Krankheit und Ehre: Über HIV und soziale Anerkennung in Mali [1. Aufl.] 9783839421260

In Mali hat sich die Situation von Menschen, die von HIV/AIDS betroffen sind, dank neuer Behandlungsmöglichkeiten grundl

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Krankheit und Ehre: Über HIV und soziale Anerkennung in Mali [1. Aufl.]
 9783839421260

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Danksagung
Prolog: Mariams Geheimnis
1. Einführung: Neue Hoffnungen — neue Fragen
Teil 1: Methoden und Theorien
2. AIDS als eine soziale Realität
2.1 Grundlegende medizinethnologische Forschungen zu HIV/AIDS im subsaharischen Afrika
2.2 Erste Erfahrungen mit antiretroviralen Therapien
3. Von Stigma zu Vulnerabilität und Resilienz
3.1 Stigma
3.2 Vulnerabilität
3.3 Resilienz
4. Der theoretische Rahmen
4.1 Der Praxis-Ansatz von Bourdieu
4.2 Kapitaltransformationen
4.3 Der Sinn für das Spiel
4.4 Goffmans dramaturgischer Ansatz
4.5 Identitätsmanagement
4.6 Denken in Relationen
5. Methoden
5.1 Ein Längsschnittdesign: Leben in ungleichen Zeiten
5.2 Zugang erhalten: Die Pflicht zu schweigen
5.3 Gesprächssituationen: Geheimhaltung, Schuld und Vertrauen
5.4 Methodologische Aspekte von Geheimhaltung
Teil 2: Der Kontext
6. Bamako — ein dynamisches Terrain
6.1 Heterogenität
6.2 Diversität
6.3 Flexibilität
7. Urbane Anerkennung
7.1 Anerkennung und Zugehörigkeit
7.2 Soziale Kategorien
7.3 Stufen im Sozialisationsprozess
7.4 Soziabilität (adamadenya)
8. Das Feld von AIDS
8.1 Die Pioniere des Feldes
8.2 Harmonisierung und Konkurrenz
8.3 Die Selbsthilfegruppe AMAS/AFAS
8.4 Das Feld von AIDS als Kampfplatz
9. Gesellschaftliche Wahrnehmungen der Krankheit AIDS
9.1 La maladie honteuse — die sexuelle Deutung
9.2 Le syndrome inventé — die politische Deutung
9.3 Orthodoxie und Stigmatisierung
Teil 3: Soziale Vulnerabilität
10. Das Geheimnis
10.1 Mit dem Geheimnis leben
10.2 Mitteilungsszenarien
11. Die Risiken der Zufälle und Hinweise
11.1 Die erste Generation mit antiretroviralen Therapien
11.2 Die Integration der Therapien in den Alltag
12. Die Risiken, sich selbst zu verraten
12.1 Soziale Distanzierung und ihre Folgen
12.2 Öffentliche Bekenntnisse
13. Die Risiken, verraten zu werden
13.1 Von der Mitfrau verraten
13.2 Aus enttäuschter Liebe verraten
14. Der Name
14.1 Ehre in sozialwissenschaftlichen Ansätzen
14.2 Der Name als sozialer Ausweis und Produkt der Kommunikation
14.3 Namensprüfungen
14.4 Der »verdorbene« Name
14.5 Schande als Folge des beschädigten Namens
14.6 Entehrung und ihre soziale Übertragbarkeit
15. Zusammenfassung
Teil 4: Soziale Resilienz
16. Soziale Resilienz untersuchen
16.1 Navigationen in Risikolandschaften
17. Den Namen schützen
17.1 Vertrauen schaffen — »gagner un confident«
17.2 Vertrauen und Vertrautheit
17.3 Die Mutter und ihre Stellvertreterinnen
17.4 Vertrauen und Kontrolle
17.5 Eingebettetes Vertrauen
18. Den Respekt bewahren
18.1 Respekt und wortloses Wissen — »éviter les mots directs«
18.2 Respekt und die Vermeidung von Fragen
18.3 Der inszenierte Respekt — »faire semblant«
19. Den Respekt wiederherstellen
19.1 Die Familie als Basis der öffentlichen Anerkennung — »offrir des cadeaux à ma famille«
20. Exkursion in Grenzbereiche der Resilienzthematik
20.1 Romantische Liebe (le test d’amour)
20.2 Leben in der Kleinfamilie (un foyer moderne)
Schluss: Die drei Dimensionen der sozialen Gesundheit
Einsichten und Ausblicke
Bibliographie
Anhang
a) Liste der Abkürzungen
b) Liste der Interviewpartner

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Noemi Steuer Krankheit und Ehre

Kultur und soziale Praxis

Noemi Steuer (Dr. phil.) ist Ethnologin am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel (ZASB). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medizinethnologie, Urbanethnologie, Risiko und soziale Resilienz.

Noemi Steuer

Krankheit und Ehre Über HIV und soziale Anerkennung in Mali

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Horst Friedrichs Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2126-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 Danksagung | 13 Prolog: Mariams Geheimnis | 15 1. Einführung: Neue Hoffnungen — neue Fragen | 19

Teil 1: Methoden und Theorien

| 25

2. AIDS als eine soziale Realität | 26 2.1 Grundlegende medizinethnologische Forschungen zu HIV/AIDS im subsaharischen Afrika | 27 2.2 Erste Erfahrungen mit antiretroviralen Therapien | 29 3. Von Stigma zu Vulnerabilität und Resilienz | 33 3.1 Stigma | 34 3.2 Vulnerabilität | 38 3.3 Resilienz | 41 4. Der theoretische Rahmen | 45 4.1 Der Praxis-Ansatz von Bourdieu | 46 4.2 Kapitaltransformationen | 48 4.3 Der Sinn für das Spiel | 49 4.4 Goffmans dramaturgischer Ansatz | 52 4.5 Identitätsmanagement | 55 4.6 Denken in Relationen | 57

5. Methoden | 59 5.1 Ein Längsschnittdesign: Leben in ungleichen Zeiten | 61 5.2 Zugang erhalten: Die Pflicht zu schweigen | 64 5.3 Gesprächssituationen: Geheimhaltung, Schuld und Vertrauen | 68 5.4 Methodologische Aspekte von Geheimhaltung | 71

Teil 2: Der Kontext

| 73

6. Bamako — ein dynamisches Terrain | 75 6.1 Heterogenität | 77 6.2 Diversität | 80 6.3 Flexibilität | 82 7. Urbane Anerkennung | 86 7.1 Anerkennung und Zugehörigkeit | 87 7.2 Soziale Kategorien | 89 7.3 Stufen im Sozialisationsprozess | 92 7.4 Soziabilität (adamadenya) | 95 8. Das Feld von AIDS | 100 8.1 Die Pioniere des Feldes | 100 8.2 Harmonisierung und Konkurrenz | 104 8.3 Die Selbsthilfegruppe AMAS/AFAS | 108 8.4 Das Feld von AIDS als Kampfplatz | 112 9. Gesellschaftliche Wahrnehmungen der Krankheit AIDS | 119 9.1 La maladie honteuse — die sexuelle Deutung | 120 9.2 Le syndrome inventé — die politische Deutung | 123 9.3 Orthodoxie und Stigmatisierung | 125

Teil 3: Soziale Vulnerabilität

| 127

10. Das Geheimnis | 129 10.1 Mit dem Geheimnis leben | 130 10.2 Mitteilungsszenarien | 131

11. Die Risiken der Zufälle und Hinweise | 139 11.1 Die erste Generation mit antiretroviralen Therapien | 139 11.2 Die Integration der Therapien in den Alltag | 141 12. Die Risiken, sich selbst zu verraten | 144 12.1 Soziale Distanzierung und ihre Folgen | 144 12.2 Öffentliche Bekenntnisse | 148 13. Die Risiken, verraten zu werden | 154 13.1 Von der Mitfrau verraten | 155 13.2 Aus enttäuschter Liebe verraten | 158 14. Der Name | 160 14.1 Ehre in sozialwissenschaftlichen Ansätzen | 160 14.2 Der Name als sozialer Ausweis und Produkt der Kommunikation | 165 14.3 Namensprüfungen | 170 14.4 Der »verdorbene« Name | 174 14.5 Schande als Folge des beschädigten Namens | 177 14.6 Entehrung und ihre soziale Übertragbarkeit | 181 15. Zusammenfassung | 186

Teil 4: Soziale Resilienz

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16. Soziale Resilienz untersuchen | 191 16.1 Navigationen in Risikolandschaften | 192 17. Den Namen schützen | 197 17.1 Vertrauen schaffen — »gagner un confident« | 197 17.2 Vertrauen und Vertrautheit | 199 17.3 Die Mutter und ihre Stellvertreterinnen | 204 17.4 Vertrauen und Kontrolle | 208 17.5 Eingebettetes Vertrauen | 211 18. Den Respekt bewahren | 214 18.1 Respekt und wortloses Wissen — »éviter les mots directs« | 215 18.2 Respekt und die Vermeidung von Fragen | 220 18.3 Der inszenierte Respekt — »faire semblant« | 223

19. Den Respekt wiederherstellen | 230 19.1 Die Familie als Basis der öffentlichen Anerkennung — »offrir des cadeaux à ma famille« | 230 20. Exkursion in Grenzbereiche der Resilienzthematik | 237 20.1 Romantische Liebe (le test d’amour) | 238 20.2 Leben in der Kleinfamilie (un foyer moderne) | 240

Schluss: Die drei Dimensionen der sozialen Gesundheit | 246 Einsichten und Ausblicke | 251 Bibliographie | 255 Anhang | 281 a) Liste der Abkürzungen | 281 b) Liste der Interviewpartner | 282

Vorwort

Es ist für mich eine besondere Freude und Ehre, ein Begleitwort zu diesem Buch schreiben zu dürfen. Noemi Steuer ist genauso fasziniert wie ich von einem Phänomen, auf das wir unabhängig voneinander in unseren Feldforschungen gestossen sind, und das wir Resilienz nennen. Unserer Meinung nach eröffnet dieses Konzept, zusammen mit den komplementären Konzepten von Vulnerabilität und Risiko, neue Perspektiven für die Medical Anthropology, aber auch generell für die Sozial- und Kulturanthropologie. Unser Ausgangspunkt ist die Perspektive, die Arthur Kleinman (1980) für die Medical Anthropology formulierte. Er stellte die Erfahrung von Krankheit (illness experience) in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Unter Krankheitserfahrung verstand er den Prozess vom Beachten, Beurteilen und Benennen von Symptomen, dem dadurch ausgelösten sozialen Handeln bis hin zur Heilung. Anders als Kleinman richten wir unser Augenmerk jedoch weniger auf die Krankheitserfahrung als auf die Erfahrung von Vulnerabilität und Resilienz. Für Frau Steuer wurde Resilienz ein Thema, als sie mit Menschen in Mali sprach, die ihre Vulnerabilität durch den HI-Virus am eigenen Leib erlebt hatten und dann in ein Programm für antiretrovirale Therapie aufgenommen wurden. Nach ihrer Aufnahme in das Programm rückte für diese Menschen ihr fühl- und sichtbarer Krankheitszustand sowie das Risiko, in absehbarer Zeit zu sterben, in den Hintergrund. Was sie nun beschäftigte, war die Angst vor dem sozialen Risiko, das in ihrer Gesellschaft mit dem Bekanntwerden der Diagnose einhergeht, nämlich dem Verlust des guten Namens und der Ehre. Der Verlust dieser beiden Aspekte der sozialen Anerkennung stellte für sie eine derart grosse Gefährdung dar, dass sie alles daran setzten, die Diagnose geheim zu halten bzw. keine genauen Angaben darüber verlauten zu lassen. Für eine ethnologische Analyse ist es hilfreich, Vulnerabilität und Resilienz als relationale Konzepte zu verstehen, die auf ein Risiko, verwundet zu werden bzw. die Möglichkeit, ein Risiko vermeiden oder überwinden zu können, verweisen (zeitliche Dimension) und deren Bedeutung in spezifischen Kontexten unter-

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sucht werden muss (normative Definition). Im Zentrum dieses neuen Ansatzes stehen die Perspektive von Akteuren und deren Zugang zu materiellen und nicht materiellen Ressourcen, aber auch deren reaktive und pro-aktive Fähigkeiten. Ein wichtiger Beitrag von Frau Steuer ist die konzeptuelle Verankerung von Vulnerabilität und Resilienz im Praxis-Ansatz von Pierre Bourdieu und im dramaturgischen Ansatz von Erving Goffman. Die Kombination dieser beiden Ansätze ergab sich nicht aus abstrakt-theoretischen Überlegungen, sondern aus dem Prozess eines fortschreitenden Erkenntnisgewinns bei der Analyse empirischer Daten. Wie Frau Steuer sorgfältig herausarbeitet, erlebten ihre Gesprächspartnerinnen Vulnerabilität als reale oder imaginierte Konstellationen, in denen das Geheimnis der Diagnose durch Hinweise gelüftet wird (z.B. weil man plötzlich gesund aussieht oder durch den unvorsichtigen Umgang mit den verräterischen Medikamenten), man sich selbst verbal verrät (z.B. durch spontanes Ausplaudern, unvorsichtige Äusserungen oder öffentliche Bekenntnisse) oder von anderen verraten wird (etwa von der eifersüchtigen Mitfrau oder einem enttäuschten Geliebten). Die soziale Folge der Entlarvung als HIV positiv wäre, den guten Namen zu verlieren und im schlimmsten Fall aus der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden bzw. einen sozialen Tod zu erleiden. Vulnerabilität hat somit vor allem mit der Herstellung sozialer Anerkennung zu tun. Man kann selber etwas beitragen, indem man an der Erhaltung des guten Namens arbeitet, den die Gemeinschaft wie einen Ausweis oder einen Kredit verleiht. Mit Bezug auf das Konzept »symbolisches Kapital« von Bourdieu gelingt es Frau Steuer, dieses Verständnis des »guten Namens« in der Mandé-Gesellschaft von Mali aufzuschlüsseln. Der gute Name ist bei den Mandé eng mit der sozialen und kulturellen Ordnung verbunden. Dabei spielt vor allem die Definition von Ehre eine wichtige Rolle, die wiederum mit Vorstellungen einer guten Lebensführung in Bezug auf Sexualität verknüpft ist. Die Anderen, die einem am nächsten stehen, haben den besten Einblick in die Lebensführung, und dies verleiht ihnen besondere Macht: Sie können den Namen einer Person schützen oder beschädigen. In ihrer Analyse von Resilienz stiess Frau Steuer auf das vor Ort artikulierte Konzept »soziale Gesundheit«. Im Gegensatz zum Namen, der in erster Linie die gesellschaftliche Perspektive reflektiert, bezieht sich soziale Gesundheit auf die Bemühungen der einzelnen Akteure und auf ihre Gestaltung der persönlichen Identität. Auch wenn in Gesprächen vor allem Befürchtungen, den Namen zu verlieren, formuliert wurden (Vulnerabilität), so richteten sich die konkreten Bemühungen vor allem auf das sozial gesund bleiben oder wieder gesund werden (Resilienz). Soziale Gesundheit umfasse drei Dimensionen, die in ihrer Gesamtheit die unterschiedlichen Aktionsfelder sozialer Resilienz wiedergeben: eine kommunikative, distributive und performative Dimension, die sich analytisch trennen lassen, jedoch in den Praktiken der Akteure miteinander verbunden sind.

V ORWORT

Mit diesen abschliessenden Überlegungen erweitert Frau Steuer auf der Basis klar herausgearbeiteter Erkenntnisse die Konzeptualisierung von sozialer Resilienz und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Medical Anthropology. Zudem gelingt es ihr, Diskussionen zu Risiko, Vulnerabilität und Resilienz mit zentralen Konzepten der Sozial- und Kulturanthropologie zu verbinden und dadurch allgemeinere Reflektionen zum symbolischen Kapital und zur Gestaltung von Identität anzuregen. Ihr gratuliere Frau Steuer zu dieser gelungenen Forschungsarbeit! Prof. Dr. Brigit Obrist, Ethnologisches Seminar der Universität Basel

L ITER ATUR Kleinman, Arthur (1980) Patients and Healers in the Context of Culture: An Exploration of the Borderland between Anthropology, Medicine and Psychiatry. Berkeley: University of California Press.

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Danksagung

Wissenschaftliches Arbeiten wird gerne mit dem Gleichnis von Zwergen, die auf den Schultern von Giganten stehen, umschrieben. Allerdings bedarf es der Hilfe, um überhaupt zu wissen, auf wessen Schultern man stehen soll, wie man dorthin gelangt und einen Stand findet. Im Laufe der Feldforschungen und des daran anschliessenden Schreibprozesses habe ich in dieser Hinsicht von zahlreichen Seiten unschätzbare Unterstützungen erhalten, ohne die die vorliegende Arbeit nie zustande gekommen wäre. An dieser Stelle möchte ich meinen Doktoreltern, Prof. Dr. Brigit Obrist (Universität Basel) und Prof. Dr. Till Förster (Universität Basel), für ihre wertvollen Hinweise danken, die sie mir bei unzähligen Gelegenheiten zukommen liessen und die zur Klärung und Differenzierung meiner Gedanken entscheidend beitragen haben. Ebenso haben mir die Gespräche mit Prof. Dr. Martin Endress (Universität Trier) neue Einsichten gewährt, insbesondere hinsichtlich der in meiner Arbeit zentralen Vertrauensthematik. In gleicher Weise anregend waren für mich die Gelegenheiten, bei denen ich Struktur und Inhalt meiner Arbeit grösseren Diskussionsrunden im Mittwochskolloquium des Ethnologischen Seminars, bei den Treffen der Medical Anthropology Research Group und der Peer Mentoring Group »Zwischen Medizin und Kultur« vorstellen durfte. Dass die Forschung überhaupt in dieser Form realisiert werden konnte, verdanke ich zu wesentlichen Teilen Maya Natarajan (von IAMANEH), die mir auch in allen späteren Phasen persönlichen und professionellen Beistand leistete. Mein grösster Dank, den Worte nur ungenügend auszudrücken vermögen, geht nach Mali – zuerst an all die Menschen, die mir ihr Vertrauen schenkten, die bereit waren, mit mir über ihre häufig schwierigen Situationen zu sprechen und sich mir immer wieder geduldig zu erklären. Ebenso bin ich auch meinen beiden Assistenten Lalla Coulibaly und Alou Dembele, Friede seiner Seele, für ihr unermüdliches Interesse und die fruchtbaren Auseinandersetzungen zu Dank verpflichtet. Ferner haben mich Dr. Dembele und Dr. Cissé (von CESAC) in ihrem Zentrum für HIV/AIDS betroffene Personen mit aussergewöhnlicher Offenheit empfangen und mir dadurch Wege für alle folgenden Schritte geebnet. Eine zweite Heimat habe ich bei »meiner Familie« Diarisso in Bamako

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K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI

gefunden. Sie hat mich sozusagen als ein weiteres Familienmitglied bei sich aufgenommen und sich in verdankenswerter Weise um mein physisches und psychisches Wohlbefinden gekümmert. In der im Vergleich zur Feldforschung erschreckend einsamen Zeit am Schreibtisch sind Gespräche mit interessierten Kolleginnen unersetzliche Quellen der Inspiration. Die »Verfertigung der Gedanken beim Reden« war für mich immer wieder eine gute Technik, Blockaden zu überwinden. Und in diesem Sinne danke ich allen, die meinen Monologen aktiv zugehört haben, sie kommentierten und mit ihren Vorschlägen anreicherten. An erster Stelle ist hier Dr. Claudia Roth (Universität Bern) zu nennen; der stetige Austausch mit ihr, die in einem kulturell ähnlichen Feld forscht, wie auch ihre präzisen Fragen haben mir geholfen, meine Überlegungen zu fokussieren, mehr noch: den Mut zu finden, meinen eigenen Ideen zu vertrauen und sie weiter zu verfolgen. Ihr wie auch Dr. Magdalena Stülb, Yvonne Adam und Dr. Kurt Gschwind bin ich für die Endkorrektur und ihre aufbauende Kritik unendlich dankbar. Gute Freunde zu haben war für mich neben der fachlichen Betreuung die wichtigste Stütze in diesem von vielen Aufs und Abs gezeichneten Prozessn; Ulrike Bliefert, Adama Diawara, Kerstin und Thomas Hauswirth, Stefan Hofstetter, Laszlo Kish, Lena Lessing, Andrea Neuhaus, Inka Paul, Jürg Schneider und Ina Weisse haben mich begleitet, ermutigt und vor allem verhindert, dass ich den Sinn für die sozialen Seiten des Lebens verliere. Ganz speziell bedanken möchte ich mich bei meinen Eltern, welche die Arbeit in allen Phasen und in vielfältiger Weise unterstützt und gefördert haben. Mein innigster Dank schliesslich gilt Clemens Bechtel.

Prolog: Mariams Geheimnis

Im Laufe jeder Forschung gibt es eine Person, zu der eine grössere Nähe entsteht als zu anderen, ohne dass zu erklären wäre, worauf diese Vertrautheit beruht – »où le courant passe bien«, wie man in Mali sagt. Diese Person war für mich Mariam.1 Was uns verband, war das Geheimnis um ihre Krankheit – ein Geheimnis, das sie sonst mit niemandem teilen konnte. Selbst eine nähere Bekanntschaft mit mir, einer Forschenden im AIDS-Bereich, könnte Verdacht erregen. Aus diesem Grunde verhielten wir uns im Beisein anderer stets so, als wären wir nur flüchtig bekannt. Alle unsere Treffen haben heimlich stattgefunden, waren von lang durchdachten Vorkehrungen abgeschirmt. Bereits die erste Begegnung hatte diesen merkwürdig konspirativen Charakter, der auch jeder unseren nachfolgenden Verabredungen eigen war. Mariam ist ausgebildete Krankenschwester und arbeitet als Praktikantin im Labor von CESAC (Centre d’Ecoute, de Soins, d’Animation et de Conseil pour les personnes vivant avec le VIH/SIDA), einer auf HIV/AIDS spezialisierten Klinik. Als ich an meinem zweiten Arbeitstag beim Labor vorbeigehe, winkt mich Mariam zu sich herein. Obwohl niemand in der Nähe ist, flüstert sie und lotst mich hinter den grossen Kühlschrank. Sie habe gehört, wie der Arzt mich gestern der Belegschaft vorstellte und müsse mich unbedingt sprechen – doch niemand dürfe davon erfahren. Etwas irritiert über ihre Anspannung und auch aus der Befürchtung, in komplizierte, interne Geschichten verwickelt zu werden, zögere ich zuerst, verspreche dann aber, mich zu melden. Unsere erste Verabredung findet bei mir zuhause statt, kurz nach Anbruch der Dunkelheit. Bevor Mariam eintrifft, piepst sie mich per Mobiltelefon an, damit ich das Garagentor öffne und sie möglichst schnell und unbeobachtet mit ihrem Moped einfahren kann. Erst im Haus, ausserhalb der Sichtweite des Wächters, legt sie ihre Pudelmütze und die überdimensionierte Sonnenbrille ab. Sie will sich nicht mit mir auf die Veranda setzen, sondern findet es besser, wenn wir uns in ein Zimmer zurückziehen und die Fenster verschliessen. So kann nichts von unserem Gespräch nach aussen dringen. Nachdem alle Vor1 | Alle angeführten Namen sind im Sinne der Diskretion anonymisiert.

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kehrungen getroffen sind, erklärt sie, dass sie mir nun ein Geheimnis offenbaren werde, das nur sie und zwei Ärzte kennen: ihre Seropositivität. Die Diagnose habe sie erst vor einem halben Jahr erhalten, geahnt hätte sie sie aber schon viel länger. Und da die Weissen für ihre Verschwiegenheit bekannt seien, habe sie sich entschieden, mit mir zu sprechen. Kaum dass ich ihr Sinn und Zweck der Forschung erläutern und das Mikrophon installieren kann, beginnt sie, ungewöhnlich schnell, fast atemlos zu erzählen: L’histoire de ma maladie remonte, il y a quatre ans. Quand j’étais étudiante à l’école des infirmières, je faisais mes stages à l’hôpital pendant les vacances. Je faisais même les gardes, car ils avaient confiance en moi. Les matins, on fait la visite des patients et on descend avant de monter pour les traitements. Il y avait le traitement d’une jeune fille de 29 ans. Quelque temps après on m’a appelé pour enlever la perfusion. Je suis montée, l’aiguille en main, une personne m’a appelé et dans la précipitation, je me suis fait piquer. Au moment où je me suis fait piquer, j’avais une sensation comme si une personne me piquait avec une aiguille dans le cœur et soudain j’ai eu une trouille. J’ai informé l’infirmière. Elle me dit: ›Par l’aiguille de qui?‹ Je lui ai dit: ›Par l’aiguille de cette fille‹. Elle m’a demandé d’aller mettre de l’alcool en bas. J’ai tenu mon doigt dans la bouche pour sucer le sang. J’ai craché toute la journée car je connaissais la sérologie de la fille. Je me suis posé la question sur ma sérologie à chaque instant, mais je n’ai rien dit à personne de ma famille. Une année, je suis restée comme ça. L’année suivante, je suis tombée malade pour trois semaines, en me disant que j’ai le palu. En même temps j’avais peur d’être positive. Après on m’a envoyé à Sikasso pour les stages ruraux de 45 jours. Mes copines sortaient avec les garçons, mais moi, je me suis réservée, malgré l’insistance des garçons qui me lançaient des fleurs. Je suis restée seule dans le doute et en ne sachant pas avec qui partager ce qui me ronge au fond du cœur. Souvent, j’ai eu la diarrhée. Je me suis traité, ça passe. Je maigrissais. Donc je me suis mis en tête que je suis positive, mais que je ne ferais pas le test. Un jour, je suis tombée malade avec des migraines violentes accompagnées de fièvres. [...] Une semaine après j’ai fait une crise amnésique. On m’a transporté à l’hôpital où j’étais inconsciente pendant 3 jours. [...] Ma mère a crié au nom de Dieu pour que sa seule fille ne meure pas. Ils m’ont fait la perfusion et le prélèvement. Un jour Bintou (la présidente de l’association des personnes vivant avec le VIH, N.S.) est venue pour s’entretenir avec moi dans une chambre à côté. Aujourd’hui je ne me souviens plus de la conversation, mais Bintou m’a dit que j’ai dit que si je suis positive, c’est le destin. C’est treize jours plus tard qu’on m’a libéré de l’hôpital. Bintou m’a demandé de venir au CESAC, mais j’étais réticente compte tenu de ma position de notable de la ville. Si je fréquentais le CESAC, je serais ciblée par la population. Ils vont me stigmatiser sans chercher à comprendre comment j’ai eu la maladie, si c’est par la voix sexuelle ou non. Je n’avais pas peur de ma sérologie, mais de ce que les gens vont traiter du sujet. C’est

V ORWORT devenu comme une dépression. Souvent je reste auprès de ma mère durant trois heures sans la parler. Elle est partie dire à ma grande–mère que je suis folle. Mais ce n’était pas ça, je n’ai pas réagi car je pensais à ce que les gens vont dire derrière moi. (24.7.2004)

Mariam hat sich dennoch entschieden, CESAC aufzusuchen. Dort erhält sie antiretrovirale Therapien verschrieben – eine Kombination verschiedener Medikamente, die der Vermehrung von HI-Viren entgegenwirkt und das Immunsystem des Körpers soweit stärkt, dass die mit AIDS verbundenen Krankheiten nicht mehr ausbrechen. Mariam hätte sich zu diesem Zeitpunkt die Therapie niemals leisten können; doch weil sie sich bereit erklärt, im Labor des Zentrums als Praktikantin zu arbeiten, erhält sie die Mittel zu einem Vorzugspreis. Seitdem ist Mariam, abgesehen von einigen Erkältungen, nie mehr krank gewesen. In den fünf Jahren unserer Bekanntschaft teilt sie ihre Diagnose nur mit einer einzigen Person: ihrem jüngeren Bruder. Das Geheimnis der Seropositivität, erklärt Mariam, ist eine bombe sociale – einmal explodiert, entwickelt es eine ungeheure Zerstörungskraft. Zwar ist die Krankheit mit den neuen Therapien kontrollierbar, doch die Worte der anderen, die kursierenden Gerüchte gefährden die soziale Existenz. Mariams guter Name steht auf dem Spiel und sie unternimmt in den nächsten Jahren alles, um ihn zu schützen. Von den Wegen, die HIV-positive Personen beschreiten, um ihr Geheimnis zu schützen und ihre Ehre zu wahren, handelt dieses Buch.

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1. Einführung: Neue Hoffnungen — neue Fragen Good name in man and woman, dear my lord, Is the immediate jewel of their souls: Who steals my purse steals trash; ’tis something, nothing; ’Twas mine, ’tis his, and has been slave to thousands: But he that filches from me my good name Robs me of that which not enriches him And makes me poor indeed. (Iago in »Othello« von Shakespeare)

AIDS wird zu Recht als a long wave event (Barnett 2007) bezeichnet – als ein Ereignis, das sowohl in gesellschaftlicher Hinsicht als auch, wie ich hier zeigen werde, bei den Betroffenen selbst und ihren Angehörigen zu langfristigen und oft unabsehbaren Konsequenzen führt. Seit der Entdeckung des Virus vor fast dreissig Jahren hat sich die Krankheit in rasendem Tempo zu einer weltweiten Pandemie entwickelt. Sie ist durch verschiedene Stadien gekennzeichnet. Lange Zeit bedeutete eine HIV/AIDS Diagnose nicht nur Tod, sondern aussergewöhnlich leidvolles und grausames Sterben; schreckenserregende Bilder von kranken Menschen, ausgezehrt und bis auf das Skelett abgemagert, verdeutlichten das Schicksal, das Infizierten unweigerlich bevorstand. Eine entscheidende Wende trat ein, als 1996 auf der Welt-AIDS-Konferenz in Vancouver eine neue Therapie mit antiretroviralen Medikamenten vorgestellt wurde: Aus der bisher tödlichen Krankheit sollte nun eine chronische werden. Doch die hohen Marktpreise der Präparate – bis zu 12.000 Dollar pro Person und Jahr (UNAIDS 2004a: 103) – verhinderten, dass sie dort eingesetzt werden konnten, wo am meisten Menschen unter der Krankheit litten – in Afrika. In Mali ist die HIV/AIDS Prävalenzrate der erwachsenen Bevölkerung, verglichen mit anderen Ländern des subsaharischen Afrikas, relativ niedrig – je nach Quellen und Jahr werden zwischen 1,7 % bis 3 % genannt.1 Dennoch for-

1 | Krankheitsstatistiken sind immer auch ein Politikum und deshalb nie objektiv; sie repräsentieren Erfolge respektive Misserfolge der Gesundheitspolitik eines Landes und

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K RANKHEIT UND E HRE

mulierte sich recht frühzeitig der politische Wille, den so genannten »Kampf gegen AIDS« aufzunehmen. Bereits 1987 wurde ein Programme National de Lutte contre le SIDA implementiert, gefolgt von auf HIV/AIDS spezialisierten Behandlungsangeboten, diese allerdings nur in der Hauptstadt Bamako. Eine grundlegend neue Epoche begann 2003 mit der von der Weltgesundheitsorganisation gemeinsam mit UNAIDS lancierten Initiative »3 by 5«. Sie verfolgte das ambitionierte Ziel, bis zum Jahre 2005 drei Millionen Menschen in den Ländern des Südens mit antiretroviralen Therapien zu behandeln und damit auch die AIDS-Arbeit in den jeweiligen Staaten zu professionalisieren. Die enormen Summen, welche in der Folge aus internationalen Kassen wie zum Beispiel des Global Fund2 nach Mali flossen, zeigten ihre Wirkung auf verschiedenen Ebenen: Nationale Institutionen kontrollierten von diesem Zeitpunkt an sämtliche Mittel und Aktivitäten im AIDS-Bereich, internationale Entwicklungsorganisationen erweiterten ihre Agenda mit spezifisch auf AIDS zugeschnittenen Programmen, in den Medien verstärkten sich Präventionskampagnen und gleichzeitig entstanden laufend neue zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich dem Kampf gegen AIDS verschrieben. Diese Entwicklungen sorgten dafür, dass der gesamte AIDS-Bereich in den Augen der malischen Bevölkerung als ein äusserst lukrativer Markt gilt. Für die HIV/AIDS Patienten und Patientinnen3 selbst, der eigentlichen Zielgruppe der ganzen Interventionen, sollte sich auch bald eine grundlegende Veränderung abzeichnen. Bereits ab 2002 waren antiretrovirale Therapien im Rahmen eines staatlichen Programms erhältlich, doch der Bezug war mit derart hohen Selbstkosten verbunden, dass sie für die meisten unerschwinglich waren. Seit Sommer 2004 jedoch erhalten alle, die den medizinischen Zugangskriterien entsprechen, die Therapie kostenlos. Ausserdem sind im Zuge der Dezentralisierung zahlreiche Ausgabe- und Behandlungsstellen neu eröffnet worden. Ende 2008 existieren 46 Kliniken und Zentren, in denen an die 22.000 Personen antiretroviral therapiert werden.

dienen oftmals als Argument für weitere internationale Unterstützungsbeiträge (siehe dazu Nichter 2008: 119f). 2 | The Global Fund wurde 2002 als Finanzierungsinstrument gegründet, um weltweit Mittel zur Bekämpfung von AIDS, Malaria und Tuberkulose zu generieren und zu verteilen. 3 | Der Umgang mit den geschlechtsspezifischen Benennungen bietet immer Probleme – entweder wird der Textfluss durch die Aufzählung beider Formen gebremst oder die Abkürzung »-Innen« trägt eher den Charakter von Zeitungsberichten und Rapporten. In diesem Buch ist mit der Nennung der weiblichen respektive männlichen Funktionsbezeichnung, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche respektive weibliche Form mitgemeint.

1. E INFÜHRUNG : N EUE H OFFNUNGEN — NEUE F RAGEN

Natürlich verbanden sich mit der kostenlosen Vergabe auch grosse Hoffnungen, zuallererst von Seiten der Betroffenen. Doch auch wissenschaftliche Beiträge prognostizierten, dass mit den neuen Behandlungsmethoden nicht nur die körperlichen Symptome weitgehend kontrollierbar werden, sondern sich auch die sozialen Probleme im Zusammenhang mit Stigmatisierung wesentlich vermindern, wenn nicht sogar verflüchtigen würden (u.a. Desclaux 2003; Castro und Farmer 2005; Aidsalliance 2007). Tatsächlich gingen bei den meisten Personen, mit denen ich sprechen konnte, die Krankheitssymptome zurück und die mit AIDS assoziierten Merkmale verschwanden, so dass sie in den Augen ihres Umfelds als geheilt wahrgenommen werden. Die Rolle des passiven und unterstützungsabhängigen Opfers liegt hinter ihnen und Zukunft präsentiert sich wieder als offener, selbst zu gestaltender Raum – mit anderen Worten: Sie konnten ihr alltägliches Leben wieder aufnehmen und Normalität, wenn auch in vieler Hinsicht nur eine scheinbare, kehrte in ihr Dasein zurück. Für den Grossteil der malischen Bevölkerung hingegen bleibt die Krankheit aufgrund ihrer sexuellen Übertragbarkeit weiterhin mit dem Makel der Schande behaftet. Zu oft wurde in den ersten Präventionskampagnen der Zusammenhang zwischen AIDS und Prostitution respektive Ehebruch betont (siehe Le Palec und Pagezy 2003: 95f; Attaher 2005: 33; Maiga et al. 2007: 6f). Insofern leben HIV-infizierte Personen mit einem schwerwiegenden und, wie Mariam meint, mit einem äusserst »explosiven« Geheimnis und fürchten sich gleichzeitig immer auch vor seiner Entdeckung. Kranksein bedeutet nicht nur, an körperlichen Symptomen zu leiden und mit entsprechenden Medikamenten behandelt zu werden, sondern es beeinträchtigt auch, und dies wird im Falle von HIV/AIDS besonders deutlich, die soziale Gesundheit der jeweiligen Person, oft sogar auch diejenige ihrer Angehörigen. In Anbetracht der vielversprechenden Hoffnungen, die sich mit den neuen therapeutischen Möglichkeiten verbinden, hat mich vor allem interessiert, wie sich diese Therapien auf das soziale Leben der betroffenen Personen auswirken – inwieweit bedeutet die medizinische Lösung wirklich auch eine soziale Lösung, wie dies in der Fachliteratur vorausgesagt wird? Im Laufe von sechs Forschungsaufenthalten (von Ende 2003 bis Anfang 2008) in Bamako und einer mittelgrossen Stadt des Landes4 habe ich mit 27 HIV-positiven Personen kontinuierlich über ihre Erfahrungen sprechen können. Im Verlauf der verschiedenen Begegnungen und mit meiner wachsenden Einsicht in die komplexen Lebenssituationen hat sich die sehr offen gehaltene Fragestellung weiter differenziert, indem sie zwei unterschiedliche, doch miteinander eng verwobene Aspekte von Krankheitserfahrungen zu beleuchten sucht. Zum einen wollte 4 | Um eine Identifikation der an der Forschung beteiligten Personen zu vermeiden, habe ich mich nach längeren Überlegungen dazu entschieden, den Name dieser Stadt nicht zu nennen (siehe dazu Kapitel 3.4).

