicht nur ihrer Moralvorstellungen, die in der Praxis ohnehin oft dem Druck der politischen und wirtschaftlichen

2 White, Lynn, Jr.: „The historical roots of our ecologic crisis“, in: Science 155 (1967), S. 1203–1207. 3 Routley, Richard: „Is there a need for a new, an environmental, ethic?“, in: World Congress of Philosophy (Hg.), Proceedings of the XVth World Congress of Philosophy 17th to 22nd September, 1973, Varna, Bulgaria 1973, S. 205–210. 4 Eine reichhaltige Textsammlung zur Umweltethik mit einer guten Einführung in solche und alternative Fragestellungen bietet Keller, David R. (Hg.): Environmental ethics: the big questions, Chichester, West Sussex/Malden, MA: Wiley-Blackwell 2010. 5 Dickson hat diese weitverbreitete, aber meist unausgesprochene Annahme auf den Begriff des Ethizismus gebracht. – Dickson, Barnabas: „The ethicist conception of environmental problems“, in: Environmental Values 9 (2000), S. 127–152. 6 Thapa, Philipp P.: „Ökotopismus“, in: Konrad Ott/Jan Dierks/Lieske Voget-Kleschin (Hg.): Handbuch Umweltethik, Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 207–212.

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Verhältnisse weichen.7 Die ethische und die utopische Perspektive sind vielfältig miteinander verwoben: Von bestimmten moralischen Überzeugungen ausgehend, kann ich eine Gesellschaft entwerfen, die ihnen entspricht. Wenn ich umgekehrt eine Utopie etwa unter der Vorgabe imaginiere, dass sie im Zuge ihrer technischen und wirtschaftlichen Entwicklung die planetaren Grenzen einhält (eine Ökotopie im emphatischen Sinn), muss ich auch ihre entsprechenden Sitten- und Moralvorstellungen entwerfen, die daraufhin die Vorlage für eine theoretisch-ethische Rekonstruktion liefern können, und so weiter im Wechselspiel. Anders als Ernst Bloch, dessen Werk8 unter anderem in der Theologie stark rezipiert wurde, ist utopisches Denken in meiner Wortverwendung nur bedingt auf Hoffnung und Heilserwartung bezogen und entschieden pluralistisch gemeint. Mir geht es nicht um die Utopie, die dereinst aus den Möglichkeiten und Tendenzen der Gegenwart entspringen werde, sondern um einen sachlichen Umgang mit der Vielfalt der Utopien9 und dem utopischen Denken als einer Methode oder Methodenfamilie, die mit der Szenarienforschung verwandt ist.10 Dies schließt nicht aus, dass beispielsweise Umweltbewegte durch utopisches Denken nach Hoffnung für ihre Zukunft suchen oder gemäß apokalyptisch-heilsgeschichtlichem Muster an einen bevorstehenden Ökokollaps und eine leuchtende Vision der Gesellschaft danach glauben. Hier stoßen wir erneut darauf, dass das Moralische, das Utopische und das Religiöse weitenteils keine getrennten Sachbereiche, sondern unterschiedliche Hinsichten darstellen, in denen wir dieselben Vorstellungen und Praktiken mit unterschiedlichen Vokabularen beschreiben können. Im Folgenden verweise ich zunächst (Abschnitt 2) auf eine empirische Untersuchung von Umweltgruppen, die ebenfalls den Nexus von Moral, Utopie und Religion herstellt (wie ich manchmal schlagwortartig sagen werde). Anschließend zeige ich an den Beispielen von drei Autoren, wie Religion und Utopie in der Umweltethik eine unsichtbare oder sichtbare Rolle spielen können (Abschnitt 3). 7 Dies bemerkte schon der Kulturanthropologe Anderson in seiner zeitgenössischen Antwort auf Lynn White. Sein Artikel ist zudem die früheste Fundstelle des Wortes Ökotopie/Ökotopia (ecotopia). – Anderson, Eugene N.: „The life and culture of ecotopia“, in: Dell Hymes (Hg.): Reinventing anthropology, New York: Vintage 1969, S. 264–283. 8 Inbesondere Geist der Utopie (Erstausgabe 1918) und Das Prinzip Hoffnung (drei Bände, Erstausgabe 1954–1959). 9 Sowohl zu Blochs Utopiebegriff als auch zur abendländischen Utopientradition vgl. Zudeick, Peter: „Utopie“, in: Dietschy, Beate/Zeilinger, Doris/Zimmermann, Rainer (Hg.): Bloch-Wörterbuch, Berlin/Boston: DeGruyter 2012, S. 633–664. 10 In der gegenwärtigen Utopienforschung ist die entsprechende Konzeption von Levitas sehr einflussreich. – Levitas, Ruth: Utopia as method. The imaginary reconstitution of society, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2013.

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Und in Abschnitt 4 kehre ich zum Untersuchungsschwerpunkt des Teilprojekts „Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität“ zurück und versuche insbesondere die utopische Seite des Ökomarkts sichtbar zu machen.

2.  M ORAL, UTOPIE UND RELIGION IN UMWELTGRUPPEN Dass in der Umweltbewegung die Arbeit an der Weltanschauung eine bedeutende Rolle spielt, belegt unter anderem eine ethnographische Feldstudie, die Gabriela B. Christmann Ende der 1980er Jahre unter den organisierten Umwelt- und Naturschützern in Konstanz durchführte.11 Sie bietet sich auch deshalb als Referenzpunkt für diesen Beitrag an, weil Christmann in ihrer übergeordneten Forschungsarbeit über „ökologische Moral“ selbst den Bezug zur Umweltethik herstellt12 und insbesondere weil sie in ihrer Analyse die Aspekte des Moralischen, Utopischen und Religiösen nutzt. Dabei beruft sie sich auf Thomas Luckmanns weiten Religionsbegriff.13 Unter anderem führte Christmann Leitfadeninterviews, in denen sie die Aktiven in den Umweltgruppen nach ihren Zielen und „Utopien“ befragte, wobei unter Utopie hier augenscheinlich in einem eher losen Sinn Wunsch- und Traumvorstellungen für die Zukunft zu verstehen sind. Die Antworten deutete Christmann im Hinblick auf ihre Motive aus, wobei sie zwischen Um-zu-Motiven und Weil-Motiven unterschied. In anderen Worten sprach Christmann mit den Aktiven darüber, was sie wollen, und warum. Darüber hinaus wohnte sie Sitzungen und Veranstaltungen der Gruppen bei und wertete die Gesprächsäußerungen aus, die sie dort aufzeichnete. Aus den Ergebnissen zieht Christmann Schlussfolgerungen über die „Sinnwelt“ der Natur- und Umweltschützerinnen und -schützer. Das „Sinnsystem“ ihrer Informantinnen und Informanten zeichnet sich demnach durch drei Merkmale aus. Erstens ist es durch „Ganzheitlichkeitsvorstellungen“ und vom „Denken in Zusammenhängen“ geprägt. Dieses Denkmuster verträgt sich mit der wissenschaftlichen Ökologie. Es lässt sich im fließenden Übergang aber auch auf moralische und spirituelle Aspekte der Weltanschauung anwenden. 11 Christmann, Gabriela B.: „Wissenschaftlichkeit und Religion. Über die Janusköpfigkeit der Sinnwelt von Umwelt- und Naturschützern. Eine wissenssoziologische Betrachtung von Ökologie-Gruppen“, in: Soziologie, Jg. 21, H. 3 (1992), S. 200–211. 12 Christmann, Gabriela B.: Ökologische Moral. Zur kommunikativen Konstruktion und Rekonstruktion umweltschützerischer Moralvorstellungen, Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 1997. 13 Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2014.

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Bezüglich des „Denkens in Zusammenhängen“ bei Umwelt- und Naturschützern kann also insgesamt ein Kontinuum festgestellt werden, das von einer „wissenschaftlichen“ Variante („vernetztes Denken“ nach Vester) über eine Variante des „Ganzes versus Egoismus“ bis hin zu eher „holistischen“ Formen reicht, wobei fließende Übergänge zum New Age-Denken [sic] durchaus möglich sind.14

Zweitens gehört zur ethischen Haltung von Christmanns Informantinnen und Informanten ein Hang zur „innerweltliche[n] Askese“.15 Angesichts der Umweltauswirkungen ihrer Gesellschaft sehen sie sich in der Verantwortung, durch ihre persönliche Lebensführung so wenig Schaden wie möglich auszurichten, insbesondere mit Blick auf zukünftige menschliche Generationen. Drittens führt der Impuls, das eigene, als mehr oder weniger vorbildlich beurteilte Verhalten zu verbreiten, zu dem, was Christmann als „quasi-religiöse Bekehrungsabsichten“ bezeichnet.16 Hier könnte man einwenden, dass es für soziale Bewegungen und ihre Akteurinnen und Akteure nicht ungewöhnlich, ja sogar kennzeichnend sei, andere Menschen von ihren Zielen überzeugen und zum entsprechenden Handeln bewegen zu wollen. Nicht von ungefähr stellt etwa Roderick Nash in seiner Geschichte der Umweltethik die Umweltbewegung und das philosophische Fach, das aus ihr entsteht, in eine Reihe mit den amerikanischen Bürger- und Frauenrechtsbewegungen der 1960er und 70er Jahre.17 Dennoch rechtfertigt es der stark weltanschauliche Charakter der Überzeugungen, die Christmann herausarbeitet und die meiner eigenen Erfahrung nach auch heute viele Umweltbewegte so oder ähnlich teilen, in diesem Fall die Analogie zu traditionell religiösen Gruppen und Bewegungen zu ziehen. Christmann hebt besonders die Spannung („Janusköpfigkeit“) hervor, die zwischen dem nüchtern-wissenschaftlichen Anspruch der Umweltbewegten einerseits und ihrer funktional (quasi-)religiösen Sinnwelt und Praxis andererseits besteht. Ich finde es bemerkenswert, wie sich dieses Muster in der Umweltethik fortsetzt, sowohl in der Fachdebatte insgesamt als auch im Werk einzelner Philosophinnen und Philosophen. Die Spannung verschärft sich dort noch, weil die Debattenbeiträge unmittelbar an wissenschaftlich-akademischen Maßstäben gemessen werden, und zwar häufig sowohl an denen der Philosophie als auch der Naturwissenschaften oder empirischen Sozialwissenschaften. Denn nicht nur ist der Forschungsdiskurs zu Themen wie dem Naturschutz oder der nachhaltigen 14 G. B. Christmann: „Sinnwelt von Umwelt- und Naturschützern“, S. 208. 15 Ebd., S. 210 16 Ebd., S. 209f. 17 Nash, Roderick: The rights of nature. A history of environmental ethics, Madison, Wis.: University of Wisconsin Press 1989.

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Entwicklung insgesamt überwiegend von Vertreterinnen und Vertretern dieser Fachrichtungen geprägt. Umweltphilosophinnen und -philosophen forschen oft selbst interdisziplinär und sind in vielen Fällen in (vorrangig) naturwissenschaftlichen Einrichtungen und Studiengängen angesiedelt.18 Gleichzeitig kann in einer solchen Position die Versuchung wachsen, mit dem Umfeld gleichziehen und die Wissenschaftlichkeit der eigenen philosophischen Arbeit beweisen zu wollen. Mit diesen Herausforderungen geht die Umweltphilosophie mehr oder weniger bewusst und erfolgreich um.

3.  S ICHTBAR UND UNSICHTBAR: RELIGIÖSE UND UTOPISCHE DENKMUSTER IN DER UMWELTETHIK Die akademische Umweltethik kann als der Versuch beschrieben werden, die Sinnwelten von Umweltbewegten und die darin angelegten moralischen Imperative mit den fachlichen Mitteln der Ethik einzuholen. Dabei zeigt sich zum einen, dass es nicht nur eine Sinnwelt mit einer moralischen Deutung gibt – oder: nicht nur eine moralische Intuition zu unserem Umgang mit der nicht-menschlichen Natur –, sondern viele unterschiedliche, die zu unterschiedlichen Positionen im konventionellen Ordnungsraster der Umweltethik führen: Anthropozentriker bleiben dabei, dass nur Menschen um ihrer selbst willen moralisch zu berücksichtigen sind; Patho- bzw. Biozentriker weiten diesen Zirkel auf alle leidensfähigen bzw. alle lebenden Wesen aus, und so weiter.19 Zum anderen bedeutet die Verfachlichung, dass eine umweltethische Konzeption zwar die moralischen, aber oft nicht die vermeintlich außerhalb des philosophisch-ethischen Zuständigkeitsbereichs liegenden utopischen oder religiösen Aspekte einer Sinnwelt zur Sprache bringt. 18 Aus eigener Erfahrung habe ich hier die Professur für Umweltethik am Institut für Botanik und Landschaftsökologie der Universität Greifswald sowie die Dozentur für Umweltethik in der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Radboud Universiteit Nijmegen vor Augen. In diesen und ähnlichen Fällen richtet sich die Umweltethik-Lehre vorrangig an Studierende etwa der Biologie, Landschaftsökologie oder Geographie, die dabei oft zum ersten Mal mit akademischer Philosophie und Geisteswissenschaften überhaupt in Berührung kommen. 19 Vgl. Krebs, Angelika: „Naturethik im Überblick“, in: Dies. (Hg.): Naturethik. Grundtexte der gegenwärtigen tier- und ökoethischen Diskussion, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 337–379. – Keller, David R.: „Introduction: what is environmental ethics?“, in: Ders. (Hg.): Environmental ethics, S. 1–23. – Ott, Konrad/Dierks, Jan/VogetKleschin, Lieske: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Handbuch Umweltethik, Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 1–18.

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Im ungünstigsten Fall werden sie aber nur unsichtbar gemacht und bestimmen untergründig weiterhin die Richtung der formalen ethischen Argumentationsstrategie. Im Folgenden möchte ich drei unterschiedliche Beispiele dafür geben, wie Autoren der Umweltethik mit religiösen bzw. utopischen Denkmustern umgehen. Diese Darstellungen sind als Vignetten zu lesen, die auf meinem persönlichen Gesamteindruck der Autoren beruhen. Angesichts ihrer Kürze verzichte ich auf detaillierte Textstellenbelege und verweise stattdessen zusammenfassend auf einschlägige Publikationen des jeweiligen Autors. Unter diesen Voraussetzungen kann ich den drei Autoren und ihrem Denken nur bedingt gerecht werden. Mir kommt es vor allem darauf an zu illustrieren, dass religiöse und utopische Denkmuster in der Umweltethik vielfach wirksam sind und es sich lohnt, bewusst mit ihnen umzugehen. 3.1  Unsichtbare Religion in Gorkes „Holismus“ Wenn Umweltethik aus den Sinnwelten von Umweltbewegten hervorgeht, dann spiegelt sich die „Janusköpfigkeit“, die Christmann am Beispiel der Konstanzer Ökoaktivisten der späten 1980er beschrieb, besonders deutlich in der umweltethischen Konzeption von Martin Gorke.20 Motiviert vom Begründungsproblem des Artenschutzes entwickelt Gorke eine ethische Theorie, die er als „Holismus“ bezeichnet, weil sie auch überindividuelle Ganzheiten oder Gesamtsysteme für moralisch berücksichtigungswürdig erklärt. Für Gorke zählen dazu auch Ökosysteme oder eben biologische Arten. Damit schafft er sich das gewünschte direkte Moralargument für den Artenschutz, der ansonsten nur indirekt und unsicher durch menschliche Interessen oder beispielsweise, unter biozentrischen Voraussetzungen, mit Blick auf das individuelle Leben und Wohlbefinden der zur Art gehörenden Organismen begründet werden kann. Genauer gesagt spricht Gorke von einem „pluralistischen Holismus“, weil moralischer Eigenwert darin sowohl überindividuellen Ganzheiten als auch den in ihnen zusammengefassten Wesen zukommt – nämlich allem (Natürlichen), das existiert. Damit entgeht Gorkes Konzeption dem Vorwurf des Ökofaschismus, der rein ökozentrische Ethiken trifft. Da die Bezeichnungen der umweltethischen Positionen in der Regel auf das Merkmal abheben, das Wesen dazu qualifiziert,

20 Gorke, Martin: Artensterben. Von der ökologischen Theorie zum Eigenwert der Natur, Stuttgart: Klett-Cotta 1999. – Ders.: „Was spricht für eine holistische Umweltethik?“, in: Natur und Kultur 1–2 (2000), S. 86–105. – Ders.: Eigenwert der Natur. Ethische Begründung und Konsequenzen, Stuttgart: Hirzel 2010.

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moralisch berücksichtigt zu werden, ist es allerdings sinnfälliger, Gorkes Ansatz als einen Existentismus einzuordnen. Zur Begründung seiner Position setzt Gorke weitgehend auf formale Argumente. Der Kern seiner Theorie ergibt sich aus der Idee einer moralischen Urwahl: Entweder wir entscheiden uns, andere nicht moralisch zu berücksichtigen (Egoismus) – oder wir entscheiden uns, es zu tun. In der Folge hängt alles daran, was „andere“ bedeutet. Martin Gorke argumentiert, dass wir von einem Gleichheitsgrundsatz ausgehen müssen, der es uns untersagt, auf der ersten, „absoluten“ Ebene der Ethik zwischen Wesen zu diskriminieren, indem wir sie beispielsweise aus dem Geltungsbereich der Moral ausschließen oder ihnen ein geringeres Maß an Eigenwert zuerkennen. Zur Begründung des Gleichheitsgrundsatzes verweist Gorke auf das wissenschaftstheoretische Sparsamkeitsprinzip, wonach diejenige Theorie vorzuziehen sei, die die geringste Anzahl von Annahmen benötige. Erst auf der zweiten, „relativen“ Ebene seiner Ethik kommen Vorrangregeln zum Einsatz, um die unvermeidlichen und äußerst zahlreichen Konflikte zwischen den Interessen aller möglichen Wesen situationsabhängig gegeneinander abzuwägen. Auch mit zahlreichen Bezügen zur ökologischen Forschung unterstreicht Gorke den wissenschaftlichen Charakter seiner ethischen Konzeption. Angesichts der absoluten Voraussetzung, dass der Mensch allem anderen, das existiert, moralisch (bloß) gleichgestellt sei, kann es erstaunen, dass Gorke aus seiner Theorie kaum radikale Folgerungen für das persönliche und gesellschaftliche Leben zieht, die über eine Empfehlung zum Vegetarismus oder die Befürwortung des Prozessschutzes im Naturschutz hinausgehen. Dies ermöglichen die Vorrangregeln auf der relativen Ebene seiner Ethik, die den Menschen mit seiner Kultur begünstigen, und der Ermessensspielraum beim moralischen Urteil, den Gorke stark betont. Auf diese Weise kann er den Glanz einer reinen Überzeugung genießen, ohne politische Konflikte austragen zu müssen. Dies entspricht unter anderem dem Umgang vieler Christen mit den moralischen Ideen ihres Glaubens. Der Vergleich zur christlichen Kultur liegt auch deshalb nahe, weil sich Gorke in seinen umweltethischen Schriften vielfach auf den evangelischen Denker Albert Schweitzer bezieht, ohne aber die religiösen Hintergründe ausdrücklich zum Thema zu machen. Unter diesen Voraussetzungen überrascht es nicht völlig, dass Gorkes Konzeption dort, wo andere Autorinnen und Autoren sich am ausführlichsten mit ihr auseinandersetzen, auf die Muster des christlichen Humanismus bzw. des christlich-konservativen Weltbilds zurückgeführt wird.21 Der wissenschaftliche 21 Siehe verschiedene Beiträge, darunter eine Antwort von Gorke, in den beiden Bänden: Körner, Stefan/Nagel, Annemarie/Eisel, Ulrich (Hg.): Naturschutzbegründungen, Münster-Hiltrup: Landwirtschaftsverlag Münster 2003 (BfN-Schriftenreihe für Landschaftspflege und Naturschutz). – Piechocki, Reinhard/Erdmann, Karl-Heinz (Hg.):

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Anspruch verbindet sich bei Gorke demnach nicht nur, wie in der Umweltethik zu erwarten, mit dem allgemeinen Projekt der umwelt- und naturschützerischen Sinngebung, sondern mit traditionell religiösen Vorstellungsmustern, die jedoch nicht reflektiert werden. In diesem Sinn ist Gorkes Konzeption ein Beispiel für unsichtbare Religion in der Umweltethik. 3.2  Wilsons darwinische Religion des Naturschutzes Bei Edward O. Wilson treten sowohl die Naturwissenschaft als auch die Religion stärker in den Vordergrund als bei Gorke. Dafür verzichtet er auf einen moralphilosophischen Theorieapparat. Der Soziobiologe und Biodiversitätsschützer greift dabei ausdrücklich auf seine Kindheitserlebnisse in der Baptistenkirche der südlichen USA zurück, um zu ermessen, was Menschen brauchen, um ihr Bedürfnis nach Sinngebung zu erfüllen. Anders als Gorke macht Wilson die religiösen Muster, die sein weltanschauliches Angebot prägen, und die Verbindung, die sie mit der Wissenschaft eingehen, selbst sichtbar.22 In der umweltethischen Literatur taucht Wilson in erster Linie in Verbindung mit seiner Biophilie-Hypothese auf. Sie besagt, dass die menschliche Natur darauf angelegt sei, mit anderen, nicht-menschlichen Lebensformen umzugehen – oder sie zu meiden. Zu den Beispielen zählen die verbreitete Vorliebe für savannenähnliche Landschaften ebenso wie die bis zur Phobie reichende Abneigung gegenüber Spinnen und Schlangen. Daraus ergibt sich im konventionellen Ordnungsraster der Umweltethik ein zusätzliches anthropozentrisches Argument, ein Beispiel für den ,aufgeklärten‘ oder ,tiefen‘ Anthropozentrismus, der nicht bloß Nutzenargumente kennt: Wir brauchen anderes Leben in seiner ganzen Vielfalt, um uns als Menschen ganz entfalten zu können. Deshalb ist es in unserem eigenen Interesse, die Biodiversität soweit wie möglich zu erhalten. Diese Idee hat Wilson in zahlreichen Publikationen entwickelt und popularisiert, aber nie Wert darauf gelegt, an der umweltethischen Fachdiskussion teilzunehmen. Er errichtet keine moralphilosophische Konzeption und hält wenig auf moralischen Vernunftzwang. Vielmehr

Naturschutzbegründungen im Visier. Konflikte um ökologische und ethische Argumentationsmuster, Bonn: Bundesamt für Naturschutz 2009 (BfN-Skripten 254). 22 Wilson, Edward O.: „Biophilia and the conservation ethic“, in: Stephen R. Kellert/Edward O. Wilson (Hg.): The Biophilia Hypothesis, Washington, DC: Island Press 1993, S. 31–41. – Ders.: The diversity of life, Cambridge, Mass.: Belknap 1992. – Ders.: Naturalist, Washington, DC: Island Press 1994. – Ders.: On human nature, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 1978. – Ders.: Sociobiology: the new synthesis, Cambridge, Mass.: Belknap 1975.

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gehört es für ihn zu seinem evolutionären Verständnis der Menschen und ihres Denkens, der Vorstellung einer zeitlos übergeordneten Vernunft zu misstrauen. Wilsons eigentliches Argument für den Naturschutz geht weit über die Biophilie-Hypothese und die vielfältigen, unhintergehbaren materiellen Abhängigkeiten hinaus, in denen wir zum Rest der Biosphäre stehen. In seinen populären Büchern veranschaulicht Wilson die Vielfalt des Lebens auf der Erde anhand von persönlichen Erlebnissen und erzählt die wunderbare Entwicklung und Anpassung von Arten und Ökosystemen über lange Zeiträume, mit der menschlichen Gattung als einer unter vielen und unserer Spezies als einer zufällig überlebenden, vor und neben der es andere Menschenarten gegeben hat. Sinnfällig lässt er eine Identität der Menschheit als Mitglied, Verwandte und Nachkommin des restlichen Lebens auf diesem Planeten entstehen. Dieses Welt- und Menschenbild selbst ist Wilsons eigentliches Argument, das jedoch absichtlich die Form eines narrativen Sinnangebots annimmt und sich als Alternative insbesondere zu biblischen Narrativen anbietet. Daher erscheint es mir nicht allzu abwegig, vom Ansatz zu einer darwinischen Religion des Naturschutzes zu sprechen.23 Zu ihrer performativen Seite gehören das persönliche Erleben und Erforschen der belebten Natur, wie es Wilson selbst vorgemacht hat.24 Was er als Naturschutzethik (conservation ethic) bezeichnet, meint keine philosophische Ethik, sondern ein Ethos – eine Haltung und Lebensart, die seiner Weltanschauung entspricht. Anders als Gorke schreckt Wilson nicht davor zurück, aus seinem Ethos weitreichende praktische Vorschläge abzuleiten. Das „Half-earth Project“ der E. O. Wilson Biodiversity Foundation beruht auf seinem gleichnamigen Buch und wirbt für das Ziel, die Hälfte der Erdoberfläche, Land und Meer, unter Naturschutz zu stellen.25 In seinem Werk ist Wilson damit von der Ameisenkunde, Ökologie und Soziobiologie über Theorien zur menschlichen Evolution, die Biodiversitätsforschung und ein naturwissenschaftlich-religiöses Ethos beim utopischen Denken angelangt. 3.3  Westons pragmatischer Ökotopismus Anthony Weston teilt Wilsons Skepsis gegenüber der Form ethischer Theoriebildung, der beispielsweise Gorke folgt. Im Geist des philosophischen Pragmatis23 Vgl. Midgley, Mary: Evolution as a religion. Strange hopes and stranger fears, London: Routledge 2002. 24 Als Vorbild für Kinder erzählt in Dyck, Sara van: The boy who loved ants: Edward O. Wilson, Los Gatos, CA: Smashwords 2011. 25 Wilson, Edward O.: Half-earth: our planet’s fight for life, New York: Liveright 2016. – https://eowilsonfoundation.org/half-earth-project/ vom 18.04.2020.

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mus, wie ihn John Dewey entwickelte, besteht für ihn der Zweck ethisch-moralischer Reflexion und Praxis in erster Linie darin, konkrete gesellschaftliche Probleme und Konflikte in einem fruchtbaren Dialog zu überwinden. Weniger als Gorke und Wilson verteidigt Weston in seinen Schriften dementsprechend bestimmte ethische Positionen oder Handlungsprogramme, sondern tritt vorwiegend als Kritiker und Methodiker auf. Gerade mit Blick auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft in ihrer natürlichen Umwelt dringt er darauf, zunächst unsere Wahrnehmung der verfügbaren Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten zu weiten.26 Während Wilson die umweltethische Fachdiskussion weitestgehend ignoriert, gehört Weston darin zu den wichtigsten Kritikern des Eigenwertdenkens und Strebens nach einer monistischen Theorie, dem etwa Gorke folgt. Weston geht es stattdessen darum, das ökologische Denken in Zusammenhängen als eine Form und Methode in die Ethik zu übertragen. Diese Denkform trifft sich mit seiner Auffassung von pragmatistischer Ethik. An die Stelle einer allgemeinverbindlichen Hierarchie der Werte mit dem moralischen Eigenwert an der Spitze tritt eine Ökologie der Werte, in der sich vielfältige, subjektive Werte in einem wandelbaren und gerade deshalb resilienten Netzwerk gegenseitig bedingen und halten. Eine entsprechende Umweltethik geht von unseren konkreten Werten bzw. unserer Wertschätzung für konkrete Dinge aus, zu denen immer schon andere Lebensformen und natürliche Umwelten gehören (vgl. Wilsons Biophilie-Hypothese), und stärkt, verbindet und entwickelt sie.27 Die Aufgabe der Umweltethik besteht für Weston demnach nicht darin, unwiderlegbare Argumente und Begründungen für bestimmte Vorstellungen von Umwelt- und Naturschutz zu finden, sondern Prozesse des Probierens, Gestaltens und Lernens zu unterstützen. Seine pragmatistische Ethikauffassung führte Weston dazu, nicht nur in Publikationen, Lehre und Betreuung von sozialpraktischen Studierendenprojekten dazu beizutragen, konkrete und phantasievolle Alternativen für die umweltfreundlichere und auch anderweitig bessere Gestaltung der Gesellschaft zu entfalten. Er be26 Weston, Anthony: The incompleat eco-philosopher. Essays from the edges of environmental ethics, Albany, NY: State University Press of New York 2009. – Ders.: Creative problem-solving in ethics, New York: Oxford University Press 2007. – Ders.: How to re-imagine the world. A pocket guide for practical visionaries, Gabriola, BC: New Society Publishers 2008. – Ders.: Mobilizing the green imagination. An exuberant manifesto, Gabriola, BC: New Society Publishers 2012. – Ders.: A 21st century ethical toolbox, New York: Oxford University Press 2013. 27 Weston, Anthony: „Beyond intrinsic value: pragmatism in environmental ethics“, in: Environmental Ethics 7 (1985), S. 321–339. – Vgl. Thapa, Philipp P.: „Umweltpragmatismus“, in: Konrad Ott/Jan Dierks/Lieske Voget-Kleschin (Hg.): Handbuch Umweltethik, Stuttgart: J.B. Metzler 2016, S. 203–207.

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teiligt sich auch selbst am Aufbau einer landwirtschaftlichen Ökogemeinschaft.28 Weston selbst spricht zwar nicht von Utopien oder utopischem Denken, sondern von Visionen, Träumen und Ähnlichem. In meinem Begriffsverständnis ist es aber angebracht, ihn als pragmatischen Ökotopisten einzuordnen.29 3.4  Zwischenfazit In ihrem akademischen Arbeitsumfeld müssen sich Umweltethikerinnen und -ethiker in der Regel vorrangig mit dem Verhältnis der Fachbereiche Philosophie/ Ethik und Naturwissenschaften auseinandersetzen, in dem sie oft eine Zwischenstellung einnehmen. Die Vignetten zu drei Autoren der Umweltethik haben gezeigt, dass es sich lohnen kann, das Ordnungsraster um die Dimensionen des Utopischen und Religiösen zu erweitern. Während Denkmuster der Ökologie und Biologie bei allen drei Autoren eine Rolle spielen, sind insbesondere die philosophischen Projekte von Edward O. Wilson und Anthony Weston kaum sinnvoll zu erfassen, wenn zur Einordnung darüber hinaus nur der Grad der Ähnlichkeit zur theoriebildenden Ethik oder das eigenwertbasierte Zwiebelschalenmodell30 umweltethischer Positionen zur Verfügung stehen. Dies gilt notorisch auch für Denkschulen wie Deep Ecology, Umwelttugendethik oder Sozialökologie. Das Beispiel von Martin Gorke wiederum zeigt, dass auch ethische Konzeptionen, die sich betont wissenschaftlich-objektiv geben, insbesondere durch religiöse Denkmuster geprägt sein können.

4.  UTOPIEN AUF DEM ÖKOMARKT Wenn mit religiösen Mustern in der Umweltbewegung häufig auch moralische und utopische verwoben sind, wie durchwirken sie den Untersuchungsschwerpunkt des Teilprojekts „Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität“, den Ökomarkt? Der moralische Aspekt des Ökomarkts dürfte so vertraut und eingängig sein, dass ich auf eine ausführliche Darstellung verzichte: Das Eintreten für ökologische, biologische, nachhaltige, faire Konsum-, Produktions- und Lebensweisen wird landläufig damit begründet, dass wir damit Rücksicht auf Menschen und Tiere, Umwelt, Natur nehmen, insbesondere auf zukünftige menschliche Generationen, vom regionalen bis zum globalen Wirkungskreis. Dass Umweltbewegte sich auch

28 Siehe https://www.mobilizingthegreenimagination.com und http://www.hartsmill.org 29 P. P. Thapa: „Ökotopismus“, S. 211. 30 Siehe D. R. Keller: „Environmental ethics“, S. 11, und K. Ott u.a.: „Einleitung“, S. 12.

