Knoten und Kanten: Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschafts- und Migrationsforschung [1. Aufl.] 9783839413111

Globalisierung heißt Vernetzung! Wir leben in einer »Netzwerkgesellschaft«, in der Akteure durch Beziehungen in soziale

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Knoten und Kanten: Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschafts- und Migrationsforschung [1. Aufl.]
 9783839413111

Table of contents :
INHALT
Vorwort
Soziale Netzwerkanalyse. Eine interdisziplinäre Erfolgsgeschichte
THEORIE UND METHODE
Strategien und Strukturen. Herausforderungen der qualitativen und quantitativen Netzwerkforschung
Vom Graphen zur Gesellschaft. Analyse und Theorie sozialer Netzwerke
Netzwerke als Quelle sozialen Kapitals. Zur kulturellen und strukturellen Einbettung vertrauensvoller Handlungen in Netzwerken
WIRTSCHAFTSFORSCHUNG
Strukturbildung in der Krise. Interlocking Directorates und die Deutschland AG in der Weimarer Republik
Die Transformation der Deutschland AG 1996-2006
Die Mischung macht’s. Zur Bedeutung von kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital bei Paul Reusch während des Konzernaufbaus der Gutehoffnungshütte (1918-1924)
Institutionelle und personelle Netzwerke zwischen politischen und wirtschaftlichen Akteuren im russischen Energiesektor
Mobile Eliten in der Internationalisierung multinationaler Unternehmensnetzwerke. Die Rolle hybriden sozialen Kapitals bei der Überbrückung kultureller Distanz
MIGRATIONSFORSCHUNG
Soziale Netzwerke und soziales Kapital. Faktoren für die strukturelle Integration von Migranten in Deutschland
Indikatoren für Integrationsneigung? Die sozialen Netzwerkstrukturen von Immigranten aus Taiwan in den USA
Integration, Sozialkapital und soziale Netzwerke. Egozentrierte Netzwerke von (Spät-)Aussiedlern
„Man braucht ja eigentlich, wenn man so große Familie hat, keine Freunde.“ Zur Leistungsfähigkeit sozialer Netzwerke bei türkischen Migranten und Migrantinnen der zweiten Generation
Persönliche Netzwerke und ethnische Identität am Beispiel von italienischen Migranten in Deutschland
„Wenn soziale Netzwerke transnational werden.“ Migration, Transnationalität, Lokalität und soziale Ungleichheitsverhältnisse
Autorinnen und Autoren

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Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.) Knoten und Kanten

Markus Gamper, Linda Reschke (Hg.)

Knoten und Kanten Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschafts- und Migrationsforschung

Der Exzellenzcluster der Universitäten Trier und Mainz »Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke« wird gefördert durch die Exzellenzinitiative des Landes Rheinland-Pfalz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Markus Gamper und Linda Reschke Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1311-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

I N H AL T

Vorwort

Soziale Netzwerkanalyse. Eine interdisziplinäre Erfolgsgeschichte MARKUS GAMPER UND LINDA RESCHKE

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THEORIE UND METHODE Strategien und Strukturen. Herausforderungen der qualitativen und quantitativen Netzwerkforschung MICHAEL SCHNEGG

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Vom Graphen zur Gesellschaft. Analyse und Theorie sozialer Netzwerke BORIS HOLZER

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Netzwerke als Quelle sozialen Kapitals. Zur kulturellen und strukturellen Einbettung vertrauensvoller Handlungen in Netzwerken JOHANNES MARX

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WIRTSCHAFTSFORSCHUNG Strukturbildung in der Krise. Interlocking Directorates und die Deutschland AG in der Weimarer Republik KAROLINE KRENN Die Transformation der Deutschland AG 1996-2006 LOTHAR KREMPEL

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Die Mischung macht’s. Zur Bedeutung von kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital bei Paul Reusch während des Konzernaufbaus der Gutehoffnungshütte (1918-1924) CHRISTIAN MARX

Institutionelle und personelle Netzwerke zwischen politischen und wirtschaftlichen Akteuren im russischen Energiesektor MICHAEL SANDER Mobile Eliten in der Internationalisierung multinationaler Unternehmensnetzwerke. Die Rolle hybriden sozialen Kapitals bei der Überbrückung kultureller Distanz MICHAEL PLATTNER

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MIGRATIONSFORSCHUNG Soziale Netzwerke und soziales Kapital. Faktoren für die strukturelle Integration von Migranten in Deutschland SONJA HAUG

Indikatoren für Integrationsneigung? Die sozialen Netzwerkstrukturen von Immigranten aus Taiwan in den USA CHRISTINE AVENARIUS Integration, Sozialkapital und soziale Netzwerke. Egozentrierte Netzwerke von (Spät-)Aussiedlern TATJANA FENICIA, MARKUS GAMPER UND MICHAEL SCHÖNHUTH

„Man braucht ja eigentlich, wenn man so große Familie hat, keine Freunde.“ Zur Leistungsfähigkeit sozialer Netzwerke bei türkischen Migranten und Migrantinnen der zweiten Generation ANDREA JANSSEN Persönliche Netzwerke und ethnische Identität am Beispiel von italienischen Migranten in Deutschland JAN A. FUHSE

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„Wenn soziale Netzwerke transnational werden.“ Migration, Transnationalität, Lokalität und soziale Ungleichheitsverhältnisse JANINE DAHINDEN

Autorinnen und Autoren

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Vorw ort

Soziale Netzwerkanalyse ist en vouge und dies nicht nur in der angloamerikanischen Wissenschaftslandschaft, seitdem sie ihren Siegeszug auch in Deutschland fortsetzt. Neben einer Arbeitsgruppe Netzwerkforschung, die sich innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gegründet hat, bestehen bereits zwei erfolgreiche Sommerschulen an den Universitäten Konstanz und Trier, in deren Rahmen die Theorie und Methodik dieses Forschungszweiges unterrichtet wird. Daneben gab es in den letzten zwei Jahren zahlreiche Tagungen, Konferenzen oder Vortragsreihen (z.B. in München, Berlin, Stuttgart und Trier) zu diesem Thema. Hinzu kommen digitale Vorträge, die beispielsweise auf der Hamburger Wissenschaftsplattform Podcampus abrufbar sind und sich großer Beliebtheit erfreuen. Nachhaltig hält die Netzwerkanalyse und -theorie Einzug in deutsche Hochschulen, was sich beispielsweise in Lehrveranstaltungen, Veröffentlichungen, Förderprogrammen sowie Mitarbeiterstellen (z.B. Universität Trier, Universität Luzern, Universität Hamburg) beziehungsweise der Einrichtung von Juniorprofessuren (Universität Konstanz) widerspiegelt. Interessant hieran ist jedoch vor allem der Umstand, dass hier die Netzwerkanalyse, trotz ihrer immer größeren Beliebtheit, nicht einer eigenen Fachrichtung zugeordnet werden kann, sondern disziplinübergreifend eingesetzt wird. Die in ihr beheimateten Konzepte sind an eine Vielzahl von Themen und Disziplinen anschlussfähig. Kein Wunder, dass so unterschiedliche Fächer wie die Politikwissenschaften, die Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Ethnologie, Geschichtswissenschaften, aber auch naturwissenschaftliche Fächer wie beispielsweise Informatik, Mathematik und Biologie die Netzwerkanalyse für sich entdeckt 9

KNOTEN UND KANTEN

haben und nutzbar machen. Gerade diese interdisziplinäre Offenheit macht die Netzwerkanalyse zu einem der dynamischsten Wissenschaftszweige innerhalb der Sozialwissenschaften. Auf der anderen Seite sind mit dieser Interdisziplinarität jedoch auch Nachteile verbunden. Zum einen existieren unzählige Ansätze nebeneinander. Dies macht es schwer, einen Überblick über die bisher vorliegenden Ideen wie auch Forschungsergebnisse zu behalten; der Zugang gestaltet sich hierbei nicht immer einfach. Nicht selten erscheint zudem die Beschäftigung mit „Knoten und Kanten“ noch immer als außergewöhnlich. Wirft man einen Blick auf die wissenschaftlichen Stellenausschreibungen, scheint das Profil „Netzwerkanalytiker“ noch nicht unbedingt reputierlich für angehende Wissenschaftler zu sein. Vor diesem kurz skizzierten Hintergrund stellte sich für uns als Herausgeber die Herausforderung, die Interdisziplinarität der Forschung zu überwinden und die unterschiedlichen Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften zu vereinen. Nicht zuletzt bot sich gerade der Exzellenzcluster der Universitäten Trier und Mainz „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“ als institutioneller Rahmen an, im Jahre 2008 eine interdisziplinären Vortragsreihe zum Thema „Soziale Netzwerkanalyse“ an der Universität Trier ins Leben zu rufen. Diese Vortragsreihe führte speziell junge, jedoch auch bereits etablierte Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen an die Universität Trier, um in diesem Kontext sowohl theoretische Ansätze zur Netzwerkanalyse als auch Forschungsergebnisse von Studien vorzustellen, die sich dieser Methodik bedienten. Hiermit sollte vor allem die oft wahrgenommene Lücke zwischen Theorie und Empirie geschlossen und die Stärken der Netzwerkanalyse diskutiert werden. Die Resonanz war so groß, dass eine weitere Vortragsreihe im Wintersemester 2009/2010 durchgeführt wurde und eine dritte im Wintersemester 2010/2011 in Planung ist. Allerdings wurde schnell deutlich, dass diese Lücke nicht mit der Vortragsreihe allein geschlossen werden kann, auch wenn die Vorträge im Internet abrufbar sind. Deshalb entschieden wir uns, drei aufeinanderfolgende und zusammenhängende Sammelbände in der Minireihe „Knoten und Kanten“ zu veröffentlichen. Die Einzelbände sind dabei in jeweils drei verschiedene Kapitel gegliedert: Im ersten Kapitel widmen sich die Autoren übergeordneten Themen wie beispielsweise theoretischen Ansätzen, dem Bereich der Visualisierungs- und Darstellungsmöglichkeiten sozialer Netzwerke oder den unterschiedlichen methodischen Verfahren zur Erhebung bzw. Auswertung von Netzwerkdaten. Hierbei war es uns besonders wichtig, sowohl aktuelle als auch klassische Ansätze aus unterschiedlichen Disziplinen leicht verständlich vorzustellen. Im zweiten wie auch im dritten Kapitel widmen sich die Inhal10

VORWORT

te schließlich übergeordneten Forschungsfeldern. Zu nennen wären hier Netzwerkthemen, welche durch wirtschaftliche, migrationssoziologische, politik- und medienwissenschaftliche, anthropologische und geschichtswissenschaftliche Fragestellungen aufgeworfen werden. Wie im ersten Kapitel sind die Autoren unterschiedlichen Fachrichtungen zuzuordnen. Im Fokus der Sammelbände stehen somit der interdisziplinäre Austausch und der Blick über den eigenen wissenschaftlichen Tellerrand. Damit stellen die drei Publikationen in der deutschen Forschungsliteratur sicherlich noch eine Ausnahme dar, aber gerade die Klammer „Netzwerkanalyse“ erlaubt es, neue Ideen aus unterschiedlichen Wissenschaften in unser wissenschaftliches Denken und Forschen einfließen zu lassen. Wir hoffen daher, dass die Leser genauso viel Spaß beim Lesen haben wie wir bei der Zusammenstellung und Planung des Sammelbandes. Gleichzeitig hoffen wir, dass wir mit dem hier Vorgestellten neugierig machen und weitere Forscher für die Thematik „Knoten und Kanten“ gewinnen können.

Wir danken Zuerst möchten wir uns bei den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für die gute und engagierte Zusammenarbeit bedanken. Durch ihre Bereitschaft, sich auf unser Projekt einzulassen, haben sie ebenso zum Gelingen des Buches beigetragen wie auch durch ihre innovativen und spannenden Beiträge. Besonders bedanken möchten wir uns beim Vorstand des Exzellenzclusters der Universitäten Trier und Mainz „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke“, der es uns ermöglichte, unsere Idee einer interdisziplinären Vortragsreihe und einer eigenen Publikation zu verwirklichen. Ohne das Vertrauen und die finanzielle und organisatorische Unterstützung wäre dies nicht möglich gewesen. An dieser Stelle gebührt ein herzliches Dankeschön auch unseren Kollegen und wissenschaftlichen Hilfskräften: Während Ruth Rosenberger und Martin Stark das Projekt mit auf den (Erfolgs-)Weg gebracht haben, hat die tatkräftige Mitarbeit von Britta Heiles und David Laudwein während der Vortragsreihe das zeitweilige Absinken ins Chaos verhindert. Philipp Scherber hat uns schließlich bei der Erstellung des Typoskriptes maßgeblich geholfen. Zu den „ständigen Helfern“ zählt ebenso Daniel Bauerfeld von der Geschäftsstelle des Exzellenzclusters.

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KNOTEN UND KANTEN

Darüber hinaus gilt unser Dank dem transcript-Verlag, der uns erlaubte, unsere Ideen zu veröffentlichen sowie allen, die uns direkt oder indirekt durch Rat und Tat unterstützt haben. Vielen Dank! Die Herausgeber, Trier 2010

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Soz iale Netzwerkanal yse. Eine interdisziplinäre Erfolgsgeschichte MARKUS GAMPER UND LINDA RESCHKE1

Anfang des neuen Jahrtausends entwarf Manuel Castells das Bild einer ‚vernetzten Welt‘, in der unser Leben sowohl durch die global agierende Wirtschaft, als auch durch die zunehmende Vernetzung unter den Menschen geprägt ist, und traf damit schon ‚vor der Krise‘ den Nerv der Zeit (Castells 2001). Das aktuelle Beispiel aus dem Finanzmarktsektor zeigt, wie Spekulationen und eine starke Vernetzung zwischen Finanzdienstleistern zu einer globalen Finanzmarktkrise führen können. Dabei versteht sich diese vernetzte Gesellschaft zunehmend auch als Wissensgesellschaft, in der die Wirtschaft vor allem mobile Arbeitskräfte nachfragt. Unter den Arbeitsmigranten machen hoch qualifizierte Fachkräfte wie etwa IT-Experten jedoch nur einen Bruchteil aus, wogegen die meisten Migranten als un- und angelernte Arbeitnehmer angestellt werden. So gehört die Präsenz weltweiter Migrationsströme schon lange zur sozialen Realität der Industrienationen. Die allgegenwärtigen Debatten über Integration, religiöse Toleranz und kulturelle Vielfalt machen dabei deutlich, wie stark das kulturell Fremde die Nationalstaaten und ihre Bevölkerungen herausfordert (vgl. etwa Huntington 1993). In wirtschaftlicher Hinsicht spielen die Migranten für ihre Herkunftsländer wiederum eine nicht zu unterschätzende Rolle. So sind wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstand speziell in Entwicklungsländern eng mit der Migra1

Unser besonderer Dank gilt Karoline Krenn und Christian Marx, die unseren Überlegungen durch ihre anregenden Hinweise und ihre kritische Lektüre den letzten Schliff verliehen haben. 13

MARKUS GAMPER UND LINDA RESCHKE

tion verbunden: So zeigt etwa der UNDP-Entwicklungsbericht, dass Migranten im Jahr 2008 ca. 308 Milliarden Dollar in ihre Herkunftsländer überwiesen haben. Diese Summe ist viermal so hoch wie die weltweite Entwicklungshilfe im Jahre 2007 (UNDP 2009: 72ff.). Nicht nur auf globaler Ebene, sondern auch im engeren, regionalen Kontext sind die hier nur skizzenhaft berührten Prozesse ohne eine soziale Vernetzung der treibenden Akteure, die sich auf gegenseitiges Vertrauen verlassen, kaum denkbar. Soziale Beziehungen, die Menschen zueinander pflegen, stellen eine der treibenden Kräfte für das wirtschaftliche Geschehen und die Bewegung der Migranten dar. Ein sozialwissenschaftliches Buch, das sich mit diesen Zusammenhängen auseinandersetzt, Knoten und Kanten zu nennen, ist daher ungewöhnlich und bedarf einer Erklärung, vor allem da die beiden Begriffe Knoten und Kanten auf den ersten Blick wenig gemein haben. Ihr Zusammenhang mit sozialen Prozessen in Wirtschaft und Migration erscheint erst recht erläuterungsbedürftig. Die Verwendung der beiden Begriffe geht auf eine der ersten Abhandlungen zur Graphentheorie zurück: Im Jahr 1736 warf der Mathematiker Leonhard Euler das sogenannte Königsberger Brückenproblem auf, indem er die Frage zu beantworten suchte, ob es möglich sei, auf einem Rundweg durch Königsberg jede der sieben Brücken über den Fluss Pregel nur einmal zu überqueren. Bei seiner Berechnung standen die Beziehungen zwischen einzelnen Punkten im Vordergrund. Die Brücken wurden so zu Knoten, während der Weg zwischen ihnen – die Verbindung – als Kante bezeichnet wurde. Von der Graphentheorie aus hielten die Begriffe im Laufe der Zeit Einzug in die Sozial- und Geisteswissenschaften, wo sie zusammen mit den mathematischen Graphenberechnungen in der Netzwerkforschung prägend wurden: Hier werden nun unter Knoten soziale Akteure verstanden, bei denen es sich sowohl um individuelle Personen als auch um kollektive Zusammenschlüsse von sozialen Einheiten (z.B. Unternehmen oder Organisationen) handeln kann. Die Beziehungen, die zwischen diesen Akteuren bestehen, werden als Kanten betrachtet. Die Gesamtheit der Knoten und Kanten und die durch sie abgebildeten Strukturen werden als soziales (Gesamt-)Netzwerk bezeichnet. Die spezifische Methodik, mit der solche Gebilde erklärt und studiert werden können, ist die (Soziale) Netzwerkanalyse. Auch wenn der Begriff des sozialen Netzwerks in der Alltagssprache sowie im öffentlichen Bewusstsein durch Internetangebote wie Xing, Facebook oder StudiVZ inzwischen allgemein präsent ist, ist die Idee von sozialen Einheiten, die durch Beziehungen miteinander verbunden sind, vielleicht so alt wie die Menschheit an sich. Philosophen und Sozialanthropologen gehen vom Menschen seit jeher als einem unfertigen 14

SOZIALE NETZWERKANALYSE

Wesen aus, welches lernfähig und formbar ist (vgl. Rousseau 1998 [1762] oder Gehlen 1961). Die fehlenden Naturinstinkte führen schon von Geburt an zu einer sozialen Dependenz von anderen Mitmenschen. Nicht nur um die Grundbedürfnisse befriedigen zu können, sondern auch um allgemeine Verhaltensweisen in der Gruppe zu erlernen, die sich beispielweise in kulturellen Codes (z.B. Sprache, Normen und Werte) verdichten, ist der Mensch auf die Beziehungen in seinem sozialen Umfeld angewiesen. Dieses Umfeld ist selbst zumeist in größere Strukturen eingebunden, welche wiederum Einfluss auf die Akteure nehmen und von diesen im Gegenzug ebenfalls geprägt werden. Vor diesen Überlegungen ist das ‚Denken in Netzwerken‘ seit jeher Bestandteil sozialwissenschaftlicher Theorien und Studien, auch wenn sich die Verwendung von Begrifflichkeiten und methodischen Herangehensweisen unterscheiden. Der ‚relationale Blick‘ sowie die Netzwerkanalyse helfen jedoch, Zusammenhänge und Strukturen zu analysieren, die ohne diese Perspektive im Verborgenen bleiben würden. Gerade hier liegt der interdisziplinäre Mehrwehrt der Netzwerkforschung. Aufgrund der vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, die diesen Forschungszweig somit auszeichnen, ist die Einführung einer geschichtlichen Hinführung zum Thema Knoten und Kanten gewidmet. Es soll verdeutlicht werden, dass die Netzwerkforschung aus verschiedenen Wissenschaftszweigen der Human- und Sozialwissenschaften hervorging. Hierbei werden die wohl bedeutendsten Entwicklungsstränge und ihre Vertreter vom 19. Jahrhundert bis heute exemplarisch vorgestellt. Am Anfang werden die soziologischen Anfänge präsentiert (1), bevor die wichtigsten Forschungen der psychologischen Netzwerkanalyse erörtert werden (2). Im Anschluss stehen zusammen mit der US-amerikanischen Industriesoziologie und Stadt- und Gemeindeforschung die anthropologischen Annäherungen der Manchester Schule an den Netzwerkbegriff im Fokus (3). Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich die Netzwerkforschung seit den 1970er Jahren zu einem eigenständigen Wissenschaftszweig entwickelt hat, der vor allem in den USA einen festen Platz im sozialwissenschaftlichen Curriculum gefunden hat. Gerade sein hoher Grad an interdisziplinärer Anschlussfähigkeit führte hierbei zu der Bildung eines Wissenschaftsnetzwerkes, das zwar immer noch aus vielen einzelnen Knoten besteht. Diese sind jedoch zunehmend zu einem Netz mit vielen weak ties verbunden. Dies gilt nicht zuletzt für die deutsche Netzwerkforschung, die zuletzt skizziert wird (4). Hier soll deutlich gemacht werden, dass sich der vorliegende Band wie auch die geplanten Nachfolger als eine Art ‚Werkschau‘ verstehen, die einen Überblick über die deutsche Forschungslandschaft ermöglicht. Den Auf-

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takt machen hierbei die netzwerkanalytischen Studien, welche aus der Wirtschafts- und Migrationsforschung hervorgegangen sind (5).

1 . D e r s o z i o l o g i s c h e An f a n g d e r N e t z w e r k a n a l ys e Die ersten wissenschaftlichen Abhandlungen zu sozialen Beziehungen und die Bedeutung von Kanten für das menschliche Zusammenleben finden ihren Ursprung am Anfang und vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So finden sich soziologische Abhandlungen über Gesellschaftsstruktur und den Zusammenhalt von Individuen innerhalb einer Gemeinschaft schon bei den Soziologen Auguste Comte, Ferdinand Tönnies, Norbert Elias, Emile Durkheim und Gustave LeBon. „[A]ll tried to specify the different kinds of social ties that link individuals in different forms of social collectivities“ (Freeman 2004: 15). Die ersten schriftlichen Erwähnungen des Wortes Netzwerk können ebenfalls in diese Zeit zurückverfolgt werden. Der britische Kriegsberichterstatter Archibald Forbes verwendete den Begriff in einem sozialen Kontext in seinem Buch Chinese Gordon. A succinct record of his life. Er schreibt: „British India is a network of cliquism and favoritism […]“ und kritisiert damit die Günstlingswirtschaft in Indien (Forbes 1884: 206). Der wohl am meisten beachtete Ansatz zu einer formalen Soziologie geht jedoch auf Georg Simmel zurück. Simmel behauptet, dass zwischen Punkten Anziehungskräfte bestehen und dass sich Individuen in Netzwerken verbinden. Für ihn wird Gesellschaft erst dadurch möglich, „dass die Individualität des Einzelnen in der Struktur der Allgemeinheit eine Stelle findet, ja, dass diese Struktur gewissermaßen von vornherein, trotz der Unberechenbarkeit der Individualität, auf diese und ihre Leistung angelegt ist“ (Simmel 1908: 30). Vor dem Hintergrund dieser Wechselwirkung spricht Simmel explizit von Netzwerken: „Der kausale Zusammenhang, der jedes soziale Element in das Sein und Tun jedes andern verflicht und so das äußere Netzwerk der Gesellschaft zustande bringt, verwandelt sich in einen teleologischen, sobald man ihn von den individuellen Trägern her betrachtet, von seinen Produzenten, die sich als Ichs fühlen und deren Verhalten aus dem Boden der für sich seienden, sich selbstbestimmten Persönlichkeit wächst“ (Simmel 1908: 30). Der Soziologe ging dabei von der Kreuzung von unterschiedlichen sozialen Kreisen aus, an denen Individuen teilhaben. Hierbei stehen alle mit allen in verschiedenen Formen wechselseitiger Beziehungen, die den Prozess der Vergesellschaftung vorantreiben. Das Bemerkenswerte an Simmels theoretischen Überlegungen ist, dass allein die Form von Be16

SOZIALE NETZWERKANALYSE

ziehungen Aufschluss über Kohäsionsprozesse und Individualisierungstendenzen geben kann. Zugleich können sie auch zur Erklärung für Normenbefolgung wie auch -wandel herangezogen werden (Simmel 1908: 20-30). Simmel ist damit einer der ersten Sozialwissenschaftler, der einen relationalen Ansatz verfolgte (Strauss 2002: 26). Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass eine Vielzahl von Strukturmerkmalen sozialer Beziehungen, die heute in der Netzwerkliteratur Anwendung finden (z.B. Homophilie, Anzahl der Personen), bereits schon von Simmel behandelt wurde (Hollstein 1999; 2008). Während Simmels Konzept der ‚Relationalität‘ im deutschsprachigen Raum mit weniger Aufmerksamkeit verfolgt wurde, trieben vor allem zwei unterschiedliche Wissenschaftszweige in den USA und Großbritannien die wissenschaftliche Untersuchung von zwischenmenschlichen Beziehungen und den daraus entstehenden Strukturen voran. Zu nennen sind die Sozial- und Entwicklungspsychologie auf der einen, die Strukturfunktionalistische Anthropologie auf der anderen Seite.

2 . N e t z w e r k a n a l ys e i n d e r P s yc h o l o g i e 2.1 Die Soziogramm-Forschung Die ersten empirischen Studien auf dem Weg zur Sozialen Netzwerkanalyse gehen auf die Sozial- und Entwicklungspsychologie sowie die Soziometrie zurück.2 Deren Wurzeln lassen sich bis ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückverfolgen.3 Speziell die Erforschung von sozialen Beziehungen wurde an Schulen durchgeführt. Anhand von teilnehmender Beobachtung und qualitativen Interviews wurden (affektive) Beziehungen unter Schülern untersucht.4 Die Befunde fanden ihren Niederschlag in sogenannten Soziogrammen. 2 Die wohl ersten Versuche der systematischen Datenerhebung von nichtmenschlichen Beziehungen sind um das Jahr 1810 zu verorten und gehen auf den Schweizer Biologen Pierre Huber zurück. Er untersuchte die Interaktion bei Ameisen so wie bei Bienen (vgl. Freeman 2004: 16). 3 Zu den sozial- und entwicklungspsychologischen Studien zählen etwa: Monroe, Will S. (1898): „Social consciousness in children“. In: Psychological Review 5, S. 68-70, Terman, Lewis M. (1904): „A preliminary study of the psychology and pedagogy of leadership“. In: Journal of Genetic Psychology 11, S. 413-451 oder später im deutschsprachigen Raum Dollase, Rainer (1973): Soziometrische Techniken. Techniken der Erfassung und Analyse zwischenmenschlicher Beziehungen in Gruppen, Weinheim: Beltz. 4 Hierzu zählen etwa: Almack, John C. (1922): „The influence of intelligence on the selection of associates“. In: School and Society 16, S. 52917

MARKUS GAMPER UND LINDA RESCHKE

Während in diesen Studien der Grundstein für die Soziometrie gelegt wurde, gelang ihr Durchbruch jedoch erst durch den sehr extrovertierten Psychiater Jakob Moreno unter Mitarbeit seiner Kollegin, der Psychologin Hellen Jennings. Der ‚Erfinder‘ der Soziometrie und des Psychodramas beschäftigte sich schon ab den 1920er Jahren mit der Entstehung von Kleingruppen und den in ihnen ablaufenden Prozessen. Methodisch verfuhr Moreno dabei folgendermaßen: Mit Hilfe von Diskussionen, Beobachtungen und Rollenspielen (Psychodramen) zeichnete er Anziehungs- und Abstoßungseffekte (Kanten) zwischen Individuen (Knoten) in Soziogrammen auf und stellte somit die Strukturen einer sozialen Gruppe grafisch dar (vgl. Abbildung 1). Der Psychologe erhoffte sich, auf diese Weise Interventionsmöglichkeiten ableiten zu können. Die Anspielung auf Darwins Selektionstheorie im Titel seines wohl bekanntesten Buchs Who shall survive? (1934), in dem er zum einen die Grundlagen seiner Theorie der Soziometrie, zum anderen seine Forschungsergebnisse wie z.B. die sozialen Beziehungen von Mädchen in der Hudson School for Girls darstellte, ist dabei kein Zufall: Seiner Auffassung nach biete gerade die Analyse von Soziogrammen nützliche Einblicke in verdeckte Strukturen und Prozesse innerhalb sozialer Gruppen: „Für die Welt umfassende Manifestationen der natürlichen Auslese der Arten, wie sie Darwin beschreibt, ist ein direkter Beweis nicht oder nur schwierig zu erbringen, während wir mittels soziometrischer Methoden direkten Aufschluss darüber bekommen, wie eine natürliche Auslese stattfindet in unserer eigenen Mitte, in unserer eigenen Gesellschaft, in jedem Augenblick und an zahllosen Orten“ (Moreno 1954: 6f.). Seiner Ansicht nach ließen sich aus den so gewonnenen Kenntnissen Strategien ableiten, die dazu geeignet wären, den Hergang der sozialen Selektion zu beeinflussen. Der Psychologe ging davon aus, dass sich hierdurch das Zusammenleben der gesamten Menschheit verbessern ließe. Seine Ziele – Analyse und Intervention – beschreibt er in seinem späteren Werk wie folgt: Es sei „wichtig zu wissen, ob es möglich ist, eine Gemeinschaft so zu organisieren, dass jedes ihrer Mitglieder eine freie Person ist, die voll und ganz an der Bildung der Kollektive beteiligt

530; Wellman, Beth (1926): „The school child’s choice of companions“. In: Journal of Educational Research 14, S. 126-132. Im deutschsprachigen Raum: Lochner, Rudolf (1927): „Das Soziogramm der Schulklasse“. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie 28, S. 177-205 oder Reininger, Karl (1924): Über soziale Verhaltungsweisen in der Vorpubertät, Wien. Eine Zusammenfassung der englischen Studien findet sich bei Freeman, Lincoln C. (1996): „Some antecedents of social network analysis“. In: Connections 19, S. 39-42. 18

SOZIALE NETZWERKANALYSE

Abbildung 1: Soziogramm einer achten Klasse

Quelle: Moreno 1934: 161 ist. Bei der Bildung einer solchen Gemeinschaft werden Individuen und Kollektive so aufeinander abgestimmt, dass eine harmonische, dauerhafte Vereinigung daraus entsteht“ (Moreno 1954: 7). Hierbei ist Soziometrie ein Teil der Sozionomie zu verstehen, welche sich „mit der Erforschung der Entwicklung und Organisation der Gruppe und der Stellung der Individuen in ihr“ befasst (Moreno 1954: 28f.). Der Frage, wie Individuen zueinander stehen und wie sich die Einstellungen zueinander ändern können, ging auch Fritz Heider nach. In Anlehnung an die Gestalttheorie von Wolfgang Köhler und die Feldtheorie von Kurt Lewin 5 entwickelte er die Balancetheorie und unter-

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Sowohl bei Wolfgang Köhler als auch Kurt Lewin spielen ‚Beziehungen‘ eine große Rolle. Hier handelt es sich vor allem um ‚vernetztes Wissen‘: Köhler fand bei seinen Studien auf Teneriffa heraus, dass Primaten Aufgaben als Ganzes erfassen und durch Lernen lösen können. Hierbei stellen sie Beziehungen zwischen den einzelnen Schritten zur Problemlösung her. Auf diesen Ergebnissen aufbauend stellte Lewin in seiner Feldtheorie heraus, dass das Verhalten durch Felder und die Wechselwirkung zwischen ihnen beeinflusst wird: „Das Handeln des Individuums spielt sich in einem raum-zeitlichen Feld ab. Alle Handlungen in diesem Feld stehen in einer 19

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suchte die Wechselwirkung zwischen sozialen Beziehungen und Einstellungen von Menschen in Kleinstgruppen. Seine Grundannahme beschreibt Heider wie folgt: „Attitudes towards persons and causal unit formations influence each other. An attitude towards an event can alter the attitude towards the person who caused the event, and, if the attitudes towards a person and an event are similar, the event is easily ascribed to the person. A balanced configuration exists if the attitudes towards the parts of a causal unit are similar“ (Heider 1946: 107). Die durch diese Konstellation gebildete Triade besteht aus drei Einheiten – dem Knoten P (person), dem Knoten O (other) sowie dem Knoten X (Einstellungsobjekt). Die Balancetheorie findet auch heute noch große Beachtung in der Netzwerkanalyse (vgl. beispielweise Mäs/Knecht 2008). Das Einstellungsobjekt X wird dabei in der Netzwerkforschung häufig als Dritte Person definiert. Die Beziehungen werden hierbei unter der Annahme untersucht, dass ein Individuum (unbewusst) nach einer Ausbalancierung seiner Beziehungen strebt. Von einer Balance in einem Netzwerk kann beispielsweise gesprochen werden, wenn der Knoten P mit Knoten X eine positive Beziehung unterhält und gleichzeitig zwischen dem Knoten O und der Person X Sympathie vorhanden ist. Dieser Fall lässt sich etwa vereinfacht in dem Ausspruch wiederfinden: Der Freund meines Freundes ist auch mein Freund.

2.2 Die Mathematisierung der psychologischen Netzwerkforschung in den 1940er und 1950er Jahren Nach diesen qualitativen Forschungen, die zum ersten Mal eine strukturalisierte Visualisierung von Kleingruppen vornahmen, entwickelte sich in der Psychologie in den 1940er und 1950er Jahren ein stark mathematischer Zweig. Einer der Hauptgründe dieser Entwicklung war die Unzufriedenheit mit den zu dieser Zeit existierenden Darstellungsmöglichkeiten, die sich trotz allem nur beschränkt zur Strukturierung von Netzwerken eigneten, sowie die Schwierigkeiten bei der Interpretation großer Fallzahlen. So konnten die Kanten in einem Soziogramm ohne bestimmte Regeln gesetzt werden, was dazu führte, dass ein gegebenes Netzwerk auf jeweils verschiedene Weise abgebildet werden konnte. Eine Vergleichbarkeit zwischen mehreren Soziogrammen bzw. Netzwerken wurde dadurch in vielen Fällen unmöglich. Ebenso erschwerte die Darstellung einer großen Anzahl von Knoten und Kanten die Interpretation. Beziehung der Wechselwirkung zueinander“ (Blankertz/Doubrawa 2005: 68). 20

SOZIALE NETZWERKANALYSE

Abbildung 2: Target-Soziogramm von Northway

Quelle: Norway 1940: 149 Um Abhilfe zu schaffen, wurde an der Bestimmung von Strukturmaßen geforscht, die unabhängig vom Graphen zu deuten waren und heutzutage die Grundlage für die quantitative Netzwerkanalyse bilden (vgl. Jansen 2006: 92). So griffen Psychologen auf die Ideen Morenos (1934) und des Sozialpsychologen Lewin (1936) zurück, um soziale Beziehungen mathematisch und damit vergleichend analysieren zu können. Mary Northway (1940) und Lloyd A. Cook (1945) trugen dazu bei, Soziogramme so zu ordnen, dass sie leichter interpretierbar wurden. Northway arbeitete hierzu erstmals mit konzentrischen Kreisen, um die Akzeptanz von Individuen und die präferierten zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb sozialer Gruppen abbilden zu können. Die Kreise repräsentierten hierbei in Viertelwerten abgestufte Akzeptanzgrade, in welche die Gruppenmitglieder eingeordnet werden konnten (vgl. Abbildung 2). Dieses Verfahren lässt sich später in den 1980er Jahren etwa bei Kahn und Antonucci (1980) in der Darstellung von Unterstützungsnetzwerken finden. Das sogenannte Social Convoy Modell wurde ebenso von der sogenannten Neueren Qualitativen Netzwerkanalyse wieder aufgegriffen (vgl. Hollstein 2001; 2008).

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Waren diese ersten Schritte noch rudimentär, ging Alex Bavelas (1947) über die einfachen Darstellungsformen hinaus. Der Psychologe befasste sich mit der Kommunikation innerhalb von Netzwerken und entwickelte mathematisch ermittelbare und aussagekräftige Parameter wie beispielweise die Zentralität. Anhand dieses Wertes kann auf die Bedeutung eines Akteurs für das Gesamtnetzwerk geschlossen werden. Anfang der 1950er Jahre untersuchte Bavelas hierzu am Massachusetts Institute of Technology (MIT) den Einfluss zentraler Akteure auf die Arbeitsleistung und Funktionsweise von Gruppen (Bavelas 1950; Bavelas/Barrett 1951). Seine Befunde wurden in den 1970er Jahren von der Organisationssoziologie aufgegriffen (vgl. Berardo/Scholz 2007). Auch die wohl öffentlichkeitswirksamste Netzwerkstudie – Stanley Milgrams Ende der 1960er Jahre durchgeführtes Experiment zum sogenannten Small World Problem – fußte auf mathematischen Problemen, die bereits Anfang der 1950er Jahre aufgeworfen wurden: Der Politologe Ithiel de Sola Pool und der Mathematiker Manfred Kochen hatten sich mit der ‚Funktionsweise‘ von sozialen Netzwerken befasst und versucht, die mathematischen Implikationen auszuloten. Hierbei ging es vor allem um den Grad der Verbundenheit zwischen den Akteuren bzw. die Erreichbarkeit von Knoten über eine bestimmte Anzahl von Kanten (Schnettler 2009: 165f.). Milgram machte es sich nun zum Ziel, die sprichwörtlich gewordene Feststellung „My, it’s a small world!“ (Milgram 1967: 61) empirisch auf ihren Realitätsgehalt zu prüfen. Hierzu sollten Versuchspersonen aus der Westküste der USA (Omaha) ein Paket an eine Person, die sie nicht weiter kannten, nach Boston schicken. Die Bedingung dabei war, das Paket über Kontaktpersonen dem ausgewählten Empfänger zukommen zu lassen (Kleinfeld 2002). Das Experiment ergab, dass es im Schnitt etwa 6,4 Vermittler bedurfte, damit das Paket den unbekannten Adressaten erreichte. Allerdings blieb die Studie nicht unumstritten. Kritiken zielten etwa auf den geringen Erfolg des Paketversandes, nachdem von 300 aufgegebenen Paketen nur etwa 30 Prozent das Ziel erreichten. Milgrams Befund wurde daher in die Six degree of separation-These umgemünzt (Schnettler 2009: 166). Fast zeitgleich zu Bavelas fokussierten Leon Festinger, der Leiter des Zentrums für Gruppendynamik an der University of Michigan (Festinger 1949: 153) und seine Kollegen Ducan Luce und Albert Perry (1949) auf den Faktor der Cliquenbildung innerhalb von Netzwerken. Festinger stellte dabei fest: „The more cohesive the group, that is, the more friendship ties there are within the group, and the more active the process of communication which goes on within the group, the greater will be the effect of the process of communication in producing uniformity of attitudes, opinions, and behaviour, and the stronger will be the 22

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resulting group standard, as indicated by the degree of uniformity among members of the group and the amount of deviation from group standard allowed in member“ (Festinger et al. 1950: 175). Ähnlich zu Fritz Heider stellte die Forschergruppe somit einen Zusammenhang zwischen Freundschaftsbeziehungen und gleichen Einstellungen und Verhaltensweisen innerhalb einer Gruppe her. Ihr Befund lautet: Je stärker die Mitglieder untereinander verbunden sind, desto mehr gleichen sie sich einander an und desto stärker werden die Erwartungen an die Mitglieder, sich diesem Gruppenstandard anzugleichen. Bei den Maßzahlen, die hierbei in den Blick genommen werden, handelt es sich mithin um die Netzwerkdichte sowie Homophiliewerte.

3 . N e t z w e r k a n a l ys e i n d e r An t h r o p o l o g i e In einer verwandten Disziplin, der Anthropologie, entwickelte sich unabhängig von der Psychologie in den USA und in England Ende der 1930er Jahre ein strukturfunktionalistischer Wissenschaftsstrang, dessen Ursprung hauptsächlich auf den britischen Sozialanthropologen Alfred R. Radcliffe-Brown zurückzuführen ist. Der Mitbegründer der Functional School of Social Anthropology, die von Parsons weitergeführt wurde, nahm von abstrakt formulierten Forschungsobjekten Abstand. Seiner Auffassung nach sei es nicht möglich, Gegenstände wie ‚Kultur‘ oder ‚Norm‘ zu beobachten. Anders verhalte es sich jedoch mit sozialen Beziehungen. Der Anthropologe konstatierte: „[H]uman beings are connected by a complex network of social relations“ (Radcliffe-Brown 1940: 3). Diese seien nach einem bestimmten Muster geordnet, so dass der Begriff der sozialen Struktur alle sozialen Beziehungen von Person zu Person einschließen solle, innerhalb derer sich die Individuen nach Positionen und sozialen Rollen differenzieren (Hennig 2006: 62). Auch wenn er somit nicht der erste war, der bei den Verbindungen zwischen sozialen Einheiten von Netzwerken spricht (Simmel 1908), prägten seine Ideen die Forschungen von Warner und Mayo sowie der Manchester Schule (Jansen 2006: 43). Beide Entwicklungsstränge werden in den folgenden Abschnitten näher dargestellt.

3.1 Die Organisations- und Gemeindeforschung in den USA In den USA entwickelte sich eine Netzwerk-orientierte Industrie- und Stadt- bzw. Gemeindeforschung um den Psychologen Elton Mayo und den Anthropologen Lloyd Warner, der bei Radcliffe-Brown in England 23

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Abbildung 3: Darstellung der Teilnahme von Arbeitern an der Diskussion über das Thema „Fenster offen oder geschlossen“

Quelle: Roethlisberger/Dickson 1939: 5036 studierte. Hierbei waren es besonders drei Studien, die methodisch und inhaltlich von großer Bedeutung sind. In der klassisch arbeitswissenschaftlichen Hawthorne-Studie kamen Elton Mayo, Lloyd Warner und ihre Mitarbeiter nicht nur dem nach dem Durchführungsort benannten Hawthorne-Effekt auf die Spur, sondern befassten sich auch mit dem Gruppenverhalten und der Dynamik innerhalb von industriellen Arbeitsgruppen (vgl. auch Schnegg in diesem Band). Zwischen 1924 und 1932 führten die Forscher teilnehmende Beobachtungen und semi-strukturierte Interviews mit Arbeitern der Hawthorne-Elektrizitätswerke der Western Electric Company in der Nähe von Chicago durch (Roethlisberger/Dickson 1939). Bekannt geworden ist der speziell für die Versuchsanordnung eingerichtete Raum, der bank wiring room. Zu den wichtigsten Ergebnissen der Experimente gehört die Erkenntnis, dass sich im Betrieb hauptsächlich soziale Beziehungen auf die Arbeitseffektivität auswirken (Mayo 1975 [1949]). Ebenso unterliefen die hier ausschlaggebenden informellen Beziehungen die vorgesehenen, formellen Wege des Management-Organigramms (Roethlisberger/Dickson 1939: 500ff.). Roethlisberger und Dickson bildeten Teile ihrer Ergebnisse in Soziogrammen ab: Ganz im Sinne einer Netzwerkanalyse wurden die Mitarbeiter von den Forschern als Knoten und die verschiedenen Beziehungstypen (z.B. Hilfs- oder Freundschaftsbezie-

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Die Bezeichnung der Akteure lässt sich folgendermaßen erklären: W steht hier für wireman, I für inspector und S für solderman.

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hungen) durch Pfeile (Kanten) abgebildet, um die beobachteten Kommunikationswege zu visualisieren (vgl. Abbildung 3). In der sogenannten Yankee City-Studie von Loyd Warner und seinen Mitarbeitern untersuchte die Forschergruppe unter anderem das Zusammenleben zwischen den Bürgern in der Kleinstadt Newburyport (Massachusetts). Hierfür griffen sie auf die Methoden der teilnehmenden Beobachtung, auf qualitative Interviews und Dokumentenanalysen zurück. Unter Bezug auf Simmel stellte Warner die Frage nach der Integration der Individuen in der Gemeinschaft (z.B. in Klassen, Familien und Freundschaften) und fand heraus, dass die untersuchte Gemeinde, jenseits von Familie und formellen Strukturen, stark von informellen Beziehungen geprägt war. Die durch diese Vernetzung entstandenen Cliquen konnten sich auch überlappen (Warner/Lunt 1941). In einer weiteren Studie untersuchten Mitarbeiter von Warner die Sozialstruktur und die Bräuche von Afroamerikanern und weißen US-Bürgern im Deep South, in der Stadt Old City. Wie auch bei der Yankee-Studie galt das Augenmerk dem Zusammenhang zwischen Cliquenbildung und Klassenzugehörigkeit (Davis et al. 1941). Angesichts einer hohen Anzahl von Untersuchungsobjekten, griffen sie bei ihrer Analyse – anders als bei der Hawthorne-Studie oder bei Moreno – auf einfache Matrizen zurück, in der die Teilnahme von Frauen an einzelnen sozialen Events abgebildet wurde. In einer Two mode-Matrix wurde hierfür der Name der befragten Frauen in die Zeile und das Event, an dem sie teilnahmen, in den Spalten abgetragen (vgl. Abbildung 4). Die Interpretation blieb allerdings wenig aussagekräftig. In den 1950er Jahren wertete der Soziologe Georg C. Homans diesen Datensatz dagegen nochmals aus und arrangierte die Matrix neu, wodurch er ein später noch bedeutsam werdendes Strukturbild erhielt. Homans versuchte, die einzelnen Gemeindemitglieder und ihre Cliquenzugehörigkeit durch Permutation der Zeilen und Spalten in Blöcken zusammenzufassen, um Strukturen besser differenzieren zu können (Homans 1950). Auch wenn er dieses Verfahren händisch, also ohne Rückgriff auf eine mathematische Methode zur Neustrukturierung bediente, ebnete er durch seinen Ansatz den Weg für die heute bekannte BlockModellierung, die Harrison White in den 1970er Jahren einführte (vgl. Scott 1997: 24).

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Abbildung 4: Häufigkeit der Teilnahme von Frauen an sozialen Events und ihre Cliquenzugehörigkeit

Quelle: Davis et al. 1941: 148

3.2 Die Manchester Schule In den 1950er Jahren entstand in England die sogenannte Manchester Schule um den Ethnologen Max Gluckman, der den strukturellen Ansatz von Radcliffe-Brown in seiner Arbeit reflektierte. Die Manchester Schule kann als Gegenbewegung zu der in den 1950er und 1960er Jahren dominierenden Sozialwissenschaftstheorie des Strukturfunktionalismus von Parsons angesehen werden. Nach Gluckmann ist Handlung nicht allein durch die Internalisierung von gesamtgesellschaftlichen Werten, sondern durch die Verortung des Individuums in einer Struktur erklärbar (Scott 1997: 27f.). Somit sind es konkretes Verhalten, konkrete Beziehungen und die in ihnen realisierten Machtgefälle und Konflikte, welche von Interesse sind. Entsprechend wurde ein dezidiert feldforscherischer Ansatz für die Manchester Schule charakteristisch (vgl. Hennig 2006: 62). Die wohl bekanntesten Vertreter dieser Netzwerkforschung sind neben Gluckman besonders John Barnes, Elisabeth Bott, der Österreicher Siegfried Nadel und Clyde Mitchell. Barnes untersuchte in seiner Gemeindestudie die Vernetzung der 4.600 Einwohner der norwegischen Insel Bremnes. Dabei fand er heraus, dass die sozialen Felder in drei Kategorien zerfallen: relativ stabile, regional verortete formale Organisationen (z.B. Kirchengemeinde), instabile Fischerverbände und zwischenmenschliche Beziehungen, die

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sich zu einem sozialen Netzwerk verbinden.7 Auch wenn lebensweltliche Beziehungen noch am offensten erscheinen, weist die Studie auf Schichteffekte hin, da die Beziehungen hier meist zwischen sozialen Einheiten aus derselben Schicht bestehen. In diesem Zusammenhang spricht Barnes explizit von Netzwerken: „I find it convenient to talk of a social field of this kind as a network. The image I have is of a set of points some of which are joined by lines. The points of the image are people, or sometimes groups, and the lines indicate which people interact with each other“ (Barnes 1954: 43). Während sich Barnes mit ganzen Gemeinden beschäftige, fokussierte sich die Psychologin und Ethnologin Elisabeth Bott auf die egozentrierten Netzwerke von Familien. In ihrer Herangehensweise untersuchte sie, inwieweit sich soziale Beziehungen auf die Rollenverteilung und Arbeitsteilung innerhalb eines Haushaltes auswirken. Sie stellt fest: „The degree of segregation in the role-relationship of husband and wife varies directly with the connectedness of the family’s social network. The more connected the network, the greater the degree of segregation between the roles of husband and wife. The less connected the network, the smaller the degree of segregation between the roles of husband and wife“ (Bott 1957: 60). Da sie, anders als die anderen Studien, die Sicht der Individuen auf ihr subjektives Netzwerk analysiert, gilt sie als Wegbereiterin der egozentrierten Netzwerkanalyse (vgl. hierzu Schnegg in diesem Band). In seinem theoretischen Vorgehen konkretisiert des Psychologe und Sozialanthropologen Siegfried Nadel die Begriffe Rolle, Beziehung und soziale Struktur und grenzt sie voneinander ab. Nadel geht davon aus, dass Beziehungen zwar einen generellen Charakter besitzen, diese sich aber aus unterschiedlichen beobachtbaren Handlungsweisen zusammensetzen. Dies verdeutlicht er etwa anhand von ‚Freundschaft‘: „Thus we take ‚friendship‘ to be evidenced by a variety of mutual ways of acting, perhaps visible on different occasions, such as help in economic or emotional re-responses.“ Er fährt fort: „Thus, in identifying any relationship we already abstract from the qualitatively varying modes of behaviour an invariant relation aspect – the linkage between people they signify“ 7

Der Begriff des „sozialen Feldes“ wird hier nicht im Sinne Bourdieus verstanden, da es sich nicht um vorstrukturierte soziale Felder handelt, die nur gewisse Handlungen zulassen, denen sich die Akteure unterordnen müssen und die den Habitus, und damit auch das Handeln, aktiv beeinflussen (Bourdieu 1979). Vielmehr sind hier Vernetzungen gemeint, die Barnes auf Basis von empirischen Kategorien wie beispielweise Hierarchien, Ziele und interne soziale Verbindungen unterscheidet. Zur Diskussion über die Verbindung zwischen Netzwerkanalyse und Bourdieus Feldtheorie vergleiche Bernhard (2008). 27

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(Nadel 1957: 9). Beziehungen verbinden damit Personen, die sich in unterschiedlichen Rollen (z.B. Vater und Sohn) gegenüber stehen. Diese Rollenstrukturen werden jedoch erst durch Abstraktion von tatsächlich beobachtbaren Beziehungshandlungen erkennbar. Dies geschieht jedoch nicht rein zufällig. Es existiert eine ‚übergreifende‘ Struktur (overall structur), die sich in den Regelmäßigkeiten dieser Beziehungen innerhalb der Gesellschaft widerspiegelt. „The definition of social structure which we made our starting point stipulated the ordered arrangement, system or network of social relationships obtaining between individuals ‚in their capacity of playing roles relative to one another‘. We therefore regarded the role system of any society, with its given coherence, as the matrix of social structure“ (Nadel 1957: 97). In diesem Sinne gelangte Nadel zu einer relationalen Auffassung von Sozialstruktur. Ende der 1960er Jahre führte der Ethnologe Mitchell die Ideen von Barnes und Bott fort, wobei er besonders Strukturmaße in seiner Analyse einbezog. Wie auch die psychologische Bewegung in den 1940er Jahren in Amerika, greift er auf Soziometrie und Graphentheorie zurück, um beispielsweise die Dichte, die Erreichbarkeit, Reziprozität und die Intensität abzubilden (Mitchell 1969: 16ff.). Bei Mitchell sind es Kommunikationsvorgänge (z.B. Informationsweitergabe) und instrumentelle Handlungen (z.B. Warentausch, Dienstleistung), die soziale Netzwerke erzeugen (Diaz-Bone 1997: 15). Mitchells Definition von Netzwerken löst sich dabei von der reinen Metapher und stellt die Wirkung von Netzwerken als ganzheitliche Struktur in den Mittelpunkt. Ein Netzwerk ist demnach: „A specific set of linkages among a defined set of persons, with the additional property that the characteristics of these linkages as a whole [Hervorh. durch den Verf.] may be used to interpret the social behavior of the persons involved.“ (Mitchell 1969:2) Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Definition speziell bei unterschiedlichen empirischen Netzwerkstudien, welche die Effekte von Beziehungen und Strukturen auf das Verhalten messen, sehr häufig Anwendung findet (vgl. z.B. Engelbrecht 2006: 247; Ganter 2003: 68; Schenk 1995: 4). Wie bisher gezeigt wurde, können die Wurzeln der Netzwerkanalyse nach folgenden Aspekten unterschieden werden: Erstens sind es vor allem Disziplinen wie Soziologie, Psychologie sowie die Anthropologie, die sich Relationen – und damit Knoten und Kanten – als Erklärung von sozialen Prozessen widmeten. Zweitens kann die methodologische Weiterentwicklung von Simmels rein theoretischem Ansatz geographisch hauptsächlich im angloamerikanischen Wissenschaftsraum verortet werden. Drittens war es zuerst eher eine qualitative und visuell orientierte Herangehensweise, welche die Netzwerkanalyse auszeichnete, bevor sich in den 1950er Jahren, speziell in der Psychologie, mathematische 28

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Analyseverfahren herauskristallisiert haben. Hinzu kommt, dass theoretische Ansätze wie beispielweise von Simmel und Nadel und methodische Verfahren bis zu diesem Zeitpunkt nicht kombiniert wurden. Vielmehr existierten unterschiedliche Ideen und Ansätze, die nicht nur durch geographische Räume, sondern auch durch Wissenschaftsdisziplinen getrennt waren.

4. Von einem fragmentierten Wissenschaftsansatz zu einer N e t z w e r kw i s s en s c h a f t m i t v i e l e n w e a k t i e s Die Etablierung der Netzwerkanalyse und damit die Beendigung des „Dark Age“ (Freeman 2004) erfolgte erst in den 70er Jahren und ist auf mehrere Ursachen zurückzuführen, auf die in den folgenden Abschnitten näher eingegangen wird. Hier werden besonders folgende Aspekte wichtig: Erstens griffen die Harvard-Strukturalisten um den Physiker und Soziologen Harrison C. White die theoretischen Herangehensweisen, speziell die von Nadel, wieder auf und kombinierten diese mit den sozialwissenschaftlichen und mathematischen Methoden, die in den 1940er Jahren ihren Anfang nahmen. Dieser Prozess wurde zweitens durch die beginnende Vernetzung unter den Wissenschaftlern selbst, die Institutionalisierung des Forschungszweiges durch wissenschaftliche Zeitschriften und die rasche Entwicklung von Computerprogrammen unterstützt. Drittens wurde die Netzwerkanalyse durch die Weiterentwicklung der Netzwerkerhebungsmethoden für die Survey-Forschung interessant.

4.1 Structure and Identity – die Zusammenführung von Theorie und Mathematik White kritisiert die fehlende theoretische Fundierung des Sozialstrukturbegriffs innerhalb der sozialwissenschaftlichen Analyse von gesellschaftlichen Strukturen. „[L]argely categorical descriptions of social structure have no solid theoretical grounding; furthermore, network concepts may provide the only way to construct a theory of social structure“ (White/Boorman/Breiger 1976: 732). Er übernimmt dabei Nadels Auffassung von Sozialstruktur als regelmäßigen Beziehungsmustern, die sich im Aggregat als Netzwerk darstellen lassen. Vor diesem Hintergrund entwickelte die Gruppe um White ein mathematisches Verfahren, die Blockmodellanalyse, welche die Analyse dieser Aggregate in Form von Rollen- bzw. Positionsmustern in Netzwerken erlaubt (White/Boorman/Breiger 1976). Durch Matrizenpermutationsverfahren werden 29

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strukturell ähnliche Positionen summiert, d.h. Akteure, die äquivalente Beziehungen aufweisen, werden zu Blöcken zusammengefasst. Hierbei spielt es keine Rolle, ob die Akteure selbst miteinander verbunden sind. Das dadurch ermittelte Blockmodell ist damit ein Abbild der Sozialstruktur (Jansen 2006: 212ff.).8 Whites Akteurskonzept geht dabei allerdings nicht von Personen, sondern von beobachtbaren Identitäten aus, die sich über stories (subjektive Beschreibungen der Beziehungen) in Beziehung zueinander setzen. Ihr Beweggrund hierbei ist eine gegebene Unsicherheit (Kontingenz), welche die Identitäten kontrollieren und bewältigen müssen. Dies gelingt ihnen jedoch nie zur Gänze (White 1992: 102). „Identity is produced by contingency to which it responds as intervention in possible processes to come. The rush and jars of daily living are contingencies, as are ill health and contentions of other identities. Control is both anticipation of and response to eruptions in environing process. Seeking control is not some option of choice, it comes out of the way identities get triggered and keep going“ (White 1992: 9). Das Streben nach Stabilität und Kontrolle begleitet Identitäten also dauerhaft und ist prägend für die Konstruktion von sozialen Wirklichkeiten. Durch stories werden Beziehungen zwischen Identitäten – dauerhaft – hergestellt, hierdurch Erwartbarkeit produziert und dadurch wiederum Unsicherheit minimiert. Solche Beziehungen bezeichnet White schließlich als Netzwerke. „Stories express perceptions of social process and structure, but stories also can do conceal projects of control“ (White 1992: 13). Hierbei ist die soziale Konstruktion von persönlicher Identität gleichermaßen abhängig von den internen Verarbeitungs- und Entscheidungsprozessen der Akteure als auch von den Positions- und Relevanzstrukturen innerhalb der so entstandenen Netzwerke (Fuhse 2008: 2938 sowie Holzer in diesem Band).

4.2 Soziale Vernetzung, Institutionalisierung und Computerprogramme Auch wenn die Arbeiten Whites der Netzwerkforschung einen neuen Impuls gaben, zeigt Freeman, dass die Forschungslandschaft damals noch sehr fragmentiert war und ein wissenschaftlicher Austausch kaum stattfand oder zumindest erschwert war. Diesen Umstand führte er auf die starke Mathematisierung der Forschung seit den 1950er Jahren zurück (Freeman 2004: 131). Ab den 1970er Jahren gelang jedoch eine ei8

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Eine ausführliche Einleitung in die Blockmodellanalyse bietet Heidler, Richard (2006): Die Blockmodellanalyse. Theorie und Anwendung einer netzwerkanalytischen Methode, Wiesbaden: DUV.

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gene, wenn auch zaghafte Vernetzung unter den Netzwerkforschern der vorgestellten Disziplinen und Forschungsrichtungen. Aus den ‚Fragmenten‘ der Netzwerkforschung entwickelte sich mit der Zeit ein Netzwerk mit vielen weak ties, dessen Mitglieder in der Lage waren, die Soziale Netzwerkanalyse als eigenständiges Forschungsparadigma und feste Größe in der amerikanischen Soziologie zu etablieren und über die Grenzen des angloamerikanischen Raumes hinaus zu tragen. Als erster Grund für die zunehmende gegenseitige Wahrnehmung, die zu Weitergabe und Austausch von Ideen und Konzepten und somit zu einer Weiterentwicklung der Netzwerkanalyse führte, lässt sich die wachsende Mobilität innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft nennen: Nicht nur wechselten die Forscher öfter als früher zwischen Universitäten, sie zeigten sich auch vermehrt interessiert an einem interdisziplinären Austausch. Als prominentes Beispiel kann hierfür Harrison White selbst dienen: Er promovierte in Theoretischer Physik am MIT, dem Wirkungsort von Alexander Bavelas, sowie in Soziologie an der Princeton University und lehrte bereits während seiner Doktorarbeit in Soziologie am Carnegie Insitute of Technology, Chicago. Daneben wirkte sich auch sein Aufenthalt am Center for Advanced Study in the Behavioral Sciences der Stanford University, Kalifornien, prägend auf seine Forschungen aus. Von 1963 bis 1988 erhielt er schließlich eine Professur für Soziologie an der Harvard University. Im Verlauf dieser Stationen interessierte er sich nicht nur für die Arbeit seiner Kollegen und andere Wissenschaftszweige wie etwa Anthropologie und Ökonomie. In dieser Zeit zeichnete er sich vor allem dadurch aus, seine disziplinären Kompetenzen erfolgreich zu verbinden (vgl. MacLean/Olds 2001). Diese neue Aufgeschlossenheit äußerte sich zunehmend in interdisziplinären Tagungen, wo es zu einem regen Austausch über die Fachgebiete und bereits bestehenden ‚Schulen‘ hinaus kam. Waren es zuerst noch kleine Veranstaltungen, die meist nur einem engen, kleinen Kreis von Wissenschaftlern aus wenigen Universitäten zugänglich waren, änderte sich dies Mitte der 1970er Jahre. Die erste große, sowohl interdisziplinär als auch international ausgerichtete Tagung fand an der Universität Dartmouth im Sommer 1975 statt (vgl. Freeman 2004: 144f.). Mit der Sunbelt Social Networks Conference wurde 1981 schließlich ein Forum geschaffen, das sich schnell zu einer internationalen Plattform entwickelte und zur Etablierung einer Forschungsgemeinde beitrug. Die von Russ Bernard und Al Wolfe begründete Konferenz findet seither jährlich an alternierenden Standorten in Europa und Mittel- und Nordamerika statt. Hier treffen sich nicht nur Netzwerkforscher aus der ganzen Welt, sondern sie tauschen auch Forschungsergebnisse aus unterschiedlichen Disziplinen aus. 31

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Einen weiteren Anlass für die zunehmende Vernetzung spielte auch das im Jahre 1979 getestete, computergestützte Kommunikationssystem Electronic Information Exchange System (EIES), eine Vorform der heutigen Newsgroup. Das von der US-amerikanischen National Science Foundation finanzierte Projekt sollte die Auswirkungen von computerunterstützter Kommunikation auf eine Gruppe von Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen untersuchen, die gemeinsame Forschungsinteressen teilen. Neben einzelnen Ergebnissen zur interpersonellen Vernetzung – etwa zwischen Barry Wellman, einem Schüler von White, und Linton C. Freeman – förderte die Analyse zum einen die Strukturprobleme innerhalb der Gemeinschaft der Netzwerkforscher zu Tage. So standen Soziologen, Anthropologen, Mathematiker und Statistiker sowie Psychologen vor der Einführung von EIES relativ unverbunden nebeneinander (Freeman/Freeman 1980). Zum anderen zeigte sie jedoch auch den Weg auf, auf dem diese Situation ‚überwunden‘ werden konnte: Die elektronische Kommunikation, die den Kontakt über große Distanzen ermöglichte, führte nicht nur zu einem Aufbrechen der vorher festgestellten Stratifikation in der Gemeinschaft, sondern auch zu einer besseren Vernetzung zwischen den partizipierenden Wissenschaftlern (Wasserman/Faust 1994: 63ff.). Nicht zuletzt stellte die Gründung des International Network for Social Network Analysis (INSNA) im Jahre 1977 durch Barry Wellman einen bedeutenden Schritt zur Vernetzung der Netzwerkforscher dar. Der Soziologe hegte damit die Absicht, eine lose Organisation zu schaffen, die eine Plattform für den transatlantischen Dialog zwischen europäischen und nordamerikanischen Netzwerkforscher zur Verfügung stellen sollte: „I decided the best way to start something was to actually start something. I asked many of my North American and European connections to form a legitimating, recruiting Advisory Board, with a balance between American and nonAmerican scholars and between disciplines. [...] I tried to keep things loose and informal: I called it a ‚Network‘ (instead of a ‚Society‘ or ‚Association‘), I styled myself ‚Coordinator‘ rather than ‚President‘ or ‚Chairman‘“ (Wellman 2000: 21). Heute ist INSNA eine Organisation mit mehr als 1.000 Mitgliedern auf der ganzen Welt. Wellman beschränkte sich jedoch nicht auf die Koordination von INSNA. Zusammen mit seinen Studenten gründete er mit Connections eine Fachzeitschrift für Netzwerkforschung, die zusammen mit Social Networks zu den führenden Fachorganen für Soziale Netzwerkanalyse im US-amerikanischen Raum wurde. Seither erscheint Connections zwei bis dreimal im Jahr und hat bis heute den Charakter eines Newsletters beibehalten (Wellman 2000: 24; Freeman 2004: 149). 32

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Auf das Betreiben von Linton C. Freeman erschien mit Social Networks 1978 erstmalig die aus heutiger Sicht wohl renommierteste Zeitschrift rund um das Thema Netzwerkanalyse. Die Zeitschrift enthält Artikel aus unterschiedlichen Disziplinen und half kontinuierlich, das Netz der Netzwerkforscher zu verdichten. Vier Themenhefte im Jahr bündeln die Veröffentlichungen auf diesem Gebiet. Die Wissenschaftler nutzten die Möglichkeit, ihre Forschungsergebnisse gezielt einem breiten Publikum zu präsentieren und sich untereinander auszutauschen. Es ist jedoch anzumerken, dass in Social Networks vor allem methodisch-empirische Beiträge, seltener jedoch theoretische Arbeiten veröffentlicht werden. Bereits 1990 wurde die Zeitschrift unter den einflussreichsten soziologischen Fachzeitschriften geführt (Freeman 2004: 149f.). Neben methodischen Weiterentwicklungen, der zunehmenden Vernetzung der Wissenschaftler sowie der Gründung von Zeitschriften und der Etablierung regelmäßiger Konferenzen war es wohl auch der Fortschritt in der Computertechnologie und der damit einhergehenden Entwicklung von Computerprogrammen zur Analyse von sozialen Netzwerken, welche die ‚Professionalisierung‘ der Netzwerkanalyse vorangetrieben haben. Es darf angenommen werden, dass die Verbreitung der Sozialen Netzwerkanalyse andernfalls kaum so rasch vonstattengegangen wäre. Waren es in den 1960 Jahren noch simple Programme, die nur einzelne Maßzahlen berechnen konnten, änderte sich dies in den 1980er Jahren. Von diesem Zeitpunkt an wurden Programme wie z.B. SONIS oder UCINET entwickelt, welche dazu geeignet waren, verschiedene Netzwerkmaßzahlen zu berechnen und große Fallzahlen zu analysieren (vgl. Freeman 1988). Die Differenzierung der Programme führte schließlich dazu, dass der Gemeinschaft eine ganze Reihe von Softwarelösungen zur Verfügung steht, aus der sich der Forscher je nach Interesse und Fragestellung das geeignete Programm aussuchen kann. Die Hauptunterschiede in der Nutzung liegen vor allem im Bereich der Datenerfassung, den genutzten Visualisierungstechniken sowie den Analyseroutinen, mit denen Netzwerkmaße errechnet werden. Huisman und Van Duijn unterscheiden hier zwischen (1) der deskriptiven Methode, die Netzwerkmaße wie Zentralitäts- oder Transitivitätswerte errechnet, (2) der Analyse auf der Basis komplexer, iterativer Algorithmen (z.B. zur Cluster-Analyse) und (3) stochastischen Modellen, die auf der Wahrscheinlichkeitsverteilung basieren (Huisman/Van Duijn 2005: 275). Neben diesen quantitativen Gesichtspunkten berücksichtigen Programme zur Netzwerkanalyse zunehmend auch qualitative Fragestellungen (z.B. Geschichten über Beziehungen, Dynamiken oder subjektive Erfahrungen). Da die Softwareentwicklung stetig weiter vorangetrieben 33

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wird, bleibt ein Überblick über die existierenden Programme jedoch immer kursorisch und unvollständig. Als Auswahl seien hier dennoch VISIONE, UCINET, EGONET, PAJEK, VennMaker und SIENA als gängige Programme genannt, mit denen unzählige Maßzahlen und auch unendlich viele Daten, qualitativ wie auch quantitativ, schnell und präzise ausgewertet und visualisiert werden können. Ein weiterer Schritt zur Etablierung der Netzwerkanalyse kann schließlich auf James S. Coleman zurückgeführt werden (vgl. Diaz-Bone 1997: 20). Der Soziologe kritisierte bereits 1958 die Fokussierung der Survey-Forschung auf das Individuum und hauptsächlich psychologische Fragestellungen.9 Diese Herangehensweise fördere ein atomistisches Verständnis vom Befragten: Da die Antworten des Interviews selbstreferenziell und nur im Kontext des gegebenen Interviews analysiert werden, erscheine das Individuum als unabhängig von seiner sozialen Umwelt. Ein wichtiger Faktor zur Erklärung sozialer Phänomene, nämlich Freundschafts-, Kollegen- und Verwandtschaftsnetzwerke – letztlich die soziale Einbettung –, würde damit ausgeblendet. Um Abhilfe zu schaffen, plädiert Coleman daher für die Aufnahme von relationalen Fragestellungen in die Survey-Forschung, da er – ähnlich wie White – von der Existenz einer „larger (overall) structure“ ausgeht: „The break from the atomistic concerns of ordinary survey analysis requires taking a different perspective toward the individual interview. In usual survey research and statistical analysis, this interview is regarded as independent of others, as an entity in itself. All cross-tabulations and analyses relate one item in that questionnaire to another item in the same questionnaire. But, in this different approach an individual interview is seen as a part of some larger structure in which the respondent finds himself: his network of friends, the shop or office where he works, the bowling team he belongs to, and so on. Thus, as a part of a larger structure, the individual is not treated independently. The analysis must somehow tie together and interrelate the attributes of these different parts of the structure“ (Coleman 2006 [1958]: 117). Die ersten großen Umfragen mit mehreren hundert Befragten, die nach Relationen zwischen Personen, den Eigenschaften dieser Beziehungen sowie nach Attributen von Personen fragten, stammen aus den 1970er bzw. 1980er Jahren. Die bekanntesten Studien sind hierbei die Detroit Area-Studie von Edward Laumann (1973), die East York-Studie von Wellman (1979), die Northern California Community-Studie von

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Auf die Frage, inwieweit es sich bei der sich Survey-Forschung um relationale Daten im Sinne Emirbayers (1997) handelt, kann an dieser Stelle nicht ausführlich eingegangen werden.

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Claude S. Fischer (1982) und der General Social Survey (vgl. Burt 1984). Besonders die Längsschnittstudie von Wellman (1979) über das Gemeinschaftsgefüge im Stadtviertel East York von Toronto ist hierbei hervorzuheben. Aufbauend auf Ferdinand Tönnies (2005 [1887]) und Robert Park (1967 [1925]) versucht er in seinem Artikel: The community question. The intimate networks of East Yorkers (1979) die Fragen zu beantworten, inwieweit Unterstützungsnetzwerke in East York (Canada) existieren und inwiefern im Zuge der Modernisierung die Gemeinschaft innerhalb des Viertels verloren gegangen sei (lost community), erhalten wurde (saved community) oder über räumliche Grenzen hinweg freigesetzt wurde (liberated community). Wellman stellt fest: „Our findings most fully support the liberated argument that East Yorkers tend to organize their intimate relationships as differentiated networks and not as solidarities. There is much differentiation in the nature and use of intimate ties. There are links to a variety of people with different structural positions often living in quite different residential areas (or interacting at work), and maintaining contact both by telephone and in person at a wide range of time intervals“ (Wellman 1979: 1225). Die Erhebung von relationalen Daten hat sich seither ausgeweitet und auch Eingang in die deutsche Survey-Forschung gefunden (vgl. Pappi/Melbeck 1988; ALLBUS).

4.3 Die Soziale Netzwerkanalyse heute Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass für die Entwicklung der Sozialen Netzwerkanalyse bis heute vier, einander bedingende Prozesse ausschlaggebend waren, die zum Teil durch das persönliche Engagement einzelner Wissenschaftler gestartet wurden und sich gegenseitig bedingten (vgl. auch Freeman 2004: 136). Hierzu gehören: 1. die zunehmende Mobilität und Erreichbarkeit von Wissenschaftlern durch die Entwicklung digitaler Kommunikationsmedien, die es erlauben, über weite Strecken zu kommunizieren und sich zu vernetzten, sowie eine neue Aufmerksamkeit gegenüber benachbarten bzw. anderen Disziplinen, welche zur Gründung von interdisziplinären Diskussionsforen führte, 2. die Gründung von Fachorganen, die sich explizit mit Theorie und Methodik der Netzwerkanalyse befassten, 3. die Fortschritte in der Computertechnologie und die Entwicklung spezieller Programme, die erstmals in der Lage waren, große Datensätze zu analysieren und visuell darzustellen, sowie

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4. die Weiterentwicklung der Survey-Forschung unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten. Zu diesen Aspekten kam in der Breitenwirkung hinzu, dass die Netzwerkforschung einen neuen Zugang zur Erforschung von sozialen Phänomenen eröffnete, der in dieser Form noch nicht vorhanden war. Hierdurch wurde die Netzwerkforschung auch außerhalb des angloamerikanischen Wissenschaftsraums wahrgenommen und fand international Verbreitung. Es etablierte sich ein weitgehend Disziplinen-übergreifendes Forschungsparadigma, aus dem sich mehrere Forschungsfelder herauskristallisieren lassen: Zuerst sind hier die theoretischen Ansätze der Netzwerkanalyse zu nennen, die sich wiederum nach Theorien mittlerer Reichweite (so etwa Granovetter 1973; Burt 1992, Rogers/Bhowmik 1970, Diewald 1991) und nach einer umfassenderen relationalen Sozialtheorie unterscheiden lassen (Nadel 1957; White 1992; Holzer 2009 oder Fuhse 2006). Zu nennen wären hier unter anderem die Sozialkapital-Theorie sowie der „relationale Konstruktivismus“ (Holzer 2006: 79).10 Einen zweiten Entwicklungspfeiler stellen die mathematisch-anwendungsorientierten Weiterentwicklungen dar. Auf der einen Seite waren es bislang vor allem quantitative Verfahren und Maßzahlen, die im Zentrum der Netzwerkanalyse standen (vgl. Wasserman/Faust 1994 und Scott 1997). Mit ihrer Hilfe werden zum einen ‚klassische‘ Fragestellungen, wie z.B. nach der Zentralität, und ihre Bedeutung innerhalb von sozialen Netzwerken beantwortet (Borgatti 2005; Brandes 2001), aber auch Verfahren zur Modellierung von Netzwerken (Koskinen/Snijders 2000) sowie dynamische Konzepte entwickelt (Snijders 1996; 2001). Auf der anderen Seite lässt sich ein Trend zu qualitativen, akteursorientierten Verfahren erkennen (Straus 1994, 2002; Hollstein/Straus 2006). Ganz im Sinne Whites (1992) stehen hier die Geschichten der Akteure und die daraus entstehenden Netzwerke im Fokus der Forschung. Auf-

10 Weitere Theoretiker für die der Netzwerkbegriff eine zentrale Rolle einnimmt sind beispielsweise der Mediensoziologe Manuel Castells und der Technik- und Wissenssoziologe Bruno Latour. Doch obwohl der Netzwerkbegriff auch hier essentiell ist, wird er unterschiedlich zu den hier vorgestellten Theorien verwendet: Castells sieht die globalisierte Informationsgesellschaft als ein Gesamtnetzwerk (2001) und spricht hier explizit von der „Netzwerkgesellschaft“. Latour ist hingegen ein Anhänger der Akteurs-Netzwerk-Theorie, die davon ausgeht, dass sich Akteure und Objekte durch Vernetzung zu Aktanten vereinigen (1991). Eine Zusammenführung der ‚klassischen Netzwerkanalyse‘ und den hier nur kurz skizzierten Ansätzen steht bisher jedoch noch aus. 36

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fällig ist, dass sich beide Ansätze meistens als scheinbar unvereinbare Gegensätze gegenüberstehen. Bei dem dritten Punkt, der eng mit dem mathematischen Vorgehen verknüpft ist, handelt es sich schließlich um Bemühungen um eine anschauliche Visualisierung von Netzwerken. Hierbei wird hauptsächlich versucht, den relationalen Daten sowie den Attributen der Knoten gerecht zu werden, indem Algorithmen entwickelt werden, welche es ermöglichen, diese Informationen in die Darstellung zu integrieren (vgl. Freeman 2001, Brandes 2008 oder Lothar Krempel 2005 sowie in diesem Band). Es ist wenig überraschend, dass in den letzten Dekaden die Publikationen zum Thema Netzwerkforschung auch in der deutschen Forschungslandschaft deutlich zugenommen haben. Es finden sich hierunter eine Reihe allgemeiner und methodischer Einführungen (Pappi 1987; Jansen 2006), Monographien zu Spezialthemen (Diaz-Bone 1997; Henning 2006) sowie einzelne Sammelbände, die einen Überblick über das neue Forschungsparadigma geben möchten (z.B. Stegbauer 2008). Zudem erscheinen auch in den deutschsprachigen Fachzeitschriften zunehmend Artikel zum Thema. Seit 2007 existiert innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Arbeitsgruppe für Netzwerkanalyse. Vergleichbar mit der Situation in den 1970er Jahren in den USA sind jedoch die einzelnen Forschungsrichtungen in Deutschland kaum mit einander vernetzt oder anders gesagt: Gerade weil sich so unterschiedliche Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Geschichte, Biologie, Ethnologie, Wirtschafts- und Politikwissenschaften mit dem Phänomen „Knoten und Kanten“ befassen und sich mit jeweils unterschiedlichen theoretischen Ansätzen und Methoden diesem Phänomen nähern, scheint der Überblick über die Forschung verlorengegangen zu sein (Haas/Mützel 2008). Der zum einen fruchtbringende, zum anderen irritierende interdisziplinäre Charakter des Forschungszweiges führte zu unterschiedlichen Forschungsansätzen und dadurch häufig kaum vergleichbaren bzw. sich wenig gegenseitig befruchtenden Ergebnissen. Ferner stellen Haas und Mützel fest, dass nach wie vor ein starker Bedarf nach Verknüpfung von Theorie und Empirie innerhalb der deutschen Netzwerkforschung existiert.