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ich wissen, mit welchen neuen, bislang unbekannten Risiken sich HIV-positive Personen in ihrem Alltag konfrontiert sehen, obwohl die für Isolation und Ausgrenzung verantwortlichen Symptome verschwunden sind. Und weiter, und hier liegt der eigentliche Fokus meiner Arbeit: Wie bewältigen sie diese Risiken und kritischen Situationen, ohne dass ihr soziales Ansehen dabei zu Schaden kommt? Mit dieser Fragestellung verbindet sich eine veränderte Perspektive auf Krankheitserfahrungen, die bislang zumeist unter dem Aspekt des sozialen Leidens (social suffering, Kleinman 1999) analysiert wurden und sich im Kontext von HIV/AIDS auf die Untersuchung der Stigmaproblematik beschränkten (u.a. Green und Sobo 2000; Loenzien 2002; Ouattara et al. 2004). Um ein umfassenderes und vor allem auch ein dynamisches Verständnis der sich stets verändernden Erfahrungen zu gewinnen, beleuchte ich nicht nur problematische Konstellationen, sondern richte die Aufmerksamkeit in erster Linie darauf, wie die jeweiligen Personen die in ihrem sozialen Leben auftretenden Risikosituationen im Zusammenhang mit ihrer Infektion meistern und sich neue, auf die Zukunft gerichtete Optionen erschliessen. Geeignet um diese Perspektive analytisch zu erfassen, ist das im Kontext von HIV/AIDS noch unbekannte Konzept »soziale Resilienz« (Obrist et al. 2010). Es zeichnet sich durch einen explizit konstruktivistischen Zugang aus, ist auf das Erleben der Akteure und ihre Handlungen fokussiert und setzt letztere in Bezug zu den strukturellem Bedingungen, wie zum Beispiel den gesellschaftlichen Diskursen über AIDS und Moral, aber auch zu den zahlreichen Interventionen im AIDS-Bereich. Die zentrale Erkenntnis meiner Forschung bezieht sich auf ein lokales Phänomen der Anerkennung, das zwar in allen alltäglichen Interaktionen von entscheidender Bedeutung ist, doch unter »normalen« Bedingungen als selbstverständlich gilt und deshalb selten explizit benannt wird: Der gute Name (tògò nyuman). »Le nom vient de la bouche des autres« wurde mir öfters erklärt. Zugleich ist der Mund der anderen auch der Ort, von dem Gefährdung ausgeht: »On craint la bouche des autres«. Insofern verweisen die Erzählungen HIV-positiver Personen einerseits auf die Risiken, denen ihr Name in vielfacher Hinsicht ausgesetzt ist, beschreiben andererseits aber auch ihre praktischen und reflexiven Bemühungen, ihren Namen zu schützen, neu zu definieren oder ihn wiederzugewinnen. In diesem Sinne fungiert die Infektion, wie auch aus mehreren anderen ethnologischen Arbeiten deutlich wird, als »révélateur du social« (Desclaux 2003: 4). Denn erst unter Bedingungen der Unsicherheit und Bedrohung wird erkennbar, welche zentrale Bedeutung dem Streben nach Anerkennung als einem entscheidenden Aspekt sozialen Handelns zukommt. Der gute Name ist, wie bereits Iago bei Shakespeare feststellt, ein immaterielles Gut, dessen Verlust sich bei weitem gravierender auswirken kann als finanzieller Schaden. Er ist nicht nur ein Zeichen des inneren Reichtums einer Person, sondern stellt auch – wie meine Gesprächspartner in Mali betonten –

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die Grundlage sozialen Reichtums dar. Als ein von der Gesellschaft verliehener Ausweis garantiert er das Recht auf Respekt und gewährt damit die für das alltägliche Leben und Überleben wichtige Handlungsfähigkeit. Mit ihm verbinden sich Fragen der Zugehörigkeit, der Vertrauenswürdigkeit, aber in erster Linie auch solche der persönlichen Identität. Innere Qualitäten mögen zwar die Basis eines guten Namens bilden, doch viel entscheidender ist, wie die Beurteilungen anderer ausfallen. Es sind ihre Worte, welche den Wert eines Namens begründen. Mit dieser Aussenorientierung zählt der Name zu jenen afrikanischen Ehrbegriffen, die im Laufe ihrer Geschichte zwar viel von ihrem ursprünglichen Charakter eingebüsst haben, doch in ihrem Kern weder durch Islamisierung noch Kolonialisierung »gezähmt« werden konnten, sondern sich bis heute, wenngleich auch in fragmentarischer Form, erhalten haben (Iliffe 2005). Zudem ist der Name, gerade weil er sich vornehmlich über die Einschätzungen anderer Leute definiert, äusserst angreifbar. Sein Verlust – oder wie es in Mali heisst: einen verdorbenen Namen (tògò tyien) zu haben – ist gleichbedeutend mit Isolation und Ausgrenzung, mit sozialem Tod. HIV-positive Personen sind in vielerlei Hinsicht, sei es durch eigene Mitteilungen oder unbeabsichtigte Hinweise, mit dem Risiko konfrontiert, dass ihr Geheimnis verraten und damit ihr Name beschädigt wird. Das Geheimnis bewahren hingegen heisst ein Doppelleben führen, heisst abwägen, mit wem man sich einlässt, heisst auf subtile Anspielungen reagieren, bevor sie sich zu Gerüchten ausweiten und führt schliesslich dazu, dass das soziale Leben an Selbstverständlichkeit verliert: Beziehungen zu anderen werden hinterfragt, auf ihre Zuverlässigkeit geprüft und jemandem vertrauen zu können wird plötzlich zu einer sozial existentiellen Frage. Auch reichen in den meisten Fällen einzelne, isoliert gehaltene Bemühungen nicht aus, den guten Namen zu schützen, sondern es werden ganz unterschiedliche Aktivitäten, die sich gegenseitig ergänzen und unterstützen, miteinander kombiniert wie zum Beispiel Informationsmanagement, Selbstdarstellungen und finanzielle Investitionen. Das primäre Anliegen meiner Arbeit ist es, differenzierte Einblicke in die verschiedenartigen Erfahrungswelten von Menschen zu vermitteln, die im Kontext von HIV und antiretroviralen Therapien um ihren guten Namen kämpfen. Ausgehend von ihrer Perspektive und den oft unkonventionellen Wegen, die sie im Laufe unserer Bekanntschaft beschritten haben, möchte ich auf diese in der wissenschaftlichen Literatur noch nicht thematisierten Aspekte eingehen und zugleich die Geschichte von Menschen mit HIV/AIDS in Afrika weiterschreiben, gerade auch weil sie durch die neuen medizinischen Erfolge nicht mehr so im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit liegt. Der Aufbau des vorliegenden Buches gliedert sich in vier Teile. Der erste Teil befasst sich mit den methodischen, thematischen und theoretischen Grundlagen der Forschung und diskutiert in diesem Sinne das Instrumentarium, mit

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dem ich die Daten erhoben und analysiert habe. Im zweiten Teil werden die räumlichen wie sozialen Rahmenbedingungen vorgestellt, welche die Risikoempfindungen und die Strategien HIV-positiver Personen hinsichtlich ihrer sozialen Anerkennung in entscheidendem Masse prägen, das heisst die Stadt Bamako, das Feld von AIDS, aber auch die gesellschaftlichen Wahrnehmungen der Krankheit. Die Darstellung der empirischen Erkenntnisse anhand von Fallbeispielen erfolgt in den Teilen drei und vier. Sie zeichnen sich durch eine explizite Akteursperspektive aus, wobei der dritte Teil sich vorrangig auf die unterschiedlichen Risikosituationen im Zusammenhang mit dem Verrat des HIV-Geheimnisses konzentriert. Einen zentralen Part in diesen Darstellungen sozialer Vulnerabilität nehmen die Kriterien eines guten Namens sowie die verschiedenen Stadien seiner Beschädigung ein. Soziale Resilienz, das heisst die Wege, wie HIV-positive Personen diese Risiken des Namensverlustes bewältigen, wie sie ihren guten Namen schützen oder den Respekt wiederherstellen, ist Thema des vierten und letzten Teils der Arbeit. Er zeigt in erster Linie die Dynamik der einzelnen Praktiken, macht gleichzeitig aber auch darauf aufmerksam, dass Lösungen immer nur als vorläufig zu betrachten sind, obwohl die Akteure all ihre pragmatischen, reflexiven und imaginativen Fähigkeiten einsetzen, um die sich stets verändernden Herausforderungen zu meistern. Abschliessend werde ich das lokale Konzept »soziale Gesundheit« in seinen verschiedenen Dimensionen vorstellen. Es beinhaltet unterschiedliche Aktionsfelder sozialer Resilienz und verweist zugleich auf die für den Aufbau von Anerkennung wichtige Bedeutung von Flexibilität und Ambivalenz.

Teil 1: Methoden und Theorien Users of medicines are usually trying to control not just their physiological symptoms, but their situation. Whyte et al. (2002)

Um eine systematische Hinführung zum Kern meiner Thematik zu gewährleisten, sollen an dieser Stelle zunächst die forschungs-theoretischen Grundlagen und somit auch die wissenschaftliche Verortung meiner Arbeit vorgestellt werden. Zu Anfang steht ein Überblick über die Literatur zu HIV/AIDS, wobei ich vornehmlich die Publikationen in der Fachdisziplin Medizinethnologie mit regionalem Bezug zum subsaharischen Afrika berücksichtige. Die beiden Pfeiler des analytischen Zugriffs bilden dann die sich ergänzenden und für das Feld von HIV/AIDS neuen Konzepte »soziale Vulnerabilität« und »soziale Resilienz«. Sie zeichnen sich in erster Linie durch ihre Handlungsorientierung und Akteursperspektive aus, das heisst, sie lenken die Aufmerksamkeit ganz bewusst auf die Risiken und Bewältigungsstrategien der jeweiligen Akteure. Das dritte Kapitel dieses Teils widmet sich schliesslich der theoretischen Ausrichtung, wobei hier zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Gedankengebäude miteinander verknüpft werden: der praxisorientierte Ansatz von Pierre Bourdieu und der dramaturgische Ansatz von Erving Goffman. Beide Autoren setzen sich auf ihre Weise mit sozialer Anerkennung auseinander, beleuchten dabei unterschiedliche Aspekte, die sich aber gemäss meiner empirischen Einsichten gut ergänzen. Am Schluss dieses Teils und zugleich als Überleitung zu Teil 2 steht die Diskussion der methodischen Herangehensweisen. Sie sind primär durch die Entscheidung für eine qualitative und stark induktiv angelegte Langzeitforschung bestimmt und verweisen ferner auf die vielfältigen Beschränkungen, die eine Forschung in einem von Geheimhaltung geprägten Feld mit sich bringt.

2. AIDS als eine soziale Realität

Verglichen mit anderen Disziplinen setzte in der Ethnologie die Beschäftigung mit HIV/AIDS relativ spät ein. Die Gründe dafür mögen mit der Verunsicherung zusammenhängen, welche die postmoderne Kritik ausgelöst und das Fach zur selben Zeit wie das Auftreten der Krankheit erschüttert hat (siehe dazu Singer 2009). Erst als gegen Ende der 1980er Jahre die medizinischen Debatten über den vermuteten afrikanischen Ursprung von AIDS unverhüllt rassistische Züge anzunehmen begann und auch in den Berichterstattungen altbekannte und längst überwunden geglaubte Stereotypen wiederbelebt wurden, formulierte sich Widerspruch in den ethnologischen Reihen (siehe dazu Chirimuuta und Chirimuuta 1989; Bibeau 1991; Dozon 1991). Diese Beobachtungen, verbunden mit der Einsicht, dass in den bisherigen Darstellungen weder emische Perspektiven auf AIDS untersucht worden waren, noch die für die Verbreitung des Virus verantwortlich gemachten Verhaltensweisen eine kontextuelle Einbettung erhalten hatten, befreiten das Fach schliesslich von seiner anfänglichen Zurückhaltung und mündeten sehr bald in eine verstärkte Beschäftigung mit HIV/ AIDS. Sich auf ihre eigentlichen Kompetenzen berufend – »the most radically contextualizing of the social sciences« (Farmer 1997: 524) zu sein – hat die Ethnologie, insbesondere die Medizinethnologie, in den folgenden Jahren wichtige theoretische wie auch anwendungsbezogene Beiträge zu HIV/AIDS geleistet. Dabei liegt der Untersuchungsschwerpunkt auf der Art und Weise, wie HIV/ AIDS als soziale Realität in die spezifischen sozialen und kulturellen Kontexte eingebettet ist und wie diese Kontexte wiederum durch die Präsenz der Krankheit verändert, modifiziert und in Frage gestellt werden (Dilger 2010a: 1). Der Umgang mit HIV/AIDS fordert von den betroffenen Personen wesentlich mehr, als nur körperliche Symptome zu kontrollieren. Kranksein ist ein sozialer Prozess, innerhalb dessen Beziehungen neu verhandelt werden, sich Selbst- und Fremdwahrnehmungen verschieben und Identitäten andere Facetten erhalten (Whyte 2009b). Ebenso ist der Verlauf der Epidemie selbst durch das Ineinandergreifen vieler Kräfte gekennzeichnet – durch medizinische Errungenschaften, politische Entscheidungen, ökonomische Investitionen und nicht zuletzt auch durch einzelne Aktionen von Betroffenen. Insofern ist jede

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Auseinandersetzung mit AIDS nicht nur von den je nach Disziplin unterschiedlichen Perspektiven geprägt, sondern sie verortet sich als eine Momentaufnahme innerhalb der mittlerweile dreissigjährigen Geschichte der Epidemie. Diese lässt sich anhand des medizinischen Fortschritts analytisch in zwei unterschiedliche Phasen unterteilen: in die Phase der Prävention und die Phase der Therapie. In diesem Kapitel werde ich einige ausgewählte, richtungsweisende Untersuchungen zu HIV/AIDS im subsaharischen Afrika vorstellen, die den innerdisziplinären Stand der Forschung umreissen. Von besonderem Interesse dabei sind Publikationen über die sozialen Aspekte der Krankheit, im speziellen über die Verbindung zwischen HIV/AIDS und verschiedenen Formen sozialer Anerkennung.

2.1 G RUNDLEGENDE MEDIZINE THNOLOGISCHE F ORSCHUNGEN ZU HIV/AIDS IM SUBSAHARISCHEN A FRIK A Bis Ende der 1990er Jahre konzentrierten sich sozialwissenschaftliche Studien hauptsächlich auf die Identifikation bestimmter kultureller Praktiken oder sexueller Verhaltensweisen, welche zur Verbreitung der Krankheit beitragen wie zum Beispiel Skarifizierungen oder bestimmte Formen von Levirat. Von diesen mehrheitlich quantitativ ausgerichteten Verhaltensstudien grenzen sich die medizinethnologischen Forschungen insofern ab, als sie Infektionsrisiken in einem sehr viel weiter gefassten Sinne begreifen. Ihr Anliegen ist es, sowohl die Wahrnehmungen der Krankheit wie auch Krankheitserfahrungen und deren kontextuelle Einbindung in die jeweiligen lokalen moralischen Welten (local moral worlds) der Betroffenen zu untersuchen (Kleinman und Kleinman 1996: 170). Dabei lassen sich zwei ergänzende Forschungsansätze unterscheiden, die sich beide auf ihre Weise mit dem Versagen epidemiologischer und verhaltensorientierter Präventionsstrategien wie Abstinenz, Treue und Kondomverwendung auseinandersetzen. Das eine zentrale Untersuchungsfeld liegt in der Analyse von Bildern, Metaphern und Mythen, die sich um die Krankheit ranken. Sie sind Ausdruck der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interpretationen der Epidemie und machen somit auf den lokal konstruierten Charakter der Krankheit aufmerksam (Treichler 1992). Wie jedes neu auftretende Phänomen wird auch AIDS in die bereits vorhandenen und je nach Gesellschaft unterschiedlichen Bedeutungsmuster integriert. Im Laufe dieses Aneignungsprozesses bilden sich die verschiedenen Interpretationen von AIDS heraus, vielfach eingebettet in lokale Krankheitskonzeptionen. Typisch für diese Deutungen ist, dass sie in ätiologischer Hinsicht mit der Verletzung von sozialen Normen in Zusammenhang gebracht werden, insbesondere mit der Überschreitung von Vorschriften bezüglich Sexualität und Reproduktion (siehe dazu Probst 1995; Gausset und Mogen-

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sen 1996; Hammer 1999; Rakelmann 2001; Wolf 2001). Keine Seltenheit sind auch Assoziationen der Krankheit mit Hexerei, das heisst mit unglückbringenden Aktionen neidischer Mitmenschen wie dies Yamba (1997) für Zambia oder Wolf (1996) anhand von Essensmetaphern für Malawi schildern. Insofern wird die Ursache für die vermehrt auftretenden Krankheitsfälle zumeist im Rahmen von konfliktbehafteten oder der gesellschaftlichen Ordnung widersprechenden sozialen Beziehungen ausgelegt. Hintergrund dieser Interpretationen bilden die vielerorts wahrgenommenen Modernisierungsprozesse, gekennzeichnet durch vermehrte Mobilität und eine Lösung familialer Bindungen. So gesehen erscheint die Epidemie als eine Metapher für die Risiken, welche das moderne, die sozialen Beziehungen stark beeinträchtigende Leben mit sich bringt (Dilger 1999, 2003; Rakelmann 2001; Rompel 2001). Unter dem Eindruck eines »Verlustes von Kultur« (loss of culture, siehe u.a. Wolf 2003a: 222) entstehen vermehrt gesellschaftliche Diskussionen über moralische Ordnung, über richtige und falsche Lebensweisen, über Zugehörigkeit, kulturelle Identität und sozialen Zusammenhalt. Es sind diese Diskurse, welche die Basis für Beschuldigungen und Ausgrenzungen derjenigen darstellen, die sich vermeintlich nicht den Regeln entsprechend verhalten haben – wie zum Beispiel HIV-positive Personen. Diese ersten Erkenntnisse machen deutlich, wie eng die Krankheitswahrnehmungen von sozialen Deutungsmustern beeinflusst sind und welche Auswirkungen sie für HIV/AIDSBetroffene und ihre Familienangehörigen haben. Der zweite Ansatz konzentriert sich auf die strukturellen Bezüge der Epidemie. Grundlegend dabei ist die Einsicht, dass nicht nur die sozialen Interpretationen der Krankheit, sondern auch die Verbreitung von AIDS in einem weit umfassenderen Sinne als bisher angenommen von ökonomischen und politischen Kräften gekennzeichnet ist (Farmer 1994; Parker 2001). Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint die Dynamik der Epidemie nicht so sehr von individuellen Verhaltensweisen oder den Eigenheiten afrikanischer Kulturen bestimmt als vielmehr in den globalen und lokalen Machtbeziehungen verankert (siehe dazu Wolf und Dilger 2003: 264f). Wegweisend für diesen Ansatz, der sich eng an die Analysen der Critical Medical Anthropolgy1 anschliesst, sind vor allem die Arbeiten von Paul Farmer aus Haiti (1992; 1997). Im Zuge dieses neu1 | Die Critical Medical Anthropology bildete sich Anfang der 1980er Jahre als Reaktion auf die interpretativen, vornehmlich auf semantische Analysen fokussierten Ansätze in der Medizinethnologie heraus. Ihr Anliegen ist es, die Untersuchung von Krankheit und Gesundheit in Verbindung mit umfassenderen Prozessen wie Globalisierung oder Kolonialisierung zu begreifen. Insofern betonen Vertreter dieser Richtung den Einfluss politischer und ökonomischer Strukturen sowohl auf die Verteilung als auch auf die Verbreitung von Krankheiten in den jeweiligen Gesellschaften (siehe dazu Singer 1989; Good 1994: 56f).

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eren Ansatzes erhalten auch die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern vertiefte Aufmerksamkeit. Studien belegen, dass es Frauen, insbesondere jungen Frauen aufgrund ihrer schwächeren sozialen Position, kaum möglich ist, sich vor einer Infektion zu schützen, indem sie auf der Verwendung von Kondomen bestehen (u.a. Schoepf 1992, 2001; Farmer et al. 1993; Nelson 1995; für Mali: LePalec 1999). Ergänzend zu diesen auf Infektionsrisiken und Präventionsverbesserung fokussierten Untersuchungen existieren auch einige wenige Studien, in denen HIV-positive Personen selbst und ihre eigenen Initiativen im Zentrum stehen – eine Perspektive, die auch für meine Arbeit leitend ist. Für Betroffene, die von ihren Familien alleingelassen wurden, bilden alternative Gemeinschaften oft den einzigen Rückhalt, wie Hansjörg Dilgers Untersuchung (2003a) dies am Beispiel von AIDS-NGOs2 und der Pfingstkirche von Dar es Salaam beschreibt. Damit wird deutlich, dass die lokalen Antworten, die einzelne Akteure in der Auseinandersetzung mit AIDS finden, eine zentrale Rolle spielen und zur gesellschaftlichen und kulturellen Konstruktion der Krankheit beitragen. Die ersten Forschungen, welche in Mali mit interdisziplinär arbeitenden Teams zu HIV/AIDS durchgeführt wurden, verfolgen ebenfalls diesen semantisch geprägten Forschungsansatz (Diarra und Fay 1994; Fay und Vidal 1999; Fay 1999). Anhand der regional unterschiedlichen Vorstellungen zu AIDS bezeugen sie deren vielfältige Bezüge zur sozialen Thematik und im weiteren Sinne zu Modernität und Mobilität. Aufschlussreich für meine Untersuchungsinteressen wurde, dass bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in einzelnen Publikationen die Assoziation zwischen der Krankheit und lokalem Ehrverständnis zum Ausdruck kommt. Ehre und Respekt, so zeigt die Untersuchung von Robert Vuarin (1999), sind an sexuelle Stabilität gebunden, und aus diesem Grunde glaubt sich eine ehrenhafte Person vor der Krankheit, die durch »vagabondage sexuel« ausgelöst wird, geschützt. Vuarin schliesst seine Einsichten mit der Feststellung: »Les considérations sociales (honneur, réputation…) s’opposeraient donc aux préoccupations sanitaires« (ebd: 442) – ein Widerspruch, der auch meine gesamten Forschungserfahrungen kennzeichnet und mit dem sich HIV-positive Personen in der Ära antiretroviraler Therapien besonders intensiv auseinandersetzen.

2.2 E RSTE E RFAHRUNGEN MIT ANTIRE TROVIR ALEN THER APIEN Bis 1996 war die AIDS-Arbeit ausschliesslich durch die auf vielen Ebenen angesetzten Präventionsbemühungen gekennzeichnet; in therapeutischer Hinsicht 2 | NGO ist die Abkürzung für Non-Governmental Organization; die Erklärungen weiterer Abkürzungen finden sich im Anhang.

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hingegen waren Ärzte und mit ihnen das gesamte Gesundheitspersonal zumeist hilflos. Vollkommen neue Aussichten indessen eröffneten sich daher mit der Einführung von antiretroviralen Behandlungen. Nie zuvor in der Geschichte der Pharmakologie ist wohl ein Medikament von so vielen Menschen mit so grossen Hoffnungen erwartet worden – Hoffnungen, die sich bald wieder relativieren sollten, als nämlich klar wurde, dass nur ein kleiner Teil der Bedürftigen von den medizinischen Errungenschaften wirklich profitieren wird. Entgegen der sich grenzenlos ausbreitenden Pandemie, zogen die Behandlungsmöglichkeiten scharfe Grenzen: Die teuren Präparate waren nur für Patienten des euroamerikanischen Raums erschwinglich. Ferner bezweifelten einige einflussreiche Akteure im gesundheitspolitischen Feld, dass diese Therapien überhaupt in Regionen mit geringer Infrastruktur medizinisch vertretbar einzusetzen seien – jedenfalls wurde die Frage sehr kontrovers diskutiert (siehe dazu: Chirac et al. 2000; Lazarus et al. 2005; van der Geest und Hardon 2006). Eine unkontrollierte Abgabe, so die Befürchtungen, könnte ganz Afrika in eine »antiretrovirale Anarchie« (Harries et al. 2001) stürzen und Resistenzbildungen hervorrufen. Andere Stimmen wiederum, mit Paul Farmer an der Spitze, forderten im Sinne der Menschenrechte, sofort mit Behandlungsprogrammen zu beginnen (Farmer 1999; Farmer et al. 2001). Für den afrikanischen Kontinent gestaltet sich die Einführung antiretroviraler Medikamente recht zögerlich und über einzelne Etappen. Da Pharmazeutika neben ihren therapeutischen Qualitäten auch sozial transformative Kräfte besitzen, entfalteten die medizinischen Interventionen auch ihre sozialen Wirkungen (siehe dazu van der Geest et al. 1996; Whyte et al. 2002). Allein schon der politische Kampf um das Recht auf Behandlung erschloss, wie die Untersuchung von Nguyen (2005) in Ouagadougou (Burkina Faso) bezeugt, neue transnationale Räume. Seine Studie ist in der Phase des äusserst ungleichen und nur auf privaten Initiativen beruhenden Zugangs3 angesiedelt. Sie beschreibt, wie sich Menschen aufgrund ihres HIV/AIDS-Befundes zu einer Form von biopolitischem Aktivismus zusammenfinden und ihre Forderungen nach den lebenserhaltenden Therapien auf globaler Ebene geltend machen. Diesen Zusammenschluss, getragen von ethischen Prinzipien und bürgerlichen Rechten, fasst Nguyen mit dem Konzept der therapeutic citizenship und macht damit auf die sozialen Aspekte, auf die Entstehung spezifischer Netzwerke im Kontext therapeutischer Ansprüche aufmerksam. Erste empirische Erkenntnisse über die sozialen Konsequenzen, welche die Vergabe der Medikamente für Patienten und deren Familien in Afrika hat, 3 | In dieser ersten Zeit kosteten die Medikamente an die tausend Dollar pro Monat und waren zumeist nur über private Kanäle, das heisst mit ausreichend Beziehungen zu international agierenden NGOs oder unter Umständen auch auf dem Schwarzmarkt erhältlich (siehe dazu Egrot et al. 2002).

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finden sich in zwei Studien über Pilotprojekte in der Elfenbeinküste und im Senegal (Msellati et al. 2001; Desclaux et al. 2002). In beiden Ländern wurden die Mittel seit 1998 in einzelnen Krankenhäusern der Hauptstädte mit unterschiedlich hoher Selbstkostenbeteiligung verschrieben. Neben medizinischen Analysen vermitteln die beiden Studien Einsichten in den alltäglichen Umgang mit antiretroviralen Therapien und schildern, wie die Patienten langsam zu einer Normalität zurückfinden, gleichzeitig aber auch ihre sozialen Bindungen zu verändern suchen (Sow und Desclaux 2002; 2002a). Bezeichnend für ihre Situation scheint vor allem ein erhöhtes Bedürfnis nach Autonomie zu sein, nach einem eigenen privaten Raum. Dementsprechend interpretieren die Autorinnen antiretrovirale Therapien als Auslöser von sozialem Wandel hin zu verstärkter Individualisierung (Sow und Desclaux 2002a: 175). Mit der Produktion von preisgünstigen Generika war ein weiterer Schritt getan, die Kluft zwischen Vorhandensein und Erhältlichkeit der Therapien zu verkleinern. Ab 2002 entschieden mehrere afrikanische Länder, die Medikamente mit internationaler Unterstützung und staatlich subventioniert in ihren Gesundheitseinrichtungen abzugeben. Doch trotz radikaler Preissenkungen waren die Behandlungen nur für eine Minderheit eine realistische Option. Vielmehr rief das Wissen um die Existenz der Therapien verbunden mit der Aussichtslosigkeit, diese zu erhalten, moralisch und menschlich kaum tragbare Dilemmata hervor: Das Gesundheitspersonal musste nun beurteilen, welche Patienten über die lebensrettenden Möglichkeiten informiert werden und welchen man sie aus Rücksichtnahme besser verschweigen soll. Die Familien der Betroffenen wiederum waren mit der schwerwiegenden Entscheidung konfrontiert, wofür sie ihre begrenzten Mittel ausgeben wollen. Und HIV-positive Personen selbst sahen sich gezwungen, andere über ihre Krankheit zu informieren, um die nötigen Mittel für die Arzneien aufzutreiben (für Uganda: Whyte et al. 2006; Mogensen 2009; für Mali: LePalec und Pagezy 2003). Reelle Chancen auf eine Therapie erhielt die Mehrzahl der afrikanischen Patienten erst, als das von der Weltgesundheitsorganisation formulierte Ziel, bis zum Jahr 2005 drei Millionen Menschen in einkommensschwachen Ländern kostenlos zu behandeln, umgesetzt wurde. Mit unerwarteter Intensität nahmen die hoch dotierten Behandlungsprogramme ihre Arbeit auf und konnten innerhalb von zwei Jahren die Anzahl der therapierten Patienten auf das Achtfache steigern.4 Doch obschon kein Zweifel darüber besteht, dass die Einführung der Präparate im subsaharischen Afrika als ausserordentlicher Erfolg zu werten ist und sie viele Menschen von Leiden befreit und ihnen zu neuen Lebensperspektiven verholfen hat, dokumentieren zwei jüngst publizierte Studien auch die Schat4 | Das eigentliche Ziel der Initiative »3 by 5« wurde zwar erst 2007 erreicht (WHO 2008); doch allein in Mali hat sich die Deckung mit antiretroviralen Therapien von 32 % im Jahr 2005 (WHO 2006) auf 85 % im Jahr 2008 (Traoré 2009) steigern können.

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tenseiten dieser gross angelegten Interventionen. So zeigt die Untersuchung von Mattes (2011) im Regionalkrankenhaus von Tanga (Tanzania), wie Patienten durch regelmässige Schulungen und Kontrollen zu einer guten Adhärenz5 angehalten werden. Allerdings hinterlassen diese Massnahmen eher den Eindruck einer strikten Erziehung und fördern eine umfassenden Medikalisierung des Alltags, wie von Patienten berichtet. Eine andere Studie aus Mozambique verweist auf die Problematik, dass die Therapie alleine keine wirkliche Lösung darstellen kann, solange die Patienten an quälendem Hunger, einer bekannten Nebenwirkung der Behandlungen, leiden: »We are made to be hungry« (Kalofonos 2010: 364). Die viel zu knapp bemessenen Nahrungsmittelhilfen schüren Rivalitäten unter den Patienten und setzen sie zudem noch den Ressentiments der weiteren Bevölkerungen aus, die sich benachteiligt fühlt. Angesichts dieser Atmosphäre, gekennzeichnet von Konkurrenz und Missgunst, trägt die medizinische Intervention, so die Kernaussage der Untersuchung in Mozambique, eher zu einer pathologischen Form der Sozialität (biosociopathy) bei (ebd: 375). Ebenfalls mit den Auswirkungen von Behandlungsprogrammen setzt sich die Arbeit von Mogensen (2010) auseinander. Sie befasst sich jedoch weniger mit der Art und Weise, wie die Interventionen durchgeführt werden oder mit negativen Begleiterscheinungen, sondern untersucht, wie sich das Sprechen über die eigene Krankheit durch die neuen Medikamente verändert. Während in der Ära des ungleichen Behandlungszugangs eine Information über die Diagnose vor allem von der Hoffnung auf finanzielle Hilfe getragen war und eindeutig formuliert werden musste, kann sie heute in subtilerer Form, ohne direkte und brüskierende Worte, stattfinden. Dennoch haben sich die Dilemmata, die mit jeder Aussprache verknüpft sind, nicht aufgelöst, sondern nur verlagert, wie Mogensen feststellt: »Whether and how one talks about being positive is inextricably linked to the need to be recognized as somebody who matters in social life.« (Ebd: 77) Auf diese Thematik, auf den Zusammenhang zwischen HIV-Positivität und sozialer Anerkennung, will die vorliegende Arbeit vertieft eingehen. In den bisherigen Untersuchungen haben diese Verflechtungen nur periphere Erwähnung gefunden, obwohl sie im Alltag und den Interaktionen der Betroffenen eine zentrale Rolle spielen. Es ist daher das hauptsächliche Anliegen meiner Arbeit, die Auswirkungen der medizinischen Therapien hinsichtlich sozialer Anerkennung näher zu beleuchten und dadurch zu einem differenzierten Verständnis der oft schwierigen Situationen der Betroffenen beizutragen. Obwohl in einigen Studien von der zurückgewonnenen »Normalität« der Kranken gesprochen wird (u.a. Sow und Desclaux 2002; 2002a), drängt sich dennoch die Frage auf: Wie normal ist diese neu gewonnene Normalität tatsächlich? 5 | Mit Adhärenz bezeichnet man die Übereinstimmung zwischen ärztlichen Empfehlungen und dem Verhalten von Patienten (so zum Beispiel die Einnahme von Medikamenten gemäss den therapeutischen Vorgaben).

3. Von Stigma zu Vulnerabilität und Resilienz

In den früheren Phasen der Epidemie hatten Personen mit AIDS unter manifesten Formen der Ausgrenzung zu leiden – so zum Beispiel der Verweigerung, gemeinsam mit ihnen zu essen, im selben Raum zu schlafen, sie zu pflegen oder überhaupt mit ihnen in Kontakt zu treten. Nähere Kenntnisse sowie die äusseren, mit AIDS assoziierten Zeichen galten als triftiger Grund, sich von betroffen Personen fernzuhalten – aus Angst vor Ansteckung, aber im familiären Kreis auch um Ausgaben zu vermeiden, die als unnötig erscheinen, weil sie den Tod ohnehin nicht abwenden können (Desclaux 2003; Attaher 2005). Der Status der HIV-Positivität, das heisst, die Phase, bevor das Immunsystem des Körpers soweit geschwächt ist, dass Krankheiten ausbrechen, ist in der malischen Bevölkerung kaum bekannt. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass sich die meisten Personen, die sich auf HIV testen lassen, bereits im Stadium von AIDS befinden.6 Mit dem Einsatz von antiretroviralen Therapien präsentiert sich jedoch eine gänzlich neue Situation. Bei den meisten Personen, die in der öffentlichen Wahrnehmung als AIDS-krank galten, verbessert sich der Gesundheitszustand soweit, dass keine äusseren Anzeichen mehr auf den Virus schliessen lassen. Damit verändert sich ihre soziale Situation entscheidend: Zwar werden Erlebnisse direkter Ausgrenzung und Isolation seltener, dafür nimmt die Angst, als HIV-infiziert erkannt zu werden, umso mehr Raum ein. Insofern erzeugt dieselbe Krankheit, je nach Verlauf und Symptomen, ganz unterschiedliche soziale und emotionale Reaktionen. Bis anhin wurde die Problematik des sozialen Ausschlusses im Kontext von HIV/AIDS zumeist mit dem Konzept »Stigma« erfasst. In der Ära antiretroviraler Therapien jedoch entfalten Prozesse sozialer Zuschreibungen eine andere, wesentlich subtilere Dynamik. Gerüchte, Mutmassungen und Anspielungen kennzeichnen die neuen Risikosituationen, mit denen HIV-positive Personen umzugehen haben. Deshalb stellt sich auch 6 | Die Personen in meiner Untersuchungsgruppe, die HIV-positiv sind, aber nicht antiretroviral therapiert werden, haben sich nur testen lassen, weil bei ihrem Partner AIDS ausgebrochen ist.