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in Lebensbereichen auf die Moral berufen, die zuvor außerhalb der moralischen Sphäre lagen, hat ihnen zudem oft den Vorwurf des Moralismus eingebracht.31 Das utopische Potential des Ökomarkts beginnt sich abzuzeichnen, wenn wir zunächst zum titelgebenden theoretischen Bezugsraum des Projekts zurückkehren. Wenn Lucien Karpik als Ausgangspunkt seiner „Ökonomie des Besonderen“32 beobachtet, das Marktteilnehmer in vielen Fällen nicht anhand eines objektiven oder durchgängigen Kosten/Nutzen-Maßstabs entscheiden, welche Produkte sie kaufen, dann überrascht dies daher vor allem aus der stark vereinfachenden Sicht der neoklassischen Ökonomik. Schon andere sozialwissenschaftliche Ansätze würden von vornherein davon ausgehen, dass Kaufentscheidungen in komplexe psychosoziale Situationen eingebettet und die beteiligten Menschen keine modellhaften Nutzenmaximierer sind. Auch aus philosophisch-moralischer Sicht wirft eine anstehende Kaufentscheidung – als Teil einer reflektierten Lebensführung – eine ganze Reihe von Fragen auf, die über die unmittelbaren stofflichen oder instrumentellen Eigenschaften von Waren und Dienstleistungen, den dafür angemessenen Preis und den eigennützig optimalen Einsatz meines Geldes hinausgehen. Gerade im Umfeld des Naturschutzes ist inzwischen die Idee vertraut, dass zum Beispiel ein Stück Urwald oder eine biologische Art nicht allein und nicht primär nach ihrem Marktpreis und ihrem anderweitig ermittelbaren wirtschaftlichen Nutzen bewertet werden dürfen, selbst wenn wir uns auf anthropozentrische Werte beschränken.33 Darum geht es Karpik allerdings nicht, sondern um eine bescheidene Erweiterung des neoklassischen Paradigmas in der Ökonomik. Aus dem homo oeconomicus wird der homo singularis: Auch der Akteur des Marktes für singuläre Produkte [homo singularis] ist eigennützig und rational [wie der homo oeconomicus]. Sein Handeln wird aber durch das Zusammenwirken

31 Und so, wie ich es formuliert habe, trifft hier Craig Taylors Verständnis des Moralismus als einer Moralität zu, die ihre wohlverstandenen Grenzen überschreitet („overweening morality“): Taylor, Craig: Moralism. Study of a vice, Abingdon/New York: Routledge 2014. – Aber vgl. Christmann, Gabriela B.: „Moralisierungsaskese in der Kommunikation von Ökologiegruppen“, in: Jörg Bergmann/Thomas Luckmann (Hg.): Kommunikative Konstruktion von Moral, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 1999, S. 215–235. 32 Karpik, Lucien: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen, übers. von Thomas Laugstien, Frankfurt am Main: Campus 2011. 33 Vgl. International Panel on Biodiversity and Ecosystem Services: https://ipbes.net/values-assessment.

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von zwei Orientierungen bestimmt: von der Suche nach dem „guten“ oder „richtigen“ Produkt und von der bestmöglichen Zweck-Mittel-Relation.34

Die Situation, in der sich die Handelnden befinden, wird also nach wie vor als Markt verfasst. Was jedoch, wenn Marktakteure Orientierungen entwickeln, die die Marktsituation selbst in Frage stellen? Oder anders gesagt, wie beschreiben wir es, wenn Bürger zwar unvermeidlich innerhalb eines bestehenden Wirtschaftssystems leben und an marktförmig analysierbaren Beziehungen teilnehmen, aber sogar mit ihren Kaufentscheidungen eigentlich darauf abzielen, ein anderes Leben und eine andere Welt zu verwirklichen – in der heutige Marktlogiken nur noch eine untergeordnete Rolle spielen? Eine ausdrücklich systemkritische und utopische Ausrichtung zeichnet sich zum Beispiel in der solidarischen Landwirtschaft ab, die in Deutschland durch über 280 Betriebe verwirklicht wird.35 Dort tragen jeweils mehrere private Haushalte die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs und erhalten im Gegenzug seine Ernte, unabhängig davon, wie sie ausfällt. Statt Produkte zu kaufen, ermöglichen die Verbraucherinnen und Verbraucher eine Produktion nach ihren ökologisch-moralischen Vorstellungen und die Gemeinschaft, in der sie stattfindet. „Die Lebensmittel verlieren ihren Preis und erhalten so ihren Wert zurück“, bringt ein Motto-Kasten auf der Internetseite des Netzwerks Solidarische Landwirtschaft diese Entmarktungsstrategie auf den Punkt.36 Die solidarische Landwirtschaft lässt sich in eine weiter gefasste Bewegung einordnen, die die solidarische Lebensweise als „Utopie am Horizont“ und Gegenbild zur derzeitigen „imperialen“ Lebensweise des globalen Nordens versteht. Solidarische Landwirtschaftsbetriebe sind demnach Beispiele für „reale Utopien“, die ihre Prinzipien als (Halb-) Inseln innerhalb der gegenwärtigen Gesellschaft verwirklichen.37 Das Vokabular der Utopien ist auch in intentionalen Lebensgemeinschaften verbreitet. Durch die Mitgliedschaft in einem solidarischen Landwirtschaftsbetrieb können Menschen jedoch an der Realisierung ihrer Utopie teilhaben, während sie selbst möglicherweise vollständig im bestehenden Gesellschaftssystem leben, Geld verdienen und einen Großteil ihres Konsums dort abdecken. 34 L. Karpik, Mehr Wert, S. 88 35 https://www.solidarische-landwirtschaft.org/solawis-finden/auflistung/solawis/ vom 19.04.2020. 36 Das Zitat wird dort „Wolfgang Stränz, Buschberghof“ zugeschrieben. – https://www. solidarische-landwirtschaft.org/das-konzept/ vom 19.04.2020. 37 I.L.A. Kollektiv: Das gute Leben für alle. Wege in die solidarische Lebensweise, München: oekom 2019, bes. S. 16. – Zum Begriff der realen Utopie vgl. Wright, Erik O.: Envisioning real utopias, London/New York: Verso 2010.

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Die utopische Lesart lässt sich auf die Teilnahme am Ökomarkt insgesamt ausdehnen. Wer sich beispielsweise im Supermarkt für eine biofaire Schokoladentafel entscheidet, kann, geschickt befragt, wahrscheinlich moralische Gründe dafür formulieren. In vielen Fällen dürfte die Ökokundschaft jedoch zuerst auf die Gegenentwürfe zur konventionellen Landwirtschaft und zu einer ungebremsten Marktlogik im Welthandel zu sprechen kommen, die sie mit ihrer Kaufentscheidung unterstützen, eingebettet in weiter gefasste, mehr oder weniger konkrete Vorstellungen von einer besseren Welt. Die utopische Lesart setzt voraus, Utopien nicht vorschnell durch Analyse unsichtbar zu machen.

5.  SCHLUSS Der Ökomarkt und das Feld von Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität lassen sich nach religiösen, moralischen und utopischen Mustern deuten. Ich habe versucht, die Verwebung und das Zusammenspiel dieser Muster plausibel zu machen, ohne hier einen übergeordneten konzeptionellen Rahmen entwickeln zu können. Er müsste sich unter anderem mit dem sozialkonstruktivistischen Ansatz von Peter L. Berger und Thomas Luckmann und seinem Konzept der Sinnwelt auseinandersetzen, auf dem Christmanns Studie beruht (siehe Abschnitt 2).38 Noch zahlreicher als die drei Muster sind die religionswissenschaftlichen, ökonomischen, soziologischen und philosophischen Fächerperspektiven, deren Austausch und Wechselspiel meine Überlegungen veranlasst und vorangetrieben haben. Aus meiner Beschäftigung mit der Umweltethik heraus gesprochen, unterstreicht dies erneut, dass es sich lohnt, den Horizont über die konventionelle Umweltethik hinaus auf das weitere Feld der Umweltphilosophie und, noch umfassender, die Environmental Humanities auszudehnen.39 Darin würde ich auch das Rostocker Forschungsprojekt verorten. Insbesondere die religionswissenschaftliche Sicht kann dazu beitragen, rationalistische Scheuklappen in der Umweltethik abzulegen und zu reflektieren, wie stark selbst formale Theorien von weltanschaulichen Projekten vorbestimmt sein können. Angefangen bei Karpiks Ökonomie des Besonderen bis hin zu den realen Utopien der Bewegung für eine solidarische Lebensweise zeichnet sich hier ab, 38 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: The social construction of reality, London etc.: Penguin 1991. 39 Vgl. Frodeman, Robert: „Environmental philosophy and the shaping of public policy“, in: Environmental Philosophy 1 (2004), S. 6–12. – Rose, Deborah B. u. a.: „Thinking through the environment, unsettling the humanities“, in: Environmental Humanities 1 (2012), S. 1–5.

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dass die Arbeit an Sinnzusammenhängen nicht nur dem seelischen Wohlbefinden dient, sondern den Markt und die Gesellschaft verändern kann. Umweltbewegte können daraus Hoffnung schöpfen. Es ist aber gut möglich, dass sie selbst diesen Hinweis am wenigsten nötig haben.

Zwischen Idealismus und Wirtschaftlichkeit Identitäts- und Profilbildung auf den Märkten des Besonderen Hagen Fischer

1.  EINLEITUNG Das DFG-Projekt „Märkte des Besonderen“ hatte sich unter anderem zur Aufgabe gestellt, das erweiterte religiöse Feld1 im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern näher in den Blick zu nehmen. Abgeleitet aus dem Vorgängerprojekt zu sog. „Religionshybriden“2, ließen sich die drei signifikanten Bereiche „Heilung und Heil“, „Ökologie und Spiritualität“ sowie „Kunsthandwerk und spirituelle Kunst“ unterscheiden, um das Feld näher zu beschreiben. Ich werde mich im Folgenden vorwiegend auf den Bereich „Ökologie und Spiritualität“ beziehen. Bei der Recherche zu einzelnen Akteurinnen und Akteuren im Bereich „Ökologie und Spiritualität“ stellte sich schnell die Frage, wie Spiritualität oder Religiosität sichtbar wird bzw. greifbar ist. Dies beinhaltete auch die Frage nach dem 1 Bourdieu, Pierre: Religion (=Schriften zur Kultursoziologie Bd. 5, hg. von Franz Schultheis und Stephan Egger), Berlin: Suhrkamp 1975, S. 246. 2 „[A]ls ,religionshybrid‘ [werden] Ausdrucksgestalten transzendenzbezogener Sinnproduktion und ihrer Vergemeinschaftungsformen [charakterisiert], wie sie sich vornehmlich im Kontext dreier in den Blick genommener Phänomenbereiche zeigen: in Kirchbauvereinen, Gutshausvereinen und alternativen Gemeinschaften. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwieweit sich um bestimmte symbolische Orte im ländlichen Raum Mecklenburg-Vorpommerns (Dorfkirchen, Gutshäuser, ehemalige LPG-Anlagen u. a.) kulturelle Szenen herausbilden und dabei mehr oder weniger konkret transzendenzbezogene Sinngebungen freisetzen, die als hybride Formen religionsaffiner, religionsäquivalenter oder explizit religiöser Szenen beschrieben werden könnten.“ Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer 2013, S. 7.

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Markt-Profil und den jeweiligen dahinterstehenden Individuen und Identitäten: Wer sind die Akteurinnen und Akteure, die in diesem Feld agieren? Welche Ideen stecken hinter den Produkten? Womit werden diese ‚aufgeladen‘? Ist es Ziel der Akteurinnen und Akteure, dass über die Eigenheit und Besonderheit ihre Produkte oder Dienstleistungen hinausgehend zusätzlich etwas kommuniziert werden soll? Wenn ja, um was handelt es sich dabei? Diese und weitere Fragen sollen im Folgenden untersucht werden. Die Grundthese meines Beitrags ist, dass in den genannten drei Teilbereichen („Heilung und Heil“, „Ökologie und Spiritualität“ sowie „Kunsthandwerk und spirituelle Kunst“) in besonderem Maße Aushandlungsprozesse zu beobachten sind, die sich zwischen den beiden Polen „Idealismus“ und „Wirtschaftlichkeit“ bewegen. Denn hier kommt es in besonderer Weise auf ein ausgewogenes Verhältnis an: Einerseits muss gut gewirtschaftet werden, um das Überleben des Unternehmens (ökonomisch) zu sichern, und andererseits soll den eigenen Vorstellungen vom „richtigen“ und „guten“, d.h. ideellen Leben Rechnung getragen werden. Dabei geht es im Grunde zum einen um das Streben nach der Wahl des „Richtigen“ und „Guten“ und zum anderen, marktförmig gedacht, um die Produktion und Bereitstellung des „Einzigartigen“. Doch wie hängen Identität, Marktprofil, Idealismus und Wirtschaftlichkeit zusammen?

2. THEORETISCHER RAHMEN Ich werde mithilfe von Lucien Karpik zunächst dem Phänomen der „Einzigartigkeit“ bzw. des Besonderen dieses Marktes nachgehen, bevor ich mich anschließend mit Harrison White der Frage nach der Identität einer Person nähere, um anschließend Profilbildung und personale Identität theoretisch miteinander zu verbinden. 2.1 Die „Märkte des Besonderen“ nach Lucien Karpik Wie kommt ein solcher Markt des Besonderen bzw. Einzigartigen zustande, und was kennzeichnet diesen Markt überhaupt? Einen Erklärungsansatz liefert Lucien Karpik in seinem Werk „Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen“.3 Angelehnt an Karpik kann u.a. der Markt für alternative Heilverfahren oder auch ökologisch produzierte Lebensmittel als 3 Karpik, Lucien: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen (Theorie und Gesellschaft 74), Frankfurt/New York: Campus 2011. Online verfügbar unter http://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783593414379 vom 29.03.2020. Die Seiten-

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Markt für „singuläre Produkte“ angesehen werden, da dieser in besonderem Maße von „Ungewissheit“ bestimmt ist: „Singuläre Produkte“ in diesem Sinne sind Güter und Dienstleistungen, die komplex, ungewiss und unvergleichlich sind.“ (S. 20f.). Weiterhin kommt es hier in außergewöhnlichem Maße auf „die Wahl der ‚guten‘ oder ‚richtigen‘ Produkte“ (S. 25) an, und Fragen der Preisbildung spielen eine nachgeordnete Rolle (S. 33). So ist es wesentlich bedeutsamer, ausreichend Wissen oder „Produktkenntnis“ zu erlangen, „um eine begründete Entscheidung zu treffen“ (S. 25). Neben Produktkenntnis, also dem Wissen über die Funktion und Wirkungsweisen verschiedener Heilverfahren bspw. oder Herstellungsverfahren im ökologischen Bereich, scheint in besonderem Maße „Vertrauen“ relevant zu sein. Die Notwendigkeit von Vertrauen auf diesen komplexen, ungewissen sowie unvergleichlichen Märkten begründet sich aus der Notwendigkeit, „Vorhersehbarkeit“ gewährleisten zu wollen und damit „die Möglichkeit eines kontinuierlichen Austauschs“ (S. 75) zu ermöglichen. Zudem gilt: „Vertrauen wurzelt in einem symbolischen System, das Wissen und Überzeugung verbindet“ (S. 81). Die von Karpik konstatierte Annahme einer Unvergleichbarkeit dieser Art von Produkten und Dienstleistungen erfordert Entscheidungshilfen, welche die Märkte des Besonderen überhaupt erst konstituieren und aufrechterhalten. Es bilden sich nach Karpik diverse „Instanzen der Urteilsbildung“ (S. 61) heraus, die „sich in fünf Hauptgruppen einteilen [lassen]: Netzwerke, Kennzeichnungen, Ratgeber, Bewertungen und Kanalisierungen“ (S. 62): • Mit Blick auf die Netzwerke unterscheidet Karpik neben „persönlichen Netzwerken“ zwischen „geschäftlichen Netzwerken“ und „Praktikernetzwerken“ (S. 62). • Mit „Kennzeichnungen“ (S. 63) sind strukturierende Attribute und „Bedeutungen“ gemeint, die – vermittelt bspw. über „Gütezeichen, Herkunftsbezeichnungen, Beglaubigungen, berufliche Qualifikationen, Produkt- oder Dachmarken“ – bei der Orientierung innerhalb der Welt für singuläre Güter helfen sollen (S. 63). • Unter „Kanalisierungen“ sind die räumlich-zeitliche Platzierungen der Angebote an bestimmten Orten oder auch zu bestimmten Zeitpunkten zu verstehen – Wochen- oder Festtagsmärkte, Hofläden, Messen … (S. 63). • Mit „Bewertungen“ wiederum bezeichnet Karpik jene Vorgänge, mit denen Produkte anhand bestimmter Charakteristiken eingeordnet werden – bspw.

zahlen im Haupttext auf den folgenden Seiten beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf diesen Titel).

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durch „Experten-Rankings“ (Qualifikationen, Begutachtungen) oder auch „Verbraucher-Rankings“ (Hitlisten). • Diese werden ergänzt durch urteilende und Orientierung gebende „Ratgeber“: „Sie üben eine sanfte, symbolische Autorität aus, die, wenn sie auf Zustimmung stößt, die Qual der individuellen Wahl mildern oder beseitigen kann.“ (S. 63). Weiterführend konzeptualisiert Karpik auf Basis dieser Überlegungen eine Typologie mit sieben sog. „Koordinationsregimen“, in denen „jeweils bestimmte Beurteilungsinstanzen wirken und unterschiedliche Muster der Qualifizierung und Beurteilung von Produkten anzutreffen sind“4. Diese werden weiter in „unpersönliche“ (hierzu zählen Ratgeber, Listen etc.) sowie „persönliche“ (bspw. Netzwerke) Instanzen der Urteilsfindung sortiert. Zu den unpersönlichen Urteilsinstanzen zählt Karpik • das „Megaregime“ (große Massen-Märkte bspw. für Blockbusterfilme), • das „Expertenmeinungsregime“ (Urteile durch Spezialisten bspw. für Literatur), • das „Authentizitätsregime“ (kleine Märkte bspw. für Kunstprodukte oder Weine) und • das „Popularitätsregime“ (größere Märkte, welche sich durch Rankings wie Hitlisten bestimmen).5 Zu den persönlichen Beurteilungsinstanzen gehören laut Karpik die Typen • „Beziehungsregime“ (individualisierte Dienstleistungen, wie Nachhilfelehrer), • „Professionsregime“ (individualisierte Dienstleistungen, die jedoch durch Kontrollinstanzen einen höheren Professionalisierungsgrad besitzen; Ärzte, Therapeuten etc.) und zuletzt • das „Unternehmensbeziehungsregime“ (z.B. Zuliefermärkte).6 So wie Karpik diese Märkte beschreibt, sind sie als Idealtypen im Weberschen Sinne zu verstehen und weder in ihrer Reinform und ohne Überlappungen anzutreffen noch statisch und ohne dynamischen Wandel.

4 Kraemer, Klaus: „Lucien Karpik: Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen“, in: Klaus Kraemer/Florian Brugger (Hg.), Schlüsselwerke der Wirtschaftssoziologie (Wirtschaft + Gesellschaft), Wiesbaden: Springer VS 2017, S. 507–514, hier S. 509. Online verfügbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-65808184-3_58.pdf vom 29.03.2020. 5 Ebd., S. 509. 6 Ebd., S. 509f.

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Ein Problem ergibt sich in diesem Zusammenhang aus der Tatsache, dass sich Karpik mit seiner Betrachtungsweise vornehmlich auf die Konsumenten und Konsumentinnen konzentriert. Die Produzentinnen und Produzenten sowie deren Selbstverständnis und Identität selbst hat er kaum im Blick, da er weitestgehend auf den Zugang des Kunden und der Kundin sowie die Eigenlogiken des Marktes abhebt. Daher ziehe ich Harrison Whites Identitätstheorie zurate, um mich dem Zusammenhang von Marktprofil bzw. -platzierung und personaler Identität zu nähern. 2.2 Die Identitätstheorie nach Harrison White Identitäten bilden sich nach Harrison White in Relationen zueinander heraus. Ein zentraler Begriff bei der Herausbildung von Identitäten ist in diesem Zusammenhang „Kontrolle“. Individuen beobachten und kontrollieren. Die Kontrollbemühungen („control efforts“)7 realisieren sich in konkreten Kontexten innerhalb von Netzwerkstrukturen.8 „Before anything else, control is about finding footings among other identities. Such footing is a position that entails a stance, which brings orientation in relation to other identities.“9 Identität und Kontrolle bedingen einander und sind bei White nur analytisch zu trennen. Die Beobachtung wechselseitiger Kontrollprojekte können als Abstimmungsprozesse bzw. Signale10 innerhalb von sozialen Interaktionen verstanden werden, wobei Ego und Alter sich über die in der Situation geltenden Regeln abstimmen. Dabei greifen sie auf bereits

7 Knabe, André/Fischer, Hagen/Klärner, Andreas: „Armut als relationales Konstrukt: Die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheiten durch Stigmatisierung und Kontrollversuche in sozialen Netzwerken“, in: Behrmann, Laura/Eckert, Falk/Gefken, Andreas (Hg.): ,Doing Inequality‘. Prozesse sozialer Ungleichheit im Blick qualitativer Sozialforschung (Sozialstrukturanalyse), Wiesbaden: Springer VS, S. 167–190, hier S. 170. Online verfügbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10.1007%2F978-3-658-07420-3_8. pdf vom 29.03.2020. 8 Mützel, Sophie: „Geschichten als Signale“, in: Rainer Diaz-Bone (Hg.): Diskurs und Ökonomie. Diskursanalytische Perspektiven auf Märkte und Organisationen (Interdisziplinäre Diskursforschung), 2., durchgesehene Aufl. Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 263–284. Hier S. 268f. Online verfügbar unter https://link.springer.com/content/pdf/10 .1007%2F978-3-531-19987-0_10.pdf, vom 29.03.2020. 9 White, Harrison C.: Identity and Control. How Social Formations Emerge, Princeton, NJ: Princeton Univ. Press, 22008, S. 1. 10 S. Mützel, Geschichte.

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gemachte Erfahrungen bzw. „Stories“11 bspw. aus äquivalenten Situationen zurück und ‚schreiben‘ gleichzeitig eine neue Geschichte bzw. neue Geschichten. Diese wiederum hinterlässt bzw. hinterlassen in der jeweiligen Identität eine Spur – oder sie ist bzw. sind gegebenenfalls in einer neuen Situation als schon erlebte Erfahrung in die Identität bereits eingeschrieben. „Der engen Verknüpfung von Beziehungen und Geschichten entspricht die Kopplung von Netzwerken an eine Domäne von Sinnformen. Zu dieser gehören etwa Regeln und Bedeutungen die in einem bestimmten Netzwerkkontext kursieren und dort [sic!] Grundlage der Interaktion bilden.“12 Nach White besteht die Identität einer Person nicht aus der einen Identität, sondern aus einem Bündel verschiedener Einzel-Identitäten, welche mehr oder weniger spezifischen Netzwerkkontexten – oder mit White gesprochen: Netzwerkdomänen („netdoms“) zuzurechnen sind:13 „Der Identitätsbegriff wird von White auf verschiedenen Ebenen festgemacht. Er steht für eine Position im Netzwerk (1), für die Verknüpfung mehrerer Positionen in einem Molekül [oder Verallgemeinerung; HF] (2), für eine Spur einer Identität über mehrere Netzwerkkontexte hinweg (3) und für die Beobachtung und Interpretation dieser Spur (4). Erst die Verknüpfung dieser vier Bedeutungen von Identitäten führt zur Identitätskonstruktion einer „Person“ (5).“14 Ad 1: Die „Position im Netzwerk“ bezieht sich auf eine „lokale Identität“15 bzw. ein singuläres Ereignis, in dem mindestens zwei Personen ihre Positionierung in einem Netzwerk aufgrund durchlebter Erfahrungen oder auch daraus resultierender (gesellschaftlicher) Konventionen (Erwartungen und „Erwartungserwartungen“16) signalisieren und sich so platzieren („footing“). Die Identitäten sind dabei flüchtig.

11 Schmitt, Marco/Fuhse, Jan A.: Zur Aktualität von Harrison White. Einführung in sein Werk (Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler/innen), Wiesbaden: Springer VS 2015, S. 94. Online verfügbar unter https://link.springer.com/content/ pdf/10.1007%2F978-3-531-18673-3.pdf vom 09.03.2020. 12 Ebd., S. 89f. 13 A. Knabe/H. Fischer/A. Klärner: Armut, S. 171. 14 M. Schmitt/J. Fuhse: Aktualität, S. 82. 15 Bernhard, Stefan (2016): „Märkte, Biografien, Storytelling – Gelingen und Scheitern beim Aufbau von Marktidentitäten“, in: Forum Qualitative Sozialforschung 17/2 (2016). Online verfügbar unter http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/2447/3963 vom 29.03.2020. 16 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 411ff.

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Ad 2: Whites zweite Ebene der Bestimmung des Identitätsbegriffs baut auf der ersten auf und ist eine Verallgemeinerung von Identitäten im Sinne des unter Punkt (1) referierten Verständnisses. Stefan Bernhard spricht daher auch von „typisierten Identitäten“, „die in relativ stabilen Kontexten zu Adressat/innen von Erwartungen geworden sind“.17 Ad 3: Für die dritte Ebene werden nun temporale und räumliche Komponenten eingeführt und als identitätsstiftende Elemente über zeitliche (und netdom-spezifische) Kontexte hinweg an einer Person fixiert. Kurz gesagt: Die dritte Form bezieht sich auf den biographischen Verlauf („Laufbahnidentität“18) einer Person. Ad 4. Diese Ebene bezieht sich auf die Beobachtbarkeit und (Selbst-)Interpretierbarkeit der über die Netzwerkkontexte stabilisierten bzw. persistenten Identitätsspuren, ist also eine Art Selbstdarstellung, wie sie sich in biographischen Erzählungen zeigt. Nach Bernhard kommt diese Form dem geläufigen Verständnis von Identität am nächsten. „Die interpretierte Identität umfasst aber auch die Geschichten, die von anderen zirkuliert werden und die beispielsweise den Charakter einer Person beschreiben.“19 Ad 5: Die fünfte Ebene schließlich setzt eine Beobachterperspektive voraus und bündelt alle vier beschriebenen Ebenen zu einem Konstrukt, innerhalb dessen sich diese Elemente auch als Stile oder Profile beschreiben lassen.20 Die so zusammengefügten Identitäts-Ebenen können auf dem Markt als Profile sichtbar werden und zeugen von der Einzigartigkeit der Angebote. „Anhand von Beobachtungen und Beobachtbarkeiten erfolgt ein Abgleich lokaler Variationen, sodass ein Marktprofil (siehe unten) möglich wird.“21 Mittels biographischer und selbsttheoretisierender Erzählungen lassen sich die Zusammenhänge von Lebenswelt22 und Angeboten bzw. Marktprofilen rekonstruieren. Gesellschaftliche Erwartungen sind kulturell geprägt und haben sich in Habitus und Hexis eingeschrieben bzw. inkorporiert. Daher ist es von Bedeutung 17 S. Bernhard: Märkte. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 White, Harrison C./Godart, Frédéric C. (2007): „Märkte als soziale Strukturen“, in: Beckert, Jens/Diaz-Bone, Rainer/Ganßmann, Heiner (Hg.): Märkte als soziale Strukturen (Theorie und Gesellschaft 63), Frankfurt/Main u.a.: Campus 2007, S. 197–216, hier S. 199. Online verfügbar unter https://content-select.com/media/moz_viewer/519cc49483d8-46f7-bcc8-29105dbbeaba/language:de vom 29.03.2020. 22 Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebenswelt, Stuttgart: UVK Verlags-Gesellschaft 2003. Online verfügbar unter http://www.utb-studi-e-book.de/9783 838524122 vom 29.03.2020.

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zu erfahren, mit welchem Wertekanon bzw. welcher Weltsicht jemand ausgestattet ist, um zu verstehen, warum eine Person sich auf einem Markt so präsentiert und nicht anders. Der Versuch, in unserem Feld eine bestimmte Identität zu kreieren – also ein Kontrollprojekt auf dem Markt durchzusetzen23 –, muss mit einer authentischen Geschichte verknüpft werden, um das Vertrauen der Kundinnen und Kunden zu gewinnen und/oder eine bestimmte Käuferklientel anzusprechen. „Das Schnittfeld von Märkten und Biografien lässt sich damit wie folgt fassen: Auf der einen Seite befinden sich Märkte, also diskursiv-relationale Strukturen, die aus kompetitiven Nischenbildungen entstehen. Auf der anderen Seite stehen personale Styles (‚Biografien‘), die bei ihrem Durchgang durch soziale Kontexte über die Zeit (auto-)biografisch interpretierte und kommunizierte Bezüge hinterlassen.“24

3. Ü  BERBLICK ZUM UNTERSUCHTEN FELD „ÖKOLOGIE UND SPIRITUALITÄT“ Die Rolle der Produzierenden wird nicht häufig thematisiert. Deshalb wollten wir mehr über die Produzentinnen und Produzenten aus der Region MecklenburgVorpommern erfahren. Dabei konzentrierten wir uns auf kleinere Höfe, da diese noch seltener in den Blick genommen werden und oft auch weniger sichtbar sind, jedoch einen wesentlichen Teil ökologischer Erzeugnisse herstellen. 3.1 Die Akteure „809 landwirtschaftliche Unternehmen bewirtschaften ca. 122.000 Hektar Landwirtschaftsfläche (LF) ökologisch (9,0 %).“25 Davon konnten im Zuge der Recherchen über 100 marktorientierte Öko-Höfe, Gärtnereien, Kräutergärten etc. erfasst werden. Sowohl das Sampling als auch die spätere Auswahl von Akteurinnen und Akteuren für die qualitative Befragung beruhten sowohl auf dem Kriterium der ökonomischen Ausrichtung als auch auf dem der ideellen Orientierung an Sinnkonzepten, die sich aus Spiritualität, Religiosität, ganzheitlichen (landwirtschaft23 S. Bernhard: Märkte. 24 Ebd. 25 Ministerium für Landwirtschaft, Umwelt und Verbraucherschutz Mecklenburg-Vorpommern (Stand 2015): Öko-Kompetenz Mecklenburg-Vorpommern 2020. Landesprogramm zur Stärkung und Weiterentwicklung des ökologischen Landbaus in Mecklenburg-Vorpommern, S. 10 (https://www.regierung-mv.de/Aktuell/?id=111780&processor=processor.sa.pressemitteilung vom 29.03.2020).

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lich-ökologischen) Ansätzen, der Bereitstellung ergänzender Angebote, wie bspw. aus dem Bereich Heilung etc., speisten. Es zeichnete sich bereits bei der Listung der Akteurinnen und Akteure ab, dass diese häufig an einem „ganzheitlichen“ Weltbild orientiert sind und sich dieser Anspruch nicht nur auf die Arbeit, sondern darüber hinaus auf die gesamte Lebenswelt – ihre Weltsicht und ihre Lebensform – bezieht. Dabei spielen über das Prinzip der Einheit von Arbeiten und Wohnen hinaus sowohl die Art der Vermarktung als auch wertorientierte Vorstellungen (wie bspw. zur Kindererziehung) sowie die Zusammensetzung des beruflichen und/ oder privaten Netzwerks26 eine Rolle. Für alle Befragten galt, dass für sie konventionelle Landwirtschaft als Anbauweise nicht in Frage kommt, sondern außer Zweifel steht, ökologisch produzieren zu wollen. Ferner sind bei eher kleineren Betrieben Kosten-Nutzen-Kalkulationen weniger relevant, vielmehr entspricht der berufliche Weg einer ökologisch orientierten Einstellung, einer „ganzheitlichen“ Lebenshaltung. Über vorhandene oder nicht vorliegende Verbandsmitgliedschaften und daran gekoppelte Zertifikate bzw. Siegel, mit denen die spezifische Qualität der Erzeugnisse angezeigt wird, ergibt sich eine für Kundinnen und Kunden erkennbare Grobstruktur des Marktangebots. Verbände wie Demeter oder auch Bioland vergeben diese Zertifikate, zertifiziert wird zudem auch bzw. mindestens mit dem EU-Biosiegel. Hinter den jeweiligen Labels stehen je unterschiedliche Konzepte und einzuhaltenden Mindeststandards, die zum Teil auch über die ökologisch orientierte Landwirtschaft hinaus Impulse setzen wollen und mit bestimmten weltanschaulichen Vorstellungen verbunden sein können. Auf diese Weise wird ein Ethos der Verantwortung für graduell unterschiedlich komplexe Lebens- und Weltzusammenhänge kreiert, das auch im konkreten Handeln Ausdruck findet. So erscheint es sinnhaft, dass der Kauf einer ökologisch erzeugten Karotte nicht nur der Ernährung dient, sondern zum symbolischen Akt und zur Ausdrucksform des eigenen Lebenssinnkonzeptes avanciert. Dies gilt auch umgekehrt, wenn eine Bio-Karotte und ihre Produktion bzw. ihr Vertrieb in Verbindung mit einer Sinnhaftigkeit, die der oder die sie produzierende Bauer oder Bäuerin ihr erkennbar zuweist, zum symbolisch aufgeladenen Artefakt bzw. Akt wird. In Bezug auf die Verbände weist Demeter im Vergleich mit anderen einen höheren Grad an (spirituell-) ideellen Sinngebungen auf, und zwar aufgrund der hier bestimmenden unmittelbaren Beziehung landwirtschaftlicher Praxis-Lehre 26 Neben qualitativen Interviews wurden auch die beruflichen Netzwerke der Befragten mittels der Software Vennmaker erhoben (siehe Gamper, Markus/Schönhuth, Michael: „Ansätze und Verfahren der Visuellen Netzwerkforschung“, in: Lobinger, Katharina [Hg.]: Handbuch Visuelle Kommunikationsforschung, Wiesbaden: Springer VS 2016, S. 1–27).