5 . S o z i a l e N e t z w er k a n a l ys e i n W i r t s c h a f t s und Migrationsforschung Diese Lücken sollen nun durch drei aufeinanderfolgende und zusammenhängende Sammelbände in der Reihe „Knoten und Kanten“ teilwei37

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se geschlossen werden. Die Bände setzten sich daher programmatisch aus jeweils drei verschiedenen Abschnitten zusammen. Das erste Kapitel befasst sich mit übergeordneten Themen der Netzwerkanalyse wie etwa Theorie, Visualisierung oder Methodik. Hier werden sowohl klassische, als auch neue Konzepte aus interdisziplinärer Sicht vorgestellt. Ausgehend von der Überlegung, dass mit Hilfe der Netzwerkanalyse sowohl alte als auch neue Fragestellungen bearbeitet und auf diese Weise neue Ergebnisse zu Tage gefördert werden können, befassen sich die folgenden Oberkapitel mit Netzwerkstudien, die im Rahmen bestimmter Forschungsrichtungen entstanden sind und exemplarisch für die Netzwerkforschung im deutschsprachigen Raum stehen. Allen Bänden ist hierbei gemeinsam, dass die Verfasser der einzelnen Beiträge aus unterschiedlichen Fachrichtungen stammen. Durch dieses Vorgehen soll zum einen die Verbindung zwischen Theorie und Methodik vorangebracht werden. Zum anderen werden durch vergleichende Frage- und Problemstellungen interdisziplinäre Schnittstellen zwischen den Wissenschaften sichtbar gemacht, die den Austausch in der Forschung voranbringen können. Nicht zuletzt wird mit diesen Bänden auch ein leicht zugänglicher Einblick in die theoretische sowie empirische Forschung auf dem Gebiet der Netzwerkanalyse ermöglicht. Der erste der drei Sammelbände befasst sich wie eingangs bereits erwähnt mit Themen aus der Wirtschafts- und Migrationsforschung und zeigt auf, unter welchen Aspekten die Forschung von der Netzwerkanalyse profitieren konnte. Einleitend werden im Theoriekapitel Fragen nach der Vereinbarkeit zwischen qualitativer und quantitativer Netzwerkforschung, der theoretischen Einbettung der Sozialen Netzwerkanalyse als relationaler Soziologie sowie der Theorie des Sozialkapitals diskutiert. Die Beiträge in den beiden folgenden Abschnitten bauen zum Teil auf diesen Überlegungen auf. So werden in dem vorliegenden Band zuerst Studien aus der Wirtschaftsforschung vorgestellt; Beiträge aus der Migrationsforschung bilden den Abschluss. Im ersten Abschnitt skizziert Michael Schnegg die Entwicklung der Netzwerkanalyse aus ethnologischer Sicht und plädiert für eine Neubesinnung der Netzwerkforschung. So habe sich die Netzwerkforschung zu einer sehr formal arbeitenden Wissenschaft entwickelt, in der quantitative und qualitative Methoden oftmals unverbunden nebeneinander stehen. Erst die bewusste Entscheidung des Forschers, beide methodischen Register zu ziehen, führe jedoch dazu, dass sich die Informationen über die sozialen Strukturen und die Erkenntnisse über die individuellen Beziehungsentscheidungen der Akteure zu einem Gesamtbild des Netzwerks zusammenfügen. Erst so könne verstanden werden, wie „Netzwerke aus individuellen Entscheidungen über Beziehungen entstehen, 38

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wie sie Bedeutungen erhalten und wie dadurch andere Entscheidungen ermöglicht und eingeschränkt werden“. Eine Netzwerkanalyse, die so vorgehe, bezeichnet Schnegg unter der Berufung auf prominente Vordenker wie Bruce Kapferer und Elisabeth Bott dezidiert als „ethnographische Netzwerkanalyse“. Dass ein solches Vorgehen in der Netzwerkanalyse fruchtbringend ist, zeigt sich nicht zuletzt an dem Umstand, dass Schneggs Forderung nach dem Nebeneinander von quantitativen und qualitativen Methoden bei einigen in diesem Band vorgestellten Studien bereits umgesetzt wurde. Hieran anknüpfend warnt Boris Holzer vor einer unnötigen Verkürzung des Netzwerk-Ansatzes in den Sozialwissenschaften. Entgegen der Annahme, dass Netzwerke monolithische bzw. ‚gegebene‘ Strukturen darstellen oder auf die Wünsche und Entscheidungen der Akteure reduziert werden, gelte es, den Netzwerkbegriff weiter zu präzisieren und mit sozialwissenschaftlichen Theorien zu verknüpfen. Sein Programm einer an den Formen sozialer Wechselwirkung interessierten „formalen Soziologie“ solle die Entstehung von Netzwerken als sozialen Sachverhalt begreifen und zum Gegenstand soziologischer Erklärung machen. Ansätze hierzu böten sowohl die konstruktivistische Sozialtheorie Harrison C. Whites als auch eine systemtheoretische Interpretation des Netzwerkbegriffes. Letztere begreife Netzwerke als partikulare Erscheinungen innerhalb und zwischen den Funktionssystemen. Holzer argumentiert, dass soziale Netzwerke beiden Ansätzen zufolge interpretations- und kommunikationsabhängig erklärbar seien: Netzwerke stellen Kommunikationsstrukturen dar, die auch auf einer semantischen Ebene interpretierbar sind. Einen weiteren Zugang, der sich mit einer theoretischen Fundierung der Netzwerkanalyse befasst und die Brücke zu den in Kapitel 2 und 3 dieses Bandes vorgestellten Aufsätzen schlägt, wählt schließlich Johannes Marx. Er macht darauf aufmerksam, dass Netzwerke, da sie weitläufig als Interaktionsbeziehungen verstanden werden, oftmals mit Formen kooperativen Handelns in Verbindung gebracht werden. Der eigentliche Koordinationsmechanismus bleibe hierbei jedoch theoretisch unterbelichtet. Da jedoch sowohl in der Netzwerkanalyse als auch in der Sozialkapitaltheorie dem Konzept des Vertrauens eine wichtige Rolle zugesprochen werde, verspräche eine Verbindung zwischen beiden Ansätzen eine fruchtbare Grundlage, um Kooperation an sich erklärbar zu machen. Marx widmet sich daher in handlungstheoretischer Perspektive dezidiert den Effekten, welche Netzwerke auf die Vertrauensvergabe zwischen ihren Mitgliedern haben. Vor allem die Einbettung der Akteure in unterschiedliche zeitliche und soziale Kontexte spielt hierbei eine Rolle. Marx’ Überlegungen helfen somit, die von den Autoren der fol39

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genden Kapitel aufgeworfenen Fragen nach dem Stellenwert von sozialem Kapital theoretisch zu verorten. So wird zum einen die Nutzbarmachung sozialen Kapitals, zum anderen die Bedeutung der sozialen Einbettung für die jeweiligen Akteure sowohl in der wirtschaftswissenschaftlichen als auch der migrationssoziologischen Netzwerkforschung betont und untersucht. Das zweite Kapitel zur Wirtschaftsforschung widmet sich Netzwerkphänomenen, die im Bereich der Wirtschaft in historischer und zeitgenössischer Perspektive beobachtbar werden. Vertrauen bzw. die Vertrauensbildung stellt dabei einen wichtigen Aspekt dar, der vor allem für Wirtschaftsakteure eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, da es im Sinne einer spezifischen Erwartungshaltung gegenüber einer bestimmten Zukunft alltägliche und wirtschaftliche Abläufe stabilisiert. Vertrauen hilft dabei, Unsicherheit zu überwinden, und erleichtert somit den Marktzugang sowie die Kooperation sowohl zwischen Unternehmen als auch zwischen Unternehmen und politischen Akteuren. Wo es an Vertrauen dagegen fehlt, entstehen Koordinations- und Kontrollkosten. Den Akteuren stellt sich jedoch das Problem, dass der Markt selbst diese Form des Sozialkapitals nicht hervorbringen kann. Es kann zum Teil zwar durch Regelvertrauen in staatliche und supranationale Regulierungsinstanzen substituiert werden, doch sind wirtschaftliche Akteure weiterhin auf andere Formen der Erwartungsstabilisierung angewiesen. Hier greifen vor allem Mechanismen der Selbstregulation, die ohne staatliches Handeln von statten geht und bei der sozialen Beziehungen eine bedeutende Rolle zukommt. Soziale Netzwerke sind in diesem Sinne nicht eindeutig dem Markt, der unternehmensinternen Sphäre oder auch nur der äußeren Umwelt zuzuordnen und basieren vor allem in soziokultureller Hinsicht auf dem Prinzip der lockeren Kopplung, die flexible Interaktionsmuster hervorbringt, in denen sich Informationen, Risiken und Innovationen austauschen lassen (vgl. Berghoff 2004: 151f.). Die Soziale Netzwerkanalyse kann hier etwa zum Verständnis beitragen, wie wirtschaftliche Akteure versuchen, ihr Sozialkapital zu erhöhen bzw. wie Beziehungen zu anderen Teilnehmern am Markt gezielt genutzt werden, um Transfer- und Kontrollkosten für das eigene Unternehmen zu senken. Mit ihrer Hilfe können so die Abwehr oder das Gelingen feindlicher Übernahmen oder gute und schlechte Zugangschancen zu Märkten, etwa dem Kapitalmarkt, untersucht werden. Zum anderen können theoretische Ansätze, die aus der relationalen Perspektive erwachsen sind, dazu beitragen, die Verbindung der Wirtschaftsakteure mit der Unternehmensumwelt, z.B. die politische und kulturelle Sphäre, zu erklären. Hier sind besonders die Theorien der (sozialen) Einbettung von Mark Granovetter (1985) und Brian Uzzi (1996) zu nennen. 40

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Vor diesem Hintergrund untersucht Karoline Krenn die Verflechtungen zwischen Unternehmen durch gemeinsame Direktoren und Aufsichtsräte (interlocking directorates), die seit Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer der zentralen Säulen des deutschen Kapitalismus zählen. Aus einer soziologischen Perspektive erscheinen Unternehmen als Wirtschaftsakteure, deren Beziehungsstrukturen sowohl in Richtung einer Kooperation als auch in Richtung von Kontrolle gedeutet werden können. Krenn zeigt in ihrem Beitrag diese Strukturen anhand von drei Zeithorizonten auf und kann nachweisen, dass die Strukturbildungsphase in der Verflechtung deutscher Großunternehmen in den 1920er Jahren liegt. Begünstigt wurde dies durch die zeitgenössischen kartell- und steuerrechtlichen Bestimmungen. Die positiven Rückkoppelungseffekte scheinen hierbei einen kollektiven Selbststeuerungsmechanismus in Gang gesetzt zu haben, der zur Fortführung der Verflechtung führte. Das Ende der auf diese Weise entstandenen sogenannten Deutschland AG beleuchtet Lothar Krempel in seinem Beitrag. Sein Beitrag zielt vor allem auf die Visualisierungsmöglichkeiten von Netzwerkdynamiken ab. So konzentriert er sich in seiner Arbeit auf die Kapitalverflechtungen der hundert größten deutschen Unternehmen von den Jahren 1996 bis 2006. In dieser Zeitspanne lässt sich ein enormer Rückgang an gegenseitigen Beteiligungen zwischen den Unternehmen feststellen. Zur graphischen Darstellung nutzt Krempel einen Spring embedder sowie den bewerteten Degree als Summe aller Beteiligungen eines Unternehmens, um die Verflechtungsinformationen geordnet darzustellen. Mit Hilfe eines applizierten Farbschemas gelingt es ihm, unterschiedliche Klassen innerhalb des Netzwerkes kenntlich zu machen. Christian Marx zeigt in seinem Beitrag, wie diese quantitativen Studien gewinnbringend um eine qualitative Komponente erweitert werden können. Anhand des Briefwechsels von Paul Reusch (1868-1956), dem langjährigen Vorstandsvorsitzenden der Gutehoffnungshütte (GHH), kann Marx nachweisen, wie dieser seine sozialen Beziehungen und das in ihnen steckende soziale Kapital für den Aufbau des Konzerns zwischen 1918 und 1924 strategisch nutzen konnte. Dem Wandel sowie der Evolution des geschäftsinternen Netzwerkes von Reusch kommt hierbei eine zentrale Rolle zu und hilft, die Person Reuschs und seine Rolle als Führungsfigur für die GHH zu bewerten. Anders als Christian Marx, der das Ego-Netzwerk eines einzelnen Akteurs akribisch nachzeichnet, wendet sich Michael Sander der Cliquenbildung zwischen politischen und wirtschaftlichen Akteuren innerhalb des russischen Energiesektors zu. Er geht in seinem Beitrag der Frage nach, inwieweit Russlands Energiepolitik eine außen- und sicherheitspolitische Komponente besitzt und welche Akteure hier Akzente 41

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setzen können. Um dies klären zu können, untersucht Sander die Einbindung wirtschaftlicher Akteure in politische Entscheidungsprozesse und ihre Chancen, sich in diese einzubringen. Seine Analyse der Beziehungsstrukturen der Mitglieder des energiepolitischen Politikfeldnetzes ergibt jedoch, dass sich die Akteure in einem gemeinsamen Präferenzkompromiss wiederfinden müssen, der durch informelle Aushandlungsprozesse hergestellt wird. Keine der von ihm identifizierten Cliquen hat insofern eine Deutungshoheit im außen- und sicherheitspolitischen Sektor inne. Den Abschluss in Kapitel 2 bildet schließlich Michael Plattners Beitrag über die Zusammensetzung und Entwicklung von Managernetzwerken in multinational agierenden Unternehmen. Er untersucht hierfür die Herausbildung einer bestimmten Gruppe von Managern, den sogenannten hybriden Managern, am Beispiel des japanischen Business manga über den Manager Kosaku Shima. Durch eine Analyse der Reihe über die letzten drei Dekaden hinweg zeigt Plattner, dass die Rolle hybrider Manager innerhalb multinationaler Unternehmen für die japanische Wirtschaft an Bedeutung gewinnt, da sie mit einem spezifischen sozialen Kapital ausgestattet sind. Dieses hilft ihnen, die kulturellen Distanzen zwischen dem Herkunftsland des Unternehmens und den ausländischen Standorten zu überbrücken. Besonders die schwachen Beziehungen nehmen in dem im Zuge der Internationalisierung heterarchisierten Unternehmensnetzwerk an Bedeutung zu. Im Folgenden werden die Beiträge des dritten Kapitels vorgestellt, das sich Netzwerkstudien aus dem Bereich der Migrationsforschung widmet. Anhand ihrer Ergebnisse zeigt sich besonders deutlich, wie bedeutsam die Rolle von sozialem Kapital für die Handlungsfähigkeit und den individuellen Erfolg von Akteuren in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht ist. So werden Netzwerkanalysen vor allem dazu genutzt, die Zusammensetzung der Netzwerke von Migranten und somit auch das in ihnen realisierte oder ‚versteckte‘ soziale Kapital sichtbar zu machen. Die Ergebnisse werfen nicht nur ein neues Licht auf die Migrationsentscheidung, sondern auch auf die Einbettung sowie die Integration der Befragten am Zielort. Dabei stellt sich zunehmend heraus, dass Migrationsentscheidungen, besonders im Kontext von Kettenmigration, weniger von wirtschaftlichen „push and pull“-Faktoren geprägt werden, sondern vielmehr mit dem ortsspezifischen sozialen Kapital zusammenhängen. Hier kommen besonders Verwandtschaftsnetzwerke in den Blick (vgl. Haug 2007: 90 und 2000: 29). Dabei gehen die in Kapitel 3 versammelten Autoren davon aus, dass Migration keinen ‚Einbahnstraßencharakter‘ besitzt: Migranten sind auf zweierlei Art eingebettet. Zum einen bleiben sie – ob durch transnationale Beziehungen in die Heimat 42

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oder durch das Leben in ethnischen Enklaven am neuen Aufenthaltsort – dem sozio-kulturellen Kontext ihres Herkunftslandes verhaftet. Zum anderen beginnt für sie mit der Ankunft im Aufnahmeland ein mehr oder weniger ‚erfolgreicher‘ Integrationsprozess in die dortige Gesellschaft. Hier setzt ein weiteres Interesse der Migrationsforschung an: Um herauszufinden, wie stark dieser Integrationsprozess trotz der oft konstatierten Familienzentriertheit vorangegangen ist, wird die Zusammensetzung der sozialen Netzwerke in Hinblick auf ihre ‚Leistungsfähigkeit‘ unter die Lupe genommen. Heterogene Netzwerke, die Beziehungen zu Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft aufweisen, können somit Vorteile für die strukturelle Integration am Zielort darstellen. Sonja Haug setzt sich in diesem Zusammenhang mit der Sozialkapitaltheorie innerhalb der Migrationsforschung auseinander. So lässt sich der Befund nicht von der Hand weisen, dass die Ausstattung mit sozialem Kapital einen entscheidenden Einfluss auf die Migrationsentscheidung nimmt und einen starken Effekt auf die strukturelle Integration der Migranten im Aufnahmeland hat. Das Ausmaß der sozialen Integration kann schließlich an spezifischen Merkmalen der persönlichen Netzwerke abgelesen werden. Haug argumentiert hierbei, dass Beziehungen zu Einheimischen die Bildung von Aufnahmeland-spezifischem Sozialkapital befördert; dies erhöhe die Chancen für eine strukturelle Integration. Insgesamt plädiert Haug jedoch für eine Schärfung des Sozialkapitalbegriffs innerhalb der Migrationsforschung. Christine Avenarius untersucht solche Faktoren, welche die Struktur persönlicher Netzwerke von Migranten beeinflussen, und widmet sich der Frage, ob es in dem von ihr untersuchten kalifornischen Siedlungsgebiet eine kohärente ethnische Gemeinschaft unter den Migranten gibt, die sich auch in der Vernetzung von sozialen Organisationen niederschlägt. Avenarius nutzt hierfür Netzwerkdaten, um Aussagen über die Integrationsneigung einer spezifischen Migrantengruppe – gut ausgebildete und wohlhabende Taiwaner – treffen zu können. Sie kann hierbei zeigen, dass in dieser Gruppe vor allem untereinander Beziehungen gepflegt und wichtige soziale Beziehungen auch über große räumliche Distanz nach Taiwan unterhalten werden. Die Netzwerke sind daher hauptsächlich homogen und auf die Migrantengruppe selbst ausgerichtet. Während Avenarius betont, dass die strukturelle Integration in die US-amerikanische Gesellschaft der von ihr untersuchten Migranten zwar am Arbeitsplatz stattfindet, sich die Netzwerke der Migranten insgesamt jedoch durch einen geringen Grad an Heterogenität auszeichnen, deuten die Ergebnisse von Andrea Janßens Studie auf die große Bedeutung sozialer Netzwerke für türkische Migranten der Zweiten Generation in Deutschland hin. Janßen geht hierbei der Frage nach, welche Gründe für 43

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das Scheitern bzw. Gelingen von Integration verantwortlich sind. Die ethnische Zusammensetzung der Migrantennetzwerke ist für sie hierbei von sekundärer Bedeutung, allerdings konstatiert sie eine ausgeprägte Familienzentriertheit und eine soziale wie ethnische Homogenität der sozialen Netzwerke. Die darin bereitgestellten sozialen Ressourcen seien zwar wichtig zur Vertrauensförderung und für hohe Reziprozitätsnormen, ließen sich jedoch nicht für die strukturelle Integration der Migranten mobilisieren. Die Netzwerke der türkischen Migranten zeichnen sich insofern durch eine geringe ‚Leistungsfähigkeit‘ aus. Ähnlich wie Christine Avenarius fragt Jan A. Fuhse nach der individuellen Orientierung und Identität der Migranten sowie der kollektiven Identität, die sich mit der Einbettung in soziale Netzwerke bildet. Gerade interethnische Kontakte und transnationale Sozialbeziehungen spielen hier eine besondere Rolle, da ethnische Identifikation wesentlich von den Sozialbeziehungen innerhalb der eigenen Ethnie abhängt. Bewegen sich Migranten jedoch am Rande der ethnischen Bezugsgruppe und damit in einem Bereich, in dem sich kulturelle Einflüsse überschneiden, bilden sich eher hybride Identitäten heraus, die sowohl im Herkunftskontext als auch in der Aufnahmegesellschaft ‚beheimatet‘ sind. Eine in dieser Hinsicht kaum untersuchte Migrantengruppe stellen die (Spät-)Aussiedler in Deutschland dar, deren Netzwerke Fenicia, Gamper und Schönhuth untersuchen. Ausgehend von der Tatsache, dass Aussiedler hinsichtlich der kulturellen, strukturellen und identifikativen Integration Defizite aufweisen, gehen sie mit Hilfe der egozentrierten Netzwerkanalyse der Frage nach, auf welches Beziehungskapital diese Gruppe zurückgreift. Ähnlich wie Janßen zeigen sie, dass Aussiedlernetzwerke familienzentriert und durch eine Sprachkenntnis-bedingte ethnische Homophilie geprägt sind. Alles in allem plädieren die Autoren für das Instrument der Netzwerkanalyse, da damit die Sozialintegration von Migranten vor allem auf einer Mesoebene präzise untersucht werden kann. Im letzten Beitrag widmet sich Janine Dahinden noch einmal dem Thema des Transnationalismus. Sie geht dem Phänomen nach, dass Netzwerke von Migranten einerseits zunehmend transnational ausgerichtet sind, die Herausbildung und Aufrechterhaltung von transnationalen Netzwerken jedoch nicht bei jedem Migrationsprozess vorausgesetzt werden können. Um den Grund für dieses scheinbare Paradoxon herauszufinden, kontrastiert Dahinden die von Migranten unterhaltenen Netzwerke mit denen von Nicht-Einwanderern vor Ort. Anhand der Ergebnisse schließt sie auf eine jeweils spezifische Lokalität, d.h. die unterschiedlichen lokalen Begebenheiten, auf welche Migrantengruppen tref-

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fen. Diese produzieren konkrete Ressourcen oder Zwänge für die Herausbildung transnationaler persönlicher Netzwerke.

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Theorie und Methode

Strate gie n und Struk ture n. Hera usforderunge n der qualita tive n und quantitativen Netzw erkforschung MICHAEL SCHNEGG1

Die soziale Netzwerkanalyse hat sich in den letzten Jahren zu einem der am stärksten wachsenden interdisziplinären Forschungsfelder in den Sozialwissenschaften entwickelt, an dem so verschiedene Disziplinen wie die Kommunikationswissenschaft, die Informatik, die Soziologie, die Politikwissenschaft, die Wirtschaftwissenschaften, die Geschichtswissenschaften und die Ethnologie beteiligt sind (Freeman 2004). Dabei bestehen soziale Netzwerke aus einer Menge an Akteuren, die durch verschiedene soziale Beziehungen miteinander verbunden sind. Akteure können dabei je nach Fragestellung in den einzelnen Disziplinen Personen, Haushalte, Organisationen und Staaten sein. Die Beziehungen zwischen ihnen können von Liebe und Hass über den Tausch von Nahrungsmitteln zwischen Haushalten bis hin zum Tourismus zwischen Ländern reichen. Die wichtigste theoretische Grundannahme der Netzwerkanalyse lautet dabei, dass das Handeln von Akteuren besser verstanden werden kann, wenn die sozialen Beziehungen berücksichtigt werden, in welche die einzelnen Akteure eingebunden sind (Schweizer 1996; Wellman 1988). Auf der einen Seite schaffen diese Handlungsspielräume, indem sie etwa den Zugang zu Informationen oder materiellen Ressourcen ermöglichen. 1

Ich danke Julia Pauli, Michael Pröpper, Katja Metzmacher und der Herausgeberin und dem Herausgeber dieses Sammelbandes für Ihre gründliche Lektüre und die anregenden Diskussionen über die Verbindungen qualitativer und quantitativer Verfahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften. 55

MICHAEL SCHNEGG

Auf der anderen Seite bedeuten sie aber auch Einschränkungen, etwa in Form von Verpflichtungen oder Konflikten, die aus Beziehungen erwachsen (Emirbayer und Goodwin 1994; Kapferer 1969). Heute verwenden Netzwerkanalytiker hauptsächlich spezialisierte, quantitative Erhebungs- und Auswertungsverfahren, um soziale Strukturen zu beschreiben und zu erklären. Diese Verfahren erlauben es, einzelne Beziehungen zu rekonstruieren und zu einem Gesamtbild der Sozialstruktur zusammenzufassen. Die empirischen Informationen werden durch Befragungen, Beobachtungen und die Auswertung von archivierten Informationen gewonnen (Jansen 2006; Schnegg und Lang 2001; Wasserman und Faust 1994). Man unterscheidet zwei verschiedene Arten von Netzwerken: persönliche Netzwerke bzw. egozentrierte Netzwerke und Gesamtnetzwerke. In beiden Fällen legt man sich zunächst darauf fest, eine bestimmte Menge von Akteuren und bestimmte Arten von Beziehungen zwischen Akteuren zu untersuchen. Bei der Untersuchung von Gesamtnetzwerken ermittelt man zu jedem Akteur, ob Beziehungen zu jedem anderen Akteur der untersuchten Menge bestehen oder nicht. Hierbei werden keine Beziehungen außerhalb der untersuchten Akteure berücksichtigt. Bei den persönlichen Netzwerken hingegen stellt man für jeden Akteur (Ego) der Menge fest, mit welchen Akteuren (Alteri) Beziehungen der vorgegebenen Art bestehen. Bei der Untersuchung von persönlichen Netzwerken können demnach auch Akteure erfasst werden, die nicht zur untersuchten Ausgangsmenge gehören. Bei der Untersuchung von Gesamtnetzwerken hingegen werden Beziehungen außerhalb der untersuchten Menge nicht berücksichtigt. Die beiden Netzwerkarten unterscheiden sich demnach in der Strategie der Datenerhebung und sie unterscheiden sich auch in der Auswertung. Während bei der Analyse von persönlichen Netzwerken die Einbettung einzelner Akteure im Vordergrund steht, stehen bei der Analyse von Gesamtnetzwerken Fragen nach der internen Struktur einer Gruppe im Zentrum des Interesses (Schnegg und Lang 2001). In letzter Zeit ist darauf hingewiesen worden, dass die Netzwerkforschung sehr formal arbeitet (Hollstein und Straus 2006). Dieser Eindruck bestätigt sich schnell, wenn man die Beiträge in der Zeitschrift Social Networks, dem wichtigsten Publikationsforum der Netzwerkforschung, liest. Florian Straus hat daher in dem Resümee des von ihm und Bettina Hollstein herausgegebenen Bandes Qualitative Netzwerkanalyse argumentiert, dass man Netzwerkstrukturen auch qualitativ beschreiben sollte. Diaz-Bone hat in seiner Rezension des Sammelbandes sehr deutlich herausgearbeitet, dass damit eine Alternative zur formalen Beschreibung vorgeschlagen wird (Diaz-Bone 2007: 18). Durch diese und andere Veröffentlichungen wurde in den letzen Jahren in der Netzwerkforschung 56

STRATEGIEN UND STRUKTUREN

eine Debatte darüber angestoßen, welche Bedeutung qualitative und quantitative Methoden innerhalb der Netzwerkforschung haben, und ob man die gängigen formal-quantitativen Verfahren ersetzen oder ergänzen sollte (Diaz-Bone 2007; Hollstein 2006; Schweizer 1996; Straus 2006). In diesem Beitrag wird an diese Diskussion angeknüpft. Dabei möchte ich in einem ersten Schritt zeigen, dass die Verwendung von qualitativen Daten in der Netzwerkforschung nichts Neues ist. Am Beispiel von viel zitierten Studien der Netzwerkforschung werde ich untersuchen, wie unterschiedliche Methoden in der Vergangenheit kombiniert worden sind und wo die Stärken und die Schwächen einzelner Forschungsstrategien liegen. Hieran anschließend wird aufgezeigt, wo die theoretischen und methodischen Herausforderungen der Netzwerkforschung liegen. Vor diesem Hintergrund werde ich diskutieren, welche Forschungsstrategien besonders vielversprechend erscheinen, diese Herausforderungen zu meistern. Ich werde dabei dafür plädieren, sich wieder stärker auf die mikroskopischen, ethnographischen Wurzeln der Netzwerkanalyse zu besinnen. Dadurch wird es möglich, zu verstehen, wie Netzwerke aus individuellen Entscheidungen über Beziehungen entstehen, wie sie Bedeutungen erhalten und wie dadurch andere Entscheidungen ermöglicht und eingeschränkt werden. Bevor ich diese Fragen diskutieren kann, ist jedoch ein Blick auf die historischen Wurzeln und die Vordenker des Forschungsparadigmas nötig.

1. Die Vordenker eines neuen Forschungsparadigmas Georg Simmel war einer der wichtigsten Vordenker der Netzwerkanalyse. Simmel ging davon aus, dass Gruppen einen prägenden Einfluss auf das Individuum haben, während die Gruppenzugehörigkeit gleichzeitig Ausdruck einer Wahl des Individuums ist (Simmel 1908). Diese Wechselwirkung fasst er in dem Konzept der sozialen Kreise zusammen, das er in seinem Hauptwerk Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung (Simmel 1908) und in Philosophische Kultur (Simmel 1911) entwickelt. Dabei unterscheidet Simmel zwischen organischen und rationalen Kreisen. Organische Kreise sind die Familie, in die das Individuum geboren wird, und die Nachbarschaft. Diese Kreise sind konzentrisch, d.h. sie haben eine Dimension, und die Distanz nimmt von Ego aus stetig zu: Wer zu dem engeren Kreis gehört, zählt auch zu dem weiteren, aber nicht umgekehrt. Rationale Kreise wie militärische, ständische oder unternehmerische Organisationen werden hingegen durch das Individuum geformt. Die Gruppenbildung erfolgt aufgrund be57

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wusster Entscheidungen und erzeugt gesellschaftliche Kreise, die sich überlappen oder ausschließen können. Leopold von Wiese hat das Interesse an sozialen Beziehungen von seinem akademischen Lehrer Simmel übernommen. In seinem Hauptwerk System der Allgemeinen Soziologie führt er den Begriff der Beziehungslehre ein. Er sieht die Aufgabe der Soziologie darin, „das Leben der Menschen in seiner Gesamtheit und seinen Teilausschnitten daraufhin zu untersuchen, welche Vorgänge der Bindung und der Lösung bestehen und zu welchen Gruppierungen diese Prozesse führen“ (Wiese 1933 [1924]: 109). Von Wiese greift dabei explizit auf eine graphische Metapher zurück, wenn er davon spricht, dass es sich bei sozialen Gruppen um ein „undurchdringliches Netz von Linien handelt, die von Punkten (Menschen) ausgehen“. Zu ordnen und zu erklären, wie diese Verbindungen andere Handlungen ermöglichten (hier das Kulturleben), sei das Ziel der Soziologie (Wiese 1933 [1924]: 109). Neben der Soziologie hat auch die Ethnologie wichtige theoretische Impulse für die Entstehung der Netzwerkanalyse im frühen 20. Jahrhundert geliefert. Dieser Beitrag ist insbesondere mit dem Namen Alfred Radcliffe-Brown verbunden. In einem 1940 veröffentlichten Aufsatz bemüht sich der britische Strukturfunktionalist um eine theoretische Standortbestimmung der Ethnologie. Für ihn ist die Ethnologie eine Wissenschaft, welche die theoretischen und methodischen Modelle der Naturwissenschaften auf die Untersuchung sozialer Phänomene anwendet. Dazu definiert er den Gegenstand der Ethnologie als die social structure. Die soziale Struktur ist für ihn das network of actually existing relations (Radcliffe-Brown 1940: 2). Er grenzt sich aber auch von der Soziologie ab, der er vorwirft, vor allem social relations in den Mittelpunkt ihrer Analyse zu rücken. Für Radcliffe-Brown sind Beziehungen nie allein Gegenstand der Untersuchungen, sondern immer Teil eines Netzwerkes. Diese Netzwerke zu untersuchen, ist die Aufgabe der Ethnologie (ibid: 3).

2 . Q u a l i t a t i ve u n d q u a n t i t a t i ve M e t h o d e n i n d e r N e t z w e r k a n a l ys e Während diese Autoren das relationale Paradigma theoretisch und begrifflich verankert haben, gilt Jacob Moreno als eigentlicher Begründer der Netzwerkanalyse, die von ihm selber als Soziometrie bezeichnet wurde. Moreno studierte in Wien Medizin und eröffnete im Anschluss daran eine Praxis in Bad Vöslau. Dort entstand 1923 Das Stehgreiftheater, das Moreno selber später als den inoffiziellen Beginn der Soziome58

STRATEGIEN UND STRUKTUREN

trie bezeichnete (Moreno 1948). Der Anspruch dieses Buches war allerdings kein wissenschaftlicher. Es ging Moreno vielmehr darum, mit neuen Formen des Theaters zu experimentieren, bei denen Autor, Schauspieler und Publikum spontan ein Stück entwickelten und aufführten. Auch wenn das praktizierte Stehgreiftheater noch recht wenig mit der späteren Netzwerkanalyse zu tun hatte, beinhaltet das Buch bereits erste graphische Darstellungen von Gruppen.2 1925 emigrierte Moreno in die USA, wo er in New York eine Theatergruppe gründete und die Leitung einer Klinik übernahm. Er führte in den folgenden Jahren seine ersten „soziometrischen Tests“ durch, in denen er Akteure über ihre wichtigsten Beziehungen befragte. Die ersten Untersuchungsgegenstände waren das Sing Sing-Gefängnis und Schulklassen der Hudson School for Girls. Die Daten, die er in den Schulklassen erhoben hatte, bildeten eine wichtige Grundlage für sein 1936 erschienenes Hauptwerk Who shall survive (Moreno 1936). Darin geht er unter anderem der Frage nach, weshalb die Selbstmordraten in einigen Schulklassen deutlich höher waren als in anderen. Dabei gelingt es ihm, zu zeigen, dass die gängigen Erklärungen wie Status und Einstellungen nicht ausreichend waren, um diese Unterschiede zu erklären. Moreno ging daraufhin der These nach, inwieweit zwischen den Mädchen, die Suizid begingen, soziale Beziehungen bestanden hatten. In diese Zeit fiel auch die Gründung der Zeitschrift Sociometric Review (1936) durch Moreno, aus der dann 1937 Sociometry hervorging. In den folgenden Jahren erschien eine Vielzahl von netzwerkanalytischen Arbeiten, die die Bandbreite der Anwendungen der Netzwerkanalyse, die sich in wenigen Jahren entwickelt hatte, verdeutlichen. Herausragend sind dabei die Arbeiten von Lundberg, der als Erster die soziometrische Analyse einsetzte, um alle 265 erwachsenen Mitglieder einer amerikanischen Gemeinde zu befragen. Lundberg überprüfte dabei unter anderem die These, ob soziale Aktivität mit Wohlstand einhergeht und inwieweit Personen Beziehungen innerhalb oder außerhalb der eigenen sozialen und ökonomischen Schicht suchen. Er ist einer der Ersten, der solche Thesen – heute würde man von Homophilie sprechen – statistisch anhand von Netzwerkdaten überprüft hat (Lundberg und Lawsing 1937: 333). Die Arbeiten von Moreno sind in hohem Maße formal, doch bindet er bereits qualitative Informationen in die Darstellungen ein. Das geschieht in erster Linie, um einzelne Beziehungen zu beschreiben und um 2

Das Stehgreiftheater war gleichzeitig Ausgangspunkt für die zweite Innovation, die mit Morenos Namen verbunden ist: das Psychodrama, eine auch heute noch weit verbreitete psychologische Therapierichtung, in der Patienten und Therapeuten Situationen in sozialen Rollen ‚durchspielen‘. 59

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zu verstehen, weshalb Akteure einander als Partner gewählt haben. Dazu zitiert Moreno umfangreich aus den Interviews mit den Befragten. Eine eigenständige Analyse und Zusammenfassung dieser qualitativen Daten bleibt jedoch aus. Lundberg arbeitet im Stile der frühen soziologischen Gemeindestudien (vergleichbar mit etwa Die Arbeitslosen von Marienthal, Jahoda et al. 1975 [1933]) mit sehr heterogenen Methoden und Daten. Dazu zählen Beobachtungen, Befragungen und offene Interviews. Die verhältnismäßig reichhaltigen Kontextinformationen speisen auch die Hypothesen über den Zusammenhang von Netzwerkstruktur und ökonomischem Status. Lundberg nutzt in einem zweiten Schritt ausgewählte Einzelfälle, um den Zusammenhang zwischen ökonomischem Status und sozialen Beziehungen zu verdeutlichen. Das markanteste Beispiel ist die „Lady Bountiful“, die als wohlhabende Frau ihre soziale Stellung in der dörflichen Gesellschaft durch großzügige Spenden zu sichern weiß. Während sie von 17 unterschiedlichen Personen als Partnerin genannt wird, nennt sie selber nur eine Person, einen Arzt und Politiker (Lundberg und Lawsing 1937; Lundberg und Steele 1938). Die zweite Wurzel, aus der sich die frühe Netzwerkanalyse entwickelt hat, waren die oben genannten sozialanthropologischen Arbeiten von Radcliffe-Brown. Dieser hatte, wie Simmel und von Wiese, selber nie Netzwerke empirisch erhoben oder ausgewertet. Er regte jedoch seine Schüler dazu an, soziale Netzwerke empirisch zu erfassen. Der wichtigste unter ihnen war Warner. Warner, der in Australien seine erste stationäre Feldforschung bei den Murngin gemacht hatte, ging daraufhin mit Unterstützung von Radcliffe-Brown nach Harvard (Warner 1937). Dort war er an den Hawthorne-Studien beteiligt. Das Ziel der von 1924 bis 1932 in den Hawthorne Werken von General Electric durchgeführten Untersuchungen war es, zu bestimmen, wie sich unterschiedliche Einflussfaktoren auf die Produktivität von Arbeitern auswirken. Dazu wurden zuerst die Auswirkungen von Variationen der physischen Umwelt (Intensität des Lichtes etc.) gemessen. Nachdem die ersten Ergebnisse widersprüchlich waren, konnte das Forscherteam (um den Psychologen Mayo) Warner für die Untersuchung gewinnen. Dieser vermutete, dass nicht die Umwelt, die Arbeitsorganisation oder die Eigenschaften der Akteure ausschlaggebend waren, sondern deren informelle soziale Beziehungen. Um diese These zu testen, entwarfen sie ein natürliches Labor, den bank wiring observation room. Hier konnten systematische Beobachtungen von Arbeitsprozessen und informellen Kontakten durchgeführt werden. Die Ergebnisse, die von Roethlisberger und Dickson veröffentlicht worden sind, zeigen, dass es neben der formellen Arbeitsorganisation eine informelle Struktur gab, die Einfluss auf die Produktivität nahm. Diese zeichnen die Autoren in Netzwerkdarstellungen nach (Roethlisberger 60

STRATEGIEN UND STRUKTUREN

und Dickson 1939). Die Arbeiten von Warner verbinden dabei zum ersten Mal semi-strukturierte Befragungen und systematische Beobachtungen. Die Interviews und die Beobachtungen wurden über einen Zeitraum von sechs Monaten gesammelt. Die Daten wurden danach ausgewertet, (1) mit wem eine spezifische Person interagiert hat und (2) wie intensiv diese Interaktionen waren. Diese Informationen wurden als Diagramme dargestellt und erlaubten es, zwei Cliquen zu identifizieren, die intern soziale Kontrolle aufbauten und die Gruppe gegen Einmischungen von außen schützten (Roethlisberger und Dickson 1939:459ff.). Die Netzwerkanalyse hat sich nach diesen frühen Anfängen in der Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA und in Großbritannien weiterentwickelt (Freeman 2004). Dabei lassen sich zwei große Stränge unterscheiden: ein britischer und ein amerikanischer (Freeman 2004). Der Kristallisationspunkt der amerikanischen Netzwerkforschung war in den 1970er Jahren Harrison White, der von Harvard und Columbia aus die Netzwerkanalyse maßgeblich beeinflusst hat. Die von ihm geprägte Forschungsrichtung hatte einen weitreichenden theoretischen Anspruch, der in der Literatur auch als relationale Soziologie bezeichnet wird (vgl. auch Holzer in diesem Band; White 2008a; ders. 2008b; ders. et al. 1976). In Großbritannien hatte sich bereits in den 1960er Jahren in der britischen Sozialethnologie eine Kritik an dem gängigen strukturfunktionalistischen Paradigma formiert, das die einzelnen sozialen Beziehungen wieder verstärkt in den Vordergrund der Analyse rücken wollte (Boissevain 1973: vii). Diese Studien sind oft im Kontext der Arbeitsmigration im südlichen Afrika entstanden, als Ethnologen feststellen mussten, dass die von ihnen untersuchten verwandtschaftlichen Ordnungen in dem neuen gesellschaftlichen Umfeld an Bedeutung verloren und soziale Beziehungen fluider und flexibler wurden. Hier trat zum ersten Mal eine sehr intensive Verbindung von Ethnographie und Netzwerkanalyse in Erscheinung. Eine zentrale Studie dieser britischen Forschungsrichtung ist die Arbeit von Bruce Kapferer, der zu erklären versucht hat, weshalb ein Konflikt unter Minenarbeitern im damaligen Rhodesien entstanden ist und weshalb sich einer der beiden Protagonisten, Damian, in dem Konflikt durchsetzten konnte. Um die Ursachen der Auseinandersetzung zu verstehen, analysierte Kapferer sowohl den formalen Arbeitsprozess, in den die beteiligten Arbeiter eingebunden waren, als auch deren informelles soziales Netzwerk. Die Kenntnis der sozialen Beziehungen und dabei speziell die Tatsache, dass Damian mit einigen zentralen Dritten eng verbunden war, kann erklären, weshalb der Konflikt einen bestimmten Verlauf genommen hat. Die Darstellung stützt sich dabei nicht nur auf die Erhebung der Netzwerke, sondern auch auf eine sehr umfangreiche teil61

MICHAEL SCHNEGG

nehmende Beobachtung, während der Kapferer mit den Arbeitern gelebt hat. Während dieser Zeit hat er viele Interviews durchgeführt, welche die Strategien, Ziele und Bedürfnisse der einzelnen Akteure erkennen lassen. Die Studie ist insofern wegweisend, als hier Fallgeschichten nicht nur als Illustration eines statistisch beschriebenen Zusammenhangs genutzt werden. Netzwerke werden vielmehr zu einer ‚sozialen Landkarte‘, vor deren Hintergrund das Handeln und Aushandeln von Akteuren verstanden werden kann (Kapferer 1969). Etwa zur selben Zeit hat die Ethnologin Elisabeth Bott der Netzwerkanalyse einen neuen methodischen Zugang eröffnet. Bott und ihr Kollege Robb, der an der Datenerhebung und der Konzeption der Studie maßgeblich beteiligt war, wollten verstehen, weshalb es in englischen Familien zu unterschiedlichen Formen der Arbeitsteilung und des Rollenverständnisses zwischen Männern und Frauen kam. Nachdem erste Analysen gezeigt hatten, dass Beruf, ökonomischer Status, Alter oder Länge der Beziehung alleine die Unterschiede nicht erklären konnten, wurde Bott klar, dass ein Unterschied in der Überlappung der sozialen Umfelder von Mann und Frau bestand. In ihren sehr detaillierten Analysen konnten sie zeigen, dass die Überlappung (close-knit networks) zu separaten Rollen und keine Überlappung (loose-knit networks) zu gemeinsamen Entscheidungen und häuslicher Arbeitsteilung führte. Dazu hat sie Informationen über die persönlichen sozialen Netzwerke von 20 Paaren genutzt. Sie gilt damit als die Begründerin der egozentrierten Netzwerkanalyse. Bott kommt darüber hinaus noch ein zweites Verdienst zu. Für sie standen das qualitative Interview und der intensive und wiederholte Kontakt zu den Untersuchten im Zentrum des Forschungsprozesses. Die Studie war daher ursprünglich als unstrukturierte und offene Befragung geplant, die von beiden Forschern im Haus der untersuchten Familien durchgeführt werden sollte. Dabei hatten Bott und Robb vor, jedes Paar etwa zehnmal zu interviewen. Nach einigen Sessions stellte sich aber heraus, dass „as time went on it became apparent that this method of casual interviewing and observation was unsatisfactory“ (Bott 1968 [1957]: 20). Bott und Robb haben darauf reagiert, indem sie einen semi-strukturierten Fragebogen entworfen haben, der nun bei jedem Besuch die Grundlage für das Interview bildete (in Appendix A ihres Buches abgedruckt). Dabei war die standardisierte Befragung in informelle Gespräche eingebettet, die sich über mehr als eine Stunde ziehen konnten. Bott und Robb haben mit den 20 Familien jeweils zwischen 8 und 19 Interviews durchgeführt und somit einen sehr reichhaltigen Corpus an Daten erhoben, der die Grundlage für ihre Analysen darstellte (Bott 1968 [1957]: 21). Diese Fülle an qualitativen und quantitativen Daten erlaubte der Ethnologin, detaillierte Beschreibungen von Einzelfällen mit (recht rudimentären) quantitativen 62

STRATEGIEN UND STRUKTUREN

Analysen zu verbinden. Dabei werden die Einzelfälle oft genutzt, um Zusammenhänge, die über das gesamte Sample erkannt worden sind, exemplarisch zu vertiefen und zu verstehen. Barry Wellman knüpfte an den methodischen Vorarbeiten von Bott an, um die Frage zu klären, wie Gemeinschaft in modernen Städten strukturiert ist. Er greift dabei eine alte Debatte aus der soziologischen Stadt- und Gemeindeforschung auf, welche die moderne Stadt wechselhaft als Untergang und Befreiung des Menschen gesehen hat. Wellman macht diese soziale Dimension durch persönliche Netzwerke fassbar und kann zeigen, dass (1) Gemeinschaft nicht mehr vornehmlich lokal in Stadtvierteln konstruiert wird und dass (2) dies nicht dazu geführt hat, dass die meisten Städter sozial verarmt sind. Sie sind in gut funktionierende persönliche Netzwerke eingebettet, die über den lokalen Kontext hinausgehen und Verwandte, Freunde, Kollegen und Nachbarn einschließen (Wellman 1979; Wellman et al. 1988; Wellman und Wortley 1990). Die Arbeiten von Wellman stützen sich dabei auf zwei Datensätze: eine Stichprobe mit 845 Haushalten, in denen er in standardisierten Befragungen die Zusammensetzung von Netzwerken erhoben hat und eine Stichprobe von 33 Haushalten, mit denen qualitative Interviews durchgeführt wurden, um die zugrunde liegenden Prozesse besser zu verstehen. Diese qualitativen Daten sind aber leider bei Weitem nicht so intensiv ausgewertet worden, wie dies bei Bott der Fall war. Auch wurden sie kaum mit den quantitativen Informationen verschränkt. Worin lag der wesentliche Unterschied zwischen Bott und Wellman? Während Bott eher einen ethnologischen Ansatz wählte, indem sie die Interviews selber führte und die Familien sehr gut kannte, ließ der Soziologe Wellman die Daten erheben. Die Interviews wurden in einer oder wenigen Sitzungen durchgeführt und es kam zu keinem so intensiven Kontakt zwischen den Forschern und den Befragten. Dadurch fehlte Wellman auch der Zugang zu den einzelnen Akteuren, ihren Lebenswelten und ihren „Geschichten“. Er konzentriert sich in der Auswertung allein auf die quantitativen Daten, die durch einige Zitate aus den Interviews angereichert werden. Anders als bei Bott fehlt eine akteurszentrierte Perspektive, die erklären könnte, wie diese Strukturen in der Biographie jedes Einzelnen entstanden sind (etwas durch Ausbildung, Berufswahl, Liebe, Heirat, Trennung etc.) und was sie für den Einzelnen bedeuten und bewirken. Während Bott und Kapferer für die britische, sozialanthropologische Tradition stehen, war Wellman ein Schüler von Harrison White, dessen strukturelle Perspektive auch die Arbeiten von Padgett geprägt hat. John Padgett und Christopher Anseln haben in ihrem 1993 veröffentlichten Artikel die Netzwerkanalyse und das strukturelle Paradigma ganz ent63

MICHAEL SCHNEGG

scheidend weiterentwickelt. Sie gehen der Frage nach, wie es den Medici im 15. Jahrhundert in Florenz nach einem missglückten Weberaufstand gelingen konnte, sich als neues Machtzentrum zu etablieren. Auf der Basis reichhaltiger historischer Quellen gelingt es ihnen, wirtschaftliche und verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Florentiner Familien nachzuzeichnen und zu zeigen, wie die Medici durch eine geschickte Kombination aus Heiraten mit den Patriziern und Handel mit den aufstrebenden Familien eine Schüsselposition in deren Netzwerk erlangen konnten. Die Informationen über Beziehungen allein hätten es nie erlaubt, diese kausalen Zusammenhänge zu entschlüsseln. Dazu war die detaillierte Kenntnis der konkreten Situation der einzelnen Akteure und damit des gesellschaftlichen Kontextes, in dem die Netzwerke entstanden sind und ihre Wirkmacht entfaltet haben, notwendig. Wegweisend ist an dieser Studie auch, dass die Autoren zeigen können, wie aus individuellen und zielorientierten Handlungen eine zentrale Stellung als „Vater der Väter“ im Netzwerk entsteht, die von den Akteuren so nicht geplant war (Padgett und Ansell 1993). In jüngerer Zeit hat eine Reihe von Netzwerkstudien für Aufsehen gesorgt, die einen Zusammenhang von sozialen Beziehungen und anderen Merkmalen der Akteure herstellen konnten. Dazu zählen etwa die Arbeiten von Fowler und Christakis, die der Frage nachgegangen sind, ob Glück sozial vermittelt oder in soziale Beziehungen eingebettet ist (Fowler und Christakis 2008). Die Daten dazu stammen aus dem Framingham Heart Study, einer groß angelegten medizinischen Längsschnittuntersuchung. Dabei gelingt es den Autoren, nachzuweisen, dass Menschen, die sich kennen, ähnlich glücklich sind.3 Wie die Autoren selber feststellen müssen, haben sie keine Erklärung für den Zusammenhang: „Our data do not allow us to identify the actual causal mechanisms of the spread of happiness, but various mechanisms are possible.“ (Fowler und Christakis 2008: 8) Ein signifikanter Unterschied zwischen der Studie von Fowler und Christakis und den anderen hier diskutierten Beispielen besteht darin, dass keine qualitativen Daten vorliegen, die helfen könnten, zu verstehen, ob es über die Korrelation hinaus eine kausale Beziehung zwischen den beiden Phänomenen gibt. Qualitative Informationen bilden die Grundlage der Arbeiten von Renate Höfer und ihrer Koautoren, die der Frage nachgehen, wie sich das soziale Engagement von Bürgern in den letzten Jahren verändert hat und inwiefern das mit der Struktur von sozialen Netzwerken zusammenhängt (Höfer et al. 2006). Dazu haben sie mit 40 Informanten Daten zu deren 3

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Die Darstellungen geben das leider überspitzt wieder, indem die Mittelwerte von Ego und seinen Alteri benutzt werden, um die Knoten einzufärben. Ich danke Ulrik Brandes für diesen Hinweis.

STRATEGIEN UND STRUKTUREN

persönlichen sozialen Umfeldern erhoben. Die Struktur dieses Netzwerkes wird nicht wie in den vorangegangenen Untersuchungen mit standardisierten Befragungen erfasst, sondern über Netzwerkkarten. In einem semi-strukturierten Interview teilt der Informant dabei sein soziales Umfeld im ersten Schritt in grobe Segmente ein (etwa Arbeit, Freunde, Verwandte etc.) und benennt dann in einem zweiten Schritt die Personen, die in einzelne Segmente gehören. Während die vorangegangenen Ansätze eher auf einzelne Beziehungen fokussieren und aus ihnen die Struktur ableiten, wird hier also durch das Verfahren eine kognitive Grundeinteilung der sozialen Welt aufgegriffen. Die Autoren analysieren die Netzwerke, indem sie sie nach dem Grad der Segmentierung in drei Kategorien einteilen. Dabei zeigt sich, dass Personen, die Organisationen angehören, die bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts existiert haben, eher schwach segmentierte Netzwerke haben. In der sich anschließenden Fallanalyse machen die Autoren deutlich, dass auch hinter zwei als mittelmäßig segmentiert eingestuften Netzwerken unterschiedliche Konfigurationen stehen können. Dieser Ansatz, der sich als „Qualitative Netzwerkanalyse“ versteht, beschreibt soziale Strukturen mit qualitativen Daten, die in semi-strukturierten Interviews erhoben werden und unterscheidet sich damit ganz wesentlich von den vorher zitierten Untersuchungen. Anders als in den vorgestellten Beiträgen, die die qualitativen und quantitativen Daten als Ergänzung gesehen haben, wird die qualitative Perspektive hier zu einer „Alternativperspektive“ (Diaz-Bone 2007:18). Wie schwer die Vergleichbarkeit der einzelnen Karten ist, zeigt sich wohl auch darin, dass die Autoren nicht genau sagen, wie viele der Netzwerke in welche Kategorien fallen und wie die Netzwerkeigenschaften mit bürgerlichem Engagement kovariieren (Höfer et al. 2006). Die vorangegangene Darstellung hat einige Meilensteine der Netzwerkanalyse betrachtet und anhand dieser Studien zu zeigen versucht, wie unterschiedliche Erhebungs- und Analyseverfahren eingesetzt und kombiniert worden sind. Dabei hat sich gezeigt, dass gerade in der frühen, ethnographisch geprägten Phase die Kombination von qualitativen und quantitativen Daten selbstverständlich war. Qualitative Interviews und Beobachtungen wurden hier genutzt, um Netzwerke zu kontextualisieren und um die beobachteten Zusammenhänge an dicht beschriebenen Einzelfällen zu exemplifizieren (Lundberg, Bott). Sie wurden aber auch genutzt, um komplexe Handlungen zu beschreiben, deren Ausgang man erklären wollte (Kapferer). Oder sie wurden genutzt, um die Bedeutung von Beziehungen oder die Entstehung von Strukturen zu erklären (Padgett und Ansell, Moreno). In den letzten Jahren hat auch die leichte Verfügbarkeit von archivierten elektronischen Daten dazu geführt, dass vor allem die quantitative Netzwerkanalyse einen deutlichen Aufschwung er65

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lebt hat. Im Zuge dessen hat die qualitative Kontextualisierung von Beziehungen oder Strukturen oft gelitten. Einige Studien legen die Vermutung nahe, dass Netzwerke untersucht werden, „weil die Daten da sind“ und nicht weil man auf der Suche nach der Antwort auf eine Frage ist (Fowler und Christakis). Aus methodischer Sicht fällt bei diesen Arbeiten auf, dass hier keine qualitativen Informationen in die Analyse einfließen. Zur gleichen Zeit haben andere Autoren vorgeschlagen, die Strukturen von Netzwerken qualitativ zu beschreiben und somit das formale Instrumentarium der Netzwerkanalyse zu ersetzen. Der theoretische und methodische Anspruch der Sozialwissenschaften und der Netzwerkanalyse haben sich seit den Zeiten von Bott und Kapferer deutlich gewandelt. Bevor der Frage nachgegangen wird, welche Methoden geeignet sind, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, soll zuerst herausgearbeitet werden, wo die Herausforderungen für das Netzwerkparadigma liegen.

3 . H e r a u s f o r d e r u n g e n d e r N e t z w er k a n a l ys e Eine solche Einschätzung muss aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen und der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen subjektiv bleiben. Die hier vertretene Priorisierung lehnt sich an die Einschätzung von Wasserman und Faust (1994: 727ff.) und Schweizer (1996: 257ff.) an. Demnach steht die soziale Netzwerkforschung vor drei zentralen Herausforderungen. Die erste Herausforderung bezieht sich auf das Wechselspiel zwischen Struktur und strategischen Handlungen der Netzwerkakteure. In den Arbeiten von Kapferer wurden Konflikte vor dem Hintergrund sozialer Strukturen analysiert. Burt hat die Frage dahingehend verallgemeinert, welche komparativen Vorteile Netzwerkstrukturen für einzelne Akteure haben können (Burt 1992). Dabei geht es ihm darum, zu zeigen, wie individuelle Akteure vorhandene Beziehungen als Ressourcen nutzen, um Ziele zu erreichen und wie sie diese Beziehungen durch ihre Handlungen strukturieren, um sich beabsichtigt oder unbeabsichtigt in bestimmte soziale Positionen zu bringen. Auch wenn viele der von Burt entwickelten Maßzahlen statisch sind, so wird bereits deutlich, dass es hier um dynamische Prozesse geht, in denen Akteure ganz bewusst Beziehungen lösen und eingehen, um Strukturen zu schaffen. Zweitens stellt sich die Frage nach der Emergenz sozialer Ordnung. Diese Frage, wie aus individuellen Entscheidungen (dem Eingehen und Lösen von Beziehungen) soziale Strukturen entstehen, ist in den letzten Jahren durch die Arbeiten von Barabasi und Watts noch weiter in den 66

STRATEGIEN UND STRUKTUREN

Mittelpunkt der Forschung gerückt (Barabasi und Albert 1999; Watts und Strogatz 1998). Während die Frage in der soziologischen Tradition seit den oben zitierten Arbeiten von Lundberg oft als Kombination aus Attributen und Strukturen betrachtet wurde, sind die Autoren der Frage nachgegangen, welche Tauschregeln oder individuelle Freundschaftswahlen zu welchen Strukturen führen. Dabei waren die Wahlen nicht mehr von den Eigenschaften der Alteri (also ihrem Geschlecht, ihrem Status etc.) abhängig, sondern vielmehr von ihrer Stellung im Netz. Die meistzitierte Regel ist das preferential attachment, das die Entstehung von skalenfreien Netzwerken dadurch erklären kann, dass Akteure in einem wachsenden Netzwerk Freunde nach deren Popularität wählen. Die Idee ist nicht neu (Schnegg, im Druck) und wurde von Schnegg später um das Prinzip der Reziprozität erweitert (Schnegg 2006). Neuere Arbeiten bemühen sich um eine Weiterentwicklung dieser Herangehensweise und die Kombination von Regeln und Attributen in dynamischen Erklärungen (Pujol et al. 2005). Die Emergenz sozialer Netzwerke berührt in diesem Zusammenhang eines der zentralsten Probleme der Sozialwissenschaften: die Beziehung von Mikro- und Makroebene und die Frage, wie aus einzelnen, absichtsvollen Handlungen Strukturen entstehen, die ihrerseits weitere Handlungen einschränken. Die Netzwerkanalyse hat hier die Möglichkeit und das Potenzial, die Entstehung von Strukturen zu simulieren und zur Lösung eines theoretischen Problems beizutragen, das weit über ihren konkreten Anwendungsbereich hinausgeht. Die letzte Herausforderung soll als „Prozess in Netzwerken“ bezeichnet werden. Die zukunftsweisende Forschungsfrage lautet, wie sich bestimmte Prozesse in Netzwerken ausbreiten und wie sie Netzwerke verändern. Dazu zählt etwa die Ausbreitung von Innovationen und Krankheiten aber auch die Herausbildung von Normen und einem gesellschaftlichen Konsens. Auf der Ebene der Gruppe stellt sich die Frage, welche Konstellationen eher dazu geneigt sind, Arbeitsabläufe schnell und effizient zu organisieren oder soziale Dilemmata (wie etwa die kollektive Bewirtschaftung von öffentlichen Gütern) zu überwinden. Diesen drei Herausforderungen kann nur mit umfangreichen empirischen Informationen begegnet werden: (1) mit den Daten über die soziale Struktur einer Gruppe oder die Einbettung von Akteuren und (2) mit Informationen über die Eigenschaften der Akteure und ihre Handlungen, die sich in diesen Strukturen abspielen oder die sie konstituieren. Diese Daten können sowohl qualitativer als auch quantitativer Natur sein: 1. Um quantitative Daten über soziale Netzwerke zu erheben, erfasst man für eine gegebene Menge an Akteuren und bestimmte Beziehungen, wer welche Beziehungen unterhält. Diese lassen sich dann in Listen oder Matrizen abbilden und quantitativ analysieren. 67

MICHAEL SCHNEGG

2. In jüngerer Zeit ist darüber hinaus auch vorgeschlagen worden, Netzwerkstrukturen qualitativ zu erfassen. Die Methode der Wahl sind Netzwerkkarten, bei denen der befragte Akteur sein soziales Umfeld auf einer mit konzentrischen Kreisen versehenen Karte verortet und die Beziehungen zu ihnen in einem semi-strukturierten Interview vertieft (Straus 2006: 483). Diese Methode wird in ähnlicher Form bereits seit 1980 in der Psychologie eingesetzt, um das persönliche Umfeld von Personen zu rekonstruieren (Kahn und Antonucci 1980). Diaz-Bone hat zu Recht hinterfragt, ob es sich hierbei überhaupt um ein qualitatives Verfahren handelt (Diaz-Bone 2007: 36). 3. Quantitative Daten über Strategien werden in der Regel über standardisierte Skalen erfasst, mit denen man Attribute von Akteuren wie etwa deren Alter oder deren Einstellung zu bestimmten Themen messen kann. 4. Qualitative Daten über Strategien beziehen sich zum einen auf die Frage, welche Ziele Akteure haben, wenn sie bestimmte Beziehungen aufbauen und wie die vorhandene Netzwerkstruktur und die Verteilung anderer Ressourcen diese Wahl beeinflussen. Diese Daten lassen sich etwa über qualitative Interviews, teilnehmende Beobachtungen und biographische Befragungen gewinnen. Der Zusammenhang dieser auf unterschiedliche Weise erhobenen Daten, die zur Analyse von Strukturen und Strategien verwendet werden, lässt sich in einer Tabelle zusammenfassen (vgl. Tabelle 1). Betrachten wir die Zellen im Einzelnen: Zelle 1: Straus hat in seinem Resümee des Buches Qualitative Netzwerkanalyse argumentiert, dass die Netzwerkkarte ein geeignetes Instrument ist, um soziale Strukturen qualitativ zu beschreiben. Die Interpretation dieser Interviews bleibt in der Regel qualitativ und liefert so eine Beschreibung der sozialen Ordnung. In vielen Studien, die sich selber der qualitativen Netzwerkanalyse zuordnen, werden damit einhergehende Handlungen ebenfalls qualitativ erfasst und analysiert (Hollstein und Straus 2006). Diese Forschungsstrategie liefert ein exploratives Bild von sozialen Strukturen und deren Bedeutung für das Individuum. Sie wird aber nicht in der Lage sein, vergleichend zu beschreiben, wie die persönlichen Netzwerke von Akteuren beschaffen sind, worin sie sich unterscheiden und was diese Unterschiede bedingt oder bewirken. Dazu ist erst eine Aggregation der Daten notwendig, die jedoch bei den in der Regel wenig standardisierten und schwer vergleichbaren Interviews sehr schwierig ist. Während es sich um eine sehr geeignete Strategie handelt, um neue soziale Kontexte zu durchdringen, von denen noch wenig be-

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STRATEGIEN UND STRUKTUREN

Tabelle 1: Kombinationen qualitativer und quantitativer Daten über Strukturen und Strategien Strategie Struktur Qualitativ Quantitativ

Qualitativ 1 3

Quantitativ 2 4

Quelle: eigene Darstellung kannt ist, kann man nicht erwarten, dass so Emergenz, Strategien und Prozesse mit der notwendigen Präzision verstanden werden, um einen allgemeinen Beitrag zur Forschung über Entstehung und Bedeutung sozialer Ordnungen zu leisten. Zelle 2: Die Kombination von qualitativer Beschreibung der sozialen Struktur und quantitativer Datenerhebungen ist wenig verbreitet. Daher bleibt die Frage, ob dies ein geeigneter Weg ist, um die oben beschriebenen Herausforderungen zu bewältigen, vorerst offen. Ein Beispiel für diese Herangehensweise ist der Ansatz von Schönhuth, Gamper und Kronenwett, bei dem einerseits mit einer Software qualitativ Daten über die Sozialstruktur erhoben werden, während gleichzeitig über das Zeichnen auf der Benutzeroberfläche quantitative Daten aufgenommen werden können (Schönhuth et al. 2009). Zelle 3: Quantitative Daten werden durch Handlungen qualitativ eingebettet oder kontextualisiert. Die oben zitierten Arbeiten von Bott und Lundberg sind Paradebeispiele dieser Forschung, die qualitative Informationen nutzt, um prototypische Akteure und Situationen besser zu verstehen und exemplarisch zu analysieren. Thomas Schweizer hat dies als die „Fleisch und Knochen“-Strategie beschrieben, in der formale und quantitative Netzwerkanalyse das Grundgerüst der Beschreibung liefern und qualitative Daten die beobachteten Zusammenhänge verdeutlichen und kontextualisieren (Schweizer 1996). Diaz-Bone plädiert für eine ganz ähnliche Herangehensweise, wenn er eine Verbindung qualitativer und quantitativer Verfahren im Sinne einer mixed method-Strategie fordert (Diaz-Bone 2007). Die Arbeiten von Kapferer gehen noch einen Schritt weiter, indem sie Handlungen und die Strategien von Akteuren vor dem Hintergrund der sozialen Struktur analysieren. Aber auch Moreno, der die Strategien und die Präferenzen analysiert, die hinter den konkreten Wahlen stehen, beschreitet hier einen sehr innovativen Weg, um Strategien und Strukturen miteinander in Verbindung zu bringen. Die Entstehung und die Veränderung sozialer Netzwerke, als eine der großen Herausforderungen der Netzwerkanalyse, wird sich nur erklären lassen, 69

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wenn man versteht, wie lokale Entscheidungen und globale Strukturen zusammenhängen und was Menschen motiviert, bestimmte Beziehungen zu lösen und andere einzugehen. Die Kombination liefert somit ein wichtiges Kernelement für die Beantwortung der oben genannten Fragen. Zelle 4: Daten werden quantitativ erhoben und kontextualisiert. Viele Studien der Netzwerkanalyse folgen diesem Trend, der auch durch die leichte Verfügbarkeit von Daten unterstützt wird. Während die Strategie dazu geeignet sein kann, die Entstehung von Ordnungen (Emergenz) und dem Zusammenhang von Handlungen und Netzwerkdaten statistisch zu überprüfen, wird sie kaum in der Lage sein, diese kausal zu erklären.

4. Strategien und Strukturen. Skizze einer Forschungsstrategie Ich möchte im Folgenden eine Forschungsstrategie und damit eine Kombination von qualitativen und quantitativen Daten vorschlagen, welche die Netzwerkanalyse wieder stärker an ihre ethnographischen Wurzeln heranführt und Strategien und Strukturen gemeinsam betrachtet. Sie gliedert sich in vier Schritte und kombiniert die Fälle aus Tabelle 1, um Antworten auf die oben gestellten Fragen zu liefern. Die Strategie nutzt qualitative Daten, um zu verstehen, wie Strukturen aus individuellen Handlungen entstehen, wie sie wahrgenommen werden und was sie bewirken. Die eigentliche Beschreibung der Netzwerke erfolgt dann jedoch über formal-quantitative Verfahren. Schritt 1: Diese Forschungsstrategie beginnt damit, den sozialen Kontext, in dem Netzwerke für bedeutsam erachtet werden, zu verstehen und zu analysieren. In diesem Zusammenhang muss geklärt werden, welches die relevanten sozialen Beziehungen sind, wie diese eingegangen und gelöst werden und welche Handlungen dadurch erklärt werden sollen. Diese explorative Forschungsphase kann sich neben teilnehmender Beobachtung und offenen Interviews auch auf Netzwerkkarten stützen, die dazu geeignet sind, eine Vorstellung über die in einem gegebenen Zusammenhang relevanten Akteuren zu erfassen. Schritt 2: An diese explorative Phase schließt sich eine zweite, quantitative Phase an, in der die Strukturen präzise beschrieben werden. Dazu bietet die formale Netzwerkanalyse in fast allen Fällen die besten Möglichkeiten. Ausnahmen können tabuisierte oder illegale Milieus sein, in denen Informanten weder über Alteri noch über ihre eigenen Beziehungen reden wollen. Wir haben vor einiger Zeit einen Leitfaden entwickelt, wie man diese Informationen auch in solchen Situationen erheben kann (Von Borries et al. 2003). 70

STRATEGIEN UND STRUKTUREN

Schritt 3: In der dritten Forschungsphase gilt es zu klären, wie diese Strukturen entstanden sind, wie sie wahrgenommen werden und was sie bewirken. Das kann nur durch qualitative Interviews mit den Akteuren geschehen. Hierbei können die Ergebnisse oder Visualisierungen der formalen Netwerkanalyse als Grundlage dienen, um zu verstehen, wie bestimmte Strukturen oder auch bestimmte Positionen einzelner Akteure zustande gekommen sind. Dabei ist es nicht ausreichend, qualitative Beschreibungen als Belege für das quantitativ Geprüfte zu zitieren. Qualitative Daten erlauben es, zu verstehen, nach welchen lokalen Regeln Beziehungen eingegangen werden und wie diese Regeln zwischen Akteuren variieren. Dabei können diese Wahlen nur vor dem Hintergrund verstanden werden, welche Ziele Akteure verfolgen und wie sie eine soziale Situation wahrnehmen. Die vorhandenen sozialen Strukturen aber auch die Eigenschaften von Ego und den Akteuren stellen Rahmenbedingungen dar, vor denen diese Wahlen stattfinden. Schritt 4: Im vierten Schritt können Zusammenhänge auf der aggregierten Ebene überprüft werden. Während eine Reihe von Forschungsfragen damit auskommen wird, statische Netzwerkdaten zu analysieren, wird es darüber hinaus in der Zukunft immer wichtiger werden, Daten zu mehren Zeitpunkten zu erheben, um die Dynamik von Netzwerken zu verstehen.

5. Fazit Ich habe in diesem Beitrag einen Überblick über die Verbindungen qualitativer und quantitativer Daten und Analysestrategien in der Netzwerkforschung gegeben. Daran anschließend habe ich aufgezeigt, wo ich die großen Herausforderungen für die Netzwerkforschung sehe. Diese lassen sich unter den Stichworten Strategien, Emergenz und Prozesse subsumieren. Ich habe argumentiert, dass eine Verbindung von Informationen über die sozialen Strukturen und Entscheidungen der Akteure notwendig ist, um diese Fragen beantworten zu können. Entscheidungen und Strukturen lassen sich sowohl qualitativ als auch quantitativ erfassen. Die vorhandenen Forschungsstrategien lassen sich in dieses Schema ordnen. Die bereits vorhandenen Kombinationen scheinen mir jedoch nicht auszureichen, um die Herausforderungen zu lösen. Deshalb habe ich eine Forschungsstrategie vorgeschlagen, die qualitative und quantitative Daten und Analysen im Forschungsprozess verbindet und die ich an anderer Stelle als ethnographische Netzwerkanalyse bezeichnet habe (Schnegg 2008). Diese Analyse betrachtet Strategien und Strukturen nicht als alternative Perspektiven, sondern als zwei Seiten 71

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einer Medaille. Während sich Strategien besser qualitativ erfassen lassen, können Netzwerkstrukturen besser formal beschrieben werden. Nur durch die Analyse von Entscheidungen, Strategien und Strukturen wird es möglich, zu verstehen, wie Netzwerke entstehen, wie sie wahrgenommen werden und wie sie bestimmte Handlungen ermöglichen und andere einschränken.