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die Frage, inwieweit Stigmatheorien überhaupt geeignet sind, diese oft mehrdeutigen, fluiden und von Geheimhaltung bestimmten Situationen zu analysieren. Ausserdem betont allein schon der Begriff »Stigma« den gesellschaftlichen Blick auf das Phänomen, das heisst, Betroffene werden stigmatisiert und befinden sich zwangsläufig in der Rolle von Opfern – eine Sichtweise, die für meine Fragestellung nicht hilfreich ist. Aus diesen Gründen habe ich mich entschieden, mit den sehr viel breiter gefassten und auf die Akteursperspektive konzentrierten Ansätzen von Vulnerabilität und Resilienz zu arbeiten, zunächst aber dennoch einzelne Überlegungen der mittlerweile weit gefächerten Stigmatheorie als Ausgangspunkt zu nehmen. Ausgehend vom Stigmabegriff und dessen konzeptioneller Erfassung im Kontext von HIV/AIDS werde ich in den nachfolgenden Abschnitten die beiden Konzepte »Vulnerabilität« und »Resilienz« vorstellen. Im angewandten Bereich von HIV/AIDS ist die Untersuchung von Vulnerabilität bereits gut eingeführt, bezieht sich jedoch vornehmlich auf das Risiko der Infektion. Hier werde ich Vulnerabilität in Kombination mit dem ergänzenden Konzept »Resilienz« auf das neue Feld von HIV und antiretroviralen Therapien übertragen. Dabei liegt mein Fokus nicht bei Gesundheitsrisiken, sondern ausschliesslich bei sozialen Risiken.

3.1 S TIGMA Etymologisch gesehen leitet sich der Begriff »Stigma« vom griechischen Verb stizein: stechen, einstechen ab (Kluge 2002). Er bezieht sich auf ein Mal, das Sklaven und Verbrechern im antiken Griechenland in die Körper geschnitten oder gebrannt wurde. Dadurch waren die jeweiligen Träger als unmoralische und zu meidende Personen gebrandmarkt (Goffman 1975: 9). Auch wenn die negativen Attribute, die eine Gesellschaft einem bestimmten Stigma zuschreibt, variieren, so gelten stigmatisierte Personen meist als eine Bedrohung der sozialen Ordnung oder der physischen Unversehrtheit. Dies trifft insbesondere auf Personen zu, die unter sexuell übertragbaren, tödlich verlaufenden oder psychischen Erkrankungen leiden. Sie rufen Furcht, oft auch Furcht um das eigene Leben hervor und werden deshalb isoliert. Stigmatisierung ist immer verbunden mit negativen sozialen Konsequenzen wie Ausschliessung einzelner Personen oder Gruppen. Eine positive Konnotation des Phänomens findet sich allein im christlichen Kontext. Hier gelten Stigmata als Manifestationen der Wundmale Christi, deren Besitzer in vielen Fällen heilig gesprochen werden. In den Sozialwissenschaften verbirgt sich hinter dem Begriff »Stigma« eine breit geführte, theoretische Auseinandersetzung: Mehrere Autoren kritisieren die Beliebigkeit und damit auch die geringe Schärfe des Konzepts (siehe dazu: Deacon 2005). Um die für meine Thematik entscheidenden theoretischen

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Überlegungen herzuleiten, möchte ich einen kurzen Überblick über die verschiedenen Ansätze der Stigmatheorie geben, beginnend mit dem klassischen Werk von Erving Goffman, das viele für meine Analyse wichtige Ansätze enthält. Mit seiner Publikation Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity (1963; in deutsch: 1975) legte Goffman die theoretischen Grundlagen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Situation von Gebrandmarkten – von Menschen, die nicht den herrschenden gesellschaftlichen Erwartungen entsprechen. Dabei unterscheidet er zwischen drei Typen von Stigma: Stigma aufgrund von körperlichen Deformationen, von charakterlichen Eigenschaften oder von phylogenetischen Merkmalen wie Rasse, Religion oder Nation (Goffman 1963: 14). Goffmans Bestreben ist jedoch nicht die Darstellung unterschiedlicher Stigmaformen. Ihn interessieren in erster Linie die direkten Interaktionen zwischen Stigmatisierten und Stigmatisierenden, wobei er diese nicht als zwei Personen, sondern als unterschiedliche Perspektiven begreift, die sich im Laufe der »gemischten Kontakte« ergeben (ebd: 23, 164). Damit verdeutlicht Goffman, dass der Begriff »Stigma« zwar in Bezug auf eine bestimmte Eigenschaft gebraucht wird, Stigmatisierung aber einer Sprache der Relationen bedarf, da dieselbe Eigenschaft je nach Kontext und gesellschaftlichen Vorgaben diskreditierend oder aufwertend wirken kann (ebd: 13). Goffmans grosses Verdienst ist, dass er Stigmatisierungsprozesse mit einer dreiteiligen Identitätstypologie verbindet, die für meine Analyse ebenfalls leitend sein wird. Abweichend von sonst üblichen Auffassungen sozialer Identität, die sich auf die von der Gesellschaft geschaffenen Kategorien beziehen, unterscheidet Goffman zwischen den Zuschreibungen, die hinsichtlich einer fremden Person oder einer bereits persönlich bekannten Person vorgenommen werden. Diese Differenzierung ist vor allem dann entscheidend, wenn es sich um Beeinträchtigungen handelt, die von aussen direkt ersichtlich sind, wie zum Beispiel eine körperliche Behinderung. In diesem Sinne reserviert Goffman den Begriff »soziale Identität« für Kategorisierungen wie Altersstufe, Geschlecht, Schicht oder Ehrenhaftigkeit, die auf den ersten Blick bei der Begegnung mit einer unbekannten Person gemacht werden (Goffman 1963: 12; 1974: 255f). Kennzeichnend für soziale Identität ist also, dass es sich um eine Fremdzuschreibung handelt, aufgrund sichtbarer Merkmale. Nun sind die Wahrnehmungen von anderen zumeist durchdrungen von normativen Erwartungen darüber, wie das Gegenüber eigentlich sein sollte.7 So handelt es sich bei einem Stigma um eine Zuschreibung mit diskreditierender Wirkung, die aus der Dis7 | In seiner kultursoziologischen Habilitationsschrift, die sich mit der Verbindung zwischen Stigma und Charisma auseinandersetzt, geht Lipp (1985) detailliert auf den Gedanken des Doppelcharakters von Stigma ein. Aus der Spannung zwischen gesellschaftlicher Erwartung und persönlicher Nicht-Erfüllung ergibt sich sowohl ein »Defizit«

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krepanz zwischen sozial erwünschter Identität, der virtualen sozialen Identität, und der tatsächlich beweisbaren, der aktualen sozialen Identität resultiert (Goffman 1963: 12f). Da jedoch mit antiretroviralen Therapien zumeist alle für AIDS typischen Krankheitszeichen verschwinden, das heisst die Krankheit für fremde Personen nicht lesbar ist, wird dieser Identitätstypus für meine Auslegungen nicht weiter relevant sein. Der zweite von Goffman beschriebene Identitätstypus, die persönliche Identität, hingegen trifft genau die Situation von HIV-positiven Menschen. Er beruht ebenfalls auf Fremdwahrnehmung, im Gegensatz zur sozialen Identität jedoch existieren nähere Kenntnisse über den biographischen Hintergrund, die sozialen Eigenschaften und die konkreten Lebensumstände der betreffenden Person (ebd: 74). Ganz auf das subjektive Empfinden der Stigmatisierten, das sich aus verschiedenen sozialen Erfahrungen zusammensetzt, konzentriert sich der dritte Begriff »Ich-Identität«. Anhand dieser drei Identitätstypen untersucht Goffman unterschiedliche Prozesse und Techniken im Rahmen der Stigmaproblematik: The concept of social identity allowed us to consider stigmatization. The concept of personal identity allowed us to consider the role of information control in stigma management. The idea of ego identity allows us to consider what the individual may feel about stigma and its management […]. (Ebd: 130)

Mit diesem Ansatz gelingt Goffman eine umfassende Sicht auf die Grundmechanismen von Stigma. Er untersucht dabei nicht nur die gesellschaftlichen Bedingungen der Stigmatisierung und infolgedessen die unterschiedlichen Formen der Identitätsbeschädigung, sondern bezieht auch individuelle Möglichkeiten der Stigmabewältigung mit ein. Diese Techniken der Informationskontrolle, des Täuschens und Verbergens, erhalten in vielen der nachfolgenden Stigmastudien wenig Beachtung, sind hingegen für die Bearbeitung meiner Fragestellung besonders relevant. Im Anschluss an Goffmans Werk etablierten sich Stigmaforschungen in den unterschiedlichsten Feldern und Fachbereichen; so wird auch die Thematik »Stigma und HIV/AIDS« aus den Perspektiven verschiedenster Disziplinen bearbeitet, wobei sich tendenziell drei Ansätze mit jeweils unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten herauskristallisiert haben. Im gesundheitspolitischen Bereich liegt die Gewichtung einerseits auf der Entwicklung eines für die angewandte Forschung geeigneten Rahmenmodells, andererseits auf der Suche nach Indikatoren, um das Niveau von Stigmatisierung auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen messbar zu machen (u.a. Aggleton 2002; Futuals auch ein »Debet« – das heisst, die Träger leiden an einem Mangel, stehen gleichzeitig aber auch in gesellschaftlicher Schuld (Lipp 1985: 95).

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res Project International 2004; USAID 2005; Bollinger 2006; Holzemer et al. 2006). Diese Ansätze widmen sich bevorzugt den Produzenten der Exklusion, vernachlässigen dafür die Erfahrungen der davon tangierten Personen. Sozialpsychologische Beiträge beschäftigen sich vor allem mit den Mechanismen der Stigmatisierung und konnten durch ihre Analysen Wesentliches zur Klärung derjenigen kognitiven Prozesse beitragen, welche Stigmatisierungen zu Grunde liegen. Vertreter dieser Richtung interessieren sich hauptsächlich für die Konstruktion von Kategorien aufgrund sichtbarer Merkmale (labeling), die in negative Stereotypisierungen münden und bei den davon betroffenen Personen Stress auslösen (u.a. Jones et al. 1984; Mayor und O’Brien 2005). Der Analysefokus dieser Arbeiten liegt meist bei den Personen, die unter diesen Etikettierungen zu leiden haben. Andere sozialpsychologische Untersuchungen beziehen zwar die Perspektive von Stigmatisierenden ebenfalls mit ein, wie zum Beispiel diejenige von Crocker, Mayor und Steele (1998), lassen jedoch historische oder gesellschaftliche Dimensionen des Phänomens ausser Acht. Hier erscheint Stigmatisierung als ein Vorgang, der sich in und zwischen zwei Personen abspielt, nicht aber im Zusammenhang mit umfassenderen sozialen Kräften steht. Diese als eingeschränkt aufgefasste Perspektive gab Anlass zu Kritik aus verschiedenen Richtungen und führte dazu, Stigma als sozialen Prozess, der eng mit historischen und strukturellen Gegebenheiten verknüpft ist, zu konzeptualisieren (u.a.: Link und Phelan 2001; Parker und Aggleton 2003: 15; Castro und Farmer 2005). Mit Stigmatisierung, so die Argumentation von Vertretern dieses Ansatzes, sind immer auch Interessen bestimmter Gruppen verbunden und insofern reicht es nicht aus, das Phänomen allein über Mechanismen der Zuschreibung zu analysieren, sondern es erfordert den Bezug zu Themen wie Macht oder Hegemonie. Laut Castro und Farmer (2005: 53), vom Standpunkt der Critical Medical Anthropology (siehe Kapitel 2.1) aus argumentierend, bildet Stigma nur die sichtbare Spitze des Eisbergs, verweist aber auf tiefer liegende soziale Ungleichheiten, die wesentlich schwieriger zu erfassen sind. Ihrer Ansicht nach ist Stigmatisierung zugleich Ursache wie auch Konsequenz struktureller Gewalt wie zum Beispiel Rassismus, Sexismus oder Armut (ebd: 55). Auch wenn ausser Zweifel steht, dass diese Ansätze ein besseres Verständnis gesamtgesellschaftlicher oder sogar globaler Zusammenhänge erlauben, so blenden sie dennoch die Handlungsräume HIV-infizierter Personen weitgehend aus, weil sie diese eher als Opfer der sie bestimmenden Strukturen denn als eigenständige Akteure darstellen.8 8 | Neuere Beiträge der Stigmaforschung versuchen allerdings, die bis anhin herrschende Polarisierung zwischen sozialpsychologischen Erklärungen (die Rolle der objektiven Bedingungen vernachlässigend) und strukturellen Ansätzen (den Erfahrungen der einzelnen Personen wenig Raum lassend) aufzulösen und die beiden Seiten als komplementär zu verstehen (Stuber 2008).

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Nun hat sich, wie bereits erwähnt, mit Hilfe antiretroviraler Therapien die Situation von HIV-positiven Personen entscheidend verändert. Die neue Form von Stigmatisierung verlagert sich, so könnte man sagen, »nach innen« und macht sich vor allem als ein Gefühl permanenter Bedrohung bemerkbar.9 Zwar sind die eindeutigen körperlichen Zeichen verschwunden, doch die Angst, aufgrund von Verrat, unbedachter Äusserungen oder anderer Hinweise entdeckt zu werden, erzeugt ein erhöhtes und fast alle Interaktionen dominierendes Risikobewusstsein. Mit anderen Worten: Es existieren nun Möglichkeiten, die Krankheit zu verheimlichen oder sich gegen Verdächtigungen zu wehren. Und genau um diese beiden miteinander eng verbundenen Aspekte – Gefährdungen und Bewältigungsmöglichkeiten – erfassen zu können, die meines Erachtens für ein vertieftes Verständnis der oft komplexen Situationen unerlässlich sind, eignen sich die Konzepte Vulnerabilität und Resilienz.

3.2 V ULNER ABILITÄT Das Konzept der Vulnerabilität (von lateinisch vulnus: Wunde) wurde Anfangs der 1980er Jahre von Chambers (1983: 1; 1989: 1) zur Differenzierung der Armutsforschung eingeführt. Im Zentrum stehen nicht wie bislang üblich messbare Indikatoren, sondern die Perspektiven und Handlungsweisen der Armen selbst. Folgerichtig definiert Chambers Vulnerabilität als die Möglichkeit, Risiken, Schocks oder Stress ausgesetzt zu sein. Von diesen Unsicherheiten getroffen zu werden, bezeichnet er als die externe Seite von Vulnerabilität. Die interne Seite beschreibt er als das Fehlen von Mitteln, diese Herausforderungen ohne einschneidende Verluste bewältigen zu können – Verluste, die sich in Form von ökonomischer Verarmung, körperlicher Schwäche, sozialen Abhängigkeiten oder psychischen Schäden äussern (Chambers 1989: 1). Auf der Grundlage von Chambers Definition kommt das Konzept in den verschiedensten Disziplinen zur Anwendung und wird je nach Fach unterschiedlich definiert (für einen kurzen Überblick siehe: Obrist und Van Eeuwijk 2006b). Gerade hinsichtlich HIV/AIDS nehmen gesundheitswissenschaftliche Untersuchungen zu Vulnerabilität grossen Raum ein, wobei sich deren Forschungsinteresse hauptsächlich auf Infektionsrisiken richtet und nicht, wie dies in der vorliegenden Arbeit der Fall ist, auf Risiken, die sich aufgrund der Infektion ergeben (u.a. Smith 2002; Gaillard et al. 2002; Stall et al. 2003). Ebenfalls im Rahmen von HIV/AIDS Prävention unternahmen Delor und Hubert 9 | Scrambler und Hopkins (1986) haben auf die in dieser Hinsicht wichtige Unterscheidung zwischen zwei Erscheinungsformen von Stigma aufmerksam gemacht: Neben der bereits bekannten, sich konkret manifestierenden Form (enacted stigma) benennen sie auch eine auf das innere, emotionale Erleben bezogene Form (felt stigma).

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(2000) den Vorstoss, das Konzept »Vulnerabilität« hinsichtlich seiner methodologischen Herangehensweise zu differenzieren. Sie betonen, dass die Komplexität von Infektionsrisiken es erforderlich macht, Vulnerabilität als Prozess zu begreifen und dabei zwischen lebenszyklischen Phasen und Interaktionssphären zu unterscheiden. Der Begriff »soziale Vulnerabilität« tritt erst Mitte der 1990er Jahre auf und bezeichnet die Ursachen der gesellschaftlichen Verteilung von HIV/AIDS. Soziale Faktoren wie Alter, Geschlecht, sozio-ökonomischer Status etc. sind, aus der Perspektive der öffentlichen Gesundheit gesehen, dafür verantwortlich, dass bestimmte Gruppen oder Individuen infektionsanfälliger sind als andere (siehe dazu Jones und Williams 2004: 158f). Sozial vulnerabel zu sein bedeutet in diesem Zusammenhang also einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt zu sein. Ein wesentlich anderes Verständnis von Vulnerabilität kommt im phänomenologisch-interpretativen Ansatz der Medizinethnologie zum Ausdruck. Hier stehen die jeweiligen Akteure und ihr Erleben im Zentrum der Untersuchung. Verwundbarkeit bezieht sich also auf subjektive Erfahrungen und meint zuallererst die Möglichkeit, »am Körper und durch den Körper bis ins Selbst verwundet zu werden« (Obrist und Van Eeuwijk 2006b: 11).10 Da sich Risikoempfindungen je nach Situation und kulturellem Umfeld unterschiedlich äussern, können nur die betroffenen Personen selbst die Bezüge von Vulnerabilität als einem relationalen Konzept definieren. Damit erhält auch soziale Vulnerabilität eine andere, erweiterte Bedeutung als in den gesundheitswissenschaftlichen Auslegungen. Nicht die Analyse sozialer Faktoren ist von Interesse, sondern die Aufmerksamkeit richtet sich auf Risiken, die eine Krankheit in sozialer Hinsicht auszulösen vermag. So können zum Beispiel auch Worte, wie ich später ausführlich zeigen werde, die soziale Integrität einer HIV-positiven Person nachhaltig beschädigen. Was jedoch auf der persönlichen Ebene als Verletzungsgefahr erlebt wird, ist nicht losgelöst von gesellschaftlichen Bedingungen, von sozialen, ökonomischen und politischen Zwängen zu betrachten (siehe dazu Obrist 2010: 425). Gerade im Kontext von HIV und antiretroviralen Therapien bilden gesellschaftliche Diskurse über Moral und soziale Ordnung die Grundlage für die subjektiv empfundene soziale Verwundbarkeit. Für meine Analyse im Rahmen von HIV und antiretroviralen Therapien ist von besonderem Interesse, dass Vulnerabilität den Aspekt der Antizipation und damit das Bewusstsein für ein spezifisches Risiko betont. Nicht die eigentliche Wunde steht im Zentrum, sondern die Verwundbarkeit – das heisst, die Möglichkeit, verwundet zu werden und somit das Erleben von Unsicherheit in 10 | Die analytische Trennung zwischen Verwundung am Körper und Verwundung durch den Körper steht für die im phänomenologischen Verständnis gezogene Unterscheidung zwischen objektivem Körper und subjektiver Empfindungs- und Erfahrungswelt des Leibs (siehe dazu Merleau-Ponty 1974; Csordas 1999).

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unterschiedlichen Zusammenhängen. Das Schlüsselwort hier ist Risiko. Risikogruppen, Risikofaktoren und Risikoverhalten sind von Experten definierte, epidemiologische und gesundheitspolitische Konzepte, die dazu dienen sollten, die Auswirkungen der Epidemie zu begrenzen (siehe dazu Nichter 2008: 166).11 Dieser Auffassung von Risiko liegen quantitative Erwägungen, teilweise auch mathematische Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu Grunde, die sich auf das messbare Ausmass der Epidemie beziehen. Eine ganz andere Rezeption des Begriffs findet sich in soziologischen Debatten. Wie Ulrich Beck in seinem berühmt gewordenen Werk »Risikogesellschaft« (1986) ausführt, sind Risiko und vor allem Risikobewusstsein Kennzeichen einer spät-modernen Welt, in der die Fähigkeit, Gefahren zu antizipieren, besondere Relevanz erhält.12 Risiken sind Theorien über bestimmte Kausalitätsvermutungen, das heisst: erst das Denken über und das Thematisieren von Gefahren verwandelt diese in Risiken (ebd: 36). Insofern ist zwischen Gefahr und Risiko als einem sozialen Konstrukt zu unterscheiden: Gefahren ist man unterworfen, oft ohne direkte Einflussmöglichkeiten, Risiken indessen geht man ein – es gilt, Alternativen abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Jedoch in den seltensten Fällen ist unser Alltag nur von einem einzigen Risiko gekennzeichnet, meist präsentieren sich mehrere zugleich – durch Medien vermittelte, im Bekanntenkreis erörterte oder selbst fabrizierte Vorstellungen von potentiellen Bedrohungen. Fast jede Situation, jede Begegnung birgt ihre spezifischen Risiken; dies trifft umso mehr zu, wenn ein Geheimnis wie HIV vor folgenschweren Entdeckungen bewahrt werden muss. Was von soziologischer Seite als Eigenheit der Moderne gesehen wird, drängt sich durch das Le11 | Die Definition von Risikogruppen hat in weiten Kreisen heftige Kritik hervorgerufen. Zentral dabei war das Argument, dass diese Festlegung ohnehin schon marginalisierte Gruppen wie Homosexuelle, Prostituierte oder mobile Menschen mit einem weiteren Stigma belegt und so existierende Vorurteile zementiert (siehe dazu u.a. Seidel 1993; Ouattara et al. 2004). 12 | Anthony Giddens (1995; 2003) geht von ähnlichen Überlegungen aus. Auch er begreift Risiko als einen von der Moderne kreierten Begriff, der das verdrängt, was früher als fortuna, als Glück oder Geschick galt (Giddens 1995: 45). Damit, so Giddens, gründet die Definition der Gegenwart nicht mehr nur auf den Erfahrungen der Vergangenheit, sondern die in die Zukunft projizierten Risikoszenarien bestimmen nun aktuelle Entscheidungen. Sehr zu Recht hingegen verwehrt sich Elisio Macamo (2008: 73) gegen die Annahme, dass Risiko ein an die Moderne gebundener Begriff und deshalb als analytische Kategorie für nicht-industrialisierte Gesellschaften irrelevant sei (ebd: 73). Im Gegenteil: Er zeigt anhand einer Untersuchung im südlichen und von Überschwemmungen geschädigten Mozambique, wie es Menschen gelingt, ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten und das Schicksal zu bändigen, dadurch dass sie Gefahren in Risiken umwandeln.

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ben mit einem Geheimnis unwillkürlich auf: ein Alltag, der gekennzeichnet ist durch »hergestellte Unsicherheit« (Giddens 2003: 317). Verschiedenartige Risiken, aus oft kontroversen Logiken konstruiert, greifen ineinander, folgen aufeinander, vermischen sich miteinander, so dass sich daraus eine ständig verändernde Risikolandschaft ergibt: Everyone lives in a complex landscape of relative risk. Everyone … [has] his own unique, personal landscape of risk – you can’t quantify the landscape, as it is in a constant state of flux. What we fear changes with age, personal experience and news from the outside world, and of course all of the elements are shot through with the random effects of fate and chance, the hand of God and notions of destiny. Our fluid, ever-changing landscapes of risk make it difficult to accept inflexible health education messages. (Davison 1991, in Green und Sobo 2000: 39)

Das hier entworfene Bild einer Risikolandschaft schärft den Blick für den situativen und multidimensionalen Charakter von Risiken. Im Zusammenhang mit HIV und antiretroviralen Therapien liegt mein Augenmerk vor allem bei den Risiken, die zu Entdeckung oder Verrat des Geheimnisses führen und damit die soziale Wertschätzung der entsprechenden Person bedrohen.

3.3 R ESILIENZ In den ersten Berichten über Menschen mit Resilienz wurden diese als unverwundbar charakterisiert (siehe dazu Masten 2001: 227). Mittlerweile ist allgemein anerkannt, dass Resilienz keine Eigenschaft und in diesem Sinne auch nicht messbar ist, sondern ein analytisches Konstrukt, das man ganz allgemein gesprochen als positive Antwort auf Vulnerabilität bezeichnen könnte. Der Begriff »Resilienz« (von lateinisch resilire: zurückspringen, abprallen) ist ursprünglich in der Materialkunde beheimatet. Gewisse Materialien werden als resilient bezeichnet, wenn sie unter grossem Druck nicht brechen, sondern sich biegen lassen und danach in ihre anfängliche Position zurückspringen. Diese Fähigkeit zur Adaption in Verbindung mit äusseren Belastungen bildet heute einen Untersuchungsfokus in mehreren Disziplinen. Die längste Forschungserfahrung und damit auch der umfangreichste Korpus an Literatur existiert im Bereich der Entwicklungspsychologie. Beobachtungen in Longitudinalstudien haben ergeben, dass einige Kinder, obwohl sie in problematischen Familienverhältnissen aufgewachsen sind oder schwer traumatisierende Ereignisse hinter sich haben, sich als Erwachsene dennoch erfolgreich in die Gesellschaft integrieren konnten. Anhand dieser Erkenntnisse verlagerte sich der Untersuchungsfokus: Von resilienten Eigenschaften (resiliency) hin zu Fähigkeiten und Prozessen, die Resilienz begünstigen. Heute zielt

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Resilienzforschung im entwicklungspsychologischen Bereich vor allem darauf ab, ein besseres Verständnis über Prozesse und der dabei involvierten Phänomene zu gewinnen, die zu einer positiven Adaption führen (Luthar et al. 2000: 543; Masten 2001: 228). Adaptionsfähigkeit steht ebenfalls im Zentrum von Studien, die sich auf der Systemebene verorten, wie zum Beispiel in Forschungen zu den komplexen Interaktionen sozio-ökologischer Systeme im Rahmen von tief greifenden Veränderungsprozessen. Hier wird Resilienz definiert als die Möglichkeit eines Systems, Störungen zu absorbieren, seine Selbstorganisation zu erhalten und dabei die Adaptionsfähigkeit soweit zu verbessern, dass Funktion und Struktur des Systems weitgehend intakt bleiben (www.resalliance.org; Folke et al. 2002: 7). Auch in einigen medizinethnologischen Publikationen wird der Begriff »Resilienz« öfters verwendet, bildet jedoch weder das Zentrum der Untersuchung, noch ist er mit einer theoretischen Einbettung verbunden (u.a. Mogensen 2002; Obrist 2006a; Nahar 2007). Einen für mein Unterfangen interessanten und hilfreichen Ansatz zur Konzeptualisierung von sozialer Resilienz legt eine Forschergruppe des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institutes vor (Obrist et al. 2010). Obwohl er im Kontext nachhaltiger Entwicklung ausgearbeitet wurde, beinhaltet er sowohl eine Definition wie auch Überlegungen, die sich sehr gut auf HIV und antiretrovirale Therapien übertragen lassen und insofern für meine weiteren Analysen grundlegend sein werden. Im Zentrum dieses neuen Ansatzes steht die Perspektive von Akteuren und – als eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau von Resilienz – deren Zugang zu materiellen wie nichtmateriellen Ressourcen, wie in der Definition ausgeführt wird13:

13 | Ohne hier ausführlicher auf den soziologischen und entwicklungstheoretischen Hintergrund des Konzeptes »soziale Resilienz« eingehen zu können, möchte ich dennoch zwei entscheidende Orientierungen dieses Ansatzes kurz erwähnen. Zum einen handelt sich dabei um die Theorie der Praxis respektive um die Strukturationstheorie (siehe dazu Bourdieu 1976; Giddens 1992), die besagt, dass alle Handlungen, und so natürlich auch diejenigen im Zusammenhang mit Resilienzbildung, von objektiven Strukturen geprägt sind, umgekehrt aber auch strukturierend auf diese zurückwirken. Diese wechselseitige Beeinflussung bestimmt, in welcher Weise sich Prozesse der Selbstorganisation als einer entscheidenden Komponente von Resilienz entfalten können (Obrist et al. 2010). Eine eingehende Darstellung dieser theoretischen Grundlagen soll im nächsten Kapitel erfolgen. Zum anderen kann der Zugang zu Ressourcen und damit auch die Fähigkeit, Resilienz aufzubauen, auf verschiedenen Niveaus unterschiedlich gefördert beziehungsweise behindert werden. Angelehnt an das mehrschichtige Modell zu Sustainable Livelihood (siehe Glavovic et al. 2003) umfasst auch die Analyse von sozialer Resilienz drei Ebenen und deren Verbindungen untereinander: die Haushaltsebene wie auch die intermediäre und nationale Ebene (ebd: 8).

T EIL 1: M ETHODEN UND T HEORIEN We define social resilience as the capacity of actors to access capitals in order to – not only cope with and adjust to adverse conditions (that is, reactive capacity) – but search for and create options (that is, proactive capacity), and thus develop increased competence (that is, positive outcomes) in dealing with a threat. (Ebd: 289)

Aufbauend auf den massgebenden Gedanken dieses Ansatzes möchte ich nun auf drei Aspekte eingehen: auf Resilienz als Folge von Risikohandlungen, dann auf die zeitliche Dimension des Konzeptes und schliesslich auf seinen implizit normativen Anspruch. Die bisherigen Ausführungen sollten klargelegt haben, dass Vulnerabilität und Resilienz zwei sich ergänzende Konzepte im Rahmen eines Risikokontextes sind und dass sie zu einem umfassenden Verständnis der gesamten Situation der betroffenen Akteure beitragen können. Ein Kennzeichen von Risiken ist, wie bereits erwähnt, dass sie Alternativen beinhalten und damit auch Handlungsräume für Akteure eröffnen (Caplan 2000: 23). In diesen Handlungsräumen verortet sich der Aufbau von Resilienz als eine bestimmte Qualität von Risikohandeln. Mein Interesse richtet sich, entsprechend den im letzten Abschnitt diskutierten Risiken, auf die für den Schutz (ex-ante) oder den Aufbau (ex-post) der persönlichen Identität relevanten Handlungen. Der von Obrist und ihren Kollegen vorgestellte Ansatz unterstreicht die proaktiven Fähigkeiten, die Resilienz charakterisieren und fokussiert daher hauptsächlich Handlungen, die über eine blosse Abwehr der aktuellen Gefährdung hinausgehen: »It (resilience, N.S.) refers to pro-active capacities like capabilities to anticipate, change and search for new options« (Obrist et al. 2010: 290). Indem sich Lösungswege an konstruktiven und innovativen Möglichkeiten orientieren, erweitern sie – und sei es auch nur in bescheidenem Masse – das Handlungs- und Kommunikationsrepertoire der jeweiligen Akteure und erschliessen so neue, auf die Zukunft gerichtete Optionen. Ein weiterer Punkt betrifft die zeitliche Dimension des Konzeptes. Da es sich bei Resilienz niemals um einen absoluten Zustand handeln kann, sondern immer um dynamische und offene Prozesse, die sich einer eindeutigen Festlegung entziehen, oszillieren auch Akteure zwischen Vulnerabilität und Resilienz. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt ein Gespräch stattfindet und über welche Zeiträume sich die Untersuchung erstreckt, zeigen sich völlig unterschiedliche Interpretationen. Denkbar wäre auch, dass aus Resilienz Vulnerabilität erwächst und sich so zirkuläre Muster ergeben könnten. Zudem befinden sich HIV-positive Personen häufig in Konstellationen, in denen sich widersprüchliche Logiken kreuzen – soziale, medizinische oder auch juristische – und deren Anforderungen es in den jeweiligen Feldern zu respektieren gilt (siehe Luthar 2000: 548). Insofern besteht der Aufbau von Resilienz im Kontext einer hoch komplexen Risikolandschaft zumeist aus Kombinationen mehrerer Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen, die sich gegenseitig unterstützen, ergän-

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zen und verstärken und die deshalb nur in ihrer Dynamik adäquat zu erfassen sind. Charakteristisch ist auch, dass innerhalb solcher Prozesse Schlüsselsituationen auftreten, die eine besondere Herausforderung darstellen. Risiken können sich auf einen Schlag drastisch erhöhen oder reduzieren und sich somit folgenschwer auf den gesamten Verlauf der Resilienzbildung auswirken – so zum Beispiel bei der Entscheidung, jemanden seinen HIV-Status mitzuteilen. Die Analyse von sozialer Resilienz verlangt also eine dynamische Perspektive, die sowohl eine Kombination proaktiver Handlungsverläufe wie auch einzelne, den Prozess massgeblich formende Wendepunkte einbezieht. Der dritte und letzte Aspekt, auf den ich hier hinsichtlich Resilienz eingehen möchte, betrifft die Frage: Wer definiert eigentlich, was als positive Antwort auf Risikosituationen zu gelten hat und mit welchen Werten verknüpft sich diese Einschätzung? Die mit Resilienz in Verbindung gebrachten Begriffe wie »positiv – erfolgreich – innovativ« weisen auf den normativen Charakter des Konzeptes hin und versehen es mit zweifelhaftem Optimierungszwang. Eine explizite Trennung zwischen den unterschiedlichen Perspektiven – sei es diejenige des Akteurs selbst, der Experten oder auch des Forschenden – hilft, die Ansprüche und die damit verknüpften Bewertungen transparent zu machen. Während in anderen Disziplinen die Frage aufgeworfen wird, welche Perspektive Priorität hat (Luthar 2000: 550; Masten 2001: 228f), konzentriert sich der ethnologische Standpunkt auf die Sicht der einzelnen Akteure. Doch deren Entscheidungen und Handlungen im Hinblick auf Schutz und Aufbau ihrer persönlichen Identität stehen im Spannungsfeld zwischen medizinischen respektive epidemiologischen Erwägungen und ihren eigenen Projekten. So kann Resilienz aus medizinischer Sicht als korrekte Befolgung der ärztlichen Anordnungen bewertet werden, in epidemiologischem Verständnis hingegen als Information des Sexualpartners über die HIV-Infektion und schliesslich aus der persönlichen Perspektive als absolute Geheimhaltung. Insofern verlangt die Untersuchung von Resilienz eine genaue Unterscheidung der Perspektiven respektive der diversen Anforderungen und der dahinter liegenden Werthaltungen. Nachdem ich nun die Verbindung von Stigma, Vulnerabilität und Resilienz mit persönlicher Identität im Kontext von HIV und antiretroviralen Therapien aufgezeigt habe und somit der konzeptionelle Rahmen meiner Analyse abgesteckt ist, will ich im nächsten Kapitel die der Arbeit zu Grunde liegenden theoretischen Ausrichtungen darlegen.

4. Der theoretische Rahmen

Im Zentrum meiner Fragestellung steht das Handeln von Menschen, die vom Risiko bedroht sind, als HIV-infiziert erkannt zu werden und infolgedessen ihren Namen zu verlieren. Insofern orientieren sich viele ihrer Handlungen daran, wie sie soziale Anerkennung schützen, stabilisieren oder eventuell sogar neu gewinnen können. Für die theoretische Einbettung bedeutet dies, dass ein Rahmen gefunden werden muss, der sich gleichermassen mit den Konzepten Vulnerabilität und Resilienz verknüpfen lässt, wie auch der Komplexität des Handelns im Kontext von Geheimniswahrung und sozialer Anerkennung gerecht werden kann. Ich habe mich dazu entschieden, zwei zunächst sehr konträr wirkende Gedankengebäude miteinander zu verbinden: diejenigen von Pierre Bourdieu und Erving Goffman. Obwohl sich beide Autoren mit Anerkennungsphänomenen auseinandersetzen – wenn auch aus gänzlich unterschiedlichen Perspektiven –, waren es keine theoretisch-abstrakten Überlegungen, die mich zu dieser Kombination veranlasst haben, sondern die im Laufe der Feldforschungen entstandenen empirischen Erkenntnisse. Während den ersten Forschungsphasen konzentrierte sich meine theoretische Orientierung ausschliesslich auf Bourdieus Ansatz; er kann erklären, wie Anerkennung vermittels Investitionen in bestimmten Bereichen produziert wird, welche Transformationen dabei im Spiel sind und welche Gewinne sich daraus ziehen lassen. Allerdings zeigte sich bald, dass die Bemühungen von HIV-positiven Personen ein weitaus breiteres Spektrum an Handlungen und Interaktionen umfassen als Bourdieu in seinen Darstellungen behandelt. Sie sind in vielen alltäglichen Situationen mit der Aufgabe konfrontiert, die Diskrepanz zwischen zwei unterschiedlichen Identitätsvorstellungen zu meistern – zwischen dem, was sie für andere sein wollen (persönliche Identität) und dem, wie sie sich selbst empfinden (Ich-Identität). Mit anderen Worten: das Spiel mit Sein und Schein in all seinen Facetten ist für sie besonders relevant, um die Kluft zwischen den beiden Identitäten zu überbrücken. Konkret bedeutet dies, sich selbst in den verschiedensten Situationen als anerkennungswürdige und sozial wertvolle Person darzustellen. Es sind also Handlungen, die stark in kommunikativen und repräsentativen Techniken verankert sind und die nicht allein mit Bourdieus Ansatz fassbar gemacht werden

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können. Dafür bedarf es Goffmans Vokabular, denn soziale Anerkennung wird nicht nur hergestellt, sondern vor allem auch dargestellt: Ein Status, eine Stellung, eine soziale Position ist nicht etwas Materielles, das in Besitz genommen und dann zur Schau gestellt werden kann; es ist ein Modell kohärenten, ausgeschmückten und klar artikulierten Verhaltens. Ob es nun geschickt oder ungeschickt, bewusst oder unbewusst, trügerisch oder in gutem Glauben dargestellt wird, auf jeden Fall ist es etwas, das gespielt und dargestellt werden, etwas, das realisiert werden muss. (Goffman 2003: 70)

Beide Aspekte, Herstellung wie Darstellung, sind für die Bildung von sozialer Resilienz im Zusammenhang von HIV und antiretroviralen Therapien wichtige Komponenten. Insofern verspreche ich mir, dass aus der Verbindung der beiden Theorien, mit Bourdieus Praxis Ansatz und Goffmans dramaturgischem Ansatz, eine Vertiefung des analytischen Instrumentariums entsteht. Nach dem Einstieg in die Grundzüge der jeweiligen Theorie, werde ich die für die Analyse meiner Daten entscheidenden Konzepte herausarbeiten, um dann – im letzten Abschnitt – die beiden Ansätze zusammenzuführen und ihre gemeinsamen Bezugspunkte zu verdeutlichen.