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zur Anthroposophie Rudolf Steiners. Erwartungsgemäß zeigen die Bauern und Bäuerinnen mit entsprechender Verbandsmitgliedschaft auch eine deutliche Offenheit gegenüber alternativen Sinnkonzepten. Die Nicht-Mitgliedschaft bei Demeter oder Bioland bedeutet allerdings nicht automatisch, dass der beschriebene Selbstanspruch geringer einzustufen ist. Manchen Bauern oder Bäuerinnen sind die Kosten für eine Mitgliedschaft auch schlicht zu hoch oder die damit verbundenen Auflagen bzw. Anforderungen zu restriktiv. Auch für die Beantwortung der Frage nach einer möglichen spirituellen Dimension des jeweiligen Tuns und Handelns sagt dies nur bedingt etwas aus. Allerdings verorten sich die Mitglieder des Demeter-Verbands in der Regel wissentlich und willentlich in der anthroposophischen Tradition Rudolf Steiners. Dabei sind einige der Ansicht, dass die Vorgaben des Verbandes am ehesten ihren Vorstellungen einer natürlichen und nachhaltigen Hoforganisation entsprechen. Andere wiederum – und hierin unterscheiden sich die Akteurinnen und Akteure in ihrer Motivationslage durchaus – haben sich Demeter angeschlossen, weil sie von den spirituellen Dimensionen und dem Transzendenzbezug des anthroposophischen Weltbildes überzeugt sind. Entsprechend gibt es Beispiele für bäuerliche Lebensformen, deren Protagonistinnen und Protagonisten sich nicht ‚nur‘ darauf beschränken, biologisch-dynamisch zu produzieren, sondern in denen das Sendungsbewusstsein über die Hoforganisation hinausgeht: Es werden Waldorfeinrichtungen besucht, beliefert oder gegründet, und solidarisches Landwirtschaften komplettiert dieses Engagement; so entstehen Hofgemeinschaften mit anthroposophischen Lebensentwürfen. An solchen Beispielen lässt sich aufzeigen, dass dort, wo die Kommunikation von Sinnkonzepten im Vordergrund steht – einerseits bezogen auf die Argumentationsstrategien und andererseits bezogen auf die Vernetzungsstrategien –, das ökologische Landwirtschaften weniger im engen Sinne wirtschaftlich, sondern primär ideell und sozial ausgerichtet ist.

4. FALLBEISPIELE Im Folgenden wird das eben Skizzierte an zwei ausgewählten Beispielen näher illustriert. 4.1 Fallbeispiel 1: Die solidarische Bauernfamilie Der hier vorgestellte Akteur dient als Beispiel für eine relativ idealistische Auslegung des von ihm ausgeübten Berufs als Bauer. Der Interviewte gehört zu einer Bauernfamilie, die mit drei Kindern auf einem Bauernhof nahe einer mittelgroßen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern lebt. Der studierte Bio-Bauer kommt aus dem

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Nordwesten der Bundesrepublik, seine Frau aus einer Großstadt in Süddeutschland. Über verschiedene Stationen in Deutschland und Österreich sind sie schließlich vor etwa zehn Jahren nach Mecklenburg-Vorpommern gekommen. Kennengelernt haben sie sich auf einem biodynamischen Landwirtschaftsbetrieb in Brandenburg. Der Hof, den sie nun bewirtschaften, war von Beginn an biodynamisch ausgerichtet. In den ersten Jahren versuchten sie den Hof nebenberuflich aufzubauen, während sie als Angestellte unter anderem für einen Demeter-Hof arbeiteten und sich schließlich für die Selbstständigkeit entschieden. Bevor sie zu einer Solidarischen Landwirtschaft (SOLAWI)27 wurden, verkauften sie ihre Produkte regional in Hofläden und auf Märkten in Mecklenburg-Vorpommern. Im Folgenden wird der Werdegang des Bauern, wie er ihn aus seiner eigenen Perspektive sieht, nachgezeichnet. Dabei soll herausgearbeitet werden, wie biographische Ereignisse bzw. Erfahrungen die heutige Ausrichtung des Hofprofils geprägt haben. „Und im Grunde is’ es das, was wir jetzt auch, meine Frau und ich, erfahren haben. Wir ham’ n paar Jahre auch dann, jeweils in [Kleinstadt an der polnischen Grenze], kennen gelernt. Nach meinem Studium, auf’m Hof. Da hat sie Ausbildung gemacht, ich komm’ dazu. Und dann sind wir auf mehreren Hofgemeinschaften gewesen und das eben Auffallende is’, is’ halt, dass, ähm, oder was mir aufgefallen ist, dass eben nich’ nur die Arbeit da is’, sondern, dass eben auch noch der soziale Bereich mir wichtig is’.“ (Ö02, Z. 80)

Im vorliegenden Abschnitt dokumentiert sich die feste Überzeugung, dass das Demeter-Konzept für den Interviewten das richtige ist. Dies kommt in seiner resümierenden Feststellung zum Ausdruck, dass er und seine Frau „im Grunde“ Erfahrungen machen konnten, die sie beide überzeugt haben. Sie waren sich auf einem Demeter-Hof in Brandenburg begegnet, auf dem sie gemeinsam ein paar Jahre gelebt hatten, bevor sie sich dann anderen Hofgemeinschaften anschlossen. In Bezugnahme auf diese Erfahrungen stellt der Interviewte heraus, was ihn dies gelehrt hat: Es geht nicht nur um das Produzieren von Lebensmitteln oder die ‚einfache‘ Organisation eines landwirtschaftlichen Betriebs, sondern es zählt „eben auch noch der soziale Bereich“, der ihm besonders wichtig ist. Hier deutet sich an, in welchem konzeptuellen Rahmen er die Landwirtschaft und die dazugehörige Lebensform versteht. Nach längerer Suche war er zu der Überzeugung gekommen, dass es neben der Arbeit für den landwirtschaftlichen Betrieb noch eine gewisse „Haltung“ braucht, die den sozialen Bereich inkludiert – und somit einen „ganzheitlichen“ Ansatz vom Leben in der Landwirtschaft erfordert. Diese 27 Siehe https://www.solidarische-landwirtschaft.org/startseite/, vom 02.02.2019.

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eben beschriebenen Erfahrungen bilden die Entwicklung einer Laufbahnidentität ab, die er durch sein Tun auch vermitteln möchte. „Puuh, ja Anthroposophie is’ – ja, also wie gesagt –, ich hab anfangs schon mal gesagt: Ich bin jetzt nicht der, der sich da auskennt, der die Ideen sehr vielschichtig findet. Der findet aber viel wichtiger, dass, äh, offen zu halten für alle Ideen, die es in dem Zusammenhang gibt. Also ich bin in der Kirche, ich gehe auch –, bin auch hier im Kirchgemeinderat, in der Gemeinde. Äh, einfach auch um zu gucken, dass es weitergeht. Dass die Kirche nicht ausstirbt. Bin nicht der, der jede Woche in die Kirche geht, aber ohne Kirche geht’s auch nich’. Denk ich mal. Man braucht schon. Also alles –, oder mehr oder weniger ’n Halt im Leben, oder ’ne Gruppe, wo Sie dazu gehören können. Es ist ja –, spätestens dann, wenn Sie irgendwie krank im Bett liegen, (lachend) rufen Sie nach Hilfe, ne? Ähm, dann, also daher is’ es wichtig, find’ ich. Einfach auch das auch einfach als, als, eigentlich als Netzwerk, mehr oder weniger.“ (Z. 641)

Zur Anthroposophie selbst kann er aus seiner Perspektive wenig sagen, da er sich seiner Selbsteinschätzung nach damit nicht auskennt, jedoch findet er sie „vielschichtig“. Diese Aussage zeugt von einer gewissen Unsicherheit bei diesem Thema. Er weiß aber, dass es sich um ein umfassendes Konzept handelt, das auf viele Lebensbereiche bezogen ist. Offenbar hat er sich oberflächlich mit der Anthroposophie befasst oder sie erlebt und beobachtet. Wichtiger ist es für ihn, sich „offen zu halten für alle Ideen, die es in diesem Zusammenhang gibt“. Dabei fällt auf, dass er einerseits betont, für alle Ideen offen zu sein, dies jedoch gleich wieder in den Gesamtzusammenhang anthroposophischer Vorstellungen einstellt. Ausgangspunkt ist und bleibt also offenbar die Anthroposophie. Um zu verdeutlichen, was er mit Offenheit meint, gibt er an, auch der Kirchengemeinde anzugehören um, wie er sagt: „zu gucken, dass es weitergeht“ und damit „die Kirche nicht ausstirbt“. Die Kirche hat offenbar einen ambivalenten Platz in seinem Leben: Einerseits nimmt er nicht an jeder kirchlichen Veranstaltung teil, andererseits sieht er sich jedoch in der Pflicht, zum Erhalt der Kirche als Institution oder Idee beizutragen. Gleichzeitig will er auf dem Laufenden bleiben und auch mitgestalten, wenn es um die Zukunft der Kirche geht. Des Weiteren hält er die Kirche für etwas Existentielles, denn „ohne Kirche geht’s auch nich’“. Offenbar ist ihm der Gemeinschaftsgedanke wichtig, den er an der Kirche und auch an der Anthroposophie überzeugend findet: Beide geben „Halt im Leben“ und bieten „’ne Gruppe“, zu der man gehören kann. Das hat für ihn wesentliche Bedeutung, denn er geht davon aus, dass es in jedem Leben Situationen gibt, in denen man Hilfe braucht – und die kann seiner Meinung nach diese „Gruppe“ geben. Hier dokumentiert sich ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer stabilen Gruppe, die Halt und Hilfe bereithält, wobei für ihn zunächst nicht wichtig zu sein

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scheint, mit welchem gedanklichen Überbau diese Gruppe verbunden ist – offenbar sollte sie für ihn jedoch christlich oder zumindest christlich konnotiert sein. „So, was ich vorhin mal sagte, der – dieser Professor K. in [westdeutscher Stadt am Rhein], der hat immer gesagt, also Ziel sollte sein ein weitgehend in sich geschlossener Organismus. Das wär schön, wenn man das hinkriegen würde, ne? Nich’ so weite Wege, auch deswegen is’ das schön, dass wir jetzt-, ähm, SOLAWI [sind].“ (Z. 158)

Schon an einer früheren Stelle des Interviews spricht der Interviewte von einem Professor, den er in der Studienzeit kennengelernt hatte und von dem er nachhaltig beeinflusst wurde. Nach dessen Ansicht solle eine gute Landwirtschaft als „ein weitgehend in sich geschlossener Organismus“ verwirklich werden – ein Begriff, der zum Kernkonzept der biodynamischen Landwirtschaft gehört. Zielpunkt ist also eine „Ganzheitlichkeit“, in der alle mit dem landwirtschaftlichen Betrieb verbundenen Arbeitsformen und die Lebensweise zusammengeführt werden. Als wichtiger Schritt auf dem Weg, diesen geschlossenen Organismus zu verwirklichen, erscheint dem Interviewten der Aufbau einer SOLAWI, denn kurze Kommunikations- und Vertriebswege sind nach diesem Verständnis Teil des angestrebten Ideals, wobei dieser Aspekt über die formalen Anforderungen des Demeter-Verbundes hinausgeht. Der Hinweis auf die Bedeutung der kurzen Wege belegt auch den ausgeprägten Nachhaltigkeits- und Umweltschutzgedanken des Befragten. „Und, ähm, das is’ eben denn auch ne-, ganz (regionale?) Gruppe is’, dass man nich’ weit  …, dass nich’ weit trägt, dass man hier bleibt, dass man Hilfe aus der Gegend hat, aus der Region hat. Das gehört dann auch dazu, ne?“ (Z. 163)

Die Betonung der Relevanz einer „ganz regionalen Gruppe“ hebt die Bedeutung der Kleinräumigkeit ökologischen Wirtschaftens im Rahmen der SOLAWI-Idee hervor. Gemeint ist hier nicht irgendein unspezifisches Verständnis von Regionalität, sondern die mehr oder minder direkte Nachbarschaft zu den Kundinnen und Kunden aus der näheren Umgebung. Dies ist im besonderen Charakter des SOLAWI-Gedankens bereits angelegt: Für die Produkte fallen keine langen Lieferwege an und die Abnehmer sind aufgrund der kurzen Wege schnell zur Hilfe da. Wenn dies zum ökologischen (Land-)Wirtschaften dazugehört, wie der Bauer betont, ist damit zugleich impliziert, dass es sich hier um eine besondere Art von Vereinbarung zwischen Kunden und Produzenten handelt. Denn wer Teil der Gemeinschaft ist, muss sich auf diese besonderen Bedingungen einlassen. Ferner grenzt sich dieses Wirtschaften gegenüber anderen Formen der Vermarktung ab und beschränkt die Reichweite auf eine besondere Region und einen spezifischen Personenkreis.

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Dass dies als integraler Bestandteil ökologischer Landwirtschaft begriffen wird, verweist ebenfalls auf die zentrale Bedeutung der Idee von Ganzheitlichkeit und markiert so das besondere Profil dieses Marktakteurs. Ich möchte nun noch in aller Kürze auf das Netzwerk der Bauernfamilie eingehen, da sich hier in besonders eindrücklicher Weise der idealistische Ansatz der Familie auch im weiteren Beziehungsgefüge wiederfinden lässt.

Die Graphik zeigt die zehn wichtigsten Akteurinnen und Akteure, die von den Interviewpartnern genannt wurden. Es ist zu erkennen, dass sich die soziale und anthroposophische Lebens- und Arbeitsweise auch in der Auswahl der Partner und Partnerinnen wiederfindet. Die engsten Partner und Partnerinnen des Netzwerks sind ebenfalls anthroposophisch und/oder ökologisch ausgerichtet. Die Kinder gehen zur Waldorfschule oder in den entsprechenden Kindergarten. Ein großer Teil der SOLAWI-Mitglieder ist ebenfalls auf vielfältige Weise mit den verschiedenen Waldorfeinrichtungen oder alternativ lebenden Gemeinschaften verbunden. Die sich bereits früh in der Biographie des Bauern verfestigte Affinität zur biodynamischen Landwirtschaft hat über die Jahre und Stationen hin eine Intensivierung und Anreicherung erfahren, was zu einer außergewöhnlichen Spezialisierung führte. Diese Spezialisierung spiegelt sich in einem besonderen Marktprofil wider, und das idealistische Lebens- und Arbeitsverständnis manifestiert sich in der Art und Weise der Produktion, der Kundenbeziehungen und der Lebensweise sowie dem Sendungsbewusstsein der Befragten.

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„Und da muss man ja natürlich weiter Leute kennen lernen. Die Idee weitertragen. Das soll ja nich’ damit zu Ende sein, das is’ eben auch ein Teil dieser Gruppe. Die will eben ganz andere Dinge noch machen, ne? Sich handwerklich vernetzen, Regionalgeld, keine Ahnung. Irgendwie solche ganz anderen Dinge noch machen. Das is’ jetzt nur ’n Anfang …“. (Z. 992–96)

4.2 Fallbeispiel 2: Der pragmatische Idealist Der folgende Akteur lebt auf einem kleinen Bio-Hof im Nordosten MecklenburgVorpommerns, den er weitestgehend nach biologisch-dynamischen Kriterien bewirtschaftet. Gemeinsam mit seiner Partnerin bietet er auf dem Hof verschiedene Produkte und Dienstleistungen an: Neben der Produktion und dem Verkauf von ökologischen Erzeugnissen bieten sie Urlaub auf dem Bauernhof an und warten mit diversen gesundheitsbezogenen Angeboten auf. Dazu gehören unter anderem schamanisch inspirierte Heilungsrituale oder Massagen. Dabei ist der Bauer vorwiegend für die landwirtschaftliche Produktion und den Vertrieb verantwortlich und seine Partnerin für die Angebote in den Bereichen Heilung und Urlaub. Schon in seiner Jugend bewegte sich der etwa 50-jährige Bauer im Kontext der DDR-Friedensbewegung in Sachsen, wo er auch erste Bekanntschaft mit anthroposophischem Gedankengut machte. Aus, wie er angibt, politischen Gründen konnte er kein Abitur machen und sein Ziel, als Entwicklungshelfer zu arbeiten, nicht weiterverfolgen. Stattdessen erlernte er einen technischen Beruf, der zu jener Zeit besonders gebraucht wurde („so Goldstaub“, wie er anmerkt). „Ja. Wie bin ich zum Beruf des Bauern gekommen? Äh, wie die Jungfrau zum Kinde. (lacht) […] Dann, äh, dann wollt‘ ich nach, nach Afrika. Da haben sie mich nicht gelassen, weil ich halt, äh, politisch nicht an der richtigen Stelle saß, weil ich mich während der Friedensbewegung in der Gegend rumgetrieben habe. Und, äh, dann kam irgendwann der Wunsch, hier hoch zu ziehen, weil ich sowieso immer viel hier oben bin. Ja, und da haben wa erstmal was gesucht. Und ich hab’ in meiner Jugend auch ab und zu mal im, im Stall, im Kuhstall gearbeitet, äh, und hab’ einfach so die Unterschiede kennen gelernt zwischen einem Kuhstall, der eingestreut wird mit, mit Stroh und, äh, dieser modernen Haltung auf Spaltenböden. Und diese ganze Land-, DDR-Landwirtschaft hat mir, hat mir’s ziemlich versaut.“ (Ö04, Z. 4–16)

Bereits in seiner Jugend hatte der Interviewte offenbar nebenbei in der DDRLandwirtschaft gearbeitet und dort einen ersten Einblick in die landwirtschaftliche Arbeit erhalten können. Seine Erfahrungen in dem System der Massentierhaltung hat er dabei stets als Negativfolie für sein Verständnis von Landwirtschaft empfunden. Erfahrungen auf einem Bauernhof, der schon seit langem in der Tradition

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der biodynamischen Landwirtschaft produzierte, hatten bis heute entscheidenden Einfluss auf seine Art und Weise, Landwirtschaft zu betreiben. „… und denn hab’ ich irgendwann in –, Anfang der 80er Jahre [Bauernhof] kennen gelernt, dat is so’n anthroposophischer Demeterhof, jetzt is’ es Demeterhof und eines der ältesten sowieso, irgendwie aus den 30er Jahren oder ’28, glaub‘ ich, gegründet. Und dann –, das hat mir einfach gut gefallen, wie die mit der Erde umgehen und wie die dat so machen und dann war schon der Gedanke, wenn man hier hoch zieht, vielleicht in dieser Richtung was zu machen.“ (Z. 19–30)

Die auf diesem Hof gemachten Erfahrungen verfestigten einerseits den Wunsch, als Bauer zu arbeiten, und andererseits prägten sie seine Herangehensweise an die Hoforganisation. Denn nachdem er beschlossen hatte, den Hof zu erwerben und sich dort niederzulassen, „da stand fest, wenn ich hier irgendwie was mache, dann Landwirtschaft und wenn dann, dann biologisch-dynamisch. Das war so der Plan. Das war 1991. I:

Ja, okay. Also ziemlich direkt nach der Wende?

Öko4: Ja, nach der Wende. Aber es war halt so, – meine Zeit im politischen Milieu war dann so –. Ich war in der relativ weit linken, also erstmal im Neuen Forum, denn in einer relativ linken Organisation. Und irgendwie hatt‘ ich das Gefühl, ‚Du wirst entweder verheizt oder du wirst korrupt.‘ I:

Okay.

Öko4: Und beides wollt’ ich nicht – weder das eine noch das andere. Und, äh, und dann hab’ ich gesagt: ‚Okay, wenn dann, so was‘. Und dann hab’ ich das gekauft, und dann bin ich mit meiner damaligen Lebensgefährtin hier hoch gezogen und hab’ hier angefangen und dann hab’ ich erstmal die Kontakte zu Demeter gesucht, bzw. die Höfe im Osten …“. (Z. 51–62)

Auch andere Ereignisse und Erfahrungen hatten seinen Entschluss mitgeprägt. Bereits in frühen Jahren war der Interviewpartner im „politischen Milieu“ aktiv, und dies nach eigene Angaben „relativ weit links“. Belege dafür sind auch sein Engagement in der DDR-Friedensbewegung oder sein Wunsch, in der Entwicklungshilfe tätig zu sein. Seine politischen Aktivitäten mündeten in nicht näher beschriebene Tätigkeiten im „Neuen Forum“ und anderen linken Organisationen. Allerdings sah er sich dort bald der Gefahr ausgesetzt: ‚Du wirst entweder verheizt oder du wirst korrupt‘. Daher verfestigte sich sein Entschluss, den Hof zu erwerben, und er zog schließlich mit seiner damaligen Partnerin dorthin. Die erste Zeit war von starken Einschränkungen und einem gewissen Pioniergeist geprägt. Da die infrastrukturellen Voraussetzungen zu diesem Zeitpunkt sehr schlecht waren

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(Wege, Strom, Wasser …), hatte er mit vielen Einschränkungen und Rückschlägen zu kämpfen, denen er aber mit einem gewissen Pioniergeist trotzte. Zu dieser Zeit nahm er dann auch ein Studium auf. „Und an solchen Orten wie hier war das auch sehr wild, weil hier gibt’s keine Wege. Und, äh, als wir hierhergezogen sind, wollte kein Mensch her, da –, hier gab’s nix, was irgendwie –, hier war alles zerstört, die Häuser waren kaputt. Das war schon so’n bisschen ein kompletter Neuanfang. Dat gab noch nicht mal –. Hier gab’s zwar Wasser, aber keinen, keinen funktionierenden Wasserhahn dazu. Und Strom gab’s hier, äh, eigentlich nur illegal (lacht). Also die erste Zeit, was auch ganz gut war.“ (Z. 102–107)

Im Folgenden kommt die ideelle Dimension der Arbeit des Bauern zur Sprache. Dafür wird nun eine längere Passage aus dem Interview wiedergegeben, da der Befragte hier recht eindrücklich darlegt, was die Beweggründe für sein Engagement sind. „Ähm, und was mein, was mein Weltbild betrifft, das ist, ähm-, ich bin-, – ich bin getauft, ich bin konfirmiert, aber ich hab’ mich erst mit 18 konfirmieren lassen, aber dann hab’ ich eigentlich der evangelischen Kirche den Rücken gekehrt. I:

Wie kam’s?

Öko4: Das klingt jetzt so’n bisschen –, so’n bisschen schräg, aber, kann man auch nicht sagen ‚Rücken gekehrt‘, in der DDR war die Kirche einfach nochmal ’ne ganz andere, äh, Geschichte, die war letztendlich für uns ein, ein Rettungsort, ja. Und da wurde sozusagen das, was, äh, Jesus, äh, gemacht hat mehr oder weniger –, äh, ist man da anders mit umgegangen, ja, als heutzutage. Heutzutage hat sich einfach eine Institution Kirche herausgebildet, ja, und, äh, das ist jetzt nicht so, auch nicht so schön. Ich bin irgendwann zu den Anthroposophen ge-, gekommen, so, und dementsprechend dann auch zu dieser biologischdynamischen Landwirtschaft. I:

Ja, beschreiben Sie mir doch diesen Prozess nochmal. Wieso Anthroposophie, was

interessiert Sie, was überzeugt Sie daran? Öko4: Na, die ist ja ganzheitlich, ne?! So, die, äh, hat jetzt nicht diesen eng, engen Bereich des Glaubens, sondern die hat einfach mal viele Dinge, die in’s sehr Praktische herein gehen, sei es in der Medizin, in der Bildung, oder Landwirtschaft, oder, oder im künstlerischen Ausdruck, äh-. Und ich hab’ das zu DDR-Zeiten kennen gelernt. Und da war das auch nochmal, äh, natürlich auch ’ne, ’ne Art, äh, Flucht – und Sicherheitsgedanke, weil man war ja unter sich, ’ne, ’ne Art Gemeinschaft, ja. Und ich bin halt in [ostdeutsche Großstadt], in der Nähe von [ostdeutsche Großstadt] groß geworden und hab dort eine –, da gibt’s die [xy-Straße] in [ostdeutsche Großstadt], da ist die Christengemeinschaft und da haben wir uns getroffen. Also ich bin jetzt da nicht irgendwie getauft oder sonst irgendwie. Also ich bin jetzt keen, ke-, also ich bin jetzt nicht von der religiösen Seite her, da auch kein

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Mitglied, aber die Menschen, die ich da kennen gelernt habe, die haben das auch im reellen Leben gelebt – im Unterschied zum Beispiel zu den Zeugen Jehovas und der Freikirchlichen Gemeinde und wie die alle heißen, ich red’ gar nicht von den großen Kirchen, aber von diesen kleinen. Ich hab’ nie verstanden, wie ein, ein, ein, einer der in der Freikirche ist und so sich für die Schöpfung einsetzt, äh, Gifte mischt und irgendwie –, und davon die Hälfte in die Umwelt kippt oder so, mal als Beispiel. Das, das hat bei mir nicht gepasst so was. So, und bei den Anthroposophen hab’ ich durchaus mitten in der DDR –, hab’ ich das Gefühl gehabt, dass die, also die meisten, die ich da gekannt habe, haben sich in, in irgend so ’nem Raum bewegt – auch beruflich, wo sie das achten konnten, ja. Das fand’ ich schon sehr interessant. — So. – Ja. Das war der Grund, wie ich zu denen gekommen bin. Und wie gesagt und Steiners Gedankengut hab’ ich am Anfang gar nicht begriffen, das muss ich auch sagen. Erst als ich hier meine Landwirtschaft gemacht habe, sind die ganzen Kronleuchter angegangen. Äh, das ist schon ’n großer breiter Himmel, ne, das ist ’n Universum. I:

Okay.

Öko4: Und das ist –, das ist die eine Seite meine –, meines Tuns und die andere Seite ist halt die Anarchie. Ich bin zu DDR-Zeiten also auch schon mit Ana-, Anarchien in Berührung gekommen, mit Erich Mühsam und Bakunin und wie die alle heißen, oder Oskar Maria Graf. Und, ähm, ja, das war so die, äh, die andere Seite, die mehr ideelle, äh, wie sacht man so, das Gegenteil von, von den Anthroposophen, wenn man’s genau nimmt, aber die passen eigentlich ganz gut zusammen. So, das ist meine Richtung, wo ich herkomme.“ (Z. 178–250)

Auf der Suche nach Orientierung, oder besser: nach einem passenden Ort für seine Gedankenwelt, bewegt sich der Interviewpartner zunächst in kirchlichen Kreisen, wobei er „Kirche“ hier weniger als religiöses Angebot versteht, sondern als Schutzraum für anderes, alternatives Denken. Erst die Begegnung mit den „Anthroposophen“ (der „Gemeinschaft“) eröffnet ihm den Zugang zum „ganzheitlichen“ Ansatz der Anthroposophie, die „jetzt nicht diesen eng, engen Bereich des Glaubens [hat], sondern die hat einfach mal viele Dinge, die in’s sehr Praktische herein gehen, sei es in der Medizin, in der Bildung, oder Landwirtschaft, oder, oder im künstlerischen Ausdruck“. Es dokumentiert sich hier der Anspruch einer ganzheitlichen Haltung, die möglichst alle Lebensbereich einbezieht (Arbeit, private Lebensführung, Politik, bis hin zu Kunst und Kultur) und zu einem kohärenten Weltbild und einer ganzheitlichen Lebensweise führt. Dabei sollen möglichst wenige Kompromisse mit Dingen eingegangen werden, die nicht in das angestrebte Ideal passen. Einen gedanklichen Überbau bietet hier die Anthroposophie und „Steiners Gedankengut“, welches er zudem mit Elementen von „Anarchie“ (er nennt „Mühsam“ und „Bakunin“) zu vereinen sucht. Auch wenn er zum Zeitpunkt des Interviews nicht Mitglied im Demeter-Bund ist – die Mitgliedsbeiträge sind ihm zu hoch –, zeigt er sich von der biodynamischen Anbauweise fest überzeugt, denn „das ist natürlich die Verbindung. Das ist

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das Verbindungsstück zwischen Erde und Himmel, wenn man’s mal so nimmt. Ja. So. Und, äh-, so –, das ist eine sehr ganzheitliche Betrachtungsweise, ja, – die ich in der Form so vorher nicht gekannt hab‘.“ „Ähm, und dann schwappte irgendwann diese ganze Esoterik hier rüber – bin ich jetzt auch nicht so wirklich, äh, ’n Freund von. Aber Tatsache ist für mich erstmal: ich glaube, alles ist miteinander verbunden. Und zum zweiten: letztendlich werden wahrscheinlich alle an dasselbe glauben – keiner kann’s wirklich richtig beschreiben. Und für die –, für die Einen ist’s der liebe Gott, für die Nächsten ist’s Allah, dann für die Nächsten ist’s, was weiß ich, und die Übernächsten sagen, ‚wir haben ’ne Naturreligion‘. Da ist irgendwas, was wir nicht beschreiben können, aber was eine unbändige Kraft […]. So. Das ist eigentlich der ganze Zauber. I:

Und wie spiegelt sich das in Ihrer täglichen Arbeit wider?

Öko4: Na ja, ich befrage ab und zu mal-, äh, mach’ ich halt ’ne Reise –. Ach so, ich hab –, ich hab doch ’ne Ausbildung gemacht, und zwar, die hat ’n paar Jahre gedauert, für schamanisch inspirierte Rituale – und die mir in meiner praktischen Arbeit insofern hilft: in Heilungsprozessen, in, in Fragestellungen, in persönlichen wie beruflichen-, oder wenn Andere kommen und Probleme haben. (Dies mach ich eher?) langläufig als Heiler. Ich bin aber kein Heiler mehr. Also ich mach’ so was nicht offiziell oder so, ne.“ (Z. 236–250)

Es wurde bereits deutlich, dass sich der Befragte neben der alltäglichen Tätigkeit im Betrieb über weiterführende Sinnkonzepte und an die Landwirtschaft angrenzende Lebensbereiche Gedanken macht. Dabei befasst er sich nicht nur mit Fragen der richtigen und guten Hofführung, sondern auch mit Themen aus dem Bereich der Gesundheit. Wie bereits erwähnt, werden auf dem Hof – federführend von seiner Partnerin – auch gesundheitsbezogene Angebote vorgehalten. Im soeben angeführten Interviewausschnitt deutet sich an, dass er ebenfalls auf diesem Gebiet alternative Wege zu erproben bereit ist. Wenngleich er sich von der sog. „Esoterik“ zunächst nicht überzeugt zeigt, geht er doch von einer allgegenwärtigen „unbändigen Kraft“ aus, die alles miteinander verbindet. So erwähnt er, in gesundheitlichen oder auch beruflichen Fragen gelegentlich eine „Reise“ zu unternehmen. Anschließend gibt er an, eine langjährige Ausbildung in der „schamanisch inspirierten Heilkunde“ durchlaufen und auch als Heiler gearbeitet zu haben. Im Folgenden beschreibt er, mit welchen „Fällen“ die an den Heilkunde-Kursen Beteiligten befasst waren und welche Behandlungsmethoden dabei zur Anwendung kamen: „Na ja, das heißt, sie kommen-, die kommen ja mit ’nem Problem, ne. So, ergo müssen wir uns Gedanken machen, wie wir das lösen mit dem, was wir gelernt haben – also indem man-

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, indem man das eben nicht nur von (innen rein?), äh, äh, ich sach mal – wissenschaftlichen Sicht sieht, sondern von dieser spirituellen Seite. […] Kann das sein, dass die besetzt sind von, von irgendwelchen Geistern, die sie auf ihren Drogenreisen einfach da mal mitgenommen haben, ja. So, und, äh, so was in dieser Richtung. Und, und unsere Aufgabe war’s dann, mit denen zu arbeiten, und, äh, die – man kann nicht sagen, die wieder auf den rechten Weg zurückbringen, das ist nämlich, letztendlich ist da jeder, jeder selber dafür verantwortlich, ja. […] Man gibt maximal ’ne Hilfestellung.“ (Z. 330–346)

Wie im Bereich seines landwirtschaftlichen Betriebs ist der Befragte auch in anderen Lebensbereichen bereit, neue Wege zu erproben, wie zum Beispiel in der Gesundheit. Aus dem Interviewmaterial lässt sich ein Orientierungsrahmen abstrahieren, innerhalb dessen er agiert. Seine grundsätzliche Einstellung ist einerseits durch seine Negativerfahrungen in der DDR-Landwirtschaft und andererseits seine Positiverfahrungen auf einem Demeter-Hof geprägt. Dort entwickelte er eine zunächst noch vage Vorstellung von einer Landwirtschaft, wie er sie verwirklichen möchte. Dieses damals geformte Bild bestimmt sein landwirtschaftliches Handeln bis heute. Die Vorstellung einer biodynamisch ausgerichteten Hoforganisation ist jedoch nicht als singuläres Ideal einer einzelnen Sphäre zu verstehen, sondern dokumentiert eine „Weltsicht“, die sich auf alle Lebensbereiche bezieht. Diese Haltung spiegelt sich auch in seiner Einstellung gegenüber jeder Art institutionalisierten Glaubens, in seiner Haltung gegenüber herkömmlichen staatlichen Bildungseinrichtungen (seine Kinder besuchen bzw. besuchten Waldorfeinrichtungen), seinen Vermarktungsstrategien (ausschließlich Direktvermarktung) sowie seinem Verhältnis zu Fragen der Gesundheit. Das weiterführende Angebot gesundheitsbezogener Dienstleistung auf seinem Hof wird nicht nur gutgeheißen und gefördert, sondern erfährt eine Aufwertung durch eigene Überzeugungen und Handlungen, wie bspw. die Ausbildung zum schamanischen Heiler. All dies führt zu einem einzigartigen Marktprofil, das aus der Eigenlogik des Akteurs heraus nur so und kaum anders aussehen kann. Kompromisse zugunsten einer höheren Wirtschaftlichkeit unter Aufgabe eigener Ideale würde er kaum eingehen. So erzählte er im Nachgang zu unserem Interview, dass er gelegentlich auch Konflikte mit der Kommune auszutragen habe, die seine Form der freien Tierhaltung kritisiere. In dieser Sache sei er jedoch zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Der Interviewte wird auf diese Weise zu einem einzigartigen Akteur auf dem Markt des Besonderen. Die von ihm vertretenen idealistischen Einstellungen haben sehr konkrete Auswirkungen auf seine Profilbildung auf diesem Markt. Er will seine Vorstellung vom richtigen und guten Leben in allen Lebensbereichen realisieren und erstellt so ein einzigartiges Angebotsportfolio. Arbeit und Privates sind keine getrennten Sphären, anthroposophische und spirituelle Ansätze werden

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im Privaten und im Beruflichen gelebt – selbstverständlich wechselseitig integriert. Sein biographischer Werdegang über verschieden Netzwerkkontexte und zeitliche Entwicklungsphasen hinweg – DDR-Landwirtschaft, Demeter-Hof, politisches Engagement in verschiedenen Initiativen, Erfahrungen im religiösen und spirituellen Bereich und vieles mehr – haben zur Ausbildung einer markanten Identität geführt, die bei der Überführung in ein Marktagieren bestimmend ist. Die Identität ist von bestimmender Prägekraft und hat starken Einfluss auf sein Marktprofil. Zugleich ist jedoch völlig evident, dass der Interviewte die meiste Zeit mit alltäglichen Aufgaben befasst ist, die sich aus den ganz praktischen Anforderungen eines landwirtschaftlichen Betriebs ergeben. Im Umgang damit ist das Denken und Tun dieses Akteurs allerdings ganz von der beschriebenen Grundhaltung getragen. So verhält es sich auch mit dem Sendungsbewusstsein des Interviewten: Er nutzt sein „Weltbild“ nicht als Vermarktungsinstrument, sondern es läuft quasi „im Hintergrund“ mit. „Das ist aber –, äh, wie gesagt, das nimmt jetzt für mich in meinem –, im normalen Leben jetzt nicht so viel Raum ein. Dazu hab ich irgendwie noch zu viel’ Sachen in, in – als Landwirt und als Vermarkter und im Netzwerk und et cetera.“ (Z. 384–386)

5. RESÜMEE Im Rückblick auf das von uns als „Markt des Besonderen“ bezeichnete Phänomen wird an den konkreten Beispielen deutlich, dass hier in der Tat etwas in den Blick kommt, das näherer Erklärung bedarf. Ein einfacher Zugriff bspw. mit Theorien der rationalen Wahl würden das Handeln der vorgestellten Akteure nicht erklären. Dennoch sind sie auf dem Markt zu finden und bewegen sich dort durchaus mit einem gewissen Erfolg. Es hat sich gezeigt, dass die Zuhilfenahme der Theorie von Karpik dabei hilft, zu verstehen, wie ein solcher Markt entsteht und Bestand haben kann, welche Entscheidungshilfen dieser Markt bereitstellt, um eine wohlbegründete Wahl zu treffen und um Güter oder Dienstleistungen, die aufgrund ihrer Eigenschaften kaum oder nur sehr schwer vergleichbar, ungewiss und komplex sind, für einen Markt handhabbar zu machen. Unter Zuhilfenahme von Harrison Whites Thesen konnte wiederum der Blick auf die Anbieterseite des Marktgeschehens gelenkt werden. Whites Zugang hilft beim Verstehen der Ursachen für Komplexität, Unvergleichbarkeit und Ungewissheit und gibt gleichzeitig die Möglichkeit, die einzelnen Individuen hinter den Produkten sichtbar zu machen und somit die jeweiligen Marktprofile und deren Abhängigkeiten aufzudecken.