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Vom Graphen zur Gesellschaft. Anal yse und Theorie sozialer Netzw erke BORIS HOLZER

Sozialität bedeutet, dass Menschen miteinander in sozialen Beziehungen stehen – diese Grundidee der Netzwerkanalyse ist plausibel genug, dass man sich wundern könnte, warum sie erst relativ spät auf breite Resonanz gestoßen ist. Natürlich geht jede soziologische Theorie in irgendeiner Weise davon aus, dass Beziehungen zwischen Individuen – und nicht etwas diese selbst – den Gegenstand soziologischer Erkenntnis definieren. Doch das heißt nicht unbedingt, dass konkrete soziale Beziehungen auch den Schwerpunkt der Analyse bilden würden. Unter den Klassikern des Fachs waren Simmel (1958 [1908]) und von Wiese (1966 [1924/28]) diejenigen, die am deutlichsten für eine von den sozialen Beziehungen her konzipierte Soziologie plädierten. Das Programm einer an den Formen sozialer Wechselwirkung interessierten – und in diesem Sinne ‚formalen‘ – Soziologie fand jedoch nur wenig Nachahmer. Das mag auch daran gelegen haben, dass die Mittel zur formalen Darstellung sozialer Beziehungen deutlich später entwickelt und für die Sozialwissenschaften adaptiert wurden. Trotz einiger Vorläufer, zum Beispiel Morenos „soziometrischer“ Erfassung von Gruppenstrukturen (Moreno 1934), wurde sie letztlich erst durch die sozialwissenschaftliche Anwendung der Graphentheorie durch Harary (1953) und andere ermöglicht. Die intuitive Idee von Individuen in sozialen Beziehungen konnte nun tabellarisch als Soziogramm und graphentheoretisch als Menge von Knoten (engl. nodes oder vertices) und den zwischen diesen verlaufenden Kanten (engl. edges oder arcs) repräsentiert werden. Auf dieser Grundlage erschloss sich die

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BORIS HOLZER

Netzwerkanalyse schnell einen breiten Anwendungsbereich in der soziologischen, sozialpsychologischen und ethnologischen Forschung.1 Doch von Beginn an war die Erfolgsgeschichte der Social Network Analysis (SNA) begleitet von der Frage, wie die zunehmend ausgefeilte Datenerhebung und -analyse auch theoretisch verarbeitet werden könnte. Bereits Ende der 1960er Jahre bemühten sich Netzwerkforscher wie Mitchell (1969) um die Präzisierung des Netzwerkbegriffs und seine Verknüpfung mit sozialwissenschaftlichen Theorien. Doch zehn Jahre später verzeichnete Granovetter (1979) immer noch eine „Theorielücke“. Und an dieser Lage scheint sich auch in Folge wenig geändert zu haben. Erneut mehr als zehn Jahre später resümiert Harrison White trotz – oder gerade aufgrund – seiner langjährigen Beteiligung am netzwerkanalytischen Forschungsprogramm, dass Netzwerkkonzepte sich zwar als unverzichtbar, aber in theoretischer Hinsicht als ziemlich ‚unverdaulich‘ erwiesen hätten: „Until now, network constructs have lain undigested, increasingly indispensable for phenomenological insight but inert theoretically“ (White 1992: 65). Mit dieser Einschätzung schaltete sich White in eine weiterhin lebhaft geführte Diskussion ein, die den Stellenwert von Netzwerken in der soziologischen Theorie präzisieren möchte. Obwohl soziale Netzwerke schon lange Gegenstand empirischer Forschung gewesen sind, konnte eine entsprechende soziologische Theorie bisher keine klaren Konturen gewinnen. Die programmatische Forderung nach einer „relationalen Soziologie“ (Emirbayer 1997) kann auf sehr unterschiedliche Theorietraditionen bezogen werden (vgl. jetzt Fuhse/Mützel 2010). Doch damit ist noch nicht geklärt, inwiefern von einer eigenständigen „Netzwerktheorie“ bereits gesprochen werden kann bzw. wie aussichtsreich ihre zukünftige Entwicklung ist (Turner/Maryanski 2003; Mizruchi 2005; Holzer 2009). Evident ist jedenfalls, dass sich das Interesse an Netzwerken seit einigen Jahren nicht mehr auf methodologische Fragen beschränkt. Sowohl in den Reihen der klassischen Netzwerkanalyse als auch in anderen Theorierichtungen finden Versuche einer Theoretisierung und „Soziologisierung“ der Netzwerkforschung breite Aufmerksamkeit. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist das in der formalen Netzwerkanalyse entwickelte Grundverständnis von sozialen Netzwerken als mathematisch repräsentierbare Menge von Knoten und Kanten. Dieses Konzept lässt sich sowohl in Richtung eines konsequenten Strukturalismus ausarbeiten als auch mit Elementen einer instrumentalistischen Handlungstheorie kombinieren (1.). Die sozialtheoretische 1

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Zur Geschichte der Netzwerkanalyse siehe auch Schnegg (in diesem Band) sowie Scott (1991: Kap. 2), Jansen (2003: Kap. 2), Holzer (2006: 29ff.) und ausführlich Freeman (2004). Zu den formalen Konzepten siehe außerdem Wasserman/Faust (1994).

VOM GRAPHEN ZUR GESELLSCHAFT

Ausarbeitung des Netzwerkkonzepts bleibt in diesen Ansätzen jedoch rudimentär: Netzwerke werden entweder als nicht weiter auflösbare Strukturen aufgefasst oder auf die Präferenzen von individuellen Akteuren reduziert. Gegen diese unnötige Verkürzung wenden sich neuere Theorien, die Anregungen der Netzwerkanalyse aufnehmen, um ein soziologisch anspruchsvolleres Konzept von sozialen Netzwerken zu entwickeln: Zum einen zählt hierzu Harrison Whites Versuch, auf netzwerkanalytischer Grundlage eine über Netzwerke im engeren Sinne hinausgehende, konstruktivistische Sozialtheorie auszuarbeiten (2.); und zum anderen die systemtheoretische Interpretation des Netzwerkbegriffs, die noch stärker als Whites Netzwerktheorie darum bemüht ist, den gesellschaftlichen Stellenwert von Netzwerken – und das heißt vor allem: ihr Verhältnis zu anderen sozialen Strukturen – zu explizieren (3.). Trotz recht unterschiedlicher Ausgangspunkte konvergieren die beiden Ansätze in dem Versuch, die Konstitution von Netzwerken als sozialen Sachverhalten nicht einfach vorauszusetzen, sondern zum Gegenstand soziologischer Erklärung zu machen.

1 . Zw i s c h e n S t r u k t u r a l i s m u s und Instrumentalismus Mehr Programm denn Theorie scheint die SNA eine eher lose Ansammlung von Forschungsinteressen und Erklärungsprämissen zu sein (Kilduff/Tsai 2003: 13).2 Der gemeinsame Orientierungspunkt liegt in der empirischen Erforschung von konkreten sozialen Beziehungen – womit allerdings noch wenig ausgeschlossen wird. Die Einheit des netzwerkanalytischen Forschungsprogramms beruht auf der Nutzung graphentheoretischer Konzepte und auf einer „strukturellen Intuition“ (Freeman 2004). Die ‚Theorielücke‘ der Netzwerkanalyse ist der Tatsache geschuldet, dass Netzwerkforscher sich nicht immer um den Anschluss an die soziologische Theorie bemühen – vor allem, wenn es um die Klärung der eigenen Grundbegriffe geht. Nach wie vor spielen in der SNA formale und forschungspragmatische Fragen eine größere Rolle als die Entwicklung und Präzisierung von Theorien und Konzepten. Das Grundgerüst einer strukturalistischen Erklärungsstrategie besteht deshalb darin, dass die Erfahrungen und Ergebnisse netzwerkanalytischer Studien generalisiert werden. Auf diese Weise gelangen zum Beispiel Knoke/Kuklinski (1982), Wellmann (1988) und Wasserman/Faust (1994) zu recht ähnli-

2

Im Folgenden greife ich zurück auf detailliertere Darstellungen der Netzwerkanalyse und -theorie in Holzer (2006: 29ff.; 2009). 79

BORIS HOLZER

chen Beschreibungen dessen, was die SNA von anderen soziologischen Ansätzen unterscheidet: 1. Gegenstand soziologischer Analysen sind soziale Beziehungen, aber nicht die einzelnen Dyaden zwischen Ego und Alter, sondern deren Einbettung in ein Netzwerk direkter und indirekter Beziehungen. 2. Im Gegensatz zu einer Gegenüberstellung von „Individuum“ und „Gesellschaft“ vermeidet der Netzwerkbegriff eine Festlegung auf einen der beiden Pole bzw. auf die Mikro- oder Makroebene. 3. Nicht Eigenschaften der Akteure, sondern ihre strukturellen Positionen in Netzwerken sind der Bezugspunkt soziologischer Erklärungen. 4. Beziehungsmuster und Positionen in Netzwerken lassen sich mit den Mitteln der Graphentheorie repräsentieren und für soziologische Erklärungen nutzen. Die strukturalistische Netzwerkforschung lehnt also sowohl „individualistische“ als auch „kollektivistische“ Erklärungsmodelle ab. Nicht das „Individuum“ oder die „Gesellschaft“, sondern die intermediäre Ebene sozialer Netzwerke soll im Zentrum einer „relationalen Soziologie“ stehen (Granovetter 1985). Es gilt der „anti-kategorische Imperativ“, auf Relationen zu achten – und nicht auf individuelle Attribute oder soziale Kategorien (Emirbayer/Goodwin 1994: 1414). Doch die Abgrenzung eines „relationalen“ Ansatzes von „kategorialen“ (Wellman 1988) oder „substantialistischen“ (Emirbayer 1997) Theorien darf nicht zu absolut verstanden werden: Soziale Kategorien und individuelle Merkmale können für soziologische Erklärungen durchaus auch dann relevant sein, wenn sie nicht auf Netzwerke reduzierbar sind (Trezzini 1998). Das Programm eines Netzwerk-Strukturalismus, der allein auf die Erklärungskraft struktureller Modelle vertrauen würde, hat sich in der soziologischen Forschung nicht durchgesetzt.3 Sie wird vielmehr dominiert von Varianten der Handlungstheorie, die einen robusten Instrumentalismus (d.h. die Idee zielorientierter Akteure) mit strukturalistischen Konzepten zu kombinieren versuchen. Aus handlungstheoretischer Perspektive interessiert einerseits, wie Netzwerke sich auf individuelle Handlungen auswirken, und andererseits, wie und welche Netzwerke als Folge 3

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Am ehesten findet sich dieses Paradigma in der interdisziplinären Netzwerkwissenschaft, die sich in den letzten Jahren aus der Kooperation von Mathematikern, Physikern und Sozialwissenschaftlern entwickelt hat. Diese ‚neue‘ Wissenschaft sozialer Netzwerke hat einige Aufmerksamkeit erregt (Watts 2004) – aber auch den Unmut der klassischen SNA, weil sie trotz sehr ähnlicher Erkenntnisinteressen deren Vorarbeiten zunächst kaum zur Kenntnis nahm.

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individuellen Handelns entstehen. Diese Fragen können kombiniert und mit unterschiedlichen Schwerpunkten versehen werden: Geht man beispielsweise von einem an den Vorgaben rationaler Wahl orientierten Modell utilitaristischen Handelns aus, so kann man die Stabilität unterschiedlicher Netzwerktopologien in Tauschbeziehungen unter experimentellen Bedingungen untersuchen (Braun 2004). Wenn man sich auf die Perspektive einzelner Akteure konzentriert und soziale Beziehungen von dort aus als Ressourcen des Handelns konzipiert, kann man sie als vielfältig einsetzbares, unter manchen Umständen aber auch einschränkendes Sozialkapital begreifen (vgl. Lin 2001 und Marx in diesem Band). Und schließlich können die beiden Fragen – nach der Handlungsabhängigkeit der Netzwerke und nach der Netzwerkabhängigkeit des Handelns – kombiniert werden. Beispiele hierfür sind zwei der einflussreichsten Arbeiten der SNA: Mark Granovetters These von der „Stärke schwacher Bindungen“ (1973) und Ronald Burts „strukturelle Löcher“ (1992). Interessant sind diese beiden Arbeiten vor allem deshalb, weil sie zwei sich ergänzende Erklärungsprinzipien der Netzwerkanalyse weiterentwickelt haben: Kohäsion und Äquivalenz. Nach Granovetter beruht die „Stärke schwacher Bindungen“ auf einem Kohäsionsargument: Starke Beziehungen (mit häufigen Kontakten und hoher Vertrautheit) sind, so Granovetter, oft redundant. Wenn Person A mit B und C eng befreundet ist, so ist es wahrscheinlich, dass B und C sich irgendwann treffen und miteinander bekannt werden. In dem Maße, in dem A, B und C in gemeinsame Interaktionen verwickelt werden, ähneln sich aber auch ihre Erfahrungen. Es wird damit unwahrscheinlicher, dass Person A von B etwas erfährt, das sie nicht schon von C weiß. Dies gilt jedoch nicht, wenn es sich – zum Beispiel zwischen A und C – um eine schwache (also unregelmäßige und eher lose) Beziehung handelt. In den weak ties liegt deshalb der Schlüssel zu nicht redundanten, überraschenden und gelegentlich (z.B. bei der Jobsuche) wertvollen Informationen: Sie dienen als „Brücken“, die ansonsten getrennt bleibende Regionen oder Cluster eines Netzwerks miteinander verbinden – und umgekehrt natürlich auch wieder trennen, wenn sie wegfallen. Ähnlich wie Granovetter schreibt auch Burt (1992) den Verbindungen zwischen den Clustern eines Netzwerks, den „strukturellen Löchern“, besondere Bedeutung zu. Wer sie besetzt, hat Informations- und Handlungsvorteile. Burt reformuliert auf diese Weise die bereits von Simmel (1958 [1908]: 83ff.) beschriebene Rolle des Tertius gaudens in einem relationalen Kontext. Nicht die Stärke und Kohäsion der Beziehungen ist jedoch laut Burt entscheidend. Im Gegensatz zu Granovetter greift Burt auf ein weiteres Kriterium zurück, um die Redundanz von 81

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Kontakten zu bestimmen: die strukturelle Äquivalenz von Netzwerkknoten. Von strukturell äquivalenten Positionen spricht man, wenn sie jeweils dieselben Kontakte haben, ohne deshalb zwangsläufig direkt miteinander in Kontakt zu stehen. White et al. (1976) entwickelten das Konzept der strukturellen Äquivalenz, um Rollen als gleichartige Beziehungen zwischen Positionen in Netzwerken, d.h. relational beschreiben zu können. Alle Lehrer zum Beispiel haben strukturell äquivalente Beziehungen zu weiteren Kategorien von Personen (Schülern, Schulleitern, Eltern usw.). Die Analyse der Beziehungsstruktur deckt diese strukturell äquivalenten Positionen auf: Die sozialen Kategorien erscheinen dann als „Blöcke“ selektiver Beziehungen. In einem Block zusammengefasste Netzwerkknoten haben die gleichen (oder zumindest ähnliche) Beziehungen zu den anderen Blöcken. Burt adaptiert diese Idee, um dadurch Formen von Redundanz zu identifizieren, die aus Mehrfachkontakten zu einer bestimmten Gruppe oder Kategorie von Personen resultieren. Deutlicher als Granovetter versteht Burt seine Analysen auch als Hinweise darauf, wie Akteure die Möglichkeiten von Netzwerken nutzen und optimieren können. Strukturelle Löcher können durch Vermittler gefüllt werden, die ihre Position des ‚lachenden Dritten‘ allerdings sichern müssen. Burt liefert damit ein gutes Modell dafür, wie das Interesse an strukturellen Positionen mit einer instrumentalistischen Handlungstheorie verbunden werden kann. Er bleibt dem strukturalistischen Credo jedoch insofern verbunden, als er soziale Beziehungen als Handlungsbedingungen versteht, die mehr oder weniger unproblematisch gegeben und daher der netzwerkanalytischen Forschung auch zugänglich sind. Dass eine soziale Beziehung als ‚vorhanden‘ oder ‚nicht vorhanden‘ beobachtet werden kann und dass es unterscheidbare (und als solche abfragbare) Typen sozialer Beziehungen gibt, setzen Burt und Granovetter – wie auch die übrigen Vertreter der SNA – voraus. Diese Annahme muss jedoch spätestens dann problematisiert werden, wenn Netzwerke nicht nur als irgendwie operationalisierbare Variablen in Kausalerklärungen, sondern als Konzepte einer soziologischen Theorie fungieren sollen.

2 . V o n d e r s t r u k t u r a l i s t i s c h e n An a l ys e z u r konstruktivistischen Theorie Den Anspruch, von der Analyse sozialer Netzwerke zu einer Theorie sozialer Netzwerke vorzustoßen, formuliert am deutlichsten Harrison White, vor allem in seinem Hauptwerk Identity and Control (White 1992; 2008). Zwar bleibt er beim Grundgerüst „ties between persons, and how they chain together and spread out in social networks“ (White 1993: 14). 82

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Doch er möchte die vorschnelle Objektivierung von Netzwerkbeziehungen, wie sie in der empirischen Forschung üblich ist, vermeiden, indem er die soziale Konstruktion von Netzwerkbeziehungen in den Vordergrund seiner Überlegungen stellt. Netzwerke sind White zufolge „phänomenologische Wirklichkeiten“, d.h. sinnhaft konstituiert. Allenfalls für begrenzte Forschungszwecke mag es gerechtfertigt sein, Netzwerkbeziehungen als objektive, mehr oder weniger fixierte Austauschkanäle zu begreifen, die unabhängig von einem Beobachter existieren. Doch die ‚Wirklichkeit‘ der Netzwerke ist sozial konstruiert: Vielfältige Situationen und Kommunikationsepisoden müssen als Einheit beobachtet und beschrieben werden, damit sie sich in eine „Beziehung“ (tie) einfügen und einordnen lassen. Soziale Kontakte werden nicht nur auf Nachfrage von Sozialforschern, sondern von den Beteiligten selbst zu „Beziehungen“ generalisiert. Besonders deutlich ist dies im Fall von Verwandtschaftsverhältnissen, die in praktisch allen Gesellschaften als von den spezifischen Personen abstrahierende Beziehungen zwischen Vätern, Müttern, Söhnen, Töchtern, Großeltern usw. im Netzwerk der „Verwandtschaft“ repräsentiert werden können. Zumindest in der modernen Gesellschaft ist es darüber hinaus üblich, weitere Formen „persönlicher“ Beziehungen, wie zum Beispiel Freunde, Bekannte und Kollegen, zu unterscheiden (vgl. Tenbruck 1964; Schmidt 2000). Diese Beschreibungen, die White als stories bezeichnet, sind das eigentliche Substrat sozialer Netzwerke. Sie ermöglichen es erst, Ereignisse so zuzuordnen, dass sie als Teil einer Beziehungsgeschichte fungieren und dieser einen sozialen ‚Sinn‘ geben können. Indem die Beteiligten, aber auch Dritte ihre Deutungen von Beziehungen in Form von stories beisteuern, wird ein Bereich des Erwartbaren definiert und in diesem Sinne „Kontrolle“ ausgeübt. Dies schließt jedoch unerwartete Handlungen und Ereignisse natürlich nicht aus. Jede Form der Kontrolle kann von anderen antizipiert, akzeptiert oder auch sabotiert werden. Erwartungen werden ihrerseits erwartet, was die Möglichkeit ihrer Enttäuschung einschließt. Kontrolle ist White zufolge der Fluchtpunkt jeder sozialen „Identität“: Identitäten ‚erstreben‘ Kontrolle, um eine „Verankerung“ (footing) in einer unübersehbaren und kontingenten sozialen Welt zu finden. Doch jeder Kontrollversuch findet seine Grenze in der Autonomie und im Überraschungspotenzial anderer Identitäten. Daraus folgt, dass Beziehungen fragile soziale Konstruktionen sind, die sich nicht direkt aus Verhaltensdaten, z.B. regelmäßigen Treffen, erschließen, sondern erst durch ihre Beschreibung und Symbolisierung in stories soziale Realität gewinnen. Es ist ein wichtiger erster Baustein einer Netzwerktheorie, den Beziehungsbegriff in dieser Weise auszuarbeiten. White eröffnet damit die 83

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Möglichkeit, Netzwerken auch in ihrer symbolischen und kulturellen Vielfalt gerecht zu werden. Mit dem Begriff des Catnet (categorical network) trägt White der Tatsache Rechnung, dass Beziehungen von den Merkmalen der beteiligten Personen abhängen können – und umgekehrt. Einerseits gibt es Netzwerke, die Jugendliche oder Senioren, Büro- oder Fabrikarbeitern, Physiker oder Germanisten miteinander verknüpfen; andererseits können bestehende Beziehungen zur Grundlage einer neuen Kategorie werden, etwa wenn Freundschaften sich zu einem ‚Freundeskreis‘ verdichten. Es geht also nicht nur darum, dass hinsichtlich einer bestimmten Eigenschaft gleiche Personen analytisch zu einer Kategorie zusammengefasst werden können, sondern darum, dass Kategorie und Verbundenheit sich gegenseitig bedingen: Die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Kategorie kann der Ausgangspunkt für soziale Beziehungen sein; umgekehrt können aber auch vorhandene Beziehungen zur Konstruktion neuer Zugehörigkeiten führen. Am Beispiel der Catnets wird deutlich, dass White Netzwerke als „phänomenologische Realitäten“ auffasst, also ihr Zusammenspiel mit und ihre Abhängigkeit von symbolischen Strukturen betont. Netzwerke entstehen in spezifischen, thematisch fokussierten Kontexten oder domains. Diese Fusion von Beziehungsstruktur und Semantik bezeichnet White als Netdom (network domain). Netdoms erlauben es, Beziehungstypen zu unterscheiden, die mit einem eigenen Erwartungsstil, Vokabular oder Symbolen operieren (White 1995). Jede soziale Identität setzt die Verankerung in verschiedenen domains voraus und damit auch die Möglichkeit, zwischen ihnen zu wechseln. Dieselben Personen sind regelmäßig in mehrere Netdoms gleichzeitig involviert, zum Beispiel wenn Arbeitskollegen zugleich Mitglieder im Kegelclub und Nachbarn sind. Im Rahmen der Rollentheorie werden solche Konstellationen als Quellen von „Rollenkonflikten“ behandelt. Das Problem und seine Lösung liegen darin, dass eine Person möglicherweise widersprüchliche Erwartungen mehrerer Rollen integrieren muss. White betont demgegenüber den Wechsel zwischen unterschiedlichen Engagements und die sozialen Voraussetzungen eines solchen switching. Dazu gehören soziale Räume, die den Übergang zwischen Beziehungsregistern vermitteln oder gleichsam ‚puffern‘ können; in Anlehnung an Goffman bezeichnet White diese Räume als „Öffentlichkeiten“, die nicht auf eine bestimmte domain spezialisiert sind (Mische/White 1998). Die Herausforderung von Whites Überlegungen besteht darin, dass sie der gängigen Auffassung von Netzwerken als ‚objektiven‘ Strukturen ebenso widersprechen wie der Annahme, Netzwerke entstünden aus der Verbindung von Individuen. White argumentiert in dem Sinne ‚soziologischer‘, als er Personen nicht als Material der Netzwerkbildung voraus84

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setzt. Auch wenn die Überlegungen Whites sich noch nicht zu einer geschlossenen Theorie fügen, sind die Umrisse eines Theoriearrangements zu erkennen, das Elemente, Beziehungen und Netzwerke behandelt und diese nicht reduktionistisch aufeinander bezieht. Hierin besteht der entscheidende Unterschied zu den handlungstheoretischen Überlegungen Granovetters und Burts: White zufolge können Netzwerke nicht aus den Strategien oder Intentionen von Identitäten ‚erklärt‘ werden. Schon auf der Ebene der stories haben wir es vielmehr mit einer emergenten Ebene sozialer Realität zu tun, die zwar auf individuellen Interpretations- und Kontrollversuchen aufruht, aber nicht auf diese reduzierbar ist. Erst recht gilt dies für Netdoms. Sie geben den Rahmen vor, innerhalb dessen die Individualität von Personen überhaupt erst ihren Ausdruck finden kann – zum Beispiel im koordinierten Wechsel zwischen verschiedenen Beziehungsregistern. Im Feld der Netzwerkforschung stellt Whites Theorie somit einen der wenigen, dafür aber umso mehr beachteten Versuche dar, das spärliche Gerippe strukturalistischer Beschreibungen dadurch anzureichern, dass er den im weiteren Sinne „kulturellen“ oder „symbolischen“ Aspekten Aufmerksamkeit schenkt (Fuhse 2009). Ein Korrelat dieses Bemühens ist der Umstand, dass die ‚Bausteine‘ sozialer Netzwerke – Personen und ihre Beziehungen – stärker problematisiert werden, als dies in der soziologischen Netzwerkanalyse üblicherweise der Fall ist. Man kann die Auflösung dieser Grundelemente aber noch weiter treiben, ebenso wie die Verortung von Netzwerken in einer umfassenderen Gesellschaftstheorie. Ansätze und Anregungen hierzu liefert die Systemtheorie, die das Thema allerdings erst vor recht kurzer Zeit für sich entdeckt hat.

3. Netzwerke und gesellschaftliche Differenzierung Ähnlich wie die SNA geht die Systemtheorie vom Bezugsproblem der sozialen Komplexität aus, formuliert es jedoch nicht als Verknüpfung von Personen, sondern vielmehr von Handlungen bzw. Kommunikationen. Die Gesellschaft ist in diesem Sinne nicht eine Ansammlung von Menschen, sondern ein Kommunikationsgeschehen, dessen Ordnung darin besteht, dass Kommunikationen selektiv – und nicht zufällig – aufeinander Bezug nehmen: Die einzelne Kommunikation bestimmt sich „als Kommunikation im Netzwerk systemeigener Operationen“ (Luhmann 1997: 76). Die Systemtheorie teilt also durchaus jene relationale Auffassung sozialer Wirklichkeit, die beispielsweise Emirbayer (1997) für die Netzwerkanalyse in Anspruch nimmt. Beide beziehen sich auf 85

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den Sachverhalt, dass Elemente in selektiver Weise miteinander verknüpft werden – und zwar so, dass die Realisierung einiger (und das Ausbleiben anderer) Verknüpfungen einem bestimmten Muster oder Strukturierungsprinzip folgt. In dieser Hinsicht erscheinen der Systemund der Netzwerkbegriff denselben Sachverhalt zu bezeichnen: Sie sind Begriffe für „organisierte Komplexität“, d.h. für selektive Beziehungsmuster zwischen Elementen. Netzwerke zwischen Personen scheinen allerdings auf den ersten Blick in der Systemtheorie keine Rolle zu spielen:4 Anhand der Leitunterscheidung von System und Umwelt kommen Netzwerke nicht in den Blick, weil sie sich – im Gegensatz zu Interaktionssystemen, Organisationen und Funktionssystemen – nicht klar von ihrer sozialen Umwelt abzugrenzen scheinen. Für Systeme ist Grenzziehung gegenüber einer Umwelt konstitutiv, während Netzwerke scheinbar gar keine Grenzen haben (White 1995: 1039). Dieser Gegensatz sollte jedoch nicht überbewertet werden.5 Soziale Systeme werden nicht als Mengen von Elementen und Relationen (das heißt: nicht als Mengen von miteinander ‚verbundenen‘ Akteuren) begriffen, sondern als Zusammenhang aufeinander folgender und aufeinander bezogener Operationen: Sie ‚bestehen‘ aus Ereignissen, nämlich Kommunikationen. Die Grenzen eines sozialen Systems bestimmen sich danach, welche Kommunikationen dem System zugeordnet werden können und welche nicht: Ein Funktionssystem wie die Wirtschaft schließt mit Zahlungen an andere Zahlungen an, und ein Organisationssystem bezieht sich auf eigene Entscheidungen als Prämissen weiterer Entscheidungen, indem es sie bestätigt oder ändert. Im Sinne einer solchen selektiven Anschlussfähigkeit von Kommunikationen bzw. Handlungen sind auch Netzwerke durchaus ‚begrenzt‘ – sie umfassen schließlich nicht einfach alles und jeden. Im Gegensatz zum Beispiel zu Funktionssystemen können wir uns den Kommunikationszusammenhang eines Netzwerks allerdings nicht so vorstellen, als wäre er durch bestimmte, sachlich fixierte Themen oder Codes definiert. In Netzwerken dirigiert nicht nur (und meist nicht primär) das Thema, d.h. die Sachdimension von Sinn, die Anschlussfähigkeit von Kommunikationen, sondern die Frage, ‚wer‘ überhaupt dazugehört, also die Sozialdimension. Sie orientieren sich insofern an der Ver4

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Ich beschränke mich im Folgenden darauf, Netzwerke im Sinne interpersoneller Beziehungen zu behandeln. Auch gehe ich nicht explizit auf verschiedene Varianten der systemtheoretischen Netzwerksoziologie ein. Siehe dafür Holzer (2006: 93ff.) und Holzer/Fuhse (2010). Zum Zusammenhang von Netzwerken und sozialen Grenzen vgl. auch die differenzierteren Überlegungen von Charles Tilly (2005) sowie daran anschließend Karafillidis (2009).

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knüpfbarkeit und Ansprechbarkeit von Kontakten. Da es dabei insbesondere auch um die indirekten Kontakte geht, also die Kontakte von Kontakten, kann man auch sagen: Netzwerke erlauben den „reflexiven Umgang“ mit sozialen Adressen (Tacke 2000). Man steht nicht nur mit anderen im Kontakt, man kann auch auf deren Kontakte zugreifen und dadurch die eigenen Kommunikationsmöglichkeiten erweitern, zum Beispiel indem man einen Bekannten um eine Empfehlung für einen unbekannten Dritten bittet. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive interessant ist, dass Netzwerke sich nicht in das Schema funktionaler Differenzierung zu fügen scheinen. Funktionale Differenzierung bietet zwar Voraussetzungen und Anlässe für die Bildung von Netzwerken. In der funktional differenzierten (Welt-)Gesellschaft kommt es gewissermaßen zu einer „Freisetzung sozialer Netzwerkbildung“ (Bommes/Tacke 2007: 14): Im Prinzip kann nun jeder mit jedem in Kontakt treten, jenseits etwaiger sozialer oder territorialer Grenzen von Stämmen, Schichten oder auch Nationalstaaten. Doch die Möglichkeiten, Kontakte zu knüpfen, werden nicht nur zahlreicher, sondern auch vielfältiger. Man ist als Wähler registriert, führt ein Bankkonto, kann als Staatsbürger Rechte in Anspruch nehmen, ist Mitglied eines Sportclubs und einer freikirchlichen Gemeinde usw. – kurz gesagt: Personen sind in verschiedene Funktionsbereiche inkludiert und werden dadurch in mehrfacher Hinsicht ‚adressierbar‘. Durch die Simultan-Inklusion in unterschiedliche Funktionssysteme wird ein und dieselbe Person in mehreren „Kontexturen“ von Sinnverweisen anschlussfähig – sie wird zu einer „polykontexturalen Adresse“ (Fuchs 1997). Jede Adresse kann deshalb als Verweis auf weitere Adressen in anderen Funktionssystemen dienen und in dieser Hinsicht ‚angesteuert‘ werden; über Adressen werden also Kontaktmöglichkeiten über verschiedene Funktionskontexte hinweg miteinander verknüpft. Insofern Netzwerke sich die Möglichkeiten funktionaler Differenzierung über die Ansteuerung polykontexturaler Adressen zunutze machen, sind sie „Formen sekundärer Ordnungsbildung“ (Tacke 2000: 298). Nach dieser Lesart sind sie von den Sinnressourcen der Funktionssysteme abhängig, von denen sie sich in gewisser Weise ‚nähren‘, und sind deshalb „parasitäre Formen der Strukturbildung“, die „auf funktionaler Differenzierung beruhen und diese als gesellschaftliche Primärstruktur voraussetzen“ (ebd.: 317). Als eine sekundäre Form der Ordnungsbildung sind Netzwerke den Funktionssystemen strukturell nach- bzw. untergeordnet: Erst durch die Adressenkonstruktion in Funktionssystemen entstehen Verknüpfungsmöglichkeiten, an denen Netzwerke überhaupt ansetzen können. Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass Netzwerke die Logik der Funktionssysteme punktuell aushebeln. Beispiele hierfür finden sich dort, wo 87

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Netzwerke nicht einfach im Rahmen funktionaler Differenzierung entstehen, sondern selbst als Inklusionsmechanismen wirken und damit in Konkurrenz zu gesellschaftlichen Teilsystemen treten (Luhmann 1995a; Hiller 2005). Nicht der Universalismus der Funktionssysteme, sondern der Partikularismus der Netzwerke entscheidet dann über Fragen gesellschaftlicher Inklusion. Entsprechende Phänomene sind keineswegs nur exotische Ausnahmefälle, sondern für einige Weltregionen durchaus typisch. Dort könnte man davon sprechen, dass Netzwerke und die durch sie vermittelten Inklusionschancen – und nicht etwa funktionale Differenzierung – das primäre Ordnungsschema des Alltags darstellen (Luhmann 1995b). Man sollte dann wissen, ob man dazu gehört oder nicht, also auf die Hilfe ‚des Netzwerks‘ vertrauen kann (und selbst entsprechende Erwartungen erwarten muss). Derartige Tauschnetzwerke, die auf persönlich zugerechneten Reziprozitätserwartungen basieren, können die Ressourcen von Organisationen und Funktionssystemen ‚parasitieren‘ und sich fallweise soweit verfestigen, dass funktionale Differenzierung selbst in Frage gestellt wird. Üblicherweise jedoch profitieren Netzwerke davon, dass funktionale Differenzierung eine Vielzahl von Kontexten schafft, in denen Personen als ‚Adressen‘ von Kommunikation relevant werden können. Durch die Verknüpfung dieser Möglichkeiten schaffen Netzwerke die Grundlagen ihrer eigenen Reproduktion. Gerade in einer funktional differenzierten Gesellschaft erlangt Vernetzung besondere Bedeutung. Sachlich getrennte Kommunikationsbereiche können über soziale Adressen verknüpft werden. Die Tatsache, dass Netzwerke stets partikularistisch begründet sind (zum Beispiel in den Eigenschaften oder Leistungen einzelner Personen), erklärt, warum sie im Einzugsbereich universalistisch orientierter Funktionssysteme gleichwohl irritieren müssen. Wenn man sich auf jemanden ‚verlassen kann‘, generalisiert man konkrete Erfahrungen zu einem Erwartungskomplex, der sich an der jeweiligen Person orientiert. Die Erwartungssicherheit hängt dann nicht an Rollen oder Programmen, sondern an konkreten Personen (vgl. Holzer 2010). Die ‚persönliche‘ Färbung von Netzwerken ergibt sich daraus, dass sie überwiegend auf partikularistischen (man könnte auch sagen: personalistischen) und nicht auf universalistischen Erwartungen beruhen. Auch wenn eine kommunikationstheoretische Interpretation von Netzwerken nicht einfach von ‚Menschen und ihren Beziehungen‘ ausgeht, kann sie also durchaus berücksichtigen, dass Personen in Netzwerken eine wichtige Rolle spielen. Vor dem Hintergrund dieses für Netzwerke typischen „Partikularismus“ plädieren Bommes und Tacke dafür, „Netzwerke als soziale Systeme im strengen Sinne aufzufassen“ (Bommes/Tacke 2006: 56). Sie orientieren sich dafür an den erwähnten Arbeiten Luhmanns zu Exklusi88

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onsphänomenen und der Rolle von Tauschnetzwerken in Süditalien, erweitern dessen Perspektive aber in Richtung alltäglicherer Phänomene der reziproken Hilfe und Unterstützung. Netzwerke haben ihrer Meinung nach immer eine „partikularistische“ Prägung, weil sie – wie bereits erwähnt – nicht aus universalistischen Rollenzusammenhängen bzw. funktional spezifizierten Situationen ableitbar sind. Ihre Entstehung ist einerseits „prekär“, weil sie deshalb auch keine institutionelle Absicherung haben; andererseits wirkt das Eintreten in ein Netz wechselseitiger Verpflichtungen selbstverstärkend, weil an einmal erprobten Kontakten schnell weitere Möglichkeiten sichtbar werden. Netzwerke entwickeln so ihren eigenen Operationsmodus: die „Kommunikation reziproker Leistungserwartungen“, das heißt, „die Erbringung von Leistungen im Hinblick auf zukünftige andere, noch unbestimmte weitere Leistungen“ (Bommes/Tacke 2007: 15). Es gibt mithin eine Art „netzwerkspezifisches Leistungsspektrum“ (ebd.: 16f.), anhand dessen man verschiedene Netzwerke voneinander abgrenzen kann – zum Beispiel Netzwerke von Freunden und Bekannten, Wissenschaftlern, Frauen oder Migranten, die sich auf der Basis wechselseitiger Hilfe, Beratung oder sonstiger Gefälligkeiten stabilisieren. Dieses stark auf persönliche Netzwerke wechselseitiger Hilfe und Unterstützung zugeschnittene Konzept kann sicherlich nicht alles abdecken, wofür der Begriff „Netzwerk“ in der Alltagssprache, aber auch in der SNA verwendet wird. Er ist eingeschränkter, deshalb jedoch auch präziser. Vor allem macht er deutlich, warum Netzwerke gerade in der modernen Gesellschaft einerseits prominenter werden, andererseits aber auch einen schlechten Ruf haben. Der Partikularismus oder „Personalismus“ der Netzwerke muss nicht mit dem Universalismus der Funktionssysteme kollidieren. Aber er führt in aller Regel dazu, dass die konkrete Praxis des Netzwerkens nicht in derselben Weise öffentlich dargestellt und prämiiert werden kann wie die Erfüllung universalistischer Leistungskriterien. Trotz ihrer Allgegenwart operieren Netzwerke oft im Schatten offizieller Selbstbeschreibungen der Gesellschaft und ihrer Funktionssysteme (Werron 2010). Im Gegensatz zur SNA muss die Systemtheorie deshalb davon ausgehen, dass die soziologische Erforschung von Netzwerken mit grundsätzlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat: Netzwerke scheuen das Licht der Öffentlichkeit – und die Neugier der Wissenschaft.

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4. Schluss Auf der Basis eines einfachen, unmittelbar einleuchtenden Begriffs von Sozialität hat die Netzwerkanalyse ein Forschungsprogramm entwickelt, das weder individuelle Eigenschaften noch gesellschaftliche Makrophänomene zum Ausgangspunkt soziologischer Erklärung machen möchte. Der Netzwerkbegriff kann relativ mühelos zwischen Mikro- und MakroEbene vermitteln. Doch ein reiner Strukturalismus, der alle sozialen Sachverhalte relational auflösen möchte, stößt an Grenzen. Er muss zumindest ergänzt werden durch ein adäquates Verständnis davon, was soziale Strukturen eigentlich sind. In diese Richtung zielt die konstruktivistische Netzwerktheorie Harrison Whites: Sie versucht zu erklären, wie die Knoten und Beziehungen in Netzwerken konstituiert und stabilisiert werden. Dadurch werden einige Annahmen der Netzwerkforschung präzisiert, gleichzeitig aber auch verunsichert. Es ist zum Beispiel gar nicht mehr so eindeutig, in welchem Sinne Netzwerke eigentlich ‚existieren‘, wenn die zugrunde liegenden Beziehungen als interpretations- und kommunikationsabhängig aufgefasst werden. Im Gegensatz zum manchmal beinahe positivistischen Strukturalismus der Netzwerkforschung kann die Kommunikations- und Systemtheorie diese Verunsicherung produktiv verarbeiten. Die ‚Elemente‘ von Netzwerken sind nicht unabhängig von ihnen gegeben. Personen und Beziehungen müssen kommunikativ erzeugt werden, damit Netzwerke an ihnen Halt gewinnen können. Aus der besonderen Bedeutung von Personen erschließt sich dann auch die prekäre Stellung von Netzwerken in der modernen Gesellschaft: Als tendenziell partikularistische Sozialformen stehen sie in einem Spannungsverhältnis zu den universalistischen Kriterien der Funktionssysteme. Die Netzwerkpraxis vollzieht sich deshalb oft unter dem Radar öffentlicher Aufmerksamkeit. Doch das heißt nicht, dass Netzwerke verschwinden würden. Es bedarf lediglich eines spezifischen, zum Beispiel soziologischen Interesses, das sie auch dort zu entdecken versucht, wo sie sich auf den ersten Blick vielleicht nicht zu erkennen geben.

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Netzw erke als Quelle sozialen Kapitals. Zur k ulture llen und strukture lle n Einbe ttung vertrauensvoller Handlungen in Netzw erken JOHANNES MARX

„Sozialkapital“, „Netzwerke“ und „Vertrauen“ stellen mittlerweile Schlüsselkategorien wissenschaftlicher Analysen in zentralen Gebieten der Sozialwissenschaften dar. Beispielsweise wird bei der Analyse ökonomischer Zusammenhänge darauf zurückgegriffen (vgl. etwa Ch. Marx und Sander in diesem Band, ebenso Ahlerup et al. 2009; Akcomak/ter Weel 2009; Faust/Marx 2004; Knack/Keefer 1997). Auch in der Migrationsforschung stehen Netzwerke, Sozialkapital und Vertrauen mittlerweile an zentraler Stelle (vgl. Haug in diesem Band sowie 2008 und 2007; Haug/Pointner 2007). Die Ursache für die Prominenz dieser Begriffe ist in den zugeschriebenen ökonomischen, politischen und sozialen Effekten zu finden (vgl. Castiglione et al. 2008; Franzen 2007). Auch die Netzwerkanalyse thematisiert die Rolle sozialen Vertrauens. Der Begriff „Netzwerk“ bezeichnet zunächst nur ein soziales Strukturmerkmal, das aus einer Interaktionsbeziehung zwischen drei oder mehr Personen besteht. Häufig findet sich jedoch in der Netzwerktheorie die zusätzliche Annahme, dass Netzwerke kooperative Handlungen begünstigen (vgl. Cassar 2007; Santos et al. 2006). Teilweise wird Vertrauen explizit als zentraler Koordinationsmechanismus in Netzwerken genannt (vgl. Weyer 2000a: 14 f.). Der eigentliche theoretische Mechanismus der Kooperationsentstehung steht im Rahmen der Netzwerktheorie jedoch häufig nicht im Vordergrund.

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Sowohl in der Sozialkapitaltheorie wie auch in der Netzwerkanalyse kommt Netzwerken und Vertrauen eine entscheidende Rolle zu. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob diese beiden theoretischen Ansätze nicht fruchtbar miteinander verbunden werden können. Im Folgenden wird gezeigt, dass erstens der Sozialkapitalansatz von einer Integration netzwerkanalytischer Überlegungen profitieren kann. Umgekehrt bieten zweitens die Sozialkapital-theoretischen Überlegungen von James Coleman eine handlungstheoretische Basis, deren Fehlen in der Netzwerkanalyse häufig bemängelt wird. Drittens wird eine Möglichkeit aufgezeigt, wie sich die theoretischen Einsichten der Netzwerkanalyse mit der Sozialkapitaltheorie kombinieren lassen. Dafür wird auf die metatheoretischen Überlegungen von Coleman zurückgegriffen.1

1. Netzwerke, Sozialkapital und Vertrauen – b e g r i f f l i c h e An m e r k u n g e n Auch wenn die Begriffe „Netzwerk“, „Vertrauen“ und „Sozialkapital“ überaus populär sind, hat sich bisher keine wissenschaftliche Konvention über den Gebrauch dieser Begriffe durchgesetzt. Im Folgenden sollen daher die für diese Arbeit zentralen Begrifflichkeiten definiert und theoretisch verortet werden. Zunächst steht der Netzwerkbegriff im Vordergrund; es folgen die Begriffe des sozialen Kapitals und des Vertrauens. Grob können zwei unterschiedliche Orientierungen im Rahmen der Netzwerktheorie unterschieden werden: Soziale Netzwerke werden im einen Fall als Beziehungsstrukturen verstanden, deren Merkmale mit quantitativen Methoden formal analysiert und dargestellt werden können. Im anderen Fall bezeichnet man mit Netzwerken einen spezifischen Koordinationsmodus gesellschaftlicher und politischer Interaktion, der kennzeichnend für die Moderne ist. Ich beziehe mich im Folgenden auf den ersten Zweig der Netzwerkforschung. Ziel dieser Richtung der Netzwerktheorie ist die systematische Beschreibung und Analyse sozialer Beziehungen. Kennzeichnend für diese Position ist, dass soziale Beziehungsstrukturen in den Blick genommen werden. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Hoffnung mit der Netzwerkanalyse die Kluft zwi1

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Vor diesem Hintergrund wird die Netzwerkanalyse im fünften Kapitel nur unter einem sehr speziellen Blickwinkel betrachtet. Von Interesse sind lediglich die formulierten Hypothesen über die Effekte von Netzwerken auf die Vertrauensvergabe von Netzwerkmitgliedern. Für eine weiterführende Auseinandersetzung mit der Netzwerkanalyse siehe Jansen (2006), Stegbauer (2008), Hollstein (2006) und Schnegg in diesem Band. Für die Sozialkapitaltheorie lohnen Castiglione et al. (2008), Franzen (2007) und Gabriel et al. (2002) als Einstieg.

NETZWERKE ALS QUELLE SOZIALEN KAPITALS

schen Makro- und Mikroperspektive überwinden zu können (vgl. Weyer 2000b). Innerhalb der Netzwerkforschung kann dann genauer zwischen qualitativen und quantitativen Ansätzen differenziert werden. In der Regel steht in den Analysen nicht die Frage im Mittelpunkt, welche Effekte durch spezifische Netzwerkstrukturen produziert werden. Insbesondere die kausalen Mechanismen, die für die Entstehung spezifischer Verhaltensmuster in Netzwerken verantwortlich sind, werden häufig nicht theoretisch ausgearbeitet. In diesem Sinne sind auch die Äußerungen zu verstehen, die kritisieren, dass die Netzwerktheorie handlungstheoretisch unterbestimmt sei (vgl. Emirbayer/Goodwin 1994; Flap 1999; Granovetter 1985). Im Folgenden fasse ich unter den Begriff „Netzwerk“ soziale Strukturen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie eine gewisse zeitliche Stabilität besitzen. Darüber hinaus handelt es sich bei Netzwerken um soziale Beziehungen zwischen einer begrenzten Menge von Akteuren. Aufgrund der Kombination beider Merkmale spricht man auch von Beziehungsstrukturen. Man kann jedoch erst dann von sozialen Netzwerken sprechen, wenn mehr als zwei Akteure beteiligt sind. Im anderen Fall spricht man von dyadischen Beziehungen. Schließlich zeichnen sich manche Netzwerke durch einen informellen Charakter aus, d.h. Netzwerke müssen nicht formal geregelt sein, sondern können auf dem Prinzip der Freiwilligkeit beruhen. Aber auch „eine hierarchische Struktur kann so dargestellt werden und ist in diesem Sinne ein Netzwerk. Der Begriff impliziert also in diesem Verwendungszusammenhang keine Annahmen über die Rangordnung, Machtverhältnisse und Autonomiegrade der Akteure innerhalb des Netzwerks“ (Jansen 2000: 36). So definierte Netzwerke stellen ein fundamentales Strukturelement der sozialen Welt dar. Im Normalfall sind Menschen in zahlreiche soziale Netzwerke eingebunden, die sie für ihre Zwecke nutzen können. Netzwerke können damit verstanden werden als abgrenzbare Gruppe von Akteuren (Knoten) und den zwischen ihnen verlaufenden Beziehungsstrukturen (Relationen). Der Begriff „Sozialkapital“ setzt sich aus zwei Bestandteilen zusammen: Unter Kapital versteht man in der Regel eine Ressource, die einen Akteur in die Lage versetzt, ein erwünschtes Ziel zu erreichen. Üblicherweise besteht dieses Ziel im Kauf eines gewissen Produktes. Auch Sozialkapital dient dazu, individuelle Ziele zu erreichen. Allerdings besteht ein großer Unterschied zu ökonomischem Kapital im Hinblick auf die individuelle Verfügbarkeit dieser Ressource. Während ökonomisches Kapital ein Privatgut darstellt und einem einzigen Individuum zugeschrieben werden kann, drückt sich Sozialkapital in den sozialen Beziehungen zwischen den Individuen aus. Sozialkapital hat daher (auch) den Charakter eines Kollektivgutes. Es bedarf demnach mindestens zweier 97

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Akteure, damit von Sozialkapital gesprochen werden kann. Darüber hinaus ist man sich weitgehend einig, dass Sozialkapital eine zentrale gesellschaftliche Ressource darstellt, die zur Lösung gesellschaftlicher Kollektivgutprobleme beiträgt (vgl. Faust/Marx 2004; Franzen 2007). Es fördert demnach beispielsweise die wirtschaftliche Entwicklung von Unternehmen (vgl. Marx in diesem Band) oder die soziale Unterstützung innerhalb kleiner Gruppen, wie Migranten (vgl. Janßen oder Haug in diesem Band). Wie wird nun Sozialkapital definiert? Auch hier hat sich keine einheitliche Definition im Forschungsstand durchgesetzt. Folgt man Lin, hängt Sozialkapital eng mit dem Netzwerkbegriff zusammen. „Social Capital is defined as resources embedded in one’s social networks, resources that can be accessed or mobilized through ties in the networks“ (Lin 2008a: 51). Daneben existieren weitere Definitionen von Sozialkapital. Coleman beispielsweise definiert Sozialkapital funktional über die Wirkung, die es verursacht: „Soziales Kapital wird über seine Funktion definiert. Es ist kein Einzelgebilde, sondern ist aus einer Vielzahl verschiedener Gebilde zusammengesetzt, die zwei Merkmale gemeinsam haben. Sie alle bestehen nämlich aus irgendeinem Aspekt einer Sozialstruktur, und sie begünstigen bestimmte Handlungen von Individuen, die sich innerhalb der Struktur befinden. [...] Anders als andere Kapitalformen wohnt soziales Kapital den Beziehungsstrukturen zwischen zwei oder mehr Personen inne“ (Coleman 1995: 392). Nach Coleman kommen zwei Dinge zusammen: Erstens besteht Sozialkapital aus einem Aspekt der Sozialstruktur und zweitens werden bestimmte Handlungen von Individuen, die sich innerhalb der Struktur befinden, begünstigt. Dabei wurde bisher noch nicht deutlich, welcher Art diese Handlungen sind. Gemeint sind bei Coleman vertrauensvolle Handlungen. Bourdieu betont den Ressourcencharakter sozialen Kapitals. Er definiert Sozialkapital als „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190 f.). Sozialkapital wird bei Bourdieu eingesetzt, um daraus Profit zu erzielen, seinen sozialen Status zu verbessern oder zu verteidigen. Es geht ihm dabei nicht um die Produktion von sozialem Vertrauen. Vor diesem Hintergrund wird auf seine Konzeption sozialen

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Kapitals nicht weiter eingegangen (vgl. dazu Bourdieu 1983; Bourdieu 1986).2 Populär wurde der Begriff Sozialkapital durch Robert Putnam. Anknüpfend an die Überlegungen von Coleman definiert Putnam Sozialkapital als „features of social life – networks, norms, and trust – that enable participants to act together more effectively to pursue shared objectives“ (Putnam 1995: 664). Bei den vorgestellten Definitionen von Sozialkapital fällt auf, dass sie verschiedene Komponenten (Netzwerke, Normen, Vertrauen etc.) beinhalten, die auf unterschiedlichen Ebenen lokalisiert werden können. Teilweise handelt es sich um individuelle Merkmale auf der Mikroebene (Vertrauen). Andere Merkmale liegen auf der Makroebene und sind struktureller (Netzwerke) oder kultureller Natur (Normen). Daher bleibt festzuhalten, dass sich der Sozialkapitalansatz durch eine Verknüpfung von strukturellen und kulturellen Komponenten auszeichnet. Während die Netzwerkkomponente sozialen Kapitals für die strukturelle Seite steht, werden soziales Vertrauen und gemeinschaftsbezogene Reziprozitätsnormen für die kulturelle Seite sozialen Kapitals angeführt (vgl. Gabriel 2002: 23 f.). Die Argumentation über die strukturelle Komponente entspricht eher der Vorgehensweise des ökonomischen Paradigmas und betont die Transaktionskosten reduzierende Wirkung von Netzwerken. Für die Argumentation mit den Komponenten soziales Vertrauen und Normen wird häufig auf Begründungsmechanismen des soziologischen Forschungsprogramms wie Sozialisation und Internalisierung zurückgegriffen (vgl. Faust/Marx 2004). Sozialkapital setzt sich demnach aus mehreren Komponenten zusammen. Allerdings ist die kausale Verknüpfung zwischen den verschiedenen Komponenten sozialen Kapitals keineswegs eindeutig. Beispielsweise ist ungeklärt, ob soziale Netzwerke einen Bestimmungsfaktor sozialen Vertrauens darstellen oder umgekehrt soziales Vertrauen eine notwendige Bedingung für das Eingehen sozialer Beziehungen in Form eines Netzwerkes ist. Auch ist das Verhältnis der einzelnen Komponenten zu dem Gesamtphänomen Sozialkapital keineswegs geklärt. Während soziales Vertrauen häufig synonym für Sozialkapital verwendet wird, scheinen die anderen Komponenten stärker als Bestimmungsfaktoren von Sozialkapital interpretiert zu werden.

2

Für eine Auseinandersetzung mit dem Habitus-Begriff und der Sozialtheorie Bourdieus siehe Emirbayer/Johnson (2008), Kauppi (2000), Köhler (2001), König (2003), Mouzelis (2007) und Vandenberghe (1999). 99

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Abbildung 1: Der doppelte Charakter von Sozialkapital Soziale Netzwerke

Struktur Kultur

Soziales Kapital

Soziales Vertrauen

Werte und Normen

Quelle: Gabriel et al. 2002: 23 Ich werde mich hier der letzteren Interpretation anschließen und Sozialkapital im Folgenden synonym mit Vertrauen verwenden.3 Für die Engführung spricht folgendes Argument: Wenn Netzwerke ein definitorischer Bestandteil von Sozialkapital sind, dann ist es aus begrifflichen Gründen nicht möglich, Netzwerke als Bestimmungsfaktor von Sozialkapital zu untersuchen. Wir hätten es in diesem Fall mit einem begrifflichen und nicht mit einem empirischen Zusammenhang zu tun. Da im Folgenden jedoch gerade die Effekte von Netzwerkstrukturen im Mittelpunkt stehen, wird eine enge Definition von Sozialkapital verwendet und Vertrauen als wesentliche Komponente von Sozialkapital verstanden. Dies lässt sich mit Putnam auch inhaltlich begründen, der von Vertrauen als dem „touchstone“ sozialen Kapitals spricht. Netzwerke können damit als erklärende Variable für die Ausprägung sozialen Kapitals im Sinne von Vertrauen verstanden werden (vgl. Granovetter 1973; Uzzi 1996). Vor diesem Hintergrund bietet sich eine Integration der beiden Forschungsstände an. Dafür werden im Folgenden metatheoretische Überlegungen vorgestellt, die eine Integration des Sozialkapitalansatzes und der Netzwerkanalyse ermöglichen.

3

Zwar finden sich in der Literatur breitere Definitionen von Sozialkapital, die nicht nur Netzwerke und Normen (Putnam 1993), sondern beispielsweise auch Prestige (Bourdieu 1983) oder Informationen (Lin 2008b) beinhalten. Diese eignen sich jedoch nicht für die verfolgte Fragestellung, bei der die Effekte sozialer Strukturen auf eine spezifische Handlung (Vertrauensvergabe) im Mittelpunkt stehen.

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NETZWERKE ALS QUELLE SOZIALEN KAPITALS

2. Methodologische Grundlagen einer handlungstheoretischen Erklärung In seinem Hauptwerk Die Grundlagen der Sozialtheorie verfolgt Coleman das Ziel, die strukturorientierte Vorgehensweise der klassischen Soziologie mit dem ökonomischen Prinzip der Ökonomie zu versöhnen. Dafür entwickelt er eine spezifische Methode, die das komplexe sich gegenseitig bestimmende Verhältnis von Struktur und Akteur analytisch in einzelne Schritte zerlegt (vgl. Coleman 1995). Konkret sieht die strukturindividualistische Erklärung drei Schritte vor, die unter den Bezeichnungen „Definition der Situation“, „Logik der Selektion“ und „Logik der Aggregation“ bekannt sind: Eine einfache graphische Umsetzung spaltet das sich gegenseitig bedingende Verhältnis von Struktur und Akteur sequenziell auf. Soziale Strukturen haben einen Effekt auf Akteure, deren Handlungen wiederum zu einer veränderten sozialen Struktur führen (vgl. Abbildung 2). Die Definition der Situation beschreibt zunächst die Art und Weise, in der eine gegebene soziale Situation auf einen Akteur wirkt und von diesem wahrgenommen wird. Die Wirkung der sozialen Struktur auf den handelnden Akteur wird als Brückenhypothese formuliert. Dabei ist die subjektive Situationswahrnehmung für die Erklärung der eigentlichen Handlung konstitutiv, denn die Handlungssituation determiniert individuelles Handeln nicht schon durch eine quasi-objektive Situationsstruktur beziehungsweise eine situationsinhärente Logik. Für das Handeln der Akteure ist vielmehr ihre subjektive Wahrnehmung der Situation entscheidend. Mit dieser Vorgehensweise lässt sich Coleman in eine Traditionslinie mit Max Weber stellen: „‚Erklären‘ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befasste Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört“ (Weber 1988: 547). Auch wenn Coleman hier auf das ökonomische Rationalitätsprinzip zurückgreift, stellt er sich mit dieser Vorgehensweise in die soziologische Theorietradition. In einem zweiten Schritt, Logik der Selektion, betrachtet man, wie der Akteur vor dem Hintergrund seiner Situationsdeutung seine Handlungswahl vollzieht. Die Logik der Selektion gibt das vermutete Handlungsgesetz an, das den kausalen Mechanismus der Handlungswahl benennt. Das strukturindividualistische Erklärungsmodell von Coleman folgt hierbei der Forderung des methodologischen Individualismus, soziale Phänomene auf das Handeln einzelner Akteure zurückzuführen. Dies erfordert, die Regeln anzugeben, nach denen ein Akteur unter verschiedenen Handlungsalternativen eine bestimmte Handlung wählt. 101

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Abbildung 2: Wechselwirkung zwischen Struktur und Akteur Soziale Struktur

Akteur

Definition der Situation

Handlung Logik der Selektion

Veränderte soziale Struktur Logik der Aggregation

Quelle: eigene Darstellung Coleman geht in seiner Handlungstheorie von einer subjektiven und insofern beschränkten Rationalität aus. Diesem Rationalitätsbegriff folgend wird angenommen, dass ein Akteur die Handlungsalternative mit dem höchsten subjektiv vermuteten Nutzenwert wählt (vgl. Kunz 2004: 32 f.). Alternativ könnten hier auch andere Handlungsgesetze, wie beispielsweise eine Logik der Angemessenheit, verwendet werden. Mit dem dritten Schritt, Logik der Aggregation, erfasst man schließlich, wie die Handlungen Einzelner in ihrer Interaktion das zu erklärende soziale Phänomen bewirken. Paradoxe Effekte, wie die Übernutzung knapper Güter, Rüstungswettläufe oder Umweltverschmutzung, lassen sich erst vor dem Hintergrund einer spezifischen Logik der Aggregation verstehen. Soziale Effekte werden nicht selten als emergent verstanden, weil die Logik der Aggregation nicht durchschaut wurde. Vor dem Hintergrund dieser methodologischen Ausführungen soll nun spezifiziert werden, was Coleman unter Sozialkapital und Vertrauen versteht.

3. Die Sozialkapitaltheorie von James Coleman Im Einklang mit seinen methodologischen Überlegungen versucht Coleman den Einfluss sozialer Strukturen auf die Vertrauensvergabe und deren Folge wiederum auf der Ebene der sozialen Strukturen zu erfassen. Im Folgenden wird jedoch nur der erste Schritt betrachtet, der die Brücke zwischen sozialer Strukturebene und der individuellen Vertrauensvergabe schlägt. Coleman verwendet den Vertrauensbegriff nicht im normalsprachlichen Sinn. „Vertrauen“ meint im Zusammenhang mit seinem Sozialkapitalansatz nicht ein metaphysisches Grundvertrauen gegenüber anderen Personen oder einen spezifischen emotionalen Zustand einer Person, sondern die rationale Wahl einer Handlungsalternative unter Risiko. Von „Vertrauen“ spricht man also, wenn die Erwartung, dass eine einseitige Vorleistung nicht hintergangen wird und somit dem Vertrauensgeber ein Nutzen entsteht, höher ist als die Erwartung, dass der Vertrauensnehmer das Vertrauen enttäuscht und die einseitig getätigte Vor102

NETZWERKE ALS QUELLE SOZIALEN KAPITALS

leistung von ihm ausgenutzt wird (vgl. Coleman 1995: 132). Mit einfachen Worten: Die Handlung ‚Vertrauen zu vergeben‘ wird dann ausgeführt, wenn der erwartete Gewinn der Vertrauensvergabe größer ist als der erwartete Verlust. Als Beispiel führt Coleman die Situation eines Schiffseigners an, der für die Reparatur seines Bootes auf Kapital angewiesen ist: Ein Reeder aus Norwegen ruft den Abteilungsleiter einer Bank in London an und bittet um Hilfe. Eines seiner Schiffe sei gerade auf einer Amsterdamer Werft repariert worden und die Werft gebe das Schiff erst frei, wenn eine Barzahlung in Höhe von 200.000 Pfund erfolgt sei. Ansonsten müsse das Schiff über das Wochenende liegen bleiben, was einen Verlust von 20.000 Pfund für den Reeder bedeuten würde. Der Bankangestellte lässt umgehend die Amsterdamer Filiale die erforderliche Summe an die Werft überweisen (vgl. Coleman 1995: 116). Obwohl in diesem Fall kein Vertrag existierte und die einzige Sicherheit die Absicht des Reeders war, ‚das Geld zurückzuzahlen‘, vertraute der Banker dem Reeder. Der Grund dafür liegt in den Erfahrungen und Erwartungen der Bank. So hat der Banker die Erfahrung gemacht, dass der Reeder in der Vergangenheit schon öfter Transaktionen mit der Bank problemlos abwickelte. Gleichzeitig hat er die Erwartung, sich zukünftige Gewinne zu sichern, indem er die einseitige Vorleistung riskiert. Die hier geschilderte Situation steht idealtypisch für eine spezielle Art sozialer Beziehungen, die sich durch einen Moment der Vertrauensvergabe auszeichnen. „Manchmal nimmt ein Akteur eine einseitige Kontrollübertragung über bestimmte Ressourcen auf einen anderen Akteur vor, die auf der Hoffnung oder der Erwartung basiert, dass die Handlungen des anderen seine Interessen besser befriedigen, als es die eigenen Handlungen tun würden. Gewissheit darüber kann er aber erst einige Zeit nach der Übertragung erlangen“ (Coleman 1995: 114). Das Besondere dieser Situationen kann man sich anhand folgender Merkmale vergegenwärtigen: Erstens gehört zur Vertrauensvergabe, dass Akteur A Akteur B Ressourcen zur Verfügung stellt, die dieser zum eigenen Gewinn, zum Gewinn von Akteur A oder zu beiderseitigem Gewinn einsetzen kann. Zweitens verbessert der Treugeber seine Position, wenn Akteur B, der Treuhänder, vertrauenswürdig ist, und er verschlechtert seine Position, wenn der Treuhänder das Vertrauen ausnutzt. Drittens beinhalten alle Vertrauenshandlungen eine Zeitverzögerung zwischen der Handlung des Treugebers und der Handlung des Treuhänders. Darin liegt das Risiko der Handlung. Als vierter Punkt kann hinzukommen, dass der Treugeber dem Treuhänder Ressourcen zur Verfügung stellt, ohne eine formale Verpflichtung des Treuhänders in Form eines bindenden Vertrages zu besitzen. Der Grund, warum in vielen Situationen kein bindender 103

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Vertrag existiert, ist in der Tatsache zu sehen, dass für den politischen bzw. sozialen Bereich (dies gilt sicherlich erst recht in historischen Kontexten) kein einheitlicher Wertmaßstab für die Leistungen existiert, die der Treugeber dem Treuhänder zur Verfügung stellt. Somit muss der Treugeber das Risiko abschätzen, das er durch seine Transaktionen eingeht. Coleman unterstellt einen theoretischen Mechanismus, der die Vertrauensvergabe beschreiben soll. Coleman formalisiert die Vertrauensvergabe anhand folgender Formel: p*G>(1-p)*L. Die Wahrscheinlichkeit der Vertrauenswürdigkeit des Treuhänders wird durch p dargestellt. L steht für den möglichen Verlust und G für den möglichen Gewinn. L und G drücken damit unterschiedliche Ausprägungen der Nutzenvariable U aus. Im Kern handelt es sich hier um eine binäre Entscheidungssituation, bei der für zwei Handlungsalternativen das Produkt aus Wahrscheinlichkeit und Nutzen bestimmt wird (Vertrauen vergeben und Vertrauen nicht vergeben). Das unterstellte Handlungsgesetz lautet: Der Akteur wird Vertrauen vergeben, wenn diese Handlungsalternative einen höheren Nutzen verspricht als die Handlungsalternative ‚Vertrauen nicht zu vergeben‘. Vor dem Hintergrund der Fragestellung interessieren im Folgenden die sozialen Strukturmerkmale, die einen die Vertrauensvergabe ermöglichenden Effekt auf die Variablen der Handlungstheorie haben. In Frage kommen Effekte auf die Komponente der Wahrscheinlichkeit p und auf die Nutzenkomponente U. Damit bewegen wir uns im ersten Schritt der Struktur einer sozialwissenschaftlichen Erklärung: bei der Bestimmung der Definition der Situation. Um Wahrscheinlichkeiten einschätzen zu können, benötigt der Akteur Informationen über seinen Transaktionspartner. Wie viel Arbeit man in die Informationssuche investiert, ist abhängig von der Höhe des möglichen Gewinns bzw. Verlusts. Erleichtert wird die Informationssuche, wenn die Transaktion innerhalb eines Netzwerkes stattfindet. So kann man ehemalige Transaktionspartner fragen, die das an sie vergebene Vertrauen nicht enttäuscht haben, inwieweit der mögliche Treuhänder vertrauenswürdig ist. Ein kooperationsförderndes Strukturmerkmal wäre somit die strukturelle Einbettung einer Handlung in ein bestehendes soziales System, in dem bereits Informationen über die Vertrauenswürdigkeit der Tauschpartner vorhanden sind. Vielleicht ist es aber auch nicht der erste Handel, den man mit dem möglichen Transaktionspartner eingeht und man kann auf bereits gewonnene Erfahrungen zurückgreifen. Netzwerke garantieren eine gewisse Kontakthäufigkeit und erleichtern damit die Vertrauensvergabe. Es ist das in den sozialen Beziehungen enthaltene Informationspotential, das vertrauensvolle Handlungen unter 104

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den Akteuren eines Netzwerkes ermöglicht (vgl. Coleman 1995: 402).4 Im Netzwerk kann man auf Vertraute zurückgreifen und sich so ohne großen Suchaufwand Informationen über den möglichen Treuhänder besorgen. Außerdem gewährleistet die Dichte des Netzwerkes einen hohen Grad an Wahrscheinlichkeit, dass es nicht bei einer einmaligen Transaktion bleiben wird. Dies setzt für den Treuhänder den Anreiz, das Vertrauen nicht zu hintergehen, um sich nicht selbst die Möglichkeit zukünftiger Gewinne zu nehmen. Außerdem hätte der Treuhänder einen Reputationsverlust hinzunehmen, wenn er das Vertrauen einmal brechen würde. Denn die Information darüber könnte vom Treugeber an Vertraute weitergegeben werden, wodurch die Aussicht des Treuhänders auf weitere Gewinne in diesem Netzwerk geschmälert wäre. Das Eingebundensein in Netzwerke stellt damit einen strukturellen Anreiz dar, der die vertrauensvolle Handlung als rationale Wahl begünstigt. Insgesamt wird deutlich, dass Netzwerken eine große Bedeutung im Rahmen des Sozialkapitalansatzes zugesprochen wird. Die unterstellten Zusammenhänge sind bei Coleman jedoch insofern theoretisch unterbestimmt, als dass das netzwerkanalytische Instrumentarium nicht zur Formulierung der Hypothesen verwendet wird. Der zentrale Begründungsmechanismus bei Coleman stellt lediglich einen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit zukünftiger Interaktionen und der Bereitschaft zu Vertrauensvergabe her. Vor diesem Hintergrund soll nun auf die Netzwerkanalyse zurückgegriffen werden, um handlungstheoretisch begründete und empirisch gehaltvolle Hypothesen über die Bestimmungsfaktoren von Vertrauen zu formulieren.

4 . D i e E f f e k t e vo n N e t z w e r k e n a u f V e r t r a u e n a u s h a n d l u n g s t h e o r e t i s c h e r P e r s p e k t i ve Die Netzwerkforschung ist im deutschen Sprachraum nicht sehr verbreitet. Zwar ist der Begriff „Netzwerk“ in aller Munde, der Rekurs zu der eigentlichen Netzwerkanalyse wird jedoch häufig nicht hergestellt. Dennoch lassen sich einige zentrale theoretische Prämissen der Netzwerkanalyse bereits erkennen: In sozialtheoretischer Perspektive lassen sich die Konturen einer strukturellen Handlungstheorie erkennen (vgl. Bommes/Tacke 2006: 39). Die Handlungstheorie wird mit dem Attribut „strukturell“ versehen, da das Handeln der Akteure sozial eingebettet ist (vgl. Granovetter 1985). Für eine systematische Diskussion der Effekte 4

Damit argumentiert Coleman hier mit der transaktionskostenreduzierenden Wirkung sozialer Netzwerke, auch wenn er selbst diesen Begriff nicht verwendet (vgl. Faust/Marx 2004; Voigt 2002: 61 f.). 105

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von Netzwerken soll zunächst eine Differenzierung der Idee der sozialen Einbettung vorgenommen werden: Erstens lässt sich die Einbettung in Netzwerke im Hinblick auf den sozialen Kontext beschreiben. Hier können strukturelle oder kulturelle Faktoren thematisiert werden. Dabei muss beachtet werden, dass der Begründungsmechanismus von Struktur oder Kultur auf Sozialkapital entweder über erwartete zukünftige oder bereits vergangene Interaktionen läuft. Auf der zweiten Ebene gilt es deshalb auch in der Zeitdimension zwischen Zukunft und Vergangenheit zu differenzieren. Folgendes Schaubild systematisiert die möglichen Kombinationen räumlicher und zeitlicher Einbettung: Tabelle 1: Determinanten von Vertrauen in Abhängigkeit von zeitlicher und räumlicher Einbettung

Struktur, Modus Kalkulation Kultur, Modus Sozialisation

Zukunft 1) Starke Effekte auf Vertrauen 3) Keine Effekte auf Vertrauen

Vergangenheit 2) Moderate Effekte auf Vertrauen 4) Starke Effekte auf Vertrauen

Quelle: eigene Darstellung Im Folgenden wird der jeweilige theoretische Mechanismus herausgearbeitet, der die Verbindung von Zeit- und sozialer Kontextdimension auf Vertrauen herstellt. 1) Aus netzwerktheoretischen Überlegungen scheint ein starker Zusammenhang zwischen der erwarteten Netzwerkstruktur in der Zukunft und der Bereitschaft ‚vertrauensvolle Vorleistungen zu leisten‘ zu bestehen. Der Begründungsmechanismus läuft handlungstheoretisch gesprochen hier über die Variable Wahrscheinlichkeit (p). Beispielsweise argumentiert Granovetter: „individuals with whom one has a continuing relation have an economic motivation to be trustworthy, so as not to discourage future transactions; and […] departing from pure economic motives, continuing economic relations often become overlaid with social content that carries strong expectations of trust and abstention from opportunism“ (Granovetter 1985: 490). Stabilität in den sozialen Beziehungen ermöglicht damit vertrauensvolle Transaktionen, die ansonsten nicht stattfinden könnten. Als Brückenhypothese ließe sich dieser Zusammenhang folgendermaßen formulieren: Aufgrund der stabilen strukturellen Einbettung eines Akteurs in ein soziales Netzwerk wird die vertrauensvolle Handlung mit einem an-

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deren Akteur des Netzwerks zur rationalen Wahl, bei der beide Parteien aus der Transaktion einen Nutzen davontragen. Vor dem Hintergrund netzwerktheoretischer Überlegungen bedeutet das: Je geschlossener das Netzwerk ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Vertrauensvergabe unter ihren Mitgliedern (vgl. Coleman 1995: 353, 413). Diese These könnte gehaltvoller formuliert werden, wenn man auf Indikatoren der Netzwerktheorie zurückgreifen würde. Ein Maß, um Geschlossenheit zu messen, wäre beispielsweise der Grad der Dichte in einem Netzwerk oder das Ausmaß multiplexer Beziehungen. Beziehungen werden dann als multiplex bezeichnet, wenn sich die Beziehungen über mehrere Dimensionen erstrecken (vgl. Jansen 2006: 105 f.). Als weiterer Indikator könnte die Anzahl der strong ties herangezogen werden. Vertrauensbeziehungen zwischen Treugeber und Treuhänder zeichnen sich in solchen Netzwerken üblicherweise dadurch aus, dass die egozentrierten Netzwerke des Treugebers in starkem Ausmaß mit den egozentrierten Netzwerken des Treuhänders vernetzt sind. Eine solche differenzierte Formulierung der Hypothesen zeigt auch, dass die empirisch zu vermutenden Effekte keineswegs immer eindeutig sind. Dies gilt für den Zusammenhang zwischen Geschlossenheit (gemessen über strong ties) und Sozialkapital. Ronald S. Burt beispielsweise argumentiert, dass es vielmehr weak ties und damit offene Netzwerkstrukturen sind, die ein hohes Niveau an Sozialkapital nach sich zögen. Offene Netzwerke zeichnen sich durch eine geringe Netzwerkdichte, simplexe (d.h. eindimensionale) Beziehungen und weak ties aus (vgl. Burt 2005; Lin 2001). Hier sind die persönlichen Netzwerke von Treugeber und Treuhänder nicht stark miteinander verbunden. Der Überlappungsgrad der sozialen Kontakte ist sehr gering. Es sind gerade die Akteure Treugeber und Treuhänder selbst, welche die Brücke zwischen unverbundenen Clustern von Akteuren schlagen. Befürworter einer offenen Netzwerkkonzeption kritisieren damit, dass nicht nur das Netzwerkmerkmal der Geschlossenheit Sozialkapital produziere. So argumentiert Lin: „The linkage between network density or closure to the utility of social capital is too narrow and partial. To argue that closure or density is requirement for social capital is to deny the significance of bridges, structural holes and weaker ties“ (Lin 2001: 10). Burt betont jedoch, dass es nicht die weak ties an sich sind, die Sozialkapital enthalten. Stattdessen verfügen Individuen genau dann über Sozialkapital, wenn sie in sozialen Netzwerken so positioniert sind, dass sie strukturelle Löcher überbrücken können. Solche Personen haben insofern einen Vorteil, als dass sie über Informationen verfügen können, die anderen Akteuren nicht zugänglich sind (vgl. Burt 2005).