4.1 D ER P R A XIS -A NSAT Z VON B OURDIEU Jede Auseinandersetzung mit sozialem Handeln stellt die Frage nach dessen Bedingungen und leitenden Prinzipien, nach individuellen Freiheiten und gesellschaftlichen Strukturen. Soziologen wie auch Ethnologen beantworteten sie lange Zeit, indem sie entweder auf objektive Strukturen blickten, in denen sich Handelnde wie fremdbestimmt bewegten oder ihnen subjektive Freiheiten zusprachen, die oft illusorisch waren. Zwischen diesen beiden bisher als inkompatibel angesehenen Strömungen wählt Bourdieu einen eigenen und aus wissenschaftlicher Sicht revolutionären Weg, indem er, wie er sagt, den »unheilvollsten« aller Gegensätze, denjenigen zwischen Objektivismus und Subjektivismus, zu überwinden sucht (Bourdieu 1992: 137). Dieses Bemühen kennzeichnet sein ganzes Werk und findet sich in allen von ihm entwickelten Konzepten wieder. Im Zentrum seiner Überlegungen steht der praktisch handelnde Alltagsmensch, der weder als ein von sozialen Zwängen gesteuertes Objekt, noch als völlig autonomes Subjekt auftritt, sondern aus der Verknüpfung der beiden Perspektiven hervorgeht – ein innen- wie auch aussengeleiteter Akteur, dessen Handlungen Ausdruck gesellschaftlicher Bedingungen wie individueller Entscheidungen sind. Aus der Verbindung der beiden Erkenntnisweisen – aus Subjektivismus, der sich ausschliesslich auf subjektive Gegebenheiten bezieht und

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aus Objektivismus, der das Subjekt ausklammert – resultiert eine dritte Form, die Bourdieu als praxeologisch oder schlicht als »Praxis« bezeichnet (Bourdieu 1987:49f). Ausgangspunkt von Bourdieus theoretischem Ansatz bilden ethnologische Studien, die er in den späten 1950er Jahren bei den Kabylen im Norden Algeriens durchführte. Dabei fällt ihm auf, wie wenig sich das strukturalistische Denkmodell dazu eignet, gewisse Handlungen wie zum Beispiel die Wahl von Heiratspartnern zu erklären, da diese sich nur teilweise, aber nie ausschliesslich nach der abstrakten Regel der Kreuzkusinenheirat richten, sondern auch nach eigenen, anders gelagerten Interessen. Eine Theorie hingegen sollte, so der Anspruch Bourdieus, beide Möglichkeiten, Ablehnung wie Befolgung der Regel, reflektieren. Mit seiner »Theorie der Praxis« (Bourdieu 1976), die im Grunde eine »Theorie des Erzeugungsmodus der Praxis« (ebd: 164) ist, gelingt ihm ein empirisch abgestützter Blick auf Akteure und deren Handeln. Während in diesem ersten theoretischen Entwurf das Ringen um die neue Perspektive noch deutlich spürbar ist, hat sich dieser Ansatz heute, auch durch den Einfluss von Giddens Strukturationstheorie (1995), in sozialwissenschaftlichen Disziplinen weitgehend durchgesetzt und ist eher zu einer Frage der Gewichtung zwischen Struktur und Handlungsfreiheit geworden. Der Schwerpunkt meiner Untersuchung liegt aufgrund der Datenbasis mehr bei den einzelnen Akteuren, wobei keinesfalls vernachlässigt wird, dass soziale Bedingungen wie gesellschaftliche Diskurse und Ordnungen ihr Handeln massgeblich prägen. Bourdieus gesamte Theoriebildung zeichnet sich durch grosse Nähe zur Empirie aus. So sind die meisten seiner Grundbegriffe aus empirischen Beobachtungen hervorgegangen und auch für die empirische Anwendung konzipiert. Das hat zur Konsequenz, dass viele Begriffsklärungen nicht in einer einzigen Publikation ausformuliert sind, sondern sich erst im Laufe seines Gesamtwerkes erschliessen. Diese Vorgehensweise rief bei etlichen seiner Kollegen Kritik hervor: die Definitionen seien uneinheitlich und ohne theoretische Abstützung (siehe dazu Rehbein 2006: 79). Bourdieu selbst hingegen sah im Gebrauch von offenen Begriffen ein Mittel, mit dem Positivismus zu brechen oder genauer: »daran zu erinnern, dass die Begriffe keine andere als eine systemische Definition haben und für die systematische empirische Anwendung gebildet wurden« (kursiv im Original, N.S.; Bourdieu 1996: 125). Doch in dieser explizit »handwerklichen« Ausrichtung liegen auch Chancen (Fuchs-Heinritz 2005: 9f). Innerhalb meiner Analyse werde ich prüfen, inwieweit sich Bourdieus Instrumentarium auf den Kontext von HIV und antiretroviralen Therapien in Mali übertragen lässt und es ferner dazu verhilft, sozialwissenschaftliche Debatten um Vulnerabilität und Resilienz zu verfeinern. Zunächst lässt sich der zentrale Aspekt von Resilienz – der Zugang zu Ressourcen, um neue Optionen zu erschliessen – mit Bourdieus Kapitaltheorie

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gut erfassen. Hierbei steht der dynamische Umgang mit Ressourcen und besonders deren Konvertierbarkeit und Kombinierbarkeit im Zentrum des Interessens. Doch eine isolierte Betrachtung der Kapitalformen, losgelöst von anderen, mit ihnen in enger Verbindung zu denkenden Begriffen, bringt wenig Aufschluss. Deshalb werde ich die Gelegenheit nutzen und zugleich auch zwei andere Konzepte, soziales Feld und Habitus, die in der weiteren Arbeit ebenfalls eine wichtige Stellung einnehmen, in ihren Grundzügen vorstellen.

4.2 K APITALTR ANSFORMATIONEN Bourdieu stellt die soziale Welt als einen mehrdimensionalen Raum dar, der sich in verschiedene Teilräume, in so genannte soziale Felder aufgliedert (Bourdieu 1985: 9f). Innerhalb dieser Felder besetzen die einzelnen Akteure aufgrund ihrer Ressourcen bestimmte Positionen und befinden sich daher in einem Konkurrenzverhältnis zu anderen Akteuren. Ihr hauptsächliches Interesse zielt darauf ab, ihre soziale Position zu verbessern oder zumindest halten zu können. Dafür setzen sie alles ein, was ihnen zur Verfügung steht und in diesem speziellen Feld als besonders wertvoll angesehen wird. Mit dieser Sicht zeigt Bourdieu, dass sowohl Interessen wie Ressourcen feldspezifisch definiert sind und nicht allein einer ökonomischen Logik gehorchen: Gleiche Ressourcen entfalten nicht in allen Feldern gleiche Wirkungen. So kann zum Beispiel im Feld von AIDS, wie ich später noch ausführlich zeigen werde, HIV-Positivität als eine durchaus nützliche Ressource gelten, sich im Feld der Politik hingegen als Handicap erweisen. Als elementare Ressourcen unterscheidet Bourdieu vier Formen von Kapital: ökonomisches, kulturelles, soziales und symbolisches Kapital (Bourdieu 1985: 10).14 Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie akkumulierte Arbeit und somit mit »sozialer Energie« geladen sind, die aus- und umgetauscht werden kann (Bourdieu 1983: 183). Primär und am einfachsten fassbar ist das ökonomische Kapital – es ist »unmittelbar und direkt in Geld konvertierbar« (ebd: 185). Kulturelles Kapital kann sich in drei unterschiedlichen Aggregatzuständen realisieren: als inkorporiertes Kulturkapital, das man sich über Bildung und Erzie14 | Den Begriff »Kapital« wählte Bourdieu nicht als Ausdruck einer ökonomisch geprägten Sichtweise, sondern in expliziter Abgrenzung von und als Kritik an dieser Perspektive. Seiner Ansicht nach unterstellt der wirtschaftswissenschaftliche Begriff allen anderen Austauschverhältnissen eine Interesselosigkeit, weil er diese als uneigennützig begreift, obwohl es dabei ebenfalls um seltene und wertvolle Güter geht, »… um ›schöne Worte‹ oder ein Lächeln, um einen Händedruck oder ein Achselzucken, um Komplimente oder Aufmerksamkeiten, Herausforderungen oder Beleidigungen, um die Ehre oder um Ehrenämter« (Bourdieu 1976: 345).

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hung einverleibt, als objektiviertes Kulturkapital in Form von Besitz materieller Gegenstände wie Kunstwerke, Instrumente oder Maschinen und schliesslich in der institutionalisierten Form von Titeln (ebd: 185f). Die dritte Form, das Sozialkapital, beschreibt Bourdieu als alle »aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen« (ebd: 109f, kursiv im Original, N.S.). Um diese Art von Kapital zu gewinnen, ist allerdings permanente Beziehungsarbeit notwendig und das erfordert neben Zeitaufwand auch den Einsatz von ökonomischem Kapital. Die vierte und letzte Form, das symbolische Kapital, ist von Bourdieu am wenigsten konzeptualisiert, spielt jedoch im Kontext von HIV und antiretroviralen Therapien die entscheidende Rolle. Dabei handelt es sich nicht um eine wirklich eigenständige Kapitalsorte, denn sie tritt ausschliesslich als Begleiterscheinung der drei anderen auf respektive leitet sich von ihnen ab. Bourdieu umschreibt symbolisches Kapital, von dessen Logik noch an mehreren Stellen in dieser Arbeit die Rede sein wird, sehr variabel als Anerkennung, Wertschätzung oder auch Ehre; in jedem Falle aber fungiert es als eine Art Kredit, den die Gesellschaft seinen Besitzern ausstellt. Hier ist wichtig festzuhalten, dass diese vier elementaren Kapitalsorten – wie auch noch einige andere von Bourdieu nur punktuell eingeführten Formen – untereinander konvertierbar sind. Selbst wenn diese Umwandlungen in den seltensten Fällen direkt vonstatten gehen, sondern Umwege und Wartezeiten bedingen, das heisst mit so genannten »Transformationsarbeiten« (ebd: 195) verbunden sind, so liefert Bourdieus Kapitalverständnis einen hilfreichen, weil durchwegs dynamischen theoretischen Ansatz. Denn die Eigenarten der ganz unterschiedlichen Wege, die HIV-positive Personen beschreiten, um soziale Anerkennung zu bewahren oder wieder zu gewinnen, sind nur in ihrer Prozesshaftigkeit zu verstehen – sie bauen aufeinander auf, ergänzen sich, verlaufen teilweise parallel und erhalten ihren Sinn erst durch eine dynamische und umfassende Perspektive.

4.3 D ER S INN FÜR DAS S PIEL An das Konzept des sozialen Feldes schliesst sich direkt das Kernstück der Theorie der Praxis an: das Habituskonzept (von lateinisch habitus: Anlage, Haltung, Erscheinungsbild, Gewohnheit, Lebensweise; Schwingel 1998: 54). Es bringt, rein formal gesehen, die Synthese zwischen objektiver Bestimmung und subjektivem Willen am deutlichsten zum Ausdruck und liefert eine Erklärung, wie soziale Praxis zustande kommt. In Anlehnung an Leibniz vertritt Bourdieu die Ansicht, dass wir in »Dreiviertel unserer Handlungen Automaten sind«

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(Bourdieu 1982: 740) und nur in seltenen Fällen bewusst15 und kalkulierend vorgehen. Mit dieser Anschauung distanziert er sich klar von den Vorstellungen der Rational-Choice-Theory, die soziales Handeln als Resultat von kalkulierenden Kosten-Nutzen-Entscheidungen begreift. Ausgehend von der Frage »Wie können Verhaltensweisen geregelt sein, ohne dass ihnen eine Befolgung von Regeln zugrunde liegt?« stellt Bourdieu mit dem Konzept des Habitus ein handlungsgenerierendes Prinzip vor, das zwar Verhaltensweisen regelt und somit der Praxis eine gewisse Konstanz verleiht, sie aber auch von rationalen Anstrengungen entlastet (Krais und Gebauer 2002: 26; Rehbein 2006: 86). Bourdieu erklärt den Habitus als System von einverleibten Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, welche als Dispositionen die verschiedensten Praxisformen erzeugen. Ausschlaggebend für die Konstitution des Habitus ist der Vorgang der Einverleibung: Muster von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen werden in einem bestimmten sozialen Umfeld eingeübt, schreiben sich in den Leib ein und sorgen so für eine gewisse Regelmässigkeit und Angemessenheit des Handelns. Als das in den Körper eingegangene Soziale ist der Habitus also das Produkt der Geschichte eines Feldes und von dessen normativen Grundsätzen gekennzeichnet. Daher besteht zwischen Habitus und Feld eine tief verwurzelte »Komplizenschaft« (Bourdieu 1985: 75) – das heisst, Akteure, die in ein bestimmtes Feld hineingeboren werden, sind mit dessen Spielregeln so vertraut, dass sie sich nur ihrer zweiten Natur, dem Habitus, überlassen müssen, um das zu tun, was getan werden muss. Diese für den Habitus typische präreflexive Orientierung legt die Grundlage dessen, was Bourdieu als den »praktischen Sinn« oder auch als »Sinn für das Spiel« bezeichnet:16 Der Habitus ist jener Praxissinn, der einem sagt, was in einer bestimmten Situation zu tun ist – im Sport nennt man das ein Gespür für das Spiel, nämlich die Kunst, den zukünftigen Verlauf des Spiels, der sich im gegenwärtigen Stand des Spiels bereits abzeichnet, zu antizipieren (Bourdieu 1998: 41f). 15 | Bourdieu verwendet die beiden Begriffe »bewusst – unbewusst« in anderem Sinne als dies die Psychoanalyse tut. Für ihn steht Unbewusstheit im Gegensatz zum intentionalen Charakter von Handlungen (Rehbein 2006: 91). 16 | Bourdieu greift öfters, um die Logik von Praktiken, vor allem aber um allgemeine Mechanismen, die ein Feld bestimmen, zu verdeutlichen, auf die Analogie mit Spielen zurück (siehe u.a.: Bourdieu 1993: 109; 1996: 127). Dabei zeigt er besondere Vorliebe für Mannschaftssportarten wie Rugby oder Fussball, womit allerdings nicht behauptet werden soll, dass der soziale Kosmos rein spielerischer Natur sei – im Gegenteil: Er ist vor allen Dingen ein Ort der Konkurrenz, wo Akteure um materielle wie symbolische Gewinne kämpfen (Bourdieu 1976: 357). Ausserdem sind im Unterschied zum Spiel die Regeln eines Feldes nicht von vornherein festgelegt, sondern befinden sich in einem Aushandlungsprozess, insofern dass die Praktiken der Akteure die Feldregeln ständig modifizieren (Fuchs-Heinritz und König 2005: 149).

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Dementsprechend positioniert sich ein guter Rugbyspieler auch nie dort, wo sich der Ball aktuell befindet, sondern vielmehr dort, wo er landen wird, ohne deswegen lange Berechnungen vornehmen zu müssen (Bourdieu 1998a: 24). Denn ein erfolgreicher Spieler befolgt nicht pedantisch genau die geltenden Regeln, sondern erkennt intuitiv, was das Spiel von ihm verlangt, wo seine Chancen liegen und welche Taktiken oder Kniffe er anwenden muss, um sowohl den Regeln zu genügen, wie auch ihren Spielraum zu seinen Gunsten so weit wie möglich auszudehnen. Er kann – unbewusst und leiblich – den unendlich unterschiedlichen Situationen mit Schlagfertigkeit und Erfindungsgeist begegnen, ohne aber sein Handeln deswegen rational begründen zu können. Allgemein gesagt hilft der Spielsinn, sich im sozialen Leben und in speziellen sozialen Feldern ohne Absicht und Berechnung zu finden. Er bietet ein Reservoir an Möglichkeiten, das erlaubt, Situationen mitsamt ihren Optionen und Alternativen spontan zu erfassen und entsprechende Strategien17 zu generieren, »die den objektiven Interessen ihrer Urheber entsprechen, ohne ausdrücklich auf diesen Zweck ausgerichtet zu sein« (Bourdieu 1993: 113). Eine Voraussetzung, damit der Spielsinn sein gesamtes Potential entfalten kann, ist die Übereinstimmung zwischen Habitus und Feld, die nicht zu jeder Zeit und nicht für alle Situationen gegeben ist. In Krisen- oder Umbruchsituationen zum Beispiel, die durch das Auseinandertreten von Feld und Habitus gekennzeichnet sind, werden die inkorporierten Wahrnehmungs- und Denkschemata in Frage gestellt und andere, nicht habituelle Handlungsweisen kommen zum Zuge. Anstelle der präreflexiven Qualitäten treten dann »reflektierende Chancenabwägungen« (Schwingel 74f). Da es sich bei HIV/AIDS und dessen Stigma um eine relativ neue Erfahrung handelt, stellt sich die Frage, die allerdings nur bis zu einem gewissen Grad durch die Analyse von konkreten Situationen beantwortet werden kann, in welchen Risikosituationen HIV-positive Personen überhaupt auf habituelle Handlungsmuster zurückgreifen können 17 | Kritische Einwände wurden natürlich, gerade in Anbetracht von Bourdieus wiederholt betonter Abneigung gegenüber rationalen Handlungstheorien, gegen die stark intentional gefärbten Begriffe wie »Strategie« oder »Interesse« erhoben. Seine Argumentation, die ich hier vor allem auch deshalb benenne, damit meine an die Bourdieuschen Terminologie angelehnte Verwendung der Begriffe im Laufe der weiteren Arbeit nicht unnötige Fragen aufwirft, stützt sich auf die Verbundenheit zwischen Habitus und Feld. So versteht Bourdieu unter »Strategie« keinen rational kalkulierten Handlungsplan, sondern Praktiken, die sich auf der Grundlage von Habitus-Dispositionen selbstverständlich und ohne Kalkül ergeben und vielmehr die »unüberlegte Rationalität des Handelns« belegen (Fuchs-Heinritz und König 2005: 172). Ebenso ist zwar jede Handlung interessengeleitet, ohne dass aber die Interessen kalkulativen Erwägungen entspringen, sondern subjektiv so gehandelt wird, weil es den objektiven Feldbedingungen entspricht, das heisst dem, was im jeweiligen Feld als besonders bedeutend gilt.

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oder ob sie sich veranlasst sehen, diese zu überprüfen und neue Fähigkeiten zu entwickeln. Des Weiteren wirft das zirkuläre Verhältnis zwischen Habitus und Feld, das heisst der Kreislauf der Reproduktion innerer und äusserer Strukturen, die Frage auf, über welche Handlungsfreiheiten Akteure denn noch verfügen in Anbetracht dieser relativ statischen Gesellschaftskonzeption. Es ist hier nicht möglich, auf alle Aspekte des so genannten »Determinismusvorwurfs« und seine langen Debatten einzugehen (siehe dazu Schwingel 1998: 63; Fuchs-Heinritz und König 2005: 130f; Fröhlich und Rehbein 2009: 115f). Bourdieus Hauptargument seiner Verteidigung zielt vor allem darauf ab, dass der Habitus zwar die Art und Weise, wie Praktiken ausgeführt werden, bestimmt, nicht aber die Praktiken selbst. Insofern ist der Habitus nicht starr, legt aber die Grenzen der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten der Akteure fest, innerhalb derer aber Raum für Variationen und Innovationen gegeben ist.

4.4 G OFFMANS DR AMATURGISCHER A NSAT Z In seinem Nachruf auf Erving Goffman würdigte ihn Bourdieu als »Entdecker des unendlichen Kleinen«, dessen Blick sensibilisiert war: … to grasp […] the most fleeting and elusive, and very often the most decisive, aspects of social existence, such as the furtive strategies that are engaged in the most banal and therefore least observed moments of ordinary life. (Bourdieu 2000: 3)

Tatsächlich richtete sich Goffmans Interesse darauf, mit minuziöser Beobachtungsgabe all die dunklen Nischen und geheimen Techniken unserer alltäglichen Selbstdarstellungen auszuleuchten, sie damit in ihrer Künstlichkeit blosszulegen und ihres Glanzes zu berauben. Genau wie Bourdieu war auch Goffman ein Gegner von wirklichkeitsfernen Theoriebildungen; seine Erkenntnisse beruhen durchwegs auf persönlichen Beobachtungen in den kleinen Welten von Tankstellen, psychiatrischen Institutionen, Kasinos, Nachtclubs oder Pensionen (Lenz 1991: 50f). Das Fundament seiner theoretischen Überlegungen bildet die Studie über Kommunikationsverhalten auf den Shetlandinseln (Communication Conduct in a Island Community, 1953, unveröffentlichte Dissertation); ferner die beiden Feldforschungen, die Goffman im St. Elizabeth’s Hospital in Bethesda, Maryland durchführte. Aus diesen Feldforschungen sind die für meine Thematik entscheidenden Werke »The Presentation of Self in Everyday Life« (1959) und »Stigma« (1963) hervorgegangen (Raab 2008: 127). Im Zentrum von Goffmans Analysen stehen soziale Situationen und das Selbst, ausserdem – in einem übergeordneten Sinne – die Prinzipien der Interaktionsordnung. Eine soziale Situation liegt vor, sobald sich Menschen unmit-

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telbar gegenübertreten, sei dies innerhalb einer Warteschlange am Fahrkartenschalter (nicht-zentrierte Begegnung) oder bei sozialen Anlässen wie einer Geburtstagsfeier (zentrierte Begegnung; Goffman 1973 in Hettlage 1999: 192). Grundsätzlich, davon geht Goffman aus, haben alle Beteiligten ein vitales Interesse daran, dass Situationen gelingen und keine offenen Konflikte auftreten. Dementsprechend werden sie sich auch bemühen, ihre Blicke, Gesten und sprachlichen Äusserungen zu kontrollieren und sich auf eine gemeinsame Definition der Situation zu einigen, einen so genannten »Arbeitskonsensus« zu finden (Goffman 1971: 17; 2003: 13). Alles, was sich im Rahmen von Situationen abspielen wird, hat direkte Auswirkungen auf das, was Goffman als das höchst verletzbare Selbst der Handelnden begreift (Raab 2008: 61). Insofern beinhalten Situationen immer ein gewisses Risikopotential, da Kränkungen oder Beschädigungen des Selbst nicht auszuschliessen sind. Dazu braucht es keine bewusst geführten verbalen Attacken, schon ein kurzer Blick auf die Uhr oder ein unterdrücktes Gähnen kann genügen, um als Zeichen von Missachtung gelesen zu werden. Diese grundlegende Offenheit sozialer Situationen und die Aussicht, jederzeit mit noch so geringfügiger Diskreditierung rechnen zu müssen, versetzt Beteiligte in einen Zustand erhöhter Alarmbereitschaft. Ronald Hitzler (1992), der sich mit dem Menschenbild in Goffmans Schriften auseinander setzt, charakterisiert den »Goffmensch« als ein grundsätzlich verunsichertes Wesen, das andauernd mit Fragen wie »Was kommt denn nun wieder auf mich zu? Was ist hier eigentlich wieder los? Was mach ich da jetzt wieder draus?« (ebd: 451) konfrontiert ist. Nichts tut der Goffmensch mit problemloser Selbstverständlichkeit, überall wittert er Schwierigkeiten und andere gelten ihm prinzipiell als »trouble makers« (ebd: 451). Eine ähnliche Wahrnehmung von Situationen und ihren Beteiligten kennzeichnet auch die Erfahrungen HIV-positiver Personen. Dadurch dass sie ein besonders diskreditierendes Geheimnis zu wahren haben, empfinden sie Begegnungen mit anderen häufig als Prüfungssituationen, in denen sie sich geschickt und schlagfertig zeigen müssen. Die Angst, auf zudringliche Fragen keine Antworten zu finden, in bewusst gestellte »Fallen« zu laufen, deren einziges Ziel es ist, sie im Beisein anderer als Person zu verunglimpfen und ihnen die »Maske« vom Gesicht zu reissen, nimmt in den Vorstellungen von Betroffenen grossen Raum ein. Andererseits beinhalten Situationen nicht nur Gefahrenquellen, sondern sie bieten auch Gelegenheit, ein Selbst in Zusammenarbeit mit anderen Anwesenden zu gestalten und es dabei ins beste Licht zu setzen. Goffmans Ausgangspunkt zu seinem dramaturgischen Ansatz bildet die Fähigkeit von Menschen, sich durch die Augen der anderen zu sehen, über eigene Wirkungen zu reflektieren und diese Wirkungen beeinflussen zu wollen – gleichzeitig aber auch zu wissen, dass die anderen genau dieselben Absichten verfolgen. Aus dieser Perspektive betrachtet, rücken die unterschiedlichen Mittel und Möglichkeiten der Selbstdarstellung als eine Form von sozialem Handeln in den Fokus

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der Aufmerksamkeit. Goffman greift dabei auf die Metapher und Terminologie des Theaters zurück; je nach szenischer Vorgabe befinden sich die Anwesenden in den Rollen von Hauptdarstellern, Ensemblemitgliedern oder Zuschauern wieder, sind ausgestattet mit Kostüm und Maske, passenden Requisiten und inszenieren sich selbst auf den Vorderbühnen alltäglicher Begegnungen. Der Mensch, so Goffmans Überzeugung, kann nicht anders, er muss Inszenierungen vornehmen, wenn er sich der Welt verstehbar machen will (siehe Hitzler 1992: 453).18 Natürlicherweise liegt es im Interesse jedes Beteiligten, offiziell anerkannte Werte zu verkörpern, das heisst, sich selbst idealisiert als eine wertvolle und moralisch integre Person zu präsentieren (Goffman 2003: 35). Indessen kann das entworfene Selbstbild erst dann als Selbst fungieren, wenn es die Bestätigung der Anwesenden erhält. Sein Wesen und Wert entsteht allein in sozialen Situationen, in ihnen wird es aufgebaut, modifiziert oder zerstört und ist somit das Produkt einer gemeinsamen Arbeit (siehe Goffman 1971: 94). Goffman spricht an vielen Stellen vom »heiligen Selbst« oder auch vom »heiligen Spiel«, davon ausgehend, dass in der urbanisierten und säkularisierten Welt dem Individuum eine Art Heiligkeit zugesprochen wird, das umhüllt von einer Aura der Unantastbarkeit, durch rituelle Handlungen wie Takt und Ehrerbietung gewürdigt werden will (siehe ebd: 54, 100).19 Welche dramaturgischen Aufgaben mit dem Aufbau eines glaubwürdigen und sozial anerkannten Selbst verbunden sind und welche Techniken der Darstellung dabei zur Anwendung kommen, formuliert Goffman im Zusammenhang mit Identitätsmanagement.

18 | Goffman verwendet bereits in einem frühen Aufsatz die Theater-Metapher; dort führt er aus, dass die Person eine Maske ist, und alles, was sich dahinter noch verbergen mag, nicht zum gesellschaftlichen Leben gehöre (Person von lateinisch persona: Maske; siehe Knoblauch 2000: 163). Auf den letzten Seiten seines Buches »Wir alle spielen Theater« jedoch formuliert er seine Bedenken gegenüber den begrifflichen Analogien mit der Theaterwelt; die Behauptung, die ganze Welt ist eine Bühne, sei zu abgegriffen und dürfe nicht allzu ernst genommen werden. Er selbst verwende sie hauptsächlich als »rhetorisches Manöver«, um die Struktur sozialer Begegnungen zu verdeutlichen (Goffman 2003: 232f). 19 | Der dramaturgische Blick auf Menschen hat nicht nur Zustimmung geerntet, sondern auch heftige Kritik hervorgerufen: Goffmans Auffassung von Menschen als Schauspieler mache aus ihnen sich selbst entfremdete Geisteskranke (Messinger et al. 2000: 218) und reduziere sie auf einen einzigen Lebens-Aspekt, auf den des zynischen Verstellers und Betrügers (MacIntyre 2000: 335). Wie sehr diese Vorwürfe auf einem grundlegenden Missverständnis der Goffmanschen Theorie beruhen, ist bei Lenz (1991: 46) und Hitzler (1992: 450) erläutert.

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4.5 I DENTITÄTSMANAGEMENT Resilienzbildende Prozesse im Kontext von HIV und antiretroviralen Therapien, verstanden als Schutz und Aufbau sozialer Anerkennung, beinhalten neben Kapitaltransformationen ebenfalls Aspekte dramaturgischen Handelns. Sie beziehen sich auf die Gestaltung der persönlichen Identität. Während Goffman in seinen früheren Schriften das Selbst als zweigeteilt, als Darsteller wie auch als Bild oder Rolle behandelt (Goffman 2003: 230; 1955: 225), entwickelt er in »Stigma« eine dreiteilige Typologie des Identitätsbegriffs (siehe Kapitel 3.1). Bemühungen, diskreditierende Informationen zu verbergen oder überhaupt Informationen zu kontrollieren, bilden Teil der persönlichen Identität, die, obgleich ein Resultat von Fremdzuschreibungen, dennoch von ihren Besitzern mitgestaltet wird (Goffman 1975: 84f, 133). Innerhalb sozialer Situationen inszenieren Darsteller Identität, indem sie bestimmte Eindrücke von sich zu vermitteln suchen und damit die Art und Weise, wie sie von anderen wahrgenommen werden, beeinflussen. Insofern sind sie am Konstitutionsprozess ihrer persönlichen Identität wesentlich beteiligt – manchmal mehr, manchmal weniger erfolgreich: Eine richtig inszenierte und gespielte Szene veranlasst das Publikum, der dargestellten Rolle ein Selbst zuzuschreiben, aber dieses zugeschriebene Selbst ist ein Produkt einer erfolgreichen Szene, und nicht ihre Ursache. Das Selbst als dargestellte Rolle ist also kein organisches Ding, das einen spezifischen Ort hat und dessen Schicksal es ist, geboren zu werden, zu reifen und zu sterben; es ist eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten Szene entfaltet, und der springende Punkt, die entscheidende Frage, ist, ob es glaubwürdig oder unglaubwürdig ist. (Goffman 2003: 231)

Die anspruchsvollste Aufgabe von Darstellern besteht also darin, Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Konkret bedeutet dies, sie müssen die unterschiedlichen Informationen, die von Seiten des Publikums wie von ihnen selbst in eine Szene einfliessen, kontrollieren. Dabei kann es sich um frühere oder aktuelle, um direkt formulierte oder unbeabsichtigt vermittelte Informationen handeln; wichtig ist allein, beim Publikum einen kohärenten Eindruck zu hinterlassen. Die oberste und kritischste Kategorie von Informationen bildet für HIV-positive Personen die Frage, wem sie ihre Krankheit mitteilen und wem sie sie besser verschweigen sollten (siehe dazu Goffman 1975: 116f). In den meisten alltäglichen Situationen hingegen geht es eher darum, ein überzeugendes »Normalitätsschauspiel«, manchmal auch mit Tendenz zur Überangepasstheit, zu etablieren, so dass frühere Verdächtigungen oder momentane Vermutungen hinsichtlich HIV/AIDS an Plausibilität verlieren. Wie weit indessen der Bogen der szenischen Erfindungen gespannt werden kann, ohne dabei unglaubwürdig zu werden, welche Gesten als aufgesetzt, welche Beteuerungen als zu dick

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aufgetragen wirken und welche wichtigen Informationen am besten als gedankenlose Unabsichtlichkeiten getarnt werden, ist allein den Spielern und ihren Talenten anheim gestellt. Goffman widmet sich mit grosser Liebe zum Detail einem ganzen Arsenal von Techniken, die Protagonisten zu einer überzeugenden Vorstellung verhelfen können. Nichts, so seine Einsicht, soll zum Zeitpunkt der Aufführung dem Zufall überlassen sein – angefangen bei der Beherrschung des Textes, der eigenen Gefühle und der Mimik bis hin zur Auswahl einer stimmigen Kulisse und eines idealen Publikums (Goffman 2003: 196f). Nur wer seine Rolle bis ins letzte Detail beherrscht, wird in der Lage sein, sie auch bei unvorhergesehenen Zwischenfällen beizubehalten. Obschon die Ansprüche, die Goffman an die »dramaturgische Disziplin« (ebd: 196) der Akteure stellt, hoch sind, begreift er ihre Strategien nicht als bewusst kalkulierende Handlungen, sondern als auf altbewährten und oft eingeübten Schemata beruhend (und weisen damit einen Nähe zum Habitus Konzept von Bourdieu auf): Ob man sich nun der vollen Konsequenzen der Handlungen zur Wahrung des Images bewusst ist oder nicht, oft werden sie zu habituellen oder standardisierten Handlungen; sie sind wie traditionelle Züge in einem Spiel oder traditionelle Schritte in einem Tanz. (Goffman 1971: 18)

Für HIV-positive Personen ist die Diskrepanz zwischen dem, was sie zu sein scheinen und dem, was sie sind, besonders ausgeprägt. Dementsprechend sind auch die Anforderungen an ihre darstellerischen Fähigkeiten um einiges höher als bei Personen, die kein zutiefst diskreditierendes Geheimnis zu verbergen haben. Denn das zentrale Drama des sozialen Lebens ist Blossstellung, erklärt Goffman. Nie ist der Gesichtsverlust so verheerend, nie eine Situation so verhängnisvoll, wie wenn Informationen über den sozialen Wert einer Person ans Licht kommen, die nicht mit dem von ihr entworfenen Bild übereinstimmen – und auch nicht glaubhaft zu entkräften sind. Dementsprechend wichtig ist für HIV-positive Personen auch die »Arbeit an einem Bild für die Augen anderer« (ebd: 87). Dabei steht das Bedürfnis, ihre persönliche Identität zu gestalten, die Schatten der Krankheit abzuwerfen und sich als gesund und moralisch intakt zu präsentieren an erster Stelle. Doch eine neue oder vielmehr modifizierte Identität etabliert sich nicht innerhalb einer einzigen Szene, dazu braucht es Zeit und Wiederholungen. Insofern befinden sich auch szenische Informationen in dauerndem Fluss; sie können in der einen Situation zwar angedeutet, in einer anderen ausgearbeitet und einer nächsten wieder revidiert oder modifiziert werden, dennoch: Ein vertrauenserweckendes und als »wahr« erscheinendes Bild zu konstruieren, stellt hohe Ansprüche an die Phantasie der Darsteller wie auch an ihre »dramaturgische Sorgfalt« (Goffman 2003: 198f).