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So zeigte sich, dass in den untersuchten Beispielen idealistische Ansätze aufseiten der Anbieter einen hohen Stellenwert besitzen und sich bspw. der Gedanke der Ganzheitlichkeit nicht nur auf die Arbeitsweise, sondern auch auf die Lebensweise bezieht. Dies schlägt sich auch in einer hohen Offenheit gegenüber Fragen von Spiritualität, sozialem Engagement, Nachhaltigkeit und Regionalität nieder. Dabei spielen Aspekte der Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens eine wichtige Rolle, werden jedoch in unterschiedlichem Maße mit weiteren Themen verbunden. Dahinterstehende implizite Sinnkonzepte werden auf dem Markt mitkommuniziert und markieren dort unter anderem die Einzigartigkeit und das besondere Profil des Akteurs und seiner Produkte. In den beiden Beispielen ist dies in konkreter Weise deutlich geworden. Dabei hat sich gezeigt, wie stark verschiedene biographische Stationen und unterschiedliche Netzwerkkontexte im Negativen und im Positiven auf die weitere Ausgestaltung der jeweiligen Identitäten Einfluss hatten. Dabei haben sich Identitäten herausgebildet, die zunehmend deutlicher erkennbar machten, vor welchem Hintergrund agiert wird. Erkennbar wurde ebenfalls, dass die konkrete Profilbildung und die Vermarktungsstrategien auf dem Markt sich mehr an den eigenen idealistischen Vorstellungen vom richtigen und guten Leben orientieren und weniger an möglichen Markterfordernissen. An sie gerichtete berufliche Anforderungen, welche nicht ihrem Weltbild entsprechen, würden sie zugunsten ihres Ideals bzw. der Vorstellung von dem was „richtig“ und „gut“ ist, eher nicht erfüllen. Religiöse oder spirituelle Aspekte spielen durchaus eine Rolle und haben teils starken Einfluss auf das Selbstverständnis sowie die Lebens- und Arbeitsweise der untersuchten Akteurinnen und Akteure. Vordergründig wird dies jedoch nur am Rande thematisiert. Ein Forschungsdesiderat besteht nach wie vor hinsichtlich der Frage, in welchem Maße die beobachteten Phänomene bei der Entscheidungsfindung der Kundinnen und Kunden eine Rolle spielen.

Die BIO-Landpartie Ein Veranstaltungsformat des BUND für den Ökolandbau in Mecklenburg-Vorpommern Burkhard Roloff

1.  VORBEMERKUNG (KLAUS HOCK) Der nachfolgende Beitrag liest sich wie eine ganz normaler PR-Text, wie eine Werbeannonce. Das ist er auch, zumindest in gewisser Weise. Welchen theoretischen Ort hat er in diesem Band? Ganz bewusst hatten wir Dr. Burkhard Roloff, Referent für Ökologischen Landbau beim BUND Mecklenburg-Vorpommern und unter anderem Programmverantwortlicher für die Aktion „BIO-Landpartie“, zu unserem Workshop1 eingeladen. Seine Präsentation, die er uns zur Publikation bereitstellte und die im Folgenden in überarbeiteter Form abgedruckt ist, gab uns nicht nur eine Einführung in das Rationale des vorgestellten Veranstaltungsformats, sondern auch einen ersten Einblick in die durch die Aktion eröffneten ‚Erlebniswelten‘ sowie ihre Vermittlung in interessierte Kreise einer breiteren Öffentlichkeit hinein und diente somit auch zur weiten Rahmung der Gesamtthematik ‚Ökologischer Landbau‘. Es ging dabei nicht um Religion oder Religionshybride. Unser Interesse richtete sich vielmehr mit Blick auf die „Märkte des Besonderen“ – in diesem Fall vornehmlich: von Bio-Erzeugnissen – auf ein ausgewähltes Beispiel institutionell geförderter Kontaktanbahnung zwischen Produzierenden und (potentiellen) Kundinnen und Kunden. Selbstverständlich waren wir zudem daran interessiert, nicht nur nach dem Besonderen der ‚besonderen Produkte‘ zu fragen, sondern auch mögliche Besonderheiten ihrer performativen Präsentation und ästhetischen Re-

1 Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität. Ganzheitliche Lebensweisen auf den „Märkten des Besonderen“, 22./23. März 2019, Universität Rostock.

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zeption in den Blick zu nehmen: Haben Bio-Erzeugnisse und der weitere Kontext ihrer Produktionsumstände etwas an sich, das sie über Gesundheits- und Naturschutzaspekte hinaus attraktiv macht? Lassen sich gar Spurenelemente des Auratischen identifizieren?

2.  DAS VERANSTALTUNGSFORMAT Die BIO-Landpartie ist ein Veranstaltungsformat des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) für den Ökolandbau in Mecklenburg-Vorpommern (M-V) – bundesweit einmalig, landesweit und verbandsübergreifend. Es wurde 2008 vom BUND Landesverband M-V entwickelt und seitdem zwölfmal in Folge (Stand: März 2019) durch den BUND koordiniert und organisiert. Die BIO-Landpartie soll insbesondere kleine und mittlere Bio-Höfe bzw. -Betriebe mit besonderen Erzeugnissen und Angeboten präsentieren.

3.  DAS VERANSTALTUNGSPRINZIP Das Grundprinzip der BIO-Landpartie ist die Durchführung eines Tags des offenen Bio-Hofes, Bio-Betriebes oder Bio-Gutes sowie ökologischer Verarbeitungsmanufakturen und Betriebe. In der Zeit von 10:00 bis 17:00 Uhr können sich interessierte Besucher auf den einzelnen Höfen und Betrieben ein eigenes Bild vom praktischen Ökolandbau machen. In den hofeigenen Bäckereien, Käsereien, Mostereien, Mühlen, Fleischereien und Brennereien können sie die schonende, handwerkliche Verarbeitung kennenlernen und in den Hofläden das vielfältige Angebot an ökologischen Erzeugnissen aus ihrer Region entdecken. Am Ökolandbau interessierte Verbraucherinnen und Verbraucher, vor allem Familien mit Kindern, können in zwölf Regionen des Landes an einem Tag auf drei bis acht verschiedenen Höfen je Region ohne Kaufzwang erleben, wie Getreide, Kartoffeln, Gemüse oder Obst angebaut, wie Brot gebacken, Obst und Öl gepresst, Käse hergestellt sowie Schnaps gebrannt wird. Sie können alte und moderne Landtechnik besichtigen, mit der die Bio-Bauern und -Gärtner ihre Felder, Wiesen und Weiden bearbeiten. Sie können Backwaren und Kuchen, Wurst, Öle, Pasta, Obst-Säfte und ‑Schnäpse oder Milchprodukte probieren und kaufen. Aber sie können auch Ziegen, Schafe, Hühner, Gänse, Rinder, Büffel, Pferde, Rotwild oder Schweine erleben. Kleine und große Besucher können auf den einzelnen BioHöfen und -Betrieben mit den erfahrenen Bauern, Gärtnern, Schäfern, Bäckern, Müllern, Käsern, Brennern oder Fleischern ins Gespräch kommen.

Die BIO-Landpartie | 119  

Abbildung 1: „Machen Sie eine BIO-Landpartie! – 21. September 2019“2

Auf jedem Hof der BIO-Landpartie gibt es zusätzlich besondere Aktionen und interessante Angebote, wie z.B. Hoffeste, Hof- und Betriebs-Führungen, Treckeroder Kremser-Rundfahrten, Verkostung hofeigener Produkte, aber auch Melken und Füttern oder Reiten für Kinder. Die Adresse und die Lage der einzelnen Bio-Höfe sowie deren jeweilige Aktionen und Angebote sind ab September des Jahres ersichtlich unter: www.bund-mv.de. Schwerpunkt der BIO-Landpartie ist

2 Abbildung aus dem Faltblatt des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) Mecklenburg-Vorpommern zur BIO-Landpartie 2019 , siehe https://www.bund-mecklenburgvorpommern.de/fileadmin/mv/BLP2019_Faltblatt_web_kl-1.pdf vom 22.03.2020. Die übrigen Abbildungen in diesem Beitrag stammen aus der ppt-Präsentation und finden sich größtenteils auf der Website des BUND-MV.

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Abbildung 2: Siehe Abb. 1/Fußnote 2

die handwerkliche, hofeigene Verarbeitung von Bio-Produkten und deren direkte bzw. regionale Vermarktung.

4.  KONZEPT UND ENTWICKLUNG Das Veranstaltungskonzept wurde 2008 vom BUND entwickelt. An der ersten BIO-Landpartie nahmen zwölf Bio-Höfe teil, die von 3.000 Interessenten besucht wurden. An der zehnten BIO-Landpartie nahmen 60 Bio-Höfe teil, und es waren mehr als 9.857 Besucher. Bei der elften und zwölften BIO-Landpartie öffneten je 62 BIO-Betriebe interessierten Verbrauchern ihre Tore und machten die Praxis der ökologischen Erzeugung, hofeigenen handwerklichen Verarbeitung und Ab-HofVermarktung erlebbar. Zur letzten BIO-Landpartie (2019) lässt sich festhalten:

Die BIO-Landpartie | 121  

Alle Höfe berichteten von einer positiven Resonanz bei den Besuchern. Es kam zu interessanten Begegnungen und anregenden Gesprächen in einer freundlichen, entspannten Atmosphäre. Die BIO-Landpartie führt bei den interessierten Besuchern durch eigenes Erleben zum besseren Verständnis für die Besonderheiten und die Vielfalt des Ökolandbaus in unserem Land. Auf vielen Bio-Höfen kosteten und kauften die Besucher die leckeren hofeigenen Bio-Produkte. Sehr gut besucht waren 2019 die Hoffeste auf dem Obsthof Danis Saftladen in Malliß und auf dem Demeter-Hof Medewege in Schwerin. Besonders gelungen war die Eröffnung der 12. BIO-Landpartie auf dem Demeterhof hufe8 in Selow bei Bützow mit mehreren Hof-Führungen zu den Mobil-Ställen, den Junghennen, der Eier-Packstelle und dem Hofladen sowie einem Expertengespräch zum Thema „Schlachtung und Verarbeitung von Bio-Tieren in M-V“. Besonderes Interesse fand auf den Bio-Höfen die bäuerliche, ökologische Nutztierhaltung, vom Mobil-Stall für Bio-Hühner auf dem BIO-Gut Vorder Bollhagen oder die Weide-Haltung von Fleisch-Rindern auf dem Gut Gallin. Die sehr interessierten Besucher kamen gerne auf die Bio-Betriebe mit hofeigener Verarbeitung wie der Obst- und Gemüsetrocknung bei MARTINS Bio in Greifswald, Hof Hoher Schönberg bei Klütz oder in der Hofkäserei in der Schafscheune Vietschow.

5.  M  OTIVE ZUR TEILNAHME AN DER BIO-LANDPARTIE SEITENS DER BIO-HÖFE UND -BETRIEBE Aus der Perspektive der Bio-Höfe und -Betriebe lassen sich schlagwortartig folgende Motive für eine Teilnahme auflisten: • Bio-Höfe öffnen sich für den Besucher- oder Käufer-Verkehr vornehmlich durch die Präsentation ihrer Produkte im Hofladen, auf Marktständen oder im Rahmen von Hof-Festen; • Bio-Verarbeitungsbetriebe und -Manufakturen präsentieren sich in erster Linie, indem sie mit ‚gläserner‘ Produktion ihre Arbeitsweise bei der Herstellung ihrer Erzeugnisse transparent machen; • allen geht es dabei gleichermaßen um Kundenpflege und Kundenbindung; • sie wollen an dieser Aktion aktiv mitmachen, um dabei zu sein, Präsenz zu zeigen; • wichtig ist zudem das Interesse an der Verbreitung des Bio-Gedankens, der Vermittlung der Bedeutung von Regionalität und der Pflege von Kultur. • Es gibt auch so etwas wie einen beinahe ‚selbstlosen‘ Zweck der Teilnahme: sein Selbstverständnis zu zeigen sowie Stolz und Freude am Präsentieren; • daneben geht es ihnen selbstverständlich auch darum, zu verkaufen und Umsatz zu machen.

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Abbildung 3: Siehe Abb. 1/Fußnote 2

6.  M OTIVE ZUR TEILNAHME AN DER BIO-LANDPARTIE SEITENS DER BESUCHER Aus der Perspektive der Besucherinnen und Besucher sind folgende Hauptmotive für eine Teilnahme zu nennen: • Die Möglichkeit des Besuchs eines oder mehrerer Höfe aus Anlass der BIOLandpartie zu nutzen – Spaß am sog. ‚Farm-Hopping‘; • ohne ‚Kauf-Zwang‘ einen oder mehrere Bio-Höfe besuchen; • die Region abzufahren und kennenzulernen; • hinter die Kulissen der einzelnen Bio-Höfe und -Betriebe zu schauen; • sich ein eigenes Bild zu machen, Interesse und Neugierde; • Unterschiede bei Bio-Anbau und bei der Verarbeitung kennenlernen; • Bio-Akteure persönlich kennenlernen; • Bio-Produkte zu probieren, zu genießen und zu kaufen; • aktiv Freizeit zu gestalten und einen erlebnisreichen Tag zu verbringen.

Die BIO-Landpartie | 123  

7.  RESONANZ BEI DEN BESUCHER Mit Blick auf die Teilnehmenden und die Resonanz auf das Dargebotene lassen sich folgende Feststellungen machen: • Teilnehmende sind durchweg interessierte Besucherinnen und Besucher, vor allem Paare und Familien mit Kindern; • bei fast allen Besuchenden ist die Resonanz ausnahmslos positiv; • es kommt zu interessanten Gesprächen und Begegnungen; • hervorgehoben werden die freundliche, entspannte Atmosphäre und das Erleben eines ‚schönen Tags‘; • alle unterstreichen ihr Interesse und die Freude am Probieren und Kaufen der hofeigenen Produkte; • und immer wieder wird bestätigt, dass es durch eigenes Erleben zum besseren Verständnis für die Besonderheiten und die Vielfalt des Ökolandbaus im Land gekommen ist.

8.  FAZIT Zusammenfassend lässt sich festhalten: • Die BIO-Landpartie ist ein attraktives Veranstaltungsformat; • immer mehr interessierte Besucher werden von ihr angelockt; • sie ist ein Alleinstellungsmerkmal für Mecklenburg-Vorpommern, da ein bundesweit einmaliges Veranstaltungsformat; • da in zwölf Regionen mehrere Höfe je Region teilnehmen, kann die BIO-Landpartie landesweit realisiert werden; • die Teilnahme ist freiwillig, das Projekt verbandsübergreifend; • Mit Blick auf ihre Nachhaltigkeit sollte die BIO-Landpartie als Veranstaltungsformat inhaltlich weiterentwickelt und zuverlässig sowie ausreichend finanziell gefördert werden.

9.  BEOBACHTUNGEN (KLAUS HOCK) Die BIO-Landpartie kann durchaus eine Erfolgsgeschichte vorweisen, sowohl was die quantitative Zunahme der teilnehmenden Höfe und Betriebe anbelangt, als auch hinsichtlich der wachsenden Diversifizierung des Angebotes, auf das die

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Besucherinnen und Besucher zugreifen können. Eine Durchsicht des Portfolios der verschiedenen Programpunkte und Offerten3 bestätigt die in Pressemeldung4 und Programmflyer5 annoncierte Vielfalt und lässt erkennen, dass neben den üblichen Aktionen einige Angebote eigene Akzente setzen: Töpferhöfe sind vertreten, selbstgemachte Keramik wird angekündigt, Künstler und Handwerker geben ihr Stelldichein; Führungen an einer Kirchenruine und Friedhofskapelle werden ebenso angeboten wie eine Tour ins Vogelschutzgebiet; eine ‚Kräuterhexe‘ ist angekündigt und es gibt Aufklärung über Heilpflanzen und deren Einsatz in der Gesundheitsprophylaxe; die Besucherinnen und Besucher können lernen, Glasperlen zu drehen oder selbst das Melken mit der Hand ausprobieren; in einer Kooperationsveranstaltung gibt es einen Vortrag über Auroville; und – besonders vergnüglich – es erhält auf einen teilnehmenden Hofgut ein Gratis-Getränk, wer Dirndl oder Lederhosen trägt. Nur drei Beobachtungen hierzu. (1) Thematische und regional-globale Feldvernetzungen: Es lässt sich eine zunehmende Vernetzung in Bereiche jenseits der Schwerpunkte ökologischer Landbau sowie Natur- und Umweltschutz feststellen – unter anderem insbesondere in die Domänen Kunsthandwerk und Gesundheit/Heilung, aber auch zu größeren Initiativen jenseits des Regionalen an regional/globalen Schnittstellen, wie etwa die Kooperation der Höfegemeinschaft Rothenklempenow6 mit dem LeadershipFestival 20197 zeigt.

3 Für das Jahr 2019 siehe: https://www.bund-mecklenburg-vorpommern.de/fileadmin/ mv/PDF/BIO-Landpartie/Hoefe_Liste.pdf vom 18.03.2020. 4 https://www.bund-mecklenburg-vorpommern.de/service/presse/detail/news/machensie-eine-bio-landpartie/ vom 18.03.2020. 5 https://www.bund-mecklenburg-vorpommern.de/fileadmin/mv/PDF/BIO-Landpartie/ Hoefe_Liste.pdf vom 18.03.2020. 6 http://hoefegemeinschaft-pommern.de/startseite/ vom 18.03.2020. 7 https://leadershipfestival.wixsite.com/lsf19 vom 18.03.2020. Beim Leadership Festival handelt es sich um ein jährlich wiederkehrendes Netzwerk-Treffen von Akteuren und Institutionen, die sich – unter maßgeblicher Beteiligung des Presencing Institute (https://www.presencing.org/aboutus/theory-u vom 18.03.2020) – der Weiterentwicklung, Verbreitung und Umsetzung der ‚Theorie U‘ widmen, einer Change-ManagementMethode (Scharmer, Claus Otto: Theorie U – von der Zukunft her führen. Öffnung des Denkens, Öffnung des Fühlens, Öffnung des Willens: Presencing als soziale Technik, Heidelberg: Auer 2009 [engl. 2007]), bei der es um Zukunftsfähigkeit als Kernthema der Unternehmensführung geht – siehe auch http://theory-u.eu vom 18.03.2020.

Die BIO-Landpartie | 125  

(2) Konstituierende Zusammenhänge: Stichwort Vergemeinschaftung – Es entsteht eine kurzfristige Event-Gemeinschaft um ein ‚mal völlig freies‘, ‚mal thematisches Ereignis‘. Letzteres ist z.B. als „Erntedankfest“ markiert. – Stichwort Tradition: Traditionsbezüge finden sich in Gestalt von (wohl nicht wirklich ernst gemeinten) konstruierten Neuerfindungen; Dirndl und Lederhosen gehören sicherlich nicht zu den regionalen Eigenheiten Mecklenburg-Vorpommerns, und die Assoziation von Heilkräuterkunde und Kräuterhexe wäre eigener Überlegungen wert. – Stichwort Raum: (Ehemals) religionsaffine Orte scheinen auch als Ruinen eine gewisse Attraktivität bewahrt zu haben, jedenfalls sind sie eines gemeinsamen Ausflugs wert. (3) Sinneserfahrungen: Sehen, schmecken, hören, riechen, fühlen – alle Sinne werden bei der BIO-Landpartie angesprochen. Die Ganzheitlichkeit der Erfahrung macht sicherlich einen besonderen (im doppelten Sinne) ‚Reiz‘ aus; nicht nur zur Rezeption, sondern auch zum Mitmachen, zur Aktion. Setzen wir diese Beobachtungen zu unserem Projekt „Märkte des Besonderen“8 in Beziehung, lassen sich einige – wenngleich sehr äußerliche und oberflächliche – Assonanzen erkennen. (1) Auffällig ist, dass sich die drei Bereiche der von uns identifizierten „erweiterten religiösen Felder“ als vernetzte Domänen auch hier abbilden lassen: Ökologie, Kunst und Heilung.9 Zudem verweisen die global/regionalen Schnittstellen auf Theorie- und Handlungsfelder jenseits traditioneller Management- und Ökonomiestrategien. (2) Eventgemeinschaft, posttraditionale Traditions‚erfindung‘ – Traditions‚bildung‘ wäre sicherlich zu viel gesagt – und besondere (potentiell und latent ‚auratische‘) Orte eröffnen Erfahrungsdimensionen jenseits des Alltäglichen, die bereits in unserem „Religionshybride“-Projekt wichtige Referenzfelder markierten.10 Hier bleiben sie sicherlich Randerscheinungen und wenig profiliert, annoncieren aber zumindest formale, äußerliche Bezüge. 8 https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/289663135?context=projekt&task=showDetail&id=289663135& vom 18.03.2020. 9 Mickan, Antje/Klie, Thomas/Berger, Peter A. (Hg.): Räume zwischen Kunst und Religion. Sprechende Formen und religionshybride Praxis, Bielefeld: transcript 2019; Tulaszewski, Martin/Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Was Heilung bringt. Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde, Bielefeld: transcript 2020. 10 Berger, Peter A./ Hock, Klaus/ Klie, Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer 2013; Dies. (Hg.): Hybride Religiosität – posttraditionale Identitäten. Kirchbauvereine, Gutshausvereine und alternative Gemeinschaften in Mecklenburg-Vorpommern (Rostocker Theologische Studien 26), Münster u.a.: LIT 2014.

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(3) Das ästhetische Moment ist innerhalb der von uns beobachteten „Märkte des Besonderen“ nur im erweiterten religiösen Feld von Kunsthandwerk und spiritueller Kunst explizit thematisiert worden und war auch im „Religionshybride“-Projekt nicht dezidiert zur Sprache gekommen. Das hatte bzw. hat selbstverständlich mit den Gegenstandsbereichen bzw. mit dem Theoriedesign zu tun. Ein auf Ästhetik fokussierender Zugang könnte hier eine zusätzliche Perspektive auf die zu untersuchenden Phänomene eröffnen und insbesondere die Diskussion über mögliche Übergänge vom allgemein Ästhetischen zum religionshybrid Ästhetischen vertiefen. Auch für den praktischen Forschungsprozess, namentlich die Recherche und die Interpretation der erhobenen Daten, wäre die Rezeption und versuchsweise vorgenommene Applikation entsprechender theoretischer Überlegungen künftig sicherlich überlegenswert. Dabei könnte insbesondere die konzeptuelle Unterscheidung zwischen einem ästhetischen und einem aisthetischen Zugriff im Analyseprozess zielführend sein. Dadurch würde „beispielsweise religiöse Erfahrung nicht in Parallele zur ästhetischen Erfahrung konzipiert, sondern prinzipiell als ein medial vermitteltes Wahrnehmungsphänomen“ 11 beschrieben und die untersuchten Zeichensysteme entsprechend ihrer ästhetischen bzw. aisthetischen Qualitäten „in ihrer Differenz ausgearbeitet“12 – ein wichtiger Schritt hin zur Frage nach den Übergängen von Nicht-Religiösem und Religiösem. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei – wie bereits eingangs vermerkt – nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es weder bei der BIO-Landpartie noch bei der hier abgedruckten Präsentation um Religion oder Religionshybrides geht. Aus der Perspektive unseres Forschungsprojekts sind aber immerhin einige Phänomene auszumachen, an denen sich gegebenenfalls weitere Elemente anlagern und somit perspektivisch nahelegen könnten, sie unter bestimmten Rahmenbedingungen als „religionshybrid“ in den Blick zu nehmen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

11 Mohn, Jürgen: „Wahrnehmung der Religion. Aspekte der komparativen Religionswissenschaft in religionsaisthetischer Perspektive“, in: Erwägen, Wissen, Ethik, 23/2 (2012), S. 241–254, S. 306. 12 Ebd., S. 307.

Idee und Geschichte des Hofes Medewege Gemeinsamkeit versus Gemeinschaft Peter Zimmer

1.  ZUM VORVERSTÄNDNIS (THOMAS KLIE) Groß Medewege liegt etwa 4 km nördlich von Schwerins Zentrum, der Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern. Bevor dort die biodynamische Landwirtschaft betrieben wurde, gab es bereits ein Gutshaus, 1829 erbaut. Das ehemalige Gut beherbergte neben der Gutsfamilie auch Mägde, Knechte und Tiere. Zu DDR-Zeiten war der Hof zunächst ein sog. „Volkseigenes Gut“, später wurde es zu einer LPG. Nach 1989 wurde der Hof nicht mehr bewirtschaftet. Die Häuser waren zwar zum Teil noch bewohnt, aber sie waren stark renovierungsbedürftig.  Als der Schweriner Waldorfverein 1991 nach Räumlichkeiten suchte, wurde ihm die Gutsanlage zur Verfügung gestellt, in dem sich noch heute der Kindergarten befindet. 1992 schon musste der Kindergarten erweitert werden, zum Ausbau kamen Künstler und Handwerker dazu.  Heute besteht Hof Medewege aus einer bunten Gemeinschaft von Betrieben, Projekten und Initiativen. Die dort landwirtschaftlich produzierenden und verarbeitenden Betriebe gehören dem Demeter Anbauverband an: Ackerbau, Viehzucht, Gärtnerei, Obstbau sowie Imkerei und Mühlenbäckerei. Die einzelnen Betriebe des Hofes sind eng miteinander verknüpft, sie beliefern und unterstützen sich gegenseitig. Wirtschaftlich arbeiten sie jedoch unabhängig voneinander. Ein Kulturverein ist Ansprechpartner für Führungen, Seminare, Konzerte und Aktionstage wie z.B. das Hoffest. Insgesamt sind auf Hof Medewege über 140 Personen beschäftigt, es wohnen hier jedoch nur 70 Menschen. Täglich kommen ca. 300 Kunden und Besucher auf den Hof.

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Abbildung 1: Hoffest; Foto: Peter Zimmer / Hof Medewege

„Ökologie – Gemeinschaft – Spiritualität. Ganzheitliche Lebensweisen auf den Märkten des Besonderen“ – so lautete der Titel des Workshops, für den ich diesen Beitrag vorbereitet habe. Das Forschungsprogramm, in dessen Zusammenhang dieser Workshop stand, befasst sich insgesamt mit drei Schwerpunktbereichen, nämlich „Kunsthandwerk und spirituelle Kunst“, „Heilung und Heil“ sowie „Ökologie und Spiritualität“. Dazu möchte ich bemerken, dass der Hof Medewege Angebote und Aktivitäten in allen diesen Themenbereichen vorhält.1 Kunsthandwerk und spirituelle Kunst – Die vereinte Elternschaft des Waldorfkindergartens auf Hof Medewege zeigte Kunstsinn, als sie meine Kollegen und mich Anfang 1992 beauftragten, den zum Gebäude gehörigen zweiten Gruppenraum2 künstlerisch zu gestalten, teils per Elternbaukurs. „Hobelbank und Altar“ zu vereinen, die Trennung von nur-profaner Werkwelt und heilig-scheinender Sonntagswelt zu überwinden, gehört zu Anthroposophie und Waldorfbewegung immer dazu. Als ästhetisches Zeitphänomen findet man das zu Beginn des letzten Jahrhunderts überall, angefangen bei Teilsegmenten des Jugendstils, wie etwa beim Werkbund oder frühen Idealen des Bauhauses. 1 Dieser Beitrag rekurriert eng auf die Texte der hofeigenen Homepage: https://www.hofmedewege.de/. Der Duktus und die Formulierungen wurden weitgehend übernommen, ohne jeweils die Zitationen bzw. Paraphrasen als solche zu kennzeichnen. 2 https://www.bettlerei.de/raeume.html, Kindergarten Schwerin, vom 10.03.2020.

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Abbildung 2: Hof Medewege; Foto: Peter Zimmer / Hof Medewege

Von Anfang an gehörte auch die Kunst3 zur Programmatik von Hof Medewege. Seien es Möbel im Kindergarten, (Filz-)Bilder in den verschiedenen Ferienwohnungen, Steinmetzarbeiten des Gärtners im Kräutergarten. Und schließlich schmiedete der Bauer „Acker-Eisen“ und den Kerzenständer für unseren Kultursaal. In diesem Kultursaal veranstalten unsere musikbegeisterten Bewohnerinnen und Bewohner Konzerte,4 selbst eine Theatergruppe hatte sich für eine gewisse Zeit gebildet. Auf einem interkulturellen Jahreskalender5 wird nach dem Adventskalenderprinzip wöchentlich der Sonntag markiert. Darauf kann jeder den Lauf der Jahresuhr lesen und erfahren, wer von den Hofbewohnern in der begonnenen Woche Geburtstag hat. Anlässe für jahreszeitliche Feste6 werden bewusst gesucht, teils familiär gefeiert und gepflegt, teils auch von einer Frauengruppe des Hofes mit Freundinnen von außerhalb. Heilung und Heil – Therapeutische Angebote gab es schon früh auf dem Hof Medewege. Die Kombination von Landwirtschaft und Therapie ist bereits seit 3 https://www.hof-medewege.de/de/kunst-und-handwerk vom 10.03.2020. 4 https://www.hof-medewege.de/de/betriebe/kulturverein/projekte-des-vereins vom 10.03.2020. 5 https://flussbettnerei.net/Calendar-Program.html vom 10.03.2020. 6 https://flussbettnerei.net/files/c/Der_Filzkalender_Wochenbluetenblaetter_1.jpg vom 10.03.2020.