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Der scheinbare Gegensatz löst sich jedoch auf, wenn die Definition von Sozialkapital der Autoren betrachtet wird. Lin versteht unter Sozialkapital, dass Informationen weitergegeben werden und nicht die Ausprägung von Vertrauen. Demnach lassen sich zwei zentrale Begründungsmechanismen festhalten: Dichte Netzwerkbeziehungen begünstigen die Vergabe von Vertrauen. Offene Netzwerkbeziehungen begünstigen die Weitergabe von Informationen. Geschlossene Netzwerke verhindern geradezu, dass Akteure an neue Informationen gelangen. Hier zeigt sich, dass eine differenzierte Betrachtung der Eigenschaften von Netzwerken die Ableitung empirisch gehaltvoller Hypothesen erlaubt: Sozialkapital im Sinne der Ermöglichung vertrauensvoller Handlungen entsteht normalerweise in geschlossenen Netzwerken. Solche Netzwerke fördern jedoch nicht die Erreichbarkeit neuer Informationen. 2) Wie sieht der Zusammenhang zwischen den vergangenen Transaktionen der Tauschpartner in einem Netzwerk und der zukünftigen Vergabe von Vertrauen aus? Coleman argumentiert, dass sich die soziale Struktur verdichtet, wenn kooperative Handlungen in Netzwerken ausgeübt werden. In der Folge steigt das Vertrauen, das man anderen Akteuren im Netzwerk entgegenbringt (vgl. Coleman 1995: 417). Der Begründungsmechanismus läuft hier primär über den Faktor Struktur. So geht aus der Ausübung kooperativer Handlungen als nichtintendierter Nebeneffekt eine Verstärkung der Bindungen innerhalb des Netzwerkes hervor, so dass Sozialkapital sich über seinen Gebrauch kumuliert. Es kann aber auch der gegenteilige Fall eintreten. Denn Sozialkapital zeigt die Tendenz, mit der Zeit an Wert zu verlieren. „Soziale Beziehungen zerbrechen, wenn sie nicht aufrechterhalten werden. Erwartungen und Verpflichtungen verlieren mit der Zeit an Bedeutung“ (vgl. Coleman 1995: 417). Der Begründungsmechanismus läuft hier wiederum über die Variable Wahrscheinlichkeit (p). Eine solche Argumentation ist aus institutionenökonomisch orientierten Arbeiten der Netzwerktheorie bekannt (vgl. etwa Bock und Polach 2008). Daneben thematisiert Coleman jedoch auch Effekte, die man üblicherweise als Sozialisation bezeichnet. Coleman begründet auch diese mit Hilfe der Variable Wahrscheinlichkeit: Über die Transaktionen, die man mit anderen Akteuren in Netzwerken durchführt, entwickelt man einen Durchschnittswert der Vertrauenswahrscheinlichkeit, der zunächst auch unbekannten Netzwerkmitgliedern, später dann auch unbekannten Durchschnittspersonen außerhalb des Netzwerks entgegengebracht wird (vgl. Coleman 1995: 132). So nimmt Coleman an, dass die geschätzte Vertrauenswürdigkeit der Interaktionspartner abhängig ist von den bisherigen Erfahrungen. Der Ursprungswert der Vertrauenswürdigkeit wird dementsprechend durch positive Erfahrungen nach oben oder unten kor108

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rigiert. Coleman spricht in diesem Zusammenhang vom Erwerb einer Standardeinschätzung p* aufgrund von Kostenabwägungen. Die einfache lerntheoretische Hypothese, die Coleman hier verwendet, lautet: Mit der Anzahl der erfolgreich abgeschlossenen Transaktionen wächst die Vertrauenswürdigkeit des Interaktionspartners. Außerdem senkt der Erwerb einer Standardeinschätzung die Höhe der Informationskosten für zukünftige Handlungen (vgl. Coleman 1995: 132). Coleman betont interessanterweise, dass man nicht nur eine Standardwahrscheinlichkeit für den Umgang mit Bekannten entwickelt, sondern darüber hinaus auch eine Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit von unbekannten Personen. So entwickeln die Akteure aufgrund ihrer Erfahrungen im Umgang mit anderen Akteuren gewisse Schätzwerte, die sie bei zukünftigen Transaktionen mit Fremden zur Reduzierung der Informationskosten einsetzen können. Eine überzeugend ausgearbeitete empirische Theorie, die Effekte des Lernens über den Modus Kalkulation ausarbeitet, existiert jedoch bei Coleman nicht. Lediglich in spieltheoretischen Arbeiten finden sich dazu modellanalytische Überlegungen (vgl. Buskens 2003; Raub 2004). Für eine empirische Umsetzung solcher Überlegungen würden sich lediglich aufwendige Längsschnitt-Untersuchungen von Netzwerken eignen. Vor diesem Hintergrund ist es theoretisch plausibel zu vermuten, dass mit zunehmender Dauer einer Beziehung die Akteure eher bereit wären, riskante Vorleistungen einzugehen. 3) Ein theoretischer Begründungsmechanismus für dieses Feld findet sich in der Literatur nicht. Dieser müsste Kultur und zukünftige Interaktionen über den Modus Sozialisation verknüpfen und mit der abhängigen Variable Vertrauen in Verbindung bringen. Antizipationseffekte wirken jedoch üblicherweise über den Modus der Kalkulation und nicht über Sozialisation. Eventuell könnten hier Positionen zugeordnet werden, die argumentieren, dass trotz kulturellen Wandels die einmal erworbene Ausprägung von Vertrauen auch in der Zukunft stabil bleibt. Da die Ursachen für die Ausprägung des Vertrauens eines Akteurs aber in seinen vergangenen Erfahrungen liegen, sollte dieser Begründungsmechanismus Feld vier zugeordnet werden. 4) In dieses Feld lassen sich Hypothesen einordnen, die einen Zusammenhang zwischen Vertrauen und kulturellen Erfahrungen in der Vergangenheit herstellen. Theoretisch lassen sich solche Begründungsmechanismen über die Variable U modellieren. Exemplarisch stehen hier sicherlich die Ausführungen von Fukuyama und Putnam, die stark mit Sozialisationseffekten argumentieren: Eine Gesellschaft verfügt nach Fukuyama über Sozialkapital, wenn dort eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens herrscht (vgl. 1997: 25 f.). Vertrauen sei ein konstitutives 109

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Element entwickelter, liberaler Demokratien (vgl. Fukuyama 1992; Fukuyama 1996). Gleichzeitig hängt das gute Funktionieren der demokratischen und wirtschaftlichen Institutionen in großem Maße von vormodernen kulturellen Mustern und ererbten ethischen Gewohnheiten ab, die sich in Form von wechselseitiger Loyalität, einem Moralkodex, Pflichtgefühl gegenüber den Mitmenschen und sozialem Vertrauen äußern. „Eigenschaften also, die mehr auf Gewohnheiten als auf rationalem Kalkül basieren“ (Fukuyama 1997: 27). Hier zeigt sich die historische Dimension der Einbettung sozialer Handlungen. Die moralischen Verhaltensmuster einer Gesellschaft werden im Freundeskreis, über die Familie, Nachbarn und das gesellschaftliche Umfeld erlernt, aber durch die traditionellen religiösen und ethischen Systeme werden die notwendigen Werte für das kulturell bedingte kooperative Verhalten transportiert (vgl. Fukuyama 1997: 57 f.). Die Wertvorstellungen werden von den Akteuren als Einstellungen internalisiert und somit handlungsrelevant. Fukuyama stellt damit einen direkten Zusammenhang zwischen dem moralischen Verhalten auf individueller Ebene und kulturellen Normen und Werten auf der Systemebene her. Diese Einstellungsmuster werden im Laufe des Sozialisationsprozesses erlernt und Teil der Persönlichkeit. In diesem Sinn bezeichnet Offe Sozialkapital als die ererbte, über Jahrhunderte weitergegebene, sozialmoralische Grundausstattung einer Gesellschaft (vgl. Offe 1999: 117). Auf den gleichen Begründungsmechanismus verweist auch Robert Putnam in Making democracy work. Putnam sieht in dem Mechanismus des Vertrauens den entscheidenden Faktor, der nicht nur innerhalb der Gruppe zur Entstehung von Kooperation beiträgt, sondern mittels kultureller Internalisierung auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene Wirkung entfaltet. Putnam leitet die unterschiedliche Entwicklung in den Regionen Italiens aus unterschiedlichen historischen Voraussetzungen ab, die weit im Mittelalter zurückliegen.5 Während der Norden durch horizontale Beziehungen gekennzeichnet sei, zeichne sich der Süden durch vertikale und hierarchische Strukturen aus (vgl. Putnam 1993: 126 f.). Darauf aufbauend postuliert Putnam eine Pfadabhängigkeit, die bewirkt, dass die Regel ‚Nicht kooperieren‘, als kulturelles Merkmal im Süden Italiens internalisiert, fortwährend tradiert wurde und entsprechend auch im 20. Jahrhundert fortbesteht (vgl. Putnam 1993: 193 f.). Die internalisierte Nichtkooperationsnorm, die in informellen Institutionen weitergegeben 5

Es geht an dieser Stelle nicht um die Frage, inwieweit die Argumentation von Putnam den historischen Gegebenheiten gerecht wird. Hier lassen sich sicherlich begründete Zweifel anführen. Stattdessen interessiert an dieser Stelle nur der theoretische Mechanismus, den er für seine Argumentation verwendet.

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wird, bewirkt demnach ein schlechteres Abschneiden des Südens in Bezug auf die ökonomische Leistungsfähigkeit und die demokratische Performanz. Unklar bleibt jedoch hier, wie dieser Sozialisationsprozess abläuft, welche sozialen Bezugsgruppen für die Weitergabe welcher Normen relevant sind. Auch hier finden sich Anknüpfungspunkte in der Netzwerkanalyse. In diesem Sinne argumentiert White, dass die Netzwerkanalyse einen wertvollen Beitrag liefere zur Bestimmung des sozialen Kontextes, der für den Erwerb kultureller Wertvorstellungen relevant sei (vgl. White 1993). Konkret findet sich bei Elizabeth Wolfe Morrison die Argumentation, dass in Netzwerken nicht nur Informationen weitergegeben, sondern auch Rollenerwartungen erlernt werden (vgl. Morrison 2002). Sie untersucht die Frage, welche sozialen Netzwerkstrukturen die soziale Assimilierung von neuen Netzwerkmitgliedern unterstützen. Dafür untersucht sie folgende Hypothesen, die sich als Brückenhypothesen interpretieren lassen: „Newcomers with small, dense friendship networks composed of strong ties will have a greater sense of social integration and organizational commitment than those with larger, less dense networks composed of weak ties. That is, social integration and commitment will be negatively related to network size and positively related to density and tie strength“ (Morrison 2002: 1151). Ihre empirischen Ergebnisse zeigen, dass es Unterschiede in der strukturellen Beschaffenheit zwischen idealen Freundschaftsnetzwerken und idealen Netzwerken zur Informationsbeschaffung gibt. Im deutschen Sprachraum finden sich ähnliche Argumente beispielsweise in der Ungleichheitsforschung. Dort wird argumentiert, „dass Lebensziele und Einstellungen in sozialen Netzwerken gründen“ (Fuhse 2008: 84). Zum einen können dafür die starken Kommunikationsstrukturen innerhalb von Netzwerken verantwortlich gemacht werden, zum anderen wird auch der Druck des sozialen Umfelds in diesem Kontext angeführt. Hier wird eine Kausalitätsrichtung von Netzwerken auf die Wert- und Einstellungsmuster von Netzwerkmitgliedern unterstellt. Es sind die Erfahrungen in der Vergangenheit, die über den Modus Sozialisation Eingang in den Werte- und Einstellungskanon der Akteure finden. Netzwerke können damit auch als Träger von Kultur verstanden werden, die gleichsam die normative Sozialisationsumgebung für die Akteure bei der Ausprägung von Handlungsschemata und Frames bilden (vgl. DiMaggio 1997: 282 f.). Hier ist jedoch zu bedenken, dass dieser Effekt sich empirisch nicht einfach nachweisen lässt. Schließlich gilt auch umgekehrt, dass Akteure mit ähnlichen Einstellungen und Werten leichter persönliche Beziehungen zueinander aufbauen. Dieses Homophilie-Prinzip führt in der Konsequenz ebenfalls zu Netzwerken mit einer starken 111

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Homogenität im Hinblick auf die dort vertretenen Einstellungen und Werte (vgl. Lin 2001: 39 f.). Insgesamt zeigt sich, dass die Netzwerkanalyse gute Anknüpfungspunkte für die theoretische Weiterentwicklung des Sozialkapitalansatzes gibt. Eine Integration der beiden Forschungsstände steht jedoch noch weitgehend aus. Dennoch sollten in diesem Aufsatz erste Ideen vorgestellt werden, wie eine Integration der Netzwerkforschung und der Sozialkapitaltheorie aussehen könnte.

5. Schlussbemerkung Abschließend sollen noch einmal die zentralen Zwischenergebnisse und Argumentationsschritte skizziert werden: Der Sozialkapitalansatz kann von einer Integration netzwerktheoretischer Überlegungen profitieren, da die unterstellten Begründungsmechanismen zwischen Netzwerken und Vertrauen sich in handlungstheoretischer Perspektive als theoretisch unausgearbeitet erweisen. Die Netzwerkforschung liefert ein bewährtes Instrumentarium zur Beschreibung der Struktur von Netzwerken, das die Formulierung empirisch gehaltvollerer Hypothesen über die Wirkung von Netzwerken erlaubt. Netzwerktheoretische Erkenntnisse lassen sich damit als Brückenhypothesen in den Sozialkapitalansatz nach Coleman integrieren. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass die Überlegungen Colemans auf einer präzise formulierten Handlungstheorie basieren. Für eine Integration der unterschiedlichen Effekte von Netzwerken auf Vertrauen erweist sich die Idee der Einbettung als hilfreich. Insgesamt zeigt sich, dass soziale Handlungen im Hinblick auf zwei Dimensionen eingebettet sind. Es gibt einmal eine Einbettung im Hinblick auf die Zeitdimension (Zukunft und Vergangenheit) und es gibt eine weitere Einbettung im Hinblick auf eine Kontextdimension (Kultur und Struktur). An der letzteren Unterscheidungsdimension knüpfen auch die Begründungsmechanismen für die Effekte der Netzwerkeinbettung auf Vertrauen an. Einmal läuft der Begründungsmechanismus über die Einbettung in einen kulturellen Kontext und damit über einen sozialisationstheoretischen Mechanismus. Handlungstheoretisch gesprochen werden hier Effekte auf die Nutzenvariable U betrachtet. Im anderen Fall läuft der Begründungsmechanismus über die Einbettung in einen strukturellen Kontext und damit über einen ökonomischen Begründungsmechanismus. Hier stehen primär strukturelle Effekte auf die handlungstheoretische Variable Wahrscheinlichkeit (p) im Vordergrund. Die metatheoretisch spannende Frage, inwieweit diese unterschiedlichen Begründungsmechanismen, die unterschiedlichen Handlungstheorien zugerechnet werden kön112

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nen, theoretisch kompatibel sind, ist ein wissenschaftstheoretisches Problem, das weiterer Untersuchungen bedarf.6

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Wirtschaftsforschung

Strukturbildung in der Krise. Interlocking Directorate s und die Deutschland AG in der Weimarer Republik KAROLINE KRENN

Verflechtungen zwischen Unternehmen durch gemeinsame Direktoren oder Aufsichtsräte (interlocking directorates) bilden eine der zentralen Säulen der Deutschland AG. In diesem Artikel sollen diesbezüglich dreierlei Dinge nachgewiesen werden. Die Strukturbildungsphase in der Verflechtung deutscher Großunternehmen ist in den 1920er Jahren zu verorten. Im Zentrum des Netzwerks steht eine Minderzahl von branchenmäßig heterogenen Unternehmen, die vielfältige Ressourcen aus ihren Netzwerkpositionen gewinnen, und unter denen die Deutsche Bank eine besondere Stellung einnimmt. Ferner zeigt sich, dass es nicht der Erste Weltkrieg und die Jahre der Inflation sind, die das Netzwerk destabilisieren, sondern die Weltwirtschaftkrise und Bankenkrise Anfang der 1930er Jahre. Die Deutsche Bank und die Allianz AG blieben bereits zu diesem Zeitpunkt stabile Partner.

1. Einleitung In den Monaten seit der Finanzkrise, die im Verlauf des Jahres 2008 ein globales Ausmaß erreicht hat, wird der Ruf nach neuen (‚alten‘) Leitbildern lauter. Jahrzehnte der Deregulierung, angetrieben von verlockenden Verheißungen auf hohe Kapitalrenditen, haben bewährte Kontrollmechanismen außer Kraft gesetzt. Nun ist das Systemvertrauen erschüttert. Der Blick zurück in die scheinbar ‚heile‘ Welt der sogenannten Deutsch119

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land AG des 20.Jahrhunderts und zu ihren Wurzeln im „Organisierten Kapitalismus“ erscheint damit umso aktueller.1 Aus historischer Perspektive ist der Organisierte Kapitalismus eine zentrale Leitkonzeption um den Strukturwandel in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts zu verstehen und erklären zu können (Wehler 1974). Schumpeter bezeichnet schon damals die ersten beiden Jahrzehnte im Kaiserreich als „Wasserscheide zwischen zwei Epochen in der Sozialgeschichte des Kapitalismus“ (Schumpeter 1997 [1911]: 110). Hilferding, auf den der Begriff des Organisierten Kapitals zurückgeführt wird, meint im Finanzkapital den Akteur erkennen zu können, der die „Umwandlung der anarchisch-kapitalistischen in eine organisiert-kapitalistische Wirtschaftsordnung“ vorantreibt. Die „Beherrschung einer monopolistisch organisierten Industrie durch die kleine Zahl der Großbanken“ (Hilferding 1915: 322) und die Stärkung der Staatsmacht durch eben jenes Finanzkapital habe die Tendenz, die Anarchie der Produktion zu mildern. Das damalige Verhältnis zwischen Banken und Industrie gleichsam wie zwischen Wirtschaft und Staat wird inzwischen allerdings als weitaus facettenreicher und widerspruchsvoller angesehen (Feldman 1974; Kocka 1974; Meier 1974; Wehler 1974; Feldman 2005; Fiedler 2005; Krenn 2008). Unbestritten ist aber, dass im Deutschland der Hochindustrialisierung Entwicklung und Reform in erster Linie ‚von oben‘ angestoßen werden. Nach den Gründerkrisen der 1870er Jahre setzt sich Reichskanzler Bismarck für die Schaffung eines institutionellen Rahmens ein, der die Wirtschaft vor den schädlichen Auswüchsen der Konkurrenz schützen soll. Gestützt auf die Empfehlung von Ökonomen der Deutschen Schule der Nationalökonomie, insbesondere ist hier Gustav Schmoller zu erwähnen, wird Regulierung zur neuen politischen Leitidee. Dabei ist es weniger das Reich, das aktiv in die Wirtschaft eingreift, sondern es wird eine Reihe von rechtlichen Anreizen geschaffen, die den aufkommenden nationalen Wirtschaftseliten eine Koordination nach innen ermöglichen soll (Schmoller 1906). Das Ziel ist ein protektionistisches: die Abschottung nach außen. Die „economies of scale and scope“ fordern gleichzeitig Wachstum und Konzentration der Unternehmen (Chandler 1990), Krieg und Inflation (Feldman 1974) und die Verflechtungen zwischen Banken und Industrie (Kocka 1974) beschleunigen diesen Strukturwandel noch. Einige dieser Katalysatoren werden dabei selbst zu typischen Organisationsformen des Organisierten Kapitalismus. Dies gilt insbesondere für Verflechtungen zwischen Unternehmen, die vielfältige wechselseitige Abhängigkeiten und Ver1

Die 17. Konferenz des Council for European Studies (CES), die im April 2010 in Montreal, Canada stattfindet, steht beispielsweise unter dem Motto „The Revenge of the European Model?“.

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STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

pflichtungen entstehen lassen. Anstatt sich im Wettbewerb zu zermürben, kommt es zu einer partiellen Selbstorganisation von Akteuren. Interessengruppen organisieren sich in Verbänden (wie Gewerkschaften, dem Reichsverband der Deutschen Industrie u.a.), die kollektives Handeln ermöglichen. Kartellabsprachen stabilisieren Preise, während Produktionsmenge, Kapital- und Personalverflechtungen wirtschaftliche Unsicherheiten in unterschiedlichen Bereichen verringern. Gerade die 1920er sind von einer kollektiven Marktkontrolle durch die neuen Interessensvertreter geprägt (Feldman 1974). Häufig wird von diesen Strukturmerkmalen der Schluss auf eine innere Einheit der Akteure gezogen. Später wird das der deutschen Wirtschaft die Bezeichnung „Deutschland AG“ einbringen (Shonfield 1965).2 Wenden wir uns nun aber vom historischen Kontext weg hin zu theoretischen Erwägungen über Unternehmensnetzwerke. Aus soziologischer Perspektive sind Unternehmen als Wirtschaftsakteure ganz allgemein nicht nur isolierte Systeme, sondern in mannigfaltige Beziehungsstrukturen eingebettet (Granovetter 1985). Das Spektrum relevanter Untersuchungen zu Netzwerken in der Unternehmensforschung ist umfangreich. Diese Untersuchungen beschäftigen sich entweder mit Kapital-, Personal- oder Handelsverflechtungen (Scott 1991). Fragen, die sich in diesem Kontext stellen, richten sich z.B. auf die Eigentumsverhältnisse oder Marktbeziehungen zwischen Unternehmen. Im Grunde geht es also um die Organisation von Tauschverhältnissen sowie auch um intra- und interorganisationale Machtkonstellationen. Erste Systematisierungen der Literatur zu Aufsichtsratsverflechtungen (interlocking direcorates), insbesondere englischsprachiger Untersuchungen, finden sich in den einflussreichen Artikeln von Thomas Koenig, John Scott und Mark Mizruchi (Koenig et al. 1979; Scott 1991; Mizruchi 1996). Darin werden verschiedene Erklärungsmodelle gegenübergestellt, die auf einzelne Faktoren wie Ressourcenabhängigkeit (Pfeffer/Salancik 1978) oder den Macht- und Kontrollerhalt von Eliten (Domhoff 1967; Pennings 1980; Useem 1984; Stokman et al. 1985) abheben. Vergleichende Untersuchungen weisen dabei sowohl in Hinblick auf die Gestalt von Kapital- und Handelsverflechtungen als auch in Hinblick auf Aufsichtsratsverflechtungen auf länderspezifisch sehr unterschiedliche Netzwerkstrukturen hin (vgl. dazu den Sammelband von Stokman et al. 1985; vgl. Windolf/Beyer 1995; Windolf/Nollert 2001; Nollert 2005; Windolf 2

Aber natürlich gibt es auch im Organisierten Kapitalismus wirtschaftliche Interessenskonflikte, das Allgemeinwohl und ein Konsens stehen bei der Konfliktlösung jedoch meist im Vordergrund. Wenn notwendig, ist der Staat allerdings auch bereit letzteres mit Zwang durchzusetzen (vgl. Feldman 1974). 121

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2006). Dies lässt sich z.T. auf die nationalen Entwicklungspfade zurückführen, die für Deutschland eingangs geschildert wurden (Beyer 2006a). Eine über Anteilskapital und Aufsichtsräte realisierte starke Verflechtung von Unternehmen gehört dort schließlich bis in die 1990er Jahre hinein zu den spezifischen Merkmalen des marktwirtschaftlichen Systems. Im Gegensatz zur angloamerikanischen liberalen Marktwirtschaft, die das Konkurrenzprinzip fördert, ist in Deutschland eine über Unternehmens- und Konzerngrenzen hinausreichende Koordination und Kontrolle möglich: Unternehmenskrisen können koordiniert aufgefangen, strukturelle Schieflagen ganzer Wirtschaftszweige mittels von Banken gesteuerter Restrukturierungen beseitigt und unwillkommene Unternehmensübernahmen aus dem Ausland können gemeinschaftlich abgewehrt werden (Beyer 2006b). Zum Herzstück der Deutschland AG zählen bis in die 1990er Jahre Deutsche Bank, Allianz AG und die Münchener Rückversicherung (Beyer 2003; Höpner/Krempel 2004, vgl. dazu auch den Beitrag von Krempel in diesem Band). Soweit zum Stand der Forschung. Der Mehrwert einer relationalen Perspektive, wie sie mit diesem Beitrag verfolgt wird, liegt nun zu allererst darin, die Strukturen dieser Verflechtung der Industrie sichtbar machen zu können (Wellman 1997 [1988]). Die personellen Unternehmensverflechtungen werden dabei in ihrer formativen Phase zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und Ende der Weimarer Republik betrachtet. Wenn auch keine eindeutige Zäsur zu setzen ist, so gilt dieser Zeitraum doch als Schlüsselperiode für das Auftreten bestimmter Organisationsformen des Organisierten Kapitalismus (Feldman 1974). Im Gegensatz zu bisherigen Veröffentlichungen wird der Schwerpunkt hier zum einen auf die Visualisierung der Verflechtung und zum anderen auf die Synthese von Deutungen gelegt (Windolf 2006; Windolf 2007; Krenn 2008; Krenn/Windolf 2008).

2. Verflechtungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik Unsere Daten zur personellen Verflechtung der großen deutschen Aktiengesellschaften zeigen, dass personelle Verflechtungen zwischen Groß-unternehmen bereits in der Hochindustrialisierung zu den spezifischen Merkmalen des deutschen Produktionsregimes gehören.3 3

Es handelt sich bei den Daten um Ergebnisse einer Querschnittsanalyse der jeweils größten deutschen Aktiengesellschaften zu vier Zeitpunkten (1896, 1914, 1928 und 1933). Die Daten ermöglichen damit die Analyse eines partiellen Netzwerks (Barnes 1972) der Großunternehmen. Barnes

122

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

Abbildung 1: Verflechtungen deutscher Unternehmen 1896 (Visualisierung mit Spring embedder)

Quelle: eigene Darstellung Zwischen Erstem Weltkrieg und Weltwirtschaftskrise spannt sich zwischen einem Kern von Unternehmen ein dichtes Netzwerk, welches in diesem Zeitraum weder in Frankreich noch in den USA eine Entsprechung findet (Windolf 2006; Windolf 2007). Die Entwicklung soll im Folgenden durch eine Visualisierung mit Spring embedder-Verfahren veranschaulicht werden (siehe Abbildungen 1 bis 3). Das Netzwerk spannt sich vor dem Ersten Weltkrieg v.a. um Unternehmen aus dem Bankensektor sowie aus Bergbau und Metallindustrie. Die meisten Beziehungen hat dann 1914 allerdings die AEG, die repräsentativ für den schon bald folgenden Aufstieg der Elektrizitätsbranche steht.

(Barnes 1972) versteht unter einem partiellen Netzwerk in Abgrenzung zu einer Vollerhebung ein nach bestimmten Selektionskriterien ausgewähltes Teilnetzwerk. Im vorliegenden Fall wurde nicht das Gesamtnetzwerk aller Aktiengesellschaften erfasst, sondern nach einem Größenkriterium selektiert. Die Datenerhebung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft projektgefördert. (Projekt: Regulierte Konkurrenz unter der Leitung von Prof. Paul Windolf, Universität Trier). 123

KAROLINE KRENN

Abbildung 2: Verflechtungen deutscher Unternehmen 1914 (Visualisierung mit Spring embedder)

Quelle: eigene Darstellung Neben der AEG und den Mannesmann-Röhrenwerken zählen die Deutsche Bank und die Discontogesellschaft vom Ende des 19.Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik durchgängig zu den Core-Unternehmen. Die kontinuierliche Verdichtung der Beziehungen bis 1928 wird begleitet von einer erhöhten wechselseitigen Erreichbarkeit der Unternehmen (der Durchmesser des Netzwerks halbiert sich von 9 Pfadlängen 1896 auf vier Pfadlängen 1928), damit nimmt das Integrations- und Steuerungspotential zu. Wie schlüssig in anderen Untersuchungen nachgewiesen werden konnte, führen enge cliquenhafte Verflechtungen aber nicht automatisch zu hoher Solidarität bzw. zu großem Mobilisierungspotential (Padgett/Ansell 1993). Eine strategische Abhängigkeit der Interaktionspartner mag in mancher Situation stärker einer loyalen Haltung förderlich sein als eine Vielzahl an überschneidenden sozialen Kreisen. Differenzierte Core-Peripherie-Analysen können in diesem Zusammenhang zeigen, dass einige Core-Unternehmen sich häufig parallel zu ihrer Core-Aktivität alternativen Partnern in der Peripherie zuwenden und sich damit Exitstrategien offen lassen (Krenn/Windolf 2008).

124

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

Abbildung 3: Verflechtungen deutscher Unternehmen 1928 (Visualisierung mit Spring embedder)

Quelle: eigene Darstellung Dies ist insbesondere in Hinblick auf den Ressourcenabhängigkeitsansatz von Interesse. Welche Ursachen und Gründe auch immer hinter den Verflechtungen liegen mögen, es bleibt vorerst festzuhalten, dass die beobachteten Muster in jedem Fall zahlreiche Gelegenheitsstrukturen entstehen lassen. Die Erklärungsansätze für die Entstehung dieses spezifischen Koordinationsmechanismus der deutschen Wirtschaft setzen auf institutioneller Ebene an. Für eine tiefer gehende Erörterung muss an dieser Stelle jedoch auf die weiterführende Literatur verwiesen werden (Jackson 2001; Vitols 2001; Windolf 2002). Zunächst sollen die empirischen Befunde zur Verflechtung großer Aktiengesellschaften zusammengefasst werden (Windolf 2006; Windolf 2007; Krenn 2008; Krenn/Windolf 2008; Krenn geplant 2010). Zu den charakteristischen Strukturmerkmalen des deutschen Unternehmensnetzwerkes zählt eine regionale Ungleichheit. Neben einer Core-Peripherie-Struktur (Krenn/Windolf 2008), die eine kleine Gruppe von Unternehmen als bestimmenden Kern des Netzwerks ausweist, ist auch eine Ungleichverteilung der Positionen zwischen einzelnen Unternehmen nachweisbar (Windolf 2007). Zentrale Akteure verfügen dabei nicht nur über mehr soziales Kapital, sie tragen 125

KAROLINE KRENN

auch wesentlich zur Entfaltung der Netzwerkstrukturen bei. Multifaktorielle Analysen zu unterschiedlichen Zentralitätsindikatoren kommen zu dem Ergebnis, dass weder Branche, Unternehmensgröße, Alter oder Region des Unternehmens hierfür eine umfassende Erklärung liefern. Erst die Betrachtung von Merkmalen, welche die Zusammensetzung des Aufsichtsrates selbst betreffen, vermittelt tiefer liegende Zusammenhänge. Unternehmen mit großen Aufsichtsräten und solche mit Mandataren aus Finanzunternehmen haben mehr Verflechtungen als andere Unternehmen. Tabelle 1: Determinanten für Degree-Zentralität (Poisson Regressionskoeffizienten°)4 Aufsichtsräte in Aufsichtsräten 1896 1914 1928 Branchenzugehörigkeit ++ (Dummies) Banken Metallindustrie Bergbau Chemische Industrie Elektrizitätswerke Größe: Bilanzsumme (in Mrd. RM) Direktorium (N): Aufsichtsrat Anzahl Bankiers im Aufsichtsrat Interaktionseffekt (Personen*Bankiers im AR) Konstant N Mc Fadden's Pseudo R² °° LL(0) LR chi2(df) df Prob > chi2 ++ Referenzkategorie: alle anderen Wert ≤ 0.1 (zweiseitiger Test)

1933

0.275* 0.074 -0.313** 0.164 -0.038

-0.188*** 0.067 0.172*** 0.230*** 0.636***

-0.244*** 0.578*** 0.393*** -0.024 -0.122***

-0.239*** 0.406*** 0.504*** 0.241*** 0.244***

-1.399***

-0.034

0.045***

0.004

0.138*** 0.741***

0.094*** 0.428***

0.038*** 0.341***

0.073*** 0.384***

-0.044***

-0.012***

-0.005***

-0.009***

0.315*** 1.559*** 2.838*** 140 283 361 0.33 0.52 0.52 -534.67 -3888.66 -11165.25 357.03 4031.26 11661.17 9.00 9.00 9.00 0.00 0.00 0.00 Branchen; *** p-Wert ≤ 0.01; ** p-Wert

2.146*** 374 0.46 -6090.59 5570.15 9.00 0.00 ≤ 0.05; * p-

Quelle: eigene Darstellung

4

Positive Koeffizienten (°) bedeuten, dass Unternehmen mit diesem Merkmal einen höheren Verflechtungsmittelwert haben bzw. die Wahrscheinlichkeit für Unternehmen, mit diesem Merkmal mehr Verflechtungen zu haben, höher ist. McFadden’s Pseudo R² misst den Erklärungswert des Modells. Dieser Modellparameter bezieht sich auf die Pseudo LikelihoodFunktion und ist daher nur bedingt mit dem R² aus der OLS-Regression vergleichbar. Die Werte liegen im Bereich 0 bis 1. Je näher der Wert bei 1 liegt, desto höher ist der Erklärungswert des angepassten Modells gegenüber dem Nullmodell.

126

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

Tabelle 2: Anzahl multipler Direktoren* im Vergleich5 Anzahl Positionen größer als

>1 >2 >3 >4 >5 >6 >7 > 10 > 15 > 20 > 30

x Positionen je Direktor x Positionen je multipler Direktor* x Größe Vorstand x Größe Aufsichtsrat Σ Direktoren (Vorstände und Aufsichtsräte) Σ Positionen (gesamt) Σ Unternehmen (gesamt)**

1896 198 62 29 13 6 4 2

1914 605 257 135 92 61 47 35 12 3 2

1928 1115 538 315 213 153 122 99 56 18 10 2

1933 973 459 252 180 119 93 78 38 14 3

1.24 2.58 2.9 6.6

1.42 3.18 4.0 9.3

1.58 3.69 5.4 16.5

1.63 3.50 3.6 11.9

1342

3103

5174

3867

1665 212

4112 346

8169 376

6303 404

Quelle: eigene Darstellung Erscheint die Größe des Aufsichtsrates auf den ersten Blick hin auch ein wenig überraschender Erklärungsfaktor zu sein, so tritt bei genauerer Analyse ein weiteres Strukturmerkmal des deutschen Unternehmensnetzwerks zutage. Nicht alle Aufsichtsräte tragen gleich viel zur Vernetzung der Unternehmen bei. Nicht nur zwischen Unternehmen, sondern auch zwischen Personen sind die Beziehungen im Netzwerk ungleich verteilt (Windolf 2007; Windolf 2009). In Untersuchungen zu Unternehmensverflechtungen werden Personen, die sich durch eine besonders hohe Anzahl an Mandaten auszeichnen auch multiple Direktoren bzw. „big linker“ genannt (vgl. Ziegler 1983; Münzel 2006). Multiple Direktoren nehmen bis 1928 exponentiell zu, gleichzeitig kommt es zu einer deutlichen Vergrößerung der Direktorien (siehe Tabelle 2). Damit sind wir der Erklärung für die Verdichtung des Netzwerks aus struktureller Perspektive einen Schritt näher. Die Problemstellung hat sich indessen erneuert. Es bleibt soweit noch ungeklärt, warum es zu dieser erhöhten Nachfrage nach Aufsichtsratspositionen kommt. In Hinblick auf die intraorganisationale Funktion des Aufsichtsrates, die in

5

Als multiple Direktoren (*) werden Personen bezeichnet, die mehr als eine Position in den untersuchten Unternehmen einnehmen. In der Gesamtsumme der Unternehmen (**) sind isolierte Unternehmen inkludiert. Das hat zur Folge, dass die Mittelwerte etwas niedriger sind, als wenn nur verbundene Unternehmen betrachtet werden. 127

KAROLINE KRENN

der Überwachung und Kontrolle des Vorstandes liegt, ist eine Vergrößerung des Organs eher dysfunktional. Kann diese Entwicklung zufälliger Natur sein? Dagegen sprechen nicht nur eine Reihe komparativer Strukturanalysen (Windolf 2006), sondern auch institutionenökonomische Untersuchungen (Fiedler 2007). Wie Fiedler (trotz der problematischen Datenlage zu den Beteiligungsstrukturen von Unternehmen) nachweisen kann, deutet sich bereits 1927 eine Eigentumskonzentration deutscher Großunternehmen an und es zeigt sich ein signifikanter Zusammenhang zwischen Kapital- und Personalverflechtungen. Aufsichtsratsverflechtungen werden funktional als Lösung für Principal-Agent-Probleme betrachtet (Fiedler 2007). So wichtig diese Erkenntnis für das Verständnis der entstehenden Deutschland AG ist, eine funktionale Erklärung erscheint zu kurz gegriffen. Es wird hier daher zur allgemeinen Frage nach dem Nutzen, den Akteure aus diesen personellen Verflechtungen ziehen, zurückgekommen. Um dies darzulegen, müssen wir uns etwas aufmerksamer dem Konzept des sozialen Kapitals zuwenden (einführend zum Konzept vgl. auch den Beitrag von Johannes Marx in diesem Band). Darunter werden zumeist Ressourcen verstanden, die Akteuren durch ihre sozialen Beziehungen zugänglich werden und welche die Eigenschaft haben, Handlungschancen zu erleichtern (Bourdieu 1983; Coleman 1995a). Unternehmensnetzwerke eröffnen nun allerdings eine Vielzahl an unterschiedlichen Gelegenheitsstrukturen. Sie verteilen Informationen, ermöglichen unternehmensübergreifende Kooperationen und den Aufbau von Vertrauensbeziehungen ebenso wie sie die Chancen auf eine Einflussnahme auf Geschäftsentscheidungen erhöhen. Gerichtete „Vorstand-zu-Aufsichtsrat“Verflechtungen, also die Entsendung von Vorständen in die Aufsichtsräte anderer Unternehmen, können in der Regel als Kontrollbeziehungen gedeutet werden. Handelt es sich um die Interpretation von reinen Strukturdaten, ist die Richtung der Einflussnahme jedoch selbst dort ein großer Angriffspunkt. U.a. lassen sich die Interessen von Aufsichtsräten nicht zwangsläufig mit Organisationsinteressen gleichsetzen. Das Netzwerk deutscher Großunternehmen konstituiert sich im Untersuchungszeitraum auch nur zu einem kleineren Teil aus solchen gerichteten Verflechtungen (zwischen 10 und 25 Prozent aller Beziehungen). Wir wollen uns diesen nun dennoch genauer zuwenden und betrachten dazu verschiedene Faktoren zur Erklärung der Anzahl an gerichteten Verflechtungen, die Unternehmen eingehen (siehe Tabelle 3). Augenfällig sind die erhöhten Kontrollchancen der Banken. Hier nicht dokumentierte Analysen zeigen, dass es v.a. die Großbanken sind, die besonders viele Direktoren in die Aufsichtsräte anderer Unternehmen entsenden (Krenn, im Erscheinen 2010). Nach dem Ende des Zwei128

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

ten Weltkriegs sind es auch die konzentrierten Großbanken, also Deutsche Bank, Dresdner Bank und Commerzbank, die diese engen Verflechtungen nicht nur auf der Ebene von Personalverflechtungen weiterführen. Sie werden zum zentralen „locus of private industrial policy in the postwar period“ (Vitols 2001: 174). Ebenso interessant ist der Befund, dass auch Elektrizitätswerke von 1914 an mehr Vorstände in Aufsichtsräte als andere Unternehmen entsenden. Es liegt nahe, die Gründe hierfür in der Abhängigkeit der Unternehmen sowohl von Kapital als auch Elektrizität zu vermuten. Parallel zur Unternehmenskonzentration zeigt sich außerdem in der Stahlindustrie in den 1920er Jahren in Hinblick auf personelle Verflechtungen ein signifikanter Zusammenhang. Sei es zur vertikalen Koordination der Ressourcen, der Anbahnung von Fusionen, der Kontrolle von Tochterunternehmen oder der Fusionsabwehr, auch die Direktoren von Unternehmen aus dem Bergbau und der Metallindustrie sind aktiver ins Netzwerk involviert als andere Branchen. Jedoch lässt sich auch das Netzwerk der gerichteten Verflechtungen durch diese Brancheneffekte nur in geringem Ausmaß erklären. Akzeptable Erklärungskraft erlangen die multivariaten Analysen wiederum erst durch die Berücksichtigung von Faktoren wie der Größe des Unternehmens und der Anzahl von Direktoren. Tabelle 3: Determinanten für Outdegree-Zentralität (Poisson Regressionen) 1896 Branchenzugehörigkeit ++ (Dummies) Banken Metallindustrie Bergbau Chemische Industrie Elektrizitätswerke Größe: Bilanzsumme (in Mrd. RM) Direktorium (N): Vorstand Konstant N Mc Fadden’ s Pseudo R² °° LL(0) LR chi2(df) df Prob > chi2

Vorstände in Aufsichtsräten 1914 1928

1933

1.399*** -0.711 0.274 -0.875 0.696

0.501*** -0.170 -0.054 -0.266 0.739***

1.513*** 0.975*** 1.138*** -0.288* 1.318***

1.348*** 1.084*** 1.216*** 0.634*** 1.179***

0.222

1.307***

0.116***

0.088***

0.071*** -0.952*** 139 0.24 -219.53 107.53 7.00 0.00

0.054*** -0.324*** 283 0.42 -1023.61 866.23 7.00 0.00

0.046*** 0.068 361 0.29 -2267.41 1336.48 7.00 0.00

0.104*** -0.182** 372 0.22 -1955.19 867.09 7.00 0.00

++Referenzkategorie: alle anderen Branchen; *** p-Wert Wert ≤ 0.1 (zweiseitiger Test)

≤ 0.01; ** p-Wert ≤ 0.05; * p-

Quelle: eigene Darstellung 129

KAROLINE KRENN

Vor dem Hintergrund, dass das Netzwerk zum typischen Strukturmerkmal des deutschen Produktionsregimes wird (Windolf/Beyer 1995) und die Verdichtung in dieser Form einzigartig bleibt, scheint es zunächst unbefriedigend zu bleiben, nur eine Vielzahl an zersplitterten Motivstrukturen aufzählen zu können. Dies gilt aber nur, solange man annimmt, Aufsichtsratsverflechtung auf eine Funktion reduzieren zu müssen. Eine besondere Bedeutung als Koordinationsinstrument scheinen Verflechtungen aber nun gerade durch ihre funktionale De-Spezialisierung zu erlangen (Krenn geplant 2010). Dies soll an einem Beispiel erläutert werden: Paul Silverberg, rheinischer Braunkohlenindustrieller, taucht in unserem Datensatz zum ersten Mal 1914 auf. Er hat zu diesem Zeitpunkt drei Aufsichtsratsmandate, darunter eines in der Bergisch Märkischen Bank, die im selben Jahr mit der Deutschen Bank fusioniert. 1928 hat er bereits 25 Mandate, neben der Deutschen Bank auch im Aufsichtsrat der Vereinigten Stahlwerke, den Siemens-Schuckert Werken und anderen bedeutenden deutschen Unternehmen. Silverberg bleibt laut historischen Dokumenten bis 1933 im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. In den Aktienhandbüchern führen ihn 1933 lediglich noch die Unterlagen der Siemens-Schuckert Werke als Aufsichtsrat. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten bleibt ihm eine Zukunft in Deutschland verwehrt. Für unsere Argumentation ist wichtig, das Silverberg in diesen Aufsichtsräten zahlreiche Kontakte knüpft und diese strategisch für den Ausbau seines Unternehmens zu nutzen weiß (Gehlen 2007: 199ff.).6 Das Spannende ist allerdings, dass er dabei nicht nur eigene unternehmerische Ineressen verfolgt, sondern seine Kontakte auch in den Dienst der Deutschen Bank stellt.7 Allerdings ist eine virtuose Integration in das Aufsichtsratsnetzwerk keine notwendige Bedingung, um zur Wirtschaftselite zu zählen. Hier wäre Paul Reusch anzuführen, der weniger auf die Ansammlung von sozialem Kapital über konzernfremde Aufsichtsratsmandate ausgerichtet war, sondern auf andere Weise Kontakte für sein Unternehmen nutzbar zu machen wusste (vgl. dazu den Beitrag von Christian Marx in diesem Band). Obwohl interlocking directorates also zahlreiche Funktionen übernehmen können, wäre es irreführend, daraus den funktionalen Fehl6

7

Darüber hinaus saß er in den maßgeblichen Gremien industrieller Interessensvertretung, wo er nach Gehlen eine Vermittlerrolle in der verbandspolitischen Entscheidungsfindung einnahm Beispielsweise regte Silverberg im Jahr 1922 die Deutsche Bank an, sich an der Übernahme der Privatbank Leopold Seligman zu beteiligen, ein Deal, der aber letztlich nicht zustande kam. Ein anderes Beispiel sind die Vermittlungsbemühungen Silverbergs im Konflikt zwischen Deutscher Bank und August Thyssen im Jahr 1925, der sich weigerte seine Bankschulden aus der Vorkriegszeit zu begleichen (Gehlen 2007: 203).

130

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

schluss zu ziehen, dass damit die Ursache für ihr Zustandekommen gefunden wäre. Das Netzwerk als Ganzes erscheint vielmehr als ein Emergenzphänomen aus der Summe vieler Einzelentscheidungen und damit weder geplant noch in seiner letzten Ausprägung intendiert. Spätestens wenn sich der Blick auf die Stabilität des Netzwerks richtet, wird es notwendig, neben dieser funktionalen Entspezialisierung der Aufsichtsratsverflechtung noch institutionelle Erklärungen heranzuziehen. Am Ende des folgenden Abschnitts werden wir darauf zurückkommen.

3. Weltwirtschaftskrise, Stabilität u n d D e u t s c h l a n d AG Bisher haben wir das personelle Netzwerk der großen Aktiengesellschaften im Querschnitt betrachtet. Dazu wurde die Struktur des Netzwerks visualisiert und die Bedeutung einzelner Erklärungsfaktoren bewertet. In diesem Abschnitt wird die Stabilität dyadischer Beziehungen untersucht, also ein Blick auf den Längsschnitt geworfen.8 Der Fokus ist nun auf die Banken gerichtet. Im Zusammenhang mit dem Koordinationspotential des Organisierten Kapitalismus ist diesen stets eine besondere Bedeutung zugeschrieben worden. Es ist hier nicht der Ort, um die auf Hilferding zurückreichende Diskussion um die Macht der Banken nochmals aufzurollen (Hilferding 1968 [1910]). In Einzelfallanalysen der Großbanken konnte die Wechselseitigkeit der Beziehungen zwischen Banken und Industrieunternehmen bereits aufgezeigt werden, einseitige Kontrollbeziehungen der Banken mussten zurückgewiesen werden (vgl. Krenn 2008 und die dort aufgeführte Literatur). Unbestritten aber haben Banken einen besonderen Stellenwert im deutschen Produktionsregime. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen Deutsche Bank, Allianz und Münchner Rückversicherung im Zentrum der deutschen Kapitalverflechtung: Sie werden zum Verflechtungszentrum der Deutschland AG (Windolf 1997; Beyer 2003; zur Auflösung dieser Strukturen vgl. auch Krempel in diesem Band). Betrachten wir die Stabilität von Beziehungen, insbesondere von zentralen Unternehmen, sind die Fusions- und Konzentrationswellen der 1920er Jahre ebenso zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Großbanken. Es kommt zu vier großen Bankenfusionen. 1921 zwischen Darmstädter Bank (BHI) und Nationalbank zur Danat-Bank, 1929 zur Fusion der Deutschen Bank mit der größten Konkurrentin, der Discontogesell8

Für eine detaillierte Längsschnittanalyse wird auf zwei in Planung befindliche Beiträge verwiesen (Krenn, im Erscheinen 2010; Marx/Krenn, im Erscheinen 2010). 131

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schaft, und zeitgleich der Commerzbank mit der Mitteldeutschen Creditbank. Aber es sind tiefgreifendere historische Ereignisse, die für die Stabilität des Netzwerks von Relevanz sind. Die Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929 für die durch Auslandskredite finanzierte deutsche Volkswirtschaft sind verheerend. Die Nachricht über die hohen Verluste der Österreichischen Creditanstalt 1931 löst einen Dominoeffekt unter Banken aus. Letztlich ist es die Bilanzfälschung beim Textilgiganten Nordwolle, welche die Danatbank und die Dresdner Bank in den Ruin treibt (Feldman 2005). Die Bankenkrise von 1931 hat weitreichende Folgen. Damals wie 2008 wird das Versagen von Kontrollmechanismen für das Ausmaß der Katastrophe verantwortlich gemacht. In einer Notverordnung werden die Größe des Aufsichtsrates und die Anzahl der Mandate eingeschränkt, um Fälle wie den der Nordwolle in Zukunft zu verhindern. Unter staatlicher Lenkung wird 1932 die Danat-Bank von der (teils verstaatlichten) Dresdner Bank übernommen. Die Konzentrationsprozesse unter den ,überlebenden‘ Großbanken haben allerdings keine Auswirkungen auf deren Netzwerkpositionen. Abbildung 4: Verflechtung zwischen deutschen Aktiengesellschaften (Dichte in Prozent)9 14

12

10

in Prozent

8

6

4

2

0

1896

1914 Aufsichtsrat zu Aufsichtsrat

1928 Vorstand zu Aufsichstrat

1933

Einfachverflechtungen gesamt

Quelle: eigene Darstellung

9

Unter der Dichte wird das proportionale Verhältnis der realisierten zu den möglichen Beziehungen im Netzwerk verstanden (vgl. Wasserman/Faust 1999).

132

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

Die Ereignisse rund um die Bankenkrise der 1930er Jahre sind in zahlreichen Untersuchungen aufgearbeitet worden (Feldman 1995); es wird diesen hier im Einzelnen nicht weiter nachgegangen. Stattdessen sollen typische Merkmale der Stabilitätsstrukturen des Netzwerks verdeutlicht werden. Wie Abbildung 4 veranschaulicht, lassen die Weltwirtschaftskrise und Bankenkrise die Netzwerkstrukturen einbrechen. Der Anteil der realisierten Beziehungen zwischen Unternehmen verringert sich von 11 Prozent auf unter 8 Prozent. Die beobachteten Verflechtungen reduzieren sich innerhalb von 5 Jahren von 12.247 auf 8.143, betroffen sind v.a. die Verflechtungen zwischen Aufsichtsräten. Wir stellen nun im Folgenden zwei Vergleichsabschnitte gegenüber, um einen weiter differenzierten Eindruck von der Stabilität des Netzwerks zu erhalten: a) Erster Weltkrieg und die Inflationsperiode (Stabilität von 1914 bis 1928) und b) Weltwirtschafts- und Bankenkrise (Stabilität von 1928 bis 1933). Die Längsschnittanalyse kann zeigen, dass im Netzwerk der deutschen Großunternehmen dyadische Beziehungen zwischen Unternehmen über längere Zeiträume stabil bleiben. Bemessen an Unternehmen haben ein Viertel (1914 bis 1928) bzw. zwei Drittel (1928 bis 1933) der Unternehmen stabile gerichtete Verflechtungen. Hinsichtlich ungerichteter Verflechtungen ist die Stabilität des Netzwerks sogar ausgeprägt hoch. Über 80 Prozent (1914 bis 1928) bzw. über 90 Prozent (1928 bis 1933) der Unternehmen können auf langfristige Verflechtungen zurückblicken. Werden allerdings nicht Unternehmen, sondern Beziehungen als Untersuchungseinheiten gewählt, wird das Bild differenzierter: Unternehmen führen einige Beziehungen fort, andere lösen sie auf und gehen wiederum neue ein. Wir betrachten Stabilität daher nun anhand weggebrochener Beziehungen („broken ties“) zwischen Unternehmen. Es wird dazu im nächsten Schritt so verfahren, dass deren absolute Zahl in den Vergleichszeiträumen auf jährliche Raten verteilt wird. Dadurch können die Unterschiede in der Länge der Abschnitte berücksichtigt werden. Betrachtet man solche jährlichen Raten an broken ties, zeigt sich, dass zwischen 1914 und 1928 von Jahr zu Jahr ca. 95 Prozent der Beziehungen bestehen bleiben. Personelle Wechsel in Aufsichtsräten sind selten, einmal eingegangene Verflechtungen sind mehr oder weniger von Dauer. Das ändert sich nach 1928. Nur noch 80 bzw. 85 Prozent der Beziehungen werden von Jahr zu Jahr fortgeführt. Die Weltwirtschaftskrise wird begleitet von einer Destabilisierung des Netzwerks.

133

KAROLINE KRENN

Tabelle 4: Jährliche Rate an broken ties (in Prozent)10 Gesamt bt Rate 14-28 bt Rate 28-33

Vorstand-zu-Aufsichtsrat BanBanken Großken o.GB banken

Aufsichtsrat-zu-Aufsichtsrat GeBanBanGroßsamt ken ken banken o.GB

5.4

3.7

4.5

3.6

5.1

5.6

6.6

4.7

14.5

14.2

10.9

16.8

19.6

18.6

18.4

19.1

Quelle: eigene Darstellung Stabilität hat aber auch noch eine andere Facette. Über die untersuchten Jahre bleibt zwischen Unternehmen auch keine geringe Zahl an Beziehungen erhalten. Wir illustrieren die stabilen dyadischen „Vorstand-zuAufsichtsrat“-Verflechtungen nun exemplarisch am Fall der Deutschen Bank. Dieser ist unter anderem für das Netzwerk der späteren Deutschland AG von Bedeutung. Die Deutsche Bank entsendet sowohl 1914 als auch 1928 Direktoren in die im abgebildeten Ego-Netzwerk aufgeführten 22 Unternehmen. Interessant und charakteristisch zugleich ist die Tatsache, dass sich unter diesen Unternehmen mit stabiler Verflechtung zahlreiche Unternehmen befinden, zwischen denen sich Personal- und Kapitalverflechtungen überschneiden. In diesem Zusammentreffen manifestiert sich also bereits früh ein für die spätere Deutschland AG spezifisches Instrument der Unternehmenskontrolle (Fiedler 2007). Zu solchen Unternehmen gehören die Deutsche Überseeische Bank, eine Tochtergesellschaft der Deutschen Bank, die 1886 zur Belebung des Auslandsgeschäftes mit Südamerika gegründet worden war. Dazu zählt auch die Deutsche Petroleum, die seit 1904 als Holdinggesellschaft für die gesamten Aktivitäten der Bank im Erdölgeschäft diente.11 10 Da die beiden Übergänge im vorliegenden Fall zwei unterschiedlich große Zeiträume erfassen, werden jährliche Wegfallraten gegenübergestellt. Diese berechnen sich als Differenz zum Anteil an stabilen Beziehungen (stabile Beziehungen im Zieljahr/alle Beziehungen im Ausgangsjahr) umgerechnet auf die Zeitspanne. Es wird davon ausgegangen, dass der Anteil an im Gesamtzeitraum weggefallenen Beziehungen sich gleichmäßig auf die Jahre verteilt. 11 Durch ihr Engagement im (vorwiegend) rumänischen Erdölgeschäft beschränkte sich die Bank nicht nur auf Kapitalbeteiligungen, sondern trat selbst als „Unternehmer“ auf (vgl. Gall 1995). Das Ziel, das durch den Direktor der Deutschen Petroleum Aktiengesellschaft (DPAG) Emil Georg Stauß verfolgt wurde, war nichts Geringeres als die Erreichung eines Petroleum-Monopols. Diese Pläne wurden jedoch von der Discontogesellschaft, einer Hauptaktionärin der Deutschen Erdöl-Aktiengesellschaft 134

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

Abbildung 5: Stabile „Vorstand zu Aufsichtsrat“-Verflechtungen der Deutschen Bank 1914-1928 (Ego-Netzwerk) Norddeutscher Lloyd

Mannesmannröhren-Werke

Preussische Bodencredit-Aktienbank Wasserwerk für das nördl. Kohlerevier

Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg

Rütgerswerke

Gelsenkirchener Bergwerks-AG

Demag

Oberschlesische Eisenbahn-Bedarfs AG

Kraftübertragungswerke Rheinfelden

Deutsche Ueberseeische Bank

Deutsche Bank Allianz & Stuttgarter Lebensversicherung

Siemens-Schuckertwerke

Bemag-Meguin AG

Siemens & Halske

Bergmann-Elektricitäts-Werke

Harpener Bergbau

Lübeck-Büchener-Eisenbahn

Braunkohlenwerke Roddergrube

Deutsche Petroleum

Essener Steinkohlenbergwerke Deutsche Hypothekenbank Meiningen

Quelle: eigene Darstellung Die Mannesmann-Werke haben von ihrer Gründung an eine starke Anbindung an die Bank, die auf starke Eigentümerinteressen letzterer zurückzuführen ist. Der Aktienanteil der Bank am Unternehmen schwankt zwischen ein bis zu zwei Dritteln. Max Steinthal (Bankdirektor von 1873-1906) ist der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende von Mannesmann, der dort bis Anfang der 1930er Kontrollinteressen der Bank wahrnimmt – der Fall Mannesmann wird oft als Zeugnis für ,Bankenmacht‘ angeführt –, zugleich aber auch im Interesse des Unternehmens selbst agiert, wie insbesondere die Untersuchungen von Gall (1995) und Wixforth (1995) zeigen.12 Wixforth stellt das Verhältnis beider Unternehmen als „beinahe symbiotisches“ dar (Wixforth 1995: 291ff.). In diesem Fall

(DEAG), zu Fall gebracht (vgl. Feldman 1995). 1919 fusionierte die DPAG schließlich mit der Deutschen Bank, wodurch die Bestrebungen, ins internationale Ölgeschäft einzusteigen, endgültig scheiterten. 12 Im Aufsichtsrat von Mannesmann sitzen neben den Vertretern der Deutschen Bank u.a. Carl Fürstenberg und Walther Rathenau von der Berliner Handelsgesellschaft sowie Georg Hirschland vom gleichnamigen Privatbankhaus. 135

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mag genau das eingetreten sein, was Hilferding als Verschmelzung von Industrie- und Bankinteressen zum Finanzkapital bezeichnet. Belegen stabile gerichtete Verflechtungen damit vorwiegend Kontrollstrukturen? Dem ist nicht so. Zumindest gibt es genügend Gegenbeispiele. In den Aufsichtsrat von Siemens & Halske entsendet die Deutsche Bank beispielsweise zu beiden Zeitpunkten zwei Direktoren. Gerade diese Beziehung lässt sich jedoch nicht als Kontrollbeziehung charakterisieren, obwohl stabile Mehrfachverflechtungen eben dies andeuten würden. Wie verschiedene historische Fallanalysen zeigen konnten, ist das Verhältnis der Deutschen Bank zu Siemens (ähnliches gilt im Übrigen für die AEG) sehr eng, aber vielmehr ein Ratgeber- bzw. Vermittlungsverhältnis als ein Ausdruck von Bankenherrschaft (Neuburger 1977; Wellhöner 1989). Neben den Siemens-Unternehmen gibt es u.a. auch langjährige personelle Verbindungen zur Demag. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, dass die Deutsche Bank für dieses Unternehmen eine wichtige Vermittlungsrolle spielt, als es zu komplizierten Verhandlungen zwischen dem horizontal gegliederten Maschinenbauunternehmen Demag und vertikal gegliederten Montankonzernen (Vereinigte Stahlwerke) kommt, die in einer Neugründung der DEMAG AG münden (Wessel 1990). Betrachtet man die Deutsche Bank in ihrer Rolle als Verflechtungszentrum der Deutschland AG (im letzten Drittel des 20.Jahrhunderts), fällt natürlich auf, dass sie bereits in dieser frühen Phase des deutschen Produktionsregimes eine stabile Beziehung zur Allianz hatte. Die gemeinsame Geschichte zwischen diesen Unternehmen reicht bereits ins Kaisereich zurück. Die Gründung der Allianz AG erfolgte 1889 in Berlin unter Mitwirkung der Deutschen Bank mit einem Aktienkapital von vier Millionen Mark. Die Deutsche Bank übernahm 950.000 Aktien, von denen sie im Weiteren ca. 400.000 an andere Bankinstitute und einzelne Privatbankiers abgab. 1905 ist die Deutsche Bank im Rahmen eines Konsortiums aktiv an der Börseneinführung der Allianz beteiligt; bei der gleichzeitigen Kapitalerhöhung auf acht Millionen Mark erhält die Münchener Rückversicherung eine Million Aktien. Bei den darauf folgenden Kapitalerhöhungen bis in die 1940er Jahre sind neben der Deutschen Bank auch andere Großbanken wie die Dresdner Bank, Bank für Handel und Industrie, Berliner Handelsgesellschaft und Commerzbank und die Bayrische Vereinsbank im Übernahmekonsortium vertreten (Deutsche Bank 1927). Wie der Blick auf die Dichte des Netzwerks (vgl. Abbildung 4) und der Vergleich jährlicher Raten an broken ties (vgl. Tabelle 4) bereits veranschaulicht hat, kommt es zu einer Destabilisierung des Netzwerks im zweiten Vergleichsabschnitt von 1928 bis 1933. Auffallend ist das zeit136

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

liche Zusammentreffen mit der Beschränkung der Aufsichtsratsgröße (Notverordnung 1931). Erinnern wir uns an die Querschnittsanalysen im letzten Abschnitt, so erwies sich die Größe des Aufsichtsrates als erklärungskräftige Variable für die Anzahl an Verflechtungen. Es ist daher plausibel, auf eine Verursachung zu schließen. Vieles deutet darauf hin, dass es diese neue und für Deutschland untypische rechtliche Beschränkung ist, welche ab 1931 die Expansion unterbindet. Bei genauerer Betrachtung werden aber auch Brancheneffekte deutlich. Sind die Banken, insbesondere die Großbanken, im ersten Vergleichszeitraum durchweg stabiler als andere Unternehmen, lassen die Daten erkennen, dass sich die unrühmliche Rolle der Banken für die Krise auch im Netzwerk negativ niederschlägt. Relativ gesehen scheiden die Direktoren der Großbanken nach 1928 überproportional aus den Aufsichtsräten der Unternehmen aus und ihre ungerichteten Verflechtungen verringern sich. Absolut betrachtet können sie allerdings nicht nur überproportional viel soziales Kapital aus dem Netzwerk ziehen, sondern haben auch weiterhin die besten Voraussetzungen, starke Beziehungen aufzubauen. Umso interessanter ist es daher, der Frage nachzugehen, welche Beziehungen in diesem kritischen Zeitraum aufrechterhalten werden können. Hierzu betrachten wir nochmals exemplarisch die stabilen dyadischen „Vorstandzu-Aufsichtsrat“-Verflechtungen der Deutschen Bank. Die absolute Anzahl gerichteter Verflechtungen der Deutschen Bank (dasselbe gilt im übrigen für die Dresdner Bank) bleibt von 1928 auf 1933 unverändert, ca. 60 Prozent der 1928 bestehenden Verflechtungen fallen allerdings weg und werden durch neue Verflechtungen ersetzt. Ein Viertel der stabilen gerichteten Verflechtungen der Deutschen Bank (die ca. 40 Prozent aller Beziehungen von 1928 ausmachen) reicht schließlich sogar bis 1914 zurück (siehe Hervorhebungen in Abbildung 6). Erneut handelt es sich um zahlreiche Unternehmen, bei denen die Bank bei Gründung aktiv war (z.B. Mannesmann), sich Personalverflechtungen mit Kapitalverflechtungen überlappen (z.B. Deutsche Petroleum) oder die Bank als Vermittler agierte (z.B. Demag). Und auch die Verflechtung mit der Allianz ist hierzu zu zählen. In den Stabilitätsstrukturen der krisengeschüttelten Weimarer Jahre deuten sich damit ex post also bereits die ,Keime‘ einer im Entstehen begriffenen Deutschland AG an.13 13 In Unternehmensgeschichten zur Deutschen Bank wird die Allianz erst in Zusammenhang mit Kapitalverflechtungen zwischen Dresdner Bank und Allianz sowie Deutscher Bank und Allianz am Beginn der 1990er Jahre thematisiert. Der Blick der Öffentlichkeit hierauf wurde durch eine kritische Stellungnahme zu diesen Entwicklungen seitens der Monopolkommission gelenkt (vgl. Büschgen 1995: 645f). Stabile Verflechtungen zwischen diesen beiden Unternehmen reichen, wie die Analysen zeigen, auf personeller Ebene aber noch deutlich weiter zurück. 137

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Abbildung 6: Stabile „Vorstand zu Aufsichtsrat“-Verflechtungen der Deutschen Bank 1928-1933 (Ego-Netzwerk) Verein. Oberschles. Hüttenwerke

Schultheiss-Patzenhofer

Philipp Holzmann

Norddeutsche Hefeindustrie Mitteldeutsche Stahlwerke AG Didier-Werke (Stettiner Chamottefabrik Didier)

J.D.Riedel - E. de Haen

Maschinenfabrik Buckau R.Wolf

Rheinische Stahlwerke

Elektrizitäts-AG vorm. Schuckert & Co.

Ilse Bergbau, Grube Ilse

Concordia-Bergbau

Berlin-Karlsruher Industrie-Werke

Demag

Vereinigte Stahlwerke

Heinrich Lanz

Deutsche Petroleum Universum-Film (UfA) Kammgarnspinnerei Stöhr

Kali-Chemie AG (Friedrichshall)

Schubert & Salzer

Deutsche Bank

Harpener Bergbau

Lübeck-Büchener-Eisenbahn Klöckner-Werke

Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke (RWE)

Hirsch Kupfer & Messingwerke Daimler-Benz

Rütgerswerke

Deutsch-Asiatische Bank

Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft

Maschinenbau-Unternehmungen (Muag)

Zuckerfabrik Klein-Wanzleben Rabbethge

Deutsche Continentale-Gas-Ges.

Orenstein & Koppel

Deutsche Ueberseeische Bank Allianz & Stuttgarter Verein

Mannesmannröhren-Werke Mansfeld AG

Bayerische Motorenwerke

Deutsche Lufthansa

Miag Mühlenbau

Kraftübertragungswerke Rheinfelden

Quelle: eigene Darstellung

4. Schlussfolgerungen Es konnte gezeigt werden, dass die Strukturbildungsphase in der Verflechtung deutscher Großunternehmen in den 1920er Jahren zu verorten ist. Als verflechtungsförderlich sind in Deutschland sicherlich die günstigen rechtlichen Rahmenbedingungen anzusehen (Windolf 2006). Bis zur Notverordnung 1931 wird der Aufbau eines Netzwerks personeller Verflechtungen zwischen Großunternehmen keiner gesetzlichen Regulierung unterworfen. Im Gegenteil: Kartellrechtliche und steuerrechtliche Bestimmungen schaffen ein Klima, das die Koordination zwischen Unternehmen begünstigt. Das Gegenstück dazu ist die Anti-Trust-Gesetzgebung in den USA. Die Nachfrage von Verflechtung auf individueller Wahlebene lassen sich durch positive Rückkopplungseffekte erklären. Positive Erfahrungen aus der Kartellierung mögen verstärkend gewirkt haben und erlauben die Deutung, dass es zu Lerneffekten ge-

138

STRUKTURBILDUNG IN DER KRISE

kommen ist.14 Kapital- und Personalverflechtungen gefrieren in den Krisenjahren der 1920er jedenfalls zu festen Netzwerkstrukturen. Die gesetzlichen Regulierungen nach der Bankenkrise der 1930er Jahre setzen nun nicht nur den strategischen Vernetzern, den multiplen Direktoren, eine maximale Obergrenze an Mandaten, sondern beschränken auch die bis dahin nachgewiesene Vergrößerung der Aufsichtsräte (vgl. Tabelle 2 oben). Wesentlich für die Fortführung von Verflechtungen scheinen kollektive Selbststeuerungsmechanismen zu sein. Was es damit konkret auf sich hat, soll zum Abschluss noch kurz erläutert werden. Einzelfallanalysen zeigen deutliche Unterschiede in der Nutzung des gewonnenen sozialen Kapitals. Und selbst jene spezifische Intentionalität scheint weniger die Ursache als das Ergebnis von bereits eingegangenen Beziehungen zu sein. Das Problemlösungspotential von de-spezialisierten Netzwerken verschiebt sich damit als Institution zurück auf die Akteursebene. Erst letztere tragen dazu bei, die aus Netzwerken entspringenden despezialisierten Gelegenheitsstrukturen quasi aus einem ‚relationalen Gedächtnis‘ heraus zu aktivieren (Krenn, im Erscheinen 2010). Für eine Reproduktion dieser Strukturen drängt hier sich eine Frage auf, die im Zusammenhang mit diesem spezifischen Charakter dieses Netzwerks noch diskutiert werden muss, nämlich unter welchen institutionellen Voraussetzungen de-spezialisierte Netzwerke überhaupt anschlussfähig sind. Warum reproduzieren sie sich insgesamt, wenn nicht durch ihre Funktionalität? Hier ein Deutungsangebot: De-Spezialisierung stellt keinen Nachteil dar. Ganz im Gegenteil erweist sie sich als fruchtbare Quelle in solchen sozialen Systemen, die bereits einen Selbstregulationsmechanismus implementiert haben. Dies eröffnet eine tief greifende Erklärung für national variierende Verflechtungsstrukturen. Netzwerke werden dort verstärkt selektiert, wo Akteure durch erlernte Strategien die Möglichkeit besitzen, auch Nutzen aus unspezifischen Netzwerkpotentialen zu schöpfen. De-spezialisierte Netzwerke sind dabei insbesondere anschlussfähig an Organisationsformen, die weder durch strenge Hierarchien noch durch Konkurrenz dominiert werden. Genau dies war im Deutschland der Weimarer Republik vorfindbar. Zwischen den personellen Verflechtungen deutscher Aktiengesellschaften und anderen Institutionen des Organisierten bzw. Kooperativen Kapitalismus, wie er am Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschend ist, 14 Der Begriff „Lerneffekt“ wird in der Pfadabhängigkeitsdebatte für eine bestimmte Ausprägung selbstverstärkender Mechanismen verwendet; es ist darunter die Verringerung von Koordinationskosten durch die Übertragung von Problemlösungsstrategien von einem Bereich zum anderen zu verstehen (vgl. Arthur 1994). 139

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gibt es eine bestechende Strukturähnlichkeit. Kapitalverflechtungen, Kartelle und die Organisation von Wirtschaftsverbänden folgen alle derselben Leitidee, nämlich der Regulierung von Konkurrenz. Die Deutschland AG war in diesem Sinne kein ‚Plan‘. Mittlerweile überwiegt die Ansicht, dass die strategische Ausrichtung zeitlich den bestehenden Gelegenheitsstrukturen nachgefolgt ist (Beyer 2009, Krenn geplant 2010). Rechtliche Rahmenbedingungen haben ihre Entstehung dabei ebenso gefördert wie ihren Niedergang (Beyer 2009). Es überrascht daher nicht, wenn für die Fortdauer dieser Institutionen mit positiven Rückkopplungseffekten innerhalb eines Entwicklungspfads argumentiert wird. Die Verflechtung der Großindustrie war in den 1950 Jahren bereits so weit fortgeschritten, dass auch die (wenngleich schwache) Kartellgesetzgebung von 1957 das Erblühen der Deutschland AG nicht verhindern konnte. Das gelingt erst den neuen Shareholdervalue- und Investmentbanking-Leitbildern der 1990er Jahre und nachfolgenden Änderungen in der Steuergesetzgebung (Beyer 2006a). Die Entflechtung wird im hier anschließenden Beitrag von Lothar Krempel anschaulich dargestellt. Über ihre Folgen muss wohl erst weiter geforscht werden.

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Die Tra nsformation der De utsc hla nd AG 1 9 96-2 006 LOTHAR KREMPEL

Lange galten die untereinander durch vielfältige Kapitalbeteiligungen verbundenen größten deutschen Unternehmen – die sogenannte Deutschland AG – international als ein Sonderfall. Neben dieser Kapitalverflechtung kam es auch zu einer starken personellen Vernetzung der Firmen durch die Aufsichts- und Vorstandsgremien (vgl. Krenn in diesem Band). Innerhalb beider Verflechtungsmuster nahmen die Finanzunternehmen eine zentrale Rolle bei der Koordination der deutschen Wirtschaft ein. Mit einer zunehmenden Öffnung und Internationalisierung der Finanzmärkte ist dieses über einhundert Jahre lang bestehende nationale System der deutschen Unternehmenskontrolle (Beyer/Hassel 2002; Windolf 2006; 2002; Hoepner/Krempel 2004; Ziegler/ Bender/Biehler 1985 sowie Krenn in diesem Band) in den letzten Jahren jedoch weitgehend erodiert. An Stelle einer langfristigen Koordination der deutschen Wirtschaft durch die deutschen Finanzunternehmen ist ein System finanzmarktorientierter Kontrolle getreten. Das neue kapitalmarktorientierte System zeichnet sich dadurch aus, dass das Verhältnis zwischen den Aktionären und dem Management des Unternehmens im Vordergrund steht: Gestützt durch gesetzlich erweiterte Offenlegungspflichten wird eine Bewertung der zukünftigen Ertragskraft der Unternehmen durch den Aktienmarkt vorgenommen, an der sich auch die Vergütung der Manager orientiert. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Aufsatz der Frage nachgegangen, inwieweit es in den letzten Jahren zu der Auflösung dieser Deutschland AG kam. Anhand der Daten der 145

LOTHAR KREMPEL

Monopolkommission werden die Kapital- wie auch Personenverflechtungen der 100 größten deutschen Unternehmen von 1996 bis 2006 analysiert.

1 . K a p i t a l ve r f l e c h t u n g e n Das Ausmaß der historischen Transformation des deutschen Wirtschaftssystems ist mit numerischen Daten nur schwer zu überblicken. Obwohl die zweijährlichen Hauptgutachten der Monopolkommission detailliert über die größten deutschen Unternehmen und deren Kapitalbeteiligungen sowie über die Personenverflechtungen zwischen Unternehmen berichten, sind die mit umfangreichen tabellarischen Aufstellungen in numerischer Form dokumentierten Entwicklungen eher nur für Spezialisten informativ. Heute erlauben es die in den letzten Jahren entwickelten Verfahren der Netzwerkanalyse und Visualisierung, Verflechtungsdaten, wie sie von der deutschen Monopolkommission in numerischer Form veröffentlicht werden, zu ordnen und in vergleichsweise leicht zu lesende graphische Darstellungen zu übersetzen. Verfahren der Netzwerkvisualisierung (Krempel 2005) ermöglichen es gegenwärtig, den Auflösungsprozess der Deutschland AG detailliert zu analysieren. So kann das Ausmaß der Veränderungen unter Verwendung öffentlich zugänglicher Daten nachgezeichnet und zentrale Akteure des Transformationsprozesses identifiziert werden. Bereits bei der Analyse der Datensätze unter einer Querschnittsperspektive wird das Ausmaß der Veränderungen sichtbar, eine historische Transformation, die sich in nur zehn Jahren vollzogen hat.