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4.6 D ENKEN IN R EL ATIONEN Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass sich Bourdieu wie auch Goffman mit sozialer Anerkennung auseinandersetzen, diese jedoch aus unterschiedlichen theoretischen Standpunkten bearbeiten und damit auch unterschiedliche Aspekte beleuchten. Bourdieu selbst hätte Gemeinsamkeiten zwischen seiner Theoriebildung und derjenigen von Goffman bestimmt von sich gewiesen; in seinen Schriften fungiert Goffmans Ansatz stets als ein Negativbeispiel, gefangen im methodologischen Subjektivismus (u.a. Bourdieu 1992: 148). Doch spätere Rezeptionen der beiden Werke verweisen auf mehr Berührungspunkte als man auf den ersten Blick annehmen könnte. Offensichtlich ist, dass sich beide Autoren mit Alltagsphänomenen befassen und ihre Theoriebildung das Handeln der Akteure fokussiert. Willems (1997) vertritt sogar die Ansicht, dass Goffmans Handlungsbegriff ebenfalls eine implizite Habitustheorie ähnlich derjenigen Bourdieus beinhalte (siehe dazu auch Rehbein und Saalmann 2009: 111). Sicher jedoch ist, dass sich Bourdieu bei einigen seiner konzeptionellen Überlegungen von Goffmans Ideen hat inspirieren lassen. Davon zeugt der Begriff »Strategie«, den er anscheinend in Anlehnung an Goffman gewählt hat, sowie seine Verwendung von Spielanalogien (Fuchs-Heinritz und König 2005: 282). Eine weitere Nähe zwischen den beiden Theorien und damit auch ein Gewinn aus ihrer Verbindung ergibt sich aus der Tatsache, dass beiden ein Denken in Relationen, wenngleich auf anderen Ebenen, eigen ist. Wie Bourdieu an vielen Stellen betont, ist es zentral, die soziale Welt und soziale Praktiken nicht als Substanzen, sondern als Relationen zu denken (Bourdieu 1992: 126; Carles 2001; Fuchs-Heinritz und König 2005: 233). Er selbst befasste sich vor allem mit den dialektischen Relationen zwischen strukturellen Bedingungen und subjektiven Interessen. Goffman hingegen verzichtet weitgehend auf explizite strukturelle Bezüge – obwohl sie in seinen Darlegungen durchaus vorhanden sind, allein schon durch die thematische Fokussierung auf Regelstrukturen (siehe Lenz 1991: 48) – und konzentriert sich fast ausschliesslich auf Interaktionen, auf die Relationen zwischen den einzelnen Akteuren. Aus diesem Blickwinkel betrachtet liegen die beiden Autoren gar nicht so weit voneinander entfernt; beide setzten sich mit sozialer Anerkennung auseinander, verwenden in ihren Untersuchungen allerdings unterschiedliche analytische Brennweiten. Während Bourdieu eher eine soziologische »Weitwinkel-Perspektive« einnimmt, richtet sich Goffmans Blick auf die mikroskopische Analyse von sozialen Situationen und ihrem dramaturgischen Potential. In diesem Sinne begreife ich Goffmans Sicht vor allem als eine Erweiterung respektive eine Vertiefung des Bourdieuschen Ansatzes. Für meine Analysen mit Fokus auf Resilienz wird besonders der Spielraum, den Akteure für sich nutzen, von Belang sein – sei es für die Generierung von symbolischem Kapital oder zur Gestaltung der persön-

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lichen Identität. Wie ich unter der Prämisse, dass soziale Anerkennung hergestellt wie auch dargestellt werden muss, herausgearbeitet habe, werden dabei vor allem die Umwandlung von Kapitalsorten und die verschiedenen Formen der Selbstdarstellung von Interesse sein.

5. Methoden

Das Forschungsprojekt, das sich über mehrere Jahre erstreckt hat, als eine durchgeplante Unternehmung darzustellen, würde nicht den Tatsachen entsprechen. Viel zutreffender ist die Bezeichnung work in progress, wobei jeder einzelne Schritt auf dem vorhergehenden aufbaut und sich auch erst über diesen formuliert. Insofern lässt sich der gesamte Forschungsprozess als eine »Abfolge von Entscheidungen« (Flick 2005: 257) beschreiben, die zwar von theoretischen Auseinandersetzungen und vorläufigen Analysen begleitet waren, aber immer wieder an die realen Begebenheiten des Terrains angepasst werden mussten. Mit anderen Worten: Die Wege und Umwege dieses Projektes waren von so vielen unabsehbaren Entwicklungen gekennzeichnet, dass ich in erster Linie bestrebt war, möglichst flexibel auf die jeweiligen Situationen zu reagieren und die angewandten Methoden entsprechend anzupassen. Demzufolge haben sich sowohl beim Forschungsdesign, den Fragestellungen wie auch bei der Auswahl der Gesprächspartnerinnen immer wieder Umstellungen und Modifizierungen ergeben, die nicht voraussehbar waren. Ausgehend von einer früheren Untersuchung, die ich über die Wahrnehmungen von AIDS in Mali verfasste, erhielt ich 2003 von IAMANEH (International Association for Maternal and Neonatal Health), einer Schweizer Hilfsorganisation, die Möglichkeit, eine Studie über das Leben und den Umgang mit antiretroviralen Therapien in Mali durchzuführen. Bereits damals bestand die vage Idee, die Forschung zu einer Dissertation zu erweitern. Es war die Zeit des weltweiten zivilgesellschaftlichen Engagements, das sich um die entscheidende Frage »Patientrights or Patentrights?« formierte und für den Einsatz von antiretroviralen Medikamenten in den Ländern des Südens eintrat. Auch mir erschien die Geschäftspraxis der grossen Pharmakonzerne, die sich auf den Schutz ihrer Patentrechte beriefen und damit lebenserhaltende Therapien unzugänglich machten, nicht akzeptabel. Daher war das Angebot von IAMANEH, eine Studie über die Chancen zu machen, die sich mit den neuen Therapien eröffnen, eine gute Gelegenheit für mich, die Geschichte von AIDS in Mali weiterhin mitverfolgen zu können. Geplant waren zwei Forschungsphasen in Bamako und eine weitere in einer kleineren Stadt; an beiden Orten jedoch eingebunden in den

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institutionellen Rahmen von CESAC (Centre d’Ecoute, de Soins, d’Animation et de Conseil pour les personnes vivant avec le VIH/SIDA).20 In der damaligen, nur sehr spärlich vorhandenen Literatur über den Einsatz antiretroviraler Medikamente in Afrika wurde der Therapiebeginn als »biographischer Bruch« bezeichnet, charakterisiert durch neue Orientierungen und Prioritäten (Sow und Desclaux 2002b). Dementsprechend ging ich davon aus, dass die Resultate meiner Studie entscheidende Verbesserungen in gesundheitlicher wie sozialer Hinsicht belegen und damit auch Argumente zur Freigabe der Therapien beinhalten könnten. Allerdings erübrigten sich diese Überlegungen bereits ein halbes Jahr später: Ab Mitte 2004 konnten in Mali antiretrovirale Medikamente kostenlos bezogen werden. Diese positive Entwicklung ermöglichte es mir, mehrere Patientinnen bereits von Therapiebeginn an zu begleiten. In diesem Kapitel werde ich mich neben methodologischen Fragen mit einzelnen Erfahrungen befassen, die meinen Arbeits- und Erkenntnisprozess entscheidend geprägt haben. Diese Erfahrungen stehen im Zusammenhang mit der ungewöhnlichen Länge der Forschung, aber auch mit einer spezifischen Eigenheit des Kontexts: der Geheimhaltung. Obwohl sich jede Forschung mit der Geheimhaltungsthematik auseinanderzusetzen hat – und sei es nur, dass die Namen der Informanten und der beteiligten Institutionen anonymisiert werden –, spielt sie bei HIV/AIDS als einer hoch stigmatisierenden Krankheit eine besondere Rolle. Ihre aussergewöhnlich strikte Form äusserte sich zunächst beim Zugang zum Feld und zu Interviewpartnerinnen, machte sich aber gleichermassen auch in den Gesprächen sowie bei den schriftlichen Darstellungen bemerkbar. Dementsprechend durchdringt Geheimhaltung als eine allgegenwärtige Thematik meinen gesamten Forschungs- und Schreibprozess.

20 | Das auf HIV/AIDS spezialisierte Zentrum wurde 1996 von ARCAD/SIDA (Association de Recherche, de Communication et d’Accompagnement à Domicile des personnes vivant avec le VIH/SIDA), der ersten in der AIDS-Arbeit aktiven ONG in Mali, gegründet, ist aber mittlerweile fest in staatliche Gesundheitsstrukturen eingebunden und verfügt über mehrere Zweigstellen im Land. Antiretrovirale Therapien waren seit 2001 innerhalb des nationalen Programms IMAARV (Initiative Malienne d’Accès aux Antirétroviraux) an drei Ausgabestellen in Bamako erhältlich. Obwohl staatlich subventioniert, beliefen sich damals die monatlichen Kosten für die Patienten auf 45›000 FCFA (etwa 70 Euro), wurden aber in vielen Fällen, je nach den finanziellen Möglichkeiten, auf 22›500 oder 4›500 FCFA reduziert. Noch heute erinnert der lokale Begriff für antiretrovirale Therapien wa konoton fura (das 45›000 Heilmittel) an die damalige Preispolitik.

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5.1 E IN L ÄNGSSCHNIT TDESIGN : L EBEN IN UNGLEICHEN Z EITEN Die Datenerhebung der vorliegenden Arbeit teilte sich in zwei unterschiedliche Phasen auf. Die erste, im Rahmen des Mandates von IAMANEH, erstreckte sich von Dezember 2003 bis Dezember 2005 mit vier Feldaufenthalten von insgesamt acht Monaten. Während dieser Zeit konnte ich mit 35 Personen sprechen; mit einigen von ihnen habe ich mich auch wiederholt getroffen. In den auf Leitfaden gestützten Interviews konzentrierte ich mich vor allem, neben dem persönlichen Hintergrund und der Geschichte ihrer Krankheit, auf die sozial problematischen Situationen. Die daran anschliessende zweite Phase, nun als Dissertationsprojekt konzipiert, umfasste den Zeitraum von Oktober 2006 bis Februar 2008 und beinhaltete zwei Aufenthalte von insgesamt sieben Monaten. Ausgehend von den bereits gut etablierten Beziehungen mit den Beteiligten, versuchte ich jeweils, an die Gespräche aus der ersten Phase anzuknüpfen, sie jedoch in einer viel offeneren Form zu gestalten und den thematischen Schwerpunkt nun auf die Bewältigung der dargelegten Risikosituationen zu richten. Mit anderen Worten: Der methodologische Zugriff verlagerte sich von teilstrukturierten Leitfadeninterviews hin zu Gesprächen mit narrativem Charakter (siehe dazu Mayring 1990: 46f; Flick 2005: 147f). Für die Bearbeitung meiner Fragestellungen beziehe ich mich auf die Daten aus 27 Einzelfallstudien mit 17 Frauen und 10 Männern – eine Gewichtung, welche in etwa die geschlechtsspezifische Verteilung der Krankheit widerspiegelt.21 Ausserdem versuchte ich, sofern dies die Situation der Beteiligten zuliess, mit ihren Angehörigen zu sprechen, um so dieselbe Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten zu können. Indessen sind subjektive Erfahrungen und individuelles Handeln nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Bedingungen zu betrachten, sondern sind – im konkreten Fall von HIV – massgeblich von alltäglichen Diskursen über die Krankheit, internationalen Finanzierungen, politischen Entscheidungen und nicht zuletzt auch von den Aktivitäten der verschiedenen NGOs geprägt.22 Dementsprechend ergänzte ich die Fallstudien mit Gruppendiskussionen, in denen vor allem kollektive Einstellungen und die als sozial akzeptabel angesehenen Meinungen zum Ausdruck gebracht werden (Flick 2005: 171). Ferner erschien es mir ebenfalls wichtig – neben den unzähligen informellen Unterhaltungen in meinem persönlichen 21 | Es sind bei weitem nicht alle Gespräche, die im Laufe der vier Jahre geführt wurden, in die vorliegende Analyse eingeflossen. Das entscheidende Auswahlkriterium war vielmehr, dass – aufgrund des Längsschnittdesigns – mindestens zwei Gespräche stattgefunden haben (siehe dazu Tabelle im Anhang). 22 | Für eine eingehende Darstellung über die Konstitution von Krankheitserfahrungen und deren Einbettung in local moral worlds möchte ich hier auf Kleinman (1995a: 124; 1996: 170f) verweisen.

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Umfeld –, auch mit Experten und Mitarbeitern von den im AIDS-Bereich tätigen NGOs zu sprechen. Die bei weitem einflussreichste Rolle meiner Forschung spielte die Zeit – nicht nur in Hinblick auf das Forschungsdesign, sondern vor allem als Abfolge und Verknüpfung unterschiedlicher Seinsweisen: einerseits die während der Forschung gelebte Zeit und andererseits die meine gedanklichen Verdichtungsvorgänge und Analysen prägende Zeit. Diese beiden Phasen beinhalten gegensätzliche Zeitverständnisse. Während es das Bestreben der Wissenschaft ist, Zeit auszuklammern, ist sie mit dem sozialen Leben der Feldaufenthalte auf fundamentale Weise verbunden (Bourdieu 1976: 217f). Dadurch dass sich die Datenerhebung über mehrere Jahre hinzog, erhielt ich die aussergewöhnliche Gelegenheit, längere Zeitspannen umfassende Erfahrungsprozesse mitzuerleben, dazwischen aber auch das »Feld räumen« zu können und mich allein auf analytische Vorgänge zu konzentrieren. Dieser Wechsel zwischen den beiden Seinsweisen – zwischen der Zeit mit den Menschen im Feld und der Zeit mit Theorie und Analyse – bestimmten weitgehend den Prozess meines Forschungsprojektes. Aus den ersten vier Erhebungsphasen entstand, angelehnt an die Prinzipien der »Grounded Theory«23 , eine breite explorative Basis, aus der sich schrittweise meine eigentliche Forschungsthematik herauskristallisiert hat – Silverman (2001: 70) spricht in diesem Zusammenhang von der für ethnologische Arbeiten typischen »Trichterstruktur«. Fast ebenso wertvoll für das Gedeihen der Forschung waren die Phasen zwischen den einzelnen Aufenthalten. Abseits von den oft turbulenten Tagen im Feld boten sie ausreichend Zeit, die erhobenen Daten zu reflektieren, zu sortieren und sie mit theoretischen Ansätzen zu verbinden, so dass sich aus diesen Überlegungen meist wieder Kurskorrekturen für die nächste empirische Phase formulieren liessen. Besonders hilfreich bei diesen Prozessen des Oszillierens zwischen Empirie, Theorie und Analyse waren die verschiedenen Gelegenheiten, bei denen ich meine Zwischenergebnisse vorstellen und diskutieren konnte.24 23 | »Grounded Theory« ist ein in der Ethnologie, wie auch in vielen anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen verbreiteter Typus qualitativer Forschung. Ihr Ziel ist es, aus der induktiven Untersuchung von Phänomenen eine so genannte »gegenstandsverankerte Theorie« zu entwickeln: »Folglich stehen Datensammlung, Analyse und die Theorie in einer wechselseitigen Beziehung zueinander. Am Anfang steht nicht die Theorie, die anschliessend bewiesen werden soll. Am Anfang steht vielmehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozess herausstellen« (Strauss und Corbin 1996: 8). 24 | An dieser Stelle sei all denjenigen gedankt, die mit ihren Kommentaren und ihrer Kritik wesentlich zum Gelingen dieses Forschungsprojektes beigetragen haben, so insbesondere den Mitgliedern der Peer Mentoring Group, der Medical Anthropology Re-

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Zeit zu haben bedeutete auch, dass sich die Beziehungen zu meinen Gesprächspartnerinnen intensivierten. Wichtig für den Aufbau von Vertrauen war nicht, wie ich eigentlich erwartet hätte, die Dauer der gemeinsam verbrachten Zeit, sondern die Tatsache, dass ich regelmässig zurückkehrte und mich darum bemühte, den Kontakt kontinuierlich aufrecht zu halten. Allerdings war die Aufgabe, nach Monaten der Abwesenheit den jeweiligen Aufenthaltsort der Beteiligten ausfindig zu machen, eine organisatorische Herausforderung. Einige meiner Gesprächspartner befanden sich auf Reisen, andere pendelten ständig zwischen der Hauptstadt und meinem zweiten Untersuchungsort hin und her oder wieder andere hatten ihren Wohnort definitiv gewechselt. Eindeutig positiv war jedoch, dass sich das Gesprächsklima im Laufe der Zeit lockerte, es entstand mehr Nähe und auch mein Verständnis hinsichtlich der Risiken und Ängste in einem von HIV gezeichneten Alltag erweiterte sich. Gleichzeitig verwischten sich aber auch die Grenzen zwischen Forschung und Freundschaft, so dass ich mich von den Erwartungen, die sich mit der wachsenden Vertrautheit einstellten, manchmal überfordert fühlte. Während einmalige Gespräche oft von einer gewissen Reserviertheit geprägt sind, schaffen wiederholte Treffen eine andere Art von Verbindlichkeit; es sind keine »Datenerhebungen« mehr, sondern eine empathische Auseinandersetzung mit Menschen, die mir Einblicke in ihr Leben gewährten. Emotional besonders belastend empfand ich die Konfrontation mit Krankheit und Tod, die gerade am Anfang der Forschung wesentlich häufiger war, als die Therapien zwar erhältlich, aber für einige meiner Gesprächspartner dennoch zu spät eingesetzt wurden. Jeweils zu Beginn jedes neuen Aufenthaltes erkundigte ich mich bei CESAC oder der Selbsthilfegruppe nach dem Befinden der Teilnehmenden – eine Frage, die mir nie leicht gefallen ist. Vier Personen, mit denen ich bereits mehrere Male gesprochen hatte und deshalb auch in näherer Beziehung stand, sind während der Studie gestorben. Auf meine Betroffenheit wurde jedoch eher mit Befremden reagiert. Auch die Frage, woran die jeweilige Person gestorben sei, stiess auf Unverständnis, mehr noch: Es wurde als anmassend gesehen, für Gottes Pläne nach profanen Begründungen zu suchen – »son jour était arrivé, c’est le destin« sollte als Erklärung ausreichen. Mit der Zeit verstand ich, dass Gefühlsäusserungen, obschon für einen selbst entlastend, für andere rücksichtslos wirken können, weil jene sich dann gezwungen sehen, darauf einzugehen oder sogar für Erleichterung zu sorgen.

search Group und des Doktorandenkolloquiums am Ethnologischen Seminar der Universität Basel.

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5.2 Z UGANG ERHALTEN : D IE P FLICHT ZU SCHWEIGEN Es ist der 12. November 2003 und der elfte Tag seit dem Beginn meiner Feldforschung. Ich sitze bei CESAC im Sprechzimmer eines Arztes. In dem kleinen Raum finden nur knapp ein Schreibtisch, eine Untersuchungsliege und eine Waage Platz. Das einzige Fenster ist von metallenen Läden versperrt und es herrscht eine dumpfe, nur von kaltem Neonlicht erhellte Atmosphäre. Aufrecht und äusserlich sehr gefasst sitzt die junge Patientin auf ihrem Stuhl. Sie wartet geduldig auf das Resultat ihres HIV-Tests – wartet, bis der Arzt sein Telefongespräch beendet. Obwohl die Klimaanlage Eiseshauch in das kleine Zimmer bläst, wischt sich die Frau immer wieder mit ihrem Schal den Schweiss von Hals und Stirne. Bei dieser Bewegung rutschen ihr jedes Mal die Ärmel nach hinten und legen ihre dünnen, von hellroten Pusteln übersäten Arme bloss. Von aussen gesehen deutet nichts auf die Brisanz der Situation hin, doch ich empfinde die Spannung als schier unerträglich. Nachdem der Arzt den Hörer aufgelegt hat, stellt er mich kurz vor und beginnt, ihre Beschwerden zu rekapitulieren und das bereits stattgefundene Testverfahren zu erklären. Schliesslich eröffnet er, dass in ihrem Blut der Virus entdeckt wurde. Wie um dem Befund jegliche Dramatik zu nehmen, spricht er sehr leise und sehr schnell auf sie ein und immer wieder die Worte: i hakili sigi (bleib ruhig) – eine beschwörende Suade, die besagt, dass man mit der Krankheit leben kann, dass man gesunde Kinder gebären kann, dass gute Medikamente zur Verfügung stehen, sie nur regelmässig zur Kontrolle zu kommen braucht. Der pausenlose Redefluss, so denk ich mir, soll wohl helfen, den Schock zu dämpfen und Gefühlsausbrüche zu verhindern. Doch die junge Frau zeigt keine Emotionen, vollkommen kontrolliert und still hört sie seinen Ausführungen zu. Nur zum Schluss sagt sie, mehr zu sich selbst als an den Arzt gerichtet: »Was werden nun die anderen von mir denken? Wie werden sie über mich reden?« Ihre primäre Sorge gilt nicht gesundheitlichen Belangen; diese werden, wie ich später anhand anderer Aussagen begreife, als »Arbeit« des Arztes gesehen. Es ist die soziale Situation, die sie beschäftigt – dass andere von ihrer Diagnose erfahren, dass Gerüchte entstehen und sie gemieden werden wird. Zu diesem Zeitpunkt ist mir noch nicht klar, wie sehr ihre Fragen den Kern meiner Forschung berühren. Doch schon damals lassen sie mich aufhorchen – und werden mich in ihrer Dringlichkeit noch lange begleiten. Forschungen im Bereich einer stigmatisierenden Krankheit wie HIV/AIDS werfen immer die Frage auf, wie der Zugang zu Informanten hergestellt werden kann. Ich habe mich entschieden, den Weg über eine Institution zu wählen, möchte aber nochmals ausdrücklich darauf hinweisen, dass meine Arbeit in dieser Form ohne die aussergewöhnliche Hilfsbereitschaft von CESAC nicht möglich gewesen wäre (über die Schwierigkeiten einer HIV/AIDS-Forschung ausserhalb eines institutionellen Rahmens siehe Dilger 2005: 79f). Mit Patien-

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tinnen einer AIDS-Klinik zu sprechen heisst, über ihre Diagnose informiert zu sein und berührt ein fundamentales Prinzip biomedizinischer Praxis, das sich vom hippokratischen Eid ableitet: die Schweigepflicht (Welch Cline und McKenzie 2000: 72). Obwohl Verschwiegenheit für alle, die in Heilberufen tätig sind, eine Verpflichtung sein sollte, hat deren Gültigkeit im Zeitalter von AIDS neue Diskussionen entfacht, aber auch schwerwiegende Verletzungen hinnehmen müssen.25 Wie in vielen anderen Ländern wurden auch in Mali immer wieder Fälle bekannt, in denen medizinisches Wissen ohne Einverständnis der Patienten an andere weitergegeben wurde – Vorkommnisse, die das Vertrauensverhältnis zwischen Gesundheitspersonal und Patienten erheblich beschädigten (Diarra 1994; Attaher 2005: 51). Doch solange Menschen aus Angst um ihre soziale Unversehrtheit nicht bereit sind, sich testen oder behandeln lassen, bleiben alle Versuche, die Epidemie zu kontrollieren, erfolglos. Aus diesem Grunde will CESAC mit seiner Arbeit neue Standards setzen und garantiert umfassende Verschwiegenheit für seine Patienten. Wie streng diese Regelung gehandhabt wird, zeigte sich in längeren schriftlichen wie mündlichen Abklärungen, bevor die ärztliche Schweigepflicht für mich aufgehoben respektive bindend wurde. Ein vierwöchiges Praktikum sollte als Einstieg dienen, in dessen Verlauf ich das Personal und sämtliche Abteilungen kennen lernen würde. Gleichzeitig erhielt ich dabei Gelegenheit, erste Kontakte zu möglichen Interviewpartnern zu knüpfen. Das Zentrum liegt mitten in der Stadt – dort, wo am meisten Betrieb herrscht und das Gedränge am dichtesten ist: zwischen Bahnhof, Hauptpost und Markt. Fast alle kennen es und wissen, dass es »irgendwas mit AIDS« zu tun hat. Insofern bedeutet ein Besuch bei CESAC für viele Menschen trotz der garantierten Verschwiegenheit eine Herausforderung. Der grosse und von aussen relativ gut einsehbare Hof wird von drei Gebäudekomplexen umgrenzt, in denen sich die Rezeption, mehrere Konsultationszimmer und Sozialdienste sowie ein eigenes Labor und eine Apotheke befinden. An die 120 bis 150 Personen suchen täg25 | Im Zentrum von vielen, vor allem vom gesundheitspolitischen Standpunkt aus geführten Diskussionen steht die »crisis of confidentiality« (Fombad 2001), das heisst die Widersprüche zwischen persönlichem Recht auf Geheimhaltung und der epidemiologischen Verantwortung, die Krankheit einzudämmen. Oder anders gesagt: Wirkt sich angesichts der dramatischen Lage eine zu enge Auslegung der Schweigepflicht nicht kontraproduktiv aus? Wäre es nicht sinnvoller, die Sexualpartner zu informieren? (siehe dazu u.a. Uys 2000; De Cock et al. 2002: 69). Einen ganz anderen Aspekt der Schweigepflicht beleuchten Whyte et al. (2010) aus ethnologischer Perspektive. Sie zeigen die moralischen Dilemmata, mit denen das Gesundheitspersonal in Uganda zu kämpfen hat: Einerseits sieht es sich der Verschwiegenheit verpflichtet, andererseits soll es die Seropositivität von Patienten bestätigen, damit sie von anderen Stellen Unterstützungsleistungen erhalten.

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lich das Zentrum auf; bereits in den frühen Morgenstunden warten sie auf den langen, metallenen Bänken im Hof – zuerst auf eine Konsultation, danach auf die verschriebenen Medikamente aus der Apotheke.26 In letzterer hielt ich mich während den Wochen meines ersten Aufenthaltes häufig auf, füllte an der Seite des Apothekers und seines Assistenten Tabletten in kleine Plastiktütchen und gab Erklärungen zur Einnahmeweise ab. Patienten betreten die Apotheke aus Gründen der Diskretion nur einzeln, insofern ergab sich relativ ungezwungen die Möglichkeit, mein Vorhaben vorzustellen und um ihre Teilnahmebereitschaft anzufragen. Da alle Rezepte für antiretrovirale Therapien monatlich erneuert werden müssen, blieb genügend Zeit, eine Entscheidung bis zur nächsten Konsultation nochmals zu überdenken. Eine wesentliche Hilfe bei der Auswahl von potentiellen Teilnehmenden waren die Hinweise meiner Arbeitskollegen bei CESAC; sie kannten die Kranken meist schon länger, wussten um deren familiäre Verhältnisse und konnten mir so erste Informationen geben. Während es mir in einem ersten Schritt besonders darauf ankam, eine möglichst grosse Variabilität hinsichtlich Geschlecht, Alter und sozio-ökonomischem Hintergrund unter den Interviewpartnern herzustellen, achtete ich später mehr auf spezifische Erfahrungen, die meiner Thematik entsprechen, ferner auch auf kontrastierende Kriterien (so war es zum Beispiel wichtig, auch Personen mit besserer Ausbildung oder solche, die nicht in einer Selbsthilfegruppe sind, zu gewinnen). Die Gespräche selbst fanden jeweils in einem leeren Raum von CESAC oder einer ruhigen Ecke im Hinterhof statt. Sie wurden auf Tonband aufgenommen, wobei ich zu Beginn eines jeden Interviews auf die Freiwilligkeit der Teilnahme und die unbedingte Anonymität hinwies sowie die gemeinsam mit der Leitung von CESAC aufgesetzte Erklärung (consentement averti) zum Unterschreiben vorlegte. Obwohl ich im Laufe meines Studiums Unterricht in Bamanakan belegte – neben Französisch die lingua franca in Mali – und ich bei verschiedenen Aufenthalten im Land Gelegenheit hatte, mir etwas Übung anzueignen, waren meine Kenntnisse bei weitem nicht ausreichend, um differenzierte Gespräche zu führen. So war ich bei vielen Interviews auf die Hilfe von zwei Assistenten

26 | Wohlhabende Patienten oder Personen, die in der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, wollen meist jegliche Verbindung mit der Krankheit vermeiden. Sie lassen sich nicht bei CESAC, sondern zuhause oder in einem Hotel behandeln. Und damit bei diesen Konsultationen niemand Verdacht schöpft, sind zwei Ärzte von CESAC mit dieser speziellen Aufgabe betraut. Sie treten nie in den Medien oder bei Informationsveranstaltungen rund um HIV/AIDS in Erscheinung, so dass nichts auf ihren beruflichen Hintergrund hinweist. Das heisst, eine weitgehende Geheimhaltung ist durchaus möglich, sofern man sie sich leisten kann.

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angewiesen.27 Dass beide bereits vor unserer Zusammenarbeit im AIDS-Bereich tätig waren und deshalb auch die nötige Sensibilität im Umgang mit betroffenen Menschen mitbrachten, machte es leichter, von CESAC akzeptiert zu werden. Mit ihnen verbrachte ich die meiste Zeit der Forschung und in vielen Fällen waren es ihre Wahrnehmungen und Erklärungen, die meine Interpretationen bereicherten. Im Gegensatz zu dem Vertrauen und der Unterstützung, die ich bei CESAC in Bamako erfuhr, gestalteten sich die Phasen in dessen Zweigstelle, meinem zweiten Forschungsort, eher kompliziert. Auf welchen Ursachen die Hindernisse beruhten, war für mich bis zum Ende meines dortigen Aufenthaltes nicht wirklich einsehbar. Obwohl die Forschungsgenehmigung und sämtliche damit zusammenhängende Bedingungen gemeinsam mit IAMANEH und der Direktion von CESAC abgesprochen waren, blieb die Haltung des leitenden Arztes meiner Arbeit oder vielleicht auch meiner Person gegenüber äussert zwiespältig. Er wollte kein klares Verbot aussprechen, war aber nicht bereit, den Fortgang der Forschung aktiv zu unterstützen. So folgte auf Tage des Wartens und vergessene Verabredungen die immer formelhaft wiederkehrende Begründung, er befände sich noch in einem »processus de réflexion«. Damals brachte mich dieser passive Widerstand, der sich schwerlich als solcher thematisieren liess, fast zur Verzweiflung. Der Arzt selbst führte jedenfalls immer wieder an, dass er sich um den Ruf seines erst kürzlich eröffneten Zentrums sorgte. Die Anonymität der Patienten sei, wie er stets betonte, in der kleinen Stadt sehr viel gefährdeter als in Bamako. Später gewann ich jedoch eher den Eindruck, dass es sich nicht um ein Problem der Geheimhaltung handelte, sondern dass er, wie er in einigen Bemerkungen durchblicken liess, eher befürchtete, ich wolle ihn auszuspionieren und seine Arbeit überwachen. Insofern diente seine in Mali bekannte Taktik »fatiguer les gens« eher dazu, mich zu entmutigen – dies in der Hoffnung, ich würde dann von alleine mein Vorhaben aufgeben. Nach gewisser Zeit konnten wir uns auf einen Modus der Zusammenarbeit einigen. Er verlangte, dass ich jeden Abend bei ihm vorsprach und seine Erlaubnis für jedes einzelne Interviews einholte. Auch wenn diese Geste der Kontrolle für mich eher umständlich war, da er sich viel unterwegs aufhielt und ich jeweils auf seine Rückkehr zu warten hatte, bedeutete sie für mich die einzige Möglichkeit, die Forschung fortsetzen zu können.

27 | Sie übersetzten und transkribierten auch die in Bamanakan geführten Gespräche. Insofern handelt es sich bei den im weiteren Verlauf der Arbeit auftretenden Gesprächsausschnitten teilweise um Übersetzungen meiner Assistenten ins Französische, teilweise aber auch um direkte Abschriften der Aussagen (siehe dazu die Liste der Gesprächspartner am Ende des Buches).

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5.3 G ESPR ÄCHSSITUATIONEN : G EHEIMHALTUNG , S CHULD UND V ERTR AUEN Forschungen über eine geheim gehaltene und stigmatisierende Krankheit wie HIV/AIDS unterliegen ganz anderen Gesetzmässigkeiten und haben mit ganz anderen Widerständen umzugehen als solche über eine »normale« Krankheit wie zum Beispiel Malaria. Das wird nicht nur an der Problematik des Zugangs zum Feld und den Gesprächspartnern deutlich, sondern zeigte sich auch anhand des Gesprächsverlaufs. Interviewsituationen sind grundsätzlich als Interaktionsprozesse zu begreifen, das heisst, die dabei geäusserten Aussagen und vermittelten Eindrücke sind in der Beziehungsdynamik zwischen den Beteiligten zu verorten und in diesem Sinne das Resultat subjektiver Deutungen (Mayring 1990: 19). Bekannt ist, dass gerade die ersten Eindrücke von Personen entscheidend sind und es daher wesentlich leichter ist, Vorannahmen oder herrschende Stereotypen zu Beginn einer Begegnung zu korrigieren als diese zu einem späteren Zeitpunkt noch zu verändern (siehe dazu Goffman 2003: 14). Insofern ist es auch zu verstehen, dass die ersten Phasen in besonderer Weise von Bemühungen geprägt waren, bestimmte Bilder von sich zu entwerfen, die alle auf die eine oder andere Art durch den mit Scham, Schuld und Geheimhaltung belasteten Kontext definiert wurden. Für meine Gesprächspartner ging es vor allen Dingen darum, sich von dem Bild, das die gesellschaftliche Wahrnehmung von HIV/AIDS Betroffenen bestimmt, zu lösen und sich mir gegenüber als seriöse und moralisch integre Personen zu präsentieren. Ich von meiner Seite aus wiederum versuchte, mich vom Image einer CESAC getreuen Angestellten zu distanzieren und eine persönliche Vertrauensbasis zu schaffen, die es ermöglicht, auch im epidemiologischen Sinne nicht tolerierbares Verhalten mit mir zu teilen. Anders gesagt: Ich wollte vermitteln, dass es mir vielmehr um Verständnis als um eine Beurteilung geht. Auffallend zu Beginn der Studie war, wie selten meine Gesprächspartner bereit waren, sozial problematische Erfahrungen zu thematisieren. Obwohl ich versuchte, über unterschiedliche Fragestellungen soziale Risiken anzusprechen, erhielt ich, von einigen Ausnahmen abgesehen, immer wieder die Antwort, dass es eigentlich keine Probleme gäbe, dass die Krankheit in ihrem Leben nichts verändert habe und dass mit der neuen Therapie alles bestens laufe – so dass ich mich selbst schon zu fragen begann, ob ich ihnen die Schwierigkeiten nur einreden wolle. Sehr ausführlich hingegen erzählten sie über ihr zurückgezogenes und von amusements abstinentes Leben, darüber, dass sie von ihren Familien uneingeschränkte Akzeptanz erfahren und es ihnen wichtig ist, ihr Umfeld auf Infektionsrisiken und mögliche Präventionsmassnahmen aufmerksam zu machen. Kurzum, sie entwarfen ein Bild von korrekten und sozial gut integrierten Patientinnen. Nun wäre es naiv anzunehmen, dass Erzählungen immer »tatsächliche« Begebenheiten wiedergeben würden. Vielmehr stellen

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sie ein Mittel dar, um eigenen Erfahrungen Sinn zu verleihen und sind so gesehen Versionen von Wirklichkeit und keine objektiven Beschreibungen eines Sachverhalts. Zudem haben Erzählungen das Potential, unterschiedliche, meist moralisch gefärbte Versionen des Selbst zu entwerfen und damit bestimmte Eindrücke über sich zu vermitteln (siehe dazu Riessman 1990; Ochs und Capps 1996). Sie handeln also oft vom Bedürfnis der Sprechenden, als anerkannte und verantwortungsvolle Personen zu gelten und so die gesellschaftliche Sicht auf die Krankheit und die Kranken durch die eigenen Darstellungen zu korrigieren. Ein weiterer Aspekt ist, dass meine Gesprächspartner zur ersten Generation gehören, welche die neuen Therapien gratis erhält. Deshalb war auch ihre Angst, bei gesundheitspolitisch unkorrekten Aussagen aus dem Programm ausgeschlossen zu werden, besonders ausgeprägt. Mit anderen Worten: meine Gesprächspartner befanden sich mir gegenüber, der vermeintlichen Apotheken-Assistentin von CESAC und dem medizinischen Paradigma zugerechnet, in einem Zwiespalt. Ihr Ausweg war, mir nur das zu erzählen, von dem sie dachten, dass ich respektive CESAC es hören wollten. So beschränkten sie sich darauf, ihre Situation als unproblematisch darzustellen und die Wirkungen antiretroviraler Therapien zu loben. Damit entpuppte sich spätestens während der Gesprächssituation der Vorteil des institutionellen Zugangs als ein wesentliches Hindernis. Andererseits stellte sich mir auch die Frage, auf welche Weise die Tatsache, dass die Gesprächspartnerinnen mich mit CESAC identifizierten auf die Gespräche zurückwirkte und deren Inhalt beeinflusste. Abgesehen von meiner Herkunft aus der Schweiz, bekannt als »le pays où on fabrique l’argent«, meiner weissen Haut und der institutionellen Anbindung an CESAC trug auch die Frage-Antwort-Struktur der Interviews dazu bei, ein Bild von mir entstehen zu lassen, das Differenz betont und Distanz erzeugt. Die meisten Gesprächspartner waren mit ethnologischen Forschungen nicht vertraut und Fragenstellen entspricht nicht einer kulturell üblichen Form der Unterhaltung, sondern ist Autoritätspersonen als Mittel sozialer Kontrolle vorbehalten (Spittler 2001: 6). Zudem zielten meine Fragen auf heikle Aspekte ihrer Privatsphäre; es war nicht das Geheimnis an sich, das mich interessierte, sondern ich wollte wissen, wie HIV-positive Personen ihr Geheimnis hüten und mit welchen Schwierigkeiten dies verbunden ist. Das heisst, ich wollte Einblicke in ihre Taktiken des Versteckens und Täuschens erhalten – Taktiken, die sich größtenteils nach sozialen Anforderungen richten und im Zweifelsfalle gesundheitspolitische Vorschriften als zweitrangig betrachten. Die Position, die ich hoffte einnehmen zu können und um die ich mich auf die verschiedensten Weisen bemühte, war diejenige von wise persons: …who are normal but whose special situation has made them intimately privy to the secret life of the stigmatized individual and sympathetic with it, and who find themselves

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K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI accorded a measure of acceptance […], before whom the individual with a fault need feel no shame nor exert self-control, knowing that in spite of his failing he will be seen as an ordinary other (Goffman 1963: 41).