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1830 durch die damals auf dem Medeweger Feld gegründete „Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg“7 fest in der geistigen Geschichte des Hofes verankert. Die Patienten kamen nicht nur zur Arbeitstherapie, sondern hatten hier auch Wohnmöglichkeiten – bis zur Wende. Heute trennen die Bahntrasse und die gewachsene Landeshauptstadt Schwerin die ins Helios-Klinikum integrierte Psychiatrie vom Hof. Therapeutisch genutzt wird die Arbeit auf unserem Hof dennoch, u.a. von der Kinderpsychiatrie. Und es kommen immer wieder soziale Träger auf den Hof zu, um seine anregende Vielfalt für behinderte oder schwererziehbare Jugendliche zu nutzen. Kunst- und Psychotherapeuten leben auf dem Hof, 2004–16 gab es sogar ein eigenständiges Therapeutikum. Ökologie, Gemeinschaft, Spiritualität – Was bedeutet Ökologie, wie verwenden wir in Medewege heute den Begriff? Zumeist wird damit hingewiesen auf den Respekt vor der Umwelt, der Natur. Beide werden dabei durchaus zunächst dinglich-gegenwärtig und räumlich vorgestellt. Es gibt aber auch einen zeitlichen Respekt vor hergebrachten Werten, vor guter Tradition. Dieser Respekt war früher wichtiger und selbstverständlich religiös geprägt. Was wir damit praktizieren, ist in gewisser Weise letztlich eine ökologische Haltung gegenüber den Verstorbenen. Und natürlich denken wir bei diesen Stichworten an unsere Kinder und Enkel, ist doch Verantwortung vor der Zukunft ein großes Thema. Der Respekt gegenüber der Wirklichkeit der Ungeborenen bringt eine große Offenheit mit sich – das sehe ich als die neueste und wohl auch bewusst religiöse Haltung. Ein „Markt des Besonderen“ ist der Hof Medewege sicher für die meisten seiner Besucher. Sie suchen hier „Sinn-guläre“ Produkte, die von Künstlern und Therapeuten erzeugt und bereitgestellt werden, auch von den Pädagogen. Rein quantitativ verbinden die Besucher mit uns aber vor allem ökologische Landwirtschaftsprodukte. Ist Hof Medewege ein Religionshybrid? Aus der Selbstsicht heraus lässt sich dies schwer einschätzen. Nicht viele Hof Medeweger sind kirchlich orientiert bzw. explizit religiös. Von Anfang an war die Trägergruppe sehr bunt zusammengesetzt im Blick auf ihre Biographien und ihre Weltanschauungen. Sicher waren die meisten anthroposophisch oder „waldörflich“ gesinnt und natürlich Demeter-orientiert. Ost-Grüne gehörten ebenfalls von Anfang an dazu, und eben auch Menschen aus alternativ-evangelischen Kreisen, wie sie sich besonders in Ostdeutsch­land herausgebildet hatten. Die Ostkirchen waren ja immer auch ein Sammelbecken für alles Alternative; das ging auch nicht anders in der DDR. Und so fanden ganz selbstverständlich auch Taufen statt in der Holzwerkstatt auf dem Hof. Natürlich waren dies Taufen im Sinne der Christengemein7 Diese Klinik auf dem Sachsenberg in Schwerin war seit 1830 eine psychiatrische Klinik und Heilanstalt, die für Mecklenburg eine zentrale Funktion innehatte.

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schaft, schließlich ist dies die einzige Religionsgemeinschaft, die ihre Taufe nicht zwangsweise mit einer Mitgliedschaft verbindet. Eine gemeinsame konfessionelle Religiosität hat sich dadurch aber kaum entfaltet, wenn man die angesprochenen Jahresfest-Feiern einmal zu den nicht-religiösen Anlässen zählt. Wir begehen z. B. alljährlich ein weihnachtliches Stallsingen, bei dem die Kühe außer dem Gesang auch gesalzenes Brot bekommen. Manchmal werden auch die anderen Tiere noch bedacht und besungen. Auch haben wir etwa seit 2000 den Brauch, am Ostersonntagmorgen mit Sonnenaufgang das Osterfeuer groß werden zu lassen aus einem von Karfreitag-Nachmittag an im Brennholz-Tipi gehüteten kleinen Feuer – was unseren Kindern eine ganz andere Feuerstimmung schafft als die abendlichen Großfeuer es möglich machen. „Gemeinschaft versus Gemeinsamkeit“ ist der Untertitel meines Beitrags, woraus sich ein Bezug zur Religion wohl eher anbahnen lässt. Das Pfingstthema der Gemeinsamkeit ist natürlich religiös bestimmt – allerdings haben wir die sich allmählich herausbildende Gemeinsamkeit keineswegs planvoll als die uns angemessene Form betrieben. Die Hof-Gemeinschaft entstand gewissermaßen durch ein „Opfer“, das uns im Nachhinein jedoch viele Vorzüge und Vorteile brachte: Die Waldorfvereinigung verzichtete auf ihr Ideal der handlungspädagogischen Schule auf dem Hof. Und diese Selbstzurücknahme, dieses Opfer, brachte uns einerseits den Freiraum für die eigene Entwicklung und andererseits konnten wir ganz undogmatisch die Waldorfnähe und Demeter-Qualität als verbindende Gemeinsamkeit leben. Dass der Verzicht sich lange hinzog, machte ihn leichter – fast unbemerkt und wohl gänzlich tränenlos vollzog sich dieses Leid. Im Folgenden habe ich ein paar Texte aneinandergereiht, die das (ungeplante) Werden unserer Gemeinsamkeit beschreiben und die damit verbundenen Qualitäten verständlich machen sollen. Ganz gewiss ist unsere Form nicht die von Dieter Brüll8 beschriebene Gemeinsamkeit, aber seine grundlegenden Thesen werfen ein klärendes Licht auf Vieles, was mit der Entwicklung unseres Hofes zusammenhängt.

2.  GEMEINSCHAFT VERSUS GEMEINSAMKEIT Die beiden Gesellungsformen „Gemeinschaft“ und „Gemeinsamkeit“ beschäftigen uns auf dem Hof Medewege schon lange. Am Anfang stand die Frage nach der verbindlichen Struktur unserer zu entwickelnden Hofgemeinschaft (oder besser: 8 Deutscher Sozialwissenschaftler und Anthroposoph (1922–1996). Siehe seinen biographischen Eintrag in der Online-Dokumentation der anthroposophischen Forschungsstelle Kulturimpuls: http://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=102 vom 10.03.2020.

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Hofgemeinsamkeit). Sie verbindet sich mit einer Erinnerung: 1984 war ich Student der Alanus-Hochschule9 in Alfter bei Bonn. Als Baumfreund suchte ich das kartierte Naturdenkmal der „Kessenicher Buchen“ auf. Letzte Stammreste standen mannshoch, ein paar gefallene Stammstücke lagen radial. Und der jüngere Wald darum herum formte – ausweichend der vergangenen Krone – diese nach. So waren die „Kessenicher Buchen“ in ihrer Gestalt noch erlebbar, der Umkreis der je nach außen orientierten Umbäume schuf sie als Hohlform. Erst viel später stieß ich auf einen Vortrag von Dieter Brüll und erkannte darin dieses Baumbild wieder. Einige längere Zitate aus diesem Vortrag sollen das verdeutlichen. Einige programmatische Texte zum Hof Medewege sollen hier ebenfalls aufgeführt werden. a. Gemeinschaft Der 1996 in den Niederlanden verstorbene Sozialwissenschaftler und Anthroposoph Dieter Brüll schreibt in „Gemeinschaft und Gemeinsamkeit“10: „Menschen scharen sich um ein gemeinschaftliches Werk; es steht sozusagen in ihrer Mitte; alle arbeiten daran. Diese Gruppenbildung will ich, in Übereinstimmung mit dem Terminus Arbeitsgemeinschaft, Gemeinschaft nennen. – Sie ist der am meisten vorkommende Typ. Wir finden ihn gleicher Weise in Form einer Fabrikbelegschaft, eines Lehrerkollegiums, einer Landesregierung und sogar eines Bridgevereins. […] Gemeinschaft fordert ein Objekt, an dem alle arbeiten, das also noch nicht fertig ist, doch seiner Fertigstellung entgegengeführt werden soll; wie eben der Turm von Babel.“

b. Gemeinsamkeit Bei Gemeinsamkeit geht es „um das Gegenteil von Zusammenarbeit. Menschen finden sich, die einen Impuls gemeinsam haben. Ein Impuls ist eine konkrete geistige Kraft, die als ein reales Ideal Besitz von ihnen ergriffen hat und dem sie ihr Leben weihen wollen. Diesen Impuls haben sie auch in dem andern erkannt, und sie treten zusammen zu dem Gelöbnis, dieser Kraft, die sie als ein 9 Die Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft ist eine seit 2003 staatlich anerkannte private Kunsthochschule in freier Trägerschaft mit Standorten in Alfter und Mannheim. Sie bietet Studiengänge an aus den Bereichen Architektur, bildende Kunst, Eurythmie, Kunsttherapie, Bildungswissenschaft, Philosophie und Betriebswirtschaft. 10 Dieter Brüll: Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, Stuttgart: Urachhaus 1986, siehe auch https://flussbettnerei.net/gemeinschaft-gemeinsamkeit.html vom 10.03.2020.

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Höheres, als etwas im Verhältnis zum Menschen Vollkommenes erleben, die Treue zu halten und einander in diesem Streben zu unterstützen. So bilden sie eine Schale, die das lebendige Wirken dieser Kraft auffängt. Es ist die Form, die dem Geist erst Macht verleiht. Im Gegensatz zur Gemeinschaft stehen die Gefährten mit dem Rücken zueinander: Jeder steht in seinem eigenen Arbeitskreis. Man braucht einander nur selten zu begegnen. Aber bei jedem Schritt im Leben spürt man die geistige Anwesenheit aller anderen: mahnend oder helfend, um die Situation im Sinne des Impulses zu meistern. Die Soziologie ist an dieser Gruppenstruktur fast ganz vorbeigegangen. Sie spielt sich auch meist im Verborgenen ab. Und wenn sie an das Tageslicht tritt, ist sie nur allzu leicht korrumpiert und zu Äußerlichkeiten, zu Zeremoniellem erstarrt. So kann uns von dieser Seite keine Hilfe zum Verständnis kommen. […] Damit kommen wir zu dem Charakteristikum der Gemeinsamkeit. […] Bei ihr [ist] die Begegnung mit anderen Gemeinsamkeitsgefährten nebensächlich. […] Die Geistschale wird im Rücken gebildet, und der Kreis bildet zugleich eine Rückendeckung für jeden an seinem Platz in der Gesellschaft. Und da man einander nicht ins Antlitz schaut, fällt auch das ganze Problem der Gemeinschaft, der Kampf mit dem Doppelgänger, weg. […] Die Gemeinsamkeit lässt jeden an seinem Platze allein wirken und führt gerade dadurch zu immer intimeren Verbindungen.“ „[…] Jede wirkliche Errungenschaft muss mit einem Opfer erkauft werden. Fragen wir uns, welches Opfer die Harmonie der Gemeinsamkeit fordert, so müssen wir bedenken, dass sie überhaupt nur wirkt, wenn der Kreis geschlossen bleibt. Um dies zu gewährleisten tut Not, dass der Einzelne auch den kleinsten Schritt nur dann macht, wenn ihn alle anderen Gefährten mit vollziehen können. Kann auch nur einer es nicht, dann muss der ganze Kreis warten; vielleicht Jahre. Dabei geht es natürlich nicht um das Einholen von Erlaubnis. Jeder soll alle anderen ihrem Wesen nach so in seinem Bewusstsein haben, dass er weiß, wie jeder Gefährte der zu fällenden Entscheidung – äußerlich, aber vor allem innerlich – gegenübersteht. Darum müssen Gemeinsamkeiten klein sein. Und weil, wenn der eine endlich so weit ist, der andere gerade in einer Periode des Stillstandes lebt, ist die Immobilität einer Gemeinsamkeit meist erheblich.“ „Suchen wir nach dem Urbild der Gemeinschaft, so finden wir es unschwer in Christus mit seinem Jüngerkreis. In all seiner Erhabenheit hat der Sohnesgott für das Vollbringen seiner Erdenaufgabe doch die Hilfe eines Menschenkreises nötig. Dieser Kreis ist Mitschaffer an dem großen Werk. Und Christus bringt seine Anerkennung durch die Fußwaschung am Gründonnerstag zum Ausdruck. Die eigentliche Arbeit der Zwölf ist damit geleistet. Aber gleich wie der Handwerksmeister seinen prüfenden, wertenden Blick auf das fertige Produkt richtet, bevor er es aus seinen Händen gibt, so setzt auch nach dem Ostersonntag sofort die Belehrung der Jünger durch den Auferstandenen ein. Schaffen und Beurteilung des Geschaffenen gehen nie zusammen. Der Künstler tritt ruhend zurück, wenn er sein Werk beurteilen will; auch die Genesis erzählt uns, dass Gott jeweils nach einem Tagewerk und am siebten Tag der Schöpfung ruhte und das Geschaffene betrachtete: ‚Und siehe da, es

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Abbildung 3: Kürbisernte; Foto: Peter Zimmer / Hof Medewege war gut.‘ So erfahren auch die Jünger erst jetzt, an was sie mitgewirkt haben, was ihre Gemeinschaft bewirken durfte. ‚Das Erwecken aus dem Gethsemaneschlaf‘ nannte es Steiner. Dieses unbeschreiblich freudige Gemeinschaftserlebnis endet abrupt mit der Himmelfahrt. – Man weiß von Künstlern, welch unerhörten Schmerz es für sie bedeuten kann, wenn sie das Produkt ihrer Hände nicht mehr um sich haben können; wenn es zum Beispiel verkauft wird oder verbrennt. […] In dieser Stimmung dürfen wir uns die Jünger zu Himmelfahrt und in den Tagen danach vorstellen: Die Angesichter einander zugewandt, starren sie doch in das Nichts. Bis sie sich umwandten und mit einem Ruck den Pfingstkreis bildeten, den letzten Auftrag erfüllend, der ihnen vor der Himmelfahrt erteilt worden war. ‚An die Völker aller Welt‘ richteten sie sich, so dass ein jedes Volk sie in seiner eigenen Sprache verstehen konnte, und verkündeten ihnen, was sich in Palästina zugetragen hatte. Die Folgen der babylonischen Sprachverwirrung waren zum ersten Mal gewendet. Der gemeinschaftliche Atem, der durch den Durchbruch des Ich in die verschiedensten Sprachen auseinandergefallen war, hatte sich auf der höheren Stufe des Geistselbst wiederhergestellt. […] Damit haben wir die beiden Urbilder, den nach innen und den nach außen gerichteten Kreis, als zeitlich hintereinander liegende Wahrzeichen kennengelernt. Was damals in der Zeit aufeinanderfolgen musste, liegt heute nebeneinander. Die Pfingstgemeinschaft konnte erst nach der Himmelfahrt entstehen […]. Die soziale Wirklichkeit zeigt uns einerseits Gemeinschaften, die, wie wir gesehen haben, im Absterben sind, aber doch noch fortbestehen müssen, solange wir uns als biologische Wesen zu ernähren haben; andererseits

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Abbildung 4: Apfelernte; Foto: Peter Zimmer / Hof Medewege Gemeinsamkeiten, deren erste zu Urpfingsten entstand und die auch heute noch durchaus in ihren Anfängen stehen.“ – Soweit zunächst erst einmal der Gedankengang von Dieter Brüll.

3.  G  EMEINSCHAFT UND GEMEINSAMKEIT IM HOF MEDEWEGE 11 Wie nun werden diese beiden Gruppenformen bei uns real gelebt? Alle kamen eigentlich als Zweite hierher, gruppierten sich um die Waldorfschulmitte herum, gesellten sich zu den schon Anwesenden, als Nichtpädagogen selbstverständlich orientiert nach außen, voll Vertrauen in die unabhängige Mitte. Die war die Rückendeckung und der Garant guter Fahrtrichtung für das große Ganze, Befreiung zum eigenen Außentun. Als diese Mitte wegfiel, weil sich die Schule woanders eine Bleibe suchen musste, entstand durch dieses „Opfer“ die Freiheit, unsere Mitte neu zu bestim-

11 Hof Medewege als Gemeinsamkeit? Peter Zimmer, Texte von 10/2012–09/2013. Das Folgende findet sich ebenfalls unter https://flussbettnerei.net/gemeinschaft-gemeinsamkeit.html vom 10.03.2020.

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men. Dieser Prozess zog sich über Jahre hin und verlief darum relativ schmerzfrei. Mühsam haben wir uns dazu durchgerungen, die Mitte selbst zu verantworten, zu füllen. Als Schwäche fiel das nur deshalb kaum auf, weil uns die lange offene Eigentumsfrage einen Dornröschenschlaf gewährte. Die Freiheit von jeglichem Gruppenzwang erscheint heute vielen, die uns von außen betrachten, als Stärke: Ein Ring mit viel freier Luft in der Mitte ist selten. Aber dieser unser Ring vermittelt auch nach innen Stärke, insofern wir wenig Aufwand treiben, um uns immer wieder neu zu definieren und darum nicht ständig in unendlichen Plenums­ abenden erschöpfen müssen. Normalerweise vereinbaren die „Umkreisler“ alles direkt miteinander. Es gibt klare Eigentums-analoge Verantwortlichkeiten für jede Fläche, jedes Gerät und jedes Gebäude, das schafft eine hohe Effizienz. Doch es gab immer auch (seltene) Momente der Schwäche, denn bei der gewachsenen Fülle unseres Hofes haben wir zunehmend gemeinsame Prozesse zu bewältigen. Und da ist uns immer noch oft der Blick nach innen fremd.

4.  ZUR GESCHICHTE VON HOF MEDEWEGE 12 Wenn nach unserer Gemeinschaft auf Hof Medewege gefragt wird, nach Idee und Inhalt, Form und Struktur, dann lässt sich diese Frage nur anhand unseres Wachstumsprozesses beschreiben, der sich über 20 Jahre hinzog. Am Anfang gab es hier die Waldorfinitiative mit ihrer Idee einer Pädagogik, die den engen Zusammenhang zu Landwirtschaft und Werkstätten im Blick hatte, mit dem Ziel einer Integration beruflicher Ausbildung. Alle anderen kamen gewissermaßen als „Zweite“ dazu, sie bildeten den Gürtel. Er war inhaltlich gekennzeichnet durch „Waldörflichkeit“ und Naturnähe, Demeter und „Bio“, Praxisbezug und Kunsthandwerklichkeit. Dieser eher lockere Bezug sorgte jedoch für eine starke Gemeinsamkeit. Diese Gemeinsamkeit besteht allererst darin, dass wir eine „Runde von Betrieblern“ sind. Ein Ring von selbständigen Betrieben je nach außen orientiert, Schulter an Schulter, in Gemeinsamkeit. Als informelle Runde betreiben wir gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit. Gemeinschaft entsteht aus gut abgestimmter Nachbarschaft, eher selten, sehr selten rund herum den ganzen Kreis erfassend. Und dann treffen wir uns natürlich auch als Bewohner einer alten Gutsanlage. Familiennähe und Gartenleben schaffen wechselnde Gemeinschaftlichkeiten. Wir sind uns einig darin, dass es sich lohnt, hier zu wohnen. Und darum regeln wir alle Belange der „Haus- und Hofgemeinschaft“, „Häus- und Höflichkeiten“ gemein-

12 https://www.hof-medewege.de/de/ vom 10.03.2020.

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sam und einvernehmlich, z.B. wer aufgenommen wird, aber auch Putzpläne und gemeinsame Arbeitseinsätze. Einige aus der Wohnerschaft haben sich zunächst als GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts) zusammengetan. Dann sind wir in Form der Hof-Medewege OHG (Offene Handelsgesellschaft) rechtsfähig geworden, um unsere Basis zu schützen und zu besitzen. Gemeinsam stemmen wir die Schulden, die sich einzeln keiner zugetraut. Als Eigentümer sichern wir Langfristigkeit und sind nach außen ein starker Verhandlungspartner. Wir schützen also den Ring und die gemeinsame Mitte vor Folgen individueller Not, vor Veräußerung und Vererbung an Fremde. Mit Freunden von außerhalb haben wir darüber hinaus einen Kulturverein e.V. gegründet. Sein Ziel ist es, ein Forum für Gespräche zu bilden über neue Ideen und soziale Impulse, die Förderung von gemeinnützigen Belangen, die Trägerschaft für Feste und Veranstaltungen. Einmal im Monat treffen wir uns zum „Medeabend“: als Betriebler, im Kulturverein, als Bewohner und als OHG. Dabei ist die Mitte immer frei. Hineintreten mag, wer für die oder von der Gemeinschaft etwas will, mit Vorschlägen, Anregungen oder Einladungen. Dann findet sich eine Antwort (oder auch nicht). Die Mitte wird dann sofort wieder frei – um im Bild zu bleiben –, wenn der Impulsgeber die Runde wieder verlässt. Manch einem ist dieser Umgang miteinander allerdings „zu dünn“ für eine echte Gemeinschaftserfahrung. Oft sind Werkzeuge gefragt für ein gesundes und zügiges Entscheiden. So haben wir manchmal ein sog. „Mittelwertverfahren“ genutzt, auch einmal die Gesprächsform „Forum“ des „Zentrums für experimentelle Gesellschaftsgestaltung“ in Bad Belzig/Brandenburg kennengelernt. Manche offenen Fragen haben wir mit dem sog. „systemischen Konsensieren“ bearbeitet.13

5.  EINE ANTHROPOSOPHISCHE GEMEINSCHAFT? Uns ist gemeinsam, dass wir die Verbundenheit in einem größeren Ganzen suchen, sonst wären wir nicht hierhergekommen. Uns ging es gemeinsam um etwas Alternatives. Alle brachten die Bereitschaft mit, ihr „eigenes Ding“ neben einer Hauptsache einzubringen. Und da diese vorerst nur eine Idee war und so kaum Anlehnmöglichkeiten bot, musste eines jeden Eigenes selbständig bestehen vor der Außenwelt. 13 Darunter versteht man ein gruppendynamisches Entscheidungsverfahren, bei dem aus den Lösungsvorschlägen der Gruppe jener Vorschlag ermittelt wird, der auf die geringste Ablehnung stößt. Man erfragt also nicht die Zustimmung, sondern das Ausmaß des Widerstands („Systemisches Konsensieren“, SK-Prinzip).

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Abbildung 5: Hof-Café; Foto: Peter Zimmer / Hof Medewege

Von Anfang an gab es viel Offenheit für die Welt „da draußen“, Autarkismus war nie unser Ziel in Medewege. Ein Projekt „Schule“ kann eben nicht gut als Insel funktionieren, und wer sich danebenstellt, kommt selbstverständlich mit viel Bereitschaft, sich anzupassen und sich einzulassen. Es galt, zwar im Sinne einer Hauptsache, aber daneben doch selbständig zu bleiben. Immer wenn neue Interessenten mit einem Aufnahmewunsch kamen, prüften wir sie zunächst stellvertretend für den gemeinsamen Hintergrund. Gediegene Handwerklichkeit, starke Initiativkraft und Eigenständigkeit, fundierte Praxistauglichkeit – das waren die Eigenschaften, die wir von Hinzukömmlingen erwarteten. Dazu kam natürlich die Bereitschaft, sich einzufügen ins Rund. Dabei fühlten wir uns nie als eine Gemeinschaft im Sinne einer „Kommune“, etwa mit Nestangebot für die, die eine Ersatzfamilie suchen. Einige unserer Mitstreiter kommen aus der reinen „Bio-Ecke“, ohne Bezug zur Anthroposophie. Andere kommen mit regional-religiöser, also evangelisch-alternativer Motivationslage dazu. Manchmal fragten wir selbst nach unseren Kriterien für die Aufnahme von „Neuen“. Aber es gab da nie eine verobjektivierbare Antwort, nur wir selbst konnten ja die Antwort sein. Wer zu uns passte, war auschlaggebend. Wer das Rund zu stärken versprach, war dabei. Und so wurde das „bunte Rund“ selber bald unser Ziel, je unwahrscheinlicher die Waldorfschule als Mitte wurde. Im Flyer von 1999/2000 haben wir sogar einen Platzhalter dafür vorgesehen:

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„Fleischerei, Käserei, Gerberei, Brauerei, Töpferei, Gastronomie, Galerie … ? Hier könnte auch Ihre Initiative auftauchen! Wir haben und bieten viel freien Platz für jede Initiative, die Schön & Gut Medewege harmonisch vielfältiger macht.“

Auf unsere Fahnen hatten wir damals die harmonische Vielfalt geschrieben, nicht um ein autarkes Dorf zu werden, sondern um einen „schönen Sinn“ von Zusammenleben zu entwickeln. Dieses Motiv scheint auch heute noch viele anzusprechen, die nach Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten hier fragen. Man will sich fühlen können in einem schönen, harmonisch vielfältigen Rund. Und dies in großer Freiheit und ohne jeden Gruppenzwang. Wird Hof Medewege damit zu einem „Idyllien“? Dies sicher auch. Es ist eben ein überschaubares Abbild der runden Welt. Mit ganzer Zugehörigkeit für jeden, ohne städtische Anonymität (allerdings finden sich alle Möglichkeiten einer Großstadt in unmittelbarer Nähe).

6.  UNSERE ZIELE Ich formuliere an dieser Stelle ein paar Ziele, als einer, der am längsten in Hof Medewege wohnt. Zunächst: Jeder von uns hat seine eigenen Ziele. Die je eigenen Vorstellungen verfolgen zu können, offenen Platz für Initiativen und Unternehmungen zu haben, ist für alle Betriebsleiter bestimmt das oberste Ziel gewesen. Dazu kommt, für die Kinder und die Familie einen guten Lebensort zu finden und zu entwickeln. Schließlich war der Waldorfkindergarten schon da, bevor „die Zweiten“ kamen. Und für viele war dabei auch die Schönheit der Natur dieses seeumschlossenen Platzes von Bedeutung, seine sichere Abgeschlossenheit. Demeter-Landwirtschaft und -Gärtnerei als gewünschte Basis-Kultur: eine Art „pädagogische Provinz“. Und dies alles nicht allein zu erleben und zu leben, war uns allen selbstverständlich. Zwar in Freiheit und Sicherheit für den Einzelnen, doch auch in guter Verbundenheit mit ähnlich Gesinnten im Kreis. In Offenheit auch für die Außenwelt, stadtnah und marktorientiert. Dabei entstand das „bunte Rund“, die harmonische Vielfalt von allein. Heute aber ist es für uns ein wichtiges gemeinsames Gut, das wir entwickeln und bewahren wollen. Wir, das sind Landwirte und Pädagogen, Künstler und Therapeuten, Handwerker und Vermarkter, Betriebler und Nur-Wohner. Manche wohnen hier und arbeiten außerhalb und umgekehrt, Kinder wie Alte. Uns dabei als eine Gemeinschaft zu verstehen und zu entwickeln, wird für die meisten hier immer wichtiger. Schließlich sind wir eine solche, und es hat sich eben so ergeben. Und da wir über die Jahre zahlenmäßig stark angewachsen sind,

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werden Fragen der weiteren Entwicklung immer wichtiger. Es braucht heute neue Mittel und Wege, Strukturen für das, was früher auf Zuruf so einfach ging. Mit Blick auf die Außenwahrnehmung stellen wir uns vermehrt Fragen danach, ob wir z.B. eine Art „Musterdorf“ werden wollen? Oder zu einem Beispiel für eine gesunde Stadtteilentwicklung und damit zu einem Vorbild für andere? Wollen wir Ideale verwirklichen, oder „blühende Landschaften“ schaffen? Beim Blick nach innen kommt natürlich die Frage auf, was uns programmatisch verbindet: „Waldörflichkeit“ und Naturnähe, Demeter und „Bio“ waren und sind uns selbstverständlicher Hintergrund, dürfen sich in ihren Gewichtungen aber für die Zukunft verschieben. Eine identifizierbare Ausrichtung unserer starken Gemeinsamkeit ergab sich früher von selbst, sie erklärte sich aus unserer Geschichte, heute muss sie gelegentlich neu bewusst gemacht werden. Alle unsere Betriebe arbeiten eigenständig, fast alle hier sind Selbständige. Aber wir sind dabei immer auch vielfältig verbunden im Ring, und uns nach außen meistens einig. Alle fühlen sich im Eigenen frei, wir reden einander da nicht rein. An den Rändern geben wir uns anschmiegsam, z.B. im Vereinbarungsgespräch mit den Nachbarn. Denn so fließt das Leben leichter und besser. Auch das erklärt sich geschichtlich. Wir alle sind gekommen, weil wir Alternativen eher fern vom Mainstream suchten. Diese Suche war aber von Anfang an offen für die Welt „da draußen“. Autarkismus war nie unser Ding. Ein gutes Gespräch mit Stadt und Land zu suchen, dort eine eigene Vermarktung zu entwickeln, das war von Beginn an Art und Ziel. Auch vor Ort war uns die Offenheit immer wichtig, weder Mitmieter noch Mitarbeiter müssen immer Gleiches meinen. Besucher sind immer willkommen, seien es Schulklassen zu Führungen oder Feriengäste. Mit allen lokalen sozialen Trägern gibt es eine gute Zusammenarbeit. Praktikanten aus dem Umland haben wir gerne. Freiwillige vom „Bauorden“ aus vielen Ländern helfen jedes Jahr in Sommercamps. In Projekten des Kulturvereins finden wir den internationalen Austausch von Ideen und Erfahrungen. Fast alle von uns haben reiche Lehr- und Wanderjahre hinter sich. Die meisten haben einen hohen Ausbildungsstand, eine gute Allgemeinbildung und viel Improvisationstalent. Gediegene und künstlerische Handwerklichkeit, fundierte Praxistauglichkeit, starke Initiativkraft und Eigenständigkeit, bei gleichzeitig hoher Bereitschaft, sich einzufügen. Eine hohe Lebensqualität wünschten wir uns und für unsere zahlreichen Kinder: Naturnähe und kurze Wege, wunderbar taugliche Umgebung. Das alles haben wir hier gefunden und erhalten es. Echte Lebens-Mittel schaffen wir selbst, und natürlich nutzen wir unschädliche Baustoffe. Gesucht und gefunden haben wir eine gute Nachbarschaft mit ähnlich Gesinnten. Auch das hat sich ergeben. Viel Geld kann man mit „Bio“ und

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dergleichen nicht verdienen, aber davon abgesehen ist unser Leben hier sehr reich – an Lebensqualität.

7.  BEOBACHTUNGEN (KLAUS HOCK) Der Beitrag von Peter Zimmer ist in mehrerlei Hinsicht äußerst bemerkenswert – auch und gerade deshalb, weil er einerseits aus einer Innensicht heraus das oder zumindest ein Selbstverständnis der Gemeinschaft von Hof Medewege dokumentiert und andererseits auch explizit auf das Forschungsprojekt „Märkte des Besonderen“ zu sprechen kommt. Dabei fällt auf, das er ausdrücklich eine Beziehung zwischen Hof Medewege und allen drei Themenbereichen unseres Forschungsprogramms herstellt, und nicht nur zu den Aspekten „Ökologie“ bzw. „Ökologie und Spiritualität“. Zudem greift er zwei, drei Schlüsselkategorien auf, die für unser Forschungsprogramm von zentraler Bedeutung waren: Zum einen bestimmt er Hof Medewege selbst als „Markt des Besonderen“ und interpretiert die Kategorie der „singulären Produkte“ – inklusive immaterielle Artefakte – als Erzeugnisse, die „Sinn“ enthalten und vermitteln, wobei hinsichtlich der von außen kommenden Klientel, also der Besucherinnen und Besucher bzw. Kundinnen und Kunden, vor allem ökologisch produzierte, landwirtschaftliche Angebote nachgefragt sind. Zum anderen greift er ausdrücklich den Begriff der Religionshybride auf und fragt, ob und inwieweit er auf Hof Medewege anzuwenden sei. Die Antwort hierauf bleibt ambivalent, bestätigt aber implizit die Angemessenheit der Kategorie als Suchbegriff für Phänomene, die jenseits dessen verortet sind, was der Autor als „kirchlich orientiert bzw. explizit religiös“ bezeichnet. Dabei entfaltet er implizit ein ebenso breites Spektrum des Religionshybriden, wie es auch im Rahmen unseres Forschungsprojekts zu skizzieren wäre.