1.1 Datenanalyse und Visualisierung Genutzt werden die Daten der Monopolkommission, einem unabhängigen Beratungsgremium, das dem deutschen Bundeswirtschaftsministerium zuarbeitet, um Zustand und Veränderungen des deutschen Unternehmensnetzwerks zu erkunden. Konkret werden die Daten zu sechs Zeitpunkten verwendet, um die Strukturveränderungen der deutschen Kapitalverflechtungen zwischen 1996 und 2006 nachzuzeichnen. Typischerweise werden Kapitalverflechtungen als Anteile an dem Aktienkapital einer Firma berichtet. Dies abstrahiert von der Größe der Unternehmen und den durch sie repräsentierten Werten. Wenn man die Kapitalanteile als Anteile am Unternehmensgewinn darstellt, erhält man nicht nur eine klarere Vorstellung von der Größenordnung des verflochtenen Kapitals, sondern auch einen Maßstab, der alternative Verwendun146

DIE TRANSFORMATION DER DEUTSCHLAND AG 1996-2006

gen des durch Verflechtungen gebundenen Kapitals denkbar werden lässt. In der vorliegenden Auswertung wird daher der Anteil an der Bruttowertschöpfung der jeweiligen Unternehmen (des Gewinns vor Steuern) berücksichtigt, um den Wert einer Beteiligung zu beschreiben. Im Folgenden werden die Anteile der Unternehmensverflechtungen als ein asymmetrisch bewerteter Graph interpretiert. Um diese Verflechtungsinformationen zu ordnen, findet ein Verfahren der Netzwerkvisualisierung Anwendung, ein sogenannter Spring embedder: Stark verbundene Bereiche werden benachbart zueinander dargestellt; Bereiche die nicht oder nur indirekt verflochten sind, werden dagegen entfernt zueinander angeordnet. In der Abbildung entspricht weiterhin die Größe der Firmen der Summe aller Beteiligungen, mit denen die betreffende Firma verflochten ist (dem bewerteten Degree). Die Dicke der Verbindungen repräsentiert den Kapitalanteil bzw. den durch den Anteil repräsentierten Wert an einem Unternehmen. Erst mit der Übertragung weiterer Informationen in die Graphendarstellung werden die Veränderungen dieses Netzes verständlich (vgl. Krempel 2005). Die Verwendung von Farben gestattet es, die Layouts derartiger Graphen näher zu inspizieren. So kann man untersuchen, wie unterschiedliche Klassen von Einheiten miteinander verbunden sind. Dazu wird ein erklärendes Merkmal mithilfe eines Farbschemas auf die Netzwerkdarstellung abgebildet. Hinsichtlich der Knoten (Unternehmen) wird somit zwischen Banken und Versicherungen (rot) und Industrieunternehmen (gelb) unterschieden. Für die Kapitalverflechtungen kann aus der Knotenklassifikation ein korrespondierendes Farbschema abgeleitet werden: Beteiligungen zwischen den Finanzunternehmen werden gelb, zwischen den Industrieunternehmen rot und die Beteiligungen von Finanzunternehmen an Industrieunternehmen orange dargestellt (vgl. Abbildung 1).

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Abbildung 1: Visualisierung der Knoten und Kanten per Farbschema

Quelle: eigene Darstellung In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen ‚statischen‘ Zustandsbeschreibungen und der dynamischen Dimension von Veränderungen im Netzwerk. Um diese darstellen zu können, werden jedoch andere Daten benötigt, da die Daten der Monopolkommission lediglich über den Zustand der Unternehmensverflechtungen zu bestimmten Zeitpunkten informieren. Der Vorteil einer dynamischen Rekonstruktion liegt dabei in der Möglichkeit, Unternehmensveränderungen zwischen den Beobachtungszeitpunkten beschreiben zu können. Dabei sind die Besonderheiten des Vorgehens der Monopolkommission zu berücksichtigen.

1.2 Querschnittsvergleiche Bereits der komparative Vergleich der Visualisierungen zu den Verflechtungsnetzwerken zu unterschiedlichen Zeitpunkten erlaubt es, wesentliche Veränderungen zu erfassen. Im Jahr 1996 bilden 60 der hundert größten deutschen Unternehmen eine zusammenhängende Komponente. Das Netzwerk hat einen identifizierbaren Kern, der vor allem aus Finanzunternehmen besteht und durch Überkreuzverflechtungen charakterisiert ist. 1996 kontrolliert die überkreuzverflochtene Gruppe von Finanzunternehmen einen Großteil der Anteile an Industrieunternehmen. Neben den Verflechtungen der Fi148

DIE TRANSFORMATION DER DEUTSCHLAND AG 1996-2006

nanzunternehmen lässt sich in der Peripherie des Systems ein Cluster von Industrieunternehmen des Bergbau-und Energie-Sektors identifizieren, welches stark miteinander verflochten ist (vgl. Abbildung 2). In den Folgejahren zeigt sich nicht nur ein fortschreitender Abbau der Verflechtungen sondern auch der Überkreuzverflechtungen im Zentrum des Netzwerkes. Während die Kapitalbeteiligungen 1996 ein stark verflochtenes Unternehmensnetzwerk bilden, dessen hoher Verflechtungsgrad die deutsche Unternehmenslandschaft für mehr als 100 Jahre gekennzeichnet hat, zeigt sich in den folgenden Jahren eine fortschreitende Abnahme sowohl der Anzahl wie auch des Volumens der Kapitalverflechtungen. Bereits zwischen den Jahren 1996 und 2000 halbiert sich die Anzahl der Kapitalverflechtungen um etwa 50 Prozent. Ein Prozess, der sich in den Jahren 2002 und 2004 fortsetzt. Im Jahr 2006 hatten nur noch 39 der 100 größten Unternehmen Kapitalverflechtungen, 62 waren es im Jahr 1996. Es gibt nur noch 50 Verbindungen zwischen den Einheiten, verglichen mit 143 im Jahr 1996. Besonders auffällig ist, dass die Finanzdienstleister sich stark aus den Unternehmensbeteiligungen zurückziehen. 1996 waren sie an 75 der 100 größten deutschen Unternehmen beteiligt, im Jahr 2006 nur noch an 26 Unternehmen. Das betrifft auch die Beteiligungen der Finanzdienstleister untereinander. Deutsche Bank und Commerzbank lösten sich fast vollständig aus dem Beteiligungsnetzwerk. Darüber hinaus finden wir eine starke Reorganisation der Unternehmensbeteiligungen im Bereich des Energieclusters um die Ruhrkohle AG. Diese sind einerseits Folge der Unternehmenszusammenschlüsse von VEBA und VIAG zu E.ON bzw. der Übernahme von VEW durch RWE sowie eines komplexen Ringtausches der Unternehmensbeteiligungen an der Degussa und Ruhrgas. Lediglich in der Automobilbranche gibt es deutlich mehr und intensivere Kapitalbeteiligungen als in den Jahren davor: Hier zeigt die Grafik von 2006 anschaulich die Übernahmeaktivitäten zwischen Porsche und Volkswagen (vgl. Abbildung 3).

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Abbildung 2: Kapitalverflechtungen 1996

Quelle: eigene Darstellung Abbildung 3: Kapitalverflechtungen in Deutschland 2006

Quelle: eigene Darstellung

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1.3 Veränderungsdynamiken Ausgangspunkt der Gutachten der Monopolkommission ist ein Ranking der 100 größten deutschen Unternehmen nach ihrer Bruttowertschöpfung. Durch diese Informationsaufbereitung geraten Unternehmen aus dem Berichtshorizont, die aufgrund ihrer Bruttowertschöpfung aus dem Kreis der 100 größten Unternehmen ausscheiden. Andererseits treten neue Firmen in den Kreis der 100 größten Unternehmen ein. Da die Daten der Monopolkommission darüberhinaus lediglich über den Zustand der Unternehmensverflechtungen zu bestimmten Zeitpunkten informieren, erfordert eine vollständige Rekonstruktion der Entwicklung des deutschen Unternehmenssystems zusätzliche Informationen über die Unternehmensveränderungen zwischen den Zeitpunkten. Dadurch treten kompliziertere Dynamiken wie Unternehmensübernahmen und Zusammenschlüsse wie auch Insolvenzen in den Blickpunkt. Auch die Entflechtung großer Firmen kann zu neuen selbständigen Unternehmen führen. Bereits die auf den Querschnittsdaten der Monopolkommission beruhenden komparativ statischen Visualisierungen des deutschen Unternehmensnetzwerkes zeigen nicht nur eine fortschreitende Ausdünnung der Verflechtungen, sondern auch eine abnehmende Bedeutung des koordinierten Kerns der Finanzunternehmen über die Zeit. Im Folgenden werden die Ergebnisse noch einmal prägnant zusammengefasst.

1.3.1 Neuausrichtung der Banken In den 1990er Jahren standen die deutschen Unternehmen stark untereinander in Kontakt. Im Kern des Netzwerks befanden sich die großen Finanzdienstleister: Allianz, Deutsche Bank, Dresdner Bank, Münchener Rück, Bayerische Hypo- und Vereinsbank (UniCredit) und Commerzbank. Sie besaßen in ihren Portfolios mehrprozentige Beteiligungen an den größten deutschen Industrieunternehmen. Außerdem waren sie stark untereinander verflochten und hielten gegenseitige Anteile am Grundkapital. Auch die Industrieunternehmen kontrollierten sich gegenseitig. Dabei wurden meistens die Beteiligungen von Finanzdienstleistern an internationale Finanzinvestoren sowie an Industrieunternehmen verkauft (vgl. Abbildung 1). Die Veränderungen des finanziellen Kerns des Unternehmensnetzwerkes resultieren insbesondere aus der Neuausrichtung der Deutschen Bank.

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1.3.2 Konzentrationsprozesse Während die Neuausrichtung der Banken bereits unter der Perspektive eines Querschnittsvergleichs deutlich erkennbar ist, treten Konzentrationsprozesse unter den größten deutschen Unternehmen und grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen erst mit vollständigen Daten als weitere Dynamiken zu Tage. Verfolgt man die Unternehmen auch zwischen den Untersuchungszeitpunkten, so lassen sich mehr als 30 Unternehmensveränderungen identifizieren. Zum einen kam es zu einer Konzentration der Unternehmen durch Unternehmensübernahmen, Zusammenschlüsse und feindliche Übernahmen. Zum anderen kam es aber auch zu Unternehmensabspaltungen. Der am stärksten betroffene Sektor ist der Energiesektor (7), gefolgt von den Banken (6), Chemie (3) und den Versicherern (3). Die vergleichsweise große Anzahl von Unternehmensveränderungen im Energiesektor ist jedoch nicht einfach zu interpretieren, da dieser seit jeher ein staatsnaher Bereich gewesen und auch heute Gegenstand intensiver staatlicher Regulierungen ist. Zu klären, welche der Unternehmensveränderungen Folge veränderter Regulierungsvorgaben sind und inwieweit europäische Investitionen aus den kartellrechtlichen Beschränkungen des deutschen Marktes resultieren, würde den Rahmen des vorliegenden Artikels sprengen. Zudem sind hierzu noch weitere Studien über die deutsche und auch europäische Energiepolitik von Nöten. Die Unternehmensveränderungen im Energiesektor wie auch die im Bank- und Versicherungssektor verweisen jedoch beide auf einen Konzentrationsprozess unter den 100 größten Unternehmen: (1) die Übernahme der Eurohypo durch die Commerzbank nach deren Ausgliederung aus der Deutschen Bank und Allianz, (2) die Übernahme der Dresdener Bank im Jahr 2000 und die der Vereinten Versicherungen im Jahr 2002 durch die Allianz sowie (3) der Victoria Versicherung durch die Münchener Rück im Jahr 1997.

1.3.3 Europäisierung und Internationalisierung Eine dritte Dynamik ist die einer fortschreitenden Europäisierung bzw. Internationalisierung. Dies zeigt etwa die Übernahme der Colonia Versicherung durch die französische AXA wie auch die jüngste grenzüberschreitende Übernahme der Hypo Vereinsbank durch die Unicredito Italiano. Im Chemiesektor beobachten wir den Zusammenschluss von Hoechst und Rhône-Poulenc zu Aventis und deren Übernahme durch die französische Sanofi-Synthelabo (2004). Auch im Energiesektor finden sich grenzüberschreitende Unternehmensübernahmen, zum Beispiel die 152

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Übernahme von Bewag, Hamburger Elektrizität und VEAG durch die schwedische Vattenfall (2002). Außerhalb des Berichtshorizonts der deutschen Monopolkommission fallen auch internationale Merger wie die von Daimler und Chrysler, die Übernahme von Bankers Trust durch die Deutsche Bank und auch die Übernahme der British Powergene durch E.ON. Die Neuausrichtung der Unternehmen in einer durch Marktöffnung und Liberalisierung geprägten internationalen Wirtschaft, Wettbewerbsvorteile durch Unternehmenszusammenschlüsse im Sinne einer „economy of scales“ wie auch Expansionstrategien innerhalb des neu entstandenen europäischen Wirtschaftsraums sind damit die zugrundeliegenden Triebkräfte der Transformation des deutschen Unternehmenssystems. Der Abbau der Unternehmensverflechtungen durch die Banken ist dabei insofern zentral, weil hier ein langfristiges Koordinationssystem der deutschen Wirtschaft aufgehört hat, zu existieren.

2 . P e r s o n e n ve r f l e c h t u n g e n Da Kapitalverflechtungen je nach Höhe der Beteiligung mit unterschiedlichen Kontrollrechten einhergehen – etwa dem Recht, Mitglieder des Verwaltungs- oder Aufsichtsorgans zu bestellen (über 50% der Stimmrechte), der Möglichkeit, eine Sperrminorität auszuüben (25%) oder die Einberufung einer Gesellschaftsversammlung (10%) zu beantragen sowie korrespondierende Stimmrechtsanteile auf der Gesellschaftversammlung in Höhe des Anteilbesitzes auszuüben –, wächst mit der Höhe der Kapitalbeteiligungen auch die Wahrscheinlichkeit einer personellen Repräsentation der Anteilseigner in dem Aufsichtsgremium einer Gesellschaft. Die faktischen Koordinationspotentiale zwischen den Unternehmen lassen sich konkret durch eine Analyse der personellen Besetzungen der Aufsichtsräte einschätzen. Hier geht es darum, wer für wen Kontrollrechte in einem Zielunternehmen ausübt bzw. welche Personen Kontrollrechte in mehreren Firmen wahrnehmen und welche Firmen durch Personenverflechtungen verbunden sind. Der Grad der Personenverflechtungen kennzeichnet das Potential, auf hoher hierarchischer Ebene Aktivitäten zwischen Firmen zu koordinieren (vgl. hierzu Krenn sowie Sander in diesem Band). Die Motive für die Ausübung von Aufsichtsratsfunktionen stellen sich für die Finanzindustrie anders dar als für Industrieunternehmen. Erstere sind vor allem an dem Zugang zu Informationen interessiert, während sich letztere eine bessere Koordination von Lieferketten oder 153

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Absatzmärkten erhoffen. Diese Koordinationen gelten jedoch spätestens dann als problematisch, wenn es sich um die Koordination von Konkurrenzunternehmen in bestimmten Märkten handelt. Auch hinsichtlich der personalen Kumulation von Aufsichtsratsmandaten haben sich die formalen Beschränkungen im Laufe der Zeit gewandelt. So darf nach dem Aktiengesetz (1966) eine Person Mitglied des Aufsichtsrates nur bei höchstens zehn Gesellschaften mit gesetzlich vorgeschriebenem Aufsichtsrat sein (§ 100 Abs. 2 AktG). Die Daten der Monopolkommission berücksichtigen ausschließlich direkte personelle Verflechtungen, bei denen eine oder mehrere Personen gleichzeitig den Geschäftsführungs- und Kontrollorganen von mindestens zwei Unternehmen aus dem Kreis der ‚100 Größten‘ angehören. Ein Vergleich der Koordinationsnetze der Personenverflechtungen für 1996 und 2006 zeigt deutlich, dass auch die Personenverflechtungen stark abgenommen haben. So üben im Netz der Personenverflechtungen von 1996 insgesamt 42 Firmen 197 Kontrollmandate im Netz der einhundert größten deutschen Unternehmen aus. Davon werden allein 32 Mandate durch Vertreter der Deutschen Bank wahrgenommen.1 Die Dresdener Bank ist 1996 in 18 Aufsichtsgremien vertreten;2, die Allianz in 15 (Asea Br. Bov., BASF, Beiersdorf, Continental, Dresdner Bank, Linde, MAN, Mannesmann, Metallgesellschaft, Metro, Münchener Rück, RWE, Schering, Thyssen und VEBA), die VEBA in 13, die Commerzbank in 10, Siemens in 10 und die West-LB in 8 Unternehmen (vgl. Abbildung 4). Im Jahr 2006 sind die Personenverflechtungen überschaubarer geworden: 34 Unternehmen üben insgesamt 93 Kontrollmandate unter den einhundert Größten aus (vgl. Abbildung 5). Die Allianz ist in 9 Aufsichtsgremien vertreten, ThyssenKrupp und E.ON jeweils in 8, RWE in 6, Tui in 5, Siemens in 5 und die Commerzbank ebenfalls in 5 Unternehmen. Die Deutsche Bank übt im Jahr 2006 nur noch 4 Kontrollmandate aus.

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Zu den von ihr abgedeckten Unternehmen gehören: Asea Br. Bov., BASF, Bayer, Carl-Zeiss, Continental, Daimler-Benz, Deutz, Deutsche Lufthansa, Fresenius AG, Gerling, Henkel, Karstadt, Linde, Mannesmann, Metallgesellschaft, Münchener Rück, Nestle Deutschland, Philipp Holzmann, Rheinmetall, RWE, Schering, Siemens, Strabag, Südzucker, Thyssen, VEBA, VEW, Viag und VW. Hierzu gehören: AMB, Asea Br. Bov., Bilfinger Berger, Buderus, Continental, Daimler-Benz, Degussa, Fresenius AG, Henkel, Hoechst, ITT, Karstadt, Krupp, Metallgesellschaft, Nestle Deutschland, Rheinmetall, VEBA sowie VW.

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Abbildung 4: Personenverflechtungen 1996

Quelle: eigene Darstellung Abbildung 5: Personenverflechtungen der ‚100 Größten‘ 2006

Quelle: eigene Darstellung

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Betrachtet man die letzten fünf Hauptgutachten (1996: 101, 1998: 76, 2000: 64, 2002: 30, 2004: 30) hinsichtlich der Verflechtungen der Finanzdienstleister über Geschäftsführungsmitglieder in den Kontrollorganen der ‚100 Größten‘, zeigt sich wie bei den Kapitalverflechtungen eine stetig abnehmende Rolle der Finanzdienstleister im Netzwerk der personellen Verflechtungen. Hierfür können mehrere Erklärungen angeführt werden. Erstens führten verschiedene gesetzgeberische Maßnahmen zu einer Öffnung des deutschen Finanzmarktes, die schließlich mit der Steuerbefreiung der Verkäufe von Unternehmensbeteiligungen im Jahr 2002 einen vorläufigen Endpunkt gefunden hat. Dies führte zum einen zu einer Serie von Verkäufen von Unternehmensanteilen. So veräußerte etwa die Deutsche Bank Anteile an Buderus, Continental, Heidelberg Cement und Teile der Daimler-Beteiligungen, während sich die Allianz aus der Hypo Vereinsbank, AMB Generali sowie der MAN zurückzog und E.ON Anteile an VAW, Stinnes und Schmalbach Lubeka verkaufte. Zum anderen bewirkte sie erhebliche Veränderungen auf der Ebene der personalen Unternehmensverflechtungen. Zweitens verstehen sich Banken zunehmend als Finanzintermediäre. Ergab sich das unternehmensstrategische Interesse an personellen Verflechtungen und Kapitalbeteiligungen aus der Notwendigkeit einer Reduzierung des Kreditvergabe-Risikos, da sich über Aufsichtsratsmandate Informationen gewinnen lassen, die weit über die gesetzlichen Publikationspflichten hinausgehen, so entlastet eine Investmentorientierung Banken davon, mitunternehmerisch tätig zu werden (Windolf 2000). Banken können nunmehr als reine Vermittler auf dem Finanzmarkt agieren, während der externe Kapitalbedarf der Großunternehmen überwiegend durch den Aktienmarkt oder durch Unternehmensanleihen gedeckt wird (vgl. Beyer 2004, S.124f). Der mit dem Aufbau dieses neuen Kerngeschäfts eingeleitete Trend weg von direkten stabilen Industriebeteiligungen und hin zu indirekten Beteiligungen über Fonds hat die vormals engen Beziehungen zu den Industrieunternehmen entscheidend gelockert. So haben sich beispielsweise die Kontrollmandate der Allianz, die im Jahre 1996 noch in den Aufsichtsgremien von Asea Br. Bov., BASF, der Bayerischen Vereinsbank, Beiersdorf, Continental, Dresdner Bank, Linde, MAN, Mannesmann, Metallgesellschaft, Metro, Münchener Rück, RWE, Schering, Thyssen und VEBA vertreten war, im Jahr 2006 von 15 auf 9 Mandate reduziert. Auch die Allianz, die im Jahr 2006 noch vergleichsweise stark in den Aufsichtsgremien der ‚einhundert Größten‘ vertreten ist, hat sich somit von dem alten Modell der direkten Unternehmenskontrolle abgewendet. 156

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3. Resümee Die deutsche Unternehmenslandschaft ist lange durch ein komplexes Geflecht von Kapitalbeziehungen beherrscht worden. Im Zentrum dieser Netzwerke standen die Banken und Versicherer. Über die Jahre erwarben die Banken bedeutsame Anteile an den größten deutschen Unternehmen, was ihnen auch erlaubte, Mitglieder in Aufsichtsräte zu entsenden und Unternehmensentscheidungen zu beeinflussen. Erklärungsversuche für die Veränderungen der Kapitalverflechtungen in der deutschen Unternehmenslandschaft beziehen sich auf den abnehmenden Ertrag einer Unternehmenskontrolle durch Kapitalverflechtungen und die abnehmenden Informationsvorteile durch die damit einhergehenden Aufsichtsratsmandate. Ein sich international verschärfender Wettbewerb und die zunehmende Kontrolle durch die Kapitalmärkte, aber auch institutionelle Reformen, die eine größere Transparenz von börsennotierten Unternehmen zur Folge haben, schmälern den Gewinn eines Systems verflechtungsorientierter Unternehmenskontrolle durch die Banken. Der hohe Konkurrenzdruck durch die zunehmende Internationalisierung hat die Banken veranlasst, die durch die Kapitalverflechtungen gebundenen Kapitale effektiver zu investieren, gerade in Bereichen, die höhere Erträge erwarten lassen. Am deutlichsten kann dies etwa an der Neuausrichtung der Deutschen Bank nachvollzogen werden. Die Bank hat sich zum einen mit dem Investmentbanking und dem Privatkundengeschäft auf zwei Geschäftsfelder konzentriert, die unterschiedlichen Geschäftszyklen unterworfen sind, und hat zum anderen ihre vielfältigen Unternehmensbeteiligungen zugunsten von Investitionen in diese neuen Geschäftsfelder aufgelöst. In den Kontrollgremien der größten deutschen Unternehmen ist sie im Jahr 2006 nur noch als marginaler Akteur vertreten. Darüber hinaus deutet die große Anzahl von Unternehmensveränderungen auf anhaltende Konzentrationsprozesse unter den großen Unternehmen hin, die ihrerseits eine Vereinfachung der Beteiligungsstrukturen zur Folge haben. Grenzüberschreitende Unternehmensaktivitäten sind ein dritter Faktor, der die traditionelle Deutschland AG nachhaltig verändert hat. Die internationale Öffnung von Märkten und eine zunehmende Transparenz der Kapitalmärkte haben das System einer Netzwerkkontrolle durch die Banken obsolet werden lassen.

Literatur Beyer, Jürgen (2009): „Kein Weg zurück. Die Zukunft der Kapitalmärkte“. In: Forschungsmagazin 01/2009, S. 12-18. 157

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Die Mis c hung mac ht’s . Zur Be de utung von kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital bei Paul Reusch w ährend des Konzernaufbaus der Gute hoffnungs hütte (1918 -192 4) CHRISTIAN MARX

Während im Spektrum theoretischer Ansätze zur Erklärung von Unternehmensgründungen und unternehmerischem Erfolg vor allem dem „network approach to entrepreneurship“ eine zentrale Rolle zukommt, welcher im Wesentlichen gegenwartsnahe Zeiträume in den Blick nimmt, wird in dem folgenden Beitrag die Expansion eines Unternehmens im historischen Kontext des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts untersucht (Preisendörfer 2007). Das Unternehmen, die Gutehoffnungshütte (GHH) in Oberhausen, wandelte sich dabei von einem auf die Herstellung von Eisen und Stahl konzentrierten Betrieb zu einem mehrgliedrigen und vertikal integrierten Konzern. Grundlegend für die Verwendung des Netzwerkansatzes ist die Perspektive, das Unternehmen als soziales Handlungsfeld zu verstehen und die sich darin bewegenden Akteure nicht als autonom agierende und isolierte Entscheidungsträger, sondern als sozial eingebettete Personen zu begreifen (Granovetter 1985; Welskopp 1996). Die Art der Beziehungen und die Häufigkeit der Kontakte zu anderen Netzwerkteilnehmern können dabei für den Erfolg oder Misserfolg der Firma von entscheidender Bedeutung sein. Dem Unternehmer kommt in diesem Zusammenhang die Rolle eines Organisators und Koordinators von Ressourcen zu, der neue soziale Kontakte knüpfen 159

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und bestehende Beziehungen aktivieren muss. Neben den rein geschäftlichen Verbindungen können hierbei auch persönliche Netzwerkbeziehungen zur Gewinnung von Informationen genutzt werden und sie erleichtern oftmals den Zugang zu Ressourcen. Doch Netzwerke bringen nicht automatisch nur Vorteile mit sich, sie können auch beschränkend wirken und beispielsweise Innovationen verhindern; zugleich können Netzwerkbeziehungen nicht losgelöst von Machtrelationen und hierarchischen Strukturen betrachtet werden (Uzzi 1997). Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht das gesamte System der internen und externen Kontroll-, Lenkungs- und Überwachungsmechanismen der Gutehoffnungshütte vor dem Hintergrund des ego-zentrierten, geschäftsinternen Netzwerkes von Paul Reusch (1868-1956), der seit 1904 dem Vorstand angehörte und 1909 den dortigen Vorsitz übernommen hatte. Im Unterschied zu Netzwerkanalysen zur Gründung und zu dem sich daran anschließenden Erfolg von Unternehmen beschäftigt sich der folgende Aufsatz mit der Phase des Konzernaufbaus. Die Gründung des Unternehmens und die Etablierung einer Konzernstruktur lagen hier zeitlich weit auseinander, denn die GHH verfügte bereits über eine bis ins 18. Jahrhundert zurückreichende Firmentradition, welche gewisse Pfadabhängigkeiten nach sich zog. Im Folgenden wird nun untersucht, ob die Unternehmensführung in Form von Anweisungen und Instruktionen in der Phase des Konzernaufbaus auf den im institutionellen Gefüge der Unternehmensorganisation vorgesehenen Bahnen verlaufen ist oder ob essentielle Entscheidungen vielmehr durch das Netzwerk Paul Reuschs erklärt werden müssen, dessen Ordnung nicht notwendig kongruent zur hierarchisch gegliederten Unternehmensstruktur zu sein braucht. Auch wenn zwischen dem persönlichen Netzwerk des Vorstandsvorsitzenden und der personellen Struktur der Aktiengesellschaft durchaus Übereinstimmungen möglich sind, so können der gesamte Handlungsspielraum und damit die Bewertung der Entscheidungen nicht durch einen reduktionistischen Blick auf die Organisationsstruktur dargestellt werden, sondern bedürfen der quantitativen und qualitativen Hinzuziehung des sozialen Netzwerkes. In diesem Zusammenhang werden insbesondere der Wandel und die Evolution des geschäftsinternen Netzwerks dargestellt und es wird der Frage nachgegangen, inwieweit sich dadurch auch das Sozialkapital und das Ansehen des Unternehmers veränderten. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, ob der Vorstandsvorsitzende der Gutehoffnungshütte auf bestehende Beziehungen zurückgreifen konnte, welche neuen Akteure Mitglieder in seinem Netzwerk wurden und inwiefern Reusch neben seiner Position an der Spitze des Unternehmens über Eigenschaften verfügte, die ihn zu einem begehrten Ansprechpartner machten. Im anschließenden Teil wird 160

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nun kurz auf die Verwendung der Begriffe Sozialkapital und Netzwerk sowie die Datengrundlage eingegangen, bevor in Abschnitt 3 der Aufbau des GHH-Konzerns skizziert und die geschäftsinternen Netzwerke von Paul Reusch analysiert werden. In einem vierten Teil werden dann kulturelle Faktoren herausgearbeitet, welche ihm bei seinem unternehmerischen Handeln hilfreich waren und in enger Verbindung zu seinem sozialen Kapital zu sehen sind.

1. Sozialkapital, Netzwerk und Unternehmensführung Der Begriff des Sozialkapitals entwickelte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem zentralen analytischen Konzept der Sozialwissenschaften, das jedoch nicht auf deren Bereich beschränkt blieb, sondern auch in der Politik- und Geschichtswissenschaft eine breite Anwendung fand. Dabei wurde der Begriff oftmals in unterschiedlichen Variationen verwendet und verlor dadurch an Schärfe. Die Multioptionalität von Sozialkapital auf verschiedenen analytischen Ebenen und in diversen sozialen Zusammenhängen bewirkte zugleich eine Diffusität des Begriffs, die eine allgemeine Anwendung des Konzepts unmöglich und deshalb eine genauere Spezifizierung notwendig macht (Franzen/Freitag 2007: 9; Lin 2001a, 2001b). Coleman schlägt eine funktionalistische Definition von Sozialkapital vor, welche die Wirkung von sozialen Strukturen besonders hervorhebt (Coleman 1988; Coleman 1991). Hierbei ergibt sich jedoch das Problem, dass erstens Investitionen in Sozialkapital oftmals keinen spezifischen Zweck erfüllen, sondern in verschiedenen sozialen Kontexten eingesetzt werden können, und zweitens eine Unterscheidung zwischen dem investierten Einsatz und den mit dem vorhandenen Sozialkapital verfolgten Zielen nicht mehr möglich ist. Im Unterschied dazu weist Burt auf die strukturelle Bedeutung von Sozialkapital hin, d.h. nicht jede Beziehungsarbeit sei immer sinnvoll, vielmehr sei es entscheidend sich innerhalb eines Netzwerks strategisch zu positionieren (Burt 1995; 2001; 2008). Bourdieu hingegen bezeichnet Sozialkapital als die Gesamtheit von Ressourcen, die mit der Verfügung über ein stabiles Beziehungsnetz verbunden sind, und unterscheidet ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital als komplementäre Ressourcen, welche durch ihre intergenerationale Übertragung zur Reproduktion der Klassenstruktur und der damit verbundenen sozialen Ungleichheit genutzt werden können. Während Sozialkapital oftmals als zentrale gesellschaftliche Kollektivressource zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und Bildung von Solida161

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rität dargestellt wird, hebt Bourdieu zwei Komponenten des sozialen Kapitals hervor, über welche die einzelnen Mitglieder einer sozialen Klasse verfügen. Zum einen werde die Höhe des Sozialkapitals von der Größe des Netzwerks bestimmt, zum anderen sei die Masse des ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapitals der anderen Netzwerkmitglieder für das eigene soziale Kapital entscheidend. Strategische Investitionen in soziale Beziehungen zu einflussreichen Personen können somit wesentlich ertragreicher sein als Beziehungsarbeit zu Mitgliedern der Peripherie. Das kulturelle Kapital trete nicht nur in institutionalisiertem Zustand in Form von Bildungstiteln, sondern zudem als objektiviertes Kulturkapital in Gestalt von Büchern, Bildern oder anderen kulturellen Gütern sowie drittens in verinnerlichter, inkorporierter Verfassung auf. Darüber hinaus verweist Bourdieu auf die Möglichkeit zur wechselseitigen Transformation der verschiedenen Kapitalsorten, so dass eine Berücksichtigung der übrigen Kapitalsorten bei der Untersuchung sinnvoll ist (Bourdieu 1983). Auch wenn die Autoren den Begriff „Sozialkapital“ somit unterschiedlich verwenden, wird doch von Seiten der Sozialkapitaltheorie stets eine Brücke zu sogenannten sozialen Netzwerken und der Bedeutung von Vertrauen geschlagen, zwei Begrifflichkeiten, die in den letzten Jahren ebenfalls ubiquitären Charakter angenommen haben (vgl. Berghoff/Sydow 2007 sowie den Aufsatz von Johannes Marx in diesem Band). Die Bildung von Vertrauen zwischen Akteuren ermöglicht nicht nur Kooperation und verringert die Reibungsverluste zwischen den betreffenden Personen, sondern reduziert aus der Perspektive der Neuen Institutionenökonomik auch die Höhe der Transaktionskosten. Während Vertrauen grundlegend notwendig für gemeinsames Handeln und Kooperation ist, ermöglicht es im Unternehmen zudem den Abbau von funktionalen und/oder bürokratischen Kontrollformen und bindet die Akteure in die Handlungslogiken und Ordnungsstrukturen des Unternehmens ein (Berghoff 2004; Fiedler 2001; Luhmann 1989; Preisendörfer 1995; Wischermann 2003). Ferner können vertrauensvolle Beziehungen auf interorganisationaler Ebene zwischen verschiedenen Firmen aufgebaut werden, um gemeinsam auf dem Markt zu agieren oder strategische Allianzen einzugehen. Dabei agieren die Unternehmer vielfach in Netzwerken, welche auf reziproken Vertrauensbeziehungen beruhen und durch den gegenseitigen Austausch von Informationen gekennzeichnet sind. Im Unterschied zu Netzwerken von Unternehmern unterschiedlicher Firmen, die beispielsweise über die gemeinsame Mitgliedschaft in Aufsichtsräten, wirtschaftlichen Verbänden oder anderen Vereinen entstanden und aufgrund der spezifischen Wirtschaftskultur des kooperativen Kapitalismus in Deutschland eine zentrale Form im Aushandlungspro162

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zess einnahmen, kann man die innerbetrieblichen Netzwerkbeziehungen mit den formellen Leitungsstrukturen eines einzelnen Unternehmens kontrastieren (vgl. Gotto 2008: 227-228; Jansen 2002; Klaus 2002; Todeva/Knoke 2002 sowie den Aufsatz von Karoline Krenn in diesem Band). Der vorliegende Aufsatz untersucht systematisch das Netzwerkhandeln von Paul Reusch innerhalb der GHH-Gruppe, die sowohl die Stammbetriebe im Großraum Oberhausen als auch die angegliederten Tochterunternehmen umfasst. Indem die Analyse einen Längsschnitt über mehrere Jahre vornimmt, wird dem Defizit vieler statischer Netzwerkuntersuchungen begegnet, welche sich auf einen singulären Zeitpunkt beschränken und somit keine Aussagen über die Evolution und Dynamik eines Netzwerks treffen können. Auch wenn bei stark mathematisierten Modelluntersuchungen die Gefahr fehlender Anschlussfähigkeit besteht, so bietet die Netzwerkanalyse doch eine Vielzahl quantitativer und qualitativer Verfahren zur Klassifizierung von Gruppen, Cliquen oder einzelnen Netzwerkmitgliedern. Es ist jedoch entscheidend, die sich daraus ergebenden Maßzahlen auch in den politischen, sozialen und kulturellen Kontext der Akteure zu setzen und die bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zu berücksichtigen, um die strukturelle Einbettung der Akteure greifbarer zu machen. Die Betrachtung des Netzwerkshandelns ermöglicht dabei einerseits, die individuellen Handlungsmotive und den Handlungsspielraum von Paul Reusch, welcher durch seine Verfügungsrechte begrenzt war, zu beurteilen; andererseits wird dadurch die strukturelle Einbettung des Akteurs in das unternehmensinterne Netzwerk sichtbar. Die Erweiterung des lange Zeit auf den ökonomischen Aspekt reduzierten Kapitalbegriffs bietet hierbei eine Möglichkeit, den Einfluss des Vorstandsvorsitzenden zu konkretisieren. Der Nicht-Eigentümer Reusch kann durch den Rückgriff auf die von Bourdieu vorgeschlagenen Kapitalsorten, die nicht auf das ökonomische Vermögen begrenzt sind, deutlich besser erfasst werden als durch neoklassische Wirtschaftstheorien, die ihn auf seine Funktion als angestellten Manager reduzieren würden, oder durch Sozialkapitaltheorien, welche auf gesellschaftliche Kooperationsformen und Solidarität abzielen und soziales Kapital als gesellschaftliche Ressource darstellen. Als Datengrundlage für das geschäftliche Ego-Netzwerk von Paul Reusch dienten seine schriftlichen Korrespondenzen mit den Aufsichtsratsmitgliedern, den Aktionären, den Vorstandsmitgliedern und leitenden Beamten, den verschiedenen GHH-Abteilungen sowie den Tochterunternehmen der Gutehoffnungshütte in mehreren Stichjahren. Der ausgewertete Schriftwechsel befindet sich im Nachlass von Paul Reusch im

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Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv (RWWA) in Köln.1 Im Unterschied zu Gesamtnetzwerken, die meist aus vielen Akteuren bestehen, die oftmals auf seriellen Quellen wie Handbüchern oder Mitgliederlisten beruhen, kann man bei den hier ausgewerteten ego-zentrierten Netzwerken aufgrund der geringeren Akteurszahl die multiplexen Beziehungen zwischen den Netzwerkteilnehmern sowie die emotionale Nähe und die Stärke der Beziehungen besser erfassen. Im vorliegenden Fall wurde der Briefwechsel zwischen Paul Reusch und den verschiedenen Personen der Gutehoffnungshütte deshalb nicht nur quantitativ aufgenommen, vielmehr wurden die Briefe auch in zehn verschiedene Kategorien eingeordnet, um einen qualitativen Blick auf das Akteurshandeln zu ermöglichen. Dabei wurde zwischen den folgenden Bereichen differenziert: Personal (1), Finanzen (2), Organisation (3), Berichte (4), Innovation, Investition und Strategie (5), Persönliches (6), Politik (7), Aufträge und Bestellungen (8), Einladungen und Terminabsprachen (9) sowie Aktiengeschäfte (10). Auch wenn einige dienstliche Gespräche zwischen Reusch und den Vorständen der Gutehoffnungshütte sowie den Betriebsdirektoren der Oberhausener Werke mündlich stattgefunden haben, so wurden doch in der Regel alle bedeutsamen Angelegenheiten schriftlich festgehalten und spätestens seit dem Ausbau des Unternehmens, der mit der häufigen Abwesenheit Reuschs von Oberhausen einherging, waren auch die leitenden Direktoren am Stammsitz dazu gezwungen, mit Reusch in schriftlicher Form zu kommunizieren.2 Der Schriftwechsel spiegelt somit sowohl die wesentlichen inhaltlichen Aspekte der Unternehmensentwicklung wider als auch die Art und Weise, auf welche Reusch das Unternehmen auf den Expansionskurs nach dem Ersten Weltkrieg geführt und die gegebenen Leitungs- und Kontrollmechanismen innerhalb der Gutehoffnungshütte an den sich herausbildenden Konzern angepasst hat.

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Da eine komplette Auswertung des Bestands nicht möglich war, wurde der unternehmensinterne Schriftwechsel von Paul Reusch in den Stichjahren 1912, 1916, 1920, 1924, 1928, 1932, 1936, 1940 und 1944 jeweils in den ersten drei Monaten erfasst und in eine „Personen x Kategorien“-Matrix überführt. Hierzu wurde im Nachlass von Paul Reusch der Briefwechsel in 335 Akten gezählt. Paul Reusch und seine Vorstände nutzten während des gesamten Untersuchungszeitraums das Telefon nur recht selten; zudem wurden die Telefonate in der Regel durch einen schriftlichen Bericht bestätigt, da die Verbindung oftmals noch schlecht war.

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2 . D e r Au f b a u d e r G u t e h o f f n u n g s h ü t t e z u m K o n z e r n u n d d e r An s t i e g d e r Netzwerkbeziehungen bei Paul Reusch nach dem Ersten Weltkrieg Die Erweiterung der Gutehoffnungshütte zu einem weiterverarbeitenden Konzern setzte zwar in weiten Teilen erst nach dem Ersten Weltkrieg ein, doch Paul Reusch hatte bereits seit der Übernahme des Vorstandsvorsitzes im Jahre 1909 konsequent auf die Vergrößerung der Gutehoffnungshütte hingewirkt. Dabei folgte Reusch keiner exakt ausgearbeiteten Strategie, sondern ergriff vielmehr die Chancen, die sich ihm durch die Finanz- und Versorgungsprobleme der weiterverarbeitenden Industrie eröffneten. Insbesondere erwarb Reusch für die Gutehoffnungshütte einige ausländische Erzfelder in der Normandie und in Lothringen und vereinbarte eine Zusammenarbeit mit der niederländischen Handelsfirma Wm. H. Müller & Comp. bezüglich chilenischer Erzvorkommen. Durch diese Rückwärtsintegration hatte der Vorstandsvorsitzende bis 1913 zunächst die Rohstoffgrundlage des Unternehmens gesichert (vgl. Banken 2008: 119; Kerkhof 2006: 140-144; Maschke 1969: 75-82; RWWA 130300193006/19; Szymanski 1930: Teil I, 10-18 sowie die erscheinende Dissertation des Autors). Zugleich strukturierte er die Handelsorganisation der GHH um und beteiligte das Unternehmen an der Gründung der Franz Haniel & Cie. GmbH. Auf diese Weise profitierte die Gutehoffnungshütte direkt vom Absatz und Transport der Kohle auf dem durch das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat geregelten Markt (Banken 2008: 122-123; Franz Haniel & Cie. GmbH 2006: 194-195; Maschke 1969: 100-104; Stromberg 1993: 95-97; Szymanski 1930: Teil II, 1221). Während Reusch durch diese beiden Maßnahmen vor allem die Zugangsmöglichkeiten im Rohstoffbereich gesichert hatte, war er zugleich ab 1910 um eine deutliche Vergrößerung des Weiterverarbeitungsbereichs bemüht, um die entsprechenden „economies of scale and scope“ innerhalb der Gutehoffnungshütte verstärkt ausnutzen zu können. Im Gegensatz zu dem durch Kartelle und Syndikate stark reglementierten Kohlen- und Eisenmarkt sah Reusch hier deutliche Wachstumspotenziale und hoffte auf höhere Profitraten als im Rohstoffbereich (Chandler 1962, 1990). Die Gutehoffnungshütte verfügte mit dem Maschinenbau in Sterkrade schon im 19. Jahrhundert über einen recht umfangreichen Weiterverarbeitungsbereich und war hier traditionell stärker als andere Montanunternehmen tätig. Während die GHH jedoch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts lediglich über den inneren Ausbau der bestehenden Betriebe in und um Oberhausen gewachsen war, setzte Reusch schon kurz nach sei165

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ner Berufung zum Vorstandsvorsitzenden einen Kurswechsel durch, der auf die Unternehmensakquisition bestehender Firmen und eine noch stärkere Berücksichtigung der nachgelagerten Produktionsstufen ausgerichtet war. Die Expansion der Gutehoffnungshütte wurde durch die Übernahme des Gelsenkirchener Drahtwerks Boecker & Comp. eingeleitet. Nachdem sich Reusch durch mehrere Denkschriften über den Zustand des Unternehmens informiert hatte, schloss er im Oktober 1910 einen Gemeinschaftsvertrag mit der Firma Boecker ab und sicherte sich das Recht zu, bis 1919 das gesamte Kapital der Kommanditgesellschaft für die Gutehoffnungshütte zu übernehmen. Der zwischen Paul Reusch und Hermann Boecker ausgehandelte Vertrag bedurfte jedoch nicht nur der Zustimmung der Gesellschafter von Boecker & Comp., sondern auch der Generalversammlung der GHH. Mithin hielt Reusch den Aufsichtsratsvorsitzenden Franz Haniel ständig über die Entwicklung der Verhandlungen informiert. Reuschs Handlungsspielraum war somit zu diesem Zeitpunkt noch deutlich durch die Verfügungsrechte der Eigentümerfamilie beschränkt. Zwei Jahre nach Abschluss des Vertrages wurde die Firma 1912 als Werksabteilung in die Gutehoffnungshütte integriert, das Führungspersonal des angegliederten Unternehmens verblieb auf seinem Posten und Hermann Boecker stieg sogar zum stellvertretenden Vorstandsmitglied der GHH auf (Banken 2008: 120-121; Büchner 1935: 35; James 2005: 202; Maschke 1969: 82-88; RWWA 130-3001113/43; RWWA 130-3001113/44; RWWA 130-300193000/0: 01.05.1912; RWWA 130-3201012/4: 28.10.1912; Szymanski 1930: Teil III, 12-19). Sowohl beim Drahtwerk Boecker als auch bei der Altenhundemer Walz- und Hammerwerk GmbH, mit der Reusch gleichzeitig über eine engere Form der Zusammenarbeit verhandelte, ging die Initiative von den in Finanz- und Lieferschwierigkeiten geratenen oder mit Nachfolgeproblemen konfrontierten Weiterverarbeitungsunternehmen aus. Die Eigentümer des Altenhundemer Werks wollten vornehmlich ihre Rohstofflieferungen absichern und waren zunächst nicht an einem Verkauf ihres gesamten Unternehmens interessiert. Zwar wurde der Gutehoffnungshütte bereits 1911 eine Beteiligung gewährt, doch erst am Ende des Ersten Weltkriegs waren die Eigentümer vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Versorgungsprobleme zu einem endgültigen Verkauf bereit. Im April 1918 wurde das Werk als Abteilung in die GHH integriert (Maschke 1969: 90-96; RWWA 130-300193007/2; Stromberg 1993: 9798; Szymanski 1930: Teil III, 44-46). Während diese beiden Unternehmen noch in der Nähe des Oberhausener Stammsitzes angesiedelt waren, zeigen Reuschs Überlegungen zum Bau eines Hüttenwerks auf dem GHH-eigenen Minettevorkommen in Lothringen, dass Reusch die auf den inneren Ausbau der Oberhausener und Sterkrader Betriebsteile zie166

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lende Unternehmensstrategie als überholt ansah, sofern Transport- und Organisationskosten ein derartiges Vorhaben in Lothringen nicht unrentabel werden ließen (Maschke 1969: 76-77; Nievelstein 1993: 149-166, 218-219, 268-270). Zwar wurde das Projekt aufgrund des Ersten Weltkriegs nie realisiert, doch auch die Übernahme der Osnabrücker Kupferund Drahtwerk AG deutet in eine ähnliche Richtung: Schon 1914 hatte Reusch mit dem Unternehmen einen langfristigen Liefervertrag ausgehandelt. Als sich am Ende des Ersten Weltkrieges die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die weiterverarbeitende Industrie zusehends verschlechterten, machte das Osnabrücker Unternehmen der GHH das Angebot, sich über eine Kapitalerhöhung zu beteiligen, um auf diese Weise frisches, dringend benötigtes Kapital zu erhalten. Nachdem sich Paul Reusch durch Berichte von Hermann Boecker und Heinrich Klemme wiederum vom technisch und kaufmännisch einwandfreien Zustand der Firma überzeugt hatte, stimmte er einer Angliederung grundsätzlich zu und sicherte sich mit einer 55prozentigen Beteiligung die Verfügungsrechte über das Unternehmen. Auch während dieser Verhandlungen informierte Reusch den Aufsichtsratsvorsitzenden Franz Haniel ständig über seine nächsten Schritte. Neben Reusch wurde Karl Haniel, der künftige Aufsichtsratsvorsitzende der Gutehoffnungshütte, in das Kontrollgremium des Osnabrücker Unternehmens gewählt; zugleich wurden damit die Ansprüche der Eigentümerfamilie nach einem entsprechenden Mitspracherecht berücksichtigt (James 2005: 202; Maschke 1969: 96-97; Matschoss 1923; RWWA 130-300193000/5: 05.11.1919, 15.11.1919; RWWA 130-300193003/3: 19.10.1919; Szymanski 1930: Teil III, 19-26). Zum einen profitierten die angegliederten Unternehmen von der dauerhaften Belieferung mit Waren von gleichbleibender Qualität und sparten sich Informations- und Suchkosten auf dem freien Wettbewerbsmarkt. Zum anderen war es Reusch vor dem Hintergrund der bestehenden Kartellverträge gelungen, den Absatz der Eisen und Stahl produzierenden Gutehoffnungshütte auf Dauer zu erhöhen, damit eine bessere Auslastung der bestehenden Kapazitäten zu gewährleisten und die Profite der weiterführenden Produktionsschritte in die GHH zu verlagern. Umgekehrt erhöhten sich jedoch die internen Organisationskosten, da die Expansion des Unternehmens von einer Vielzahl interner Abstimmungsprobleme und einem wachsenden Koordinationsbedarf begleitet wurde. Der Anstieg der Organisationskosten und die damit verbundenen Schwierigkeiten verdeutlichten die organisatorischen Defizite der eingliedrigen Unternehmensstruktur, welche auf die Betriebe in Oberhausen und Sterkrade zugeschnitten war. Ein Grund dafür war die zu diesem Zeitpunkt fehlende leistungsfähige Konzernstruktur, die Reusch vom or167

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ganisatorischen Standpunkt aus die Eingliederung weiterer Unternehmen erleichtert hätte. Diese Unternehmensstruktur wurde erst Mitte der 1920er Jahre aufgebaut. Die Übernahme des Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerks diente Reusch zugleich als Blaupause für weitere Angliederungen nach dem Ersten Weltkrieg. Bei den angegliederten Unternehmen verfolgte der Vorstandsvorsitzende mehreren Prinzipien: Erstens wurden das Führungspersonal der übernommenen Firmen nicht ausgetauscht, sondern verblieb in seiner Stellung; zweitens behielten diese Unternehmen ihre rechtliche Selbständigkeit in Form einer Aktiengesellschaft und drittens sicherte sich Reusch seine Verfügungsrechte über die verschiedenen Betriebe durch eine Mehrheitsbeteiligung der Gutehoffnungshütte sowie seine Präsenz im Aufsichtsrat der verschiedenen Tochterunternehmen. In der Endphase des Ersten Weltkrieges setzte bei der Gutehoffnungshütte ein beschleunigter Wachstumsprozess ein. Nach dem Verlust der Grundstücke und Anlagen in der Normandie und Lothringen stand Reusch vor der Herausforderung, die Gutehoffnungshütte strategisch neu auszurichten. Hierfür fehlte dem Unternehmen einerseits infolge der Kriegsereignisse jedoch der Zugang zu internationalen Märkten, andererseits waren die inländischen Absatzchancen durch Kartell- und Syndikatsabsprachen beschränkt. In dieser Situation entschloss sich Reusch das Oberhausener Unternehmen noch stärker im Weiterverarbeitungsbereich zu positionieren, da er hier deutlich höhere Entwicklungsmöglichkeiten und Gewinnspannen erwartete. Vorraussetzung für diese Orientierung waren vor allem die erwirtschafteten Kriegsgewinne sowie die Entschädigungszahlungen für den verlorenen Besitz in Lothringen und der Normandie, welche die „Kriegskasse“ der GHH aufgefüllt hatten (Bähr 2008b: 231-233; Banken 2008: 121-122, 129). Neue Partner wurden die HAPAG (Albert Ballin) und die AEG (Walther Rathenau), die bereits 1916 die Hamburger Werft gegründet hatten, um die Angebotslücke im Schiffbau, die durch den Ersten Weltkrieg entstanden war, zu schließen. Um das Unternehmen zu vergrößern, benötigten sie jedoch einen kapitalkräftigen Partner. Paul Reusch erfasste die Chance zur Beteiligung der Gutehoffnungshütte. Auch in diesem Fall ließ Reusch durch das GHH-Management eine Denkschrift über den zu erwartenden Erfolg anfertigen, welche zudem den Aufsichtsrat der GHH überzeugte und den Weg für konkrete Verhandlungen eröffnete. Hierbei erwies sich Reusch gegenüber den Vertretern der anderen Unternehmen als harter Verhandlungspartner. Walther Rathenau und Paul Reusch kannten sich insbesondere von ihrer Tätigkeit bei der Kriegsrohstoffabteilung. Dem Vorstandsvorsitzenden der GHH gelang es, für die Gutehoffnungshütte eine Mehrheitsbeteiligung von 51 Prozent durchzusetzen 168

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und gleichzeitig eine Majorität der beiden anderen Großaktionäre AEG und HAPAG im Aufsichtsrat zu verhindern. Von Seiten des GHH-Managements wurden Arnold Woltmann und Otto Wedemeyer sowie Johann W. Welker von Franz Haniel & Cie. in den Aufsichtsrat des neuen Unternehmens entsendet; die Ansprüche der Eigentümerfamilie Haniel wurden durch die Präsenz von Richard und Karl Haniel im Kontrollgremium der neuen Werft berücksichtigt (Bähr 2008b: 232; Claviez 1961: 2-15; ders. 1968: 9-18; Joest 1982: 142; Maschke 1969: 106-114; RWWA 130-300193012/0: 03.03.1918; RWWA 130-300193003/5: 04.03.1918; RWWA 130-4001028/15: 15.11.1930). Im Juni 1918 wurde die Deutsche Werft AG mit einem Aktienkapital von nominell zehn Millionen Mark gegründet, wobei die GHH 51 Prozent, die AEG 39 Prozent und die HAPAG zehn Prozent hielten (Claviez 1961: 17-20, 45-48; ders. 1968: 19-20, 41-42; Maschke 1969: 114-115; RWWA 130-300193012 /2: 29.08.1918/13.09.1918; Szymanski 1930: Teil III, 29-36). Paul Reusch hatte das Oberhausener Montanunternehmen damit entscheidend erweitert und bei der GHH eine neue Größendimension in Bezug auf ihre Unternehmensbeteiligungen eröffnet. Im Vergleich mit den übrigen bis dahin angegliederten Unternehmen stellte die Deutsche Werft die mit Abstand größte Tochtergesellschaft dar und war zudem noch durch seine deutliche geographische Distanz zum Stammsitz gekennzeichnet. Dies machte eine direkte Steuerung der Werft innerhalb der bestehenden Unternehmensorganisation unmöglich. Nur die auf die Selbständigkeit der neuen Aktiengesellschaft ausgerichtete Unternehmenspolitik Reuschs bot die Möglichkeit eine dauerhafte Verbindung zwischen Hamburg und Oberhausen herzustellen. Zugleich forderte Reusch jedoch regelmäßige Berichte über den Auftrags- und Beschäftigtenbestand sowie die anfallenden Kosten und stellte damit sicher, ständig über die Entwicklung des Unternehmens informiert zu sein. Bei Bedarf konnte er aufgrund seiner Stellung im Aufsichtsrat und der gegebenen Kapitalverhältnisse jederzeit auf die Geschäftsführung einwirken. Hier wird besonders deutlich, dass Reusch einen dezentral organisierten Konzernverbund mit einem auf ihn ausgerichteten Informations- und Berichtsnetzwerk schaffen musste, um ein überregionales Unternehmen dauerhaft zu etablieren und dabei keine Kontrollverluste zu erleiden.3 3

Aufgrund des gestiegenen Nietenbedarfs durch die Deutsche Werft wurde ferner die Nietenfabrik Ludwig Möhling übernommen und in die GHH integriert; zudem wurde die ebenfalls im Besitz der Familie Haniel befindliche Firma Haniel & Lueg in die GHH eingefügt (Büchner 1935: 90-92; Haniel & Lueg 1924; Maschke 1969: 116-119, 125-129; RWWA 1303001113/39 Vorverhandlungen betr. offene Handelsgesellschaft Ludwig Möhling in Schwerte [1919-1920] sowie Szymanski 1930: Teil III, 46-58). 169

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Der Vorstandsvorsitzende der Gutehoffnungshütte begnügte sich allerdings nicht mit der Beteiligung an der Deutschen Werft, vielmehr setzte er den eingeschlagenen Expansionskurs nun in die geographisch andere Richtung fort und gliederte in den nächsten Jahren eine Reihe von Weiterverarbeitungsunternehmen in Süddeutschland an. Ihm gelang es zunächst die Gutehoffnungshütte an der Eisenwerk Nürnberg AG vorm. J. Tafel & Co. zu beteiligen. Im ständigen Kontakt mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der GHH, August Haniel, setzte Reusch hier bis zum Sommer 1919 nicht nur eine 81prozentige Beteiligung der GHH durch, um die entsprechenden Syndikatsbestimmungen zu erfüllen und die GHH-Lieferungen als Selbstverbrauch anerkannt zu bekommen, er erreichte zudem, dass der Gutehoffnungshütte die Sitz- und Stimmenmehrheit im Aufsichtsrat zugestanden wurde. Neben seiner eigenen Person traten nun Arnold Woltmann und Otto Holz vom GHH-Management sowie Karl und Franz Haniel als Vertreter der Eigentümerfamilie in das Kontrollgremium des Nürnberger Eisenwerks ein. Der bisherige Vorstand, Lambert Jessen, verblieb wiederum in seiner Stellung, wurde zu einer Vertrauensperson Reuschs im süddeutschen Raum und unterstützte ihn im Folgenden bei weiteren Unternehmensakquisitionen (Bähr 2008b: 233-234; Büchner 1935: 93; Eisenwerk Nürnberg 1925; Maschke 1969: 134-137; RWWA 130-300193000/5: 05.06.1919; Szymanski 1930: Teil III, 64-68). Der Ausbau des Unternehmens und die Angliederung neuer Betriebsteile erhöhten nun die internen Organisationskosten und machten eine Vielzahl von Absprachen zwischen den einzelnen Werksteilen notwendig. Dabei mussten sowohl Produktionsgebiete voneinander abgegrenzt als auch Liefervereinbarungen innerhalb des Konzerns ausgehandelt werden. Die geographische Distanz zwischen den einzelnen Unternehmen erforderte zudem eine ausgedehnte Reisetätigkeit des Vorstandsvorsitzenden Paul Reusch, dessen Termine jetzt nicht mehr nur mit den Verpflichtungen der Oberhausener Betriebsdirektoren in Einklang gebracht, sondern auch mit den Vorständen und Aufsichtsräten der Tochtergesellschaften abgesprochen werden mussten. Hierbei veränderte sich die Rolle Reuschs innerhalb der Gutehoffnungshütte: Der im Januar 1920 zum Generaldirektor ernannte Paul Reusch musste sich nun verstärkt Koordinationsproblemen zwischen den einzelnen Produktionsstätten zuwenden. Zwar steuerte er das Gesamtunternehmen weitestgehend über das von ihm eingerichtete Berichts- und Informationssystem, doch besuchte er die verschiedenen Unternehmen durchaus regelmäßig und weitete seine Reisetätigkeit erheblich aus. Zudem bewirkte er, dass die Aufsichtsratssitzungen der verschiedenen Unternehmen an unterschiedlichen Betriebsstandorten stattfanden und versuchte auf diese Weise, ei170

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ne bessere Integration der einzelnen Unternehmensteile zu gewährleisten. Gleichzeitig wurde der Vorstand der GHH nach dem Ersten Weltkrieg deutlich umgebildet und erweitert. Die stellvertretenden Vorstandsmitglieder Woltmann, Kellermann, Holz, Boecker und Wedemeyer wurden zu ordentlichen Mitgliedern ernannt sowie Bohny, Funcke, Mayer-Etscheit, Romeiser und Schmerse als stellvertretende Mitglieder berufen. Der Vorstandsvorsitzende unterhielt sowohl zu den neuernannten ordentlichen Vorstandsmitgliedern als auch zu den stellvertretenden Mitgliedern des Vorstands Karl Dunkelberg und Ernst Lueg sowie den Betriebsdirektoren Friedrich Bohny, Paul Schmerse, Wilhelm Funcke und Jakob Walther ständigen Kontakt. Über Wochen-, Monats-, Halbjahres- und Jahresberichte aus den einzelnen Abteilungen pflegte Reusch enge Beziehungen zu den beiden oberen Führungsebenen der ordentlichen und stellvertretenden Vorstandsmitglieder und verfügte dadurch über hinreichende Kenntnisse der Unternehmensentwicklung, um bestimmte Aufgabenbereiche delegieren zu können ohne Kontrollverluste hinnehmen zu müssen. Die Informationskanäle und Kontrollbeziehungen zwischen Reusch und den anderen Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern werden bei der Betrachtung des ego-zentrierten Netzwerks im Folgenden besonders deutlich. Im ersten Quartal 1920 befanden sich neben Paul Reusch weitere 32 Personen in seinem ego-zentrierten, internen Geschäftsnetzwerk und stellten insgesamt 286 Kontakte über Briefe her. Im Vergleich zu 1916 erhöhte sich damit nicht nur die absolute Personenanzahl, sondern auch die Zahl der durchschnittlichen Kontakte zwischen Reusch und den übrigen Mitgliedern des Netzwerks. Den Anstieg der Netzwerkmitgliederzahl kann man vor allem auf die Erweiterung der Gutehoffnungshütte und die Angliederung neuer Produktionsstätten zurückführen. Das geschäftsinterne Netzwerk wurde nun durch neue Akteure wie Lambert Jessen (Eisenwerk Nürnberg), August Trick (Eisenwerk Nürnberg), Theodor von Cramer-Klett (Eisenwerk Nürnberg), Paul Jordan (AEG), Felix Deutsch (AEG) oder Walther Rathenau (AEG) ergänzt. Die gleichzeitige Mitgliedschaft Reuschs und anderer einflussreicher Unternehmer, die eine exponierte Stellung in der deutschen Wirtschaftselite einnahmen, im Aufsichtsrat des Eisenwerks Nürnberg oder der Deutschen Werft erhöhte wiederum das soziale Kapital und das Ansehen des GHHVorstandsvorsitzenden über das eigene Unternehmen hinaus.4 4

Von den 286 Beziehungen gingen 111 auf Briefe von anderen Netzwerkmitgliedern an Reusch und 175 auf Schreiben von Reusch an jene zurück. Durchschnittlich hatte Paul Reusch 8,94 Kontakte zu den anderen Personen seines Netzwerks im Jahr 1920. Im Stichjahr 1916 befanden sich hin171

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Abbildung 1: Geschäftsinternes Netzwerk von Paul Reusch im ersten Quartal 1920

Quelle: eigene Darstellung Eine besonders zentrale Position im Netzwerk nahm der Aufsichtsratsvorsitzende August Haniel ein, mit dem Reusch, wie schon zu seinem Vorgänger Franz Haniel, eine enge, multiplexe Beziehung unterhielt. Reusch informierte August Haniel regelmäßig über die Entwicklung der Gutehoffnungshütte und war insofern bis 1919/20 in seinem Handlungsspielraum noch durch die Vorgaben der Eigentümerfamilie eingeschränkt. Bald agierte er jedoch zunehmend eigenständiger und ohne ständig Rücksprache mit den Eigentümern zu halten. Dieser Prozess ging parallel mit der Ernennung zum Generaldirektor einher. Im Unterschied dazu hatte Reusch zu den anderen Mitgliedern des Aufsichtsrats und den übrigen Aktionären selbst in der Phase des beschleunigten Wachstums von 1918 bis 1922 kaum Kontakt (James 2005: 213-215). In diesem Zeitraum rückten neben August Haniel vor allem die Direktoren der Deutschen Werft, William Scholz und Ernst Warnholtz, in das Zentrum des Netzwerks. Reusch hatte zu ihnen nicht nur häufig Kontakt, sondern korrespondierte mit ihnen auch über fast alle oben aufgeführten Kategorien (vgl. Abbildung 1).5 Auch wenn Reusch von den

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gegen erst 22 Alteri im Netzwerk, welche durchschnittlich nur 6,86 Kontakte zum GHH-Vorstandsvorsitzenden hatten. Die Summe der Kontakte über den Briefwechsel hatte 1916 nur 151 betragen. Es handelt sich hierbei um ein Two-mode-network, das sich aus den oben angegebenen zehn Kategorien (Vierecke) sowie den Personen (Kreise) im Netzwerk von Paul Reusch (schraffierter Kreis) zusammensetzt. Die Beziehungen zwischen den Personen bestehen somit über die in Kategorien

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KULTURELLES, ÖKONOMISCHES UND SOZIALES KAPITAL BEI PAUL REUSCH

Werksdirektoren der Gutehoffnungshütte regelmäßige Berichte über die wirtschaftliche Situation und den Leistungsstand der Abteilungen forderte, rückte diese Personengruppe immer stärker an die Peripherie des egozentrierten Netzwerkes. Dies rührte daher, dass Reusch sich speziell der Aufgabe widmete, die Produktionsabläufe der Deutschen Werft optimal in die Strukturen der Oberhausener Gesellschaft einzupassen. Dies spiegelt sich besonders im Ausmaß und in der Intensität der Korrespondenz wider. Scholz und Warnholtz informierten Reusch nicht nur über neue Preisabsprachen und Lieferbeziehungen, sondern teilten ihm auch ständig die Finanzlage und den Auftragsbestand mit. Die Organisationskosten und die überregionale Struktur wurden nun in der anwachsenden Korrespondenz innerhalb der GHH zwischen Hamburg, Osnabrück, Oberhausen und Nürnberg deutlich. Während im Vergleich zu 1916 Personalfragen im 1920er Netzwerk weiterhin eine untergeordnete Rolle spielten und die von Reusch geforderten Berichte sowie Organisationsfragen nach wie vor von hoher Bedeutung waren, erhöhte sich der Anteil der Briefe, die Terminabsprachen beinhalteten. Der Generaldirektor mischte sich in der Regel nicht in Personalentscheidungen auf der unteren oder mittleren Ebene der Beamten und Arbeiter ein, sondern überließ diese Entscheidungen den entsprechenden Betriebsdirektoren. Die Unternehmensakquisitionen machten eine Vielzahl von Besprechungen und Regelungen über die Abstimmung der einzelnen Werke notwendig, zumal eine übergeordnete Koordinationsabteilung zunächst noch nicht vorhanden war. Zwar überließ Reusch dem Führungspersonal der einzelnen Unternehmensteile ein hohes Maß an Selbständigkeit, um zu einer beidseitigen Verständigung zu gelangen. Er intervenierte jedoch im Konfliktfall, da er diese Aufgabe nicht an eine schlichtende Konzernstelle oberhalb der Tochtergesellschaften weiterleiten konnte.6

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eingeteilten Briefe. Die Stärke der Verbindungslinien gibt die entsprechende Beziehungsstärke (Person-Kategorie) an; die Größe der Kreise richtet sich nach der Gesamtzahl der Briefe zwischen Reusch und den jeweiligen Alteri, das Ausmaß der Vierecke bemisst sich nach der Gesamtzahl der Briefe mit der jeweiligen Kategorie. Der GHH-Aufsichtsratsvorsitzende August Haniel und die beiden Direktoren der Deutschen Werft bildeten 1920 sowohl hinsichtlich der Anzahl der erfüllten Kategorien als auch im Hinblick auf die Anzahl der Kontakte über Briefe die „top three“ des Netzwerks. Der Anteil an Briefen zu Finanzfragen war 1920 rückläufig, da das Unternehmen finanziell gut aufgestellt war; hingegen nahmen Aktiengeschäfte mit fast 10 Prozent einen im Vergleich zu anderen Stichjahren bedeutenden Platz ein. Einige Aktionäre hatten kein Geld für eine Aktienkapitalerhöhung oder mussten Steuerschulden begleichen und waren nach dem Ersten Weltkrieg deshalb am Verkauf ihrer Aktien interessiert 173

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Der Einstieg beim Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk sowie beim Eisenwerk Nürnberg kennzeichneten die von Reusch ausgegebene Marschroute zum Umbau der GHH zu einem diversifizierten und vertikal integrierten Konzern mit rechtlich selbständigen Tochtergesellschaften. In den Jahren 1920/21 gelang es Paul Reusch, die traditionsreiche Maschinenfabrik Esslingen zu übernehmen sowie die GHH an dem Familienunternehmen Fritz Neumeyer AG und an den neu gegründeten Schwäbischen Hüttenwerken zu beteiligen. Die Maschinenfabrik Esslingen litt nach dem Ersten Weltkrieg unter einem deutlichen Rohstoffmangel und finanziellen Engpässen. In Anbetracht der wirtschaftlichen Lage der Maschinenfabrik blieb dem Esslinger Unternehmen letztlich keine andere Wahl als Reuschs Angebot zu akzeptieren, das eine Mehrheitsbeteiligung von 51 Prozent vorsah (Bähr 2008b: 234-235; Büchner 1935: 93-95; Maschke 1969: 137-140; Szymanski 1930: Teil III, 71-80).7 Im Februar 1921 konnte ferner ein Vertrag zwischen der GHH und der Fritz Neumeyer AG abgeschlossen werden, der das Ruhrunternehmen an dem süddeutschen Betrieb beteiligte (Bähr 2008b: 235-236; Büchner 1935: 96-97; Maschke 1969: 167-170; Szymanski 1930: Teil III, 100-108). Zeitgleich organisierte Reusch die Gründung der Schwäbischen Hüttenwerke GmbH durch den württembergischen Staat und die Gutehoffnungshütte. Diese Beteiligung eröffnete dem Oberhausener Unternehmen den Zugang zu den württembergischen Doggererzen und kompensierte teilweise die in Lothringen und der Normandie verlorenen Erzfelder (Bähr 2008b: 234-235; Büchner 1935: 97; Fliegauf 2007; Maschke 1969: 170174; Szymanski 1930: Teil III, 108-114). Der größte Coup in Süddeutschland gelang Paul Reusch jedoch durch die Übernahme der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (M.A.N.). Der Generaldirektor der GHH kannte den langjährigen Vorstandsvorsitzenden der M.A.N., Anton von Rieppel, und den Aufsichtsratsvorsitzenden der M.A.N., Theodor von Cramer-Klett, bereits aus ihrer gemeinsamen Aufsichtsratstätigkeit beim Eisenwerk Nürnberg. Die M.A.N. war nach dem Ersten Weltkrieg in schwere finanzielle Schwierigkeiten geraten. Der Vorstand der M.A.N. bekam jedoch zunächst die Anweisung, mit der von Hugo Stinnes kontrollierten Rheinelbe-Union zu verhandeln. Während Rieppel einer Kooperation mit Stinnes durchaus aufgeschlossen gegenüberstand, lehnte die Mehrheit des M.A.N.Vorstands eine solche Verbindung ab. In dieser Situation entwickelte sich ab August 1920 eine engere Zusammenarbeit zwischen der M.A.N. und der Gutehoffnungshütte als Alternativmodell. Der Vorstand des Ei7

Vgl. zur Maschinenfabrik Esslingen auch Hentschel (1977), Kochendörfer (1975) sowie Schomerus (1977).

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KULTURELLES, ÖKONOMISCHES UND SOZIALES KAPITAL BEI PAUL REUSCH

senwerks Nürnberg und Reusch-Vertraute Lambert Jessen stellte nun den Kontakt zwischen Reusch und den anderen M.A.N.-Vorständen her und im Oktober 1920 gelang es Paul Reusch den Aufsichtsratsvorsitzenden der M.A.N. zum Verkauf eines größeren Aktienpakets zu bewegen. Reusch und Cramer-Klett einigten sich schließlich auf dem württembergischen Landgut des GHH-Vorstandsvorsitzenden, dem Katharinenhof bei Backnang, auf die endgültigen Bestimmungen. Rieppel war hingegen der Ansicht, seine Kollegen im M.A.N.-Vorstand und der Aufsichtsratsvorsitzende der M.A.N. hätten ihn hintergangen, und trat am Ende des Jahres zurück. Gleichzeitig wurde Richard Buz, dessen Großvater Carl Buz die Maschinenfabrik Augsburg gegründet hatte, als sein Nachfolger ernannt (Bähr 2008a; ders. 2008b: 240-244; Bosl 1991; Büchner 1935: 95-96; ders. 1940: 19-157; Feldman 1977: 213-231; ders. 1984; ders. 1998: 656-659; James 2005: 204-206; MAN-HA 1.3.1.3: 07./08. 071920; MAN-HA N 116.3: 02.11.1920; Maschke 1969: 141-151; RWWA 130-300193017/2: 14.09.1920; Szymanski 1930: Teil III, 8188.). Reusch verfügte jedoch Ende des Jahres 1920 nur über eine Minderbeteiligung von einem Drittel des Stammkapitals bei der M.A.N. und bemühte sich deshalb bald um eine Erhöhung des GHH-Anteils. Er übernahm zunächst ein größeres Aktienpaket eines Schweizer Industriellen und beauftragte danach Lambert Jessen auf dem freien Markt weitere M.A.N.-Anteile zu erwerben. Im Juli 1921 hatte Paul Reusch sein Ziel schließlich erreicht und die Mehrheit der M.A.N.-Aktien in seinem Besitz, woraufhin er weitere Ankäufe einstellen ließ. Neben seiner eigenen Person wurde noch Karl Haniel als Vertreter der Eigentümerfamilie in den Aufsichtsrat der M.A.N. gewählt. Die Machtansprüche Reuschs und der Einfluss der GHH waren damit über den Kapitalbesitz hinreichend gesichert (Bähr 2008b: 244-245; Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften: 1919-1921; James 2005: 206-207; Maschke 1969: 151-156; RWWA 130-300193017/2; RWWA 130-300193017/3; Szymanski 1930: Teil III, 88-89). Durch die Übernahme der Zahnräderfabrik Augsburg und der Deggendorfer Werft vergrößerte Reusch das Spektrum der süddeutschen Unternehmensbeteiligungen weiter und entwickelte das Montanunternehmen aus dem Ruhrgebiet zugleich zu einem bedeutenden Weiterverarbeiter und Maschinenbauer in Süddeutschland. Die Erweiterung des Unternehmens ging jedoch nicht mit dem gleichzeitigen Aufbau einer leistungsfähigen Konzernstruktur einher und führte deshalb zu den bereits angesprochenen Organisationsdefiziten bei der Koordination der verschiedenen Unternehmensbereiche. Erst infolge der drohenden Ruhrbesetzung wurde der Sitz des Unternehmens nach Nürnberg verlagert, eine neue Gesellschaft für die im Ruhrgebiet gelegenen Produktionsstätten 175

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gegründet (GHH Oberhausen AG) und der bestehende GHH Aktienverein in eine Holdinggesellschaft umgewandelt. Darüber hinaus wurde eine Konzernstelle etabliert, welche regelmäßige Konzernsitzungen unter Beteiligung der verschiedenen Abteilungen und Tochterbetriebe durchführte, sowie eine konzernweite Revisionsstelle geschaffen. Mit diesem Maßnahmenbündel hatte Paul Reusch bis Mitte der 1920er Jahre bei der Gutehoffnungshütte den während der Expansionsphase angestauten organisatorischen Nachholbedarf hinter sich gelassen und eine angemessene Unternehmensorganisation installiert. Zudem implementierte er in Berlin ein eigenes GHH-Büro unter Martin Blank, der ihn regelmäßig mit Berichten über die politische Entwicklung und die Tätigkeit der verschiedenen Wirtschaftsorganisationen aus der Hauptstadt versorgte (Bähr 2008b: 236-239, 258; Büchner 1935: 98; Maschke 1969: 174-178, 187-188; RWWA 130-300104/15: 06.11.1926; RWWA 130-30019302 4/1; RWWA 130-300193024/2; RWWA 130-300193024/3; Szymanski 1930: Teil III, 114-120). Die Expansion der Gutehoffnungshütte erhöhte die internen Organisationskosten des Unternehmens deutlich und schlug sich ebenso im geschäftsinternen Netzwerk des Vorstandsvorsitzenden nieder. Die Anzahl der im geschäftsinternen Netzwerk identifizierten Personen verdoppelte sich im Vergleich zu 1920 nahezu von 33 auf 64 und bei der Zahl der über Briefe hergestellten Kontakte kam es sogar zu einer Verdreifachung von 286 auf 874. Dies hatte zur Folge, dass auch die durchschnittlichen Kontakte pro Person nochmals anstiegen.8 Der Bereich der Terminabsprachen gewann in dem weitverzweigten und geographisch breit aufgestellten Konzern mit über 20 Prozent weiter an Bedeutung, während die Kategorien Finanzen, Berichte und Organisation ihre zentrale Stellung weitestgehend behielten. Dieses Ergebnis ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Gutehoffnungshütte 1924 noch von den Auswirkungen der Hyperinflation betroffen war; zum anderen mussten in organisatorischer Hinsicht weiterhin noch Absprachen über Lieferbeziehungen und die Abgrenzung von Produktionsprogrammen zwischen den neuen und alten Betrieben getroffen werden. Aktienangelegenheiten nahmen in dem nun weitgehend konsolidierten Unternehmen hingegen im Vergleich zu 1920 eine geringere Bedeutung ein. Der Bereich des persönlichen Schriftwechsels erhöhte sich zwar 1924 und deutet auf die Intensivierung der Beziehungen zwischen Reusch und den Alteri hin, dennoch nahm er insgesamt einen geringen Anteil ein.