Solchen Personen ist es erlaubt, wie Goffman dies in seiner Theater-Analogie beschreiben würde, Blicke auf das Geschehen der Hinterbühne zu werfen, hinter den Vorhang, in die Garderobe- und Maskenräume – dorthin, wo die Akteure sich auf ihre Auftritte in der Öffentlichkeit vorbereiten, wo die Mittel und Requisiten sichtbar sind, mit denen sie ihr Geheimnis schützen. Doch gleichzeitig, und dies wurde mir erst später bewusst, leitet sich aus diesen Blicken auch eine Statusveränderung ab: das entgegengebrachte Vertrauen macht aus den Besuchern der intimen Bereiche Verbündete. Und solchen verbündeten Personen ziemt es nicht, Kritik zu äussern oder überhaupt Themen anzusprechen, die in irgendeiner Weise als beschuldigend oder kritisierend interpretiert werden könnten. Mitchell (1993: 21) spricht in diesem Zusammenhang vom paradox of intimacy, das aufgrund affektiver Bindungen die Freiheit der Forschenden beschneidet. Konkret bedeutete dies für mich, gewisse heikle Fragen nicht anzuschneiden; so wusste ich zum Beispiel, dass eine Gesprächsteilnehmerin zu heiraten gedenkt, ohne ihren Partner über die Krankheit zu informieren und damit auch eine Übertragung in Kauf nimmt. Später, bei einem gemeinsamen Test, so ihre Überlegung, wäre dann nicht mehr zu eruieren, von wem die Infektion stamme. Obwohl es mehrere Situationen gab, in denen mir mein Schweigen gemäss eigenen moralischen Gesichtspunkten doch bedenklich erschien, haben mich Diskussionen mit meinen Assistenten überzeugt, dass sich angesichts sozialer Prioritäten mit medizinischen Argumenten wenig ausrichten lässt – »ce n’est pas dans notre culture«. Die Position einer wise person brachte es zudem mit sich, dass ich manchmal mit Erwartungen konfrontiert war, von denen ich mich überfordert fühlte. Abgesehen von Anfragen nach finanzieller Hilfe, die eine bekannte Erfahrung in ethnologischen Forschungen darstellen (siehe dazu u.a. Roth 1998: 177; Walker 2009: 6), wurde ich des Öfteren auch um die Vermittlung von Heiratspartnern gebeten. Obwohl ich mir jeweils Mühe gab, sehr genau zu erklären, weshalb ich mich in diese Angelegenheiten nicht einmischen könne und ich auch dafür nicht geeignet wäre, wurde mir meine Zurückhaltung eher als mangelnde Solidarität ausgelegt. Dennoch war es für mich erstaunlich, dass meine Zurückhaltung in diesen sozialen Angelegenheiten wesentlich mehr Missfallen erregte als meine Ablehnung hinsichtlich finanzieller Hilfen.

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5.4 M E THODOLOGISCHE A SPEK TE VON G EHEIMHALTUNG Ein Feld, das so entscheidend von Geheimhaltung, von Stigmatisierung und Schuld gekennzeichnet ist, macht es auch für Forschende unerlässlich, sich über die Anonymisierung der gewonnen Daten Gedanken zu machen. Zentral war für mich dabei die Frage, wie viele Auslassungen Fallstudien im Sinne der Geheimhaltung überhaupt ertragen können, ohne dadurch an Gehalt zu verlieren. Ich habe mich, wie bereits schon in der Einführung angesprochen, nach eingehenden Erwägungen dazu entschieden, den zweiten Forschungsort nicht konkret zu benennen. Obwohl dies eine Entscheidung auf Kosten einer lokalen Einbettung bedeutet, erschien sie mir dennoch richtig, weil sie unmöglich macht, Beteiligte zu identifizieren, ihre Erzählungen aber nicht gravierend beschneidet. Neben diesem Aspekt, der hauptsächlich den Schreibprozess tangiert, hat Geheimhaltung auch Konsequenzen in methodologischer Hinsicht. Zwei davon wurden bereits erwähnt: Zum einen war mit dem Längsschnittdesign eine Rahmenbedingung festgelegt, die mir für diesen Kontext als angebracht erschien. Denn da der Zugang zum Feld aufgrund der Geheimhaltung nur über eine Institution stattfinden konnte, bleibt deren Einfluss auch in den Gesprächen über lange Zeit präsent. In einem einzigen Interview, so denke ich, wäre es kaum möglich gewesen, andere als medizinisch und gesundheitspolitisch korrekte Aussagen zu erhalten. Zum anderen erforderte die mit Schuld belastete Thematik eine Verlagerung in der Methodenwahl und zwar von an Leitfaden orientierten Fragestellungen hin zu offener, narrativer Gesprächsführung. Die stärkste Einschränkung hingegen, welche Geheimhaltung bewirkte, betrifft die Auswahl der möglichen Erhebungsmethoden, die mir zur Verfügung standen. Obwohl teilnehmende Beobachtung oder vielmehr das »teilnehmende Sehen« (Förster 2001: 469) neben Interviews als die ethnologische Methode gilt, gerät sie bei Untersuchungen im AIDS-Bereich an ihre Grenzen und muss sich mit bestimmten Ausschnitten des Alltags begnügen (Pool 1997: 73).28 So war 28 | Eine kritische Überprüfung des Begriffs und der Vorgehensweise der teilnehmenden Beobachtung findet sich bei Förster (2001). Er geht davon aus, »dass Teilnahme und Beobachtung zwei grundsätzlich verschiedene Methoden sind, weil sie auf zwei einander wesensfremden Modi der Erfahrung beruhen« (ebd: 468). Ausgehend vom intentionalen Charakter, der sich mit dem Begriff »Beobachten« verbindet, plädiert er dafür, teilnehmendes Sehen als einen vorprädikativen Erfahrungsmodus in den Mittelpunkt des methodologischen Interesses zu stellen. Eine weitere Auseinandersetzung mit teilnehmender Beobachtung und deren Stellenwert in ethnologischen Forschungen legt Spittler (2001) vor. Er fordert, sich nicht nur auf das Beobachten allein zu verlassen, sondern alle Sinne einzubeziehen, um so zu besserem Verstehen und schliesslich zu einer »dichten Teilnahme« zu gelangen.

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es mir aus Gründen der Diskretion nur in Einzelfällen möglich, Beteiligte in ihrem Alltag zu begleiten oder sie sogar zuhause aufzusuchen (siehe dazu auch Preston-Whyte 2003). Ebenso wenig konnte ich sozial schwierige Situationen – dann, wenn HIV-positive Personen mit Anspielungen, Misstrauen oder Ausschluss konfrontiert waren – direkt miterleben, sondern meine Erkenntnisse stützen sich ausschliesslich auf ihr erzähltes Handeln. Einzig bei CESAC, bei den Aktivitäten der Selbsthilfegruppen oder offiziellen Ereignissen wie Spendenaktionen oder Veranstaltungen zu den Welt-AIDS-Tagen war meine Anwesenheit unproblematisch und führte zu Einsichten, welche die in Interviews gewonnenen Erkenntnisse weiter vertiefen konnten.

Teil 2: Der Kontext Sidabana bè mògò hake min balo – a tè o mògò hake faga (Die Krankheit AIDS ernährt mehr Menschen als sie tötet)

Die Art und Weise, wie Menschen in verschiedenen Lebenssituationen und unterschiedlichen sozialen Feldern mit ihren Schwierigkeiten umgehen, diese meistern können oder sich ihnen nur ausgeliefert fühlen, liegt nicht allein in ihren Händen. Es ist nicht jeder seines eigenen Glückes Schmied, sondern die jeweiligen Handlungsmöglichkeiten sind in hohem Masse von äusseren Bedingungen abhängig, von strukturellen Gegebenheiten, von sozialen Ordnungen und Regeln oder gesellschaftlichen Diskursen. Sie definieren den Rahmen individuellen Handelns, geben gewisse Zwänge vor, eröffnen aber auch Chancen und bestimmen sowohl die Wahrnehmungen von Risiken wie auch die Möglichkeiten, diese zu bewältigen. Dabei sind diese äusseren Bedingungen jedem Menschen auch innerlich, weil in seinen Körper eingeschrieben. Andererseits wiederum wirken die Handlungen der Einzelnen auf die objektiven Bedingungen zurück, verändern diese und kreieren somit kontinuierlich neue Konditionen der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens. In diesem Teil der Arbeit sollen die vielfältigen kontextuellen Gegebenheiten in ihren dynamischen Aspekten zur Sprache kommen. Er teilt sich in vier thematische Schwerpunkte auf. Das erste Kapitel befasst sich mit den Auswirkungen, welche die Flüsse von Waren, Menschen und Ideen in Bamako hinterlassen haben. Sie konstituieren das für die Stadt typische dynamische Terrain. Im zweiten Kapitel zeige ich, in welcher Weise sich im Laufe der umfassenden Wandlungsprozesse der letzten Jahre die Bedingungen der Anerkennung und damit auch diejenige der Zugehörigkeit innerhalb der urbanen Gesellschaft verändert haben. Das dritte Kapitel schliesslich widmet sich einem sehr spezifischen Bereich der Stadt, dem Feld von AIDS. Ausgehend von den Entstehungsbedingungen des Feldes werde hier ich vor allem auf die Rolle der hohen Geldsummen eingehen, die aus internationalen Fonds in diesen Sektor flies-

sen und dort Konkurrenz und Konflikte auf verschiedenen Ebenen mit sich gebracht haben. Wie eng die Krankheit auch im Bewusstsein der Bevölkerung mit Geld verbunden ist, sollen die im vierten und letzten Kapitel behandelten gesellschaftlichen Diskurse über AIDS aufzeigen.

6. Bamako — ein dynamisches Terrain Bama Niaré Tama Niaré Sigiba Niaré Ka don ni kème ye Ka bò ni ba kelen ye

Bamako ist Niaré Wer aus Bamako weggeht, ist Niaré Wer sich in Bamako niederlässt, ist Niaré Wer mit 100 kommt, Geht mit 1000 wieder fort

Der Aphorismus stammt aus den frühen Zeiten der Stadt, »damals, als noch mit Kaurimuscheln bezahlt wurde«, erklärt mir der alte Baba Titi Niaré, der Nachfolger der Gründerfamilie von Bamako.1 Die Stadt, so sagt der Vers, ist bereit, alle Leute aufzunehmen – ganz gleich ob sie nur kurz in ihr verweilen oder sich definitiv niederlassen. Baba Titi Niaré fügt hinzu: Bamako est une ville bénie. On peut bien constater qu’il y a un esprit assez spécial ici. C’est parce que ma famille a toujours veillé à ce que tout le mode puisse prospérer – chacun qui voulait vivre avec nous a été adopté avec des bras ouverts et il pouvait suivre ses affaires en sécurité. C’est comme ça que Bamako est devenu la capitale, quoiqu’elle n’est pas la ville la plus ancienne. (17.2.2008)

Tatsächlich war Bamako seit frühester Zeit bekannt als ein florierender Markt auf der Handelsroute zwischen der Wüste im Norden und den Regenwäldern im Süden. Wie es für jeden Marktplatz typisch ist, haben auch in Bamako die durchziehenden Menschen und Waren ihre Spuren hinterlassen und damit einen Ort geschaffen, der von verschiedensten oft kontroversen Einflüssen geprägt ist. Heute zählt die Stadt an die zwei Millionen Einwohner – eine recht bescheidene Anzahl verglichen mit anderen Megacities des Kontinents. Der Grossteil der malischen Bevölkerung lebt noch immer auf dem Land, dennoch soll Bamako, so wird prognostiziert, bis zum Jahr 2020 zur schnellst wachsenden Stadt 1 | Baba Titi Niaré ist das älteste Mitglied der sechsten Generation in der Nachfolge des Stadtgründers Diamoussadian Niaré. Als Chef von Bamako bekleidet er heute ein Amt, das sich vor allem durch seine repräsentativen Verpflichtungen auszeichnet.

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Afrikas werden (City Majors 2006). Trotz diesen neuen Tendenzen darf nicht vergessen werden, dass Urbanisierung in dieser Region kein rezentes Phänomen ist. Bereits ab dem 9. Jahrhundert blühten hier einige der ältesten Städte Afrikas wie zum Beispiel Kumbi Saleh, die Hauptstadt des Reiches Gana, oder später Niani, das Zentrum des alten Malireiches. Der anthropologische Blick auf das Phänomen »Stadt« hat sich seit seinen Anfängen mit den Vertretern der Chicago School in den 1920er Jahren wesentlich verändert. Inzwischen ist unbestritten, dass es im Gegensatz zu ruralen Lebensformen keinen spezifischen »urban way of life« (Wirth 1938) gibt. Dennoch bieten Städte als Lebensräume für ihre Bewohner etwas Unvergleichliches, das sich am ehesten als Vielfalt an Alternativen und Gelegenheiten beschreiben lässt. Städte sind Orte, die eine Fülle an Gestaltungsmöglichkeiten offerieren, die Raum für Experimente und Neuorientierungen lassen. Es sind aber auch Orte, die trotz ihrer Dynamik zu Situationen ohne Ausweg führen können: »African cities are works in progress, at the same time exceedingly creative and extremely stalled.« (Simone 2004: 1) Eine Möglichkeit, Städte zu konzeptualisieren, ist, sie als transitorisch zu verstehen (Rapport und Overing 2000: 379). Diese Sichtweise ist vor allem in den beiden Werken des schwedischen Ethnologen Ulf Hannerz (1980; 1992) präsent, welche sich mit kulturellen Prozessen in Städten befassen. Urbane Zentren sind bedingt durch ihre geo-politische Lage immer auch Knotenpunkte, durch die sich Ströme von Menschen, Waren und Ideen bewegen. Dieses Eingebundensein in übergreifende regionale oder internationale Systeme bewirkt unweigerlich eine gewisse Offenheit – »it is their business to be open« (Hannerz 1992: 201). Gleichzeitig verändern diese Bewegungen das Denken und die Praktiken der Menschen und lassen kulturelle Heterogenität entstehen – eine Mixtur unterschiedlichster Einflüsse. Obwohl dieser urban swirl, wie Hannerz (ebd: 204) die dynamische, aus verschiedenen Strömungen bestehende Mischung nennt, für alle Zentren charakteristisch ist, besitzt dennoch jede Stadt ihre spezifische Komposition, die sich im Kontext ihrer historischen, politischen und ökonomischen Entwicklungen herausgebildet hat. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts machten die Salzkarawanen in Bamako Halt, um ihre Waren auf dem Markt zu verkaufen, bevor sie, mit Sklaven und Gold versehen, wieder den Rückweg antraten. Später durch den kolonialen Bau der Eisenbahnstrecke bis Dakar und die Schifffahrt auf dem Niger konnte Bamako seine strategisch günstige Position weiter ausbauen. Die Stadt entwickelte sich zu einem Drehkreuz nicht nur für den Nord-Süd-Handel, sondern auch auf der West-Ost-Achse – als ein Standort zwischen Atlantik und dem Inneren West-Afrikas. Die Flüsse von Waren und Ideen, die sich durch die Stadt bewegten, haben ihre Eindrücke hinterlassen: Afrikanische Konzeptionen trafen auf importierte islamische und europäische Vorstellungen, haben sich weiter

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diversifiziert, zu neuen Perspektiven zusammengefügt und im Laufe der historischen Prozesse eine für Bamako spezifische kulturelle Heterogenität kreiert. Mit den Waren kamen auch Menschen in die Stadt; einige blieben nur für kurze Zeit, viele andere liessen sich nieder, trugen zum rapiden Bevölkerungswachstum bei. Auch heute kennzeichnen Mobilität und Migration in wesentlichem Masse das Leben in der Stadt. Doch es ist nicht allein die Konzentration von Menschen an einem Ort, sondern es sind vor allem deren Eigenarten wie sie Alltag und soziales Leben gestalten, welche die für alle Städte typische Diversität produziert. Der Umgang mit diesen Flüssen von Waren, Ideen und Menschen, das heisst mit der grundsätzlichen Offenheit der Stadt, erweitert nicht nur das Handlungsspektrum der jeweiligen Bewohner, sondern er trägt vor allem zu einem ausgeprägten Sinn für Flexibilität bei. Die Entstehungsprozesse dieser drei Charakteristika – Heterogenität, Diversität und Flexibilität –, die für Bamako ebenso wie für viele andere Städte in postkolonialen Kontexten typisch sind, will ich in den folgenden Abschnitten näher untersuchen.

6.1 H E TEROGENITÄT Oralen Überlieferungen zufolge hat sich der Jäger Diamoussadian Niaré, ein Bamana, um 1750 mit seiner Familie und Gefolgschaft aus dem Lambidou (einer Gegend bei Nioro du Sahel, nördlich von Bamako) kommend an den Ufern des Nigers niedergelassen – etwas weiter westlich als das heutige Zentrum der Stadt. Einige Jahre später etablierten sich ebenfalls zwei erfolgreiche Händlerfamilien, die Touré und Dravé, in dieser Ansiedlung. Im Gegensatz zu den animistisch orientierten Niaré, waren die beiden neuen Clans islamisiert und vor allem sehr wohlhabend, so dass sie kurz nach ihrer Ankunft die erste Moschee der Stadt errichten liessen (Philippe 2009: 22). Die frühesten schriftlichen Quellen, in denen Bamako2 erwähnt ist, stammen vom britischen Afrikareisenden Mungo Park, der 1796 die Stadt erreichte. Obwohl Park die aussergewöhnliche Gastfreundschaft der Bewohner würdigte, war er von der Grösse der Stadt, die als Markt für Salz, Sklaven und Gold weitum bekannt war, ziemlich enttäuscht, vom Reichtum der Bewohner allerdings stark beeindruckt (Park 1771-1806). Einige Jahre später jedoch, als der französische Leutnant Borgnis-Desborde 1883 mit seinem Bataillon die Stadt besetzte, war von dem ehemaligen Glanz nicht mehr viel übrig. Interne Rivalitäten zwi2 | Über die Bedeutung des Namens Bamako existieren verschiedene Auslegungen – unter anderen die Version, dass er sich von bamba ko (das Wasser des Krokodils) ableitet; dafür würden auch die drei Krokodile sprechen, die als Wahrzeichen der Stadt die drei Gründerfamilien symbolisieren (Konaté 2003 :7).

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schen den islamisch und den animistisch orientierten Familien erleichterten den Franzosen den Einzug in die Stadt, die sie in den ersten Jahren vor allem als militärische Basis nutzten (Van Westen 1995: 65). Erst ab 1898 nach dem Sieg über Samorys Truppen3 begannen die Besatzer in die infrastrukturelle Entwicklung der Stadt zu investieren. Gleichzeitig mit der Inbetriebnahme der Dampfschifffahrt auf dem Niger verkehrte ab 1904 auch ein Zug bis St.Louis im Senegal, dessen Strecke 1923 bis zum Hafen von Dakar erweitert wurde (Meillassoux 1965: 126). Dieser Ausbau des Transportnetzes, der Bamako als den wichtigsten Verkehrsknotenpunkt im Inneren WestAfrikas etablierte, brachte die entscheidende Wende. In den folgenden sechzig Jahren vollzog sich die urbane Entwicklung einzig und allein nach kolonialen Mustern. Mit der Eisenbahn zog auch der europäische Lebensstil in die neue Hauptstadt des Französisch-Sudan ein. Bamako sollte, wie viele andere afrikanische Städte auch, als »Schaufenster« dienen, das den Erfolg der Kolonialisierung und ihrer als fortschrittlich angesehenen Werte wie Freiheit, Rationalität und Individualismus demonstriert (Matsuda 1993: 123). Um den ästhetischen Massstäben einer kolonialen Hauptstadt zu entsprechen, entschied sich die Administration zu einer Radikallösung: das ganze afrikanische Zentrum wurde abgerissen, um Platz für eine moderne Stadt mit mehrstöckigen Kolonialbauten, weiträumigen Gärten und gross angelegten Alleen freizugeben. Die Bewohner der ursprünglichen Quartiere mussten weichen und konnten sich nur noch am Rande des Zentrums niederlassen (Philippe 2009: 136).4 Im Gegensatz zum europäischen Bamako, das mit Elektrizität, Wasserleitungen, geteerten Strassen, mit Freizeiteinrichtungen wie Kino, Cafés, Sportclubs und einer Pferderennbahn ausgestattet wurde, sich also an einer urbanen französischen Architektur orientierte, mangelte es den afrikanischen Vierteln, den so genannten villages indigènes, an grundlegender Infrastruktur. Doch die Marginalisierung der afrikanischen Bevölkerung vollzog sich nicht allein in räumlicher und struktureller Hinsicht. Europäische Handelshäuser unterban-

3 | Samory Touré war ein muslimischer Militärführer, der – von England mit modernen Waffen ausgestattet – weite Teile Westafrikas einnehmen konnte. Mehrere Jahre kämpfte er mit seinen Truppen in der Region um Bamako gegen die französische Kolonialmacht und gegen eine Bevölkerung, die nicht bereit war, zum Islam zu konvertieren. 1898 wurde er von den Franzosen gefangen genommen und ins Exil nach Gabun deportiert (Ki-Zerbo 1990: 401f). 4 | Zwischen 1918 und 1922 breitete sich die Stadt vornehmlich entlang der neuen Bahnlinie aus; eine zweite Serie von Quartieren entstand anfangs der 1950er Jahre im Nordwesten der Stadt. Erst ab 1960 mit der Fertigstellung der Brücke konnte auch das rechtseitige Ufer des Nigers besiedelt werden (Philippe 2009: 219).

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den auch die lukrativen Aktivitäten der afrikanischen Händler und drängten diese in den Bereich des Kleinhandels ab (Van Westen 1995: 75). Als Folge dieser durchgreifenden Veränderungen war die Entwicklung von Bamako ab den 1920er Jahren untrennbar mit der wirtschaftlichen Lage in Europa und USA verknüpft. Die Weltwirtschaftskrise, ausgelöst durch den Börsencrash der Wall Street von 1929, versetzte die Stadt in eine bis nach dem zweiten Weltkrieg andauernde Stagnation. Erst als der Weltmarkt dringend nach Rohstoffen verlangte, begann eine Phase kontinuierlicher Prosperität. Das vehemente Bevölkerungswachstum, das diese Expansion begleitete, zwang nun die Regierung, auch nach Verbesserungen für die afrikanische Bevölkerung zu suchen. Doch die neuen Gesundheitsdienste und Schulen waren weit davon entfernt, den vorhandenen Bedürfnissen Genüge zu tun. Doch da die Kolonialmacht auf politischer Ebene vom bisher herrschenden régime de l’indigénat Abstand nahm, wurden aus den »Subjekten« des Französisch-Sudans nun Bürger, die ihre Interessen parlamentarisch selbst vertreten konnten (Meillassoux 1968: 13). Im Laufe der 1950er Jahre formierte sich eine eigenständige afrikanische Elite. Sie bestimmte sowohl das wirtschaftliche wie auch das politische Leben der Stadt, wobei – in Abgrenzung zum christlichen Glauben der Kolonialmacht – das Bekenntnis zum Islam ein wichtiges Element der neuen urbanen Identität darstellte: With the development of urban life and the growth of a social elite, Islam became the near-compulsory religion of all Bamako dwellers, and in 1957 an impressive mosque was built in the heart of the town. (Meillassoux 1968: 13)

Bestärkt durch das neue Selbstverständnis, begann sich eine politische Bewegung5 zu bilden, die nicht mehr zu bremsen war. Die Zeit schien reif für grundlegende Veränderungen: 1960 erlangte das Land gemeinsam mit dem Senegal als Fédération du Mali die Unabhängigkeit, teilte sich aber nach wenigen Monaten in die beiden Republiken Senegal und Mali auf. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich innerhalb kürzester Zeit von knapp 100 Jahren drei völlig unterschiedliche Sinnsysteme überlagerten und durchdrangen, selbst wenn die einzelnen Systeme keineswegs als homogen und in sich geschlossen zu betrachten sind. Bis heute gelten die drei Orientierungen – verkürzt gesagt die animistische, islamische und koloniale –, die immer im Zusammenhang mit politischer Macht und Autorität standen, als die zentralen Strömungen innerhalb der für Bamako typischen kulturellen Heterogenität. 5 | Rassemblement Démocratique Africain (RDA) war die Partei der west-afrikanischen Territorien Frankreichs, deren Programm den Kampf für die Unabhängigkeit beinhaltete. Sie stand in Opposition zur Parti Progressiste du Soudan (PPS), die eine Autonomie mit französischer Unterstützung befürwortete (Van Westen 103).

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6.2 D IVERSITÄT Eine Untersuchung von 1990 zeigt, dass zwei Drittel aller Bewohner von Bamako zwischen 15 und 59 Jahren nicht in der Stadt geboren sind (Traoré et al. 1995: 42). Das rapide Wachstum von Bamako beruht also zum grössten Teil auf Migrationsbewegungen – auf Menschen, die mit ihren Ideen und Erwartungen die Stadt beleben und damit einen entscheidenden Beitrag zur urbanen Diversität leisten. Modibo Keita, der erste Präsident der unabhängigen Republik, versuchte während seiner kurzen Regierungszeit (1960- 1968) die Wanderungsbewegungen mit Massnahmen wie Reisevisa und Strassensperren zu unterbinden (Diarra et al. 1994: 234). Sein Nachfolger General Moussa Traoré hingegen, der sich 1968 mit einem Coup d’état an die Macht putschte und damit eine 23 Jahre dauernde Militärdiktatur einleitete, setzte auf freie Mobilität, – dies in der Hoffnung, das Land aus der wirtschaftlichen Stagnation zu befreien. Doch die anfangs der 1970er Jahre einsetzenden Dürreperioden machten alle dahingehenden Anstrengungen zunichte. Die Leute, die sich nun auf den Weg nach Bamako machten, kamen nicht als motivierte Arbeitssuchende, sondern als erschöpfte Flüchtlinge, die ihre Dörfer verlassen mussten, um dem Hungertod zu entgehen. Durch diesen ruralen Exodus erlebte Bamako einen neuen Zuwanderungsschub: die Einwohnerzahl stieg zwischen 1968 und 1974 von 182.000 auf 317.000 (Bleneau 1976 in Van Westen 1995: 88). Für die urbanen Haushalte, deren Budget durch die aufgenommenen Flüchtlinge ohnehin schon strapaziert war, bedeuteten die ab 1983 von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds verordneten Strukturanpassungsprogramme eine zusätzliche, kaum mehr tragbare Belastung. Staatsangestellte wurden entlassen, Gehälter gekürzt und Ausgaben im öffentlichen Bereich radikal gestrichen, worauf zahlreiche Familien innerhalb kurzer Zeit verarmten (Ouédraogo et al. 1995: 18). Die Arbeitslosigkeit erreichte ein bisher unbekanntes Niveau und traf vor allem auch die gut ausgebildete Schicht der Beamten. Viele Beamte konnten nicht mit einer anschliessenden Festanstellung rechnen, sondern mussten ihre Arbeitssuche auf den informellen Bereich konzentrieren (Beauchemin und Boucquier 2003: 13). Dieser Sektor, der auch für die meisten Migranten das einzig mögliche Betätigungsfeld darstellt, war ausserstande, dem gesteigerten Andrang zu entsprechen, so dass sich Arbeitswillige mit unregelmässigem und schlecht bezahltem Broterwerb über die Runden bringen mussten.6

6 | Die Studie von Piché und Gingras (1998: 68f) beleuchtet die Situation von Migranten auf dem informellen Arbeitsmarkt von Bamako und kommt dabei zu einer überraschenden Erkenntnis: Migranten sind weit weniger von Arbeitslosigkeit betroffen sind als Nicht-Migranten. Die meisten finden innerhalb ihres ersten Jahres eine Arbeit – sehr

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Die anhaltende wirtschaftliche Krise unterminierte schliesslich die Macht des militärischen Regimes und mündete im März 1991 in eine blutige Revolution, die Mali in eine nach westlichen Mustern ausgerichtete Demokratie führte. Für kurze Zeit verbesserte sich unter der Präsidentschaft von Alpha Oumar Konaré (1992 – 2002) die ökonomische Lage. Eine optimistische Stimmung, vermittelt über infrastrukturelle Investitionen, freie Presse und eine Welle von NGO-Gründungen, machte sich breit. Als jedoch 1994 der FCFA (Franc de la Communauté Financière d’Afrique), die Landeswährung, um 50  % entwertet wurde, lösten sich viele Hoffnungen wieder in nichts auf und die Aussicht auf ein Ende der wirtschaftlichen Misere verflüchtigte sich zunehmend (Clément et al. 1996). Mit diesen drei einschneidenden Ereignissen – Dürre, Strukturanpassungsprogramm und FCFA Entwertung – veränderten sich auch die Migrationsmuster. Der angespannte Arbeitsmarkt von Bamako verlor durch die urbane Krise wesentlich an Attraktivität (Van Westen 1995: 112). Obwohl chercher l’argent weiterhin als zentrales Migrationsmotiv bestehen bleibt, gewinnen auch andere Beweggründe an Bedeutung. Zum einen bietet Bamako das breiteste Angebot an Ausbildungsstätten und medizinischer Versorgung. Zum anderen entwickelte sich die Stadt für immer mehr Menschen zu einem Fluchtpunkt, der individuell ausgerichtete Lebensentwürfe, Emanzipation und Autonomie verspricht. Diese Aspekte werden vor allem in Untersuchungen betont, die sich mit weiblicher Migration befassen (siehe dazu Findley 1989; Vaa 1990).7 Anonymität ist ein weiteres Argument; sie macht das Leben in der Stadt attraktiv und viele hoffen, von ihr profitieren zu können. Im Vergleich zur dörflichen Lebenswelt erscheint Bamako als die grosse Freiheit: »À Bamako tout le monde a ses problèmes. Les gens de Bamako cherchent leurs propres affaires. Toi, tu peux faire ce que tu veux, on ne t’observe pas comme ici« sagt eine HIVpositive Frau (w, 32 Jahre, 3.2.2005). Doch auch Bamako hat, wie wir später sehen werden, seine dörflichen Seiten, und Anonymität ist hier keineswegs garantiert.

wahrscheinlich, so die Vermutung, weil sie weniger wählerisch sind und eher bereit, auch schlechte Bedingungen zu akzeptieren. 7 | Ein relativ neues Phänomen stellt die Migration junger, unverheirateter Frauen dar, die sich in Bamako als Dienstmädchen bewerben, um sich ihre Brautausstattung (meist Haushaltsutensilien und Kleidung) zu verdienen. Im Gegensatz zu jungen Männern, die es als ihre moralische Verpflichtung ansehen, regelmässig Geld oder Güter ins Dorf zu schicken, verwenden die Frauen ihren Lohn vornehmlich für eigene Bedürfnisse. Ins Dorf zurückgekehrt geniessen sie aufgrund der städtischen Konsumgüter bei ihren Altersgenossen besondere Achtung und können sich eine gewisse Unabhängigkeit erlauben (Diarra und Koné 1991: 57; Lesclingand 2004: 34f).

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Für die HIV-infizierten Personen, mit denen ich gearbeitet habe, ist es wichtig, sich unbehelligt von Nachforschungen ihrer Familie oder der Nachbarschaft bewegen zu können. Um ihr Geheimnis zu wahren, fühlten sich viele von ihnen (insgesamt 12 von 27 Personen) gezwungen, den Wohnsitz zu wechseln – sei es, dass sie nach Bamako übersiedelten, dass sie innerhalb der Stadt umzogen oder zwischen unterschiedlichen Wohnorten pendelten. Es scheint so, als ob Mobilität eine unvermeidbare Begleiterscheinung der Krankheit wäre. Denn es ist ratsam, den Wohnsitz zu wechseln, bevor aus Anspielungen Anschuldigungen werden: Pendant plusieurs années, nous avons habité ensemble avec les parents de mon mari. Et c’est seulement l’année dernière que j’ai quitté la grande famille. Vous savez, la vie entre femmes … certaines sont compréhensibles et tolérantes, mais d’autres sont difficiles et provocatrices. Il y a une femme là-bas qui m’a fait du chagrin (dusukasi). Pour moi, je pense qu’elle doute seulement de ma maladie et elle me provoque avec ça en me disant des choses qui me font mal. J’ai dit à mon mari que cette femme me fatigue trop dans cette maison. Il a donc décidé de déménager dans un autre quartier. Maintenant on a une chambre pour nous seul et de temps en temps je vais dans la grande famille, j’apporte des plats et on cause ensemble. Depuis que nous avons déménagé, il n’y a plus eu de problème entre nous. (w, 30 Jahre, 16.12.2003)

Das Ziel eines Umzugs ist es also nicht, familiäre Bindungen aufzulösen, sondern das Verhältnis von Nähe und Distanz selbst zu bestimmen und dadurch mehr Handlungsraum für eigene Unternehmungen zu gewinnen – so unter anderem für Konsultationen bei CESAC oder für die Besuche einer Selbsthilfegruppe. In diesem Sinne bietet der urbane Raum seinen Bewohnern einen wesentlichen Zuwachs an persönlicher Freiheit, gleichzeitig wiederum verändern diese gelebten Freiheiten das Gesicht der Stadt.

6.3 F LE XIBILITÄT Die verschiedenen kulturellen Sinnsysteme, die im Laufe der historischen Prozesse in Bamako aufeinander trafen, bilden sowohl die Grundlage für die Entstehung von Flexibilität, sorgen aber auch für Konkurrenz und Konflikte. Sozialwissenschaftliche Arbeiten reflektieren diese unterschiedlichen Annäherungs- und Abgrenzungsversuche, die sich in Abhängigkeit von wirtschaftlichen und politischen Machtverhältnissen, von internen Streitigkeiten und externen Interventionen, von regionalen Bewegungen und internationalem Warenfluss diversifiziert und dynamisiert haben. So bezeichnet Diedrich Westermann (1951; 1952) die Wandlungsprozesse, die sich anfangs der 1950er Jahre vollziehen, als eine Anpassung an europäische Ideen. Unter dem Einfluss hoffnungsvoller

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Modernisierungstheorien spricht er von einer »Europäisierung« Westafrikas (Westermann 1951: 32). Andererseits beobachtet er auch eine äusserst kritische und misstrauische Haltung von afrikanischen Intellektuellen gegenüber den von aussen eingeführten Neuerungen, insbesondere gegenüber den Kolonialherren, den Trägern dieses Wandels (Westermann 1952: 111). Gute dreissig Jahre später erscheint von Jean-Loup Amselle (1984) ein Artikel mit der Überschrift »Bamako s’arabise«. Er beschreibt die Hoffnungslosigkeit und Resignation, die in Bamako herrschen und gegen die der Wahabismus, eine neue, von Saudiarabien ausgehende religiöse Richtung, eine Zuflucht verspricht: Aujourd’hui, les Bamakois sont abattus, toutes les issues semblent bouchées et aucune alternative politique ne se dessine à l’horizon. Il faut se raccrocher à quelque chose: le ›radeau de Mahomet‹ peut paraître attrayant à ceux qui sont déçus par les idéologies occidentales ou trop éloignés d’elles. (Ebd: 192f)

Neben den seit längerem präsenten Bruderschaften der Kadriya und Tijaniya gewinnt die orthodox ausgerichtete Wahabiya vermehrten Zulauf – vor allem von Seiten der Händler und, als eine für die damalige Zeit neue Entwicklung, aus den Reihen der Intellektuellen. Sie begreifen die strenge Doktrin dieser Bruderschaft, die sich gegen das okzidentale Verständnis von Wissenschaft positioniert, als ein Instrumentarium zur »moralischen Aufrüstung« (ebd: 196). Wiederum fast zehn Jahre später zeigt Louis Brenner (1993), dass es keinen einheitlichen Weg gibt, Muslim zu sein. Die arabisch-islamische Bewegung, die ihre Stärke in Mali hauptsächlich über die Opposition zum okzidentalen Imperialismus gewonnen hat, besässe zwar das Potential einer verbindenden Referenzkultur, ist jedoch längst in viele einzelne, sich mittlerweile rivalisierende Splittergruppen zerfallen.8 Es würde hier zu weit führen, auf die Konfliktlinien, wie sie in sozialwissenschaftlichen Arbeiten rezipiert werden, näher einzugehen. Wichtig für meine Argumentation hingegen ist, welche Spuren diese Einflüsse in den subjektiven Erfahrungen der Bewohner und Bewohnerinnen hinterlassen haben. Denn das Zusammentreffen verschiedenster Bedeutungen heisst auch, dass alltägliche Handlungen vom Umgang mit Ambivalenzen bestimmt sind und Widersprüche nah beieinander liegen. Diese Konstellation hat nicht nur Folgen für die Selbstwahrnehmung, sondern auch für die Interaktionen mit anderen. »Auhourd’hui on ne sait plus qui est qui« ist eine in Bamako übliche Redensweise. Sie zielt eigentlich auf den Charakter der anderen Personen, kann jedoch auch als Selbstbeschreibung zutreffen. Ein Freund von mir, er ist Archäologe, 8 | Für eine detaillierte Darstellung der diversen Diskurse im Spannungsfeld islamischer Identitäten, siehe Brenner (1993a) und Soares (2005).