8.  INNENPERSPEKTIVE VS. AUSSENPERSPEKTIVE Entscheidender jedoch als die von uns im Rahmen einer Forschungsprogrammatik entwickelten etischem Kategorisierungen, wie die des Religionshybriden oder von außen angelegter wirtschaftssoziologischer Korrelationsraster zur Erhebung interner Strukturierungen des „erweiterten religiösen Feldes“ sind die hier dokumentierten Selbstbeschreibungen in emischer Perspektive. Was wir von außen als „Religionshybride“ in den Blick nehmen, erweist sich aus der Innenbetrachtung als ein völlig offener Bereich, für den eine genauere typologische Verortung weitgehend sekundär oder gar irrelevant ist. Ganz „selbstverständlich“, wie der Autor schreibt, gibt es nicht nur explizit religiös, in der Christengemein-

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schaft verankerte, sondern auch gemeinsame, etwa am Jahreszyklus orientierte Rituale, die er „zu den nicht-religiösen Anlässen“ zählt – genauso selbstverständlich, wie religiöse Indifferenz keinem Verdikt unterliegt. Das, was der Autor nicht nur in diesem Zusammenhang als „Gemeinsamkeit“ herausstreicht, hat sich „allmählich“ und insbesondere „keineswegs planvoll“ herausgebildet und wird der „Gemeinschaft“, die „zu Äußerlichkeiten, zu Zeremoniellem erstarrt“, kontrastiert. Entscheidend ist hier das quasi Nicht-Intentionale des Vergemeinschaftungsprozesses. Entsprechend wird die sich aufgrund der Nähe zu Demeter, der Waldorfschule etc. naheliegende Kategorisierung des Hofes als „anthroposophische Gemeinschaft“ mit einem Fragezeichen versehen. Wichtiger als kategoriale Zuordnungen zu beispielsweise irgendwelchen „religionshybriden“ Formatierungen oder Orientierungen sind bewusst allgemein gehaltene Bestimmungen dessen, was das Besondere dieser Hofgemeinschaft ausmacht, nämlich dass es um die „Verbundenheit in einem größeren Ganzen“ geht, um „etwas Alternatives“ – und zwar „gemeinsam“, wobei allerdings alle – jede und jeder Einzelne – „ihr eigenes Ding“ einbringen, jedoch offen sind für „die Welt da draußen“. Der Außenperspektive auf die „Märkte des Besonderen“ und ihre interne Strukturierung im Allgemeinen und dem „erweiterten religiösen Feld“ von Ökologie und Spiritualität im Besonderen setzt der Autor die interne Sicht eines Selbstverständnisses entgegen, die auf beinahe spielerische Weise Ökonomisches und Ideelles integriert: von der Kunst – die bemerkenswerterweise von Anfang an und, in Alltagsnützliches integriert, zur Programmatik gehörte – über Heil und Heilung – in Kombination von Landwirtschaft und Therapie – bis hin zur Erzeugung und dem Verkauf ganz konkreter Produkte materieller und immaterieller Art, aber vor allem ökologischer landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Ökologie – im Sinne eines praktizierten Verantwortungsbewusstseins gegenüber den Vorfahren und den Nachkommen – und Ökonomie bilden sich so gegenseitig aufeinander ab und komplementieren sich in ganz unmittelbarer Weise. Dabei kommt der „Gemeinsamkeit“ entscheidende Bedeutung zu. Sie konstituiert sich aus einem Transformationsprozess der ‚Aufhebung‘ herkömmlichen Verständnisses von „Gemeinschaft“, der zugleich die (implizite) Programmatik abbildet. Diese ist einerseits als „keineswegs planvoll“ markiert, andererseits jedoch als Umschlag von einer nach innen, auf eine Objektmitte bezogenen, gleichsam zentripetalen Orientierung in eine nach außen wirkende, von einer freien Mitte ausgehende, quasi zentrifugale Ausrichtung beschrieben. Gleichermaßen organisch bildet sich dies im ökonomischen Modell ab – als ein „Ring von selbständigen Betrieben je nach außen orientiert“ –, das dem wirtschaftlichen Handeln des Hofes zugrunde liegt. Pragmatismus und Idealismus sind in dieser ‚impliziten Pragmatik‘ untrennbar aufeinander bezogen, so etwa bei der Frage nach den Kriterien für die Aufnahme von neuen Mitgliedern: Einerseits werden Fähigkeiten wie „Handwerklichkeit,

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starke Initiativkraft und Eigenständigkeit, fundierte Praxistauglichkeit“ etc. verlangt, andererseits gilt: „[E]s gab da nie eine verobjektivierbare Antwort“.

9.  KONTINGENZ ALS INTEGRAL Wie oben festgestellt, bilden sich Ökologie und Ökonomie wechselseitig aufeinander ab, und zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Konzept der „Gemeinsamkeit“ zu. Dabei spielen auch „religionshybride“ Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle. So wird etwa mehrfach das „Opfer“ als wichtige Metapher bemüht, um die – in ambivalenter Komplementarität: sowohl „keineswegs planvoll“ als auch implizit programmatisch verlaufene – Herausbildung der „Gemeinschaftlichkeit“ zu beschreiben. Es finden sich aber auch religionshybride Metaphern ‚zweiten Grades‘ – der „Kreis“, referenziert beispielsweise durch jahreszyklische Feste oder die freie „Mitte“, entstanden durch ein „Opfer“ im Sinne des Verzichts auf die gegenständliche Mitte, das Objekt, auf das sich alle beziehen und an dem alle arbeiten. Die mit Blick auf die Präsentation von Peter Zimmer gemachten Beobachtungen sind von eminent methodologischer Bedeutung, denn sie markieren Indizien dafür, dass es durchaus angemessen ist, das Konzept der Religionshybride im Forschungsfeld als hermeneutische Kategorie zur Anwendung zu bringen. Gerade dann, wenn bestimmte Phänomene von den Akteurinnen und Akteuren aus ihrem Selbstverständnis heraus nicht als explizit religiös bestimmt werden, aber religiös konnotierte Begriffe insofern an konzeptueller Relevanz gewinnen, als sie metaphorische Bedeutung und Gestaltungskraft zugeschrieben bekommen, ist dies durchaus ein Anzeichen für ihre „religionshybride“ Dimension. In diesem Fall wird nicht von außen a priori ‚Religion‘ unterstellt, wo vielleicht überhaupt nichts Religiöses zu finden ist, also nichts ‚hineininterpretiert‘, sondern es werden die im Rahmen ihres Selbstverständnisses von den Akteurinnen und Akteure referierten Deutungen expliziert. Vielleicht dürfen wir im vorliegenden Fall ausnahmsweise einen Schritt weiter gehen und eine den Rahmen des Selbstverständnisses überschreitende etische Interpretation vorschlagen, mit der die hier von Akteursseite skizzierte Konstellation noch weiter ausgedeutet wird. Mehrere der hier als religionshybrid kategorisierten Metaphern ersten und zweiten Grades – „Opfer“ als Verzicht, freie „Mitte“, nach außen wirkender „Kreis“ – mögen Assoziationen zu manchen Topoi fernöstlich inspirierter Spiritualität wecken. Doch bei weitem prägender scheint ein anderes Motiv, das in Wendungen verborgen sein mag, die immer wieder darauf hinweisen, dass die Dinge sich „keineswegs planvoll“ oder „von selbst“ ergeben (haben). So wird eine Art

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des Umgangs mit Kontingenz angedeutet, die versucht, durch De-Zentrierung und Aufhebung von Objektivierungsprozessen ein Integral zu bilden – im doppelten Sinne der mathematischen Bestimmung als „Summenausdruck über die Differenziale eines endlichen oder unendlichen Bereichs“, wie der Duden die Wortbedeutung erklärt,14 und einer Weltsicht, die Geistiges und Materielles, Ökonomisches und Ideelles, Ökologie und Spiritualität integriert (aus Lebensmittel werden „Lebens-Mittel“). Dies alles geschieht im vorliegenden Fall sicherlich nicht im engen Sinne einer theoretischen Rahmung entsprechend bestimmten Modellskizzen à la Teilhard de Chardin, Aurobindo Ghose oder Ken Wilber15 und anderen, wenngleich solche Assonanzen sich durch den Bezug auf anthroposophische Entwürfe nahelegen könnten. Kontingenz als Integral heißt hier vornehmlich: Integration mittels „Gemeinsamkeit“, durch die Ökonomie und Ökologie – letztere verstanden mit raum-zeitlicher Dimension als „ökologische Haltung“ im Sinne einer „Verantwortung“ für die Menschheit, einschließlich der früheren und der künftigen Generationen – ein integrales Ganzes bilden, das eine große Offenheit und Orientierung „nach außen“ mit sich bringt, und: „Auch das hat sich ergeben“.

14 https://www.duden.de/rechtschreibung/Integral vom 02.04.2020. 15 Siehe exemplarisch Aurobindo, Sri: Der integrale Yoga. Erstmalig aus seinen Werken übersetzt. Mit einem Essay „Zum Verständnis des Werkes“ und einer Bibliographie von Otto Wolff (Östliche Philosophie und Literatur 1), Hamburg: Rowohlt 1957; Teilhard de Chardin, Pierre: Der Mensch im Kosmos, München: Beck 1959; Wilber, Ken: Integrale Spiritualität. Spirituelle Intelligenz rettet die Welt, München: Kösel 2007.

„… so ein Stoffersatzdenken …, das ist mir ein bisschen zu wenig“ – eine Fallstudie Klaus Hock

1.  „ … WENN LANDWIRTSCHAFT, DANN ÖKOLOGISCH“ Michael und Amelie betreiben in Vorpommern seit 25 Jahren biologisch-dynamisch den Bio-Hof ‚Sonnengut‘ mit 50 Hektar Land.1 Tierhaltung (Rinder und Mastschweine) und Käseproduktion bilden die Hauptsäulen des Betriebs. Im Hofladen werden neben Käse, hausgemachtem Eis, Fleisch- und Wurstwaren aus eigener Produktion auch Milchprodukte, Gemüse und Brot von anderen Bio-Höfen aus der Region sowie darüber hinaus weitere Produkte angeboten – von Naturkost über Kosmetik bis zu ökologischen Reinigungsmitteln. Vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter helfen in Teilzeit auf dem Hof mit aus. Die Betreiber sind von Haus aus keine Landwirte und haben sich autodidaktisch die Expertise zur Führung des Bio-Betriebs angeeignet. Ursprünglich als Selbstversorgerlandwirtschaft angelegt (1992), konnte das Vorhaben etwa 15–20 Jahre nach seiner Anmeldung als Betrieb (1995) so viel erwirtschaften, um die Familie davon zu ernähren. Kurz nach der Zulassung hat sich der Biohof ‚Sonnengut‘ dem Demeter-Verband angeschlossen. Michael hatte bis 1989 als Tierpfleger gearbeitet und war mit einer Tierhaltung zu Amelie gezogen, die ein kleines Grundstück besaß, das zu der Hofstelle gehörte. Amelie war bereits ein Jahr vor der friedlichen Revolution mit ihrem damaligen Mann und ihrem damals vierjährigem Kind, das unter Asthma litt, hierhergezogen – „so Stadtflüchtlinge, Aussteiger“ (Ö05, Z. 38) –, hatte sich nach der Geburt des zweiten Kindes von ihrem Mann getrennt und als gelernte Bauingenieurin anschließend bei einer zivilgesellschaftlichen ökologischen Initiative gearbeitet. Für beide war die Wende eine wichtige Zäsur. Michael meint im Rück1 Alle Namen, auch die des Bio-Hofs, sind geändert.

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blick: „… nach der Wende war ja so’n bisschen so’n Loch auch – ‚Wir wollen ja alle die Welt retten!‘ Und … aus dem Entwurf eines alternativen Lebens … entstand sozusagen der Wunsch nach ’ner Landwirtschaft…“ (Z. 6–9). Amelie und Michael betrachten ihr Tun als Berufung – „Anders würde das nicht gehen“ –, wobei sie den Beruf als Mittel (Geld verdienen) zum Zweck (Leben) sehen: Beides ist „verschmolzen“, „nicht trennbar“ (Z. 99), „wie siamesische Zwillinge verwachsen“ (Z. 111). Dabei war das eigentlich „nicht gezielt so gewollt, sondern es ist einfach über die Jahre so entstanden“ (Z. 101). Die Entscheidung dafür, einen ökologischen Betrieb aufzubauen, war für beide nicht das Ergebnis einer Wahl, und Michael betont, es habe für ihn „eigentlich immer nur eine Option gegeben. Also wenn Landwirtschaft, dann ökologisch“ (Z. 199), wobei auch Naturschutz und Umweltgedanke seine Motive mitgeprägt haben. Michael und Amelie betrachten das Ökologische als Lebensform, und was diese Lebensform ausmacht, beschreiben sie immer wieder mit der Metapher der Verwobenheit: von Privatem und Betrieblichem, von Beruf und Privatleben. Dies erstreckt sich auch auf Mitarbeitende: „Wenn wir einen Angestellten haben, der läuft auch immer bei uns im Privatbereich denn immer mal punktuell mit rein. … Und da will man dann natürlich jemanden haben, den man gut leiden kann“ (Z. 159f.; Z. 162).

2.  LEBENSFORM UND ÖKONOMIE Als Autodidakten hatten Michael und Amelie besonders in der Anfangszeit viel Lehrgeld zu zahlen – „wir mussten ja den Kapitalismus erst begreifen“ (Z. 219), und „zu Anfang haben wir uns noch mächtig gewehrt, ne. Also da regt man sich noch furchtbar über irgendwelche Ämter auf“ (Z. 223f.). Das Verhältnis zu den Behörden sehen sie inzwischen pragmatisch: „Wir … versuchen uns da auch mit zu versöhnen, dass man sozusagen die Gesellschaft oder den Staat mit seinen Institutionen nicht als – als Gegner sieht“ (Z. 25–27). Ähnlich beschreiben sie ihr Verhältnis zur konventionellen Landwirtschaft: „Früher waren das ja die Feinde – so quasi. Dann hat sich das so ein bisschen gewandelt. (Z. 541f.) … [W]ir versuchen sie einfach als Kollegen zu sehen, die anders wirtschaften … (Z. 546f.) und man muss sich helfen, das ist einfach so“ (Z. 567).

Für die Vermarktung der Produkte sind zwei Kundenbereiche wichtig: einer, der aus dem 20-km-Umkreis kommt und Produkte aus dem Hofladen bezieht – dieser macht etwa 20 Prozent des Umsatzes aus –, und ein größerer, der über den re-

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gionalen Handel an Naturkostläden und Biomärkte in den Städten beliefert wird. Ökonomisch rechnet es sich jedoch nicht, über Großhändler in den Metropolen Fuß zu fassen. Die regionale Ausrichtung legt sich insbesondere auch mit Blick auf die Haltbarkeit und die Frische der Erzeugnisse nahe. Von zentraler Bedeutung für die Vermarktung ist ein regionaler Vertriebslogistiker, zu dem auch persönliche Beziehungen bestehen. Für viele Produkte spiegeln die Marktpreise nicht die Produktionspreise wider, beispielsweise bei der Butter, für deren Herstellung es viel Handarbeit und eines großen Zeitaufwands bedarf. Dies wird durch Quersubventionierung kompensiert, da sich für andere Produkte die Ertragslage recht positiv darstellt. Nach Einschätzung von Amelie und Michael ist im Gegensatz zum zweiten Kundenkreis – den Endabnehmern in den Naturkostläden oder auf den Biomärkten – der erste Kundenkreis wenig an der ökologischen Qualität der Produkte interessiert: „Also, ich würde mal sagen – so 10 Prozent, denen sagt Demeter was, und der Rest, die kommen auf’n Bauernhof. Und da die Hälfte davon, … denen ist das auch egal, ob wir Bio sind oder nicht – oder ne, vielleicht nicht ganz die Hälfte. (Z. 604–606) … Ja. Sie können das angucken, den Tieren geht’s gut, das ist die Milch von unseren Tieren, wir machen Käse. Also wenn wir das nicht ‚Bio‘ nennen würden, würden sie trotzdem kommen. (Z. 650–682) … Ja, genau, und wir vermarken auch die Romantik. (Z. 684) … [Jedoch] bei den Wiederverkäufern, also die Läden, die wir beliefern, da ist das ganz eindeutig – Bioladen, das müssen Bioprodukte sein, ne. (Z. 691f.) Ja, unsere Existenz hängt auch an dem ‚Bio‘ – auch ökonomisch gesehen“ (Z. 694).

Amelie und Michael sind bestens vernetzt – sowohl, was ihre Marktbeziehungen anbelangt, als auch hinsichtlich ihrer Freundschaften; oft geht beides ineinander über. An einen bereits seit zwei Jahrzehnten bestehenden monatlichen Stammtisch von Biobauern schätzen sie die persönlichen Beziehungen, auch wenn dort durchaus Probleme besprochen werden. „Wie haben das irgendwann mal angefangen … und wir hatten’s auch eher fachlich angedacht … . Es ist aber nie fachlich geworden. … So freundschaftlich“ (Z. 1010–1014). – „Im Gegensatz zu Demeter …“ (Z. 1012), dessen Regionaltreffen mit ihren Fachvorträgen und Weiterbildungsangeboten die beiden gelegentlich besuchen, um ihre Kenntnisse zu erweitern: „[S]olche Treffen sind in der Anfangsphase … ganz wichtig gewesen, ne, dass man einfach sieht, wie tun es andere, ne. Das war teilweise wertvoller als jetzt irgendwie so ein Referent da“ (Z. 589–591).

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3.  DAS KONZEPT DER „GESAMTHEIT“ Wie Amelie rückblickend feststellt, „[war] gleich zur Wende … für mich einfach auch klar, es wird Bio gegessen und dementsprechend auch … ein biologischer Anbauverband gesucht“ (Z. 172f.). Dass die Wahl dann auf Demeter fiel, war eher Zufall: „Jedenfalls den Demeter-Berater, den hatten wir als erstes an der Strippe, und der kam auch gleich und hat uns dann … eingeladen [zu den monatlichen Regionaltreffen; K.H.] … und da sind wir hingegangen … . Und dann haben wir gesagt, ‚Ej, das sind ja so nette Leute!‘ Und wir haben uns so aufgehoben gefühlt …“ (Z. 275–280).

Das Verhältnis zu Demeter ist sowohl für Amelie als auch für Michael einerseits durch einen gewissen Pragmatismus, andererseits durch eine – wenngleich diffuse und nicht genauer fassbare – Sympathie für die weltanschaulichen Grundlagen des Verbandes, mehr aber noch für die damit verbundenen spirituell-praktischen Dimensionen gekennzeichnet: Beide gehen gelegentlich, also nicht ganz regelmäßig zu den Regionaltreffen von Demeter; die anthroposophisch begründete Präparate-Arbeit2 sehen sie eher distanziert – „die Richtlinien verlangen das, und das wird eben abgearbeitet“ (Z. 393); Homöopathie als Heilungskonzept ist ihnen vertraut, allerdings haben sie „keinen emotionalen Bezug dazu entwickel[t]“ (Z. 398). Hingegen ist insbesondere Michael vom Konzept des landwirtschaftlichen Betriebs als eines sich geschlossenen Organismus überzeugt. Zwischen Demeter bzw. der dem Verband zugrundeliegenden Ausrichtung und der Biographie der beiden gibt es durchaus gewisse Resonanzen. Michael macht deutlich: „Es ist jetzt nicht so, dass wir da völlig unbeleckt reingerutscht sind, ne. Also ich komme aus ’nem christlichen Elternhaus und ’ne Großtante von mir und auch meine Großmutter, 2 Dabei wird das sog. „Hornmist-Präparat“ aus dem Horn geschabt, mit Wasser vermischt – dadurch „lassen sich die gesammelten kosmischen Kräfte des Präparats unmittelbar auf das Wasser übertragen“ (https://www.demeter.de/presse/im-frühjahr-braucht-derbauer-vor-allem-geduld-–demeter-bauern-sorgen-jetzt-mit-dem-hornmistpräparat, abgerufen am 12.03.2020) – und auf den Feldern versprüht. Nach dem Selbstverständnis des ökologisch-dynamischen Landbaus „geht es beim Düngen gar nicht nur um das Zuführen von Stoffen. … Kern der Demeter-Bemühungen ist die Verlebendigung des Bodens“ (https://www.demeter.de/fachwelt/landwirte/praeparate/biodynamischen_ praeparate, abgerufen am 12.03.2020).

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die waren – also, da war die Thematik. Ich hab’ das schon immer mal so gehört, dass es da so irgendwie was gibt so, ne. Also das Vokabular war mir nicht völlig fremd. Und ich war jetzt nicht erschrocken von irgendwelchen spirituellen Geschichten oder so was, ne. Wobei wir uns auch heute jetzt nicht irgendwo als Anthroposophen bezeichnen, ne. Also wir erfüllen die Richtlinien, und wir hören uns das wohlwollend an. Und, äh, sag’ ich mal, wir sympathisieren mit ganz vielen Argumenten, … mein Hauptargument ist schon einfach diese spirituelle Komponente und dieses Konzept des Gesamten, also der Gesamtheit auch der nichtmateriellen Dinge, das entspricht mir schon, also ich bin ein spiritueller Mensch, äh, da ist jetzt bei anderen Bioanbauverbänden, die driften mir persönlich oft zu sehr in so ein Stoffersatzdenken rein, ne, also so nach dem Motto, konventionell wird synthetischer Stickstoff genommen und als Biolandbauer gucke ich, wo bekomme ich organischen Stickstoff her, ne. Und das ist mir ein bisschen zu wenig“ (Z. 294–306).

Amelie beschreibt ihre Beziehung zu den anthroposophischen Grundlagen des Demeter-Verbandes als „ähnlich, aber doch ganz anders. Ich bin streng katholisch erzogen worden, aber mit so ’ner ganz komischen Konstellation. Damals gab’s noch keine Ökumene, mein Vater ist evangelisch, meine Mutter ist katholisch, die haben praktisch gegen den Willen der Familie meiner Mutter geheiratet und sich evangelisch trauen lassen. Meine Mutter durfte dann nicht mehr zur Kommunion gehen, da hat sie drunter gelitten und dafür hat sie dann mich in die katholische Kirche gezwungen. Und das war für mich … ich hab‘ das zwar gemacht, aber es war zwiespältig für mich, ne. Und, ähm, ich hab‘ das aber soweit – bis in die Pubertät hab‘ ich das dann mitgemacht und dann hab‘ ich mich da so ein bisschen rausgezogen, bin dann auch-, naja, in der Abiturstufe hab‘ ich dann gesagt, ‚Ich bin Materialist, ich glaube nicht an Gott!‘, so was, ne. Und als ich dann nachher erwachsen wurde, oder so Ende 20 /Anfang 30, da hab‘ ich das für mich neu entdeckt. Aber ich bin auch aus der Kirche ausgetreten, also für mich war klar, die Katholische Kirche das ist einfach auch nicht mein, mein – mein Wirkungskreis, ne“ (Z. 330–341).

4.  SPIRITUALITÄT ALS LEBENSPRAXIS Nach dem gefragt, was ihre Spiritualität ausmache, bemühen Amelie und Michael die Metapher des „Zusammenbastelns“. So führt Michael Folgendes näher aus: „Na, wie das heutzutage so ist, man bastelt sich so seine … äh, wie gesagt, ich komme aus ‘nem christlichen Elternhaus, protestantisch, also was sehr liberal war … . Also wir mussten nicht in den Gottesdienst oder so was. Da wurden wir relativ frei erzogen. Es war aber immer irgendwie so ein bisschen präsent … . Und, ähm, ich hab‘ dann auch als jun-

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ger Mensch so mit Anfang 20 die Institution Kirche sehr in Frage gestellt, die ja in meiner Kindheit ein völlig normales Umfeld war. Und, äh, bin dann irgendwie auch aus der Kirche ausgetreten mit Anfang 20 und, ähm, ja, aber trotzdem ist ja die Spiritualität als solche – ich trenn‘ das immer, ne. Ich sag‘ mal, die Kirche ist ‘ne Firma, die Spiritualität vermittelt. Das macht sie zur Zeit in meinen Augen nicht besonders gut. Also für mich – das ist meine Wahrnehmung, ne. Und ich bastel‘ mir so meine Spiritualität so individuell zusammen, ne. Dann liest man da was vom Dalai-Lama, und denn liest man da irgendwie was anderes, und denn kriegt man irgendwas mit, und denn hört man was und, äh, ja, auch Veranstaltungen über die Anthroposophie. Denn kriegt man da was mit. Ein Pate war jetzt gerade … ne anthroposophische Konfirmation, praktisch so ‘ne Menschenweihe war ich mit dabei und so weiter, ne. Also ich nehm‘ das denn so mit und mach‘ mir so meine Gedanken … “ (Z. 309–323).

Amelie beschreibt ihre Spiritualität in ähnlicher Weise so: „[Ü]ber ‘ne sehr spirituelle Schiene, dieses, ja, Reiki machen und so was, ne, bin ich dann wieder zu so was wie ‘ner Spiritualität gekommen …, ich bastel‘ mir halt was zurecht, ne. Mit Kirche kann ich nach wie vor nicht so viel anfangen, also mit dieser Institution, das empfinde ich ähnlich. Wir reden da natürlich drüber und so was, also das sind natürlich denn auch Parallelen, ne. … [I]ch hab‘ auch ‘nen Haufen Selbsterfahrungsgeschichten gemacht und [bin] auch zu – zu vielen Heilern gegangen und, ähm, [habe] mir auch Sachen von Buddhisten angehört, so Vorträge, also da ist Anfang der 90er viel gewesen. Das hat sich ein bisschen beruhigt bei mir. Ich [habe] einfach nicht mehr so die Hatz, so: ‚Das noch und diese Erfahrung machen und diese Erfahrung machen‘, so, ne, das hat sich so ein bisschen gesetzt. Und ich versuch‘ jetzt einfach so zu leben“ (Z. 342–359). Das waren seinerzeit Erfahrungen „so wie Rebirthing, nochmal die Geburt erfahren, oder Reinkarnation irgendwie vorleben, gibt ja da so verschiedene Techniken mit Atmen oder so, ne. Also ich mache so seit – das ist schon wieder 25 Jahre her, da habe ich mit Tai Chi angefangen, Chi Gong, und dann vor 15 Jahren mit Yoga, da bin ich auch immer noch dabei“ (Z. 362–364).

Beide sehen ihre Spiritualität bei aller „Zusammenbastelei“ jedoch fundamentiert in einer Art Religionen und Weltanschauungen übergreifenden „Lebenspraxis“, zu der Michael einen intuitiven Zugang reklamiert, während Amelie diese Grundlage so beschreibt: „Und, ähm, ich denke-, für mich ist es wichtig, dass ich, äh, versuche, einfach ein guter Mensch zu sein. Und ich, äh, hab‘ das ganz tiefe Vertrauen, dass es was Göttliches gibt – ob es nun der Mann, der Opa mit dem weißen Bart ist, mit den nackten Füßen, der auf der Wolke hängt, wie ich das so in meiner Kindheit-, das ist es nicht. Also, das ist was, äh, was im Lebendigen ist. Aber das ist-, wenn ich sage, da glaube ich dran, das stimmt einfach nicht, das ist einfach in mir. Das empfinde ich so, dass es so ist“ (Z. 347–352). In den verschiede-

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nen Kursen (Tai Chi, Chi Gong, Yoga etc.) „hören wir auch viel … Theorie, so wie das ist, ein guter Mensch zu sein, was macht man, was macht man nicht, das fließt einfach so mit rein. Und deckt sich ein bisschen so mit dem, was ich suche, ne, also Gewaltfreiheit, auch gegen mich selber. Oder zu geben, wenn ich habe, ne, und nicht immer nur zu raffen, solche Geschichten. Auch Verständnis für die anderen Leute zu haben, ne, auch wenn die jetzt ’n bisschen blöd sind in meinen Augen erstmal – also was erstmal, dieses, was ich auch von der Kirche her kenne, die Gebote, ne. Das ist ja letztlich … so ein bisschen so ‚gleich‘ – das kann ein Theologe nicht hören, aber ich finde einfach so viele Parallelen, ne. … Ich finde ja auch diese positiven Seiten, die der Islam hat, also das sind ja auch ähnlich Sachen, du sollst auch ’n guter Mensch sein und sollst ja eigentlich auch andere Menschen nicht betrügen. Was nachher die Menschen machen oder was sie draus machen, das ist ja ’ne andere Sache, aber so diese Grundregeln wie Menschen in der Gesellschaft miteinander umgehen, die sind eigentlich relativ gleich und das find‘ ich gut, also du sollst einfach gut sein, positiv sein, Liebe in die Welt bringen und das zieht sich so bei mir so ein bisschen durch. Und das versuch‘ ich so ein bisschen“ (Z. 365–378).

Dies hat auch für die praktische Arbeit im Betrieb selbst Folgen, und Amelie konkretisiert das, indem sie festhält: „[D]ass ich zum Beispiel Käse mache, finde ich, ist ‘ne große Verantwortung. Ich muss positiv sein, wenn ich mit Lebensmitteln arbeite, weil ich da überzeugt bin von, dass wenn ich ‘ne Scheiß Laune habe oder aggressiv bin, dann ist das auch ein bisschen in dem Käse drin, das will ich nicht, ne. Ich will den Leuten was Positives geben. So ist dann diese spirituelle Ebene“ (Z. 380–384). Auch für Michael wird die spirituelle Orientierung, namentlich in Gestalt der anthroposophischen Grundlagen, für die praktische Arbeit konkret, insbesondere in Gestalt des „geschlossenen Betriebskreislaufs“. Auch wenn ihm dabei bestehende Spannungen und Aporien durchaus bewusst sind – so werden die Tiere letztlich doch auch geschlachtet –, verweist er auf seine Verantwortung und stellt diesbezüglich mit Blick auf das Ideal des geschlossenen Kreislaufs fest: „Also der – der Unterschied für mich ist sozusagen, äh, sie müssen ein gutes Leben gehabt haben, ne, also die Verantwortung der Schöpfung gegenüber, ne, um jetzt mal wieder die spirituelle Dimension da reinzubringen, ne. Das ist schon der große Unterschied für mich, ne“ (Z. 424–426).

5.  GESUNDHEIT FÜR MENSCH UND TIER Mit Blick auf das Thema Gesundheit besteht für Amelie und Michael eine organische Verbindung zwischen dem eigenen Wohlergehen und dem der Tiere. Auch hier wird wiederum die Metapher von der Verwobenheit aufgegriffen: Amelie

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spricht vom „Verweben von Beruf und Themen, die man hat“ (Z. 206), und Michael ergänzt konkretisierend: „Also, weil wir uns gerne gesund ernähren, haben wir angefangen, gesund Käse zu machen“ (Z. 207). Mit Blick auf die Tiergesundheit vertreten beide eine Mischung aus Idealismus und Pragmatismus. Die Sorge um das Wohl der Tiere wird ganz groß geschrieben – „als Bauer hat man ja auch die Verantwortung über Leben und Tod“ (Z. 501f.). Im Allgemeinen ist es so, dass „ein Tierarzt recht selten auf den Hof kommt“ (Z. 434f.), was Michael auch darauf zurückführt, dass er bei der Auswahl der Tiere (wie auch hinsichtlich der Futtermittelproduktion) nicht auf den quantitativen ‚Output‘ achtet – „der Nährstoffkreis, der sich schließt, der kann einfach auf niedrigem Niveau stattfinden“ (Z. 441f.) –, sondern auf die (genetisch bedingte) Resilienz der Rinder bzw. die Qualität der Futtermittel. Dennoch wird in Notfällen der „Tierarzt hier um die Ecke“ (Z. 472) bemüht, denn „es gibt bei Kühen die seltsamsten Krankheiten, hochakute Stoffwechselstörungen um die Geburt herum, wo man einfach ganz schnell ‘nen Fachmann braucht, damit die Kuh nicht stirbt“ (Z. 473f.).

Gelegentlich wird bei Gesundheitsproblemen der Tiere auch ein Verwandter, der als homöopathischer Heiler praktiziert, zu Rate gezogen. Dieser ist zwar kein Tierhomöopath, aber Michael meint: „[W]enn ich ihm was von ’ner Kuh erzähle, denn weiß er, wovon ich rede. … Dann kann er das übersetzen in seine Materia Medica da und seine Symptome“ (Z. 486–489). Da er weiter entfernt wohnt, wird er allerdings in der Praxis selten in Anspruch genommen. Eine früher konsultierte Naturheilerin, die in der Nähe lebt, hat ihre Tierheilpraxis inzwischen aufgegeben; „gerade Tierhomöopathie wird in Mecklenburg-Vorpommern schwierig“ (Z. 492). Wenn sie selbst gesundheitliche Probleme haben, lassen sich Amelie und Michael fast ausschließlich homöopathisch behandeln und greifen nur bei Notfällen auf schulmedizinische Versorgung zurück (Zahnarzt, Augenarzt). Michael nimmt gelegentlich osteopathische Massagen in Anspruch und würde bei akuten Krankheiten zunächst eine Naturheilpraxis in der Region konsultieren, die Traditionelle Chinesische Medizin anbietet. Ansonsten betreiben beide aktiv Gesundheitsvorsorge durch regelmäßiges Yoga.