8

Während jede Person des Netzwerks 1920 durchschnittlich 8,94 Kontakte mit Paul Reusch hatte, erhöhte sich dieser Wert 1924 auf 13,87.

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KULTURELLES, ÖKONOMISCHES UND SOZIALES KAPITAL BEI PAUL REUSCH

Abbildung 2: Geschäftsinternes Netzwerk von Paul Reusch im ersten Quartal 1924

Quelle: eigene Darstellung Besonders zu dem seit 1921 neuen Aufsichtsratsvorsitzenden Karl Haniel und einigen süddeutschen Vorständen, wie Buz (M.A.N.), Endres (M.A.N.) und Ritzerfeld (Eisenwerk Nürnberg), baute Reusch neben dem geschäftlichen Kontakt auch eine private Beziehung auf und empfing diese regelmäßig auf seinem württembergischen Landsitz. Die Vorstände der Deutschen Werft (Scholz und Krull) und der M.A.N. (Buz, Endres und Lippart) bildeten mit dem Aufsichtsratsvorsitzenden der GHH Karl Haniel zugleich den Kern des geschäftsinternen Netzwerks. Die Achse zwischen dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats und des Vorstands blieb somit auch nach dem Wechsel von August Haniel zu Karl Haniel erhalten und sollte sich in den folgenden Jahren sogar noch intensivieren (James 2005: 215-216).9 Zwar konnten die Direktoren und Vorstände der Oberhausener Betriebe eher mit Reusch persönlich kommunizieren als die Direktoren der geographisch entfernten Tochtergesellschaften, doch die häufige Abwesenheit Reuschs vom Stammsitz des Konzerns machte in der Regel für alle Netzwerkmitglieder eine schriftliche Korrespondenz notwendig. Die Betriebsdirektoren der GHH in Oberhausen bildeten jedoch wie schon 1920 nicht den Kern des Netzwerks; hier waren vielmehr Persönlichkeiten der unterschiedli9

Sowohl nach der Anzahl der summierten Kontakte über Briefe als auch nach der Anzahl der erfüllten Kategorien gehörten Karl Haniel und Richard Buz zu den „top five“ des 1924er Netzwerks. 177

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chen Tochterbetriebe vertreten. Diese Struktur weist erstens auf den Wandel der Gutehoffnungshütte von einem Oberhausener Eisen- und Stahlhersteller zu einem überregional aufgestellten Montan- und Weiterverarbeitungskonzern hin; zweitens wird hier nochmals die veränderte Rolle von Paul Reusch deutlich, der sich nun immer weniger mit produktionstechnischen Details in Oberhausen befassen konnte, sondern dem vielmehr die Kontrolle und das Management einer Konzernorganisation oblag. Doch nicht nur im unternehmensinternen Bereich kam es zu deutlichen Veränderungen, auch darüber hinaus schuf die Expansion der Gutehoffnungshütte und der damit einhergehende Wandel der Netzwerkstruktur die Voraussetzung für neue Handlungsmöglichkeiten und weitere Machtoptionen. Die gestiegene ökonomische Bedeutung der GHH machte ihren Vorstandsvorsitzenden zu einem begehrten Ansprechpartner im politischen und ökonomischen Feld und vergrößerte somit das Sozialkapital des Generaldirektors. Zugleich waren durch den Ausbau des Unternehmens neue einflussreiche Akteure, wie Walther Rathenau, Theodor von Cramer-Klett oder Franz Urbig, in das Netzwerk Reuschs eingetreten, welche das soziale Kapital des GHH-Vorstandsvorsitzenden nochmals erhöhten. Paul Reusch nutzte diese Situation nun in den folgenden Jahren, um sich neben seiner unangefochtenen Position an der Spitze des GHH-Konzerns einen Machtbereich bei den Wirtschaftsverbänden der deutschen Eisen- und Stahlindustrie aufzubauen, und wurde 1924 zum Vorsitzenden des Langnamvereins und der Nordwestlichen Gruppe des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller gewählt (Weisbrod 1978: 169-176).10 Neben den Berichten aus dem Berliner GHH-Büro und einer eigens eingerichteten volkswirtschaftlichen Abteilung innerhalb der Gutehoffnungshütte bekam Reusch nun zusätzliche Informationen über die Geschäftsführer der Verbände geliefert und galt in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik deshalb als der bestinformierte Industrielle in Deutschland (Bähr 2008b: 258).

10 Im Unterschied zu anderen Mitgliedern der Wirtschaftselite beruhte Reuschs Macht somit weniger auf einer Vielzahl von Aufsichtratsmitgliedschaften, wie beispielsweise bei Paul Silverberg, vielmehr stützte er sich auf seine dauerhafte und unbestreitbare Stellung bei der GHH sowie seine Macht in den verschiedenen Wirtschaftsverbänden. Ebenso musste ein Eigentümer wie Gustav Krupp von Bohlen und Halbach seine Macht nicht durch Mitgliedschaften in unternehmensfremden Aufsichtsräten absichern und gehörte deshalb nicht zum Kreis der Netzwerkspezialisten (vgl. Gehlen 2007: 199-203, 550-552; Münzel 2006: 51-68, Windolf 2006 sowie den Beitrag von Karoline Krenn in diesem Band). 178

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3. Zum Verhältnis von kulturellem Kapital und Unternehmertum bei Paul Reusch Paul Reusch achtete jedoch nicht nur darauf, seine Position an der Spitze der Gutehoffnungshütte zu festigen und sich auf Verbandsebene einen einflussreichen Machtbereich aufzubauen; der im geschäftlichen wie im privaten Bereich stets auf Korrektheit Wert legende Konzernchef stimmte auch sein Privatleben und seinen Wohnsitz auf seine unternehmerischen Bedürfnisse ab (Saldern 2009: 39-41). Neben seinem herrschaftlichen Wohnhaus in Oberhausen, welches jedoch unmittelbar neben dem Hüttenwerk lag und zu Repräsentationszwecken kaum genutzt wurde, hatte sich Reusch 1916 das Schloss Katharinenhof bei Backnang gekauft.11 Der im spätklassizistischen Stil errichtete Katharinenhof entsprach dem gesamten Habitus des im württembergischen Königsbronn geborenen Vorstandsvorsitzenden. Reusch schuf sich hier eine geistige Welt aus Bildern und Plastiken und inszenierte im Park „eine Art von seelischer Autobiographie“ (Maschke 1969: 38), indem er Statuen bekannter deutscher Persönlichkeiten aus den Bereichen Kunst und Kultur sowie Wissenschaft und Politik aufstellen ließ.12 Das Schloss Katharinenhof diente für Reusch jedoch nicht alleine als geistiges Refugium vor seinem durch ein hohes Arbeitspensum gekennzeichneten Alltag, der dem Arbeits- und Leistungsethos des Wirtschaftsbürgertums entsprach, vielmehr entwickelte sich sein Anwesen zu einem Zentrum geschäftlicher Tätigkeit, nachdem er den Konzern nach Süddeutschland ausgeweitet hatte. Die Vorstände der M.A.N., des Eisenwerks Nürnbergs und der Maschinenfabrik Esslingen kamen regelmäßig auf den Katharinenhof, um mit Reusch geschäftliche Besprechungen abzuhalten; ferner fanden gelegentlich auch die Aufsichtsratssitzungen der süddeutschen Tochtergesellschaften auf dem Schloss statt (Lesczenski 2008: 76-77, 101-102, 200-207; Maschke 1969: 36; Reitmayer 1999: 206-224; 2009). Seine Ernennung zum Kommerzienrat 1910 verstand Reusch vornehmlich als Anerkennung seiner wirtschaftlichen Fähigkeiten, nicht je11 Auch die vornehme Villa seines Sohnes Hermann Reusch in der avantgardistischen Beamten- und Managersiedlung „Am Grafenbusch“, welche wie das Oberhausener Wohnhaus von Paul Reusch während des Zweiten Weltkrieges zerstört wurde, diente meist nur zu persönlichen Jubiläen als Ort der Repräsentation (vgl. Günter/Herzog (1975), Rauh-Kühne 2000: 236, Anm. 63). 12 Die Statuen von Kaiser Wilhelm I. (1797-1888), Otto von Bismarck (1815-1898) und Graf von Moltke (1800-1891) demonstrierten zugleich Reuschs konservative Grundhaltung und seine Verehrung für die an der Gründung des Deutschen Reiches beteiligten Personen (Augustine 1994: 175; Maschke 1969: 38-39). 179

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doch als Aufstieg in die Aristokratie, und er bemühte sich, ähnlich wie August Thyssen, wenig um weitere adlige Auszeichnungen. Auch wenn er somit im Unterschied zu einigen Personen aus der ersten Unternehmergeneration im 19. Jahrhundert kaum eine Feudalisierung seiner Lebensverhältnisse anstrebte, so zielte er mit dem Erwerb des Katharinenhofs dennoch auf die Schaffung eines zu Repräsentationszwecken geeigneten Ortes und fand dafür zahlreiche Vorbilder innerhalb der Wirtschaftselite (Augustine 1994: 160-188; Kaelble/Spode 1990; KaudelkaHanisch 1993; Lesczenski 2008: 160-200, 280-297).13 Neben Richard Buz (M.A.N.) und Ludwig Kessler (Maschinenfabrik Esslingen) lud Reusch auch Mitglieder der Eigentümerfamilie Haniel (Franz, Richard oder Karl Haniel) auf seinen Landsitz ein, den er im Unterschied zu seiner Oberhausener Wohnung als standesgemäße Empfangsmöglichkeit ansah. Hier traf er sich sowohl mit befreundeten Unternehmern, wie Hermann Bücher, Peter Klöckner, Albert Vögler oder Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, als auch mit Persönlichkeiten aus dem Finanz- und Politikbereich (Max Warburg, Hans Luther, Hjalmar Schacht). Während Reusch für den Bau des Hauptlagerhauses der GHH in Oberhausen mit Peter Behrens einen führenden Vertreter des modernen Industriedesigns engagierte, bevorzugte er mit dem Katharinenhof eine eher klassische Wohnform (Anderson 2000; Branchesi 1965; Bruch 2002; Buddensieg/Rogge 1979; Gall 2009: 82-88; Hudy 1993; Windsor 1985). Paul Reusch sammelte auf seinem Landgut insbesondere zahlreiche Bilder, welche die konservative Haltung des GHH-Vorstandsvorsitzenden zum Ausdruck brachten. Der Generaldirektor sammelte vor allem Gemälde holländischer, italienischer und deutscher Maler, welche Landschaftsformen und Portraits darstellten. Damit teilte er durchaus den Kunstgenuss weiter Teile der wirtschaftlichen Elite und inszenierte auf diese Weise einen für einen Großteil der gesellschaftlichen Führungsschicht künstlerisch attraktiven und anregenden Ort (Lesczenski 2008: 244-247). „Weniger der leidenschaftliche, kenntnisreiche Umgang, wohl aber der Besitz von Kunst hatte sich in Kreisen von Ruhrunternehmern um 1900 zu einer prestigeträchtigen, gleichsam ‚salonfähigen‘ Angelegenheit entwickelt“ (Lesczenski 2008: 239).14 Reusch selbst hatte sich 13 Die sepulkrale Überhöhung der Familie in Form eines auf dem Friedhof der Gemeinde Strümpfelbach errichteten Mausoleums erinnerte hingegen durchaus an adlige Distinktionsformen (Rauh-Kühne 2000: 244). Zum Verhältnis von Wohnstilen und Politikeinstellung vgl. Saldern 2009: 5152. 14 Auf dem Katharinenhof befanden sich sowohl Werke von Jan van Goyen, Meindert Hobbema und Jacopo Robusti Tintoretto als auch von Hans Brosamer, Peter Paul Rubens und Carl Spitzweg. Die gesamten Kunstgegens180

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1925 von Fritz Erler (1868-1940) portraitieren lassen, einem der wenigen Künstler, zu denen er ein engeres Verhältnis hatte.15 Eine Vielzahl von Gemälden ließ er über den konservativen Philosophen und Schriftsteller Oswald Spengler (1880-1936) erwerben, mit dem er seit dem Ersten Weltkrieg eine Freundschaft pflegte. Reusch betrachtete Spengler als einen großen Denker, der mit einem kristallklaren Blick in die Zukunft schaue, und lud ihn deshalb ab 1922 mehrmals nach Dortmund, Oberhausen und Essen zu Vorträgen ein. Der Vorstandsvorsitzende der GHH teilte den Skeptizismus Spenglers und war insbesondere von seinem Werk Der Untergang des Abendlandes angetan. Beim Erwerb der Bilder und anderer Kostbarkeiten blieb Spengler die Auswahl und Entscheidung vollkommen überlassen, Reusch gab lediglich die Höhe des verfügbaren Betrages vor, doch der Schriftsteller traf zielsicher den Geschmack des Konzernchefs. Nach dem Tod Spenglers 1936 gab Reusch schließlich ein Buch zum Gedenken an seinen Freund heraus, doch betätigte er sich ansonsten weder schriftstellerisch noch künstlerisch (Felken 1988: 143-144, 149, 293; Herzog 1965; Koktanek 1968: 276, 282, 463; Maschke 1969: 41-44; Reusch/Korherr [1938]; Spengler 1963: 195-196, 225, 585, 598; Zilt 1996). Obwohl der Vorstandsvorsitzende der GHH somit durchaus Interesse an bestimmten Kunstmotiven und philosophischen Fragestellungen hegte, war er letztlich doch kaum in die Kunst- und Kulturszene eingebunden und verblieb mit Ausnahme seines Engagements in verschiedenen Museen in seiner Stellung als Unternehmer. Die Freundschaft zwischen Reusch und Spengler bildete sowohl unter den Ruhrindustriellen als auch für den GHH-Chef selbst eine Ausnahme, der zu anderen Intellektuellen keine Verbindung hatte. Im Unterschied zu einem Unternehmer wie Walther Rathenau, der sich auch als Schriftsteller und Publizist verstand, bestand die Lebenswelt von Paul Reusch aus dem GHH-Konzern und der Eisen- und Stahlindustrie (Augustine 1994: 229; Gall 2009: 46-69, 131-174; Herzog 1967). Darüber hinaus unterhielt Paul Reusch bei Backnang eine Jagd, zu welcher befreundete Persönlichkeiten und Unternehmerkollegen eingeladen wurden. Der im ländlichen Raum gelegene Katharinenhof diente tände auf dem Katharinenhof hatten 1953 einen Wert von 1.035.700 DM. (vgl. Privatarchiv Reusch, Backnang 400101480/66 Aufstellung über die Kunstwerke auf Schloss Katharinenhof [27.10.1953]; ebenso Euskirchen 2009). 15 Neben Erler verkehrte Reusch noch häufiger mit Fritz Behn (1878-1970), einem deutschen Bildhauer, der 1943 eine Büste von ihm für die Deutsche Werft anfertigte (RWWA 130-4001012012/37 Direktor Dr. R. Krull [1942-1956]). August Thyssen hatte hingegen beispielsweise eine engere Beziehung zu Auguste Rodin (Lesczenski 2008: 249-253). 181

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somit auch als Treffpunkt der Jagdgesellschaften und wurde in diesem Zusammenhang nochmals zum zentralen Ort des Informationsaustausches. Neben informellen Treffen oder Geschäftsessen fungierte auch die Jagd als Plattform geschäftlicher Verbindungen und war noch lange im 20. Jahrhundert fester Bestandteil bürgerlicher Repräsentation. Hier konnte man nicht nur ungestört über neue technische und organisatorische Entwicklungen sprechen, sondern sich auch über die Vergabe von Posten in Verbänden, Kartellen und Aufsichtsräten verständigen. Die Gutehoffnungshütte verfügte ferner in der Nähe von Oberhausen über eine eigene Betriebsjagd. Hieran nahmen sowohl die Direktoren und Vorstände der GHH als auch Aktionäre und Verbandsvertreter aus dem Ruhrgebiet teil. Reusch konnte darüber den Kontakt zu einflussreichen Personen der Wirtschaftselite intensivieren und zugleich das eigene Management noch enger an das Unternehmen binden. Die Jagden wirkten somit komplementär zum rein geschäftlichen Netzwerk beziehungsstabilisierend und förderten den Informationsaustausch zwischen den verschiedenen Netzwerkmitgliedern (vgl. Grieger 2008; RWWA 130-4001 0129/46; RWWA 130-400101290/209; RWWA 130-40010148/24; RWWA 130-40010148/25; RWWA 130-40010148/37). Paul Reusch verknüpfte auf diese Weise sein Privat- und sein Geschäftsleben miteinander, wobei letzterem eindeutig der Vorrang eingeräumt wurde, und setzte sein kulturelles Kapital in Form seines ländlichen Wohnsitzes auch zu unternehmerischen Zwecken ein.16 Die Expansion der Gutehoffnungshütte hatte dabei nicht nur die Struktur des Unternehmens verändert und den Katharinenhof zu einem geschäftlichen Treffpunkt gemacht, sondern im geschäftsinternen Netzwerk von Paul Reusch auch zu einem neuen Schwerpunkt in Süddeutschland geführt. Da bei Reusch persönliche und dienstliche Sphäre eng miteinander verbunden waren, kam es deshalb auch zu einer Verschiebung innerhalb seines privaten Netzwerks. Bereits bis 1914 kamen zwei Drittel aller Glückwunsch- und Kondolenzschreiben, insbesondere zu Reuschs Ernennung zum Kommerzienrat, von Geschäftsleuten und Unternehmern (Augustine 1994: 226-227; RWWA 130-3001938/0; 130-40010128/52). Während sich diese Dominanz geschäftlicher Beziehungen auch in den folgenden Jahren fortsetzte, bildeten sich im privaten Netzwerk von Paul Reusch neben dem westlichen Ruhrgebiet im Süden Deutschlands und

16 Reusch betrieb auf dem Katharinenhof zwar auch Landwirtschaft, im Unterschied zu seinem Freund Robert Bosch, der auch an der Vermarktung der auf dem Boschhof erzeugten Güter Interesse hatte, behandelte Reusch seinen Landsitz jedoch nicht als landwirtschaftlichen Betrieb (Becker 1996: 19). 182

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in Berlin zwei weitere Zentren aus.17 Von den 240 im Jahr 1928 bei den Glückwunschschreiben zu seinem 60. Geburtstag identifizierten Adressaten stammten alleine 39 aus Duisburg, 23 aus Oberhausen und 13 aus Düsseldorf; im Jahr 1938 erhielt Reusch dann mit Abstand die meisten Geburtstagsgrüße aus Oberhausen (126) und Berlin (107). In Süddeutschland kristallisierten sich daneben mit Augsburg, Nürnberg, Stuttgart und München vier Unterzentren heraus, die teilweise auf Produktionsstandorte von GHH-Tochterunternehmen (M.A.N. in Augsburg und Nürnberg, Eisenwerk Nürnberg in Nürnberg, Schwäbische Hüttenwerke in Stuttgart), teilweise aber auch auf die Nähe zu seinem württembergischen Landsitz sowie die politische Bedeutung der Landeshauptstädte zurückzuführen waren (Rauh-Kühne 2000: 215, 222-223; RWWA 130-400101251/0a; RWWA 130-400101251/0b; RWWA 130400101290/247).

4. Fazit Paul Reusch setzte als langjähriger Vorstandsvorsitzender der GHH spätestens seit seinem Aufstieg an die Spitze des Managements 1909 auf einen kontinuierlichen Ausbau des Unternehmens. Während er zunächst vor allem in vorgelagerte Produktionsstufen investierte und französische Erzvorkommen für das Unternehmen erwarb, setzte er seit dem Ersten Weltkrieg zunehmend auf eine Vergrößerung des Weiterverarbeitungsbereichs. Aufgrund des weitgehend durch Kartelle und Syndikate reglementierten Kohlen- und Eisenmarkts erwartete Reusch hier keine hohen Gewinne und rechnete auf dem Gebiet der Verfeinerung als einem dynamischeren Wirtschaftssegment mit einer größeren Rentabilität. Zudem war er der Ansicht, dass ein vertikal aufgestelltes Unternehmen besser auf konjunkturelle Schwankungen reagieren könne. „Während einer Hochkonjunktur leidet die Verfeinerungsindustrie nicht unter Knappheit des Materials, und während einer Tiefkonjunktur ist dem Rohstoff der Absatz gesichert“ (RWWA 130-40010128/6: 20.10.1927). Mit der Gründung der Deutschen Werft, der Beteiligung am Osnabrücker Kupfer- und Drahtwerk sowie den Unternehmensakquisitionen in Süddeutschland veränderte Reusch die Ausrichtung des Unternehmens deutlich und machte aus dem Oberhausener Ruhrunternehmen einen führenden deutschen Weiterverarbeiter und Maschinenbauer. Zugleich knüpfte 17 Das private Netzwerk von Paul Reusch wurde anhand der Glückwunschschreiben zu seinem 60. bzw. 70. Geburtstag erhoben. Von 265 (928) Schreiben im Jahr 1928 (1938) konnten 240 (921) geographisch zugeordnet werden (vgl. RWWA 130-40010128/39-42). 183

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er damit im Sinne von Pfadabhängigkeit an die Tradition des Brückenund Maschinenbaus der GHH in Sterkrade an, wo er vor der Übernahme des Vorstandsvorsitzes als einfaches Vorstandsmitglied tätig war. Indem Reusch die Gutehoffnungshütte strategisch neu ausrichtete, veränderte er jedoch nicht nur das Profil des Unternehmens, sondern auch seine eigene Position im Unternehmen. Während der Vorstandsvorsitzende sich vor der Expansion noch mit organisatorischen und produktionstechnischen Details der Oberhausener Betriebe befassen konnte, musste er nun vermehrt als Koordinator zwischen den verschiedenen geographisch weit voneinander entfernten Betrieben tätig sein. Dabei rückten die Oberhausener Betriebsdirektoren aus dem Kern des geschäftsinternen Netzwerks heraus und die Vorstände der neuen GHHTochtergesellschaften traten nun in das Zentrum der Verflechtung. Der Generaldirektor Reusch war jetzt vor allem mit der Abstimmung der unterschiedlichen Produktionsgebiete sowie mit Lieferabsprachen und Konflikten zwischen Tochtergesellschaften beschäftigt. Paul Reusch dehnte sowohl seine Reisetätigkeit als auch seinen Schriftverkehr enorm aus und führte den Konzern vor allem über das von ihm eingerichtete Informations- und Berichtswesen. In einer Reihe von Tochterunternehmen fungierte Reusch zudem als Vorsitzender des Aufsichtsrats und kommunizierte in dieser Funktion direkt mit den betreffenden Vorständen; hierbei erteilte Reusch dem Management oftmals unmittelbare Anweisungen, ohne mit den übrigen Aufsichtsratsmitgliedern Rücksprache zu halten. Aufgrund der wachsenden Anzahl von Netzwerkteilnehmern erhöhte sich in diesem Kontext ferner die Zahl der Briefe mit terminlichen Vereinbarungen. Ebenso emanzipierte sich Reusch zusehends von der Eigentümerfamilie Haniel. Zwar unterhielt er weiterhin einen engen Kontakt zum Aufsichtsratsvorsitzenden und diese Dyade bildete eine Achse, die über den Wechsel an der Spitze des Aufsichtsrats hinweg Bestand hatte, doch traf Reusch ab 1920 zusehends eigenständige Entscheidungen ohne alle Details mit den Eigentümern vorweg zu besprechen. Ein Großteil der Eigentümerfamilie und besonders Karl Haniel vertrauten Paul Reusch nun voll und ganz ihr Unternehmen an und einige Familienmitglieder begnügten sich mit einer vollkommen passiven Rolle im Kontrollgremium. Die Beziehung zwischen der Familie Haniel und dem „angestellten Manager“ Reusch waren demnach von Vertrauen geprägt. Nachdem Paul Reusch das Unternehmen erfolgreich durch den Ersten Weltkrieg geführt und bereits erste Unternehmen angegliedert hatte, sahen einige Familienmitglieder offensichtlich einen geringeren Kontrollbedarf. Vor allem die Einladungen an verschiedene Familienmitglieder auf den privaten Landsitz des Vorstandsvorsitzenden zeigen, dass das Verhältnis 184

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zwischen Reusch und den Haniels intakt war und es keinen Konflikt zwischen principal und agent gab. Im Unterschied zu seinem Oberhausener Wohndomizil betrachtete Reusch den mit Kunstgegenständen ausgestatteten Katharinenhof als standesgemäße Empfangsform für Persönlichkeiten aus der wirtschaftlichen und politischen Elite. Nach der Erweiterung des GHH-Konzerns nach Süden diente der Katharinenhof ferner als Ort geschäftlicher Besprechungen; ungestört vom Alltagsgeschäft wurde hier während informeller Treffen und bei Jagdveranstaltungen über die zukünftige Ausrichtung des Unternehmens oder Formen politischer Einflussnahme gesprochen. Und obwohl Reusch nicht über die ökonomischen Verfügungsrechte bei der Gutehoffnungshütte verfügte, hatte er sich auf diese Weise bis Anfang der zwanziger Jahre zur unbestreitbaren Führungsfigur beim GHH-Konzern entwickelt (Fiedler 2007; Reckendrees 2004). Die gestiegene ökonomische Bedeutung der Gutehoffnungshütte erhöhte zugleich die Reputation und das Ansehen ihres Konzernchefs: Er wurde zu einem begehrten Ansprechpartner in der deutschen Wirtschaftselite Zum einen demonstrierte Reusch, dass er die uneingeschränkten Verfügungsrechte bei der Gutehoffnungshütte besaß, zum anderen zeigte er mit dem Katharinenhof, dass er sich gleichfalls die kulturellen Praktiken der ökonomischen Elite angeeignet hatte. Er verstand es wie nur wenige Personen der Wirtschaftselite, die verschiedenen Kapitalsorten miteinander zu verzahnen. Sein Beispiel belegt damit deren Transformierbarkeit: Während Reuschs ökonomisches Kapital den Erwerb und die Ausstattung seines Landwohnsitzes erlaubte, bildete der kulturell von ihm umgestaltete Katharinenhof nicht nur einen persönlichen Rückzugsort, sondern auch eine standesgemäße Empfangsmöglichkeit, um Gespräche mit Geschäftsleuten und Politikern zu führen und auf diese Weise neues (soziales und ökonomisches) Kapital zu generieren. Paul Reusch nutzte diese Situation, um sich in den folgenden Jahren neben seiner Machtposition bei der Gutehoffnungshütte im Verbandswesen eine einflussreiche Stellung zu sichern, und wurde nach dem Tod von Wilhelm Beukenberg, August Thyssen und Hugo Stinnes Mitte der zwanziger Jahre zur Führungsperson in der deutschen Eisen- und Stahlindustrie.

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RWWA 130-400101251/0b Bankier Dr. Max M. Warburg (1931-1955). RWWA 130-40010128/6 Die wirtschaftliche Sicherheit der GHH. Ein Interview mit Kommerzienrat Reusch (20.10.1927). RWWA 130-40010128/39 Glückwünsche zum 60. Lebensjahr (1928). RWWA 130-40010128/40 Glückwünsche zum 70. Lebensjahr (1938). RWWA 130-40010128/41 Glückwünsche zum 70. Lebensjahr (1938). RWWA 130-40010128/42 Glückwünsche zum 70. Lebensjahr (1938). RWWA 130-40010128/52 Ernennung zum Kommerzienrat (1910). RWWA 130-40010129/46 Schussliste für Treibjagden (1928-1939). RWWA 130-400101290/209 Jagd (1934-1956). RWWA 130-400101290/247 Bankdirektor Anton Hübbe (1926-1942). RWWA 130-40010148/24 Jagdangelegenheiten (1941-1942). RWWA 130-40010148/25 Jagdangelegenheiten (1937-1941). RWWA 130-40010148/37 Jagd Katharinenhof (1938-1939). RWWA 130-4001028/15 Lebensdaten Paul Reusch (15.11.1930).

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Institutionelle und personelle Netzw erke zw ischen politischen und w irtschaftlichen Ak teuren im russ ischen Energiesektor MICHAEL SANDER

Die Russische Föderation1 ist der wichtigste Öl- und Gaslieferant sowohl der Europäischen Union als auch der Bundesrepublik Deutschland. So bezog die EU im Jahr 2006 33,5 Prozent ihrer Öl- und 42 Prozent ihrer Gasimporte aus Russland, was einem Anteil von 27 Prozent bzw. 24 Prozent am gesamten europäischen Verbrauch der beiden Energieträger entsprach (Eurostat 2009: 31). Für Deutschland belief sich der Anteil der russischen Lieferungen an seinen gesamten Gasimporten im Jahr 2008 auf 41,6 Prozent (BP 2009: 30) und bewegte sich damit im EU-europäischen Mittelwert. Ob Russland seine Energieimporte nun einsetzt, um 1

Die Bezeichnungen „Russland“ und „russisch“ sind streng genommen ungenau, da sie eine Identität von „Staat“ und „Nation“ implizieren. Anders als in Westeuropa haben sich diese beiden Konzepte in Russland wegen spezifischer historischer Entwicklungen – multiethnische Gesellschaft bereits in einem frühen Stadium der Staatsgründung, langfristige Abfolge autoritärer Regierungssysteme mit nur schwachen „Transmissionsriemen“ zwischen Gesellschaft und politischen Institutionen – nicht zu einer einheitlichen Vorstellung zusammengefügt. Diesen Bruch gibt die russische Sprache mit den Begriffen „russkij“ für die kulturelle Nation und „rossijskij“ für den Staat wieder. In der deutschsprachigen Russlandforschung wird daher teilweise der Begriff „russländisch“ statt „russisch“ für das politische System verwendet, damit diese Unterscheidung angemessen wiedergegeben werden kann. Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, wird in diesem Aufsatz die übliche, wenn auch ungenauere, Übersetzung verwendet. 195

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außen- und sicherheitspolitische Ziele durchzusetzen, ist wissenschaftlich jedoch umstritten. Während einige Autoren eine solche Instrumentalisierung sehen (Umbach 2003; 2006: 8), betonen andere wiederum die wirtschaftliche Motivation der russischen Energiepolitik, die ihrerseits weitestgehend von den profitorientierten Unternehmen bestimmt werde (Götz 2007: 4). Wieder andere versuchen, die Frage anhand von Energieträgern (Grätz 2009: 67f.) und/oder Lieferregionen (Larsson 2006: 264-266) differenziert zu beantworten. Der vorliegende Aufsatz möchte zur Klärung dieser Frage beitragen, indem er die institutionellen Strukturen des russischen energiepolitischen Entscheidungssystems untersucht. Gefragt wird dabei nach der Einbindung wirtschaftlicher Akteure in politische Entscheidungsprozesse sowie nach ihrer Möglichkeit, ihre ‚eigenen‘ Präferenzen in diese Entscheidungsprozesse einzubringen. Der Schwerpunkt wird dabei auf den Gassektor gelegt, der erstens aufgrund seiner monopolistischen Struktur besonders anfällig für politische Einflussnahme ist und zweitens weil in dem sogenannten Gasstreit der Jahre 2005, 2006 und 2008 die wichtigsten Störungen der russischen Energielieferungen in die EU aufgetreten sind. Im Folgenden werden also zunächst die allgemeinen Beziehungsstrukturen zwischen den institutionellen Mitgliedern des russischen energiepolitischen Politikfeldnetzes dargestellt und analysiert. Daneben wird auch die Frage untersucht, ob in dem Zeitraum seit der Amtsübernahme Vladimir V. Putins im Jahr 2000 tatsächlich eine Zentralisierung der russischen Entscheidungsstrukturen stattgefunden hat.

1. Theorie und methodisches Vorgehen Das russische energiepolitische Politikfeldnetz wurde im Rahmen einer Dissertationsarbeit an der Universität Trier analysiert, auf deren Ergebnisse in den nächsten Abschnitten zurückgegriffen werden soll. Ziel dieser Untersuchung war es, die Funktion von informellen Netzwerken in den deutsch-russischen energiepolitischen Beziehungen zu erheben. Es wurden dabei zwei mögliche Funktionen angenommen, die sich anhand eines Zwei-Stufen-Modells grenzüberschreitender Verhandlungen unterschieden ließen. Erstens wurde unterstellt, dass Netzwerke in dem nur schwach institutionalisierten Handlungsraum grenzüberschreitender Energiebeziehungen die wechselseitige Kooperation der beteiligten Akteure erleichtern. Indem informelle Beziehungen die involvierten Akteure immer wieder zusammenbringen und damit dauerhafte Interaktionen gewährleisten, ermöglichen sie es, nicht-kooperatives Verhalten zu sanktionieren. Dies ist spieltheoretischen Annahmen zufolge eine we196

INSTITUTIONELLE UND PERSONELLE NETZWERKE

sentliche Voraussetzung, damit egoistische Akteure auch ohne hierarchische Institutionen erfolgreich zusammenarbeiten können (Axelrod 2005). Zweitens wurde angenommen, dass die Position eines Akteurs in einem Politikfeldnetz auch seine Durchsetzungsfähigkeit in diesem Politikfeld bestimmt. Damit erleichtern Netzwerke nicht nur Verhandlungserfolge auf der Ebene der Nutzenproduktion, sondern teilen auch die Erfolgschancen bei der Verteilung von Kosten und Gewinnen einer beliebigen Vereinbarung zu. Entscheidungen, die in einem Netzwerk getroffen werden, sollten daher in erster Linie die Präferenzen des Akteurs mit der günstigsten Beziehungskonfiguration widerspiegeln. Die netzwerkanalytischen Daten für die Untersuchung wurden in einem kombinierten Verfahren erhoben. Zunächst wurden in einem positionalen Verfahren die für die deutsch-russischen Gashandelsbeziehungen wichtigen Energieunternehmen und politischen Akteure erhoben. Diese wurden zudem darum gebeten, weitere Akteure zu nennen, die für ihre jeweilige Tätigkeit bedeutsam waren. Die Beziehungen zwischen diesen Akteuren ergaben sich einerseits aus ihren wechselseitigen institutionellen Beziehungen, die aus Unternehmensbeteiligungen, Verbandsmitgliedschaften und politischen bzw. verwaltungsrechtlichen Zuordnungen bestanden. Die Datengrundlage bildeten in diesen Fällen die in den Unternehmensberichten veröffentlichten Beteiligungsverzeichnisse, die Mitgliederverzeichnisse der energiewirtschaftlichen Verbände bzw. Gewerkschaften und die Organigramme der energiepolitisch relevanten Ministerien. Andererseits konnten aus den umfangreichen Mitgliederverzeichnissen auch solche Beziehungen erhoben werden, die sich aus der mehrfachen Mitgliedschaft eines Individualakteurs in verschiedenen Institutionen oder Gremien, in der Regel waren dies die Aufsichts- oder Verwaltungsräte der Unternehmen oder Verbände, ergaben. Auf dieser Datengrundlage wurden sowohl das deutsche als auch das russische Politikfeldnetz für den Energiesektor erhoben. Um auch die Veränderungen der Netzwerkstrukturen im zeitlichen Verlauf berücksichtigen zu können, erfolgte die Datenerhebung für drei chronologische Schnitte in den Jahren 2002, 2005 und 2007. Die Wahl dieser Schnitte ermöglichte es, zu untersuchen, wie sich wichtige Veränderungen in den formellen Institutionen auf die Netzwerkstrukturen in beiden Politiksektoren auswirkten. Auf der deutschen Seite konnten so die Effekte der Gasmarktliberalisierung ab dem Jahr 2004, auf der russischen diejenigen der bedeutsamen Präsidentenwahlen desselben Jahres berücksichtigt werden. Die jeweiligen nationalen Netzwerke wurden zudem auch zu einem Gesamtdatensatz zusammengefasst, der auch die internationalen und transnationalen Beziehungen zwischen den Politikfeldnetzen be-

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rücksichtigte.2 Die so erhobenen institutionellen Daten sollten in einem weiteren Schritt um die tatsächlich interpersonellen Beziehungen ergänzt werden. Hierfür wurden die Lebensläufe wichtiger Individualakteure in den deutsch-russischen Energiebeziehungen in Hinblick auf gemeinsame Tätigkeiten und parallele Karrierewege ausgewertet. Vor der eigentlichen Netzwerkanalyse erfolgt zunächst die Darstellung der Beziehungsstrukturen, die sich aus dem beschriebenen Verfahren ergaben. Der erste und einfachste Schritt war dabei die reine Visualisierung der sozialen Pfade über das in UCInet (Borgatti, Everett & Freeman 2002) integrierte Programm Netdraw. Auf dieser Basis konnten bereits ohne eine nähere quantitative Datenanalyse erste grundlegende Strukturmerkmale erfasst und aufbereitet werden. Das aussagekräftigste Ergebnis dieses ersten Schritts war dabei die Zusammensetzung der direkten Kontakte wichtiger energiewirtschaftlicher oder -politischer Akteure. Diese wurden anhand eines qualitativ-positionalen Verfahrens in politische, intermediäre und wirtschaftliche Akteure unterteilt, wobei zusätzlich unterschieden wurde, ob die Akteure aus demselben Cluster wie der untersuchte Akteur stammten. Diese Einteilung ermöglichte es bereits in einem frühen Stadium der Untersuchung, die Einbindung und die Einflussmöglichkeiten einzelner korporativer Netzwerkmitglieder einzuschätzen. Zudem konnte durch das diachrone Verfahren dargestellt werden, ob und wie sich die direkte Einbindung wichtiger Akteure im Untersuchungszeitraum verändert hat. Die eigentliche quantitative Analyse erfolgte anhand der bekannten netzwerkanalytischen Indikatoren zu Macht und Einfluss. Zunächst wurden die Netzwerke anhand des N-Cliquen-Modells von Kappelhoff (Kappelhoff 1987: 48) in intern dicht verbundene Teilgruppen aufgeteilt. 2

In einem weiteren Schritt der Datenerhebung wurde versucht, Aussagen der Netzwerkmitglieder über ihre institutionellen Ansprechpartner zu bestimmten Themengebieten zu erhalten. Dieses Vorgehen hätte es ermöglicht, sowohl das Prestige der einzelnen Akteure zu erheben als auch die hierarchische Gliederung der untersuchten Netzwerke in informellen sozialen Positionen darzustellen. Zu diesem Ziel wurde eine Fragebogenaktion durchgeführt, bei der alle deutschen und russischen korporativen Netzwerkmitglieder um ihre entsprechenden Einschätzungen gebeten wurden. Allerdings blieb der Rücklauf auf diese Aktion weit unter den für eine Netzwerkanalyse notwendigen Anforderungen und erbrachte zumeist Antworten, die sich auch aus einem intuitiven Vorverständnis ergeben hätten – so ergab sich bspw. die wesentliche Bedeutung der EU für die deutsche Energiepolitik. Die Daten, die sich aus dieser Aktion ergaben, konnten allerdings an anderer Stelle genutzt werden, um die Ergebnisse der quantitativen Netzwerkanalyse um die qualitative Interpretation der punktuellen Daten zu ergänzen (zu diesem methodischen Vorgehen vgl. Schnegg in diesem Band).

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Der Wert für n war dabei mit 2 bewusst restriktiv angesetzt, um nur besonders eng verbundene Cliquen zu berücksichtigen. Dahinter stand die Annahme, dass es gesellschaftlichen Akteuren, die gemeinsam mit politischen Akteuren Mitglied einer solchen 2-Clique sind, besonders leicht fallen sollte, ihre Präferenzen in den politischen Entscheidungsprozess ‚einzuspeisen‘. Daher erfolgte eine weitere Unterteilung der 2-Cliquen anhand der Gruppenzugehörigkeit ihrer Mitglieder. Das besondere Augenmerk lag dabei auf Teilgruppen, welche die Bedingung erfüllten, gleichzeitig wirtschaftliche und politische Akteure zu ihren Mitgliedern zu zählen. Derartige Gruppen werden im Folgenden als „gemischte Cliquen“ bezeichnet. Wenn die Mitglieder aus unterschiedlichen Staaten stammen, handelt es sich demnach um „transnationale gemischte Cliquen“. Akteurspezifische Einflussmöglichkeiten wurden anhand der von Freeman entwickelten Zentralitätsmaße ermittelt (Freeman 1979). Dabei lag der Schwerpunkt der Analyse auf der nähebasierten Zentralität (Closeness-Centrality/CC) sowie auf der Wahrscheinlichkeit, zu der ein Akteur den Tausch von Informationen und Ressourcen zwischen zwei beliebigen anderen Akteuren kontrollieren kann (Betweenness-Centrality/CB). Zusammen ermöglichten es die beiden Indikatoren, darzustellen, wie schnell bestimmte Akteure Zugang zu neuen Ressourcen, einschließlich neuer Informationen, in den untersuchten Netzwerken erhielten und wie effizient sie die weitere Diffusion dieser Ressourcen im gesamten Netzwerk beeinflussen konnten. Beide Faktoren – schneller Ressourcenzugang und effiziente Kontrollmöglichkeiten – sollten es einem Akteur erleichtern, seine Präferenzen erfolgreich in politische Entscheidungen umzusetzen. Parallel wurde auch für jedes der nationalen und chronologischen Netzwerke untersucht, inwieweit diese sozialen Handlungsressourcen auf einen einzelnen Akteur konzentriert waren. Ausgehend von den inhaltlichen Annahmen der Netzwerktheorie (Jansen/Wald 2007) kann dabei vermutet werden, dass ein Netzwerk mit einer höheren Zentralisierung als andere Teilgruppen die Handlungen seiner Mitglieder effizienter koordinieren kann und damit gegenüber diesen externen Teilgruppen durchsetzungsfähiger ist. Zur Ergänzung der Zentralitätswerte wurden weiterhin die von Ronald S. Burt erarbeiteten Modelle zu „n-Brücken“ und „strukturellen Löchern“ herangezogen, um die Einflussmöglichkeiten einzelner korporativer Netzwerkmitglieder zu erheben (Burt 1992). Ausgehend von Mark Granovetters Theorie über die besondere Bedeutung schwacher Beziehungen (Granovetter 1973: 1365) geht Burt davon aus, dass sich einflussreiche Akteure besonders dadurch auszeichnen, dass sie netzwerkinterne Teilgruppen miteinander verbinden, die ohne diese Verbindung beziehungslos nebeneinander stehen würden. In empirischen Netzwer199

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ken reicht es dabei aus, dass der untersuchte Akteur der einzige gemeinsame Kontakt der beiden Teilgruppen innerhalb einer bestimmten sozialen Pfadlänge ist (Burt 1992: 16-33). Diese Pfadlänge kann vom Forscher eigenständig bestimmt werden, sollte aber für aussagekräftige Ergebnisse möglichst hoch angesetzt sein. Die hier vorgestellte Untersuchung setzte allerdings nicht die von Burt vorgeschlagenen Indikatoren für strukturelle Löcher ein, da diese mit dem vorliegenden Datenmaterial nur schwer zu erheben waren. Stattdessen griff sie auf die ebenfalls von Burt erarbeiteten Maßzahlen für die strukturelle Autonomie eines Akteurs zurück. Strukturell autonom ist ein Akteur demzufolge dann, wenn er einerseits möglichst viele Akteure aus möglichst unterschiedlichen Teilgruppen miteinander verbindet (effektive Netzwerkgröße) und nur eine geringe Chance besteht, dass diese Akteure untereinander direkte Beziehungen aufbauen, um den untersuchten Akteur zu umgehen (Einschränkung). Wenn das Egonetzwerk eines Akteurs diese Verbindung aufweist, kann angenommen werden, dass dieser Akteur strukturelle Löcher überbrückt und damit als Netzwerkmakler agieren kann. Aus dieser Untersuchung werden in der Folge die Ergebnisse berücksichtigt, die sich mit der russischen Seite beschäftigen. Damit können die Auswirkungen der Reformen Putins auf die politisch-wirtschaftlichen Verbindungen im russischen Energiesektor dargestellt und ein Beitrag zur Klärung der Forschungsfrage geleistet werden.

2. Wirtschaftlicher Rahmen und institutionelle Reformen des russischen Erdgassektors seit dem Jahr 2000 Erdgas ist für den russischen Energiemarkt in verschiedener Hinsicht von zentraler Bedeutung. Es ist zunächst der wichtigste Energieträger Russland, der alleine mehr als die Hälfte der Primärenergie des Landes bereitstellt. Beinahe die Hälfte (48,5 Prozent) des russischen Eigenverbrauchs von Erdgas wird dabei in Sekundärenergie – überwiegend Elektrizität – umgewandelt, während ein Drittel des Binnenverbrauchs (33,5 Prozent) direkt als Brennstoff zum Heizen eingesetzt wird. Erdgas ist damit der wichtigste Energieträger Russlands sowohl für die Stromerzeugung als auch für die Versorgung der Bevölkerung mit Wärme. Weiterhin ist die Erdgasindustrie eines der wichtigsten Standbeine der russischen Wirtschaft, deren Energiesektor im Jahr 2005 25 Prozent des russischen BIP und 33 Prozent der Industrieproduktion des Landes generierte (BFAI 2006; FSGS 2009). Wegen der großen Bedeutung von Erdgas für die russische Binnenwirtschaft kann das Land nur einen gerin200

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gen Teil seiner Gasproduktion exportieren. So gingen im Jahr 2007 mit 189,7 Mrd. m³ lediglich 32 Prozent der gesamten russischen Gasproduktion in Höhe von 607,4 Mrd. m³ in den Export (BP 2008: 24, 30). Dies entspricht einem vergleichsweise geringen Anteil der Erdgasexporte am russischen Staatsbudget in Höhe von 8 Prozent (Grätz 2009: 68). Die russische Gasproduktion ist von der dominierenden Position des halbstaatlichen Unternehmens OAO Gazprom geprägt. Diese Firma kontrollierte in den Jahren 2002 bis 2007 durchgehend mehr als 60 Prozent der russischen Erdgasreserven, wobei dieser Anteil besonders in den Jahren 2003 bis 2006 um ca. 4,4 Prozentpunkte auf 66,0 Prozent anstieg. Gleichzeitig ging der Anteil der OAO Gazprom an der gesamten russischen Gasförderung allerdings um 3,3 Prozentpunkte von 88 Prozent auf 84,7 Prozent zurück, worin sich besonders die zunehmende Bedeutung ‚unabhängiger‘ Gasunternehmen zeigt.3 Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die OAO Gazprom teilweise über Minderheitsanteile an der Gasförderung der kleineren Gasunternehmen beteiligt ist, sodass sie an deren auf niedrigem Niveau wachsenden Marktanteilen partizipieren kann. So gehören ihr seit dem Jahr 2006 19,4 Prozent des größten ‚unabhängigen‘ Gasproduzenten OAO Novatek (Novatek 2006: 12). Zudem wird das Wachstum unabhängiger Gasproduzenten durch die Kontrolle der OAO Gazprom über das russische Pipelinenetz eingeschränkt. Zwar ist die OAO Gazprom gesetzlich dazu verpflichtet, auch Dritten Zugang zu ihrer Infrastruktur zu gewähren. Diese Verpflichtung wird allerdings nur dann wirksam, wenn sie nach Abwicklung ihrer eigenen Lieferungen noch über freie Transportkapazitäten verfügt. Da die Liefermengen der OAO Gazprom wiederum von dem Unternehmen selbst festgelegt werden und keine unabhängige Kontrollinstanz besteht, kann sie letztlich selbst entscheiden, ob und mit welchen Liefermengen sie ihrer Konkurrenz den Zugang zum russischen Gasmarkt ermöglicht. Darüber hinaus hat die OAO Gazprom nicht nur das Monopol auf alle staatlichen Gasexporte, sondern ist seit September 2006 auch das einzige Unternehmen, dass überhaupt Erdgas aus Russland ausführen darf (Russische Föderation 2006). Sie ist damit der einzige russische Gasproduzent mit einem legalen Zugang zu den besonders gewinnbringenden westeuropäischen Importeuren. Dieser privilegierten Position entspricht 3

Die Daten (eigene Berechnung des Autors) beruhen auf einer Kombination von BP (2008a) und Gazprom (2003: 38; 2004: 42; 2005: 36, 2006: 33; 2007: 27; 2008: 32). Die OAO Gazprom selbst gibt hinsichtlich der Reserven stets einen Wert „um 60 Prozent“ an (Gazprom 2003: 38; Gazprom 2004: 42; Gazprom 2007. 27; Gazprom 2008: 32). Die Bundesagentur für Außenwirtschaft kommt dagegen für das Jahr 2005 sogar auf einen Wert von 95 Prozent (BFAI 2006: 24). 201

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jedoch auf dem Binnenmarkt die Pflicht zum Gasabsatz zu politisch festgelegten Niedrigpreisen, die deutlich unter den Marktpreisen liegen, welche die unabhängigen Gasproduzenten fordern können. Seit ihrer Gründung im Jahr 1992 waren staatliche Akteure durchgehend wichtige Aktionäre der OAO Gazprom, ohne allerdings eine Mehrheitsbeteiligung zu erreichen.4 Erst mit der Eröffnung des Handels mit Gazprom-Aktien wurde der Anteil des russischen Staates auf einen Wert von 50 Prozent plus einer Aktie festgeschrieben. Die politische Steuerung des russischen Energiesektors (s. Tab. 1) wurde seit dem Jahr 2000 in drei Phasen umgebaut. In der ersten Phase, 4

Die Grundlage für diese enge Verbindung staatlicher und privatwirtschaftlicher Interessen wurde bereits mit der Gründung des Unternehmens bzw. der Umwandlung seiner Rechtsform am 05. November 1992 gelegt. In dem entsprechenden Präsidentenerlass (Ukaz) wird die OAO (damals: RAO) Gazprom mit der Aufgabe betraut, eine ‚wünschenswerte‘ Gasversorgung der Endverbraucher sicherzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte das Unternehmen den gesamten Gassektor, einschließlich der Einrichtung von Pipelines, kontrollieren und eine einheitliche Investitionspolitik zur Wiederherstellung des Gassektors entwickeln und umsetzen. Um die entsprechenden Summen aufzubringen, konnte die RAO Gazprom einen „Stabilisierungs- und Entwicklungsfond“ einrichten (Präsident der Russländischen Föderation 1992: Nr. 2), der in der Folge steuerfrei gestellt wurde (Victor 2008: 48). Die Steuerfreiheit wurde unter dem damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Viktor Černomyrdin auch auf den Umsatz, den die RAO Gazprom mit ihren Gasexporten erzielte, ausgedehnt. Gleichzeitig erhielt das Unternehmen das Monopol für alle staatlichen Gasexportverträge, wobei es 45 Prozent der daraus entstehenden Gewinne einbehalten konnte (Victor 2008: 49). Schließlich legte der Erlass des Präsidenten (1992: Nr. 4) fest, dass 40 Prozent des Aktienkapitals der RAO Gazprom im Eigentum des Staats verbleiben sollten. 15 Prozent sollten im Rahmen von geschlossenen Unterzeichnungen an die Mitarbeiter und die Unternehmensleitung und weitere 20 Prozent in einer offenen Privatisierung an die „russländischen Bürger“ gehen (Präsident der Russländischen Föderation 1992: Nr. 4). Der mögliche Anteil ausländischer Investoren wurde bei maximal 9 Prozent begrenzt. Da die Verwaltung des Staatsanteils an dem Unternehmen an dessen Vorstandsvorsitzenden Rem Vâhirev übertragen wurde, kontrollierte die Unternehmensleitung damit faktisch ca. 55 Prozent der RAO Gazprom und war so der tatsächliche Mehrheitsaktionär (Viktor 2008: 49). Im Zuge der Wirtschaftskrise des Jahres 1998 wurde der minimale Staatsanteil an der OAO Gazprom auf 35 Prozent reduziert, während die Beteiligungsgrenze für ausländische Investoren auf maximal 14 Prozent angehoben wurde (Russländische Föderation 1999: Art. 15; Viktor 2008: 49). Tatsächlich wurden beide Grenzwerte nicht voll ausgenutzt, sodass sich im Jahr 2000 immer noch 38,37 Prozent der Anteile in Staatsbesitz befanden, während lediglich 10,31 Prozent an ausländische Investoren verkauft wurden. Die restlichen Aktien gingen an russische juristische – 33,64 Prozent – und natürliche Personen – 17,68 Prozent (OAO Gazprom 2009).

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die unmittelbar mit dem Amtsantritt Vladimir V. Putins als russischem Präsidenten angesetzt werden kann, wurden wichtige Positionen in den Gremien der (halb-)staatlichen Öl- und Gasunternehmen, OAO Gazprom und OAO NK Rosneft, personell neu besetzt. In diesem Zusammenhang wurden u.a. die damaligen stellvertretenden Leiter der Präsidialverwaltung, Dmitrij A. Medvedev und Igor I. Sechin zu Vorsitzenden der Direktorenräte der beiden Unternehmen ernannt. Die zweite Phase der institutionellen Reformen war zugleich die formell umfassendste. Sie begann mit den Dumawahlen im Herbst 2003 und wurde durch die Wiederwahl Putins zum Präsidenten der Russischen Föderation zusätzlich verstärkt. Tabelle 1: Verlagerung formeller energiepolitischer Kompetenzen in Russland

Festlegung der Preise und Tarife

Föderale Energiekommission

Festlegung der von Gazprom zu leistenden Liefermenge Festlegung der für den Export verfügbaren Gasmengen

Zentrale Lieferverwaltung (OAO Gazprom)

Zentrale Lieferverwaltung (OAO Gazprom)

2005-2007 Regierungskommission Föderale Energieagentur (Wirtschaftsministerium) Abteilung für Energiepolitik (Wirtschaftsministerium) Agentur für Bergbau (Umweltministerium) [Agentur für Umweltschutz (Umweltministerium)] Föderale Energieagentur (Wirtschaftsministerium) Föderaler Antimonopoldienst [Agentur für die Verwaltung staatlichen Vermögens] Föderaler Tarifdienst Regierungskommission Zentrale Lieferverwaltung (OAO Gazprom)

Regierungskommission für die Nutzung von Gas- und Ölpipelines

[Keine politische Steuerung]

[Exportmonopol der OAO Gazprom]

Allgemeine Koordinierung

Zugangsverwaltung zu den Gasressourcen

Kontrolle der natürlichen Monopole

2002-2004 Ministerium für Energie

2004/05 Föderale Energieagentur (Wirtschaftsministerium) Abteilung für Energiepolitik (Wirtschaftsministerium)

Agentur für Bergbau (Umweltministerium) [Agentur für Umweltschutz (Umweltministerium)] Ministerium für Energie Antimonopolministerium [Agentur für die Verwaltung staatlichen Vermögens]

Agentur für Bergbau (Umweltministerium) [Agentur für Umweltschutz (Umweltministerium)] Föderale Energieagentur (Wirtschaftsministerium) Föderaler Antimonopoldienst [Agentur für die Verwaltung staatlichen Vermögens] Föderaler Tarifdienst

Quelle: Eigene Darstellung

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Ihr wesentliches Ergebnis war die Hierarchisierung des formellen energiepolitischen Entscheidungsprozesses durch die Zusammenlegung von zuvor getrennten Kompetenzen und durch die Umwandlung ehemals eigenständiger Ministerien in untergeordnete Dienste und Agenturen. Dies betraf besonders das bis 2004 bestehende Ministerium für Energie, dessen Kompetenzen an die Föderale Energieagentur übertragen wurden, die ihrerseits dem neuen Ministerium für Industrie und Energie unterstellt war. In einem ähnlichen Verfahren wurde auch das Ministerium für Atomenergie in einen föderalen Dienst unter direkter Aufsicht des Ministerpräsidenten umgewandelt (Präsident der Russischen Föderation 2004). Ein weiteres zentrales Element der institutionellen Reform bestand darin, die umfangreiche Zahl der koordinierenden Gremien innerhalb der Regierung deutlich zu verringern. Im Rahmen dieses Prozesses, in dem insgesamt 146 Kommissionen abgeschafft wurden, entfielen auch die koordinierenden Gremien für den russischen Energiesektor. Davon war besonders die erst im Jahr 2000 gegründete Kommission für die Nutzung der Öl- und Gaspipelines betroffen, die u.a. festlegte, welche Energiemengen für den Export zugelassen wurden, und Versteigerungen für Exportquoten organisierte. Daneben stellten auch die Kommissionen für die Reform des Elektrizitätssektors, die Unterstützung der Kohlefördergebiete und den Klimawandel ihre Arbeit ein (Regierung der Russischen Föderation 2004). Damit bestand im Jahr 2004 erstmals kein politisches Gremium zur Koordinierung des russischen Energiesektors. Eine dritte Phase kann schließlich mit dem Ende des Jahres 2005 angesetzt werden. Sie beinhaltet wesentlich Reformen der Rahmenbedingungen für den Gassektor, aber auch eine zentrale politische Innovation. Diese bestand in der Einrichtung der Regierungskommission für den Treibstoff- und Energiekomplex (in Folge: Regierungskommission) gegen Ende des Jahres 2005, die nun eine umfassende Kompetenz zur Koordinierung der russischen Energiepolitik erhielt. Zudem wurden nun auch Repräsentanten der wichtigen energiewirtschaftlichen Unternehmen und Verbände in die Kommission kooptiert, die damit ein dauerhaft institutionalisiertes Verhandlungs- und Koordinierungsgremium für wesentliche gesellschaftliche und politische Interessen in diesem Bereich bietet (Regierung der Russischen Föderation 2005). Neben den politischen Institutionen haben in Russland informelle personelle Elitegruppen eine besondere Bedeutung. Dabei muss zwischen zwei Ebenen unterschieden werden: Eine populäre Typologisierung differenziert die informellen Gruppierungen anhand bestimmter inhaltlicher Positionen. Demnach bestanden spätestens seit dem Jahr 2004 die sog. „liberalen Reformer“ um Dmitrij A. Medvedev und die eher sicherheitspolitisch orientierten Siloviki mit ihrer stärksten Untergruppe 204

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um Igor I. Sechin. Oft wird dabei unterstellt, dass unter Putin der Einfluss dieser letzten Gruppe zugenommen habe und es damit zu einer stärker sicherheitspolitischen Orientierung weiter Bereiche der russischen Politik und Wirtschaft gekommen sei. Kritiker dieser Einteilung weisen allerdings darauf hin, dass die positionale Zuordnung zur Gruppe der Siloviki nicht automatisch mit der Übernahme sicherheitspolitischer Weltbilder übereinstimme (Renz 2006a: 912-921; 2006b). Außerdem waren die inhaltlichen Positionen der beiden Gruppierungen weitestgehend deckungsgleich, sodass sie letztlich sehr viel stärker als personelle Loyalitätsverbünde agierten denn als inhaltlich konkurrierende Faktionen. Sowohl Siloviki als auch liberale Reformer unterstützen die staatliche Kontrolle der Öl- und Gasfelder. Unterschiede finden sich hauptsächlich in der Frage, wie dieses Vorhaben umgesetzt und wie die resultierenden Gewinne verteilt werden sollen (Kryshtanovskaya/White 2006: 1071; Pleines 2003: 19). Daneben differenzierten sich die informellen Gruppierungen während des Untersuchungszeitraums anhand der Nähe ihrer personellen Mitglieder zu Vladimir V. Putin. Anhand dieses Kriteriums können für den Untersuchungszeitraum vier Gruppen unterschieden werden. Die erste Gruppe bestand aus einem innersten Entscheidungszentrum, welches neben Putin Dmitrij A. Medvedev und Igor I. Sechin umfasst. Die zweite Gruppe wurde von den persönlichen Bekannten Putins aus seiner Zeit in St. Petersburg gebildet, die nicht Mitglieder des innersten Entscheidungszentrums waren, während zu der dritten Gruppe Inhaber wichtiger Positionen gehörten, die erst später an dieses Bekanntennetzwerk angebunden wurden. Die vierte Gruppe bestand schließlich aus politischen und wirtschaftlichen Akteuren, die über keinerlei Zugang zu einem der inneren personellen Kreise verfügten. Zwar scheint die persönliche Nähe zu Vladimir V. Putin wichtiger für die Rekrutierung in wichtige Regierungsämter gewesen zu sein als die Zughörigkeit zu einer der „inhaltlichen Gruppen“.5 Da aber die Loyalitätsgruppen um Medve5

So gehörte der Leiter des Föderalen Antimonpoldienstes in den Jahren 2004 bis 2007, Yurij A. Artemiev, der linksliberalen Yabloko-Partei an, die zu den systemoppositionellen Kräften gerechnet wird und seit dem Jahr 2000 als politische Kraft systematisch marginalisiert wurde. Allerdings war Artemiev in den Jahren 1992 bis 1995 Mitglied im Parlament des Gebietes Leningrad und war in den Jahren 1996 bis 1999 Leiter des Finanzkomitees der Stadt St. Petersburg. Daher zählt er, ungeachtet seiner Parteizugehörigkeit, zum persönlichen Bekanntenkreis Putins und somit zur zweiten Gruppe der hier verwendeten Einteilung. Dies erklärt seine Berufung in ein wichtiges Amt der Föderalen Exekutive gerade in einem Jahr, in dem die von Putin repräsentierte Elitenkoalition ihre Machtposition deutlich ausbauen und dauerhaft stabilisieren konnte. 205

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dev und Sechin reale Bezugspunkte für die russischen Elitenmitglieder bilden, wird in der Folge eine kombinierte Variante der beiden Einteilungssystematiken eingesetzt. Die beiden „inhaltlichen“ Gruppierungen bestehen dabei aus Mitgliedern der innersten drei „Kreise“ um Putin, wobei die individuelle Durchsetzungsfähigkeit von der jeweiligen Nähe zu ihm beeinflusst wird.

3 . E r g e b n i s s e d e r N e t z w e r k a n a l ys e 3.1 Die Struktur des energiepolitischen Politikfeldnetzes in Russland Das russische Netzwerk bestand während der hier berücksichtigten Jahre 2002 bis 2007 durchgehend aus ca. 90 – im Jahr 2002 91 – Akteuren. Die Zahl der Beziehungen ging zunächst von 374 auf 366 zurück und stieg dann bis zum Jahr 2007 wieder auf 410 an. Die Dichte des russischen Netzwerks nahm in den Jahren 2004 bis 2007 zu und stieg von 0,0457 auf 0,0512. Diese Zunahme wurde eindeutig von der neu gegründeten Regierungskommission ausgelöst. Wird diese als Akteur aus dem Netzwerk herausgerechnet, geht sowohl die Zahl der Beziehungen – von 366 auf 348 – als auch die damit einhergehende Netzwerkdichte von 0,0469 auf 0,0444 zurück. Die mit dem nähebasierten ClosenessIndikator gemessene Zentralität verringert sich in den Jahren 2002 bis 2004 kontinuierlich von 39,1 Prozent auf 30,4 Prozent, steigt aber anschließend wieder auf einen Wert von 35,1 Prozent im Jahr 2007. Demgegenüber sinkt die Betweenness-Zentralisierung während des gesamten Untersuchungszeitraums stetig. Sie fällt von 46,7 Prozent im Jahr 2002 auf 30,2 Prozent im Jahr 2004 und schließlich auf 27,7 Prozent im Jahr 2007. Auch hier verändert sich das Bild, wenn die Regierungskommission aus den Daten herausgerechnet wird: In diesem Fall steigt die CBZentralisierung zum Jahr 2007 wieder auf 38,9 Prozent an. In den jeweiligen chronologischen Netzwerken lagen im russischen Politikfeldnetz 85 (2002), 114 (2004) und 103 (2007) 2-Cliquen vor. Die Verflechtungen waren also im Jahr 2004 am intensivsten. So war die OAO Gazprom im Jahr 2002 in 52 im Jahr 2004 in 78 und im Jahr 2007 in 58 2-Cliquen vertreten. Ähnlich verlaufen auch die Mitgliedschaften der OAO NK Rosneft und der energiepolitisch wichtigen Regierungsakteure, wobei sich die relative Einbindung über den Untersuchungszeitraum hinweg verschiebt. Die OAO NK Rosneft war bspw. im Jahr 2007 mit 59 Mitgliedschaften erstmals geringfügig häufiger in Cliquen vertreten als die OAO Gazprom. Die Einbindung des Präsidenten – als Verfas206

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sungsorgan und unabhängig von der Person Vladimir Putins – geht mit dem Abbau wirtschaftspolitischer Kompetenzen in der Präsidialverwaltung in den Jahren 2004 bis 2007 sogar von 63 auf 17 Cliquenmitgliedschaften zurück und erfährt damit die größte Schwächung aller staatswirtschaftlichen Akteure. Auffallend ist dagegen, dass sich die Cliquenmitgliedschaften der privaten Energieunternehmen genau gegenläufig entwickeln, also von 2002 bis 2004 deutlich zurückgehen und dann bis 2007 teilweise bis über den Ausgangswert wieder ansteigen. So ist der größte private Ölkonzern Russlands, die OAO NK Lukoil, im Jahr 2002 in 16, im Jahr 2004 nur in 6 und im Jahr 2007 wieder in 20 2-Cliquen vertreten. Dies zeigt, dass die institutionellen Reformen im russischen Energiesektor zu einer vorübergehenden Marginalisierung nichtstaatlicher Akteure geführt haben. Bei der Wiedereinbindung dieser Akteure in den Jahren 2004 bis 2007 wirkte sich zunächst die breite Besetzung der Regierungskommission aus, durch die so gut wie alle politischen und wirtschaftlichen Akteure des russischen Energiesektors direkte Kontakt zueinander erhielten. Daneben ist sie aber auch das Ergebnis der fortschreitenden Konzentrationsprozesse auf der Ebene der Energieunternehmen. So wurden die OAO Novatek und die OAO Gazprom Neft (zuvor: OAO Sibneft) erst nach ihrer Übernahme durch die OAO Gazprom in die engen Beziehungsmuster des russischen Energiesektors eingebunden.6 6

Ein Sonderfall unter den privaten Energieunternehmen ist die im Jahr 2004 zerschlagene OAO Yukos, deren Beziehungsmuster insgesamt von demjenigen der anderen privatwirtschaftlichen Akteure abweicht. Während diese Unternehmen, am stärksten die OAO Lukoil, mit der Besetzung ihres Aufsichtsrates eine bessere Einbindung in die Beziehungsstrukturen des russischen Energiesektors erreichten, verfolgte die OAO Yukos gezielt eine Strategie der Vernetzung mit transnationalen wirtschaftlichen Akteuren. In deren Rahmen wurde ca. die Hälfte des Direktorenrates mit nichtrussischen Personen besetzt. So kamen im Jahr 2002 von den 11 Mitgliedern zwei aus den USA, drei aus Frankreich und sechs aus Russland. Im März des Jahres 2004, also noch vor der Verurteilung Khodorkovskijs, wurde dieselbe Zahl von Mandaten von drei Personen aus den USA, vier aus Frankreich und vier aus Russland wahrgenommen. Damit schwächte das Unternehmen nicht nur seine Position innerhalb des Gefüges der russischen Tausch- und Kommunikationskanäle. Es verringerte zugleich im Rahmen des staatswirtschaftlich geprägten Wertesystems der politischen Akteure um Vladimir V. Putin seine Legitimität als starker Akteur in der russischen Wirtschaft. Beides stellte im Rahmen des lediglich informell abgesicherten Systems staatlich-wirtschaftlicher Beziehungen nach dem Jahr 2000 strukturelle Nachteile dar, die durch die stärkere Vernetzung mit der transnationalen Energiewirtschaft nicht ausgeglichen werden konnten. Die Zerschlagung der OAO Yukos wurde daher auch durch die fehlerhafte Vernetzungsstrategie des Unternehmens selbst möglich, die es nicht ausreichend gegen das Vorgehen der politischen Akteure absicherte. 207

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Ein wesentliches Merkmal des russischen Politikfeldnetzes im Energiesektor war der hohe Anteil gemischter 2-Cliquen an allen intern dicht verbundenen Teilgruppen. Die Cliquen dieses Typs stiegen von 60 im Jahr 2002 auf 83 im Jahr 2004 und schließlich auf 95 im Jahr 2007. Dies entsprach jeweils einem Anteil an allen 2-Cliquen im Netzwerk von 70,6 Prozent (2002), 72,8 Prozent (2004) und 91,4 Prozent (2007). Die Zusammenführung politischer und wirtschaftlicher Akteure durch gemeinsame Cliquenmitgliedschaften war also spätestens im Jahr 2007 der Normalfall im russischen Politikfeldnetz. Dabei konnten nicht alle Akteure gleichermaßen von dieser intensiven Vernetzung profitieren. Besonders Akteure, die nur trivial an das Politikfeldnetz angebunden waren, wie etwa die Gewerkschaften und die Oppositionsparteien, waren nur äußerst selten in derartigen dicht verbundenen Teilgruppen vertreten. Die staatswirtschaftlichen Energieunternehmen OAO Gazprom, OAO NK Rosneft und RAO EES Rossij gehörten demgegenüber zu den häufigsten Mitgliedern in gemischten 2-Cliquen. So bestanden in den verschiedenen Untersuchungsjahren jeweils nur 9 (2002), 11 (2004) und 17 (2007) gemischte Cliquen, in denen das Gasunternehmen kein Mitglied war. Der russische Unternehmerverband RSPP hat die höchsten absoluten Zentralitätswerte im energiepolitischen Netzwerk. Nur im Jahr 2007 weist die Regierungskommission höhere Werte für die Closeness- und die Degree-Zentralität auf. Die OAO Gazprom hat demgegenüber die höchsten Zentralitätswerte für alle Akteure, die tatsächlich energiepolitisch handlungsfähig sind. Sie ist daher am besten dazu in der Lage, neue Informationen und Ressourcen im Netzwerk schnell zu erhalten und ihre weitere Diffusion zu kontrollieren.7 Es gelingt ihr allerdings nicht durchgehend, diese Zentralitätswerte auch auf die Kontrolle der Beziehungen zwischen Teilgruppen im energiepolitischen Politikfeldnetz zu übertragen. Im Jahr 2004 hat die OAO Gazprom die beste Beziehungsstruktur in ihrem Egonetzwerk, um strukturell autonom gegenüber anderen Akteuren agieren zu können, während dies im Jahr 2002 eindeutig bei der Regierungsleitung der Fall ist. Im Jahr 2007 liegt zwar die effektive Netzwerkgröße der OAO Gazprom unter derjenigen der Regierungsleitung, dafür ist in ihrem Egonetzwerk allerdings auch die Einschränkung geringer. Ihre Position ist also zwar zunächst weniger effektiv als diejenige der Regierung, kann von den betroffenen Akteuren aber auch weniger leicht umgangen 7

Der Degree-Wert der Regierungsleitung im Jahr 2002 kann außer Betracht bleiben, da er bei ungerichteten Beziehungen lediglich die direkten Kontakte eines Akteurs darstellt und keine weitergehende inhaltliche Interpretation zulässt.

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werden. Das Unternehmen kann seine starken Brokermöglichkeiten aus dem Jahr 2004 also teilweise stabilisieren. Die Akteure mit den absolut höchsten Broker-Werten sind wiederum der RSPP bis 2004 und im Jahr 2007 die Regierungskommission. Insgesamt ergeben die Zentralitätsund Brokeragewerte allerdings ein uneinheitliches Bild der sozialen Kontrollmöglichkeiten in der russischen Energiepolitik. Während die OAO Gazprom der zentralste handlungsfähige Akteur ist, ist die Regierung eher dazu in der Lage, die Beziehungen zwischen Teilgruppen zu kontrollieren. Nur im Jahr 2004 ist die OAO Gazprom der eindeutig stärkste handlungsfähige Akteur im energiepolitischen Politikfeldnetz. Der Reformprozess verläuft über den Untersuchungszeitraum hinweg nicht kontinuierlich, sondern weist besonders im Jahr 2004 spezifische Merkmal auf, die zu keinem anderen Vergleichsdatum vorliegen. So erreichten in diesem Zeitraum die gemeinsamen 2-Cliquen-Mitgliedschaften politischer Akteure und staatswirtschaftlicher Energieunternehmen ihren höchsten Wert, während privatwirtschaftliche Energieunternehmen am wenigsten oft in 2-Cliquen vertreten waren. Damit verbesserten sich die Möglichkeiten der staatswirtschaftlichen Akteure, ihre Präferenzen in den energiepolitischen Entscheidungsprozess einzuspeisen, während sich die Chancen möglicherweise konkurrierender Präferenzen vorübergehend verschlechterten. Weiterhin hatte die OAO Gazprom nur im Jahr 2004 die besten Möglichkeiten aller handlungsfähigen Akteure, um als Netzwerkbroker agieren zu können. Während dies im Jahr 2002 eindeutig die Regierungsleitung war, hatten beide Akteure im Jahr 2007 gleich gute Möglichkeiten, die Informations- und Tauschprozesse zwischen Teilgruppen im russischen energiepolitischen Politikfeldnetz zu kontrollieren. Tabelle 2: Maximale Zentralitätswerte von 2002 bis 2007 nach Akteuren 2002-2003 RSPP Regie(32,2) rung (17,8) Closeness RSPP Gaz(51,1) prom (43,3) Between- RSPP Gaz(48) prom ness (15,2)

Degree

2004-2005 RSPP Gaz(21,4) prom (20,2) RSPP Gaz(45,4) prom (42,8) RSPP Gaz(32,2) prom (21,6)

2006-2007 GazRegKomm prom (19,1) (34,8) GazRegKomm prom (44,5) (50) RSPP Gaz(29,9) prom (15,1)

Quelle: Eigene Darstellung

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Damit war die OAO Gazprom nur im Jahr 2004 der eindeutig einflussreichste Akteur im russischen energiepolitischen Politikfeldnetz, während sie diese Position zu den anderen Zeiträumen mit politischen Akteuren teilen musste. In diesem Zusammenhang ist auch auffallend, dass die OAO Gazprom lediglich im Jahr 2004 mehr als einen direkten Kontakt zu institutionellen Repräsentanten der russischen Präsidialverwaltung besaß. Die einsetzende Zentralisierung und Konzentration des russischen Energiesektors schuf also während der Jahre 2004 und 2005 spezifische institutionelle Rahmenbedingungen, die mit der Einführung der Regierungskommission gegen Ende des Jahres 2005 wieder entfielen. Diese Rahmenbedingungen eröffneten für die staatswirtschaftlichen Energieunternehmen ein zeitliches Fenster optimaler Repräsentationschancen (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1: Das russische energiepolitische Gesamtnetzwerk8

Quelle: eigene Darstellung

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In dieser und den folgenden Graphiken werden die Akteurgruppen folgendermaßen gekennzeichnet: Exekutive (Regierung und Präsidialadministration): rote Diamanten; Legislative (Staatsduma und Föderationsrat): blaue verschränkte Dreiecke; Staatsunternehmen: orangene Quadrate; private Unternehmen: gelbe Dreiecke; Verbände: grüne Kreise; Parteien: blaue Kreise. Die Abkürzungen haben folgende Bedeutungen: PA: Präsidialadministration; SD: Staatsduma; FR: Föderationsrat; RN: Rosneft; Gew. ÖG: Gewerkschaft Öl und Gas; Kmt: Komitee; Kmsn.: Kommission.