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schildert seine Empfindung, zwischen den verschiedenen Welten verloren zu sein, folgendermassen: Actuellement on est dans une crise, parce qu’on est en train de perdre nos valeurs. On veut être comme vous en Europe. Mais c’est le social qu’il faut sauvegarder, il ne faut jamais le perdre. Ici ce n’est pas l’islam qui gère le social au Mali, c’est la culture de nos ancêtres. [...] Aujourd’hui l’homme est religieux quand il veut en profiter, il est mondain quand il veut en profiter, il change selon son intérêt, il est égoïste. Le problème est qu’on ne sait plus qui nous sommes. Moi personnellement je suis trois personnes à la fois car j’ai trois cultures qui me marquent. Je suis un Africain, j’ai ma culture africaine, je veux la garder, je tiens à ma façon de gérer ma famille, ma façon de gérer mes enfants. Je veux être bamana et digne de l’être, ma langue, ma culture et mon histoire [...] Après je suis musulman, une autre culture qui est venue du Moyen Orient et qui est venue me gérer, je suis croyant et je veux que ma religion soit appliquée, donc j’ai deux cultures. Et enfin j’ai été colonisé par l’Occident et géré par la laïcité d’aujourd’hui, une culture purement Européenne. Donc en tout j’ai trois cultures, donc je suis perturbé, je ne peux pas être les trois à la fois. (m, 41 Jahre, 17.3.2007)

Eine Krise zeichnet sich, laut Bourdieu (1988: 286f) dadurch aus, dass die Verlässlichkeit der sozialen Ordnung in Frage gestellt ist; alles wird möglich oder erscheint zumindest so. Damit entzieht sich Zukunft jeglicher Bestimmbarkeit und die Gegenwart erhält jenen seltsam schwebenden Charakter. Obgleich in Bamako das Sprechen über die Krise, über mangelnde Prinzipien und unzuverlässige Partner eine gewisse Formelhaftigkeit angenommen hat, zeichnet sich das Handeln durch eine grundsätzliche Offenheit aus. Die soziale Pragmatik, die mein Freund als Opportunismus bewertet, weil sie je nach Interesse von der kulturellen Vielfalt zu profitieren sucht, ist ein möglicher Ausdruck dieser Offenheit. Ein anderer Aspekt ist Flexibilität. In Situationen, die von zunehmenden Ambivalenzen geprägt sind, ist es schwierig, gültige Vereinbarungen zu treffen, welche die Beziehungen zwischen einzelnen Mitgliedern untereinander regeln könnten. Auf welches Referenzsystem soll in der aktuellen Situation Bezug genommen werden? Welche Reaktion wäre dazu angetan, den Erwartungen zu entsprechen, ohne dabei die eigene Position zu verlieren? Welche Äusserungen könnten zu viel preisgeben und damit nachträgliche Korrekturen verhindern? Eine Praxis hingegen, die sich über ihren provisorischen und elastischen Charakter definiert, erweitert den Raum des Möglichen, statt ihn durch Eindeutigkeit zu begrenzen. Eine Kommunikation, die die Dinge nie beim Namen nennt, sondern sie weitgehend im Ungefähren belässt, befreit von der Zerrissenheit zwischen den verschiedenen Welten, fördert hingegen die Empfindung von Kontingenz – von einer Zukunft, die allein vom Zufall bestimmt ist. Der Linguist und Soziologe

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Hamidou Magasa beschreibt seine Gesellschaft aus diesem Grunde mehr im Schein als in der faktischen Wirklichkeit verhaftet: Les gens ici sont plus dans l’esprit que dans le réel. Même s’ils font l’apparence d’être intéressé par le réel, le réel ne les intéresse pas, ce que les intéresse c’est l’imaginaire, ce que le réel provoque comme pensée, comme mise en scène. Toujours on joue sur le double registre, jamais exclusif, jamais inclusif. C’est un modèle de gestion des relations humaines. Tu peux tout faire là-dedans – maximer, amplifier, diminuer. Et ce modèle traverse toutes les relations sociales ici. On n’est jamais dans une seule situation, on est toujours dans la situation de gestion du dédoublement. Et crois-moi, c’est ça qui est fatigant, qui fait tout les vas et viens en permanence. (25.2.2008)

Im Gegensatz zu den Befürchtungen meines Freundes, des Archäologen, die eigene Identität in kulturellen Gegensätzen zu verlieren, formuliert Magasa eher die Gewandtheit, mit diesen Widersprüchen zu jonglieren. Die Kunst, sich im urbanen Strudel behaupten zu können, besteht darin, mit und auf seinen Strömungen zu surfen und ihn als offenes Experimentierfeld zu nutzen, mit verschiedenen Identitäten und Rollen zu jonglieren (siehe dazu auch Brand 2001: 87f). Indessen braucht es für eine elegante und erfolgreiche Jonglage gewisse Fähigkeiten, über die nicht jedermann verfügt. So betont der zu Anfang des Kapitels zitierte Aphorismus über Bamako ausschliesslich die Chancen, die die Stadt zu bieten hat: Ka don ni kème ye Ka bò ni ba kelen ye

Wer mit 100 kommt, Geht mit 1000 wieder fort

Dies relativierend, sind in den letzten Jahren jedoch zwei Zeilen hinzugefügt worden: Ka don ni ba kelen ye I bolan lankolon ka bò

Wer mit 1000 kommt, Verlässt sie mit leeren Taschen

Sie sprechen über die Konsequenzen, falls man der urbanen Herausforderung nicht gewachsen sein sollte. Denn die Stadt kann problemlos alle Menschen aushalten, doch ist der Einzelne auch in der Lage, den Herausforderungen der Stadt standzuhalten?

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7. Urbane Anerkennung

Die Mehrzahl der verschiedenen ethnischen Gruppierungen in Bamako versteht sich als Teil der grossen Mandégesellschaft.9 Geographisch gesehen umfasst die Welt der Mandé in etwa die Region, die als Kernland des alten Reiches Mali gilt und in deren Zentrum Bamako liegt. Viele der verschiedenen Ethnien in Westafrika betrachten diese Region als ihr Herkunftsgebiet und bringen ihre Ursprungsgeschichte in Zusammenhang mit dem legendären König des Reiches, mit Sundjata Keita (Jansen 2004: V). Insofern bezieht sich der Begriff Mandé, anders als die in früheren ethnologischen Arbeiten übliche Trennung zwischen den einzelnen Ethnien in Mali (u.a. Monteil 1977; Tauxier 1927; Paques 1954; Zahan 1974), auf gemeinsame historische, politische und kulturelle Wurzeln.10 Zudem sprechen nicht alle, aber doch die meisten der unterschiedlichen Gruppierungen eine Sprache, die sich linguistisch der grossen Familie der Manding-Sprachen zuordnen lässt, so neben vielen anderen auch die Bamana (deren Sprache Bamanakan zur lingua franca von Mali deklariert wurde), Djoula, Malinké oder Soninké (Kastenholz 2001: 376). Aufgrund ihres gemeinsamen Hintergrundes besitzen Mandégesellschaften ähnliche Sozialstrukturen und damit auch ähnliche Vorstellungen darüber, welche Kriterien für soziale Anerkennung massgeblich sind (Bird und Kendall 1980: 13). Die im Folgenden vorgestellten Kriterien – wie soziale Kategorien, Stufen im Sozialisationsprozess und Soziabilität – sind im urbanen Kontext von 9 | In der Regel basieren Ethnonyme auf linguistischen Klassifikationen. Im Falle von Manding respektive Mande existieren jedoch je nach europäischer oder nordamerikanischer Tradition unterschiedliche Terminologien (siehe dazu Vydrine 2004). Ich verwende hier einheitlich die emische Bezeichnung Mandé, die sich auf den gemeinsamen, historisch begründeten Ursprung bezieht. 10 | Kritische Auseinandersetzungen mit der Konstruktion ethnischer Kategorien in der Mandéregion finden sich bei Bazin (1985) und Amselle (1990). Beide Autoren verweisen darauf, dass es ausschliesslich im Interesse der kolonialen Autoritäten lag, die ursprünglich relativ offenen und bis zu einem gewissen Grad auch selbst wählbaren ethnischen Bezeichnungen als fest umrissene Kategorien zu etablieren.

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Bamako zwar in stetigen Aushandlungsprozessen begriffen und mögen auch viel von ihrem Einfluss eingebüsst haben, verbinden sich aber noch immer mit Anerkennung. Mein Anliegen hier ist – abgesehen davon, einen Einblick in die soziale Welt der Mandé zu geben – die grundlegenden Richtlinien aufzuzeigen, die für Anerkennung und Zugehörigkeit leitend sind und sich für die urbane Bevölkerung von Bamako als relevant herausgestellt haben.

7.1 A NERKENNUNG UND Z UGEHÖRIGKEIT Eine der prominentesten Arbeiten zu Anerkennung im deutschsprachigen Raum kommt aus philosophischer Richtung. Ausgehend vom Hegelschen Begriff der Anerkennung entwickelt Axel Honneth (2000) Prinzipien einer Moraltheorie, die von drei unterschiedlichen Anerkennungsformen, von Fürsorge, Respekt und Wertschätzung, geleitet sind. Als moralische Anforderungen sichern sie die persönliche Integrität, machen aber auch deutlich, wie abhängig das Selbstbewusstsein des Menschen – und im weiteren Sinn der soziale Zusammenhalt – von Erfahrungen der Anerkennung ist (ebd: 71). Damit betont Honneth vor allem den Aspekt der gegenseitigen Anerkennung, der Gleichheit Aller. Eine andere Perspektive auf Anerkennung zeigt sich in der soziologisch angelegten Untersuchung von Stefan Voswinkel (2001). Neben der differenzierten Auseinandersetzung mit sechs unterschiedlichen Anerkennungsmodi (Achtung, Wertschätzung, Würdigung, Bewunderung, Ehre und Reputation) befasst er sich vor allem mit der, wie er sagt, modernsten Form von Anerkennung, mit Reputation (ebd: 107). Sie steht im Zusammenhang mit Modernisierungsprozessen und betont den distinktiven Charakter von Anerkennung, den Aspekt der Hervorhebung und der Höherstellung. Gleichheit und Besonderheit kennzeichnen also zwei unterschiedliche Orientierungen, die im Begriff »Anerkennung« angelegt sind. Die Kriterien von Anerkennung, die in meiner Untersuchung hinsichtlich des guten Namens eine zentrale Rolle spielen werden, beziehen sich jedoch ausschliesslich auf Gleichheit. Doch als gleich anerkannt zu werden ist nie selbstverständlich; auch in der sozialen Welt der Mandé wird Anerkennung, wie ich nachfolgend zeigen werde, aufgrund bestimmter Eigenschaften und Ressourcen erwiesen. Allerdings, und dies gilt es bei der Untersuchung von Anerkennung immer zu bedenken, sind die Kriterien nie für alle Mitglieder der Gesellschaft in demselben Masse gültig, sondern ihre jeweilige Relevanz hängt massgeblich vom Kontext und damit auch von den Perspektiven und Positionen der Beurteilenden ab. Aus der Perspektive derjenigen, die Anerkennung suchen, stellt sich die Frage, von wem sie anerkannt werden wollen und vor allem, als was sie anerkannt werden wollen. Nun speist sich Anerkennung als soziale Wertschätzung nicht nur aus den spezifischen Anforderungen bestimmter Gruppen und Kreise, son-

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dern sie regelt auch die Zugehörigkeit zu diesen. In seiner Publikation »Phänomene der Macht« verbindet Heinrich Popitz (1992: 139) das Streben nach Anerkennung und Zugehörigkeit mit Autorität respektive mit Autoritätsbedürfnissen. Dabei beschreibt er eine Konstellation, bei der das gesamte soziale Umfeld als Autorität ausübende Instanz auftritt. Sie lässt sich auf die Situation HIVpositiver Personen in Bamako übertragen: Die Entscheidung über Zugehörigkeit kann aber auch bei der Gruppe als Ganzes liegen. Dann übt die »Gruppe als Ganzes« Autorität aus, genauer: alle und jeder (kursiv im Original, N.S.). Alle, indem sie mitwirken an einer gemeinsamen Stimmung des Vertrauens oder Misstrauens gegenüber einem Mitglied, auch wohl an gemeinsamen Verdikten. (Ebd: 142)

Anerkennung bedeutet hier, einen sozialen Platz einzunehmen, mitreden zu können, kurzum: als vollwertiges Mitglied der Gruppe zu gelten. Wenn Anerkennung verweigert wird, dann reisst auch das Band der Zugehörigkeit und die betroffene Person riskiert in den Status einer Nicht-Person, in den sozialen Tod abzugleiten. Schliesslich sind Anerkennungskriterien auch starken Wandlungsprozessen unterworfen; eine in den verschiedenen Diskussionsrunden in Bamako immer wieder angesprochene Thematik bezog sich darauf, inwieweit diese Kriterien nicht durch finanzielle Mittel ersetzbar sind. Obwohl sich viele von dieser »materialistischen« Sicht der Dinge distanzierten oder sie zumindest sehr kritisch reflektierten, wurde sie im Zusammenhang mit modernen Zeiten und urbanem Kontext als durchaus üblich eingeschätzt – mit den Worten einer meiner Nachbarinnen: À Bamako, tout est basé sur l’argent. Il n’y a rien d’autre que l’argent, c’est le modernisme. Money … Si tu n’as pas de l’argent tu n’es pas une personne, tu es rien, un moins que rien. Mais si tu es un homme et tu as de l’argent, tu es reconnu par tout le monde – tu es le premier et le plus important. (26 Jahre, 26.2.2007)

In dieser Aussage wird zudem auch der differenzierende Charakter von Anerkennung deutlich: »Mann sein« und »Geld haben« macht hier den entscheidenden Unterschied. Mit anderen Worten: Anerkennungsbezüge sind in wesentlichem Masse auch sozial-strukturell bedingt (Popitz 1992: 139). In den nun folgenden Darstellungen, die nur einen Überblick über die in den Mandégesellschaften geltenden und zumeist auch hierarchisierend angelegten Anerkennungsstrukturen geben können, möchte ich vor allem zeigen, wie sich diese im Kontext der Stadt und der ökonomischen Krisen verändert haben.11 11 | In einigen Punkten gleichen diese Kriterien denjenigen, die sich mit dem kulturell spezifischen Modell einer sozialen Person (personhood) verbinden (siehe dazu Brand

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7.2 S OZIALE K ATEGORIEN In den Mandégesellschaften ist Alter eine der bedeutendsten Quellen von Anerkennung. Im Senioritätsprinzip spiegeln sich laut Meillassoux (1973: 82) die Bedingungen der landwirtschaftlichen Produktion: diejenigen, die zuerst da waren, haben das Land bebaut und die Grundlagen für eine erfolgreiche Ernte gelegt. Aus der Tatsache, dass die Jüngeren den Älteren ihr Überleben verdanken, ihnen etwas schuldig sind, leiten sich auch die Vorrechte der Alten ab. Auch im urbanen Umfeld von Bamako hat sich dieses Prinzip nicht wesentlich verändert: es sind die Alten, die das grösste Ansehen geniessen, deren Worte und Entscheidungen ein bedeutendes Gewicht besitzen. Eng mit Alter verknüpft sich die Kategorie Geschlecht und damit Vorstellungen, welche spezifischen Verhaltensweisen Männern und Frauen aufzeigen sollten. Das herrschende Ideal geht von der Komplementarität der beiden Geschlechter aus (Baerends 1998: 48). Zugrunde liegt der Gedanke, dass der Mensch – um als soziales Wesen zu gelten – auf einen Teil seiner selbst verzichten muss und zwar auf jenen, der das andere Geschlecht repräsentiert. Dieser Verzicht wird durch den Akt der Beschneidung symbolisiert (Smith 1973: 468f). Erst danach ist der Mensch fähig, mit anderen zusammen zu leben, zu heiraten und Kinder zu zeugen. Neben Komplementarität bestimmt männliche Dominanz und weibliche Unterordnung das Gender-Modell der Mandé. Der Mann ist der Chef der Familie und damit für die Sicherheit und den Unterhalt seiner Frau(en) und Kinder zuständig – für Ernährung, Unterbringung, Ausbildung und Gesundheit. Aus der Erfüllung dieser Aufgaben, die in Anbetracht der ökonomischen Krise immer schwieriger zu bewältigen sind und die er auf niemanden anderen abwälzen kann, erwächst seine soziale Anerkennung (siehe dazu auch Vuarin 2000: 146). Mandégesellschaften sind patrilinear organisiert und leben eine patrilokale (aus der Perspektive der Frau: virilokale) Wohnform. Selbst im urbanen Kontext von Bamako ist es nicht selten, dass bis zu 40 Personen aus drei klassifikatorischen Generationen, das heisst jeweils auch die (jüngeren) Brüder mit ihren Frauen und Söhnen und deren Frauen und Kindern, unter der Autorität eines Chef de famille (der Älteste der Lineage) zusammen leben.12 Eine grosse Familie 2001: 15f), unterscheiden sich aber durch das für Anerkennung relevante lokale Konzept »Soziabilität« (adamadenya). In diesem Sinne liesse sich festhalten, dass Zugehörigkeit und Anerkennung zwar auf dem Status einer sozialen Person basieren, diesen aber um wesentliche Aspekte erweitern. 12 | Gewöhnlich teilt sich eine so grosse Familie (famille élargie) innerhalb des Gehöfts in einzelne Haushalte auf, deren Mitgliederanzahl nie genau zu benennen ist – unter anderem deshalb, weil das permanente Kommen und Gehen von Besuchern die

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ist immer ein Zeichen von Reichtum und je mehr Mitglieder ein Familienchef um sich versammeln kann, umso höher ist sein Ansehen.13 Frauen – ob als Ehefrau oder als Tochter – sind immer von männlicher Autorität abhängig. Im Code du Mariage et de la Tutelle (Artikel 32, Absatz 2) ist festgelegt, dass der Mann seiner Frau Schutz schuldet, die Frau ihrem Mann hingegen Gehorsam (Boye 1987: 20). In diesem Sinne basiert die soziale Wertschätzung von Frauen wesentlich auf ihren Fähigkeiten, sich unterordnen und anpassen zu können. Wie sehr dieses Geschlechterverhältnis von der Bevölkerung mitgetragen wird respektive als Teil ihrer kulturellen Identität angesehen ist, zeigen auch die Reaktionen auf ein neues Familiengesetz zur Gleichstellung der Ehepartner, das im Herbst 2009 ratifiziert werden sollte. Nach tumultartigen Protestaktionen, an denen sich Frauen wie Männer beteiligten, musste es schliesslich wieder zurückgezogen werden – zu gross war der Widerstand dagegen (Vogl 2009).14 Neben Alter und Geschlecht bilden sozio-professionelle Kategorien ein drittes Kriterium, welche die Mandégesellschaften anhand unterschiedlicher Klassen vertikal strukturieren. Die Mehrzahl der Bevölkerung gehört der Schicht der so genannten freien Noblen (hòrònw) an, die sich ursprünglich aus Bauern und Viehzüchtern zusammensetzte. In der zweiten, viel kleineren und endogamen Kategorie – deswegen auch oft als Kaste bezeichnet – befinden sich die Angehörigen verschiedener Handwerksberufe (nyamakalaw) wie Schmiede, Gerber und Griots (jeliw). Letztere fungieren als Lobsänger und Chronisten der hòronw und sind als Meister des Wortes und der Musik bekannt. Die dritte Kategorie bilden die Sklaven (jònw); meist Nachfahren ehemaliger Nobler, die bei Razzien oder Kriegen gefangen genommen wurden und dadurch ihren freien Status verloren haben. In älterer Literatur über die verschiedenen Mandékulturen werden die drei sozio-professionellen Kategorien meist als ein absolutes und durch Geburt fiZusammensetzung variabel hält. Daneben existieren auch Wohnformen, die sich aus den räumlichen Trennungen der grossen Familien ergeben haben. In den letzten Jahren nimmt der Typus der Nuklearfamilie, bestehend aus einem Ehepaar mit Kindern, die sich ein Zimmer in einem Gehöft mit mehreren anderen Familien mieten, in Bamako zu (Miseli 1998: 60). Singlehaushalte hingegen sind eher die Ausnahme und für Frauen, die sich nicht den Ruf einer Prostituierten einhandeln wollen, ohnehin unvorstellbar. 13 | In diesem Zusammenhang sei das Phänomen des »Sozial-Parasitismus« (Miseli 1998: 54) erwähnt, unter dem die meisten wohlhabenden Chefs leiden, ihnen jedoch den guten Ruf eines Mannes einbringt, der über viele »Abhängige« verfügt. 14 | Doch gerade weil die Dominanz des Mannes als so fraglos gilt, existieren auch Bereiche, in denen Frauen Autorität besitzen und Kritik an der männlichen Vorherrschaft üben, selbst wenn diese Bereiche nicht öffentlich sichtbar sind (siehe dazu Roth 1994: 167f; Brand 2001: 132).

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xiertes System dargestellt, das die ganze Gesellschaft streng hierarchisch gliedert (Henry 1910: 161; Paques 1954: 63). Neuere Untersuchungen hingegen zeigen – analog zur Debatte um die Konstruktion von Ethnien –, wie durchlässig und prozessual diese Zuteilungen in der Praxis gehandhabt werden.15 In Bamako sind Rechte und Pflichten, die mit diesen Kategorien einhergehen, nur noch in bestimmten Situationen spürbar; am deutlichsten vielleicht bei Entscheidungen der Partnerwahl. Gewisse Söhne und Töchter nobler Familien halten es heute noch für unangebracht, sich mit jemandem aus einer »niedrigen« Kategorie einzulassen: Moi étant hòròn, je ne peux pas me marier avec une jeli, même si c’est possible aujourd’hui. Sinon normalement ce n’est pas recommandé, la famille n’est pas d’accord. Ton choix est respecté, mais c’est risquant, l’idée n’est pas appréciée. (m, 29 Jahre, 20.11.2006) Moi je suis hòròn, je ne peux pas me marier avec un jon; ma famille ne va pas accepter et je la respecte et jamais je vais draguer un homme de caste. (w, 23 Jahre, 12.3.2007)

Viele nyamakalaw und jònw dagegen halten dieses Denken für altmodisch und weisen darauf hin, dass sich in der urbanen Gesellschaft andere Gesichtspunkte wie zum Beispiel Reichtum oder Bildung durchsetzen: Heutzutage können alle als Noble gelten, sofern sie die drei V des Erfolges besitzen – Villa, Voiture et Verger (Villa, Auto und Grundstück). Auch in beruflicher Hinsicht haben die Kategorien nur noch bedingte Geltung, wie das Beispiel des jetzigen Staatspräsidenten Amadou Toumani Touré am besten zeigt. Er stammt aus einer Sklavenfamilie und wäre deshalb von jeder politischen Herrschaft ausgeschlossen. Allerdings benutzen Kritiker seinen sozialen Rang noch immer als Argument, warum er aufgrund seiner Familie gar nicht in der Lage sein könne, gute Politik zu betreiben (LeSphinx 2006: 13).

15 | In den letzten Jahren sind einige Publikationen erschienen, die sich mit der sozialen Position der nyamakalaw befassen. Sie zeigen vor allem, wie vieldeutig und kontextgebunden sich die Beurteilung eines Status gestaltet. Die Beziehungen zwischen hòrònw, nyamakalaw und jònw waren weniger von einer eindeutigen Hierarchie bestimmt, sondern vielmehr eine Frage der Perspektive. Vom Standpunkt der hòrònw sind nyamakalaw nur Befehlsempfänger, diese hingegen sehen sich selbst als die treibende Kraft an, ohne die hòrònw gar nicht in der Lage wären, Macht auszuüben (siehe dazu Conrad und Frank 1995: 13; Zobel 1997: 95f; Jansen 2004: 156).

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7.3 S TUFEN IM S OZIALISATIONSPROZESS Leben wird in den Mandégesellschaften wahrgenommen als eine permanente Sozialisation, die sich in der zeitlichen Abfolge einzelner Etappen realisiert (Fellous 1981: 202). Heirat und die Geburt von Kindern bilden zwei entscheidende Stationen auf diesem Weg. Zuerst zur Heirat: Sie ist für Männer wie für Frauen das wichtigste Sozialprojekt in ihrem Leben, der erste Schritt zur Unabhängigkeit und vor allem für Frauen eine zwingende Angelegenheit, weil sie nur in den Rollen der Ehefrau und Mutter volle Anerkennung erlangen können (Diakité 2000: 11). Unverheiratete oder kinderlose Frauen verbleiben im Stadium einer sozial unvollständigen Person (Grosz-Ngaté 1989: 173), doch auch für Männer gilt, dass sie nur verheiratet in gesellschaftlich wichtigen Kreisen Anerkennung finden. Noch vor einigen Jahren wurden Ehen als Abkommen zwischen zwei Familien gesehen und fast durchwegs von deren Oberhäuptern organisiert und finanziert. Doch die momentan äusserst angespannte wirtschaftliche Lage und die grassierende Arbeitslosigkeit machen es für junge Männer und deren Familien problematisch, die für den Brautpreis erforderlichen Summen bereitzustellen.16 Familienchefs ziehen sich immer mehr aus den Entscheidungen der Partnerwahl zurück und überlassen ihren Söhnen die ganze finanzielle Verantwortung.17 Infolgedessen verzögert sich auch das Heiratsalter und die nun verlängerte voreheliche Phase bietet Raum für die unterschiedlichsten amourösen Beziehungsformen.18 Frauen können den Zeitpunkt ihrer ersten Heirat nicht allzu sehr aufschieben, spätestens mit 25 Jahren sollten sie verheiratet sein, wenn sie nicht als femmes invendues gelten wollen. Insofern lastet auf ihnen ein weit höherer sozia16 | Gesetzlich festgelegt ist für eine unverheiratete Frau der Betrag von 10‘000 FCFA (circa 15 Euro), im Falle einer zweiten Ehe vermindert sich die Summe auf die Hälfte (Boye 1987: 14). Tatsächlich fliessen bei Eheschliessungen viel höhere Summen; 75.000 bis 500.000 FCFA sind dabei keine Seltenheit (Lardoux 2004: 88). 17 | Demographische Analysen erhellen, welche Auswirkungen die zunehmende Verarmung auf das Heiratsalter hat: Männer haben die Tendenz, den Zeitpunkt der Eheschliessung hinauszuschieben, während Frauen darauf drängen, möglichst schnell zu heiraten (siehe dazu Marcoux und Piché 1998; Antoine und Djiré 1998; Lardoux 2004). Die unterschiedlichen Interessen hinsichtlich des Heirattermins verweisen nur jedoch auf eines von vielen Spannungsfeldern, in denen sich Geschlechterbeziehungen heute realisieren. 18 | So habe ich beispielsweise von einigen jungen Frauen folgende Kategorisierung ihrer Liebhaber vernommen: Der Chic (der offizielle, von der Familie akzeptierte Freund oder Verlobte), der Cheque (meist ein verheirateter, älterer Mann mit entsprechendem Portemonnaie) und der Choc (der sexuell attraktive, doch häufig mittellose junge Mann).

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ler Druck und dementsprechend steigt auch die Konkurrenz unter Frauen mit zunehmendem Alter beziehungsweise deren Bereitschaft, sich auf die erstbeste Gelegenheit einzulassen: L’important c’est que je sois mariée; même si je deviens la quatrième femme, l’essentiel est que je trouve un mari. Généralement on dit si tu as raté ta première chance, ça sera difficile pour toi de trouver une deuxième. (w, 30 Jahre, 24.1.2007)

Andererseits ist die Angst, eine falsche Wahl zu treffen, auf falsche Versprechungen hereinzufallen, sehr gross, denn: »Une fois que tu es là-dedans, tu es perdue – n’bi fè tile (die Zeit des Ich-liebe-dich, N.S.) passe vite«, meinte meine Mitbewohnerin zwei Monate vor ihrer Hochzeit. Auch wenn die Wahl des Ehepartners nicht mehr von den Eltern diktiert wird, so ist eine Heirat dennoch keine Angelegenheit zwischen zwei Individuen, sondern zwischen zwei Familien, die damit ihre Netzwerke erweitern und eine gegenseitige Bindung eingehen. Insofern gibt es, wenn beide Familien sich einig sind, wenig Gründe, die gegen eine Heirat sprechen könnten. Selbst die Seropositivität eines Sohnes – von der Familie geheim gehalten, um die Hochzeit nicht zu gefährden – kann daran nichts ändern: Au Mali personne ne va empêcher ou détruire le mariage de son frère ou fils parce qu’il est malade. Ils préfèrent cacher le statut de leur parent et laisser la femme venir qu’elle contracte la maladie. Et même si elle meurt après ce n’est pas leur problème. On laisse le mariage se consommer et après on va chercher une solution. [...] Si c’est l’homme qui meurt le premier, c’est un honneur de dire que mon frère en mourant a laissé une femme et un enfant. (w, 24 Jahre, 15.12.2007)19

Dass der soziale Aspekt so fraglos über den gesundheitlichen gestellt wird, verdeutlich die grosse Bedeutung der Heirat. Drei verschiedene Formen der Eheschliessung stehen zur Wahl, die je unterschiedliche Rechte und Verbindlichkeiten beinhalten und miteinander kombinierbar sind. Sozial wichtig ist einzig, dass eine der Zeremonien stattgefunden hat und damit die Ehe als beglaubigt gilt. Die religiöse Hochzeit (furusiri) ist diejenige, die am wenigsten Kosten ver19 | Diese Aussage stammt von einer jungen Frau, die mit einem HIV-positiven Mann verheiratet wurde, ohne dass sie von der Familie über seine Krankheit informiert wurde. In derselben Situation befand sich auch eine andere Gesprächspartnerin; der umgekehrte Fall ist mir jedoch nicht begegnet. Sicher ist allerdings, dass eine vor der Eheschliessung geheim gehaltene Krankheit, vor allem wenn es sich um HIV handelt, bei der Familie des Mannes zu einem Eklat führen würde und sogar die sofortige Lösung der Ehe zur Folge haben könnte. Von einer Frau hingegen wird erwartet, dass sie weiterhin zu ihrem Mann hält und schweigt.

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ursacht und deshalb auch oft als erste gefeiert wird. Nachdem die Verbindung vom Imam legitimiert wurde, gilt das Paar als offiziell verheiratet und darf die Nächte zusammen verbringen, ohne dass es deswegen einen gemeinsamen Haushalt zu führen braucht. Eines wesentlich höheren finanziellen Aufwandes bedarf es bei der traditionellen Hochzeit (kònyò): Hierbei werden alle Verwandten und Nachbarn zu einem mindestens drei Tage dauernden Fest geladen, bei dem die Braut mit sämtlichen Utensilien ihrer Aussteuer in die grande famille des Bräutigams zieht. Eine Woche lang soll sie, den rituellen Vorschriften gemäss, das mit ihrem Mann bezogene Schlafzimmer nicht verlassen und vor allem darauf achten, während dieser Zeit einen Nachkommen zu zeugen. Ab 1962 wurde dann neben den beiden anderen Heiratsformen die zivile Hochzeit als zwingend eingeführt und sollte, rein von Gesetz her, als erste stattfinden. In der Praxis wird dies aber selten so streng gehandhabt; allerdings ist es in den besseren Kreisen von Bamako durchaus üblich, alle drei Eheschliessungen an ein und demselben Tag zu feiern, dies auch um die Kosten niedrig zu halten. Bei der Ziviltrauung wird eine weitere, vor allem für Frauen gewichtige Entscheidung getroffen und schriftlich niedergelegt: Monogamie oder Polygamie (genau genommen: Polygynie). Obwohl die Wahl amtlich belegt ist, hat dieser Akt im realen Leben wenig Verbindlichkeit. Fast alle Frauen wünschen sich eine monogame Ehe und werten das Bekenntnis dazu als Zeichen der Zuneigung. Gleichzeitig wissen sie aber auch, dass sich in Konfliktsituationen der Beschluss problemlos revidieren lässt und der Mann auf religiöser Basis drei zusätzliche Frauen heiraten kann. Vor die Situation gestellt, eine Scheidung einzureichen, die Kinder in der Schwiegerfamilie zurückzulassen und einen neuen Mann suchen zu müssen oder sich eine gewisse Sicherheit zu bewahren und Mitfrauen zu akzeptieren, ziehen Frauen meist die zweite Variante vor. Monogamie, Polygamie oder »Zigzaggamie« (viele Geliebte) – für Frauen ist die Ehe oftmals nur eine Lösung auf Zeit. Sie ist eine soziale Notwendigkeit, um Anerkennung zu finden, dennoch ist ihnen bewusst, wie fragil ihre Position innerhalb der Ehe und der Schwiegerfamilie ist. Wirklichen Rückhalt finden sie zumeist nur bei ihrer eigenen Familie; aus diesem Grunde, so argumentierten mehrere junge Frauen, wäre ihnen eigentlich die Variante einer arrangierten Ehe lieber, weil sie dann, falls es Probleme geben sollte, mit familiärer Unterstützung rechnen können. Für Männer ist die Entscheidung pro oder contra Monogamie keine rein persönliche. Sie selbst, aber meist auch ihre Familie erachten Polygamie oder zumindest deren Androhung als ein Mittel der Kontrolle. Ein Mann, der sich freiwillig diese Möglichkeit aus der Hand nehmen lässt, ist Spott ausgesetzt und gilt als völlig von der Frau dominiert. Unter Männern besteht die Auffassung, dass mehrere Frauen weit einfacher zu bändigen seien als eine allein: sobald sie zu zweit seien, würden sie sich untereinander streiten und der Mann habe seine Ruhe.

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Kinder zu zeugen ist für ein Ehepaar der nächste Schritt zur sozialen Anerkennung und ist als gesellschaftliche Erwartung dauernd präsent, gerade von seitens der grande famille (Familie des Mannes). Ein Leben, ohne Kinder gezeugt zu haben, wäre in den Augen der meisten Menschen in Bamako ein verlorenes Leben. Erst Kinder verleihen dem Leben seinen Sinn und sorgen für den Weiterbestand der Linie. Dabei geht es, wie Viola Hörbst (Hadolt und Hörbst 2010: 99) in ihrer Studie zu Unfruchtbarkeit in Bamako ausführt, weniger darum, Kinder zu haben (avoir des enfants), als vielmehr darum, die Fähigkeit, Kinder zu machen (faire des enfants) unter Beweis zu stellen. »Si je n’arrive pas à trouver un mari, je me suis dit c’est obligatoire de faire un enfant« meinte eine meiner Gesprächspartnerinnen (29 Jahre, 17.1. 2007) nach einigen gescheiterten Versuchen, einen Ehepartner zu finden. Weil aber ein uneheliches Kind gesellschaftlich nicht gut angesehen ist, erklärte sie nach ihrem Umzug den neuen Nachbarn, dass ihr Ehemann in Frankreich leben würde und sie bald nachhole.