6.  FAZIT Rückblickend lassen sie die verschiedene Aussagen von Amelie und Michael durchaus systematisch bündeln, wenngleich die Übergänge zwischen den einzelnen narrativen, konzeptuellen und auch figurativen Ausführungen fließend sind,

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mehr noch: sich wechselseitig erklärend komplementieren. Dabei sind die Darlegungen der beiden stark mit – durchaus reflektierten – Deutungen durchwoben, die im Folgenden weiter paraphrasiert und konturiert werden sollen. a. Ganzheitlichkeit Beruf und Berufung, Gelderwerb und Leben, Ökologie und Ökonomie, Privates und Geschäftliches, Tierwohl und Menschenwohl – und die Liste ließe sich wohl noch fortführen – sind untrennbar ineinander und miteinander „verwoben“, bilden ein integrales Ganzes. Wenngleich das Wort ‚Ganzheitlichkeit‘ nicht fällt, lässt sich semantisch damit doch recht gut beschreiben, worum es in dieser ‚Lebensphilosophie‘ geht, die doch zugleich und in erster Linie eine ‚Lebenspraxis‘ ist. Diese zielt gar nicht auf einen irgendwie weltanschaulich fundamentierten esoterischen Holismus. Gegenüber den verschiedenen Angeboten in diesem Bereich besteht eine gleichsam nüchterne, dabei aber durchaus positiv-offene und freundliche Distanz. Die Parameter sind jedoch klar: Es geht um Ausgewogenheit, vielleicht Harmonie, auf jeden Fall eine ‚Aufeinander-Bezogenheit‘, auf die am ehesten mit der Metapher des „Kreislaufs“ referiert wird. Hieraus ergibt sich dann auch eine gewisse Anschlussfähigkeit zu anthroposophischen Positionen, wenngleich diese ebenfalls zwar sympathisierend, aber ohne lehrmäßige Strenge rezipiert werden. b. Dogmenfreiheit und positive Ambivalenzen Diese soeben angesprochene bejahende, aber zurückhaltende Referenz auf geprägte Angebote lässt sich konkret am Verhältnis zur Anthroposophie im Allgemeinen und zum Demeter-Verband im Besonderen exemplifizieren. Die beobachtbaren „positiven Ambivalenzen“ beziehen sich dabei zum einen auf das Organisatorisch-Institutionelle – die Mitgliedschaft im Demeter-Verband – und zum anderen auf das Weltanschauliche, das anthropologische belief system. Die für die Mitgliedschaft notwendige Einhaltung der Vorgaben wird auch da praktiziert, wo wenig Affinität zu bestimmten Auflagen besteht (beispielsweise der Präparatearbeit), und die angebotenen Beratungen werden durchaus wahrgenommen. Doch es ist weniger das Formal-Verbindliche, das beispielsweise bei der Motivation für die Teilnahme an den Regionaltreffen des Verbandes im Vordergrund steht, sondern das Gefühl, dort „aufgehoben“ zu sein, mit anderen Worten: Gemeinschaft zu erfahren. Hinsichtlich des Angebots anthroposophischer Weltanschauung stoßen weniger die vorgeprägten konkreten Lehrinhalte auf Interesse, sondern eher die Grundstimmung eines nicht-materialistischen belief systems, das auf Spirituelles referiert. Entsprechend tritt die lehrmäßige Begründung hinsichtlich des ihr zu-

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grundeliegenden weltanschaulichen Referenzrahmens in den Hintergrund – was sich wiederum in einer Art positiv-offenen und freundlichen Distanz äußert –, aber ‚die Sache selbst‘ wird durchaus ernstgenommen, und so kommen beispielsweise homöopathische Heilverfahren vorbehaltlos zur Anwendung. Konkreter ist lediglich auf die Kreislaufidee als vorgeprägtes weltanschauliches Konzept Bezug genommen. Dies zeigt einen radikal undogmatischen wie auch eklektischen Umgang mit spirituellen oder religionshybriden Angeboten. c. Spirituelle ‚bricolage‘ Die beobachtete undogmatische Einstellung gegenüber Spirituellem kann auch vor dem Hintergrund der jeweiligen Biographien gelesen werden, die nach folgendem groben Muster verlaufen sind: religiöse Sozialisation qua Primärprägung durch ein liberal-protestantisches bzw. streng-katholisches Elternhaus; weitgehender Bruch und Abkehr von der institutionell rückgebundenen Religiosität (Kirchenaustritt); diffuse ‚Neuentdeckung‘ spiritueller Dimensionen jenseits institutionell-organisatorischer oder dogmatisch-lehrmäßiger Festschreibungen. In den religionshybriden Elementen3 momentaner Selbst-Positionierung können sich zwar auch einmal semantische Bezüge finden, die eher eine gewisse Nähe zu Aspekten einer mainstream-Religiosität aufweisen („Verantwortung der Schöpfung gegenüber“, Z. 425). Prinzipiell steht in Sachen Spiritualität jedoch das Spielerische im Vordergrund, dabei allerdings mit tiefem Ernst, was sich durchaus auch im alltäglichen Handeln zeigt: als „Lebenspraxis“ – Tun ist wichtiger als ‚Glauben‘ – in „Verantwortung“: Die Ethik ist der Dogmatik fundamental vorgeordnet. d. Heilung und Gesundheit Mit der Frage der Gesundheit (von Mensch und Tier) bzw. der Heilung im Falle von Krankheit schließt sich – quasi im doppelt metaphorischen Sinne – der ‚Kreis‘ zu dem oben unter a. Festgehaltenen: Durch Aufrechterhaltung und Pflege bzw. Wiederherstellung des „Kreislaufs“ wird Ganzheit ermöglicht und als Lebenspraxis in Vertrauen und Verantwortung realisiert. Dazu bedarf es keiner institutionellen Absicherung und keines Lehrgerüsts, weder einer Kirche noch eines Glaubens – „das ist einfach in mir“ (Z. 351).

3 Berger, Peter A./Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Religionshybride. Religion in posttraditionalen Kontexten, Wiesbaden: Springer 2013.

„Hundertprozentige Einstellungssache“ – eine Fallstudie Thomas Klie

1.  DER ERBHOF UND DIE UMSTELLUNG Luise und Valentin Möhlmann1 haben im Sommer 2013 die 200 Jahre alte Hofstätte der Familie Möhlmann in Mecklenburg übernommen und sie auf die biologisch-dynamische Wirtschaftsweise umgestellt. Dabei hat man sich bald auf die artgerechte Tierhaltung (Hühner, Angusrinder) festgelegt. Der Hof arbeitet nach den strengen Richtlinien des „Demeter“-Verbandes und erzeugt biologisch-dynamische2 Produkte: Rindfleisch, Suppenhühner/„Bruderhähne“, Eier, Kartoffeln – vieles davon auch zu Convenience-Produkten weiterverarbeitet, die im eigenen Hofladen angeboten werden. Wie früher üblich ermöglichen die direkt am Hof liegenden vollarrondierten Flächen die vom Steinerschen Reglement präferierte Synergie von Ackerbau und Tierhaltung. Auf den Ackerflächen wird das Futter für das Geflügel und die Rinder angebaut (Erbsen, Weizen und Körnermais). Der Hof wurde bis in die 1950er Jahre hinein privat bewirtschaftet und ging dann in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) über. Nach der Wende konnte der Großvater von Frau Möhlmann einen Antrag auf Restitution stellen und erhielt schließlich seinen Hof wieder zurück. Nach dem Tod des Großvaters zogen die Möhlmanns vom Niederrhein ins Mecklenburgische. Auch der Vater von Valentin Möhlmann hat eine landwirtschaftliche Lehre absolviert, hat sich dann aber in der Entwicklungshilfe für „Ressourcenschutzprojekte“ in Westafrika engagiert, um den Bauern dort „den ökologischen Landbau irgendwo näherzubringen“ (Z. 79). Und so hat Valentin Möhlmann noch auf der Meisterschule „‘n Konzept geschrieben und angefangen halt umzustellen ... wir hab’n einfach ‘n 1 Alle Namen und Ortsbezeichnungen sind verändert worden. 2 Zur Nomenklatur ausführlich der Beitrag von Klaus Hock in diesem Band.

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Schlepper und ‘n Grubber gekauft, da hab’n hier auch noch Leute gewohnt in dem Haus.“3 Valentin Möhlmann, dessen Vater und Großvater ebenfalls Bauern waren, hatte zunächst eine ganz konventionelle landwirtschaftliche Lehre absolviert – dies allerdings in Niedersachsen auf einem Bioland-Betrieb. Nach der Arbeit auf zwei Demeter-Höfen besuchte Möhlmann dann eine der beiden Meisterschulen mit Fachrichtung Ökologischer Landbau. War man als ökologisch denkender Landwirt damals noch Außenseiter, traf er dort das erste Mal auf „Gleichgesinnte“. Angesichts der 50 Hektar („zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben“) und der noch fehlenden Infrastruktur in Mecklenburg-Vorpommern war schnell klar, „dass man die Wertschöpfung letztendlich einfach auf den Betrieben um einiges erhöhen muss“. Für Ökobetriebe bedeutet dies, dass sie „in einem Metropol-, im Speck­gürtel von irgendwelchen Metropolen sein müssen, um über Direktvermarktung ... diesen Kundenkreis, um Hofläden und so weiter zu bedienen“. (Z. 123–129)

Hierfür musste natürlich zunächst eine ökologische Grundlage geschaffen werden, auch wenn der Zwiespalt zwischen Ökologie und Ökonomie für die Möhlmanns grundsätzlich nicht aufzulösen ist, „weil, wir müssen ja trotzdem davon leben, also das ist so, dieser, dieser Zwiespalt“. „Wir sind kein, kein, kein reiner Naturschützer, sozusagen, vom NABU, der jetzt irgendwie sagt: ,Am besten ist alles voller Unkraut, und guck dir mal diese ganzen Tierchen und so weiter da drinne an.‘ Und trotzdem kann ich mir keinen Acker angucken, der voller Unkraut ist, als Biobauer.“ (Z. 236–242) Die konventionelle Ausbildung und die landwirtschaftliche Tradition der Familie prädeterminieren die Sicht auf das bewirtschafte Land – die Möhlmanns sind keine Öko-Schwärmer, sondern rational kalkulierende Landwirte, die ihre ökologischen Überzeugungen beruflich konsequent einlösen.

2.  DER INDIANER IN EINEM Trotz der ökonomischen Kompromisse, zu der die exponierte Lage in Mecklenburg-Vorpommern, die lückenhafte Infrastruktur und die relativ geringe Ackerfläche nötigen, bleibt ihr ökologisches Engagement „hundertprozentige Einstellungssache“. Dazu zählt der biodynamische Landbau, der auf Rudolf Steiners „Landwirtschaftlichen Kurs“ von 1924 zurückgeht. Dessen Ideal ist die sog. „Kreislaufwirtschaft“, wonach der Landwirt nie nur Tierhaltung bzw. nie nur 3 Interview Öko 1, Z. 42ff.

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Pflanzenbau betreibt, sondern immer beides in ein sorgsam ausgewogenes Verhältnis zueinander bringt. Die Zahl der Nutztiere richtet sich nach der Größe des Landes, das beackert wird. Der Dung aus der Tierhaltung soll wieder dem Boden zugefügt werden. Entsprechend der Demeter-Doktrin wird damit der einzelne Hof zu einem autarken „Hoforganismus“, bei dem sich die „Organe“ Mensch, Pflanze, Tier und Boden komplementär ergänzen. „Hoforganismus [ist] für uns auch einfach ’n wichtiger Begriff.“ (Z. 414f.) Die natürlichen Austauschprozesse innerhalb des Organismus werden geordnet und harmonisiert mittels biodynamischer Präparate.4 Die Entscheidung für die Form des Wirtschaftens formuliert Valentin Möhlmann wie sein Credo („hundertprozentige Einstellungssache“): „Ich sag mal, es ist, man braucht diese Einstellung. Also ich habe nie, sozusagen, für uns gab’s nie die, die Option, konventionellen Landbau zu machen. Niemals.“ (Z. 211–213)

Möhlmann greift hier – wie auch im gesamten Interviewverlauf – nicht direkt auf Steinersche Formulierungen zurück, er lässt hier nur beiläufig seinen anthroposophischen Hintergrund erahnen. Auffällig ist jedoch der implizit aufgemachte Gegensatz: ökologische Gesinnung („Einstellung“) vs. konventionelle Landwirtschaft. Der bio-dynamische Landbau ist für ihn ein fester Bestandteil seines Belief-Systems, das hier zwar nicht expliziert wird, doch als Gesprächsressource im Hintergrund mitschwingt. Dies äußert sich, wenn Möhlmann an zentralen Stellen seiner Narration naturreligiös konnotierte Versatzstücke einspielt: 1. Der Mensch ist nur „ein Gast“ auf der Erde. Diese Formulierung geht auf das bekannte Kirchenlied Paul Gerhards „Ich bin ein Gast auf Erden“ (EG 529) aus dem 17. Jh. zurück. 2. Die in den 1980er Jahren überaus populäre Adaption vermeintlich „indianischer“ Weisheiten durch die westdeutsche Ökologiebewegung (Aufkleber mit der „Weissagung der Cree“ bzw. Ausschnitten aus der Rede des „Häuptling Seattle“). 3. Die biologistische Rationalität der Generationenfolge. 1983 begegnet auf einem Wahlkampfplakat der damals noch jungen Partei „Die Grünen“ der Spruch 4 Mit diesen Demeter-Präparaten sind in der Landwirtschaft vor allem „Hornmist“ und „Hornkiesel“ gemeint. „Hornmist“ sind mit Kuhfladen gefüllte Kuhhörner („Präparat 500“), die ein halbes Jahr in der Erde lagern, um „kosmische Kräfte und die Energie der tierischen Hülle zu sammeln“. Die auf diese Weise astral „dynamisierte Masse“ soll die Bodenaktivität anregen, Wurzelwachstum fördern und das Eigenleben des Bodens aktivieren. Hornmist wird vorzugsweise bei Vollmond vergraben – „Hornkiesel“ ist dagegen vermahlener Quarz, der in ein Kuhhorn gefüllt wird und den Pflanzenstoffwechsel fördern, die Widerstandskraft gegenüber Schädlingen stärken und „harmonische Wachstums- und Reifeprozesse“ in Gang setzen soll. Er wird in der Regel bei Neumond in die Erde gebracht.

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„Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“5. Das hiermit aufgerufene semantische Feld markiert eine sozialisatorische Prägung durch das ökologische Aufbegehren Anfang der 1980er Jahre. „Wir leben nunmal, äh, die Grundeinstellung is’ vielleicht echt immer noch, ähm, so leicht der Indianer in einem, der sagt, der irgendwie denkt, man ist hier nur Gast, ne. Und du machst das jetzt so, dass du zusiehst, dass in Generationen und so weiter das Ganze auch noch vernünftig ist.“ (Z. 252–256)

Der Gast-Gedanke und das holistische Naturkonzept, das sich u.a. in der Generationenverantwortung konkretisiert, spiegelt sich auch im Leitmotiv eines „ganzheitlichen Essens“ (so der Text auf der Homepage): Die Kreislaufwirtschaft garantiert ökologische Qualität, alle Tiere und Tierprodukte werden selbst erzeugt und vermarktet, und das in der konventionellen Geflügelzucht übliche Töten der männlichen Küken wird konsequent vermieden. Die „Bruderhähne“ werden selbstverständlich mitaufgezogen. Entsprechend heißt es in einem der Texte des Internetauftritts: „Es liegt uns am Herzen, dass es nicht nur die Eier in deinen Küchentopf schaffen, sondern auch das Suppenhuhn und der Bruderhahn. Denn ohne Huhn und Hahn gäbe es auch kein Ei.“

3.  TRANSPARENZ – „KENNE DEINE HENNE“ Neben den strengen Demeter-Produktionsregeln spielt für die Möhlmanns die Produkttransparenz eine entscheidende Rolle. Der Kunde, der in den Hofladen kommt, soll wissen können, woher die Lebensmittel kommen und wie sie erzeugt wurden. Und so sieht man den hofeigenen Facebook-Auftritt, den eigenen Youtube-Kanal und die Tage der offenen Tür eben auch unter dem Aspekt vertrauensbildender Maßnahmen für eine Generation, die mit den sozialen Netzwerken vertraut ist. Entsprechend heißt es auf der Homepage: „Mit unserer Haltungsform setzen wir höchste Maßstäbe und wollen diese ehrlich kommunizieren. Bio können viele. Richtlinien sind jedoch nicht immer das Maß aller Dinge. Wir verstecken uns nicht – wir zeigen dir, wie wir arbeiten.“ Statt sich und ihre Produktpalette über eine ökologische Dogmatik auszuweisen, setzen die Möhlmanns auf die mediale Evidenz der Bilder, die hier nicht ungeschickt gekoppelt ist mit der Verheißung einer „ehrlichen Kommunikation“.

5 Dieses Wanderlogion wird wahlweise Häuptling Seattle, Mahatma Gandhi oder der „alten indianischen Weisheit“ zugeschrieben.

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Die Tierhaltung ist für die Möhlmanns eng mit dem Landbau verbunden – auch hier entspricht die Praxis auf dem Hof den strengen Demeter-Richtlinien. Der „Demeter Bereich ist halt der einzige Verband, der Tierhaltung vorschreibt, und dem sind wir ganz bewusst beigetreten, weil wir, um es abgekürzt zu sagen: Von Luft und Liebe wächst auch im Ökolandbau nix. Also für uns [sind] das […] diese Nährstoffkreisläufe, die einfach nur durch Tiere bei uns möglich sind,“ (Z. 337–342).

Die Anthroposophie lehrt Valentin Möhlmann, „am Ende halt das Ganze zu sehen“ (Z. 409); das ist es, was ihn von Anfang an beeindruckt hat. Auch wenn andere das gedankliche Konstrukt in seiner Abständigkeit eher abschreckt, ist für ihn die Quintessenz die Ganzheitlichkeit. Und zu diesem Ganzen zählen dann eben auch die Streuobstwiese, die Hecken, die Tiere und die verschiedenen Pflanzenkulturen. „Die Anthroposophie [ist] an vielen Stellen ein ganz guter Ansatz“, richtet sie doch den Blick auf den „kleinen Kosmos sozusagen da drinne“ und die Rolle des Menschen in diesem bäuerlichen Kosmos. (Z. 411 u. 418) Und dabei räumt Möhlmann auch ein: „es kann gut sein, dass wir da noch nicht alles verstanden haben, so bis ins Letzte“. (Z. 468f.)

4.  FAZIT – „BIO SCHÜTZT NICHT VOR LEISTUNG“ Die Möhlmanns sind mit ihrem Demeter-Betrieb dem eher pragmatischen ÖkoMilieu zuzurechnen. Man will keine Autarkie und kein alternatives Leben, sondern der Hof soll als Vollerwerbsbetrieb auch Gewinn abwerfen. Und dies scheint ihnen auch gut zu gelingen, wie der ambitionierte Internetauftritt zu erkennen gibt. Ein Nebenerwerbsbetrieb kam für das Paar nie in Frage. In der Bewirtschaftung folgt man weitgehend den strengen Demeter-Vorgaben. Diese „hundertprozentige Einstellungssache“ war auch die Grundlage für die anfangs durchaus riskante Entscheidung, den großväterlichen Hof zu übernehmen und ihn alternativ zu bewirtschaften, obwohl die zur Verfügung stehende Fläche eher klein war. Der Hof wird nach Maßgabe eines holistischen Organon-Modells geführt. Wenn Möhlmann von Ganzheitlichkeit spricht, dann lässt diese Rede ausschließlich betriebswirtschaftliche, jedoch keine kosmologischen Lesarten zu. Auch wenn der anthroposophische Überbau weniger reflexiv durchdrungen ist und sich in der Alltagspragmatik als sporadische Bricolage darstellt, so ist den Betreibern diese Sicht der agrarischen Dinge durchaus sympathisch. Der Blick aufs Ganze des Hoforganismus‘ erscheint ihnen überzeugend, allerdings ohne schwärmerische Attitüde. Die Wirkweise der umstrittenen „Präparate“ erklärt man sich pragmatisch: Es funktioniert,

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auch wenn hier die letzten Feinheiten noch nicht erklärbar sind. Auch dem strikten Determinismus des Maria Thun-Kalenders folgt man nicht in extenso. Aber sein Grundprinzip erweist sich in der Praxis als durchaus funktional. Das die tägliche Arbeit legitimierende Belief-System ist wenig elaboriert. Die Steinersche Lehre wird undogmatisch „gefühlt“ rezeptiert, wobei an vielen Stellen des Interviews auch die Narrationen der alternativ-ökologischen Szene der 1980er Jahre durchscheinen. Das Erntedankfest ist für Möhlmann durchaus ein wichtiges Fest, das direkt mit seiner Arbeit zusammenhängt, aber der christliche Bezugsrahmen spielt eine untergeordnete Rolle. Es ist ein Fest, das man begeht, weil es eng mit der bäuerlichen Tradition verbunden ist.

„Mit meinen Händen Gesundheit angedeihen lassen“ – eine Fallstudie Thomas Klie

1.  WAS MAN ZUM LEBEN BRAUCHT Die Eigentümer des Bio-Hofs „Regenbogen“, ein alter Erbpachthof aus dem 19. Jh., bewirtschaften seit 1998 in Mecklenburg 25 Hektar Land.1 Man betreibt dort bio-zertifiziert Acker- und Gartenbau sowie Viehzucht, angegliedert sind u.a. eine Tischlerei, eine Ölmühle und ein Hofladen. Eine kleine Käserei ist im Aufbau. Die Tiere werden traditionell gehalten, die Futtermittel wie Heu, Stroh, Getreide und Rüben werden selbst auf dem Hof erzeugt. Bei Tierkrankheiten greift man auf Homöopathie, Heilkräuter und Leinöl zurück. Auf dem Hof leben 12 Erwachsene und vier Kinder. Einige haben ursprünglich andere Berufe erlernt und sind durch bestimmte Lebensumstände zum Bio-Landbau gekommen. Saisonal sind auch freiwillige Helfer und Praktikanten mit dabei. Hof „Regenbogen“ hat sich weder der Erzeugergemeinschaft „Bioland“ noch „Demeter“ angeschlossen – man setzt vorerst auf Unabhängigkeit. Max, der Interviewpartner ist schon seit 9 Jahren Teil der Hofgemeinschaft. Landwirtschaftlich ist er „nicht beleckt“. Er ist ausgebildeter Krankenpfleger und wurde auf den mecklenburgischen Bio-Hof durch den Bau der großen Marktscheune aufmerksam. „Die [wurde] damals in Handarbeit gebaut, das hat mich damals halt interessiert, weil ich so in die Richtung Holzhandwerk gedacht habe und das war wie so’n Selbsterfahrungsjahr hier.“ (Ö 03, Z. 8–10) Max wollte Abstand gewinnen, um sich berufsbiographisch neu zu orientieren. Berufsbegleitend hat er mittlerweile ein Osteopathiestudium abgeschlossen und darüber indirekt wieder an seine Erstausbildung angeknüpft. Max verbindet also sein medizinisches Engagement mit der Öko-Landwirtschaft, und die bunte Produktpalette auf 1 Alle Namen, auch die des Biohofes im Interview Ö03 sind geändert.

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dem Hof gibt ihm auch die Chance dazu. Die Synthese aus gesundem Leben und gesunder Ernährung hat sich in den letzten Jahren als sein Weg herauskristallisiert. Diesbezüglich ist die zentrale Frage, die ihn umtreibt: „Was brauch’ ich eigentlich zum Leben?“. Anfangs hat er auf dem Hof noch mit den Anderen in einem alten Armeezelt gewohnt, dann ist er mit Frau und Kind in einen Bauwagen umgezogen, jetzt hat er sich ein Haus in der Nähe gekauft. Trotz dieser Kompromisse im Wohnbereich hat sich das Movens für die hier gewählte Lebensform nicht verändert: „… was ist Leben, was ist Gesundheit, wie stelle ich Gesundheit wieder her oder was gehört dazu? Was bedeutet Lebensanfang und auch Lebensende? […] Deswe­gen habe ich Osteopathie gewählt, möglichst mit meinen Händen jemandem da, ja Gesundheit angedeihen zu lassen oder dabei zu unterstützen gesund zu werden, gesund zu bleiben.“ (Z. 297–302)

Diese grundlegenden Lebensfragen beantwortet Max weniger theoretisch, etwa unter Rekurs auf ein religiöses oder philosophisches Konzept. Für ihn steht vielmehr die Kopplung von einfacher Lebensweise, gesunder Lebensführung und unmittelbarem Arbeitsbezug zu den hofeigenen Öko-Produkten im Vordergrund – ein holistisches Konzept, das sich stark aus praktischen Handlungsvollzügen speist. Was sich über das angemessene Tun ergibt, sich als stimmig und lebbar erweist, ist im Laufe der Zeit zu seiner Maxime geworden, die er dann auch argumentativ stützt. Was sich für Max sukzessive über das Leben und Arbeiten auf dem Hof in den letzten Jahren ergab, beruht für ihn rückblickend auf ganz bestimmten „Werten“, die er indirekt auch mit seiner religiösen Sozialisation in Verbindung bringt: „Also zu Religion, allein schon zu dem Wort hab‘ ich halt so’n bisschen ‘n gespaltenes Verhältnis, weil ich irgendwie –, also ich bin nie sonderlich kirchlich veranlagt gewesen. Ich bin zwar immer noch evangelisch gemeldet und quasi auch unter diesen Werten aufgewachsen. […] Spirituell trifft’s wahrscheinlich schon eher. Also es is‘ schon so, dass ich mir in dem Zusammenhang: Lebensanfang, Lebensende, was is‘ eigentlich Gesundheit?, was is‘ das Leben? oder: was machen wir sinnhaft irgendwie? natürlich Gedanken mache. Und das hängt auf jeden Fall zusammen mit dem, was ich hier sozusagen an Werten verfolge und auch drin sehe, was wir hier machen.“ (Z. 349–360)

Im Folgenden zählt Max zu diesem Wertekanon explizit die Nachhaltigkeit in Bezug auf die natürlichen Ressourcen, das gemeinsame Wirtschaften, aber auch den sozialen Umgang im Bereich der Angestelltenverhältnisse: „Das is‘ für uns so’n bisschen ‘n ungeschriebenes Gesetz, eigentlich kommt’s nich’ in Frage, jemanden rauszuschmeißen.“ (Z. 363–365) Die lebensbestimmenden Maximen artikulieren

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sich in der täglichen Praxis; das wertegestützte Ethos geht in der kontingenten Performanz der Arbeitsvollzüge auf. Über Sinn wird nicht sinniert, Sinn wird „gefunden“.

2. ÖKOLOGIE UND HEILUNG Am Beispiel von Max zeigt sich in exemplarischer Dichte, wie sehr der Komplex „Heil und Heilung“2 thematisch in den Bereich der Öko-Landwirtschaft hineinragt. Dies hängt zwar zu weiten Teilen auch mit dem besonderen Berufsweg von Max zusammen, doch diese enge Verbindung spiegelt sich auch unabhängig davon in der Angebotspalette des Hofes „Regenbogen“. Und die ist Stück für Stück gewachsen aus der engen Rückbindung an die Bedarfe der Kunden, die den Hofladen besuchen. Wer sich bewusst ernährt, für den ist auch das Thema Gesundheit von besonderer Bedeutung. Und umgekehrt: Wer – möglicherweise bedingt durch die eigene Krankheitsgeschichte – sensibel ist für alternative Heilmethoden, der wird auch seiner Ernährung einen hohen Stellenwert beimessen. Beides kann dann oft auch legitimatorisch mit einem neuen „ganzheitlichen“ Lebenskonzept überkleidet werden. „Wenn wir die Kundenklientel im Hofladen angucken, auch da sind einfach ganze viele suchend. Ganz viele, die sozusagen von konventionell auf Bio irgendwie umsteigen, tun das eigentlich aufgrund von irgendwas ,geht nich’ mehr weiter im Leben‘, und ,ich begeb’ mich auf die Suche‘, ,was kann ich ändern?‘, ,was gibt’s noch?‘ Manche sind dann vielleicht auch schon den Schritt weiter und haben sich in dem ökologischen Gedanken gefunden und kaufen dann eben in so ‘nem Laden wie bei uns im Hofladen ein.“ (Z. 399–405)

Es ist bezeichnend, dass genau diese Motive, die Max hier pauschal seinen Kunden zuschreibt, vice versa auch für den Hofgründer Klaus gelten. „Das Thema Gesundheit, Heilung is’ für mich auch nich’ so greifbar, dann eher Gesundheit finden, finden von Gesundheit ist vielleicht Heilung, gesunden – doch wahrscheinlich füll’ ich das mit der ähnlichen Bedeutung wie jemand anderes jetzt Heilung benutzen würde – is’ hier allgegenwärtig. Ja, das durchwirkt eigentlich alles und es … is’ bei Klaus auf jeden Fall mit der maßgebliche Aufhänger gewesen. Oder is’ auch auf jeden Fall in der Zeit, die 2 Vgl. den ebenfalls im Projektzusammenhang entstandenen Band von Tulaszewski, Martin/Hock, Klaus/Klie, Thomas (Hg.): Was Heilung bringt. Krankheitsdeutung zwischen Religion, Medizin und Heilkunde (=rerum religionum. Beiträge zur Religionskultur, Band 03), Bielefeld: transcript 2019.

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er hier mittlerweile gelebt hat auf dem Hof, dazu geworden, also er hat sich da auch durch ganz schöne Krankheitsphasen begeben.“ (Z. 381–389)

Wenn Max im Folgenden seine Kundschaft schildert, dann kann er sie gut bestimmten Milieus zuordnen. Es sind vor allem die Verkaufsgespräche, die ihm zeigen, dass viele Hofkunden durch ihr Kaufverhalten nicht nur ein ökologisches Bewusstsein zum Ausdruck bringen, sondern auch krankheitsbedingt ihre Ernährung umgestellt haben. Insofern sind sie ansprechbar für die Öle, die in der Leinmühle gewonnen werden, die verschiedenen Weine und Säfte, weitere Rohkost-Öle, Würz- und Heilkräuter, Duftrosen, verschiedene Honigsorten, handgefertigte Salben, Kerzen und Seifen. Und schließlich auch die Therapien, die Max sporadisch anbietet. „Und ich mein’, mit den Rohkostölen haben wir dann einfach ‘n ganz, ganz speziellen Aufhänger, uns auch am Verkaufstisch konkret mit den Leuten tatsächlich über ihre Gesundheitsgeschichte auseinanderzusetzen. Was eben – also die Beratung is’ dahingehend: ,Was können sie damit Gesundheitliches für ihren Körper erreichen?‘ Und dann bleibt eben die Kundenerläuterung über den eigenen Gesundheitsstand oder den Werdegang in der Regel nicht aus. […] [Es] is’ einfach ganz viel Thema Krebs auf jeden Fall, auf jeden Fall Hauterkrankungen, Allergika und Menschen mit Unverträglichkeiten, Lebensmittelunverträglichkeiten. […] Mittlerweile haben wir Drogerieartikel und solche Sachen, Tees …“ (Z. 435–45)

Die Begründungsmuster, die Max hier für die medizinische Qualität des Sortiments in Anschlag bringt, werden nahezu wortgleich auch in vielen angrenzenden vortheoretischen Diskursen in Anschlag gebracht. Es lässt sich etwa so skizzieren: Allergien sind umwelt- und ernährungsbedingt (gesellschaftskritisches Narrativ), sie vergiften den Körper (Vergiftungsnarrativ), alternative Ernährung führt zu Heilung (Heilungsnarrativ), deren Wirkung basiert auf naturwissenschaftlichen Vorgängen, die aber im Einzelnen (noch) nicht nachweisbar sind (Rationalisierungsnarrativ): „Das Immunsystem is’ ja im weitesten Sinne an Unverträglichkeits- und allergischen Reaktionen beteiligt, also da führen diese Stoffwechselprodukte der Omega-3 Fettsäure zum Beispiel zu ’ner ausbalancierenden Wirkung, sagen wir mal so pauschal. Und wenn wir jetzt sagen, das is’n wichtiger Baustein im Körper, im Stoffwechsel, in den Zellen und so weiter, dann kann ich mir auch ziemlich leicht vorstellen, funktionieren auf einmal die einzelnen Organe vielleicht besser, funktioniert möglicherweise die Entgiftung besser und so weiter. Also das heißt, man kann gar nich’ so wie bei ’nem Medikament sagen, so der Wirkungsmenge: ‚das is’ so und so‘. Sondern der eine hat Rückenschmerzen, isst Leinöl und wird die

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los. Warum? Das is’ so komplex, dass man das kaum irgendwie eruieren kann, aber diese Erfahrungswerte sind halt da.“ (Z. 522–533)

Für seine berufliche Zukunft strebt Max langfristig eine Arbeitsteilung an. Gern würde er in seinem eigenen Haus, das einige Kilometer entfernt vom Hof liegt, eine Heilpraktikerpraxis einrichten, damit er zu dieser Zeit auch zuhause bei der Familie sein kann. Die andere Hälfte seiner Arbeitszeit soll aber weiter dem Hof gehören. „Das werde ich machen und werde zusehen, dass ich Zeit, genügend Zeit auch für meine Familie habe und ja, dieses gemeinsame Projekt da, das eigene Häuschen aufzuziehen. Genau, also geschäftlich stell’ ich mir so Hälfte, Hälfte vor. Praxis, Betrieb, Hofbetrieb und Familie, genau.“ (Z. 985–989)

2.  DIE PRAGMATISCHE HOFPHILOSOPHIE Die leitende Hofphilosophie setzt auf die traditionelle Mischung aus Tierhaltung und Ackerbau. Man sucht dabei, so gut es geht, die geschlossenen Kreisläufe aus Düngung, Produktion und Verbrauch der „klassischen landwirtschaftlichen Kultur“ zu entlehnen. Nur der hofeigene Mist oder Kompost wird auf den Feldern ausgebracht. Und so beachtet der Mischbetrieb auch bestimmte Fruchtfolgen, und man versucht, alles was Ackerbau und Tierhaltung erfordern, selbst auf dem Hof zu erzeugen. Maßgeblich ist hierbei der Aussaatkalender von Maria Thun3, die Mondphasen und andere „kosmische Einflüsse“. „Für ’n ökologischen Gedanken musst du eigentlich auch gleichzeitig Tiere halten, um halt auch den wertvollen – […] aber so auch aus dieser klassischen, traditionellen landwirtschaftlichen Kultur heraus, wie solche Höfe ja früher auch mal produziert haben und aufgestellt waren. Das kam ja nich’ von ungefähr. Die Leute haben einfach ihre Erfahrungen gemacht. Das heißt, dieser Kreislauf, dieser geschlossene Kreislauf, der nach Möglichkeit irgendwie gehalten werden soll – Ernte, Futter, Mist und wieder auf’n Acker, so dieser Nährstoffkreislauf – das gehört für mich auf jeden Fall in den ökologischen Gedanken. […] Ich bin dann auch sofort dabei mit einzuschließen, wie leben wir hier zusammen, wie gehen wir miteinander um? […] Und bin da aber auch – oder da haben wir uns hier alle gemeinsam auch, weg von ‘ner relativ fundamentalen Haltung – ‘n bisschen liberalisiert, sag’ ich mal.“ (Z. 564–578) 3 Vgl. Thun, Maria/Thun, Matthias K.: Aussaattage 2019. Aus der Konstellationsforschung erarbeitet, Biedenkopf: M. Thun Verlag, 2018.