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Abbildung 2: Netzwerk der staatswirtschaftlichen Akteursgruppe

Quelle: eigene Darstellung Das russische energiepolitische Netzwerk ist also durch eine intensive Verflechtung politischer und staatswirtschaftlicher Akteure gekennzeichnet, deren unterschiedliche Egonetzwerke über vielfältige gemeinsame Cliquenmitgliedschaften miteinander verbunden sind. An diesen Entscheidungskern sind die semiperipheren Privatunternehmen angeschlossen, wobei deren Übereinstimmung mit den Entscheidungen des Zentrums weniger durch die vergleichsweise geringe Verflechtung als vielmehr über materielle Sanktionsmöglichkeiten gewährleistet wird. Schließlich bestehen eine ganze Reihe peripherer Akteure, die lediglich marginal an das Entscheidungszentrum angebunden sind und keine Chance haben, ihre Präferenzen in den Entscheidungsprozess einbringen zu können. Teilweise wirken dabei gerade die einmaligen Beziehungen zu Mitgliedern der zentralen Akteursgruppe als Sanktionsmechanismen, mit denen die Übereinstimmung der peripheren Akteure mit den Entscheidungen des Zentrums erzwungen werden kann. Dies ist offensichtlich der Fall, wenn zuvor unabhängige Firmen über den Erwerb von Anteilen in Tochterunternehmen staatswirtschaftlicher Akteure umgewandelt werden, wie dies bspw. bei der OAO Novatek geschehen ist (vgl. Abbildung 2). Innerhalb der zentralen Akteursgruppe bestehen dabei drei unterschiedliche Koordinationskerne. Der formelle Koordinationskern ist die energiepolitisch zuständige Föderationsregierung, wobei ab dem Jahr 2005 neben der Regierungsleitung selbst besonders die Regierungskom211

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mission zu berücksichtigen ist. Daneben besteht ein informeller institutioneller Koordinationskern, der bei dem korporativen Akteur mit den höchsten Zentralitätswerten und der größten Wahrscheinlichkeit für strukturelle Löcher in seinem Egonetzwerk liegt. Schließlich besteht ein informeller personeller Koordinationskern, der sich aus Vladimir V. Putin, Dmitrij A. Medvedev und Igor I. Sechin zusammensetzt. Während der personelle Koordinationskern dabei die Integration der vielfältigen Institutionen in einen eliteninternen Präferenzkompromiss gewährleistet, kann dennoch nicht einfach von einer Dominanz dieses personellen Zentrums gegenüber den institutionellen ausgegangen werden. Diese erhalten eine relative Unabhängigkeit zum einen durch ihre jeweiligen Organisationsinteressen, zum anderen jedoch auch besonders durch die personellen Konfliktlinien innerhalb der von Putin repräsentierten Elitenkoalition. Die in den institutionellen Koordinationskernen zusammengefassten sozialen und materiellen Handlungsressourcen stärken naturgemäß die relative Position eines individuellen Akteurs und seines personellen Netzwerks, sodass die personellen Akteure eine Präferenz zur Stärkung ihrer jeweiligen institutionellen Basis entwickeln.

3.2 Die Anbindung der OAO Gazprom an das politische Entscheidungssystem Für die politische Steuerung des russischen Gasmarktes sind besonders die Beziehungen der OAO Gazprom zu politischen Akteuren ausschlaggebend. Diese Beziehungen können entweder über direkte Kontakte oder über gemeinsame Mitgliedschaften in 2-Cliquen hergestellt werden. Die OAO Gazprom hatte im Jahr 2002 14, im Jahr 2004 17 und im Jahr 2007 16 direkte Kontakte. Die größte Gruppe bilden dabei die politischen Akteure, die zu den einzelnen chronologischen Schnitten 5, 8 und 6 unmittelbare Beziehungspartner stellen, was jeweils 35,7 Prozent (2002-2003), 47,1 Prozent (2004-2005) und 41,2 Prozent (2006-2007) aller direkten Kontakte ausmacht. Diese Gruppe wurde dabei durchgehend von Mitgliedern der beiden Zweige der russischen Exekutive gebildet. Parlamentarische oder parteipolitische Akteure ohne Ämter in Regierung bzw. Präsidialverwaltung waren – mit der einzigen Ausnahme der Partei Edinaâ Rossia im Jahr 2007 – nicht im Egonetzwerk des Gasmonopolisten vertreten. Innerhalb der politischen Akteure verschiebt sich allerdings die Bedeutung, welche die beiden Exekutivzweige für die Einbindung des Gasunternehmens haben. Institutionelle Mitglieder der Präsidialverwaltung stellen dabei einmalig im Jahr 2005 mehr Akteure (5 Organisationseinheiten) als die Föderationsregierung (3 Organisa212

INSTITUTIONELLE UND PERSONELLE NETZWERKE

tionseinheiten). Demgegenüber ist im Jahr 2002 nur die Leitung der Präsidialverwaltung – über Dmitrij A. Medvedev – an den direkten Kontakten der OAO Gazprom beteiligt, während im Jahr 2007 keinerlei direkter Kontakt zwischen den beiden korporativen Akteuren besteht. Auf Seiten der Föderationsregierung ist ausschließlich das Ministerium für Wirtschaftliche Entwicklung und Handel an den unmittelbaren Beziehungen des Gasunternehmens beteiligt, während das Ministerium für Energie und Industrie erst ab 2004 in die direkten Kontakte aufgenommen wird. Jeder dieser Kontakte wird dabei über die Mitgliedschaft der Minister im Direktorenrat der OAO Gazprom hergestellt. Unterhalb der ministeriellen Ebene ist lediglich die Föderale Agentur für Staatsvermögen in den direkten Kontakten des Gasmonopolisten vertreten. Unmittelbare Beziehungen zu energiepolitisch wichtigeren Agenturen und Diensten, wie der Föderalen Energieagentur oder dem Föderalen Tarifdienst, bestehen im Untersuchungszeitraum nicht. Die Regierungsleitung, also der Ministerpräsident und seine Stellvertreter, ist sowohl im Jahr 2002 als auch im Jahr 2007 ein direkter Kontakt der OAO Gazprom, fällt aber im Jahr 2004 aus den unmittelbaren Beziehungen des Unternehmens heraus. Weitere direkte Kontaktgruppen des Gasunternehmens sind, neben den Tochterunternehmen in den Bereichen Förderung und Transport, besonders die externen Unternehmen und die Verbände. In dieser letzten Gruppe sind dabei durchgehend der RSPP sowie die Unternehmensgewerkschaft ROGWU-Gazprom vertreten, die allerdings nur marginal an das Gasunternehmen angebunden ist. Die Beziehungen zu den Firmen außerhalb der Gazpromgruppe werden durchgehend über mehrfache Mitgliedschaften politischer Akteure in den verschiedenen Direktorenräten staatlicher und teilstaatlicher Energieunternehmen hergestellt und sind insofern symptomatisch für die enge Verflechtung privater und politischer Akteure im russischen Energiesektor. Konkret werden über derartige Beziehungen der Elektrizitätsmonopolist RAO EES Rossij, das Pipelineunternehmen OAO AK Transneft sowie einmalig im Jahr 2004 die OAO Tatneft an die OAO Gazprom angebunden. Das Ministerium für Wirtschaftliche Entwicklung und Handel ist bis zum Jahr 2007 der politische Akteur, mit dem die OAO Gazprom die meisten Cliquenmitgliedschaften teilt. Das eigentlich zuständige Ministerium für Energie und Industrie ist erst im Jahr 2007 und nur mit einem knappen Vorsprung am häufigsten in die 2-Cliquen des Gasmonopolisten eingebunden. Weiterhin schlägt sich in den Cliquenmitgliedschaften des Gasunternehmens auch nieder, dass die Präsidialverwaltung ihre wirtschaftlichen Kompetenzen im Untersuchungszeitraum verringert hat.

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Tabelle 3: Gemeinsame Cliquenmitgliedschaften der OAO Gazprom

Präsident Regierung Energieministerium Wirtschaftsministerium Rosneft Novatek

2002-2003 21 19 38 39 20 2

2004-2005 43 40 35 58 64 0

2006-2007 7 40 42 41 42 13

Quelle: Eigene Darstellung Sie verliert zum Jahr 2007 nicht nur absolut an gemeinsamen Cliquenmitgliedschaften mit dem wichtigsten russischen Unternehmen, sondern fällt auch auf den zweiten Platz nach der Regierungsleitung zurück. In den Jahren 2004 und 2007 hat die OAO Gazprom die meisten Cliquenmitgliedschaften mit der OAO NK Rosneft. Auffallend ist dies, weil die beiden Unternehmen konkurrierenden informellen Elitengruppen zugerechnet werden und u.a. aus diesem Grund keinerlei direkte Kontakte zueinander aufweisen. Dieser Umstand zeigt noch einmal die große Bedeutung der intensiven Verflechtungen im staatswirtschaftlichen Teilbereich der russischen Energiewirtschaft, wegen der auch miteinander konkurrierende und direkt unverbundene Akteure einander über kurze soziale Pfade erreichen können. Die personelle Anbindung der OAO Gazprom erfolgt im Untersuchungszeitraum in erster Linie über Dmitrij A. Medvedev sowie die Minister für Energie und Wirtschaft, Viktro Khristenko und German Gref. Dies bedeutet zunächst, dass alle politischen Akteure im Direktorenrat des Gasunternehmens zu der als wirtschaftsliberal geltenden Elitengruppe um Dmitrij A. Medvedev gehörten. Da Medvedev selbst in leitender Funktion für das Unternehmen tätig war, kann der Einfluss dieser Gruppierung auf die OAO Gazprom sehr hoch veranschlagt werden. Mitglieder der eher sicherheitspolitisch orientierten Gruppe um Igor I. Sechin sind im Untersuchungszeitraum nicht den Gremien des Gasunternehmens vertreten Gleichzeitig bedeutet diese Besetzung allerdings auch, dass kein Repräsentant der energiepolitisch entscheidenden Dienste und Agenturen unterhalb der ministeriellen Ebene im Direktorenrat der OAO Gazprom vertreten ist, das Unternehmen also in erster Linie zu eher repräsentativen Akteuren Zugang erhält. Darin liegt ein struktureller Gegensatz zur Einbettung der hier als informelle Konkurrentin beschriebenen OAO NK Rosneft, die über ihren ehemaligen Manager Sergej Oganesyan einen direkten diachronen Kontakt zur Föderalen Agentur besitzt. Es sollte daher der OAO NK Rosneft und den in ihr dominierenden 214

INSTITUTIONELLE UND PERSONELLE NETZWERKE

Mitgliedern der „Gruppe Sechin“ leichter fallen als der OAO Gazprom, die praktische Umsetzung der russischen Energiepolitik in ihrem Sinne zu beeinflussen. Schließlich sind die drei genannten politischen Repräsentanten unterschiedlich stark in das personalisierte informelle Entscheidungszentrum um Vladimir V. Putin eingebunden. Dmitrij A. Medvedev gehört nicht nur zu der St. Petersburger Gruppe persönlicher Bekannter Vladimir Putins, aus denen sich große Teile der russischen politischen Elite rekrutieren, sondern ist neben Igor Sechin und Vladimir Putin selbst auch eines der drei Mitglieder des innersten informellen Entscheidungszentrums der russischen Politik. Seine Mitgliedschaft im Direktorenrat der OAO Gazprom ist ohne Zweifel das entscheidende Instrument zur personellen Anbindung des Gasunternehmens an dieses Entscheidungszentrum. Wirtschaftsminister German O. Gref ist zwar kein Mitglied dieser personalisierten Entscheidungsstruktur, gehört aber zu dem St. Petersburger Netzwerk persönlicher Kontakte Putins, zu dem er insofern privilegierten Zugang hat.9 Energieminister Viktor Khristenko gehört keiner dieser beiden Gruppen an, gilt allerdings, wohl auch wegen seiner Zusammenarbeit mit Finanzminister Aleksandr Kudrin, als ein Mitglied der „Liberalen“ um Medvedev. Dieser informellen Gruppierung wird auch der Vorstandsvorsitzende der OAO Gazprom Alexej Miller zugerechnet, der zeitgleich mit Vladimir Putin in der Universität und der Stadtverwaltung St. Petersburg tätig war. Er wirkt damit als ein drittes Bindeglied zwischen dem Gasmonopolisten und dem personellen Entscheidungszentrum der russischen Politik, das damit in den Gremien der OAO Gazprom wesentlich stärker präsent ist als in denjenigen der informell konkurrierenden OAO NK Rosneft. Innerhalb der zentralen Akteursgruppe lassen sich die variablen Durchsetzungschancen der institutionellen Mitglieder anhand von drei Kriterien bestimmen. Erstens bestimmt die Einbindung eines Akteurs in die vielfältigen 2-Cliquen dieser Akteursgruppe seine Möglichkeiten, seine Präferenzen überhaupt in die eliteninternen Entscheidungsprozesse einbringen zu können. Je intensiver die Einbindung, desto besser sind die entsprechenden Chancen des jeweiligen Akteurs. Zweitens sind innerhalb dieser Anbindung die direkten Kontakte des jeweiligen Akteurs relevant, da sie angeben, welche Ansprechpartner er ohne die Vermittlung Dritter erreichen kann. Die Durchsetzungschancen eines Akteurs 9

German O. Gref war in den Jahren 1990 bis 1993 an der Universität St. Petersburg sowie daran anschließend bis zu seinem Wechsel in die Föderationsregierung im Jahr 1998 in der Verwaltung der Stadt tätig. In beiden Positionen hat er mit Vladimir V. Putin zusammengearbeitet, dessen Karrierestationen er mit einer zeitlichen Verzögerung von wenigen Jahren jeweils nachvollzog. 215

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sind umso größer, je mehr und je stärkere Akteure er miteinander in Beziehung setzt. Dabei müssen neben den formellen Kriterien auch die inhaltlichen Handlungsressourcen dieser Ansprechpartner berücksichtigt werden. Drittens steigen die Durchsetzungschancen eines Akteurs mit seinen Möglichkeiten, die Kommunikations- und Tauschprozesse im energiepolitischen Politikfeldnetz zu kontrollieren. Diese Chancen können über die Zentralitätswerte und Broker-Positionen gemessen werden. Viertens ist schließlich bedeutsam, ob ein institutioneller Akteur über die in ihm vertretenen Individuen eine direkte Beziehung zum personellen Koordinationskern der zentralen Akteursgruppe etablieren kann. Für die OAO Gazprom ergeben diese Kriterien ein differenziertes Bild. Für eine hohe Durchsetzungsfähigkeit des Gasunternehmens sprechen zunächst seine intensive Einbindung in 2-Cliquen, seine große Zentralität im Politikfeldnetz sowie sein direkter Kontakt zum personellen Koordinationskern über Dmitrij A. Medvedev. Diesen starken Faktoren stehen aber einige Einschränkungen entgegen. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass institutionelle Mitglieder der Föderationsregierung im Gegensatz zur OAO Gazprom teilweise besser als Netzwerkbroker agieren können. Auch führen die direkten Kontakte des Gasunternehmens zu politischen Akteuren überwiegend zu den eher repräsentativen Ministerien, während die tagespolitisch relevanteren Agenturen stärker an die OAO NK Rosneft angebunden sind. Schließlich ist die OAO NK Rosneft im Jahr 2007 erstmals auch häufiger in 2-Cliquen vertreten als die OAO Gazprom. Der russische Gasmonopolist ist damit zwar ein starker Akteur im energiepolitischen Politikfeldnetz, steht aber einem ebenfalls starken Konkurrenten gegenüber und untersteht in den Jahren 2002 und 2007 einer durchsetzungsfähigen Föderationsregierung mit weit reichenden Koordinierungskompetenzen. Die Präferenzen der OAO Gazprom können sich daher nur soweit durchsetzen, wie dies die politischen Akteure des formellen und des informellen personellen Koordinationskerns zulassen und sie sich gegenüber der konkurrierenden OAO NK Rosneft durchsetzen kann.

4 . Z u s a m m e n f a s s e n d e r Ab s c h l u s s u n d Au s b l i c k Hinsichtlich der Ausgangsfragen kann festgestellt werden, dass im russischen energiepolitischen Politikfeldnetz nicht von einer einseitigen Beeinflussung wirtschaftlicher durch politische Akteure ausgegangen werden kann. Vielmehr wird die russische Energiepolitik in einem komplexen institutionellen Rahmen ausgehandelt, innerhalb dessen individuelle Repräsentanten unterschiedlicher institutioneller Akteure ihre verschie216

INSTITUTIONELLE UND PERSONELLE NETZWERKE

denen Präferenzen in einen gemeinsamen Präferenzkompromiss zusammenführen. Da die an dem Aushandlungsprozess beteiligten Individualakteure teilweise gleichzeitig unterschiedliche korporative Akteure vertreten, kann bereits auf dieser ersten Ebene nicht von einem eindeutigen Gegensatz politischer und wirtschaftlicher Zielvorstellungen gesprochen werden. Wesentlicher als diese Unterscheidung anhand formeller Grenzen sind daher die Präferenzen der individuellen Akteure, welche die jeweiligen Firmen und Institutionen in den informellen Aushandlungsprozessen repräsentieren. In diesem Zusammenhang wurde festgestellt, dass die Gremien der OAO Gazprom überwiegend mit Vertretern der Gruppe um Dmitrij A. Medvedev besetzt sind, die teilweise wirtschaftsliberale Vorstellungen verfolgen. Dies spricht für eine relative Orientierung des Gasunternehmens an tatsächlich wirtschaftlichen Zielen der Gewinnmaximierung. Demgegenüber sind die Gremien der OAO NK Rosneft überwiegend mit Repräsentanten der stärker sicherheitspolitisch orientierten Gruppe der Siloviki um Igor I. Sechin besetzt. Bei diesem Unternehmen kann daher mit einer stärkeren Berücksichtigung politischer Zielvorstellungen gerechnet werden, ohne dass das Ziel der Gewinnmaximierung ganz aus dem Blick gerät. Die institutionellen Reformen des Jahres 2004 haben einerseits die Koordinierungsfunktion der politischen Instanzen, besonders der Föderationsregierung, gestärkt. Gleichzeitig haben sie vorübergehend ein institutionelles Fenster geschaffen, das die Durchsetzungsfähigkeit der staatswirtschaftlichen Energieunternehmen, besonders der OAO Gazprom, vorübergehend deutlich verbessert hat. Wie weiterhin gezeigt wurde, hat die Gründung der Regierungskommission gegen Ende des hier gewählten Untersuchungszeitraums einerseits den institutionellen Koordinierungskern gestärkt, andererseits aber auch zu einer Vervielfältigung durchsetzungsfähiger Akteure im russischen Politikfeldnetz geführt. Damit wurde zwar ab dem Jahr 2005 die Durchsetzungsfähigkeit der Föderationsregierung gegenüber den staatswirtschaftlichen Akteuren wieder verbessert. Diese Verbesserung der Regierungsposition führte jedoch nicht dazu, dass sie die Durchsetzungschancen der Energiefirmen absolut verschlechtert hätten, wie das Beispiel der OAO Gazprom zeigt. Damit hatte das Unternehmen auch nach 2005 gute Chancen, seine eher auf Profitmaximierung gerichteten Präferenzen erfolgreich zur Grundlage der russischen Energiepolitik zu machen. Die Entwicklungen um die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2007, die von der netzwerkanalytischen Untersuchung nicht mehr erfasst wurden, haben das hier gezeichnete Bild etwas verändert. Indem Vladimir V. Putin Ministerpräsident wurde, vereinigten sich der formelle und der informelle personelle Koordinationskern der russischen Energiepolitik in 217

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einer Person. Dies stärkt naturgemäß die Durchsetzungsfähigkeit der beiden Pole. Gleichzeitig verlor die OAO Gazprom mit der Wahl Dmitrij A. Medvedevs ihren direkten Kontakt zum personellen Koordinierungskern um Vladimir V. Putin. Schließlich übernahm mit Igor I. Sechin ein Vertreter der Siloviki die Leitung der Regierungskommission, der gleichzeitig zum inneren personellen Koordinierungskern gehört. Alle drei Entwicklungen verschlechtern sowohl die Position der OAO Gazprom im russischen energiepolitischen Politikfeldnetz als auch ihre relative Durchsetzungsfähigkeit innerhalb der zentralen Akteursgruppe. Sie führen gleichzeitig zu einer relativen Stärkung der Siloviki, die nun neben der OAO NK Rosneft auch die Regierungskommission kontrollieren. Es ist daher wahrscheinlich, dass diese informelle Gruppierung die russische Energiepolitik stärker als bisher beeinflussen kann. Ob die russischen Gasexporte also politisch instrumentalisiert werden können, ist (auch) eine Frage der relativen Durchsetzungsfähigkeit der OAO Gazprom gegenüber staatlichen Akteuren. Die Untersuchung hat gezeigt, dass diese Durchsetzungsfähigkeit im Jahr 2004 am größten war und seitdem tendenziell zurückgegangen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass politische Präferenzen die Auslandsaktivitäten des größten russischen Gasunternehmens zumindest beeinflussen können, ist damit tendenziell (weiter) gestiegen. Ob und wie sich dieser zunehmende Einfluss in den deutsch-russischen und EU-russischen Energiebeziehungen auswirken wird, kann mit netzwerkanalytischen Instrumenten nicht abschließend geklärt werden. Dafür ist vielmehr neben einer Fortschreibung der hier bis 2007 gesammelten Daten auch eine umfassende Analyse der akteurspezifischen Präferenzen notwendig.

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Mobile Elite n in der Inte rnationa lis ierung multinationaler Unternehmensnetzw erke. Die Rolle h ybriden sozialen Kapitals bei der Überbrückung kultureller Distanz MICHAEL PLATTNER

Im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft ist die Arbeit von Managern im Kontext multinationaler Unternehmen (MNU) zunehmend in verschiedenen kulturellen Umfeldern lokalisiert. Diesem Umstand ist es zu schulden, dass sich in den letzten drei Jahrzehnten ein neuer Typ des international agierenden Managers herausgebildet hat: der hybride Manager. Es wird theoretisch angenommen, dass dieser hybride Manager als vermittelndes Glied zwischen entsandten expatriierten Managern und lokal angestellten Managern sowie Mitarbeitern in Niederlassungen eines Gastlandes wirkt (Almeida/Kogut 1999; Granovetter 2005; Morrison 2002: 1156f.; Fussel et al. 2006: 158). Vor dem Hintergrund eines multikulturellen Arbeitsplatzes ist der Grad sozialer Einbettung entscheidend für die Interaktionsfähigkeit und Umsetzung von Managementpraktiken. Für lokale Manager und Mitarbeiter ist das Gastland der Niederlassung der vorrangige Platz sozialer Einbettung. Dorthin entsandte Manager stehen dagegen zum Teil in größter kultureller Distanz. Ist dies der Fall, entsteht ein Spannungsfeld, in dem die expatriierten Manager darauf angewiesen sind, strategische Ziele lokal zu implementieren. Der neue hybride Manager ist im Hinblick darauf das verbindende Glied. Er ist sowohl in der Heimatkultur als auch der Gastlandkultur sozialisiert 221

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und stellt die Funktionsfähigkeit der Beziehung zwischen der lokalen und globalen Akteursebene sicher. Die hier vorgestellte These lautet daher, dass mit der zunehmenden Flexibilisierung internationalisierter Arbeitsbeziehungen die Bedeutung dieser Intermediäre zunimmt, da lokale und entsandte Arbeitskräfte aufeinander bezogene Ziele hinsichtlich Produktivität und Leistung verfolgen. Die zentrale Frage ist daher: Nehmen hybride Akteure die zuvor beschriebene Funktion als Broker von Information und Wissen im Unternehmensnetzwerk tatsächlich wahr? Gegenwärtig diskutierte theoretische Überlegungen stützen diese Fragestellung. Zur empirischen Beantwortung der Frage muss ein soziales Netzwerk erfasst werden, welches das Beziehungsgefüge der verschiedenen Managertypen in der zeitlichen Dynamik analysierbar macht. Erst das relationale Interaktionsmuster offenbart den informellen Charakter komplementären sozialen Lernens zwischen lokalen Mitarbeitern, expatriierten und hybriden Managern, basierend auf deren individuellen Fähigkeiten. Bisherige Untersuchungen zur Generierung von Wissen und dem sozialen Lernen in Netzwerken finden innerhalb eines kulturellen Kontextes statt und stellen die Dimension des Vertrauens in den Vordergrund. Die Dimension kultureller Normen bleibt dabei ausgeblendet. Erst die Betrachtung der Interaktion zwischen mehreren kulturellen Umfeldern und die damit einhergehende Multi-Kontextualität der Netzwerke internationaler Manager bedarf der expliziten Betrachtung kultureller Normen als erklärenden Faktor (Coleman 1993; Granovetter 1985; ders. 1992; Nooteboom 2006; Putnam 2002; Lin/Erickson 2008: 7f.). Die Fähigkeit, sich am ausländischen Arbeitsplatz an kulturell fremde Normen anzupassen, ist die Voraussetzung für eine erfolgreiche Erschließung informeller Wissensressourcen (Jun et al. 2001: 375; Toh/ DeNisi 2005: 138). Bezüglich des interkulturellen Arbeitsumfeldes internationaler Manager ergibt sich das Problem, dass verschiedene Kulturen unterschiedliche Normen vorgeben, welche den Mitgliedern eines sozialen Netzwerkes wiederum gegensätzliche Handlungsanweisungen vorgeben. Daher sind die kulturellen Normen im Prozess der Internationalisierung von Unternehmen als endogene Variablen zu begreifen. Vertrauen zwischen Akteuren unterschiedlicher Kulturen geht aus dem Verstehen fremder Normen und der Anpassung an diese hervor. „Managers establish and maintain strong expressive ties with peers who come from similar cultures“ (Manev/Stevenson 2001: 296). Wenn die internationalen Manager im Rahmen ihrer Tätigkeit kompatibler zu ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld werden, dann ist die zunehmende Ähnlichkeit aufeinander bezogener Akteure ein Ausdruck für niedrigere Zugangsbarrieren und schrumpfende kulturelle Distanz zwi222

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schen lokalen Mitarbeitern, expatriierten und hybriden Managern. Um die Ähnlichkeit, d.h. die Homophilie, der Akteure messen zu können, müssen drei Bedingungen erfüllt werden: Zum ersten muss die Dynamik des Internationalisierungsprozesses multinationaler Unternehmen mit Hilfe einer zeitlichen Panel-Analyse gemessen werden (Levi-Strauss 1978, Nadel 1957). Zweitens müssen die Zeitperioden, in denen sich jeweils ein charakteristisches Netzwerk etabliert, vom Grad der Internationalisierung unterscheidbar sein. Drittens muss der Kontext durch eine kulturelle Distanz gekennzeichnet sein, die durch das Handeln der Akteure überbrückt werden muss (Manev/Stevenson 2001: 285f.). Erfüllt werden diese drei Bedingungen in der illustrierten Novelle, einem sogenannten Business manga, über den internationalen Manager Kosaku Shima. Der Autor Kenji Hirokane ist ein ehemaliger Manager bei Matsushita/Panasonic und zeichnet ein realitätsnahes Abbild der Geschäftsbeziehungen (Hirokane 1999; 2002; 2004; 2005). Die Grundlagen der Geschichten sind durch seine teilnehmenden Beobachtungen bis ins Detail recherchiert, so dass anekdotische Evidenz die Basis der vorliegenden empirischen Analyse bildet. Die Laufbahn von Kosaku Shima beginnt 1983 als kurzeitig entsandter expatriierter Manager nach Nordamerika. In der Folge führt ihn seine Karriere durch Europa und Asien mit teilweise mehrjähriger Managementtätigkeit. Er arbeitet in kulturell sehr unterschiedlichen Kontexten mit anderen entsandten und hybriden Managern sowie lokalen Mitarbeitern zusammen. Das Unternehmen in dem er tätig ist, ist ein multinationales Elektronikunternehmen, welches sich während dreier wirtschaftlich klar zu unterscheidenden Perioden internationalisiert. Von 1983 bis 1992 findet im Rahmen der „Bubble Economy“ Internationalisierung durch den Aufbau von Niederlassungen und den Aufkauf von Wettbewerbern statt (Wood 1993). In der darauf folgenden „Lost Decade“ zwischen 1993 und 2001 verschlechtern sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Japan, so dass Internationalisierung vor allem in Form produktivitätsfördernder Investitionen in Fabriken in Asien weitergeführt wird (Saxonhouse/Stern 2004). Im „New Century“ stehen im Zuge der Erholung der japanischen Wirtschaft seit 2002 der Ausbau der Produktion und der Aufbau des Vertriebs im chinesischen Markt im Zentrum der Internationalisierung (Abegglen 2006). Die Geschichten rund um Kosaku Shima erscheinen seit 1983 in wöchentlicher Reihenfolge und geben die jeweilige wirtschaftliche Situation und den akteursbezogenen Handlungskontext exakt wieder. Vor diesem Hintergrund können die typischen Handlungspraktiken und Interaktionsmuster der lokalen Mitarbeiter, der expatriierten Manager und der hybriden Manager im Sinne einer sozialen Netzwerkanalyse herausgearbeitet werden. 223

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Die zu testenden Hypothesen hierzu werden im folgenden Kapitel aus dem gegenwärtigen Forschungsstand zum sozialen Kapital abgeleitet. Die Datenbasis und die Methodologie werden in Kapitel zwei beschrieben. In Kapitel drei werden die Ergebnisse der Netzwerkanalyse im Detail dargestellt. Kapitel vier fasst die Ergebnisse im Hinblick auf die Ausgangsfragestellung zusammen.

1. Soziales Kapital und Managementpraktiken der mobilen Elite Dieser Aufsatz bezieht sich auf die Erkenntnisse der Sozialkapitaltheorie und fokussiert auf die Ko-Lokalisierung von Managementpraktiken im Geschäftsumfeld multinationaler Unternehmen, in dem die Sozialisierung durch kulturelle Normen bedingt wird. Im Hinblick auf den Ansatz des Relationalen Konstruktivismus der sozialen Netzwerkanalyse ist es entscheidend, in welchem sozialen Kontext interagiert wird, d.h. wo und wie lokale Mitarbeiter, expatriierte Manager und hybride Manager Wissen generieren und wie sich dieses im Zeitverlauf verändert. Expatriierte Manager gehören vor diesem Hintergrund zu einer epistemischen Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Selbstverständnis (Grabher 2004: 16). In einem Netzwerk von professionellen Managern gestaltet diese mobile Elite ein globales Geschäftsmodell mit lokalen Auswirkungen. Als „fast subjects“ haben sie Zugang zum Wissen sowohl lokaler als auch globaler Experten (Haas 1992: 2; Storper/Venables 2003: 356; Thrift 2000). Sie statten internationale Verbände personell aus und sind in führenden Positionen wiederzufinden. Alle expatriierten Manager verfügen über einen ähnlichen Karrierehintergrund und vergleichbares betriebswirtschaftliches Grundlagenwissen. Kulturübergreifende fachliche Kommunikation ist mit dem erworbenen Standardset von Codes möglich. Damit sind verbindliche Absprachen zwischen Firmensitz und weltweiten Niederlassungen möglich. Expatriierte verfügen zwar über ein globales Beziehungsnetzwerk, allerdings sind sie in hohem Maße abhängig von lokalen Mitarbeitern in den Niederlassungen (McCaughey/Bruning 2005: 23f.; Tan/Mahoney 2006: 477). Sie sind nur partiell in der Lage, neue Verhaltensweisen zu erlernen und sich lokalen Gegebenheiten anzupassen (Lee 2007: 410). In multinationalen Unternehmen bilden die lokalen Mitarbeiter eine breite Basis. Sie verfügen über das im Tagesgeschäft wichtige Knowhow und Know-what. Allerdings müssen normative Barrieren überwunden werden, wenn strategische Entscheidungen von der globalen Ebene von expatriierten Managern auf die lokale Ebene zu transferieren sind. 224

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Die divergenten kulturellen Normen offenbaren Lücken im Know-who und Know-where. Lokale Mitarbeiter helfen zwar, diese Kluft zu schließen, gleichzeitig sind deren Fähigkeiten auf globaler Geschäftsebene begrenzt (Vance/Paik 2005: 590; Wenger 2004). Bisherige Forschung konzentriert sich auf das Beziehungsgefüge zwischen den beiden zuvor genannten expatriierten und lokalen Mitarbeitern multinationaler Unternehmen. Dabei werden die Anpassungsprozesse von beiden Typen diskutiert, aber es wird im Wesentlichen eine Kluft zwischen zwei Lagern thematisiert. Unberücksichtigt bleibt der normative Beitrag hybrider Manager (Fussel et al. 2006: 158; McCaughey/Bruning 2005; Morrison 2002: 1156f.). Diese Lücke schließt die vorliegende Untersuchung, da hier der hybride Manager als Scharnier zwischen expatriierten Managern und lokalen Mitarbeitern operationalisiert wird. Im Kontext multinationaler Unternehmen können die hybriden Manager als Träger eines spezifischen sozialen Kapitals gelten, welches unterschiedliche kulturelle Normen und Werte in sozialen Netzwerken verbindet (Borgatti/Foster 2003; McGrath/Krackhardt 2003; Mitchell 1969). In ihrer Funktion sind die hybriden Manager mit ihren spezifischen Managementpraktiken damit eine Kerngruppe in multinationalen Unternehmen: Sie arbeiten eingebettet in ein lokales und globales Netz ökonomischer und sozialer Relationen (Amin/Cohendet 2005; Håkansson/Johanson, 1993: 40, White 2002). Sie nehmen eine strategische Position im inner- und zwischenbetrieblichen Informationskreislauf ein, wo sie als Filter oder Katalysator wirksam werden (Lesser/Storck 2001: 833; Minbaeva/Michailova 2004: 665; Schlunze/Plattner 2007: 80f.). Hybride Akteure nehmen im Modell des Wissenstransfers auf der Ebene der Sozialisierung die dauerhaft ko-lokalisierende bzw. temporäre kopräsente Position zwischen lokalen Mitarbeitern und expatriierten Managern ein (Enns et al. 2008; Nonaka/Konno 1998: 43). Sie sind daher ausschlaggebend für die Internalisierung expliziten Wissens und der Transformation zu implizitem Wissen. Transaktionskosten werden hierbei reduziert, indem ähnlich ausgerichtete Manager ihr Verhalten und ihre Normvorstellungen anpassen, wie im Homophilie-Konzept der sozialen Netzwerktheorie beschrieben (Glückler 2007b: 624; Grabher 2006: 179f.; Kandel 1979; Sorenson 2003: 515; McPherson et al. 2001: 419f.). Aus diesen Argumenten leitet sich ein Modell ab, in welchem die Internationalisierung von Unternehmen ausgehend von der Bubble Economy über die Lost Decade und das New Century zunehmend hybride Manager als Intermediäre die kulturelle Distanz durch räumliche Nähe zu lokalen Mitarbeitern und expatriierten Managern verringern (vgl. Abb. 1). 225

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Abbildung 1: Modell der Netzwerk-Homophilie im internationalen Management

Quelle: eigene Darstellung Die zentrale Frage lautet daher, inwieweit hybride Akteure die Funktion als Broker von Information und Wissen im Unternehmensnetzwerk wahrnehmen. Folgende drei Hypothesen lassen sich zur Überprüfung ableiten: Hypothese 1: Lokale Mitarbeiter, expatriierte und hybride Manger stehen während der expansionsgetriebenen Internationalisierung der Bubble Economy in hierarchischer Abhängigkeit. Die Aufgaben sind klar zugewiesen und es gibt wenig Austausch zwischen den Ebenen. Im Ergebnis ist der Grad der Homophilie gering. Hypothese 2: Lokale Mitarbeiter, expatriierte und hybride Manger stehen während der produktivitätsgetriebenen Internationalisierung der Lost Decade unter Anpassungsdruck. Dies drückt sich in der zunehmenden Abhängigkeit zwischen den Akteure aus. Im Ergebnis steigt der Grad der Homophilie an. Hypothese 3: Lokale Mitarbeiter, expatriierte und hybride Manger stehen in den Niederlassungen während der marktgetriebenen Internationalisierung des New Century noch stärker unter Integrationsdruck. Dies führt zu intensiver Interaktion über die hierarchischen Ebenen hinweg. Im Ergebnis steigt der Grad der Homophilie weiter an.

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2. Netzwerkmethodologie und Datenbasis Zur Überprüfung der in Kapitel eins herausgearbeiteten Hypothesen wird die soziale Netzwerkanalyse als nützliches Werkzeug herangezogen. Allerdings gibt es verschiedene Netzwerkansätze. Welcher wird dem dynamischen und relationalen Aspekt der Fragestellung gerecht? Dem mathematischen Ansatz des Relationalen Determinismus folgend würde die Beschreibung statistischer Maßzahlen im Vordergrund stehen (Watts/ Strogatz 1998; Watts 1999; ders. 2004). Dies gilt ebenso für den Ansatz des Relationalen Instrumentalismus, welcher die Struktur, d.h. die Attribute von Akteuren, in ihrem Kontext analysiert, aber die relationale Ebene nur beschreibt (Gould 1993; Bathelt/Glückler 2005; Braun 2004). Der Relationale Konstruktivismus hingegen rückt die relationalen Aspekte und die Dynamik der Interaktion von Akteuren in den Mittelpunkt der Analyse (Watts 2003: 113; White 1992). Zuletzt genannter Ansatz wird damit der Ausgangsfragestellung am ehesten gerecht, so dass neben der Ko-Lokalisierung auch die Ko-Präsenz im Hinblick auf kulturelle Normen bei der Analyse berücksichtigt werden können. Die Novelle des Kosaku Shima ist die Basis der vorliegenden Netzwerkanalyse, welche der Autor Kenji Hirokane auf Basis realer Geschäftsaktivitäten zwischen 1983 und 2007 in 512 illustrierten Erzählungen auf 9,712 Seiten in Szene setzt und publiziert (Hirokane 2009; Matanle et al. 2008; The Economist 2008). Die Erzählungen sind wegen ihrer anekdotischen Evidenz als hinreichend valide Repräsentation der Wirklichkeit anzusehen. Die auftretenden Akteure (n=267) werden nach lokalen Mitarbeitern, expatriierten und hybriden Managern klassifiziert. Darüber hinaus werden die Handlungskontexte sowie Relations- und Akteursattribute festgelegt (vgl. Tab. 1). Im Anschluss sind die Erzählungen entsprechend den Attributen kodifiziert, die Netzwerkbeziehungen zwischen den Akteuren in UCINET aufgezeichnet und der nicht-reaktiven Textanalyse zugeführt worden. Für die erste Periode der Internationalisierung während der Bubble Economy wurde ein Netzwerk von n=61 Akteuren identifiziert. Während der zweiten Phase der Internationalisierung in der Lost Decade steht ein Netzwerk aus n=130 Akteuren für die Analyse zur Verfügung. Für die letzte Phase des New Century wird ein Netzwerk aus n=117 ausgewertet. Es werden Indikatoren für die Homophilie gemessen und im Kontext der Internationalisierungsphasen interpretiert. Zu den Indikatoren zählen die Netzwerkbeziehungen („ties“), die Gruppenbildung („cliquishness“), die

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intermediären Akteure („brokerage“) und die Maße der Netzwerkzentralität (Costenbader/Valente 2003; Nooy et al. 2007). Tabelle 1: Liste der relationalen und Kontextattribute Attribute Ökonomischer Kontext Geschäftskontext

Management-Ebene Relationales Vertrauen

hierarchische Abhängigkeit Reputation Kontakttyp

Kontakthäufigkeit

Kontaktdauer Kontaktort

Werte Bubble Economy, Lost Decade, New Century lokales Geschäft, nationales Geschäft, internationales Geschäft lokale Mitarbeiter, hybride Manager, expatriierte Manager großes Mißtrauen, kein Vertrauen, neutral, Vertrauen, tiefes Vertrauen untergeordnet, gleiches Niveau, Vorgesetzter unterdurchschnittlich, durchschnittlich, überdurchschnittlich persönlich, telefonisch, schriftlich (Email, Brief), indirekter Kontakt mehrmals die Woche, einmal die Woche, mehrmals im Monat, einmal im Monat, mehrmals im Jahr, einmal im Jahr, einmalige Begegnung weniger als ein Jahr, bis zu drei Jahren, mehr als drei Jahre Name der Stadt

Quelle: eigene Darstellung

3. Mobile Eliten in internationalen Unternehmensnetzwerken Können hybride Manager ihre spezifischen Fähigkeiten im Hinblick auf die Selektion und Vermittlung von Wissen zwischen expatriierten Managern und lokalen Mitarbeitern anwenden? Zur Beantwortung dieser Frage wird eine Netzwerkanalyse durchgeführt, welche Aufschluss darüber gibt, inwieweit sich oben genannte Akteure angleichen. Zunächst wird der Wandel der Netzwerkbeziehungen im Zeitverlauf der drei Perioden von der Bubble Economy über die Lost Decade zum New Century anhand der starken („strong ties“) und schwachen Beziehungen („weak ties“) beschrieben. Anschließend wird auf die Bildung von Gruppen innerhalb der Netzwerke eingegangen, um dann die Stel228

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lung der hybriden Manager als Vermittler von Information im Verhältnis zu den expatriierten und lokalen Mitarbeitern zu analysieren. Letztlich werden die Zentralitätsmaße im Hinblick auf die drei Akteursgruppen diskutiert.

3.1 Von starren zu flexiblen Netzwerkbeziehungen Während der Bubble Economy der 1980er Jahre vollzieht sich die Internationalisierung auf Basis einer expandierenden Wirtschaft. Die in der Novelle auftretenden Akteure sind expatriierte Manager, welche innerhalb der hierarchischen Organisation ihres keiretsu (Unternehmensverbund) handeln. Ihr Tagesablauf ist geprägt von ausgedehnten Managementmeetings, Lösen von Personalangelegenheiten sowie sonstigen privaten Affären. Im Tagesgeschäft interagieren die expatriierten Manager untereinander vor allem mit lokalen Mitarbeitern (vgl. Abb. 2). Die dauerhaften und verlässlichen Beziehungen zu den lokalen Mitarbeitern sind geprägt von der dominanten Stellung der expatriierten Manager in der Unternehmenshierarchie. Dies findet seinen Ausdruck im hohen Anteil der direkten Anweisungen von Vorgesetzten und der unilateralen Ausrichtung von Personen mit hoher Reputation im Gesamtnetzwerk. Synergien werden in dieser Phase in der Zusammenarbeit zwischen expatriierten Managern erzeugt. Während der Lost Decade zwischen 1993 und 2001 nimmt der Internationalisierungsdruck zu. Außerdem wird das Unternehmen auf Grund der schlechten allgemeinwirtschaftlichen Situation einem tiefgreifenden strukturellen Wandel unterzogen. Das Managementhandeln ist demzufolge geprägt von Maßnahmen zur Produktivitätssteigerung sowie der Personal- und Kostenreduktion. Insgesamt nimmt die Interaktion und damit die gegenseitige Abhängigkeit im Gesamtnetzwerk zu (vgl. Abb. 3). Die verbleibenden Mitarbeiter sind mit ihren Fähigkeiten und direkten Kundenbeziehungen der Schlüssel für den Erfolg der expatriierten Manager. Synergien werden in der Zusammenarbeit mit den lokalen Mitarbeitern und neu hinzutretenden hybriden Managern sowohl in KoLokalisierung als auch Ko-Präsenz erzeugt. Während des New Century dehnt sich das Netzwerk entsprechend der vertikalen Integration von Produktionsanlagen in Süd-Ostasien sowie der neuen Marktchancen in Richtung China und Indien aus. Hybride Manager sind in immer mehr Positionen zu finden (vgl. Abb. 4).

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Abbildung 2: Managernetzwerke in der Bubble Economy

Quelle: eigene Erhebung 2008, n=61 Abbildung 3: Managernetzwerke in der Lost Decade

Quelle: eigene Erhebung 2008, n=130 230

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Abbildung 4: Managernetzwerke im New Century

Quelle: eigene Erhebung 2008, n=117 Enge Beziehungen zu expatriierten Managern vorausgesetzt, koordinieren sie als Intermediäre die lokalen Mitarbeiter sowie die unternehmensübergreifenden Beziehungen zu Kunden und Zulieferern. Zwischen den Akteursebenen entsteht ein vielfältiges Beziehungsnetzwerk mit multilateralen Abhängigkeiten und alternativen Interaktionsmöglichkeiten. Trotz steigender Komplexität sinken die Transaktionskosten, da Synergien durch die Kombination komplementärer Fähigkeiten einzelner im Netzwerk realisiert werden.

3.2 Von monostrukturierten zu gemischten Cliquen Während der Wachstumsphase der Bubble Economy bilden sich Arbeitsgruppen, d.h. Cliquen mit mindestens drei Akteursbeziehungen, mit dem Ziel der Marktausweitung mit Hilfe innovativer Produkte, wie etwa HDTV oder Brotbackmaschine, oder der Anwendung spezifischer Marketingstrategien in Wachstumsbranchen. Daneben entstehen Teams, welche Wettbewerbsvorteile durch den Aufbau von Offshoreproduktion in Niedriglohnländern realisieren wollen.

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Tabelle 2: Netzwerk-Messwerte

Avg. Tie Strength Local with Local* Hybrid with Local* Expatriate with Local* Hybrid with Hybrid* Hybrid with Expatriate * Expatriate with Expatriate * Hybrid per Clique Ratio Expat:Hybrid:Local Degree Mean Betweenness Closeness Reciprocity Network Centralization Network Homophily

Bubble Economy

Lost Decade

New Century

(n=61)

(n=130)

(n=117)

2.80 % 1.70 % 0 8.40 % 0 0 9.70 % 0 9 : 2 : 50 4.21 % 27.60 % 5.67 % 32.47 % 54.24 % 3.92 %

1.40 % 0.80 % 1.40 % 8.50 % 0 25.00 % 20.00 % 10.35 % 5 : 4 : 121 1.69 % 44.20 % 13.47 % 68.31 % 39.22 % 2.93 %

1.10 % 0.40 % 0.70 % 1.70 % 1.50 % 3.50 % 0.80 % 55.00 % 24 : 26 : 67 1.25 % 23.70 % 9.29 % 75.29 % 34.69 % 55.7 %

Quelle: Eigene Erhebung 2008; *Clique density/Avg. tie strength In diesem Zusammenhang werden Manager in Überseeniederlassungen entsendet. Dort koordinieren und kontrollieren sie unter anderem Beteiligungsgesellschaften der Unterhaltungsindustrie in Hollywood. Das enge Kooperationsgefüge von expatriierten Managern spiegelt sich im Verhältnis zwischen Dichte und durchschnittlicher Beziehungsstärke mit einem Wert von 9,7 Prozent wider, gefolgt von 8,4 Prozent für das Verhältnis expatriierte Manager und untergeordneter lokaler Mitarbeiter. Die Interaktion zwischen lokalen Mitarbeitern liegt mit 1,7 Prozent auf sehr niedrigem Niveau (vgl. Tabelle 2). Es wird deutlich, dass in dieser Phase, die expatriierten Manager die treibende Kraft sind und die lokalen Mitarbeiter eng führen. Mit den sich verschlechternden ökonomischen Rahmenbedingungen in der Lost Decade nimmt die Zahl der Kooperation mit anderen Unternehmen und Branchen in strategischen Allianzen zu. Die Zusammenarbeit dient dabei der Optimierung der internationalen Produktionskette und der Stärkung des globalen Vertriebsnetzes. Es etablieren sich Teams aus expatriierten und hybriden Managern in Verbindung mit lokalen Mitarbeitern an internationalen Handelsplätzen wie New York, London und Paris. Insgesamt nimmt die Anzahl internationaler Teams und hybrider Manager im Vergleich zur vorherigen Periode zu. Die Arbeitsgruppen versuchen den Weinhandel zu entwickeln oder im Mediengeschäft Fuß zu fassen. Zur Steigerung der Produktionseffizienz werden Investi232

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tionen in Freihandelszonen, unter anderem in Vietnam, getätigt. An diesen Standorten steigt die Zahl der hybriden Manager überdurchschnittlich an. Mit 25 Prozent intensiviert sich das Interaktionsgefüge in Cliquen expatriierter und hybrider Manager am stärksten. Die Interaktion zwischen expatriierten Managern verstärkt sich ebenfalls und erreicht 20 Prozent, während das Interaktionsverhältnis zwischen expatriierten Managern und lokalen Mitarbeitern mit 8,5 Prozent stabil bleibt (vgl. Tabelle 2). Im Verlauf der Internationalisierungsphase des New Century werden neue Märkte erschlossen und Niederlassungen in Shanghai, Beijing, Mumbai und Delhi gegründet. Der Austausch zwischen verbundenen keiretsu-Unternehmen sowie lokalen Partnern nimmt zu. Neue Cliquen der Kooperation bilden sich. Die Gruppen stehen zwar im engen Kontakt mit dem Mutterhaus in Tokyo, doch nimmt die Autonomie der Manager und der lokalen Mitarbeiter innerhalb der Teams zu. In allen Cliquen gleicht sich das Interaktionsverhältnis auf niedrigem Niveau an. Die Clique expatriierter und hybrider Manager interagiert mit 3,5 Prozent aber weiterhin am stärksten miteinander (vgl. Tabelle 2).

3.3 Von indirekter Teilnahme zur integrierten Brokerage Während der Bubble Economy interagieren lokale Mitarbeiter in KoLokalisierung an einem Standort, während expatriierte Manager durch zeitlich befristete Entsendung aus anderen Teams die organisatorische Einheit in temporärer Ko-Präsenz aufrechterhalten. Expatriierte Manager bilden hier die Brücke zwischen den Niederlassungen und dem Mutterhaus. Sie sind Broker von Wissen und nehmen damit eine Brückenund Filterfunktion gegenüber den lokalen Mitarbeitern wahr. Dort, wo dauerhafte Anwesenheit gefragt ist, z. B. bei der Offshoreproduktion in den Philippinen, sind hybride Manager in Verhandlungspositionen anzutreffen. Damit sind sie jedoch in der Peripherie von Entscheidungsprozessen angesiedelt und damit nur indirekt beteiligt. Expatriierte Manager haben hingegen direkte und exklusive Beziehungen zum Mutterhaus (vgl. Abb. 5a). Die lokalen Mitarbeiter und die hybriden Manager avancieren während der Lost Decade zu zentralen Wissens-Brokern im Unternehmensnetzwerk. Im Schatten der starken Beziehungen zwischen den expatriierten Managern bilden sie ein weites Netz ko-lokalisierter schwacher Beziehungen als Rückgrat der Cliquen. Expatriierte Manager verlieren ihre Monopolstellung bezüglich ihrer Filter- und Leitungsfunktion, so dass hybride Manager strategische Broker-Positionen in Niederlassungen ein-

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nehmen können. Hieraus resultiert das erste dyadische trinationale Beziehungsgefüge zwischen London, Paris und Tokyo (vgl. Abb. 5b). Die hybriden Manager werden zu zentralen Brückenbauern während des New Century. Als Intermediäre besetzen sie Schlüsselpositionen in Ko-Lokalisierung zu lokalen Mitarbeitern und in Ko-Präsenz zu expatriierten Managern. Intensive Reistätigkeit und wechselnde Arbeitsstandorte waren bisher weitgehend den expatriierten Managern vorbehalten. Nun führt die Konvergenz der Interaktionsmuster auch zu erhöhter Mobilität hybrider Manager. An mehreren Standorten übernehmen sie in temporärer Ko-Präsenz wichtige Broker-Aufgaben (vgl. Abb. 5c). Damit reduzieren sie die kulturelle Distanz im Internationalisierungsprozess des multinationalen Unternehmens.

3.4 Von hierarchischen zu heterarchischen Beziehungen Die Zentralitätsmaße von Netzwerken geben Aufschluss über die relationalen Beziehungen der Akteure in ihrem spezifischen normativen Kontext. Werden Gesamtnetzwerke in ihrer zeitlichen Veränderung erfasst, so lässt sich die Dynamik der kontextualen Akteursrelationen in der Gesamtnetzwerkzentralität („centralization“) abbilden. Des weiteren werden die fünf Maße Zentralitätsgrad („degree“), Interrelation („betweenness“), Nähe („closeness“), Reziprozität („reciprocity“) und Homophilie („homophily“) herangezogen, um die Ausgangshypothesen im Hinblick auf die Anpassungsprozesse zur Überbrückung kultureller Distanz von Akteuren im Verlauf der Internationalisierung eines multinationalen Unternehmens zu prüfen. Das Beziehungsgefüge während der Bubble Economy offenbart ein klares hierarchisches Muster (vgl. Tabelle 2). Die Gesamtnetzwerkzentralität erreicht einen Wert von 54,2 Prozent (centralization). Die Interrelation, d.h. der Anteil der kürzesten Beziehungswege zwischen allen Akteurspaaren, verläuft überwiegend durch expatriierte Manager; alleine über den Hauptakteur Kosaku Shima sind dies 27,6 Prozent (betweenness). Die starke Hierarchie im Netzwerk drückt sich vor allem durch den Reziprozitätswert aus. Zwei von drei Beziehungen laufen über Kosaku Shima (32,5 % reciprocity).

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Abbildung 5: Räumliche Verlagerung des Netzwerkes

Quelle: eigene Erhebung 2008

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Abbildung 6: Netzwerk-Homophilie, Cliquishness, Zentralität

(n=61

(n=130

Bubbel Economy

Lost Decade

(n=117) New Century

60% Netzwerk Zentralität

50%

40%

30%

20% Hybride Manager pro Clique

10%

Netzwerk Homophilie

0%

Quelle: eigene Erhebung 2008 Dies kommt auch im Nähewert zum Ausdruck. Die Summe aller Relationen dividiert durch die Distanzen zwischen dem Hauptakteur und allen anderen liegt bei 5,7 Prozent (closeness) und der Zentralitätsgrad erreicht einen Wert von 4,2 Prozent (degree). Lokale Mitarbeiter sind in dieser Phase der Internationalisierung von expatriierten Managern abhängig. Die Interaktion zwischen ähnlich charakterisierten Akteuren ist mit 3,9 Prozent sehr niedrig (homophily). Kulturelle Distanzen werden von den Akteuren in nur sehr geringem Maße überbrückt (vgl. Abb. 6). Zusammenfassend lässt sich die erste Hypothese nicht widerlegen. Es gilt daher, dass lokale Mitarbeiter, expatriierte und hybride Manager während der expansionsgetriebenen Internationalisierung der Bubble Economy in hierarchischer Abhängigkeit stehen. Die Aufgaben sind klar zugewiesen und es gibt wenig Austausch zwischen den Ebenen. Das Netzwerk unterliegt während der Lost Decade einer grundlegenden Rekonfiguration. Die hierarchischen Beziehungen werden teilweise durch heterarchische Koordination ersetzt. Im Zuge der Fragmentierung der expatriierten Gemeinschaft werden deren Aufgaben von hybriden Managern in Kooperation mit lokalen Mitarbeitern übernommen. Die Gesamtnetzwerkzentralität sinkt unter die 40-Prozent-Marke (39,2 236

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% centralization). Dagegen steigt der Grad der Heterarchisierung im Netzwerk, d.h. die Interrelation auf 44,2 Prozent an (betweenness). Damit einher geht die Erhöhung des Nähewertes auf 13,5 Prozent (closeness) und der Anstieg der Reziprozität auf über zwei Drittel (68,3 % reciprocity). Als Ausdruck des diversifizierten Beziehungsgefüges sinkt die Anzahl der Beziehungen zum Hauptakteur Kosaku Shima auf ein Minimum von 1,7 Prozent (degree). Gleichzeitig sinkt auch die Kooperation zwischen ähnlich zu charakterisierenden Akteuren geringfügig auf unter 3 Prozent (2,9 % homophily), d.h. die Fähigkeit im Netzwerk kulturelle Distanzen zu überbrücken bleibt gering (vgl. Tab. 2 und Abb. 6). Im Hinblick auf diese Ergebnisse lässt sich die zweite Hypothese teilweise widerlegen. Lokale Mitarbeiter, expatriierte und hybride Manger stehen zwar während der produktivitätsgetriebenen Internationalisierung der Lost Decade unter Anpassungsdruck. Dies dokumentiert sich in zunehmender Abhängigkeit zwischen expatriierten Managern und lokalen Mitarbeiten sowie dem vermehrten Auftreten von hybriden Managern. Allerdings sind diese nur in geringem Maße in die Ebene der expatriierten Entscheider integriert, so dass im Ergebnis sogar der Grad der Homophilie geringfügig abfällt. Ein neues Netzwerk konsolidiert sich während des New Century im Zuge umfangreicher Markterweiterungsinvestitionen in Ost- und Südasien. In dieser Phase nehmen vermehrt hybride Manager zentrale Positionen im Gesamtnetzwerk ein, so dass die Netzwerkzentralität weiter auf 34,7 Prozent sinkt (vgl. Tab. 2). Im Gegenzug geht der Grad der Heterarchisierung wieder auf 23,7 Prozent zurück (betweenness). Dies wirkt sich auch auf die Nähe der Akteure negativ aus, so dass nur ein Wert von 9,3 Prozent erreicht wird (closeness). Dafür steigt die Vielfalt der miteinander agierenden Akteure auf über drei Viertel an (75.3 % reciprocity). Exklusive Interaktion mit dem Hauptakteur Kosaku Shima schrumpft auf ein Minimum von 1,3 Prozent (degree). Es ist ein reger Austausch über alle hierarchischen Ebenen hinweg, d.h. zwischen lokalen Mitarbeitern, hybriden Managern und expatriierten Managern, zu beobachten. Alle drei Gruppen kollaborieren in komplementärer Weise, so dass die Interaktion sich ähnlicher Akteure die 50-Prozent-Grenze überschreitet (55.7 % homophily) (vgl. Abb. 6). Die dritte Hypothese ist damit nicht zu widerlegen. Lokale Mitarbeiter, expatriierte und hybride Manger stehen während der marktgetriebenen Internationalisierung des New Century unter starkem Integrationsdruck in den Niederlassungen. Dies führt zu intensiver Interaktion über die hierarchischen Ebenen hinweg. Im Ergebnis steigt der Grad der Homophilie weiter an.

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4. Überbrückung kultureller Distanz – ein Fazit Es wurde geprüft, inwieweit hybride Manager ihre spezifischen Fähigkeiten im Hinblick auf die Selektion und Vermittlung von Wissen zwischen expatriierten Managern und lokalen Mitarbeitern anwenden konnten. Die Netzwerkanalyse ergab, dass der Grad der Homophilie besonders in der letzten Phase der Internationalisierung ansteigt und zur Verringerung kultureller Distanz im Gesamtnetzwerk führt. Im Hinblick auf die Zunahme der Interaktion mobiler Eliten über die Hierarchieebenen hinweg lassen sich drei Akteursprozesse als Treiber der Internationalisierung des multinationalen Unternehmensnetzwerkes identifizieren: 1. Expatriierte Manager verlieren ihr Kontroll-Monopol. 2. Hybride Manager heterarchisieren das Unternehmensnetzwerk. 3. Handlungsmuster lokaler Mitarbeiter, hybrider und expatriierter Manager konvergieren bei der Überbrückung kultureller Distanz. Expatriierte Manager verlieren ihr Kontroll-Monopol. Expatriierte Manager kontrollieren am Anfang des Untersuchungszeitraums die internationalen Geschäftsprozesse. Diese Stellung verlieren sie zunehmend. Dies findet seinen Niederschlag in der Abnahme der Netzwerkzentralität und des Zentralitätsgrades. Im Ergebnis haben auch hybride Manager und lokale Mitarbeiter mehr Einfluss auf Entscheidungsprozesse im multinationalen Unternehmen. Die Hierarchie im Geschäftsnetzwerk nimmt ab und diversifiziert sich räumlich. Die Zusammenarbeit in ko-lokalisierten Teams an bestimmten Niederlassungsstandorten erodiert zugunsten zeitlich befristeter Ko-Präsenz einer zunehmenden Anzahl hybrider Manager. Dies geht mit dem Verlust an Kontrolle für die expatriierten Manager einher. Allerdings werden Informationsressourcen gemeinsam genutzt, so dass kulturelle Distanz zwischen den verschiedenen Normenkontexten der Akteure verringert wird. Hybride Manager heterarchisieren das Unternehmensnetzwerk. Hybride Manager substituieren expatriierte Manager im Unternehmensnetzwerk des multinationalen Unternehmens. Gemeinsam mit lokalen Mitarbeitern und expatriierten Managern kreieren sie durch die schwachen Beziehungen ein redundantes Netzwerk. Dieses Netzwerk stellt die Kontinuität der Geschäftsprozesse in einem sich ständig wandelnden ökonomischen Umfeld sicher. Die Komplexität des Arbeitsumfeldes in polyzentrischen Märkten wird durch die Transformation in eine heterarchische Organisation kompensiert. Hybride Manager haben gegenüber den expatriierten Managern Vorteile in Ko-Lokalisierung und Ko-Präsenz. Auf Grund ihrer kulturellen Prädisposition stellen sie die Verbindung zu

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den marktspezifischen Wissensressourcen her und sind in der Lage, diese innerhalb des multinationalen Unternehmens zu kommunizieren. Handlungsmuster konvergieren bei der Überbrückung kultureller Distanz. Im Verlauf des untersuchten Internationalisierungsprozesses werden strong ties durch eine Vielzahl von weak ties ergänzt bzw. ersetzt. Entlang der Interaktion wird informelles Wissen auf vielfältige Weise ausgetauscht. Dabei konvergieren die Handlungsmuster lokaler Mitarbeiter, hybrider und expatriierter Manager, so dass sich die zuvor beschriebene Balance des Gesamtnetzwerkes einstellt. Die räumliche und soziokulturelle Mobilität der expatriierten und vor allem der hybriden Manager ermöglicht den Zugang zu heterogenen Arbeits- und Lebensumfeldern bei gleichzeitiger Verringerung kultureller Distanz. Barrieren entlang sozialer Normen werden im Anpassungsprozess während der Ausführung von Arbeitsaufträgen überwunden. Synergien werden so an vielen Standorten des multinationalen Unternehmens ermöglicht.

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Migrationsforschung

Soz iale Netzw e rke und s oz ia les Ka pita l. Faktoren für die strukturelle Integration von Migranten in Deutschland SONJA HAUG

Der Begriff des „sozialen Kapitals“ bzw. „Sozialkapitals“1 hat die Sozialwissenschaft im letzten Jahrzehnt stark befruchtet und wurde in zahlreichen Studien aufgegriffen. Obgleich in einzelnen früheren Publikationen der Begriff bereits von anderen Autoren verwendet wurde, haben Pierre Bourdieu (1983), James Coleman (1990) und Robert Putnam (1993) den Begriff in grundlegenden Publikationen bekannt gemacht.2

1. Sozialkapital und Integration In der Netzwerkforschung hat sich das Konzept Sozialkapital weitgehend durchgesetzt. Flap unterscheidet dabei drei Dimensionen: die Anzahl der Kontaktpersonen, die Ressourcen, über die diese Kontaktpersonen verfügen, und die Verfügbarkeit der Ressourcen, die wiederum mit der Beziehungsstärke variiert (Flap 2002). Die Beziehungsstärke ist

1

2

Anfangs war der Begriff „soziales Kapital“, übernommen aus dem englischen „social capital“ und dem französischen „capital social“, in Deutschland gängig (Bourdieu 1993, Haug 1997). Inzwischen wird häufig der Begriff „Sozialkapital“ verwendet (Franzen/Freitag 2007). Für einen Forschungsüberblick siehe Haug 1997, Ostrom/Ahn 2003, Lin et al. 2001, Flap/Völker 2003, Portes 1998, Franzen/Freitag 2007. 247

SONJA HAUG

Ausgangspunkt für die folgende Überlegung zur Unterscheidung zwischen zwei Arten von Sozialkapital.3 Laut des auf Coleman zurückgehenden „Closure“-Arguments ist der Austausch innerhalb geschlossener Netzwerke mit starken Beziehungen (z.B. Familien, Religionsgemeinschaften) besonders intensiv. Der Zugriff auf Ressourcen kann erlangt werden und das Funktionieren sozialer Normen ist gewährleistet. Hierdurch erhöht sich das Sozialkapital der Mitglieder. Die „Weak tie“-Hypothese (Granovetter 1973) dagegen besagt, dass vor allem schwache Beziehungen den Informationsfluss zwischen lose verbundenen Gruppen ermöglichen und so von großem Nutzen für den Einzelnen sein können. Burt führt diese Argumentation weiter und definiert Sozialkapital als Maklerposition zwischen mehreren Netzwerken (Burt 1992: 18; Burt 2001). In der politischen Soziologie definiert Putnam Sozialkapital als kollektive Ressource einer Gemeinschaft (Putnam 1993: 167, 2000). Er unterscheidet drei zentrale Elemente: generalisiertes Vertrauen, Reziprozitätsnormen und Mitgliedschaften in Netzwerken freiwilligen Engagements, d.h. Vereinen. Des Weiteren unterscheidet er zwischen „bridging social capital“, das zwischen diversen sozialen Gruppen entsteht, wohingegen „bonding social capital“ homogene Gruppen zementiert (Putnam 2000: 22). In ethnisch divers zusammengesetzten Wohnorten gibt es nach Putnam zunächst eine Tendenz zur Reduzierung des generalisierten Vertrauens, des Altruismus und der gemeinschaftlichen Kooperation, insgesamt des Sozialkapitals (Putnam 2007), wohingegen erfolgreiche Gesellschaften langfristig gruppenübergreifende Formen der Solidarität entwickeln. In die Migrationsforschung hat der Begriff des Sozialkapitals bereits sehr früh Eingang gefunden (Portes/Sensenbrenner 1993, Portes 1995, Faist 1997, Haug 1997). Sozialkapital wird von Portes als Produkt der sozialen Einbettung gesehen; es ergibt sich aus geteilten Werten, Solidarität, Reziprozitätsnormen und Vertrauen (Portes/Sensenbrenner 1993, Portes 1995: 13). Diese Sichtweise entspricht dem „Closure“-Argument von Coleman. Hierbei steht die „Binnenintegration“ (Elwert 1982) im Vordergrund. Empirisch lässt sich feststellen, dass ein Großteil der alltäglichen Unterstützungsleistungen durch Personen erfolgt, zu denen enge soziale 3

Grundsätzlich ist zwischen Sozialkapital auf der individuellen und der kollektiven Ebene zu unterscheiden. Darüber hinaus führt Coleman eine Reihe von Formen des Sozialkapitals auf der individuellen Beziehungsebene an, darunter Verpflichtungen und Erwartungen, d.h. Vertrauen und Informationspotential (Coleman 1990; für eine nähere Ausführung vgl. Marx in diesem Band).

248

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

Beziehungen bestehen, vorrangig Familienangehörige und an erster Stelle Partner (vgl. Janßen und Fenicia et al. in diesen Band). Bei türkischen Migranten zeigt sich etwa eine höhere Familienzentriertheit als bei Deutschen. Kontakte zu Freunden bestehen bei Türken dagegen vor allem aus Freizeitaktivitäten (Nauck/Kohlmann 1998: 223). Bei Migranten ist die Familie für die soziale Integration von besonderer Bedeutung, da die Binnenintegration bei Türken nicht entlang von ethnischen, sondern verwandtschaftlichen Linien verläuft (Janßen in diesem Band; Nauck/ Kohlmann 1998: 217; Nauck et al. 1997: 487). Das soziale Kapital wird bei Migranten so häufig durch Vorleistungen in nichtreziproken Austauschbeziehungen vor allem innerhalb der Familie und Verwandtschaft erworben, die Gegenleistungen erwarten lassen. Dementsprechend hoch sind die Solidarpotentiale in Verwandtschaftsbeziehungen türkischer Migrantenfamilien zu bewerten (Nauck/Kohlmann 1998: 220ff.). Dabei sind Kontakthäufigkeit und Hilfeleistungen bei Türken (Nauck/Kohlmann 1998: 219) wie auch bei Aussiedlern (Fenicia et al. in diesem Band, Bastians 2004) in hohem Maße von der räumlichen Distanz abhängig. Die Ausstattung mit Sozialkapital könnte daher durch räumliche Entfernung zu Familienangehörigen im Heimatland beeinträchtig sein. Portes hob hervor, dass Sozialkapital neben den Vorteilen auch mit Einschränkungen für das Individuum verbunden ist (Portes 1995: 14, 1998). Diese versteckten Kosten treten einerseits auf, wenn die Erwartung der Gemeinschaft besteht, dass für ökonomische Erfolge mit Hilfe des Sozialkapitals wiederum eine Gegenleistung erbracht werden muss. Andererseits sind die Beschränkungen der Gemeinschaft bei geschlossenen, dichten und multiplexen Netzen – wie etwa Restriktionen des Kontakts mit anderen Personen außerhalb der Gemeinschaft und streng sanktionierte Normen – auch Hindernisse für individuelle Erfolge. Negative Konsequenzen der sozialen Einbettung in ethnische Netzwerke können in der Verhinderung von Geschäftserfolgen durch soziale Verpflichtungen zur gegenseitigen Unterstützung, Konformitätsdruck und Verhinderung des individuellen Aufstiegs in der Aufnahmegesellschaft durch „downward leveling norms“ bestehen (Portes 1998: 15ff). Mit einer einseitigen Konzentration auf eigenethnische Netzwerke und berufliche Betätigungen in der ethnischen Nischenökonomie kann eine Art von ethnischer „Mobilitätsfalle“ entstehen, welche die Migranten an einem Aufstieg innerhalb der Aufnahmegesellschaft hindert und zur ethnischen Segmentation führt (Esser 2001: 41). Die starke Orientierung an der ethnischen Gemeinschaft kann sich integrationshinderlich auswirken; dies wird auch als Abwärtsintegration („downward assimilation“) bezeichnet (Portes 1995). Negative Konsequenzen sind starke Loyalitätserwartungen innerhalb und Verhinderung von Kontakten außerhalb der eigenen 249

SONJA HAUG

Ethnie. Sozialkapital hat in diesem Sinne somit zwei Seiten und bringt Vorteile wie Nachteile mit sich (Portes 2000). An diesen Aspekt schließt sich eine andere Forschungsperspektive an. Demnach werden Kontakte zu Angehörigen des Aufnahmelandes als Indikator für die soziale Integration betrachtet (Esser 2001: 21; Klein 2000: 305; Nauck 2002: 319). Nach Granovetters Weak tie-These ergeben sich Vorteile aus Kontakten zu Personen mit Zugang zu nichtredundanten Ressourcen. Ein dichtes Netzwerk besteht meist aus Personen, die ähnliche Informationen zur Verfügung stellen. Im erweiterten Netzwerk finden sich jedoch Personen, die Zugriff auf andere Netzwerke haben und deswegen über neue (nichtredundante) Informationen (und weitere Ressourcen) verfügen. Granovetter bezog seine These auf Informationen über Stellen, die häufig nur durch erweiterte Sozialkontakte zugänglich werden. Zudem kann über diese Kontakte Zugang zu Positionen mit höherem Status erlangt werden als bei einer Beschränkung auf die Kontakte im engen sozialen Umfeld. Ethnisch homogene Netzwerke bei Minderheiten würden daher eine Einschränkung des Zugangs zu diesen Ressourcen der Aufnahmegesellschaft bedeuten.

2 . S o z i a l e N e t z w er k e u n d d i e Au s s t a t t u n g m i t Sozialkapital bei Migranten Im Hinblick auf die Untersuchung von Migration ist die Wirkungsweise des Sozialkapitals eindeutig. Aus theoretischen Annahmen über individuelle Entscheidungen lassen sich Hypothesen zum Einfluss sozialer Beziehungen am Herkunftsort und am Zielort auf die Migrationsentscheidung ableiten. In empirischen Studien ist der positive Effekt des Sozialkapitals auf Migration nachweislich. Sozialkapital am potenziellen Zielort wirkt sich fördernd auf die Emigrationsentscheidung aus. Dies gilt in unterschiedlichem Maße sowohl für starke als auch schwache Beziehungen. Im Zeitverlauf akkumuliert sich das Sozialkapital im Aufnahmeland, d.h. Sozialkapital führt zu Kettenmigrationsprozessen (vgl. dazu Haug 2000; 2008). Für die Untersuchung von Integrationsprozessen ist die Wirkungsweise des Sozialkapitals dagegen nicht eindeutig. Dies hängt mit unterschiedlichen Konzeptionen von Sozialkapital zusammen (ClosureArgument versus Weak tie-These). Für die Analyse der Arbeitsmarktintegration als einem Teil der strukturellen Integration wird hier an der Weak tie-These angesetzt, die infolge von Granovetters Studie in der Arbeitsmarktforschung vielfach bestätigt wurde. Im Mittelpunkt steht der

250

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

Zusammenhang zwischen der Ausstattung mit Sozialkapital und der strukturellen Integration. Beziehungen zu Angehörigen der Aufnahmegesellschaft sollen hier als Aufnahmeland-spezifisches, Kontakte zu Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe als Herkunftsland-spezifisches Sozialkapital definiert werden (vgl. auch Haug 2000: 96, 2003; 2004b; 2006; 2007; 2008). Aufnahmeland-spezifisches Sozialkapital, das aus sozialen Beziehungen zu Deutschen erwächst, ermöglicht potenziell Zugriff auf Ressourcen, über welche die Bevölkerungsmehrheit im Aufnahmeland verfügt (Arbeitsstellen, Wohnungen). Herkunftsland-spezifisches Sozialkapital, das sich aus sozialen Beziehungen zu Angehörigen der Familie oder Personen mit gleicher regionaler oder ethnischer Herkunft ergibt, ist für die Binnenintegration unerlässlich (Nauck/Kohlmann 1998: 217). Auch ermöglicht es Zugriff auf Ressourcen der ethnischen Gemeinschaft, z.B. Arbeitsstellen in der ethnischen Nischenökonomie (Janßen in diesem Band) oder emotionale Unterstützung (Fenicia et al. in diesem Band). Auf diese Aspekte des Sozialkapitals, die mit dem Closure-Argument zusammenhängen, wird hier nicht eingegangen. Theoretisch könnte ihre Wirkungsweise in Widerspruch zur Weak tie-These stehen, es muss jedoch nicht zwingend so sein. Die soziale Integration von Migranten bemisst sich somit an Merkmalen der Beziehungsnetzwerke. Die Beziehungsmuster können durch Indikatoren der Freundschaftsnetzwerke oder Muster der Partnerwahl gemessen werden, d.h. der Nahbeziehungen. Weitere Indikatoren der sozialen Integration bemessen sich an der Mitgliedschaft in Vereinen, Organisationen oder Parteien, d.h. der zivilgesellschaftlichen und politischen Partizipation. Aus Gründen der Vereinfachung werden die Beziehungsmuster und die damit verbundene soziale Integration nach einem dichotomen Schema untersucht (Haug 2004b: 165). 4 Beziehungen zu einheimischen Deutschen erhöhen hierbei das Aufnahmeland-spezifische Sozialkapital; dieses ist wiederum ein Indikator der sozialen Integration im Aufnahmeland.

4

Nicht untersucht werden Beziehungen zu anderen Migrantengruppen, d.h. die Mitgliedschaft in multiethnischen Freundesnetzwerken und Cliquen (vgl. dazu Haug 2003; 2004b; 2005). Nicht enthalten sind auch transnationale Kontakte und die Perspektive der Transnationalität (Pries 2008; vgl. hierzu Fuhse in diesem Band). 251

SONJA HAUG

Tabelle 1: Indikatoren der sozialen Integration und Arten des Sozialkapitals von Migranten Art der Beziehung

Herkunftsland-spezifisches/Ethnie-spezifisches Sozialkapital Staatsangehörigkeit der ausländische Eltern Eltern

Zahl der Haushaltsam Herkunftsort mitglieder Staatsangehörigkeit des Partner/Partnerin der Partners/der Partnerin eigenen ethnischen Gruppe Zahl der Verwandten am Herkunftsort Zahl der Freunde am Herkunftsort Staatsangehörigkeit der ausschließlich Freunde Freunde der eigenen ethnischen Gruppe (ethnische Homogenität) Vereinsmitgliedschaft am Herkunftsort Vereinsmitgliedschaft in Herkunftslandbezogenem Verein

Aufnahmeland-spezifisches/generalisierbares Sozialkapital deutscher Elternteil (binationale/bikulturelle Ehe der Eltern) im Aufnahmeland

deutsche/r Partner/Partnerin im Aufnahmeland im Aufnahmeland deutsche Freunde

im Aufnahmeland in Aufnahmeland-bezogenem/deutschem Verein

Quelle: eigene Darstellung, vgl. Haug 2004b: 165 Betrachtet man die beiden Aspekte in Kombination, so lässt sich eine Typologie5 erstellen. Weisen Migranten ausschließlich Beziehungen zu Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe auf, besitzen sie Herkunftsland-spezifisches bzw. Ethnie-spezifisches Sozialkapital, was mit ethnischer Segmentation verbunden ist. Ein geringer Grad an ethnischer Homogenität der Beziehungsnetzwerke verweist auf ein höheres Maß der sozialen Integration, während umgekehrt das Fehlen interethnischer Kontakte bei gleichzeitiger Beibehaltung der Kontakte zu Angehörigen der Herkunftsgesellschaft als „ethnische Segmentation“ (Esser 2001: 20)

5

In der ursprünglichen Typologie wird das Aufgeben der eigenen und das Aufgehen in der anderen Kultur als „Assimilation“, eine Beibehaltung der eigenen Kultur bei gleichzeitigen Kontakten mit der Aufnahmekultur als „Integration“ bezeichnet (Nauck u.a. 1997: 481). Esser bezeichnet in seiner Adaption der Typologie den Einschluss in die Aufnahmegesellschaft und den Ausschluss aus der ethnischen Gruppe als „Assimilation“, die Beteiligung in beiden sozialen Systemen als „multiple Inklusion“ (2000: 287, 2006: 25; vgl. auch Kalter 2007: 400). Der Ausschluss aus Beziehungen zur eigenen Gruppe und zum Aufnahmeland wird als Marginalisierung bzw. Marginalität bezeichnet. Vgl. auch Finke 2008: 197 für einen Überblick über andere theoretische Herangehensweisen.

252

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

Tabelle 2: Typologie der Sozialintegration und der Ausstattung mit Sozialkapital unter dem Gesichtspunkt der Weak tie-These Integration

Herkunftsland Beziehungen zu Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe Ja Nein Herkunftsland-/Ethniespezifisches Sozialkapital Mehrfachintegration/ Soziale „AssimilaAufnahme- Ja Aufnahme- „multiple Inklusion“ tion“ land Beziehungen land-speziAufnahmelandspezifisches ausschließlich zu Angehö- fisches Sozi- und Herkunftsland-/ Aufnahmelandrigen der alkapital Ethnie-spezifisches Sozi- spezifisches SoziAufnahmealkapital, ethnisch hetero- alkapital gesell-schaft gene Netzwerke Nein Selbstabgrenzung/„Seg„Marginalität“ mentation“/ geringe AusstatHerkunftsland-/Ethnietung mit Sozialspezifisches Sozialkapital, kapital, soziale ethnisch homogene Netz- Isolation werke

Quelle: eigene Darstellung angelehnt an Esser 2000: 287. bzw. als „ethnische Selbstabgrenzung“ betrachtet wird. Damit wird nicht ausgeschlossen, dass soziale Interaktion zwischen Angehörigen ethnischer Minderheiten zur Integration beiträgt; die binnenethnische Perspektive steht nicht im Fokus.

2.1 Daten Als Datenquelle wird die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge durchgeführte Repräsentativbefragung ausgewählter Migrantengruppen (RAM) verwendet. Die RAM-Studie ist eine Mehrthemenbefragung; sie umfasst die fünf größten ausländischen Nationalitätengruppen in Deutschland, d.h. türkische, ehemalig jugoslawische (serbische, kroatische, bosnische, slowenische, mazedonische), italienische, griechische und polnische Staatsangehörige. Insgesamt wurden 4.576 Personen im Alter von 15 bis 79 Jahren befragt (Babka von Gostomski 2008: 12). Die Stichprobenziehung erfolgte auf Grundlage des Ausländerzentralregisters; etwa 3 Prozent der Befragten besaßen durch zwischenzeitliche Einbürgerungen die deutsche Staatsangehörigkeit. Des Weiteren wird auf das Sozio-Ökonomische Panel (SOEP) zurückgegriffen. Das SOEP ist eine seit 1984 jährlich vom Deutschen In253

SONJA HAUG

stitut für Wirtschaftsforschung (DIW) durchgeführte Panelbefragung privater Haushalte in Deutschland. Die Studie erfasste im Erhebungsjahr 2006 rund 12.500 Haushalte und über 22.000 erwachsene Befragte (Wagner et al. 2007: 151f.; Frick 2004). Zwei Teilstichproben des SOEPs beziehen speziell Zuwanderer ein: Seit 1984 werden Haushalte mit einem Haushaltsvorstand türkischer, italienischer, spanischer, griechischer oder jugoslawischer Nationalität befragt und 1994/95 wurde eine Zusatzstichprobe von Zuwanderern gezogen, die seit 1984 nach Westdeutschland kamen. Jedoch lassen sich auch in den übrigen sechs Teilstichproben des SOEP Ausländer bzw. Zuwanderer identifizieren. Für die hier vorgelegten Auswertungen wurden die SOEP-Daten des Jahres 2006 herangezogen. Die Befragten wurden dabei anhand des Konzeptes „Migrationshintergrund“ in Anlehnung an den Mikrozensus kategorisiert. Zur Konstruktion des Migrationshintergrunds wurden folgende Informationen herangezogen: Staatsangehörigkeit, Geburtsland, Einbürgerung, zweite Staatsangehörigkeit neben der deutschen, Status bei der Einwanderung (Aussiedler). Weiterhin wurde eine Art Biografiedatensatz erstellt, anhand dessen der Migrationshintergrund einer Person von 1984 bis 2006 nachgezeichnet werden kann. Im Rahmen der Analysen auf Basis des SOEP sind Personen mit Migrationshintergrund demnach: Ausländer (in Deutschland oder im Ausland geboren), Eingebürgerte, Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit, Aussiedler bzw. Spätaussiedler.6

2.2 Freundschaftsnetzwerk Die Freundschaftswahl beruht auf Mechanismen der sozialen Interaktion. Zu beobachten ist dabei eine Tendenz zur Homogenität von Freundschaften. Dies zeigt sich in der Bildungshomogenität wie auch der ethnischen Homogenität von Netzwerken. Ein plausibler Erklärungsansatz dafür basiert auf einem Zusammenspiel von Ressourcen und Möglichkeiten (Opportunitäten bzw. Gelegenheiten). Bei der Voraussetzung eines Interesses an einer Freundschaftsbeziehung hängt die Realisierung einer interethnischen Freundschaft mit dem Aufwand zusammen, der je nach Ressourcenausstattung und Gelegenheitsstruktur unterschiedlich ist (Esser 1990: 192). Die Gelegenheiten variieren mit der Anzahl der eigen- und fremdethnischen Personen in der erreichbaren Umgebung und mit den Mobilitäts- und Kommunikationsmöglichkeiten. Eine Rolle spielen auch die Interaktionsfähigkeiten (Sprachkenntnisse) 6

Die Berechnung des Migrationshintergrunds wurde von Manuel Siegert bearbeitet (vgl. Haug 2008).

254

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

der Personen, die normativen Erwartungen innerhalb ihres sozialen Netzwerks zur Aufnahme interethnischer Beziehungen und die sozialen Distanzen bei den potenziellen Interaktionspartnern. Verschiedene Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass interethnische Freundesbeziehungen zwischen Gruppen unterschiedlich häufig sind. Bei der Ursachensuche sind Gelegenheitsstrukturen ein wichtiger Faktor. Hier wird als Determinante häufig auf die Wohnsegregation hingewiesen. Einen Einfluss auf Freundschaften hat z.B. die ethnische Segregation in der näheren Wohnumgebung (Farwick 2007). Ein bedeutender Prädiktor für die interethnischen Freundschaften von Jugendlichen liegt in der Zusammensetzung der Schulklasse, d.h. in Schulklassen mit höherem Migrantenanteil ist dementsprechend die Wahrscheinlichkeit interethnischer Freundschaften höher. Dabei spielen aber auch andere Faktoren eine Rolle, wie z.B. die Beziehung zu den Eltern (Reinders u.a. 2007). Die Schulbildung ist generell ein entscheidender Faktor für die Entstehung interethnischer Freundschaften; so finden Migranten mit höherer Bildung leichter Zugang zu einheimischen Deutschen (Esser 1990; Haug 2005). Dies hängt mit besseren Gelegenheiten und höheren Ressourcen (Sprachkenntnissen) zusammen. Aber auch religiöse Aspekte haben einen eigenständigen Effekt auf die Wahrscheinlichkeit, deutsche Freunde zu haben; so ist die Wahrscheinlichkeit, deutsche Freunde zu finden, bei Muslimen mit ausgeprägter Religiosität geringer als bei Nicht-Muslimen oder nicht-religiösen Muslimen (Haug 2005: 269). Die Freundschaftsnetzwerke sind somit Indikator der sozialen Integration, da sich in ihnen die Beziehungen zwischen ethnischen Gruppen widerspiegeln. Eine Freundeswahl nach ethnischen Gesichtspunkten kann Zeichen von selbst gewählter ethnischer Abgrenzung sein, andererseits ist die Gruppengröße einer ethnischen Gruppe und auch die Gelegenheitsstruktur zum Kennenlernen und Treffen von Freunden ein struktureller Faktor, welcher der eigenen Entscheidung Grenzen setzt. Gibt es an einem Ort keine weiteren Personen gleicher Herkunft, wird das Freundesnetzwerk mit höherer Wahrscheinlichkeit Deutsche oder andere ethnische Gruppen enthalten als bei Personen bspw. türkischer Abstammung, die in einem Wohnumfeld mit hoher Bevölkerungsdichte ihrer eigenen ethnischen Gruppe leben (vgl. zu ethnischer Segregation Friedrich 2008). Die Freundschaftsmuster werden hier anhand der Daten des SOEP untersucht. Die Auswertung konzentriert sich zunächst auf die Frage,

255

SONJA HAUG

wie viele der genannten Freunde Deutsche sind.7 Deutschstämmige Befragte haben zu 98 Prozent auch deutsche Freunde, sowohl beim ersten, zweiten als auch dritten Freund. Bei Personen mit türkischem Migrationshintergrund sind etwa ein Viertel der ersten, zweiten und dritten Freunde Deutsche. Befragte aus dem ehemaligen Jugoslawien geben zu 37 Prozent an, dass der erste Freund Deutscher ist; bei den zweiten und dritten Freunden erhöht sich der Anteil auf über 40 Prozent. Bei Personen mit italienischem und griechischem Migrationshintergrund zeigt sich ein ähnliches Muster, allerdings auf deutlich niedrigerem Niveau. Die drei genannten Freunde der Aussiedler sind zu 65 Prozent Deutsche, die der sonstigen Migranten zu mehr als 60 Prozent. Durch die Bildung eines zusammengefassten Index lässt sich das Muster der deutschen Freunde im gesamten Freundesnetzwerk der Befragten veranschaulichen (Abb. 1). Bei 95 Prozent der Deutschen sind alle drei genannten Freunde auch Deutsche. Dies ist nur bei 17 Prozent der Türkischstämmigen der Fall; 62 Prozent von ihnen haben keinen einzigen deutschen Freund unter den drei engsten Bezugspersonen. Bei Griechen ist eine fast ebenso starke Konzentration auf eigenethnische Freunde zu beobachten, wohingegen Personen mit ex-jugoslawischem und italienischem Migrationshintergrund seltener gar keine Freundesbeziehungen zu Deutschen haben; 22 Prozent bzw. 28 Prozent haben drei deutsche Freunde. Bei Aussiedlern und sonstigen Migranten ist der Anteil derjenigen, die nur deutsche Freunde haben, noch sehr viel stärker ausgeprägt (57 Prozent und 45 Prozent). Tabelle 3: Deutsche Freunde unter den ersten drei Freunden

Freund 1 Deutsch Freund 2 Deutsch Freund 3 Deutsch

Deutsch- Türkei land 98,0 25,1

Ex-Jugo- Griechen- Italien slawien land 36,6 28,0 37,3

Aussiedler 65,1

sonstige 61,9

98,1

26,4

40,9

30,1

44,0

64,3

60,0

97,6

25,4

44,2

32,7

49,1

65,7

64,2

Quelle: SOEP 2006. Fallzahl 21.468 (eigene Berechnung, in Prozent)

7

Hierbei wurde für die erste, zweite und dritte Person aus dem Bekanntenund Freundeskreis gefragt, die für den Befragten wichtig sind, wobei es sich hierbei auch um Verwandte, die außerhalb des eigenen Haushalts leben, handeln kann: „Welche Nationalität oder Herkunft hat er oder sie? Ist er/sie aus einem anderen Land oder Ausländer – kommen Sie selbst aus demselben Land?“

256

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

Abbildung 1: Anteil Deutsche unter den drei genannten Freunden nach Migrationshintergrund

100% 90%

16,8

80%

7,6

70%

13,2

22,3

28,0 45,4

6,2 20,9

60%

16,5

56,9 13,7 18,3

18,1

40% 62,4

30% 20%

16,7 7,7 7,9

55,7

1 0

16,7

40,0

38,6

27,5

10%

21,2

sonstige

Italien

Griechenland

ExJugoslawien

Türkei

3,6 0,6 0,5

Deutschland

0%

3

2

95,4

Aussiedler

50%

21,6

Quelle: SOEP 2006. Ungewichtete Gesamtfallzahl 16.773 (eigene Berechnung, in Prozent) Betrachtet man die Verteilung der Freunde im Hinblick auf die Herkunft aus dem gleichen Land, zeigt sich ein komplementäres Muster. Knapp zwei Drittel der Freunde der Türkischstämmigen stammen aus demselben Land wie sie selbst. Bei den Griechen sind es mehr als 60 Prozent, bei den Befragten aus Ex-Jugoslawien und Italien jeweils beim ersten und zweiten Freund mehr als 50 Prozent, beim dritten Freund unter 50 Prozent, und bei Aussiedlern sowie sonstigen Migranten stammen etwa ein Drittel der Freunde aus demselben Land. Die herkunftslandbezogene Abgrenzung bei Freundesbeziehungen ist bei Aussiedlern geringer ausgeprägt als bei anderen Migrantengruppen. Bei einer Betrachtung des gesamten Freundesnetzwerks im Hinblick auf die intraethnischen Beziehungen lässt sich entsprechend feststellen, dass nur bei 24 Prozent der Aussiedler alle drei genannten Freunde aus dem Herkunftsland stammen. Mehr als die Hälfte der Aussiedler und sonstigen Migranten haben keinen Freund mit gleicher Herkunft. Dagegen ist dies bei 59 Prozent der Türkischstämmigen der Fall; die ethnische Homogenität der Freundesnetzwerke ist bei Türkischstämmigen besonders ausgeprägt. Dies gilt deutlicher noch für Deutsche, die zu 96 Prozent nur deutsche Freunde haben.

257

SONJA HAUG

Abbildung 2: Anteil Freunde mit gleicher Herkunft unter den drei genannten Freunden

100% 24,1

34,3

80%

35,7 50,0

59,3

15,0 8,2

3

60%

18,8

96,2 40%

2

19,3

1

20,2

0

14,3

58,9

52,7

sonstige

31,6

Aussiedler

23,4

Italien

28,2

Griechenland

Deutschland

Türkei

19,0

3,3 0,1

ExJugoslawien

20%

0%

15,6

Quelle: SOEP 2006. Ungewichtete Gesamtfallzahl 16.725 (eigene Berechnung, in Prozent) Ein weiterer Indikator ist die Kontakthäufigkeit im Freundeskreis. Die Auswertung der RAM-Studie spricht für eine sehr hohe Kontaktintensität mit Deutschen im Freundeskreis. Am häufigsten haben türkische Befragte (14 Prozent) gar keinen Kontakt mit deutschen Freunden. Die meisten Befragten haben jedoch täglich oder mehrmals pro Woche Kontakt mit deutschen Freunden (Tab. 4). Höher als bei deutschen Freunden ist die Kontakthäufigkeit mit Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe. Kategorisiert man die Kontakte nach dem Schema (Tab. 2), so zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit der Befragten aus allen Gruppen sowohl freundschaftliche Kontakte zu Deutschen als auch zu Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe pflegen und somit mehrfachintegriert ist (Tab. 5). Mit Ausnahme der türkischen Befragten ist auch die Gruppe derjenigen, die ausschließlich Kontakte mit Freunden aus ihrem eigenen Herkunftsland pflegen (ethnische Segmentation) relativ gering.

258

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

Tabelle 4: Kontakthäufigkeit im Freundeskreis mit Deutschen und Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe (in Prozent) KontaktEhem. Jugo- ItalieTürkische Griechische Polnische Gesamt häufigkeit slawische nische Kontakthäufigkeit im Freundeskreis mit Deutschen gar nicht 14,4 6,7 7,5 8,0 8,0 10,5 seltener 12,7 10,1 7,2 9,3 8,5 10,7 mehrmals 9,0 8,2 6,9 9,6 9,6 8,6 pro Monat einmal pro 9,7 8,8 11,8 12,2 10,7 10,1 Woche mehrmals 21,5 30,1 26,2 28,8 22,8 25,0 pro Woche täglich 32,6 36,0 40,4 32,1 40,4 35,1 Kontakthäufigkeit mit Angehörigen der eigenen ethnischen Gruppe gar nicht 1,1 9,0 7,5 4,2 7,4 4,7 seltener 4,1 17,0 13,6 8,3 17,4 10,0 mehrmals 6,5 15,6 10,8 9,9 17,4 10,4 pro Monat einmal pro 11,0 15,0 13,6 16,1 13,2 12,9 Woche mehrmals 31,8 27,2 30,3 38,5 23,1 30,4 pro Woche täglich 45,5 16,3 24,1 22,9 21,5 31,6

Quelle: RAM 2006/2007, Fallzahl 4.569 bzw. 4.568 (eigene Berechnung, in Prozent) Tabelle 5: Kontakte im Freundeskreis Art der Sozialintegration keine Freunde Kontakt zu Freunden aus Herkunftsland Kontakt zu deutschen Freunden Kontakt zu deutschen Freunden und aus Herkunftsland

Türkische 0,4

Ehem. Jugoslawische 1,0

Italienische 1,5

Griechische 0,5

14,0

5,7

6,1

0,7

7,9

84,9

85,3

Polnische

Gesamt

1,4

0,8

7,6

6,9

9,8

6,1

3,6

6,0

3,9

86,4

88,3

85,7

85,6

Quelle: RAM 2006/2007, Fallzahl 4.576 (eigene Berechnung, in Prozent)

259

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2.3 Mitgliedschaft in Vereinen Die Mitgliedschaft in Vereinen gilt als Standardindikator der politischen Soziologie zur Messung des Sozialkapitals (Putnam 2000, Gabriel u.a. 2002, Bühlmann/Freitag 2007). Unterschiede in der Partizipation zwischen Migranten und Einheimischen werden dabei in den meisten Studien mangels Migrantenstichproben nicht betrachtet. Im Freiwilligensurvey, einer Studie zur Untersuchung der Partizipation und des Engagements in Vereinen und Organisationen, lässt sich in der Migrantenunterstichprobe eine geringere Beteiligungs- und Engagementquote feststellen (Gensicke u.a. 2005). Während 71 Prozent der über 14-jährigen Nicht-Migranten sich in einem Verein, einer Gruppe oder Organisation beteiligen, sind es bei Migranten 61 Prozent. Die bedeutendsten Bereiche sind bei beiden Gruppen Sport und Bewegung sowie Freizeit und Geselligkeit. Ein Ehrenamt, d.h. die freiwillige Übernahme von Aufgaben und Arbeiten, üben 37 Prozent der Nicht-Migranten und 23 Prozent der Migranten aus. Sozialstrukturelle Merkmale kovariieren generell mit dem Engagement. Dieses tritt häufiger bei höher Gebildeten, bei Erwerbstätigen und bei Personen auf, die in einer Kernfamilien mit Kindern leben. Hierbei wurde jedoch nicht zwischen Aufnahmeland- und Herkunftsland-bezogenen Vereinen unterschieden. In Herkunftsland-bezogenen Organisationen wird ebenfalls Sozialkapital erworben (Jacobs/ Tillie 2008: 48). Hier spielen insbesondere Migrantenselbstorganisationen (MSO) eine Rolle. Sozialkapital kann z.B. als Ressource dienen, um eine Interessenvertretung zu erlangen und so politisch zu partizipieren. Andere MSOs, wie etwa die Elternvereine spanischer oder vietnamesischer Migranten, fördern die Bildung ihrer Kinder (Weiss/Thränhardt 2005: 17). Bei einer Studie zum ehrenamtlichen Engagement türkischer Migranten zeigt sich, dass fast zwei Drittel (64 Prozent) der türkischstämmigen Migranten sich aktiv in Vereinen, Verbänden, Gruppen oder Initiativen beteiligen (Halm/Sauer 2007: 50). Die höchste Beteiligung liegt dabei im religiösen Bereich. 40 Prozent beteiligen sich nur in türkischen Gruppen, 16 Prozent nur in deutschen Gruppen, 35 Prozent sowohl in deutschen als auch in türkischen und 9 Prozent in internationalen Gruppen (Halm/Sauer 2007: 53). 10 Prozent sind freiwillig engagiert (Ehrenamt). Unter den Eingebürgerten ist die Beteiligung stärker ausgeprägt als bei türkischen Staatsbürgern. In einer Befragung von Migranten aus 49 muslimischen Herkunftsländern zeigte sich eine etwas geringere Konzentration auf eigenethnische Vereine. 35 Prozent gehören ausschließlich einem deutschen Ver260

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

ein an. Eine ausschließliche Mitgliedschaft in einer Vereinigung mit Bezug zum Herkunftsland weisen 4 Prozent auf. 17 Prozent sind Mitglied sowohl eines deutschen als auch eines herkunftslandbezogenen Vereins. Damit verfügen insgesamt 52 Prozent aller Befragten aus einem muslimisch geprägten Land über eine Mitgliedschaft in einem deutschen Verein bzw. einer Organisation, unter den muslimischen Befragten sind es 55 Prozent (Haug et al. 2009: 256). Bei den deutschen Vereinen sind es zumeist Sportvereine, bei den Herkunftsland-orientierten Vereinen Kultur- oder Sportvereine. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass ein relativ großer Teil der Befragten deutsche Staatsbürger sind (40 Prozent der Muslime und 67 Prozent der sonstigen Zuwanderer aus muslimischen Ländern). Unter den überwiegend ausländischen Befragten der RAM-Studie beteiligen sich vergleichsweise wenige (23 Prozent) in einem oder mehreren deutschen Vereinen. Viel seltener ist die Mitgliedschaft in einem Herkunftsland-bezogenen Verein (8 Prozent in einem, 1 Prozent in zwei Vereinen). Die höchste Partizipationsquote in einem herkunftslandbezogenen Verein lässt sich bei griechischen und türkischen Migranten feststellen (Abb. 3), die höchste Partizipation in deutschen Vereinen weisen italienische Migranten auf. Bei der Untersuchung der Kombination der Partizipationsmuster zeigt sich, dass die Mehrfachintegration, d.h. die Partizipation in beiden Arten von Vereinen die Ausnahme darstellt (Tab. 6). Die Mehrheit ist kein Vereinsmitglied, die zweithäufigste Variante ist die ausschließliche Mitgliedschaft in Vereinen des Aufnahmelandes (soziale Integration), wobei dies bei italienischen Migranten am häufigsten vorkommt. Diese weisen somit in höherem Maße aufnahmelandbezogenes Sozialkapital auf als die anderen Gruppen.

3 . S o z i a l k a p i t a l u n d Ar b e i t s m a r k t i n t e g r a t i o n Im folgenden Abschnitt wird untersucht, wie sich das Sozialkapital auf den Bereich der strukturellen Integration auswirkt. Die zentrale Hypothese ist dabei, abgeleitet aus der Weak tie-Perspektive auf Sozialkapital, dass Aufnahmeland-spezifisches Sozialkapital einen positiven Effekt auf die Arbeitsmarktintegration hat. Hierbei geht es um die generelle Chance auf einen Arbeitsplatz, ohne Betrachtung des beruflichen Status oder der ethnischen Nischenökonomie.

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Abbildung 3: Mitgliedschaft in deutschen und Herkunftsland-bezogenen Vereinen

35

29

30 25

25

22

22

18

20 15

15

13 7

10

6

5

5 0 Türkische

Ehem. Jugoslawische

Italienische

Partizipation in deutschen Vereinen

Griechische

Polnische

Partizipation in eigenethnischen Vereinen

Quelle: RAM 2006/2007, Fallzahl 4.576 (eigene Berechnung, in Prozent) Tabelle 6: Mitgliedschaft in Vereinen nach Herkunftsgruppe Art der SozialEhem. Jugo- Italie- GriechiTürkische Polnische integration slawische nische sche in keinem Verein 69,7 73,0 67,5 65,9 78,0 Verein/e des Herkunftslands 8,4 4,5 3,5 9,0 3,6 Verein/e des Aufnahmelandes 17,2 20,0 26,1 18,6 16,3 Verein des Herkunfts- und Aufnahmelandes 4,7 2,5 2,9 6,5 2,2

Gesamt 70,5

6,4 19,2

3,9

Quelle: RAM 2006/2007, Fallzahl 4.576 (eigene Berechnung, in Prozent) Ein stabiler Befund der Integrationsforschung in Deutschland ist die schlechtere Erwerbsposition der türkischen Migranten im Vergleich zu allen anderen Migrantengruppen (Granato/Kalter 2001; Seifert 2007; Tucci 2008; Seibert 2008; Babka von Gostomski 2008; Haug et al. 2009), wobei Migranten mit deutscher Staatsangehörigkeit (Eingebürgerte, Aussiedler) wiederum eine bessere Positionierung als Ausländer aufweisen (Salentin/Wilkening 2003; Haug 2002, Seibert 2008; Finke 2008). Als ein zentraler Erklärungsansatz wird häufig die HumankapitalTheorie diskutiert. Eine Bestätigung dafür ist der positive Effekt von schulischer bzw. beruflicher Qualifikation auf die berufliche Stellung von Migranten (Granato/Kalter 2001; Haug 2002; Seibert 2008; Stichs 262

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

2008). Bei türkischen Migranten gilt dieser Zusammenhang jedoch nicht; auch mit höherem Bildungsniveau erreichen sie nicht die berufliche Stellung von Deutschen oder italienischen Migranten (Haug 2002; Granato/Kalter 2001; Kalter 2006; Kalter 2007). Insofern trifft die Annahme der Humankapital-Theorie, nämlich dass unabhängig von ethnischer Herkunft das Humankapital die Arbeitsmarktposition erklärt, nicht zu. Dies spricht laut einigen Autoren für einen „ethnisierten“ Signalwert eines Ausbildungsabschlusses (Seibert/Solga 2005), d.h. für Diskriminierung. Bei Befragungen von Arbeitgebern zeigt sich auch, dass bei der Rekrutierung von Arbeitskräften neben der Qualifikation auch andere Aspekte eine Rolle spielen. Wichtig ist unter anderem das Ziel, Komplikationen mit Mitarbeitern oder Kunden zu vermeiden. Ein Verzicht auf ausländische Auszubildende wäre demnach eine vorwegnehmende Konflikt- und Problemvermeidung (Imdorf 2008, 2009). Diskriminierung lässt sich als Faktor nicht ausschließen, vor allem beim Übergang zwischen Schule und Beruf (Esser 2006: 545). Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Wirkungsweise von Ressourcen aus dem Herkunftsland. In der neueren Integrationsforschung ist eine Forschungskontroverse über den Verlauf von Integrationsprozessen entbrannt. Gemäß der „Segmented Assimilation Theory“ (Portes/Zhou 1993, Portes/Rumbaut 2001) kann die Integration der zweiten Generation der mittel- und lateinamerikanischen Einwanderer in den USA drei verschiedene Formen annehmen: erstens eine Integration in den Mainstream der Aufnahmegesellschaft, zweitens eine Abwärtsintegration in Subkulturen der Unterschicht („downward assimilation“) und drittens bestehen Gruppen, die strukturell erfolgreich, aber in eigenethnischen Beziehungsnetzwerken und somit „parallel“ integriert sind. Vertreter der „New Assimilation Theory“ (Alba 2008; Esser 2008; Kalter 2008) sehen keine empirischen Belege dafür. Gemäß Essers Analysen zur „Mehrfachintegration“ am Beispiel der Mehrsprachigkeit zeigt sich, dass für den Arbeitsmarkterfolg vor allem die Kenntnisse in der Sprache des Aufnahmelandes entscheidend sind (Esser 2006: 545). Auch Kalter stellt fest, dass ein Mangel an aufnahmelandspezifischen Ressourcen zu Nachteilen im sozioökonomischen Status von Migranten führt (Kalter 2007: 410). Für „eigenethnische Kapitalien“ zeigte er, dass sich die sprachliche Segmentation negativ auswirkt und die Bilingualität allein keinen Vorteil gegenüber der Beherrschung der deutschen Sprache bringt. Ein eigenethnisch homogenes Freundesnetzwerk geht mit Nachteilen auf dem Arbeitsmarkt einher, während ein gemischtes Netzwerk keinen Vorteil gegenüber einem deutschen Freundesnetzwerk hat.

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Mit Hilfe einer multivariaten logistischen Regression wurde hier anhand der RAM-Daten getestet, wie Sozialkapital gemäß der Weak tieThese wirkt. Abhängige Variable ist der Erwerbsstatus (erwerbstätig versus arbeitslos). Es wird das 4-Felder-Schema der sozialen Integration verwendet (Tab. 2). Dies hat den Vorteil, dass zwei Hypothesen getestet werden können: Erstens wird von der theoretischen Annahme ausgegangen, dass Aufnahmeland-spezifisches Sozialkapital einen positiven Effekt auf den Erwerbsstatus hat (Tab. 1). Zweitens wird untersucht, ob es einen Zusatzeffekt der Mehrfachintegration gibt; falls dem so wäre, müssten die Chancen auf eine Erwerbstätigkeit bei Mehrfachintegrierten erhöht sein. 21 Prozent der befragten Erwerbspersonen sind arbeitslos, bei türkischen Migranten 27 Prozent, bei jugoslawischen 18, bei italienischen und polnischen 17 und bei griechischen 16. In einer bivariaten Analyse wurde zuvor festgestellt, dass sowohl die Freundschaft mit Deutschen als auch die Mitgliedschaft in deutschen Vereinen einen signifikanten positiven Effekt haben (Chi-Quadrat-Test). Modell 1 enthält soziodemographische Variablen (Alter, Geschlecht, ethnische Gruppe), Modell 2 Indikatoren der Humankapital-Ausstattung (Schulbesuch in Jahren, Schulabschluss in Deutschland, Berufsausbildungsabschluss, additiver Index der Deutschkenntnisse aus selbst eingeschätzten mündlichen und schriftlichen Kenntnissen). Modell 3 bezieht sich auf die Ausstattung mit Sozialkapital (Freunde, Mitgliedschaft in Vereinen). In der multivariaten Analyse konnte kein signifikanter Geschlechtseffekt festgestellt werden. Hierbei ist zu berücksichtigten, dass bei der Erwerbsbeteiligung durchaus ein starker Geschlechtseffekt besteht: Weibliche Migrantinnen sind sehr viel seltener erwerbstätig, ein Umstand, der auch von der Schulbildung abhängt (Stichs 2008). In dieser Analyse ging es jedoch um den Effekt des Sozialkapitals auf die Chance, eine Arbeitsstelle zu finden. Aus diesem Grund wurden nur Erwerbspersonen berücksichtigt, d.h. Migranten, die keine Erwerbstätigkeit anstreben und nicht angeben, arbeitslos zu sein, werden nicht berücksichtigt. Auch das Alter hat keinen Einfluss auf den Erwerbsstatus. Deutschkenntnisse haben einen positiven Effekt. Das Vorhandensein eines deutschen Schulabschlusses wirkt sich per se nicht positiv aus, entscheidend ist vielmehr das Vorhandensein einer Berufsqualifikation. Modell 3 zeigt, dass das Sozialkapital in Form von Freundschaftsbeziehungen keinen signifikanten Effekt auf die Chance hat, eine Arbeitsstelle zu haben. Es zeigt sich hier, dass es für Erwerbstätigkeit keine Rolle spielt, wie sich die Freundesnetzwerke von Migranten zusammensetzen. 264

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

Tabelle 7: Einflussfaktoren auf den Erwerbsstatus (Logistische Regression) Abhängige Variable: Erwerbsstatus (0 = arbeitslos, 1 = erwerbstätig) Unabhängige Modell 1 Modell 2 Modell 3 Referenzk. Variablen Exp(B)/Sign. Exp(B)/Sign. Exp(B)/Sig n. Alter in Jahren 0,989 ** 1,004 1,001 (0= weibGeschlecht lich) 0,915 0,906 0,832 (RK TürEhem. Jugoslawien kei) 1,733 *** 1,403 ** 1,459 ** Italienisch 1,842 *** 1,587 ** 1,573 ** Griechisch 2,015 *** 1,777 ** 1,811 ** Polnisch 1,848 ** 1,694 ** 1,806 ** Schulbesuch in Jahren 1,016 1,009 (0 kein Schulabschluss in AbDt. schluss) 0,937 0,921 (0 keine BerufsBerufsausbildung ausbildung) 1,575 *** 1,625 *** Deutschkenntnisse 1,231 *** 1,318 *** Freunde Herkunfts- (RK keine land Freunde) 0,707 Deutsche Freunde 0,818 Freunde Herkunftsland + Dt. 0,920 (RK kein Herkunftsland-bez. VereinsVerein mitgl.) 1,031 Verein deutsch 2,192 *** Verein Herkunftslandbez. + Dt. 2,181 ** Konstante 4,330 *** 0,524 0,856 Cox & Snell R² 0,02 0,04 0,06 Nagelkerkes R² 0,03 0,07 0,09

Quelle: RAM 2006/2007. * p < 0,05. ** p < 0,01. *** p < 0,001. Fallzahl 2.836. Nicht getestet wurden jedoch innerfamiliale Netzwerke, die möglicherweise im Gegensatz zur Weak tie–These bei Migranten eine größere Rolle spielen, z.B. in Familienbetrieben. Die Chance auf Erwerbstätigkeit hängt jedoch mit der Vereinspartizipation zusammen. Bei Personen, die in einem deutschen Verein Mit265

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glied sind, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit um mehr als das Doppelte. Gleiches gilt auch für Personen, die sowohl in einem deutschen Verein als auch in einem Herkunftsland-bezogenen Verein Mitglied sind. Die ausschließliche Mitgliedschaft in einem Herkunftsland-bezogenen Verein hat keinen Effekt im Vergleich zu Personen, die in keinem Verein Mitglied sind. Daraus ergeben sich Schlussfolgerungen im Hinblick auf die zwei untersuchten Thesen: Erstens zeigt sich, dass die Mitgliedschaft in einem deutschen Verein die Chance einer Erwerbstätigkeit erhöht (indirekte Bestätigung der Weak tie-Hypothese). Dies ist plausibel unter der Annahme, dass die Kontakte in Vereinen des Aufnahmelandes einerseits Informationen über verfügbare Stellen bieten können, aber auch möglicherweise Zugang zu lokalen Entscheidungsträgern vermitteln. Zudem wird die Mitgliedschaft in Vereinen häufig als Einstellungskriterium gewertet („Soft skills“). Zweitens wird deutlich, dass die Mitgliedschaft in einem herkunftslandbezogenen Verein bei der Arbeitsmarktintegration für sich genommen nicht hilfreich ist und eine Mitgliedschaft in beiden Arten von Vereinen keinen Zusatznutzen gegenüber der Mitgliedschaft in einem deutschen Verein hat (Bestätigung der „New Assimilation Theory“).

4. Schlussfolgerungen Die Unterscheidung zwischen herkunftsort- und zielortspezifischem Sozialkapital hat sich für die Erklärung individueller Wanderungsentscheidungen und deren Folgen auf der Makro-Ebene in Form von Kettenmigration als hilfreich erwiesen. Die Forschung hat gezeigt, dass Herkunftsland-spezifisches Sozialkapital eine hemmende, Zielort-spezifisches Sozialkapital eine förderliche Wirkung auf die Migration hat (Haug 2000). Wie in diesem Artikel gezeigt wurde, ist im Fall der Integrationsforschung die Rolle des Sozialkapitals jedoch nicht so eindeutig. Hier zeigt sich die Unklarheit des theoretischen Konstrukts, da Effekte auf individueller Ebene den Effekten auf kollektiver Ebene widersprechen können und je nach Definition des Sozialkapitals unterschiedliche Hypothesen ableitbar sind. Auf der Makro-Ebene kann die Einbettung in ein Verwandtschaftsnetzwerk oder eine ethnisch homogene Gemeinschaft Ausdruck des kollektiven Sozialkapitals sein. Auf der MikroEbene ist Sozialkapital eine Ressource, die sich aus den Eigenschaften des Beziehungsnetzwerks ergibt. Unter dem Closure-Gesichtspunkt sind dabei geschlossene ethnische Netzwerke mit Sozialkapital verbunden. 266

SOZIALE NETZWERKE UND SOZIALES KAPITAL

Demgegenüber erhöhen aus der Perspektive der Weak tie-These Kontakte zu Personen außerhalb eines ethnischen Netzwerks das Sozialkapital. Um die Wirkungsweise des Sozialkapitals ohne widersprüchliche Aussagen zu beschreiben, wird zwischen Herkunftsland- und Aufnahmeland-spezifischem Sozialkapital differenziert. Es hat sich gezeigt, dass Migrantengruppen sich hinsichtlich der Ausstattung mit diesen Arten von Sozialkapital unterscheiden. Ein positiver Zusammenhang des Aufnahmeland-spezifischen Sozialkapitals mit der Arbeitsmarktintegration konnte im Fall der Mitgliedschaft in deutschen Vereinen nachgewiesen werden. Kausalbeziehungen zwischen dem Sozialkapital und der strukturellen Integration lassen sich jedoch nicht direkt ableiten. Es könnte sein, dass die sozialen Netzwerke im Sinne der Weak tie-These wirken. Aber auch umgekehrt ist es denkbar, dass erwerbstätige Migranten den Zugang zu Vereinen über ihre Arbeitskollegen finden. Dies wäre z.B. bei Gewerkschaften plausibel. Bei einer ersten differenzierteren Analyse des Zusammenhangs zwischen der Mitgliedschaft in Vereinen und der Erwerbstätigkeit bei allen Befragten des SOEP 2007 (Logistische Regression, Odds Ratio) zeigte sich ein positiver Effekt für die Mitgliedschaft in mindestens einem Verein (3,71***), für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft (2,86***), in einem Berufsverband (8,80***), in einem Umweltverband (3,43***) und einem sonstigen Verband (2,99***). Zur Untersuchung der Mechanismen wären weitere Studien, z.B. eine Befragung bei Mitgliedern in Vereinen und ihre Sicht, bei Arbeitgebern über ihre Rekrutierungswege oder eine Längsschnittuntersuchung zur Auswirkung von Vereinsmitgliedschaften bei der Stellensuche. Wichtig sind auch Art und Schwerpunkt der Vereine. Dieser liegt beim eigenethnischen Engagement häufig bei Migrantenselbsthilfe und somit tendenziell beim „bonding social capital“ (Halm/Sauer 2007: 177). Auf der Makro-Ebene ist dies Ausdruck des kollektiven Sozialkapitals einer ethnischen Gruppe. Eine offene Frage ist hierbei, inwieweit damit für die Einzelnen auch jeweils eine Brückenfunktion zur Aufnahmegesellschaft verbunden ist.

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Indikatoren für Integrationsneigung? Die sozialen Netzw erkstrukturen von Immigra nte n aus Ta iw an in de n US A CHRISTINE AVENARIUS1

Die weltweite Vernetzung von Wirtschaftsaktivitäten und politischen Entscheidungen verbindet mit Hilfe moderner Kommunikations- und Transporttechnologien täglich eine Vielzahl von Menschen miteinander, die unterschiedliche Wertvorstellungen und praktische Gewohnheiten haben. Verschiedene soziale Welten treffen aufeinander. Die meisten dieser Begegnungen sind flüchtig oder von kurzer Dauer und geringem gegenseitigen Einfluss. Doch was passiert, wenn Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft miteinander in Kontakt kommen? Wie bewältigen Migranten die Herausforderung, sich sozial in ein neues Heimatland einzugliedern? Manche passen ihre erlernten Beziehungsmuster den neuen Gegebenheiten an. Andere finden keinerlei Anknüpfungspunkte zu ihren neuen Nachbarn und orientieren sich ausschließlich an anderen Migranten. Wie können wir herausfinden, welche Faktoren diese Prozesse fördern oder behindern? Was können wir speziell von dem Fall der gesellschaftlichen Eingliederung von wohlhabenden Migranten aus Taiwan in den räumlich weitläufig ausgedehnten Siedlungsgebieten Südkaliforniens lernen? 1

Mein Dank gilt allen Informanten in Orange County, Kalifornien für ihre Zeit und Geduld. Dank auch an Theresa Wang, Yangying Peterson, Julia Pauli, Michael Schnegg, Michael Casimir, Erwin Orywal, Jeff Johnson und ganz besonders Thomas Schweizer für den wichtigen Gedankenaustausch beim Erkunden sozialer Strukturen. 275

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Ursprünglich ging die Migrationsforschung in den USA davon aus, dass sich Migranten nach ihrer Ankunft aufgrund begrenzter finanzieller Ressourcen und mangelnder Englischkenntnisse zunächst in innerstädtischen Wohnbezirken mit hoher ethnischer Konzentration ansiedeln. Sie bilden dort sogenannte „ethnische Enklaven“, die aus lokal fokussierten, ethnisch homogenen und vornehmlich dicht verwobenen starken sozialen Beziehungen bestehen (Kwong 1987; Nee/De Bary Nee 1972; Wong 1982; Zhou 1992). Seit Ende der 1960er Jahre hat sich jedoch zunehmend eine neue Generation von Migranten in den USA eingefunden: Neuankömmlinge aus Taiwan zum Beispiel, die gut ausgebildet sind und über gute Englischkenntnisse verfügen. Beides erlaubt ihnen, außerhalb ethnischer Enklaven zu arbeiten und sich verstreut in Wohnbezirken der oberen Mittelklasse anzusiedeln. Diese veränderten Gegebenheiten lassen vermuten, dass der Eingliederungsprozess von Migranten in die Gesamtgesellschaft bereits in der ersten Generation zu ethnisch heterogenen Netzwerkkompositionen führen kann und nicht erst in der zweiten oder dritten Generation, wie das für Migranten ehemals der Fall war. Um diese Annahme zu überprüfen, untersuche ich in diesem Kapitel die sozialen Beziehungen, die Migranten untereinander und mit Mitgliedern der Gesamtgesellschaft verbinden. Die Integrationsneigung wird hierbei nicht nur auf der individuellen Ebene anhand der Zusammensetzung und Beschaffenheit der persönlichen Netzwerke von einzelnen Migranten untersucht, sondern auch auf der Ebene von sozialen Organisationen, insbesondere im Hinblick auf die räumliche Verbreitung und die Verzahnung von sozialen Gruppen und ihrer Mitglieder.2 Die folgenden Forschungsfragen haben die Untersuchung der Integrationsneigung von wohlhabenden Taiwanesen geleitet: Welche Faktoren beeinflussen die Struktur der persönlichen Netzwerke von Immigranten aus Taiwan? Gibt es eine kohärente bzw. zusammenhängende ethnische Gemeinschaft von Immigranten aus Taiwan in neueren amerikanischen Siedlungsgebieten, die keinen Bezug zu „traditionellen“ Chinatowns haben? Wie sieht in einem solchen Fall die Netzwerkstruktur der Beziehungen zwischen ethnischen Organisationen aus? Welchen Einfluss haben die Strukturen der persönlichen Netzwerke und die Strukturen des Netzwerkes aller ethnischen Organisationen auf den Integrationsprozess von Immigranten in die Gesamtgesellschaft? Um diese Fragen zu beantworten, folgt nach einer kurzen Diskussion der theoretischen Überlegungen zu Eingliederungsprozessen und Integ2

Zu diesem Vorgehen vgl. etwa auch die Beiträge von Haug und Fenicia et al. in diesem Band.

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INDIKATOREN FÜR INTEGRATIONSNEIGUNG?

rationsneigungen zunächst eine Einführung in die Forschungsmethodik und die Netzwerkbegriffe, die in dieser Untersuchung verwendet wurden. Daran schließt eine Darstellung des ethnographischen Hintergrunds der untersuchten Taiwanesen an. Darauf aufbauend werden die Ergebnisse der Netzwerkanalyse für die individuelle Ebene der persönlichen Netzwerke und der Gruppenebene der Gemeindeorganisationen vorgestellt und im Hinblick auf den Integrationsprozess von Migranten aus Taiwan diskutiert.

1. Theoretische Überlegungen zum Eingliederungsprozess Die Bedingungen für Einwanderer in die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich seit der Staatsgründung immer wieder verändert. Seit 1776 erlaubten eine Reihe verschiedener Parlamentsbeschlüsse mal mehr, mal weniger Menschen die Einbürgerung und ermöglichten oder behinderten deren Teilnahme am Arbeitsmarkt sowie die Ansiedlung in bestimmten Regionen (zur Immigrationsgeschichte der USA vgl. Bernard 1998). Mit dem Erlass des Hart-Celler Act von 1965 können sich nun aber jedes Jahr bis zu 700.000 neue Einwanderer in den USA niederlassen, unabhängig von Herkunftsort, Finanzlage oder Humankapital. Diese Politik der Offenheit gegenüber Migranten aus allen Ländern der Welt gepaart mit einer zahlenmäßigen Beschränkung wurde mit einem weiteren Immigrationserlass von 1990 weiter konsolidiert (Bernard 1998). Die politischen Maßnahmen hatten zur Folge, dass die Bevölkerung der Vereinigten Staaten mittlerweile sowohl im Hinblick auf ihre ethnische Zusammensetzung als auch in Bezug auf Bildungsniveau und Wertesysteme vielfältiger ist als vor dem ersten Weltkrieg. Dennoch sind die Herausforderungen für Einwanderer gleich geblieben: Sie müssen sich an die Gegebenheiten ihrer neuen Heimat anpassen und Kontakt mit den Einwohnern des neuen Heimatlandes aufnehmen. Die sozialwissenschaftliche Forschung unterscheidet zwischen mehreren möglichen Prozessen der Eingliederung in eine Gesamtgesellschaft und bezeichnet diese als Akkulturation, Assimilation und Integration. Ursprüngliche Annahmen, unter anderem von Park (1950) und Gordon (1964), dass diese Prozesse in gerader Linie nacheinander durchlaufen werden, können heute nicht mehr bestätigt werden. Vielmehr kann es vorkommen, dass eine Einwanderergruppe unter sich bleibt und sich nicht weiter auf andere einlässt, bzw. dass sich Migranten im Verlauf ihres Ansiedlungsprozesses entweder assimilieren oder integrieren.

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Die verschiedenen Eingliederungsprozesse werden folgendermaßen definiert: Akkulturation ist der Prozess kultureller Veränderung, der stattfindet, wenn eine Minderheit, z.B. eine Gruppe von Einwanderern, direkten Kontakt mit der Gesamtgesellschaft hat und im Laufe der Zeit bestimmte Praktiken und Einstellungen von ihr übernimmt. Es ist eine Kombination aus Anpassung an und Erlernen von neuen Verhaltensmustern (Glazer/Moynihan 1970; Gordon 1964). Der Begriff ‚Akkulturation‘ wird oft gleichwertig mit dem Begriff ‚kulturelle Assimilation‘ verwendet. Der Begriff der Assimilation, auch strukturelle Assimilation genannt, beschreibt einen Prozess, während dem sich die Mitglieder einer Kultur auf der sozialen Ebene mit Mitgliedern einer anderen Kultur vermischen. Mitglieder einer Migrantenkultur verlassen ihre formellen und informellen Gruppierungen und sozialen Institutionen und werden in Gruppen und Institutionen einer Gesamtgesellschaft eingebunden, die sich nicht ethnisch definieren. Nach Vollzug des Prozesses haben nicht nur Anpassung an Sprache und Verhaltensmuster stattgefunden, sondern auch Interaktionen mit anderen Menschen gemäß den Regeln der dominanteren Kultur (Gans 1997; Gordon 1964). Eine Integration hingegen hat dann stattgefunden, wenn verschiedene ethnische Gruppen ihre Gruppenidentität bewahren können, aber gleichzeitig an den essentiellen Prozessen in einer Gesellschaft, d.h. der Produktion und Distribution sowie der Regierung, als gleichberechtigte Partner teilhaben können. Diese Definition setzt eine Gleichstellung von verschiedenen sozialen Beziehungen und unterschiedlichen kulturellen System innerhalb einer großen Gesellschaft voraus (Faist 2000; Gans 1999; Ludwig/Köster 1999: 345; Seymour-Smith 1986: 154). Berry (1997) hat die Evaluierung von Eingliederungsprozessen aufgrund von kontinuierlichem Kontakt zwischen Mitgliedern zweier unterschiedlicher Kulturen von zwei wesentlichen Fragen abhängig gemacht: Wird es als wichtig angesehen, die eigene Identität und eigene kulturelle Eigenschaften zu bewahren? Und: Wird es als wichtig angesehen, Beziehungen mit der Gesamtgesellschaft zu pflegen? Wenn beide Fragen von Einwanderern bejaht werden, erfolgt eine Integration. Wenn es nicht wichtig oder nicht möglich ist, die eigene Identität zu bewahren, Beziehungen mit der Gesamtgesellschaft aber gepflegt werden, findet Assimilation statt. Werden eine oder gar beide Fragen verneint, kann es zur Segregation von der Gesamtgesellschaft bzw. sogar einer völligen Marginalisierung kommen (Berry 1997: 10). Diese Eingliederungsprozesse verlaufen natürlich nicht immer gleich oder unbeeinflusst von speziellen Umständen ab. Neuere Forschungen zu Eingliederungsprozessen in den USA haben festgestellt, dass oft eine räumliche Integration stattfindet, da Neuankömmlinge sich verstreut und 278

INDIKATOREN FÜR INTEGRATIONSNEIGUNG?

unabhängig von anderen Einwanderern aus ihrem Herkunftsland dort ansiedeln, wo sie ein passendes Heim finden (Skop/Li 2005; Zelinsky/ Lee 1998; Zhou 2006). Dies führt jedoch nicht zwangsläufig zu einer sozialen Integration zwischen Migranten und alteingesessenen Nachbarn (Brown 2006; Fong/Ooka 2006; Lo/Wang 2004). Weiterhin ist zu beachten, dass in einigen geographischen Regionen der USA die Anzahl von Einwanderern aus dem gleichen Herkunftsland so hoch ist, dass möglicherweise ein hoher Grad an Selbstgenügsamkeit (institutional completeness) im Hinblick auf von Migranten gegründete soziale Organisationen besteht (Breton 1964). Der von Breton (1964) eingeführte Begriff der „institutional completeness“ beschreibt eine soziale Situation, in der Immigranten keinen Anlass haben, nach Dienstleistungen oder Freundschaftsbeziehungen außerhalb ihres Siedlungsgebietes zu suchen, da alle sozialen Institutionen bereits innerhalb ihres sozialen Umfelds vorhanden sind. In der Regel ist dies für ethnische Enklaven der Fall, in den USA zum Beispiel bei Stadtvierteln wie Chinatown, Little Italy oder Koreatown.3 Da sich die Bedingungen für Begegnungen zwischen Migranten und etablierter Bevölkerung in den USA in den letzten Jahrzehnten stark verändert haben, ist es wichtig, zu untersuchen, wie diese Veränderungen den Eingliederungsprozess verändert haben. Anhand von sozialen Beziehungen, vor allem Beziehungen außerhalb des Arbeitsplatzes, ist festzustellen, ob bestimmte Gruppen von Einwanderern eher auf eine Integration oder Assimilierung zusteuern und ob dies in der ersten oder zweiten Generation der Fall ist.

2. Netzwerkdaten und die Bestimmung von Integrationsneigung Die Analysewerkzeuge der sozialen Netzwerkforschung sind besonders gut geeignet, um die Eingliederungsprozesse von Immigranten zu beurteilen (vgl. hierzu auch Fenicia et al. in diesem Band). Zur Beantwortung der Forschungsfragen werden Daten benötigt, die Auskunft geben können über die Integrationsneigung der Immigranten bzw. den Grad der Wahrscheinlichkeit, dass sich Einwanderer entweder integrieren, assimilieren, akkulturieren oder von der Gesamtgesellschaft abkapseln. Dabei können folgende Arten von Daten behilflich sein: Daten zu den Eigenschaften von persönlichen Netzwerken von Immigranten, Daten

3

Zu der hier aufgeworfenen Frage nach sogenannten „Parallelgesellschaften“ siehe auch den Beitrag von Janßen in diesem Band. 279

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zur räumlichen Verteilung von Beziehungen, Daten zu Vernetzungen von sozialen Organisationen und Daten zu Auffassungen und Meinungen von Immigranten über das soziale Leben in ihrer neuen Heimat. Was wissen wir über die Netzwerkstrukturen von Einwanderern, die dem klassischen Model von Eingliederungsprozessen nach Park (1950) und Gordon (1964) entsprechen, d.h. Einwanderer der ersten Generation, die sich allenfalls akkulturiert, aber nicht assimiliert haben? Aus Beschreibungen ihrer sozialen Welten können wir entnehmen, dass ihre persönlichen Netzwerke aus dicht geknüpften Beziehungen bestehen, die in mehreren sozialen Kontexten überlappen. Diese Beziehungen sind auf einen lokalen Standort beschränkt, was zur Bildung von ethnischen Enklaven führt (Crissman 1967; Wong 1982). Die Dominanz von starken Beziehungen zieht oft die sogenannte „dark side of strong ties“ nach sich. Immigranten haben weder zeitlich noch räumlich Gelegenheit, Beziehungen zu anderen Menschen außerhalb ihrer ethnischen Gemeinschaft zu knüpfen und schwache Beziehungen einzugehen, die sie eventuell einer Integration näher bringen könnten (Gargiulo/Bernassi 1999). Da meine Forschung davon ausgeht, dass sich die Eingliederungsbedingungen für Einwanderer geändert haben, habe ich spezifische Hypothesen über die Netzwerke der wohlhabenden, gut ausgebildeten Immigranten aus Taiwan, die sich verstreut in Südkalifornien ansiedeln, entwickelt. Die erste Annahme ist, dass die Integrationsmöglichkeiten von Taiwanern und Chinesen nur gering eingeschränkt sind, wenn persönliche Netzwerke groß sind, d.h. wenn sie eine hohe Anzahl von Bezugspersonen und Kontakten aufweisen. Weiterhin ist zu vermuten, dass Integration eher stattfindet, wenn persönliche Netzwerke heterogen sind, z.B. zahlreiche Mitglieder anderer ethnischer Herkunft aufweisen. Zudem ist zu erwarten, dass ein hoher Grad an Vielfalt von sozialen Hintergründen unter den Mitgliedern eines persönlichen Netzwerkes die Wahrscheinlichkeit einer Integration erhöht. Diesen Annahmen steht die Beobachtung gegenüber, dass auf der Gruppenebene ein hoher Grad an „institutional completeness“ die Integration vom Immigranten eher behindert als fördert. Weiterhin kann die Eingliederung von Immigranten durch die extreme Zersiedlung der Wohngebiete erschwert werden, die Neuankömmlingen keine zentralen Orte offerieren, wie zum Beispiel Marktplätze und Innenstädte, an denen sie mit Menschen aus anderen ethnischen Gruppen und anderen sozialen Kontexten zusammentreffen können. Welche Netzwerkindikatoren können uns nun konkret die Evaluierung dieser widersprüchlichen Annahmen zur Integrationsneigung der hier in den Blick genommenen Taiwanern ermöglichen? Wie werden Netzwerkeigenschaften im Einzelnen operationalisiert? Für persönliche 280

INDIKATOREN FÜR INTEGRATIONSNEIGUNG?

Netzwerke können wir die Größe eines Netzwerkes, die verschiedenen Typen von Unterstützungsbeziehungen, den Stärkegrad von Beziehungen und den Diversifizierungsgrad von Beziehungen bestimmen (Wasserman/Faust 1994). In Bezug auf das möglicherweise vorhandene Gesamtnetzwerk aller ethnischen Organisationen in Südkalifornien können wir die Anzahl von Gruppen und ihrer Mitglieder sowie den Überlappungsgrad von Beziehungen zwischen Organisationen, also die Dichte des Gesamtnetzwerkes, ermitteln (Borgatti/Everett 1997). Die persönlichen Aussagen von Informanten erlauben zudem, diese Daten miteinander in Bezug zu setzen und mit Hinblick auf den Kontext des erlebten Lebens der Immigranten selbst zu interpretieren (vgl. hierzu Bernard 2006 sowie Schnegg in diesem Band). Die Größe eines Netzwerks ergibt sich aus der Summe aller existierenden Beziehungen zwischen einem Ego und seinen Bezugspersonen, den „Alteri“. Typen von Unterstützungsbeziehungen bestimmen wir anhand der sozialen Rollen, die einzelne Netzwerkmitglieder für einen Informanten spielen und der Funktionen oder der Art von Hilfsleistungen, die diesen Beziehungen zugeschrieben werden. Der Stärkegrad von Beziehungen wird aufgrund der Anzahl der Kontexte beurteilt, die zwei Akteure miteinander verbinden. Je häufiger zwei Menschen interagieren und je vielfältiger die Umstände, desto stärker bzw. „multiplexer“ ist ihre Beziehung (Granovetter 1973). Schwache Beziehungen werden hingegen als uniplex verstanden. Das bedeutet, dass sie zwei Menschen in nur einem einzelnen sozialen Kontext miteinander verbinden, z.B. bei einem Elternabend der Kinder oder als Mitglieder des gleichen Tanzclubs (Avenarius 2010). Der Diversifizierungsgrad, d.h. die Neigung zu mehr Homogenität oder Heterogenität innerhalb eines persönlichen Netzwerks, ist im Anteil von sozial oder ethnisch unterschiedlichen Alteri ersichtlich (Marsden 1988; Callister/Fischer 1983; McPherson et al. 1992). Weiterhin muss der Gemeinschaftsbegriff eindeutig definiert werden. In der älteren Literatur werden Gemeinschaften vor allem räumlich definiert. Menschen, die am gleichen Ort wohnen, bilden eine „community“, in der lokal geknüpfte Beziehungen gegenseitige Unterstützung garantieren. Solidarität unter Gemeindemitgliedern und zahlreiche gemeinsame Aktivitäten schaffen eine einheitliche Identität und ein Gemeinschaftsgefühl (Warner 1941: 45; Wellman 1999). Seitdem Kommunikationstechnologien verstärkt benutzt werden und Transporttechnologien, allen voran das Automobil, die Überbrückung räumlicher Distanzen erleichtert haben, ist offensichtlich geworden, dass soziale Gemeinschaften nicht mehr lokal begrenzt sind. Verbundenheitsgefühle innerhalb sozialer Gruppen sind nicht mehr an Beziehungen innerhalb be281

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stimmter geographischer Begrenzungen gekoppelt (z.B. innerhalb eines Dorfes, innerhalb einer Universität usw.). Stattdessen erlauben Telefon, Internet und günstige Transportmöglichkeiten die Gruppenbildungen von Individuen, die sich weitgehend unabhängig von ihrem lokalen Standort einander zugehörig fühlen (Wellman 1999). Dieser neuere Typ von Gemeinschaft (community) entsteht durch Überlappungen von persönlichen Netzwerken von Einzelpersonen, die Menschen in öffentlichen Räumen und sozialen Organisationen und Vereinen treffen, wie z.B. in Freizeitclubs wie Musikvereinen und Sportgruppen, kulturellen Vereinen, politischen Organisationen, Kirchen und Gebetsgemeinschaften, Ehemaligen-Vereinen (z.B. Alumni von Hochschulen) und Gruppen, die Aktivitäten für Kinder veranstalten (Avenarius 2007). Aus der Sicht des Einzelnen wird die community jeweils anders erfahren und besteht aus ausgewählten Mitgliedern, die eine Beziehung zu dem Einzelnen unterhalten. Von außen ist diese Art der Gemeinschaft nicht immer klar sichtbar oder abgrenzbar. So stellt jede Gemeinschaft zwar ein separates soziales Netzwerk dar. Dies gilt jedoch nicht im Umkehrschluss: Nicht jedes Netzwerk ist automatisch auch eine Gemeinschaft. Die einzelnen Mitglieder eines Netzwerkes müssen sich als Gemeinschaft verstehen. Dieser Fall ist oft erst bei einem gewissen Grad an Netzwerkdichte gegeben. Die Verdichtung ermöglicht auch, dass alle Mitglieder eines Netzwerkes zumindest voneinander wissen, selbst wenn sie einander nicht unbedingt persönlich kennengelernt haben.

3. Ethnographischer Hintergrund und Datenerhebung im Einzelnen Die Datenerhebung der hier besprochenen Studie fand zwischen März 1997 und April 1998 in Orange County, Kalifornien statt. Insbesondere der mittlere und südliche Teil dieses administrativen Bezirks sind nicht auf die Geschehnisse in Los Angeles County und die dort etablierten Chinatowns ausgerichtet (Fong 1994). Innerhalb von Orange County gibt es zahlreiche Städte, deren Einwohnerzahl im Jahr 1998 zwischen 55.000 und 140.000 lag (State of California 2000). Die Stadtgrenzen sind jedoch nicht sichtbar. Einzelne Siedlungsgebiete gehen ineinander über (Soja 1996; Sorkin 1992). Laut des Zensusbüros der USA waren zu dieser Zeit bis zu 22 Prozent der Bevölkerung asiatischer Herkunft bzw. in Ländern Asiens geboren (U.S. Census Bureau 1999). Die Gesamtbevölkerung von Orange County zählte 1998 2,8 Millionen Menschen, darunter ungefähr 40.000 Migranten aus Taiwan (U.S. Census Bureau 282

INDIKATOREN FÜR INTEGRATIONSNEIGUNG?

2000). Da es keine klaren Stadtgrenzen oder Innenstadtbezirke in diesen Städten gibt, deren älteste Bauten in den 1970er Jahren begonnen wurden, sind räumlich auch keine ethnischen Enklaven in Orange County zu erkennen.4 Im mittleren und südlichen Teil Orange Countys überwiegen zudem die sogenannten „master plan communities“, in denen Einfamilienhäuser nur für gutverdienende Mitglieder der oberen Mittelklasse erschwinglich sind (Kling et al. 1991; Schiesl 1991). Immigranten aus Taiwan, die sich in diesen weitläufigen Wohnsiedlungen Häuser gekauft haben, können in drei Einwanderungsgruppen unterschieden werden: Die ersten Einwanderer aus Taiwan kamen in den 1960er Jahren in die USA, vornehmlich mit dem Ziel an einer amerikanischen Universität zu promovieren. Viele von diesen ehemaligen Studenten fanden anschließend gut bezahlte Anstellungen in amerikanischen Firmen oder machten sich in der Computerbranche selbständig. In der nächsten Phase kamen ebenfalls Studenten in die USA, aber auch Verwandte der ersten Studentengruppe. Viele von ihnen beschlossen, nachträglich Universitätsabschlüsse in den USA zu machen und hatten damit ähnlich guten Erfolg wie ihre Familienmitglieder. Die dritte Gruppe von Einwanderern aus Taiwan kam in den 1980er Jahren. Viele von ihnen suchten Investitionsmöglichkeiten, vor allem in Immobilien, und einen besseren Lebensstil für ihre Familien als im dicht besiedelten Taiwan. Oftmals sind die Hauptverdiener in diesen Einwandererfamilien weiterhin in Taiwan beruflich tätig und lediglich Ehefrau und Kinder leben in Orange County. Die vielreisenden Ehemänner werden von den Taiwanern selbst „Astronauts“ (taikongren) genannt, weil sie zwischen zwei Welten hin und her fliegen (Beal/Sos 2000; Skeldon 1996; Waters 2000). Allen Immigranten aus Taiwan ist gemeinsam, dass sie häufigen Kontakt mit Verwandten und Bekannten in Taiwan pflegen. Weiterhin benutzen sie bei Bedarf bevorzugt Print-, Fernseh- und Internetmedien als erste Informationsquelle, bevor sie sich bei Freunden nach Empfehlungen für Autohändler, Ärzte und Anwälte erkundigen (Avenarius 2008). In Bezug auf Einkommen und Bildungsniveau sind sie ebenfalls sehr homogen. Die Einwanderer aus Taiwan unterscheiden sich jedoch bezüglich ihrer täglichen Lebensgestaltung und ihren Arbeitsfeldern als Hausfrauen, selbständige Unternehmer oder Arbeitnehmer in Computer-, Versicherungs-, Ingenieur- oder Baufirmen. Unterschiede sind auch bei der kulturellen Identifikation mit der Volksrepublik China zu erkennen. 4

Im Norden von Orange County ist dies jedoch der Fall. In Anaheim gibt es viele mexikanische Enklaven und Westminister ist als „Little Saigon“ und neue Heimat vieler Vietnamesen bekannt. 283

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Auch wenn alle Einwanderer in dieser Studie von Taiwan aus in die USA eingereist sind, geben einige als ihre ethnische Zugehörigkeit „Mainland Chinese“ und andere „Taiwanese“ an. Sie sprechen auch unterschiedliche Muttersprachen, nämlich „Standard Chinese“ (guoju) und „Hoklo“ (minnanhua). In den meisten Fällen identifizieren sich diejenigen als „Mainlander“, deren Eltern im Zuge des chinesischen Bürgerkriegs in den 1940er Jahren nach Taiwan geflohen sind. Immigranten, deren Vorfahren bereits seit mehreren Generationen in Taiwan leben, verstehen sich dagegen eher als Taiwaner (Avenarius 2007; Copper 2003; Martin 1996).5 Während der zwölfmonatigen Feldforschung konnte ich mit Hilfe von teilnehmender Beobachtung, d.h. aktiver Teilnahme in Tanzgruppen, Chören, Schulveranstaltungen, Volkshochschulkursen, Versammlungen religiöser Gruppen (d.h. christliche Kirchen, buddhistische Gebetsgruppen und daoistischen Gruppen), Versammlungen von Vereinen (z.B. chinesischer Handelskammer) und Mitarbeit in Geschäften (z.B. bei einem Optiker), sowohl Beobachtungsdaten sammeln als auch Interviewpartner rekrutieren. Insgesamt habe ich im Verlauf der Forschung mit 127 Personen gesprochen. Sie werden in diesem Kapitel, wie in der Ethnologie üblich, „Informanten“ genannt (Schnegg/Lang 2008:8). Unter anderem führte ich 27 Hintergrundgespräche in unstrukturiertem Format mit chinesischen und taiwanischen Immobilienmaklern, Pastoren, Lehrern und Stadtratsvorsitzenden. Die Daten, die in diesem Kapitel vorgestellt und diskutiert werden, basieren auf 60 halbstrukturierten Interviews von durchschnittlich zweistündiger Länge zu sozialen Beziehungen, zur Alltagsgestaltung und zur persönlichen Migrationsgeschichte. Nachdem ich feststellen musste, dass eine Auswahlstrategie nach dem Schneeballprinzip nicht erfolgreich war6, ging ich zu einer zweckbestimmten Auswahlstrategie (purposive sampling) von Informanten über (Bernard 2006; Johnson 1990): Im Verlauf der teilnehmenden Beobachtung konnten insgesamt 62 soziale Gruppen im südlichen Teil 5

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Aus der Sicht der taiwanischen Interviewpartner wird zwischen „bendiren“ („people from the local place, the local province, Taiwan“) and „waidiren“ („people from the outside place, the outside province, Mainland China“) unterschieden. Die meisten Interviewpartner waren ungern bereit, mich einem Mitglied ihres persönlichen Netzwerkes vorzustellen. Sie befürchteten, dadurch ihren Bekannten die Gelegenheit zu geben, sie selbst wiederum um einen Gefallen zu bitten. Nach Möglichkeit suchten sie solche sozialen „Anschreibungen“ zu vermeiden. Umso mehr freuten sich die meisten Informanten über die Gelegenheit, mit einer Außenseiterin über ihre soziale Situation und persönliche Migrationserfahrung zu reden. Sie wollten sicher sein, dass ich diese Geheimnisse nicht weiterreiche.

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INDIKATOREN FÜR INTEGRATIONSNEIGUNG?

Orange Countys identifiziert werden, an denen Immigranten aus Taiwan bevorzugt teilnehmen. Von jeder dieser Gruppen wurden Teilnehmerlisten eingeholt, die eine Evaluierung der Gesamtstruktur (whole network) der Gemeindeorganisationen möglich machten. Meine eigene Teilnahme, wenn auch in vielen Fällen nur von kurzer Dauer, erlaubte mir zudem, Kontakte mit Teilnehmern aufzubauen. Somit konnten Informanten rekrutiert werden, die einem bestimmten Profil entsprachen, d.h. es wurde eine gleichmäßige Verteilung von Alter, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit der Informanten angestrebt. Im Hinblick auf das Alter und die ethische Zugehörigkeit ist dies einigermaßen gelungen. Alle Informanten sind zwischen 40 und 60 Jahre alt, während die Anzahl von Chinesen und Taiwanern fast gleich hoch ist. Jedoch sind zwei Drittel der Informanten weiblich und nur ein Drittel männlich, vor allem weil ein Großteil der Freizeitgruppen, wie Musik- oder Tanzgruppen, ausschließlich aus weiblichen Mitgliedern besteht.

4. Die Struktur persönlicher Netzwerke Die Analyse der persönlichen Netzwerke befasste sich, wie oben begründet, mit der Ermittlung der Netzwerkgröße, den verschiedenen Typen von sozialen Rollen, dem Stärkegrad und dem Diversifizierungsgrad von Beziehungen. Die Ergebnisse werden im Folgenden vorgestellt und um die Beurteilung der Informanten selbst erweitert. Grundsätzlich ist weiterhin anzumerken, dass die Variablen „Alter“ und „ethnische Zugehörigkeit“ nur geringfügige, statistisch nicht signifikante Unterschiede in den Netzwerkkonfigurationen aufzeigen. Die Variable „Geschlecht“ – und damit verbunden die Art der Berufstätigkeit – hat jedoch signifikantere Auswirkungen. Ebenso spielen die Länge der Ansiedlung in den USA, der Wohnort der Eltern und der Geburtsort der Kinder eine Rolle. Die detaillierte Betrachtung der Netzwerkstrukturen zeigt uns, welche Konstellationen und Bedingungen die Etablierung von sozialen Beziehungen mit Nicht-Immigranten erschweren. Die durchschnittliche Netzwerkgröße beträgt 13 Beziehungen. Auf den ersten Blick gilt dies sowohl für Männer als auch für Frauen. Eine genaue Betrachtung der Verteilung zeigt, dass der Durchschnittswert darauf beruht, dass Frauen, die in einem Angestelltenverhältnis beschäftigt sind, größere Netzwerke haben als Frauen, die als Hausfrauen zu Hause arbeiten. Frauen, deren Eltern oder Schwiegereltern mit ihnen in Kalifornien unter einem Dach leben, haben in der Regel zahlenmäßig kleinere Netzwerke als Frauen, deren Eltern oder Schwiegereltern nicht ausgewandert sind. Offensichtlich spielen die traditionellen Erwartungen 285

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der Eltern, durch die (Schwieger-)Tochter Versorgungsleistungen zu erhalten, weiterhin eine wichtige Rolle in der Gestaltung des sozialen Umfelds. Jedoch macht es keinen Unterschied, ob der Ehemann einer weiblichen Informantin in Kalifornien lebt oder weiterhin in Taiwan das Familieneinkommen erwirtschaftet. Die Netzwerkgröße der Männer weist ebenfalls eine binäre Verteilung auf. Einige Männer haben sehr große Netzwerke und berichten von bis zu 20 wichtigen Beziehungen aufgrund ihrer Teilnahme an zahlreichen Gemeinschaftsorganisationen. Andere Männer haben hingegen unterdurchschnittlich kleine Netzwerke und nennen lediglich sieben wichtige Beziehungen. Sie erklären diesen Umstand mit mangelnden Gelegenheiten, sich sozial zu engagieren oder sichtbaren Status zu erlangen. Der Grad der Multiplexität von Beziehungen, d.h. Verbindungen zu einer Person, die mehrere soziale Rollen erfüllt, ist unter weiblichen Immigranten generell größer als unter männlichen Immigranten. Obwohl die Nachbarn in den Wohnsiedlungen, in denen Migranten aus Taiwan leben, in den wenigsten Fällen auch aus Taiwan kommen und die meisten Informanten im Berufsalltag vornehmlich mit etablierten Kaliforniern zusammenarbeiten, haben sie oft nur mit einer oder einem NichtTaiwaner oder Nicht-Chinesen engeren Kontakt außerhalb des Arbeitsplatzes. Im Durchschnitt beträgt der Anteil von Nicht-Immigranten in den persönlichen Netzwerken 13 Prozent. Da ein Teil der weiblichen Informanten nicht außerhalb des Hauses arbeitet, ist dabei der Anteil von Nicht-Immigranten unter Männern durchschnittlich fast doppelt so groß wie unter Frauen. Jedoch ist in den Netzwerken sowohl der weiblichen als auch der männlichen Informanten der Anteil von Nicht-Taiwanern und Nicht-Chinesen dann höher als der Durchschnitt, wenn er oder sie die eigenen Englischkenntnisse selbstbewusst als gut einschätzt (t(58)= 2.267, p