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Der sich hier andeutende ökologische Pragmatismus setzt sich von der reinen Lehre des Veganismus ab, der kategorisch die Verwertung tierischer Produkte ablehnt. Man hat sich eingerichtet, und man geht Kompromisse ein. So hat sich z. B. auch der anfängliche Versuch, ohne elektrische Energie auszukommen, mit wachsender Betriebsgröße als durchaus hinderlich erwiesen. Und da man sich nicht vom LKW eines Großhändlers beliefern lassen will, sondern die benötigten Waren selbst abholt, sind automatisch Fahrten notwendig geworden, die mit eigenen Kraftfahrzeugen bewerkstelligt werden. Die Hofgemeinschaft verschließt sich nicht gegenüber den sie umgebenden gesellschaftlichen und ökonomischen Systemen. „Also das meine ich mit, da haben wir uns auch ‘n Stück weit liberalisiert sozusagen, das ist nich’ mehr so fundamentalistisch.“ (Z. 606/7) Auch im Zusammenhang mit der Frage, ob man sich nicht doch aus ökonomischen Gründen dem Demeter-Verbund anschließen wolle, antwortet Max pragmatisch. Die Bricolage in den Begründungszusammenhängen für die Art und Weise der auf dem Hof „Regenbogen“ praktizierten Landwirtschaft stellt sich undogmatisch dar. Zwar ergeben sich deutliche Schnittmengen zur Demeter-Philosophie, aber die dort geforderte strikte Regelobservanz bereitet Unbehagen – so jedenfalls skizziert es Max: „Und ich bin auch nich’ sonderlich anthropolo-, anthroposophisch veranlagt. Für mich ergeben sich einfach automatisch gewisse Werte, Schnittmengen, die ich sang- und klanglos übernehmen würde, ohne dass ich da jetzt – ähnlich wie bei der Religion irgendwie – so in diesem ritualbehafteten Alltag drin wäre und mich da auskennen würde.“ (Z. 708–712)

Auch wenn die Dogmatik nicht explizit geteilt und der Ritus nicht angeeignet wird, ergeben sich ganz „automatisch“ im Vollzug Analogien zu den strengen Demeter-Richtlinien. Zu diesen Schnittmengen zählt z. B. auch die Vorstellung, dass Pflanzen eine Seele haben, also etwas, was über ihr biologisches So-Sein hinausgeht und das Max mit „feinstofflicher Qualität“ umschreibt. Auch die Grundideen der Homöopathie teilt der Interviewte, ohne sich jedoch in die Schriften Samuel Hahnemanns oder Rudolf Steiners zu vertiefen. Für den Austausch mit den Waldorfschülern, die den Hof regelmäßig als Praktikumsort aufsuchen, reicht dieser kommunikative Konsens völlig aus. Ansonsten geschieht das Wirtschaften evidenzbasiert; man probiert aus und lernt von den Fehlern. Max sieht diese Entwicklung auch bei sich selbst. Wollte er als junger Erwachsener noch „die Welt verbessern“, so wägt er heute ab, wo für ihn der angemessene Weg ist „im Spannungsfeld Bequemlichkeit und Verzicht auf energieintensive Sachen wie Autofahren oder Heizsystem im Haus oder sowas.“ (Z. 624/5)

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4. FAZIT Systematisiert man die deutende Rekonstruktion der Interviewpassagen, dann ergeben sich insgesamt vier signifikante Motivbündel. Diese Motivbündel beruhen zwar nur auf den Aussagen eines Akteurs im Forschungsfeld, doch wie die Beiträge in diesem Band zeigen, insbesondere die anderen Fallanalysen, sind sie durchaus abbildbar auf grundlegende, das Feld bestimmende Logiken. a. Konfession: nein – Spiritualität: ja Trotz evangelischer Sozialisation, finden sich in diesem Interview keine Rekurse auf eine kirchlich gelebte Religion. Auch andere „Beliefs“ (z. B. Rudolf Steiner, Veganismus) werden beiläufig angedeutet, ohne dabei jedoch systematisch auf deren Axiomatik einzugehen. Offene Anklänge reichen offenbar völlig aus, um sich vage zu verorten. Konfessionelle Festlegungen werden mit Einengung konnotiert. So sehr sich die religionshybriden Züge des sich hier äußernden Lebenskonzepts abzeichnen, so wenig lässt es sich dogmatisch einhegen. Bourdieus Rede vom „erweiterten religiösen Feld“4 gewinnt hier konkrete Konturen. Was die soziale Praxis im Hof-Biotop ideologisch legitimiert und zusammenhält, kann mit „Werten“ und „Spiritualität“ hinreichend kommuniziert werden. b. Das richtige Tun – Orthopraxie statt Orthodoxie Das Ethos der Hofgemeinschaft zeigt in der Evidenz dessen, was sich als ökologisch funktional erweist. Man bedient sich homöopathischer Rezepturen, weil sie wirken und schulmedizinische Eingriffe vermeiden. Der biologisch-dynamische Aussaatkalender kommt zur Anwendung, um sich gegenüber der Kundschaft auszuweisen und die Produktpalette zu zertifizieren, ohne die dahinter liegende Kosmologie wirklich zu durchdringen. Die hier begegnende Form einer ritualfreien Öko-Spiritualität deutet ihre Weltanschauung gewissermaßen induktiv über sinnhaftes Handeln. Das ökologisch Gute ist das, was sich unter dem gemeinsamen Handeln einstellt und ökonomisch angemessen bewirtschaftet werden kann. c. Ambulantes Lebenskonzept – „mal sehen“ Dieses Handlungsmodell hängt eng mit einer entsprechenden Berufsbiographie zusammen. Die ökologisch orientierte Lebensform definiert sich, indem man sie 4 Bourdieu, Pierre: Die Auflösung des Religiösen; in: Ders., Religion. Schriften Bd. 13, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011, 243–249.

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praktiziert – performativ, gewissermaßen. Zielperspektiven werden immer wieder ad hoc an die eigenen Möglichkeiten und die Nachfragesituation angeglichen. Die Anfänge des Hofs waren überaus fragil, und wenn man sich jetzt am Markt etabliert hat, dann war dieser Weg zugleich das Ziel. Zugespitzt: Ein Konzept lässt sich hier erst im Nachhinein rekonstruieren. Versuch und Irrtum, glückliche Umstände und die Kompatibilität neuer Mitstreiter, Kundenbindung und die Entwicklung der Produktionsmittel verdichten sich im kontingenten Zusammenspiel ex post zu einer kohärenten Strategie: „Joa, mal gucken, was da draus so wird.“ (Z. 340–341) d. Ökologie und Wohlbefinden – ganzheitliche Heilung Der Lebensmittelproduktion auf dem Biohof wird von der Klientel auch und gerade insofern ein hohes Maß an Vertrauen entgegengebracht, als der ökologische Landbau automatisch mit individueller Gesundheit verbunden wird. Der Erwerb von Bio-Produkten impliziert eine weitgehende Übereinstimmung mit den spezifischen Bedingungen des Handelns in einem Feld, das die Sinnhaftigkeit des Einsatzes von Ressourcen in diesem Terrain sichert. Viele Kunden kommen aber auch, weil sie nicht nur ihr „ökologisches Bewusstsein“ zum Ausdruck bringen wollen, sondern weil sie eine mehr oder weniger lange Krankheitsgeschichte mitbringen. Die naturnah und „traditionell“ produzierten Lebensmittel verheißen Schadstofffreiheit und somit die „Entgiftung“ eines durch die industrielle Umwelt belasteten Organismus. Bio-Konsum steht so gesehen immer auch für eine einverleibte Anerkennung von Sinn und Heil. „Heilung … durchwirkt eigentlich alles.“ (Z. 384–85)

„Einfach ‘ne Lebenseinstellung“ – eine Fallstudie Rebekka R. Tibbe

1.  „FÜR’S DORF DA SEIN …“ Seit nunmehr über zwei Jahrzehnten führt Frau Klippstein1, „gelernte Landwirtin“ (Ö07, Z. 65–66), ihren mittlerweile über 200 Hektar großen ökologischen Landwirtschaftsbetrieb. Auf dem Mitte der 1990er von der Kirche gepachteten und seitdem stetig erweiterten Land bietet sie mehr als reinen Ackerbau, denn von Anfang an „stand im Vordergrund, ‘n ganz vielseitigen Biobetrieb […] aufzumachen“ (Z. 419). Aus der durch die eigene Milchviehherde produzierten Milch werden vor Ort allerlei „spezielle[…] Produkte[…], Schnittkäse, Weichkäse, Frischkäse, Quark, Joghurt“ (Z. 82–83), das geerntete Getreide wird in der hauseigenen Bäckerei zu Backwaren verarbeitet, und ein Café bietet die Möglichkeit, die erzeugten Produkte vor Ort zu genießen. Herzstück des Hofes war aber von Beginn an der „Ab-Hof Verkauf“. Man wollte zeigen, „wie funktioniert Landwirtschaft“ (Z. 88–89), und vor allem „wollte[…] [man] auch für‘s Dorf da sein“ (Z. 89–90), „so ‘ne kleine Oase, Anlaufstelle sein“ (Z. 582–583). Dieser Gedanke des „für‘s Dorf da sein“ durchzieht die gesamte Geschichte des Betriebes. Entstanden aus einer Beschäftigungsinitiative im Norden Mecklenburg-Vorpommerns, war es immer das Anliegen, ein Ort des ganzen Dorfes zu sein, „langfristig sinnvolle Arbeit […], ‘ne nachhaltige Arbeit zu geben“ (Z. 134) und als „integrativer Hof“ (Z. 179) auch Menschen eine Chance auf Arbeit zu geben, die anderswo und speziell in der Agrarbranche Schwierigkeiten haben, wie beispielsweise Frauen, „People of Color“ und Menschen mit Behinderungen. Doch war dieses Ziel nicht immer einfach zu verwirklichen, wie Frau Klippstein berichtet: „[A]lso für die Liquidität war das die ganzen Jahre relativ schwierig, aber es war mir eben immer wichtig, 1 Alle Namen und Ortsbezeichnungen sind verändert worden.

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Arbeitsplätze zu schaffen.“ Auch die Wahl, ökologische Landwirtschaft zu betreiben, war nicht finanziell motiviert, auch wenn es natürlich in ihrer Branchen durchaus Kollegen gebe, „die einfach nur ‘ne schnelle Mark mal abgreifen wollen“ (Z. 500–501), da es sich aufgrund der aktuellen Nachfrage durchaus lohne, ökologisch zu wirtschaften. Frau Klippstein selbst aber geht es in erster Linie um etwas anderes, und zwar um „Naturschutz“ (Z. 421). „[D]as is’ einfach ’ne Lebenseinstellung, das is’ nich’ eine Art des Wirtschaftens, die ich mache, ’ne ähm, sondern wir leben das“ (Z. 878–879).

2.  „UND DU GLAUBST NICHT AN WUNDER …“ Der Rostocker Rapper Marteria ist angesichts unseres „blauen Planeten[s], der sich um einen Feuerball dreht, mit ‘nem Mond, der die Meere bewegt“2, verständlicherweise irritiert davon, dass es Menschen gibt, die nicht an Wunder glauben. Das Wunder der Schöpfung sollte doch uns alle angehen, und staunend zurücklassen und etwas in uns bewegen. Frau Klippstein spürt diesem Wunder immer wieder ganz bewusst nach, wenn sie mit ihrem Lebensgefährten auf abendliche Spaziergänge geht: „[D]as is‘ schon auch noch ‘n bisschen mehr als Naturerleben, wir gehen mal durch ‘n schönen deutschen Wald oder irgendwie so, sondern ähm, das gibt einem auch irgendwie total viel Kraft, ne. Auch Sorge, wie lange kann man diese kleinen Inseln erhalten, ne. Also ähm, das sag‘ ich mir hier ja auch, ne, ich, das is‘ schon so mein Ziel auch, hier ‘ne kleine Insel zu haben und vielleicht auch viele Arten rüber zu retten in ‘ne bessere Zeit. Ich weiß ja nich’, was eure Generation …, ihr wollt vielleicht was ganz anderes und die Kinder von euch, ihr wollt vielleicht was ganz anderes, und da können wir ja nich’ alles jetzt zerstören, ne.“ (Z. 822–829)

Hier wird Spiritualität spürbar, ein Mehr-Erleben, ausgelöst durch die Natur. Selbst würde sich Frau Klippstein zwar nicht als religiös, „aber als gläubigen Menschen auf jeden Fall bezeichnen“ (Z. 794), der „sicherlich […]eine eigene Art von Glauben“ (Z. 813–814) hat. Mit der Kirche hatte sie eigentlich – obwohl in Westdeutschland aufgewachsen – nie groß was am Hut, „war aus der Kirche auch ausgetreten, weil [sie] eben viele Sachen, die die Kirche macht, auch nich’ gut fand und damit eigentlich auch nichts zu tun haben wollte“ (Z. 586–589) – „ob katholisch oder evangelisch“ (Z. 597). Und doch willigte sie ein, auf kirchlichem Land zu arbeiten. Und obwohl sie es „am Anfang einfach nur so bewirt2 Marteria: „Welt der Wunder“, in: Ders., Zurück in die Zukunft II, 2014.

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schaftet“ (Z. 598) hat, entwickelte sich nach und nach ein Zusammenhalt mit der örtlichen Gemeinde und besonders den Pastorinnen. Für Frau Klippstein ist dies mittlerweile nur naheliegend, denn so wie sie es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, die Natur zu schützen, sollte es doch auch im Interesse der Kirche sein, die Schöpfung zu bewahren. „[K]lar, hier im Osten da is’ es [der Kirche] ja so unendlich schwer gemacht worden. Und das waren denn ganz einfache Sachen, manchmal Fassadenbegrünung vom Pastorat oder so. Aber überhaupt mal irgendwo Naturschutz und irgendwas so reinbringen und so, also ich hatte das schon immer so‘n bisschen im Auge und hab’ immer gedacht: ‚Die Kirche ist an und für sich verpflichtet, sich um Schöpfung zu kümmern und eigentlich können sie nich’ Land an konventionelle Landwirte verpachten.‘ Wenn man weiß, dass ein Düngerstreuer und das Salz, was da raus kommt, den Frosch tötet und der Frosch, der hat das in seinem Hirn einprogrammiert: Ich muss von der Hecke zu der Hecke, weil da is’ meine Liebste und da muss ich hin, um mich zu vermehren, und dann macht der das, und dann kommt der Düngerstreuer, und dann is’ er tot, ne. Und da – das find‘ ich irgendwie – ich versteh‘ auch die Kirche, die wollen auch nich’ alte Strukturen zerstören, ne, Betriebe, wo – ich mach‘ mal jetzt ’n Beispiel: ’n 300 Hektar konventioneller Betrieb, und der hat womöglich 150 Hektar von der Kirche, natürlich können sie ihm das nich’ wegnehmen, dann is’ seine Existenz bedroht, ne. […] Aber es gibt eben auch Betriebe, der hat 2000 Hektar und hat nur 50 Hektar von der Kirche […], ich würde da sagen: ‚Der braucht das nich’, der hat so viel Land, der hat, das sind sowieso schon feudalistische Strukturen, der braucht diese 50 Hektar nicht‘. Lass uns das Landwirten geben, die ‘ne bessere Arbeit machen, ‘ne gute Arbeit machen und die Schöpfung mit in Betracht haben, ne.‘“ (Z. 603–625)

Ethisch korrektes Handeln scheint für Frau Klippstein hier von zwei Faktoren abzuhängen. Zum einen ist entscheidend, welche Auswirkungen das Handeln auf die Akteure direkt hat: Kann der Bauer noch überlebenssichernd wirtschaften, wenn ihm Land entzogen wird, oder kann er es durchaus verschmerzen? Würde der Verlust von Agrarfläche vielleicht sogar für eine bessere, gerechtere Verteilung sorgen? Hans Jonas würde es mithilfe seines sogenannten ökologischen Imperatives wie folgt ausdrücken: „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“3 Echtes menschliches Leben kann in unserem Beispiel als die Waage aus wirtschaftlich rentablem Handeln, der Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes, sowieso der Verantwortung zum einen anderen Landwirten gegenüber, aber auch dem bewirtschaftete Land, der Erde gegenüber, bestimmt werden. Jonas beschreibt hier seine 3 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 36.

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Auffassung der „Verantwortungsethik“, von der Max Weber epochenprägend die „Gesinnungsethik“ unterscheidet. Es handele sich um „zwei voneinander grundverschiedene, unaustragbar gegensätzliche Maximen“4, wobei nicht davon ausgegangen werden darf, dass Gesinnungsethik zwangsläufig verantwortungslos operiere und Verantwortungsethik frei aller Gesinnung bzw. Ideale sei.5 Zum anderen gilt es Auswirkungen, die das Handeln auf die Natur, die Schöpfung hat, wobei hier konkret Tiere – im obigen Beispiel Frösche – eine besondere Rolle zu spielen scheinen, für richtiges Handeln zu bedenken. „[M]an hat einfach auch diesen Schöpfungsgedanken verinnerlicht und ähm, wir, dass zum Beispiel auch dieses Tiere-Töten, das is’ einfach so‘n bisschen mein Thema, ne, dass ich von Anfang an gesagt habe: ‚Hm, ah, kein Tier verlässt meinen Hof lebend, ne.‘ Ich bringe sie nicht in einen großen Schlachthof, wo ich nich’ mehr weiß, was mit ihnen gemacht wird […].“ (Z. 881–885) „So, zack, Bolzenschuss – nee es ist, im Akkord, am Band, was is’ das für ‘ne Gesellschaft, ne?“ (Z. 900–901). Der Tierschutzgedanke ist bei Frau Klippstein so tief verankert, dass für sie von Anfang an klar war, „[d]ie Kälber werden nich’ mehr enthornt“ (Z. 648–649). Auch vor Mehrarbeit und Extraaufwand schreckt sie nicht zurück und ließ sogar ihr Ackerland vor dem Mähen „mit Drohnen überfliegen“ (Z. 631), um Rehkitze mit dem natürlichen Reflex, bei Bedrohung still liegen zu bleiben, davor zu retten, im Mähwerk zugrunde zu gehen. Und doch spricht Frau Klippstein nie explizit über „Tierschutz“, wenn es um die Zusammenarbeit mit der Kirche geht, sondern stets nur davon, „sich um Schöpfung zu kümmern“ (Z. 608). Von „Tierschutz“ ist nur im Kontext der nach rund zehn Betriebsjahren begonnenen Kooperation mit Demeter die Rede, deren Haltung gegenüber Tieren Frau Klippstein als Hauptgrund für die Umwandlung ihres Betriebes in einen Demeter-Hof benennt. Auch „mit Demeter hatte [sie] […] als junge Frau […] Schwierigkeiten, so ähnlich wie mit der Kirche“ (Z. 734–735). „[E]s war [ihr] irgendwie zu konservativ“ (Z. 736) und auch die „Präparate-Arbeit find[et] [sie] ‘n bisschen schwierig“ (Z. 701), aber „dieses ganz langfristig Gedachte und ganzheitlich Gedachte und im Kreislauf Gedachte“ (Z. 753–754) und dass Demeter „die strengsten biologischen Auflagen“ (Z. 689–690) besonders auch für die Tierhaltung hat, überzeugte sie. Für Frau Klippstein scheint der unmittelbare Bezug Demeters zum Tierschutz viel offensichtlicher als christlich motivierter Tierschutz oder gar biblische Bezüge. Von Gottes „sehr gutem“ Schöpfungszustand (1.Mose 1,29f.), der kein Blutvergießen zwischen Mensch und Tier kennt, in dem alle Menschen Vegetarier zu 4 Weber, Max: „Politik als Beruf“, in: Ders., Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von J. Winckelmann, Tübingen: Mohr Siebeck 51988, S. 551. 5 Vgl. ebd., S. 552.

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sein scheinen, bis hin zum prophetisch verheißenen, dasselbe Bild zeichnenden Schöpfungsfrieden (Jes 11,6–9; vgl. 65,17ff.) oder mindestens der konkreten Anweisung, sich als „Gerechter“ seines Viehs zu „erbarm[en]“ (Spr 12,10; vgl. 2. Mose 20,10) – die Bibel steckt voller Tierschutz. Auch die EKD hat bereits 1991 in ihrer Ausarbeitung Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf in Anknüpfung an „die Beauftragung der Menschen zur Herrschaft über die Tiere und über die Erde insgesamt (1.Mose 1,27f; Ps 8,7–9)“6 mindestens für massiven Tierschutz in Form von „liebender Sorge und hegendem Bewahren“7 und die Reduktion des eigenen Fleischkonsums plädiert. Sie lässt auch eine „radikale Ethik der Mitgeschöpflichkeit“ zu Worte kommen, die „Gewalt gegen Tiere nicht bloß zu begrenzen und einzudämmen, sondern in weiten Bereichen fortschreitend zu überwinden und aufzuheben“8 sucht. Wenn Frau Klippstein der Kirche also auch Verantwortung für die Frösche auf dem Land konventionell wirtschaftender Bauern zuschreibt, liegt sie damit intuitiv richtig und könnte auch ihre Einstellung zum Schlachten und zur Tierhaltung guten Gewissens als christlich benennen, ebenso wie sich ihr Traum, „viele Arten rüber zu retten in ‘ne bessere Zeit“ (Z. 827) hier passgenau einfügt. Sich in ihrem Handeln und im Beurteilen des Handelns anderer am Ideal Tier-, Arten- und Naturschutz orientierend ist Frau Klippstein insofern eine implizite Gesinnungsethikerin, wie sie im Buche steht und in der Bibel stehen könnte. An ein glückliches Wortspiel von Kant angelehnt, könnte man sagen, dass Gesinnung ohne Verantwortung leer, und dass Verantwortung ohne Gesinnung blind ist. Dies lehrt uns der Blick auf Frau Klippsteins Hof.

3.  VON DER NEUEN INSEL UTOPIA … Dass Frau Klippstein sogar wirtschaftliche Einbußen in Kauf nimmt, um ihren idealen Vorstellungen eines Öko-Hofes gerecht zu werden, trägt ebenfalls gesinnungsethische Züge. Sie scheint fest an eine „bessere Zeit“ (Z. 827) und eine ideale Form des Zusammenlebens zu glauben, für die ihr Hof als Beispiel dienen soll. Er soll „so ‘ne kleine Oase, Anlaufstelle sein“ (Z. 582–583), eine „kleine[…] Insel[…]“ (Z. 822–829). Die Insel als utopisches Motiv ist nichts Neues und wurde schon durch den „Ur-Utopiker“ Thomas Morus geprägt, indem er sein mo6 Zur Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf, Ein Diskussionsbeitrag des Wissenschaftlichen Beirats des Beauftragten für Umweltfragen des Rates der EKD, EKD-Text 41, 1991, Kap. II, (8) (https://www.ekd.de/tier_1991_vorwort.html). 7 Ebd. 8 Ebd., Kap. III, (17).

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numentales, gattungsschaffendes Werk De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia, also Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia nannte. Die Insel ist als abgeschlossener Bereich autonom. Hier gelten eigene, andere, bessere Gesetze als im Rest der Welt, kann etwas ganz eigenes, anderes, besseres geschaffen werden. Auch wenn Frau Klippstein dieser Bezug vielleicht nicht bewusst ist, so offenbart sie sich doch besonders durch die Nutzung dieses Motivs als idealistische Utopikerin. Den Gedanken, Utopien seien grundsätzlich naive, träumerische, gar schädliche Konstrukte, würde Frau Klippstein entscheidend bestreiten. Zwar gibt es durchaus Spielarten der Utopie, die kritisch zu betrachten sind, wie beispielsweise den Marxismus, den Hans Jonas in seinem Werk Das Prinzip Verantwortung unter die Lupe nimmt und als totalitär durchgedachtes und gelebtes Konzept ablehnt. Doch betont er in einem Gespräch mit Ingo Hermann und Wolf Scheller: „Die Utopie als solche irgendwelcher Art ist vielleicht für den Menschen überhaupt unabdinglich und unentbehrlich. Das heißt, dass ein Ziel da ist, das man zustreben kann und das verspricht, einen erhöhten Zustand des Menschen. Die Ablehnung der Utopie, die ich hier [in Das Prinzip Verantwortung] vollziehe, sollte in gar keiner Weise heißen, dass man sich jetzt einfach zufrieden geben soll, mit dem, was der Mensch nun gerade jetzt ist.“9 Und genau das tut Frau Klippstein nicht. Sie lehnt konventionelle Landwirtschaft aus tiefer Überzeugung ab und möchte ein anderes Leben und Wirtschaften prägen; sie hofft, Mensch und Tier so ein besseres Leben auf der Erde zu ermöglichen. Ein „erhöhter Zustand“ soll erreicht werden, der im Einklang zwischen Mensch und Natur besteht. Ob und inwiefern utopische Vorstellungen auch als religiöse gewertet werden können, ist zu diskutieren.10 Klar ist aber, dass beliefs11 im Spiel sind, die alles Handeln durch und in ihnen mindestens in einem „erweiterten religiösen Feld“12 verorten.

4.  „ WIR [SIND], GLAUB’ ICH, NICH’ SO DOGMATISCH“ (Z. 960) Es gehört zu den Eigentümlichkeiten ethischer Debatten, die Theorie entweder gegen die Praxis oder die Praxis gegen die Theorie auszuspielen. Dass das nicht so sein muss, zeigt die hier vorgestellte Fallanalyse, denn Frau Klippstein glaubt. Sie 9 Hans Jonas im Podcast „Sein und Streit: Philosophie aus den Archiven. Hans Jonas — Über die Tücke der ökologischen Zeitbombe“, Deutschlandfunk, Min. 31:17–31.51. 10 Vgl. hierzu den Beitrag von Philipp P. Thapa im vorliegenden Band. 11 Vgl. den Beitrag von Klaus Hock in diesem Band. 12 Pierre Bordieu: „Die Auflösung des Religiösen“, in: Ders., Religion. Schriften Band 13, Berlin: Suhrkamp 2011, S. 243–249.

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glaubt an eine bessere Zukunft, die durch richtiges Handeln ermöglicht werden kann und sie glaubt daran, dass die Schöpfung gut und erhaltenswert ist. Dabei lehnt sie starre Glaubenssysteme und vor allem die Zuordnung ihrer Ansichten – man könnte auch sagen ihrer Lebensphilosophie – zu einer Konfession oder Glaubensschule ab.13 Sie will weder als konfessionelle Christin gesehen werden, noch als Anthroposophin in Anlehnung an die Lehre Rudolf Steiners, die für Demeter maßgeblich ist. Wichtig ist für sie allein, das Richtige zu tun, „‘n guten Biohof“ (Z. 466) zu führen.14

13 Vgl. hierzu im vorliegenden Band den Beitrag von Thomas Klie: „Mit meinen Händen Gesundheit angedeihen lassen — eine Fallstudie“, der in seinem Fazit „signifikante Motivbündel“ aufzeigt, die als „grundlegende, das Feld bestimmende Logiken“ angesehen werden können. 14 Vgl. hierzu ebenfalls das Fazit im Beitrag von Thomas Klie.

Autorinnen und Autoren

Dr. des. phil. Jörg Albrecht, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Religionswissenschaft, Leibniz Universität Hannover, Leiter des Teilprojekts „Interkulturelle Perspektiven“ im Rahmen des von der Volkswagenstiftung und dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten interdisziplinären Verbundprojekts „Pflanzenorientierte Ernährungsstile als Schlüssel zur Nachhaltigkeit“ Institut für Religionswissenschaft, Appelstraße 11a, 30167 Hannover Hagen Fischer, M.A., Dozent beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben Bildungszentrum Barth/Gutglück Wiesenweg 41, 18356 Fuhlendorf Prof. Dr. Klaus Hock, Professor für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Theologische Fakultät, Universitätsplatz 1, 18051 Rostock Philipp P. Thapa, Koordinator GETIDOS – Plattform für sozial-ökologische Forschung, Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität e.V. (IKEM) c/o Universität Greifswald, Lehrstuhl für Umweltrecht, Domstraße 20a, 17489 Greifswald Prof. Dr. Thomas Klie, Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Theologische Fakultät, Universitätsplatz 1, 18051 Rostock

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Dr. Burkhard Roloff, Referent für Ökologischen Landbau beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Landesverband Mecklenburg-Vorpommern BUND Landesverband Mecklenburg-Vorpommern, Wismarsche Straße 152, 19053 Schwerin Rebekka Tibbe, Vikarin der Nordkirche in Steinberg/Schleswig-Holstein Steinbergholz 29, 24972 Steinberg Peter Zimmer, Peter Zimmer, Geschäftsführer Hof Medewege OHG, Vorstand Kulturverein Hof Medewege e.V., Architekt und Baukünstler Hof Medewege, Flussbettnerei, Hauptstraße 12, 19055 Schwerin

Religionswissenschaft Frederik Elwert, Martin Radermacher, Jens Schlamelcher (Hg.)

Handbuch Evangelikalismus 2017, 452 S., Hardcover, 3 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-3201-9 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3201-3

Bernhard Grümme

Aufbruch in die Öffentlichkeit? Reflexionen zum ›public turn‹ in der Religionspädagogik 2018, 254 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4227-8 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4227-2

Oliver Wäckerlig

Vernetzte Islamfeindlichkeit Die transatlantische Bewegung gegen »Islamisierung«. Events – Organisationen – Medien 2019, 432 S., kart., 9 SW-Abbildungen 44,99 € (DE), 978-3-8376-4973-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4973-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Religionswissenschaft Antje Mickan, Thomas Klie, Peter A. Berger (Hg.)

Räume zwischen Kunst und Religion Sprechende Formen und religionshybride Praxis 2019, 240 S., kart., 56 SW-Abbildungen, 6 Farbabbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4672-6 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4672-0

Judith Stander-Dulisch

Glaubenskrisen, Neue Religionen und der Papst Religion in »Stern« und »Spiegel« von 1960 bis 2014 2019, 482 S., kart., 155 SW-Abbildungen, 10 Farbabbildungen 49,99 € (DE), 978-3-8376-4102-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4102-2

Mirjam Mezger

Religion, Spiritualität, Medizin Alternative Religiosität und Palliative Care in der Schweiz 2018, 218 S., kart., 9 SW-Abbildungen, 3 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4165-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-4165-7

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