7.4 S OZIABILITÄT (ADAMADENYA) In den Mandégesellschaften existiert eine Person nur über und durch ihre Verbindungen mit anderen. Ein isoliertes Individuum ist nicht nur sozial bedeutungslos, sondern auch in höchstem Grade suspekt. Erst die Bereitschaft zum Zusammenleben und -arbeiten verwandelt einen Menschen in eine sozial wertvolle Person und sorgt aufgrund dieser sozialen Qualitäten auch für Anerkennung. Das aus dem islamischen Kontext übernommene Konzept adamadenya (die Sache der Kinder Adams) kann mit »Menschlichsein«, in weiterem Sinne mit »Soziabilität« übersetzt werden und umfasst alle Eigenschaften und Verhaltensqualitäten, die den alltäglichen Interaktionen förderlich sind.20 Dazu gehört Teilen und Teilnehmen genauso wie Respekt, Harmonie und finanzielle Unabhängigkeit. Jemand, der sich zurückzieht, kein Interesse am Schicksal der anderen zeigt oder – wie es bei reicheren Familien in Bamako zu beobachten ist – an seiner Haustüre das Schild »Chien méchant« anbringt, um Besucher fernzuhalten, gilt als »leerer Mensch« (mògò lankolon), schlimmstenfalls als überhaupt kein Mensch (mògò tè). Über adamadenya zu verfügen hingegen, das heisst, die 20 | Der Bamana Begriff mògòya (die Sache des Menschen) wird im Alltag oft sinngleich mit adamadenya verwendet, obwohl der kulturelle Hintergrund wie auch die Bedeutungsfelder der beiden Konzepte sehr unterschiedlich ausfallen. Mògòya zielt mehr auf eine charakterliche, oft sogar spirituelle Vervollkommnung – auf Selbstbeherrschung und Weisheit. Um dieses Stadium zu erreichen braucht es ein gewisses Alter. Adamadenya hingegen bezieht sich auf viel alltäglichere Belange und kann auch schon bei einem jungen Menschen vorhanden sein.

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Kunst, Beziehungen zu knüpfen und infolgedessen auch Zugang zu einem breiten sozialen Netz zu haben, ist hoch bewertet und eine wichtige Quelle von Anerkennung. Als ich einen meiner Gesprächspartner, er selbst HIV-negativ und seit kurzem mit einer HIV-positiven Frauen verheiratet, fragte, inwiefern die Krankheit seiner Frau seine Heiratsentscheidung beeinflusst habe, antwortete er: »An erster Stelle stand für mich, dass sie soziabel ist (adamadenya b’a la).« Das zentrale Kriterium von adamadenya ist die Bereitschaft zu teilen. Es bezieht den materiellen Aspekt genauso mit ein wie die Anteilnahme an den Freuden und Leiden anderer. Besuche und Rückbesuche – seien es Stippvisiten, um kurz zu grüssen und sich nach allfälligen Neuigkeiten zu erkundigen, Krankenbesuche oder die Teilnahme an Zeremonien – sie sind alle Ausdruck des vitalen Interesses aneinander. Und sie bestätigen: anw bè nyògòn bolo – wir sind zusammen, sind für einander da. Vor allem die Wochenenden sind mit gegenseitigen Besuchen ausgefüllt, und für gewöhnlich kümmern sich Frauen um diese Art der sozialen Arbeit. Von ihnen wird erwartet, dass sie bei Anlässen wie Hochzeiten, Taufen oder Begräbnissen in fulminanter Garderobe mitsamt den entsprechenden Geschenken erscheinen. Ausnahmsweise kann auch eine Stellvertreterin geschickt werden (gebräuchlich ist, dass sich ältere Frauen von ihren Schwiegertöchtern vertreten lassen), doch gern gesehen ist das nicht, denn es ist der persönliche Beistand, der honoriert wird. Besuchspflichten sind alles andere als eine unterhaltsame Freizeitbeschäftigung. Wie oft stöhnten meine Mitbewohnerinnen über die grands salamaleiks, wie sie in meiner Gastfamilie genannt wurden, und die erledigt werden müssen, um nicht als unhöflich zu gelten oder in Notsituationen alleine dazustehen. Ein grosses Beziehungsnetz zu unterhalten ist nicht nur eine Frage von Anerkennung, sondern trägt auch zur sozialen Sicherheit bei, da – in Anbetracht der fehlenden staatlichen Unterstützungen – gute Beziehungen einen wichtigen Rückhalt geben. Eine weit über Bamako hinaus kursierende Erzählung veranschaulicht, wie hoch soziales Engagement geschätzt wird: Ein wohlhabender Mann erschien zu allen Zeremonien mit einem grosszügigen Geschenk, setzte sich jedoch nie zu den Leuten, sondern eilte sofort wieder nach Hause. Auch bei allen anderen Gelegenheiten vermied er jeden näheren Kontakt. Als der Tag kam und in seinem Haus jemand starb, schauten die Nachbarn ebenfalls nur kurz vorbei, legten ein paar Gaben nieder und entfernten sich sogleich; niemand wollte helfen, seinen Verwandten zu begraben. So war er gezwungen, die Schande auf sich zu nehmen und jemand Fremden um die Organisation der Beerdigungsrituale zu bitten. Geschenke, so die Moral der Geschichte, können keinesfalls persönliche Anteilnahme ersetzen. In den Untersuchungen von Vuarin (1994; 2000) über die verschiedenen Formen sozialer Sicherheit in Bamako korrigiert sich das Idealbild von gegenseitiger Fürsorge etwas. Vuarin beschreibt, dass die Bevölkerung von Bamako zwar »besessen«

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davon ist, Bekanntschaften zu knüpfen und sie auch weiterhin zu verfolgen. Doch er zeigt ebenfalls, dass dies ohne Geld nicht lange möglich ist (ebd: 257). Wieviel jemand investiert, wird sehr genau wahrgenommen und die Verbindlichkeit der Beziehung daraufhin ausgerichtet. In diesem Sinne ist ein breites Beziehungsnetz nicht nur Ausdruck sozialer Anerkennung, sondern auch der zur Verfügung stehenden ökonomischen Ressourcen.21 Eine Voraussetzung, dass Beziehungen gelingen und sich vertiefen können, ist die Fähigkeit zur Harmonie (la bonne entente). Nun bringt das Leben in Grossfamilien per se ein hohes Potential an Spannungen und Konflikten mit sich. Zudem sind auch bestimmte familiäre Verhältnisse, zum Beispiel diejenigen zwischen den Kindern der verschiedenen Frauen eines Vaters (fadenya22), allein von ihrer Struktur her auf Konkurrenz und Rivalität angelegt. Der kulturelle Zwang zur Harmonie indessen soll verhindern, dass solche Gefühle offen gezeigt werden oder man sie zumindest soweit »erstickt« (étouffer), dass der Schein von Harmonie gewahrt bleibt. Dafür steht eine breite Skala an subtilen gestischen wie sprachlichen Mitteln zur Verfügung, mit deren Hilfe die entscheidenden Dinge sehr wohl gesagt werden können ohne je gesagt worden zu sein (siehe dazu Roth 1994: 173f). Besonders harten Proben ist die Harmoniefähigkeit junger Schwiegertöchter ausgesetzt. Sie gelten in den meisten Fällen als Aussenseiterinnen, als Fremde in der Familie des Mannes. Um die allseitigen Befürchtungen zu entkräften, sie könnten den Sohn seiner Familie entfremden, Zwietracht im Haushalt säen oder sich der Autorität der Schwiegermutter widersetzen, müssen sie oftmals eine lange Bewährungszeit überstehen. Anerkennung erhalten sie, wenn sie bereit sind, auch unter schwierigen Bedingungen zu schweigen und zu dulden und damit ihre Loyalität beweisen:

21 | Tatsächlich zeigen Vuarins Beiträge, dass zwischen ökonomisch unterschiedlich ausgestatteten Kollektiven keine Transfers existieren. Je mehr die allgemeine Armut im Zusammenhang mit der ökonomischen Krise zunimmt, umso stärker greifen soziale Schliessungsmechanismen; damit hört das System der gegenseitigen Hilfe (entreaide) auf und Klientelismus (clientèle), das heisst Abhängigkeit anstelle von Reziprozität, beginnt (Vuarin 2000: 162). 22 | Die dialektische Spannung zwischen Individuum und Gruppe drückt sich, so die Erklärung von Bird und Kendall (1980: 14f), anhand der Kreuzung zweier Achsen aus. Fadenya (die Einheit der Kinder desselben Vaters) bezeichnet dabei die Achse der individuellen Verwirklichung und ist mit sozial zentrifugalen Kräften assoziiert, mit Neid, Eifersucht und Konkurrenz. Badenya (die Einheit der Kinder derselben Mutter) hingegen steht für zentripetale Kräfte, die das Individuum an die Gruppe binden, so unter anderem für Solidarität, Sicherheit und Vertrauen.

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K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI Quand tu es mariée tu quittes ta famille pour une autre donc la moindre des choses que tu peux faire c’est seulement les respecter car tu ne sais pas quelle sorte des gens ils sont. Quelque soit ce qu’ils vont te faire tu dois les respecter et finalement ils vont avoir honte et te laisser en paix. Ils vont se dire qu’on l’a provoqué, qu’on a fait tout, mais elle n’a rien dit, elle ne se défend même pas, elle se contente seulement de nous respecter, donc mieux vaut la laisser. Même si ils n’ont pas cette conscience-là, d’autres personnes vont leur dire. Il n’y a pas un autre chemin, il faut se soumettre, encaisser tous les coups et respecter les autres. (w, 25 Jahre, 12.3.2007)

Der hier angesprochene Respekt (bonya) ist ein weiteres, zentrales Element von adamadenya. Als Gegengewicht zur gesellschaftlich geforderten Nähe (convivialité) bildet er ein Regulativ, das Distanz und Meidung erzeugt und damit Konflikten vorbeugen soll. Formen und Ausdruck des Respekts sind extrem komplex und fast in allen Interaktionen präsent. Jemandem respektvoll zu begegnen heisst grundsätzlich alles zu unterlassen, das diese Person blossstellen oder bedrängen könnte wie zum Beispiel Widerspruch respektive Kritik üben oder zudringliche Fragen stellen. Eine erste Stufe der Respektserweisung, die auch Kindern früh beigebracht wird, bilden korrekte und vollständige Begrüssungen. Diese sollen sich nicht allein auf die nach Tageszeit unterschiedlichen Grussformeln beschränken, sondern die lange Serie von Erkundigungen über das Wohlbefinden jedes einzelnen Mitglieds der Familie beinhalten. Sich dabei maulfaul zu verhalten oder jemanden demonstrativ die Begrüssung zu verweigern, sind Zeichen von Respektlosigkeit und lassen auf ernsthafte Konflikte schliessen. Respekt kreiert immer eine gewisse Anspannung und Reserve zwischen Menschen, schliesst aber dennoch Nähe und Zuneigung nicht aus, selbst wenn diese nie offen gezeigt werden. Eine ganz besondere Respektsbeziehung herrscht zwischen Mutter und Kind. Keine andere soziale Rolle ist mit so hohen Respektsempfindungen versehen wie diejenige der Mutter; ihre Sorgen und Leiden während der Schwangerschaft, der Geburt und den langen Jahren, in denen sie ihr Kind liebevoll behütet hat, können niemals gebührend genug gewürdigt werden. Demzufolge wird die hochidealisierte Verbindung als so nah und so vertrauensvoll gesehen, dass Mutter und Kind oft als eine Einheit gelten (mehr dazu siehe Kapitel 17.2). Wie aus den Aussagen der jungen Schwiegertochter hervorgeht, kann auch Respekt erweisen in Anerkennung münden und eine gewisse Grösse verleihen. Dieser Zusammenhang eröffnet sich bereits durch den Begriff bonya, der sich in erster Linie auf den physischen Aspekt, auf Grösse und Volumen bezieht und erst an zweiter Stelle die symbolische Seite, Respekt und Wichtigkeit, meint (Bailleul 1996: 44). Es heisst: »On a toujours peur de celui qui nous respecte«, denn nur wer sich selbst respektiert, über eigene Grösse verfügt, kann auch andere respektvoll behandeln. In diesem Sinne entpuppt sich Respekterweisen als eine Methode des Selbstschutzes, indem sie eine Sphäre kreiert, die direkte

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Fragen nicht zulässt. Wie ich später zeigen werde, spielt diese Strategie, sich unangreifbar zu machen, eine wichtige Rolle bei der Wahrung von Geheimnissen. Im Gegensatz zu Respektsbeziehungen, die immer von einer gewissen Befangenheit und Zurückhaltung beeinträchtigt sind, herrscht in den so genannten Scherzbeziehungen (senankunyaw) ein sehr lockerer Ton. Sie sind ein typisches Beispiel für die in den Mandégesellschaften gebräuchlichen Inversionen und Auflösungen hierarchischer Prinzipien. Zwischen Scherzverwandten kann alles – ohne jede Einschränkungen – gesagt und gefragt werden. Mehr noch: Respektlosigkeit und Provokationen sind sogar erwünscht und es ist unvorstellbar, sich von den Spässen eines senankun beleidigt zu fühlen.23 Zu berücksichtigen ist, dass alle hier in ihren Grundzügen aufgeführten Regeln und Prinzipien in den alltäglichen Interaktionen längst nicht so absolut und eindeutig gehandhabt werden wie dies vielleicht durch meine Darstellungen den Anschein haben mag. Zum einen modifizieren sich die Verhaltensstandards ständig und zum andern fallen die Beurteilungen des Umfeldes je nach Situation und den dabei gesetzten Prioritäten unterschiedlich aus. Eine für die Stadt und die heutige Zeit typische Erscheinung ist die Offenheit und Flexibilität der Kriterien: Bamako ko bè afferi – in Bamako ist alles käuflich und verhandelbar, selbst Freunde und Respekt.

23 | Westafrikanische Scherzbeziehungen sind eine ethnologisch gut dokumentierte Thematik (siehe dazu u.a. Griaule 1948; Camara 1976; Diallo 2006). Dabei werden in der französischsprachigen Literatur Scherzbeziehungen zwischen nicht-verwandten Gruppen und solchen zwischen Verwandten unterschieden (siehe Diallo 2006: 175). Erstere verbinden Ethnien, bestimmte Berufsgruppen und Clane, die sich in mythischer Vorzeit einen wichtigen Dienst erwiesen haben, meist begleitet von gegenseitigem Blutaustausch und Treueschwur. Heirat wie auch Konflikte zwischen den beiden Gruppen sind aufgrund des gemeinsamen Blutes ausgeschlossen. Und die gegenseitigen, im Spass geäusserten Beschimpfungen zielen nicht wirklich auf die andere Person, sondern richten sich genau genommen nur an die im anderen präsenten eigenen Anteile (Camara 1976: 41). Der zweite Typus von Scherzbeziehungen spielt innerhalb der Familie, zwischen Grosseltern und ihren Enkelkindern, und weiter zwischen Mann respektive Frau und den jüngeren Geschwistern der Partnerin oder des Partners (nimògòya). Hier sollen die Scherze zur Kompensation der spannungsgeladenen familialen und matrimonialen Beziehungen dienen (ebda: 42).

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8. Das Feld von AIDS

Nach den detaillierten Ausführungen über die Prinzipien, welche das Zusammenleben regeln, möchte ich hier nun den Blick wieder öffnen und ihn auf eine gesellschaftlich umfassende Erscheinung richten, auf die Entstehung und die weitere Entwicklung des AIDS-Feldes in Mali. In seiner Grundstruktur besteht ein Feld aus einem »Ensemble objektiver historischer Relationen zwischen Positionen« (Wacquant 1996: 36). Inhaber dieser Positionen sind Akteure – handle es sich dabei um einzelne Persönlichkeiten oder um Organisationen –, welche über bestimmte, in diesem Feld wirksame Ressourcen verfügen. Ihre Verteilung und ihren feldspezifischen Wert definiert die Position des jeweiligen Akteurs im Verhältnis zu anderen Akteuren und ist somit für die sich im Feld konstituierenden Machtverhältnisse ausschlaggebend. Da das Feld von AIDS ein relativ neues Feld ist, werde ich zunächst seine Ausgangssituation sowie die drei zentralen Akteure vorstellen. Seit dem sprunghaften Anstieg der internationalen Spendengelder ab 2004 bemühen sich immer mehr NGOs, Klubs, Vereinigungen und natürlich auch staatliche Akteure darum, im Kampf gegen die Krankheit tätig zu werden und sich dabei eine möglichst vorteilhafte Position zu sichern. Infolgedessen nimmt der Konkurrenzdruck enorm zu, gleichzeitig entwickeln aber die alteingesessenen Akteure Abschirmungsstrategien, um ihren Platz nicht an Neulinge abtreten oder die vorhandenen Mittel mit ihnen teilen zu müssen. Diese für das Feld typische Dynamik wird in den letzten beiden Abschnitten dieses Kapitels näher betrachtet. Im Zentrum steht dabei einer der Hauptakteure des Feldes: die erste Selbsthilfegruppe HIV-positiver Personen. An ihrem Beispiel möchte ich verdeutlichen, wie eng die AIDS-Arbeit auf verschiedenen Ebenen mit materiellen Interessen verflochten ist.

8.1 D IE P IONIERE DES F ELDES »L’image même du sida au Mali, c’est moi«, erklärt mir Barry, der eigentliche Pionier im Kampf gegen AIDS. Er hatte als erster den Mut, sich öffentlich als

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HIV-positiv zu bekennen – allerdings, so meint er, ohne den ihm gebührenden Dank dafür zu ernten: Mais comme on dit souvent, si le soumbala (un condiment pour faire une sauce, N.S.) a été bon, on oublie celle qui a cueilli le nèrè (fruit d’un arbre et ingrédient du soumbala, N.S.). (m, 56 Jahre alt, 7.1.2008)

Doch vergessen ist Barry beileibe nicht. Vor etwas mehr als einem Jahr wird er vom Staatspräsidenten persönlich mit dem Nationalverdienstorden für sein Engagement im AIDS-Bereich ausgezeichnet. Aber abgesehen von dieser Würdigung führt Barry heute ein von allen offiziellen Veranstaltungen zurückgezogenes Leben. Sein Ehrgeiz besteht nun darin, tausende von in hellblauen Umschlägen eingebundene Patientenakten in Ordnung zu halten und sie getreu ihrer Nummern und Daten zu verwalten. Oftmals ist Barry von der Akribie, die ihm seine Arbeit als Archivar von CESAC abverlangt, überfordert. Andererseits empfindet er es als inneren Triumph, wenn es ihm gelingt, in den Tiefen seines Archivs ein bereits verloren geglaubtes Dossier wiederzufinden. Als Barry von seiner Krankheit erfährt, arbeitet er im städtischen Schlachthaus und gilt mit seinen 42 Jahren als ein überzeugter und – wie er nicht ohne Stolz bekennt – bei Frauen erfolgreicher Junggeselle. Die Diagnose versetzt ihn in eine Art Schockzustand, der für längere Zeit seinen Lebensmut lähmt. Beim Programme National de Lutte contre le Sida (PNLS), einer Zweigstelle des Gesundheitsministeriums, bittet er um psychologische Hilfe. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich die AIDS-Arbeit in Mali noch in den Kinderschuhen; zwar existiert ein nationales Programm, das den politischen Willen und die Bereitschaft signalisiert, den Kampf gegen die Pandemie aufzunehmen, doch noch gibt es keine praktizierenden Ärzte, die auf HIV/AIDS spezialisiert sind. Für Barry wird der Sitz des PNLS zu einem zweiten Zuhause – hier erhält er Informationen und Medikamente und – was ihm noch wichtiger ist – Verständnis für seine Situation. Als ihn der Koordinator des Programms eines Tages anfragt, ob er sich eine témoignage à visage découvert im Rahmen des zum Weltaidstags geplanten »Mega-Concert« vorstellen könne, sagt Barry zu – allerdings unter einer Bedingung: »Si j’aurai des problèmes, c’est vous qui allez m’aider, sinon je reste caché, parce que si quelque chose m’arrive, c’est moi qui va ramasser le pot cassé.« Am Abend des 1. Dezembers 1994 ist das Stadion Mamadou Konaté brechend voll, der Eintritt für das Konzert ist gratis und das grösstenteils junge Publikum fiebert bereits seit Stunden den Auftritten seiner Stars entgegen. Es ist fast 23 Uhr, als Barry die Tribüne betritt und vor den laufenden Kameras sein Bekenntnis ablegt. In der Nacht nach diesem Auftritt habe er für eine lange Zeit zum letzten Mal gut geschlafen. Schon am nächsten Tag stürzen die Vorwürfe und Beschimpfungen von seinen Verwandten und Nachbarn auf ihn ein – er

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hat sie erwartet, doch nicht in dieser Härte: »Ils disent que j’ai bafoué mon honneur«. Barry verlässt daraufhin seine Familie, bezieht in einem anderen Viertel Quartier und verbringt seine Tage weiterhin beim PNLS – bereitet den Tee für die Angestellten, übernimmt kleine Botengänge und erhält für diese Dienste jeden Tag Verpflegung und alle nötigen Medikamente. Dies sind, so betont Barry, die einzigen Vergütungen, die er für seinen Auftritt im Fernsehen erhält. Im Gegensatz zu heutigen témoignages hat er dafür nie Geld erhalten. Ihm ging es einzig und allein darum, Menschenleben zu retten. Doch wenn er auf seine Pionierzeit zurückblickt, sagt er nicht ganz ohne Bitterkeit: »Vraiment, dans le cadre de la lutte contre le sida j’en ai beaucoup fait et dans le cadre de la discrimination et de la stigmatisation, je l’ai eu.« Während desselben Konzerts verkündet auch ein junger Arzt, Dr. Sylla, die Gründung von ARCAD/SIDA (Association de Recherche, de Communication et d’Accompagnement à Domicile des personnes vivant avec le VIH/SIDA), einer NGO, die sich auf die Behandlung und Beratung HIV/AIDS-infizierter Personen spezialisieren will. Unterstützt durch die Coopération française eröffnet die Organisation zwei Jahre später das Zentrum CESAC, die landesweit einzige Anlaufstelle für HIV/AIDS betroffene Patienten. Schon im Laufe des ersten Jahres steigt der Patientenandrang so stark an, dass das Zentrum sukzessiv personelle wie auch bauliche Erweiterungen benötig (Le Palec und Pagezy 2003: 14). Die beiden leitenden Ärzte von CESAC und zugleich auch die Galionsfiguren der AIDS-Arbeit in Mali, Dr. Sylla und seine Kollegin Dr. Dembele, führen das Zentrum in enger Begleitung mit der Coopération française und versuchen, ihre Arbeit nach internationalen Massstäben auszurichten: regelmässige Weiterbildungen des gesamten Personals, teilweise auch mit Schulungen in Frankreich, sowie eine für malische Verhältnisse strenge Auslegung der ärztlichen Schweigepflicht begründen die gute Reputation des Zentrums in Hinsicht auf Professionalität und Vertrauenswürdigkeit. Ein Jahr nach seinem öffentlichen Bekenntnis kommt auf Barry eine neue Aufgabe zu: Unter der Anleitung von ARCAD/SIDA soll er eine Selbsthilfegruppe HIV/AIDS-betroffener Personen gründen und zugleich deren Präsidentschaft übernehmen. Barry erhält Schulungen, besucht internationale Konferenzen und verknüpft sich mit der Gemeinschaft weltweit agierender AIDS-Aktivisten. Im ersten Jahr seiner Amtszeit liegt die Organisation AMAS (Association Malienne d’Assistance et de Soutien aux Personnes vivant avec le VIH) mehr oder weniger brach, niemand will sich aktiv engagieren und damit seine Diagnose preisgeben. Doch als die Organisation, die mittlerweile in den Räumen von CESAC ein Büro bezogen hat, ihren Mitgliedern finanzielle Unterstützung beim Kauf von Medikamenten anbieten kann, steigt auch das Interesse. Mit der Gründung von AFAS (Association Féminine d’Aide et de Soutien aux veuves et orphelins du Sida), einer Organisation, die speziell auf die Bedürfnisse HIV/

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AIDS-betroffener Witwen und Waisen zugeschnitten ist, schwindet die Sorge um zu geringe Mitgliederzahlen.24 Diese Vorgehensweise, sozialpolitischen Aktivismus mit medizinischer respektive finanzieller Unterstützung zu verbinden, wird für viele im HIV/AIDS-Bereich tätigen Selbsthilfegruppierungen in Westafrika zum typischen Kennzeichen, obwohl sie eigentlich der Definition von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen widerspricht (siehe dazu Nguyen 2002; 2007). Doch bis heute haben sich die Gruppen von diesem sehr speziellen Verständnis nicht zu lösen vermocht; nach wie vor verbinden die meisten Betroffenen mit ihrer Mitgliedschaft nicht nur politisches Engagement, sondern in erster Linie die Hoffnung auf finanzielle Vorteile. Alle Akteure, die sich in einem Feld engagieren, teilen die Überzeugung, dass es lohnt, sich für diese bestimmte Sache einzusetzen. Es ist der Glaube an die Sinnhaftigkeit dieses Einsatzes, von Bourdieu Illusio genannt, der ein Feld überhaupt erst entstehen lässt (u.a. Bourdieu 1998: 142; 1998a: 27). So liegt dem malischen wie dem globalen Feld von AIDS die Annahme zugrunde, dass der Kampf gegen die Krankheit eine vordringliche humanitäre Aufgabe darstellt, die sich mit entsprechenden, zumeist epidemiologisch geleiteten Massnahmen gewinnen lässt. Gleichzeitig gewährt dieses übergeordnete Ziel den im Feld tätigen Akteuren einen »Zusatzprofit« (Bourdieu 1993: 114): Sie können vor sich selbst und anderen als interessensfrei und uneigennützig dastehen, weil ihre Bestrebungen, so wie dies auch in Barrys Aussagen zum Ausdruck kommt, letzten Endes der Errettung der Menschheit dienen. Dementsprechend doppelsinnig präsentieren sich die Beweggründe der Akteure und deren Handlungsweisen – interessengeleitet und gleichzeitig interesselos, das heisst »beseelt von einer Art Eigennutz der Uneigennützigkeit« (Bourdieu 1998a: 27). So verändert sich die Darstellung der Interessen je nachdem, ob sie öffentlich oder im Rahmen eines privaten Kontaktes stattfindet, wobei bei letzterem häufig die Motivation »travailler pour les blancs« genannt wird. Doch es ist nicht allein die gemeinsame Illusio, welche das malische mit dem globalen AIDS-Feld verbindet. Wie ich später noch eingehend zeigen werde, sind sämtliche Bewegungen des lokalen Feldes sowohl in ökonomischer wie auch in epidemiologischer Hinsicht aufs engste mit den Vorgaben des globalen Feldes verknüpft. Von seiner Grundstruktur her konstituiert sich das malische Feld von AIDS über die drei zentralen Akteure, die ich bereits vorgestellt habe: das PNLS als Ausdruck des nationalen Engagements und dessen administrativen Verankerung, ARCAD/SIDA als die im operativen Bereich tätige Einrichtung und AMAS/AFAS als Repräsentation der Betroffenen. Alle drei Akteure verfügen über spezifische, feldwirksame Ressourcen, deren Verteilung ihre jeweilige 24 | Zwecks Synergiebildung schliessen sich die beiden Vereinigungen 2001 zusammen und beziehen 2003 einen eigenen Vereinssitz in einem der besseren Quartiere der Stadt.

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Position im Verhältnis zu den anderen Akteuren bestimmt. Neben den im Feld der Entwicklungszusammenarbeit allgemein üblichen Ressourcen in Form von ökonomischem und kulturellem Kapital, sprich Finanzen und Ausbildung, erzeugt das Feld von AIDS ein weiteres und gänzlich neues Kapital: Seropositivität.25 HIV-positive Menschen sind im Kampf gegen AIDS zu unverzichtbaren Mitstreitern avanciert; sie bezeugen nicht nur die Existenz der Krankheit, sondern verleihen ihr auch ein Gesicht und machen sie dadurch zu einer konkret erfahrbaren Realität. Allerdings wird sich im Folgenden noch zeigen, dass dieses Kapital nicht in dem Masse konvertierbar ist wie es aus Sicht der Betroffenen eigentlich zu sein hätte. Prinzipiell streben alle Akteure nach den bestmöglichen Positionen auf dem jeweiligen Feld; dafür setzen sie alles ein, was ihnen zur Verfügung steht und infolgedessen fluktuieren auch die Relationen der einzelnen Akteure zueinander. Nicht nur blüht das Feld von AIDS in den auf die Pionierzeit folgenden Jahren langsam auf und immer weitere Akteure aus verschiedenen anderen Feldern stossen dazu, sondern es ergeben sich auch Bündnisse und Abhängigkeiten unter den einzelnen Akteuren. So zieht sich der Präsident von ARCAD/ SIDA, der bisher leitende Arzt von CESAC, aus der klinischen Arbeit zurück und übernimmt eine führende Position in der auf HIV/AIDS ausgerichteten Abteilung des Gesundheitsministeriums. Insofern verbindet die NGO ARCAD/ SIDA ihre Interessen mit denjenigen der nationalen Politik und gewinnt dadurch eine absolute Vormachtstellung auf dem Feld. AMAS/AFAS hingegen bleibt weiterhin an ARCAD/SIDA gebunden und kann sich aus verschiedenen und später noch näher zu beleuchtenden Gründen nicht aus dieser Abhängigkeit lösen.

8.2 H ARMONISIERUNG UND K ONKURRENZ Im Jahr 2003 erhebt der Staatspräsident Amadou Toumani Touré den Kampf gegen AIDS zur Chefsache und räumt ihm damit höchste politische Priorität ein. Das ganze Feld von AIDS wird daraufhin einer umfassenden Reform unterzogen. Diese Reform bildet den Auftakt zu einer enormen Dynamisierung, hat andererseits aber auch heftige Konkurrenzkämpfe zur Folge. Im Zentrum der

25 | Bei Seropositivität wird besonders deutlich, was Bourdieu mit spezifischem Kapital meint – nämlich ein Kapital, das nur in Verbindung mit einem bestimmten Feld wirksam und wertvoll ist und sich in diesem nur unter bestimmten Bedingungen in andere Kapitalformen (hier in konkretem Fall in ökonomisches) konvertieren lässt (Bourdieu 1993: 108).

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neuen Politik stehen die von UNAIDS lancierten Prinzipien Three Ones26, welche eine »Harmonisierung« des gesamten AIDS-Bereichs eines Landes in die Wege leiten sollen (UNAIDS 2004b; The Global Fund 2004). Das Oberziel dieser Bemühungen unterteilt sich in zwei Aufgabenbereiche: a) die Verbreitung der Krankheit zu reduzieren und b) den bereits Erkrankten eine umfassende Betreuung in therapeutischer, psychosozialer und ökonomischer Hinsicht zu gewährleisten (The Global Fund 2004: 79f). Konkret bedeutet dieser neue Ansatz eine Restrukturierung des gesamten Feldes: Alle Akteure werden in ein zentral organisiertes und kontrolliertes System eingebunden, um die zukünftigen Strategien sowie die in Aussicht gestellten Mittel möglichst koordiniert und damit auch effizient ein- und umsetzen zu können. Wie die meisten Programme basiert auch das malische Modell der Harmonisierung auf internationalen Spielregeln, deren Befolgung die entscheidende Voraussetzung für alle weiteren Finanzierungen darstellt. All diese Massnahmen wurden in einem euro-amerikanischen Kontext entwickelt und beinhalten neben strukturellen Anforderungen auch Wertvorgaben, die den engen Zusammenhang zwischen Mittelzuteilung und Ideologie deutlich werden lassen. Damit aber schaffen sie, wie ich nachfolgend zeigen werde, die Voraussetzungen für spätere, das Feld dominierende Konflikte. Der erste Schritt auf dem Weg zur neuen Harmonie besteht in der Gründung des Haut Conseil National de Lutte contre le Sida (HCNLS), in welchem Vertreter aller gesellschaftlichen Bereiche sitzen – des öffentlichen, privaten und des zivilgesellschaftlichen Bereichs. Der Haut Conseil bildet die zentrale Koordinationsstelle aller AIDS-Aktivitäten des Landes, gleichzeitig verbindet sich mit ihm auch ein zentrales Verteilungssystem, das eine Hierarchie zwischen allen Akteuren als Mittelempfänger festlegt und damit auch ihre Entscheidungsbefugnisse eingrenzt. Mit anderen Worten: Alle wesentlichen, in den AIDS-Bereich fliessenden Gelder werden vom Haut Conseil, dessen Vorsitz der Staatspräsident selbst einnimmt, und seinem geschäftsführenden Organ, dem Secrétariat Exécutif, akquiriert, verwaltet und verteilt. Trotz mehrmaligen Anläufen ist es mir nicht gelungen, die Höhe der Summen ausfindig zu machen, welche jährlich in den AIDS-Bereich fliessen. Schliesslich erhielt ich den Rat, meine Recherchen fallen zu lassen, denn: »Ils vont seulement fabriquer quelques chiffres pour toi.« Einen ungefähren Anhaltspunkt indessen, in welchem Umfang man sich die Veränderungen vorzustellen hat, mag der folgende Vergleich geben: Während die malische Regierung in den ersten 20 Jahren der Epidemie etwa 40 Millionen Dollar für deren Bekämpfung aufwendete (vor26 | Im Detail handelt es sich dabei um die drei folgenden Massnahmen: um die Einführung einer nationalen AIDS-Politik, die Gründung einer nationalen und multisektoriellen Koordinationsstelle und schliesslich um die Errichtung eines landesweit gültigen Evaluationssystems.

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nehmlich aus dem Fond Pays Pauvres Très Endettés), stehen dem Haut Conseil von 2004 bis 2009 gut 145 Millionen Dollar zur Verfügung (Touré 2004: 8). Der weitaus grösste Anteil davon stammt aus dem Global Fund, dem Multi-Country HIV/AIDS Program for Africa (MAP) und der Banque Africaine de Developpement (Diakité und Bah 2004: 14).27 Dazu kommen noch weitere, nicht genau zu beziffernde Beiträge aus Institutionen wie der Weltgesundheitsorganisation oder aus bilateralen Abkommen zwischen Mali und einzelnen Industrieländern. Die in den Medien kommunizierten Summen, mit welchen der AIDS-Bereich dotiert wird, und die Tatsache, dass der Staatspräsident selbst den Vorsitz des Haut Conseil einnimmt, haben bei der Bevölkerung nicht nur zu humoristischen Bemerkungen über dessen »günstige« Position geführt, sondern – und dies ist für die gesamte AIDS-Arbeit weitaus folgenschwerer – den Eindruck eines florierenden Marktes erweckt und damit auch Zweifel an der Glaubwürdigkeit aller Bemühungen entstehen lassen. Doch Harmonisierung bedeutet nicht nur, den Geldfluss zu kanalisieren und einheitliche und für alle Akteure geltende Ziele und Vorgehensweisen zu definieren, sondern es bedarf ebenfalls – so die Bedingung der Hauptsponsoren – eines verstärkten zivilgesellschaftlichen Engagements (The Global Fund 2004; Présidence de la République 2005). Dementsprechend erklingt zu Beginn der neuen Ära von verschiedenen Stellen der Aufruf, dass alle, das heisst die gesamte Bevölkerung, sich am Kampf gegen AIDS beteiligen sollen. So fordert auch der Directeur Régional de la Santé im Rahmen eines musikalischen Wettbewerbs zum Thema AIDS dazu auf, eigene Projektanträge einzureichen: Tout le monde, que ce soit des jeunes, des sociétés, des associations ou des privés peuvent monter des projets et avoir des financements. À ce sujet, j’aimerais inviter les gens à s’approcher et se progresser des documents – nous sommes à votre disposition. (22.8. 2005)

Dieser Einladung folgen viele. Innerhalb kurzer Zeit erlebt das Feld einen enormen Zustrom teils von neuen, teils von bereits in der internationalen Zusammenarbeit etablierten Akteuren. Ihnen allen erscheint AIDS als ein viel versprechender, weil finanzstarker Betätigungssektor. Neben lose organisierten Klubs, neu gegründeten Associations und altgedienten Vereinen modifizieren auch bestehende NGOs ihre Aktivitäten und nehmen Komponenten in ihre Agenden auf, die sich dem Kampf widmen wollen. Religiöse Führungspersonen werden geschult und für die Stigmathematik sensibilisiert (USAID 2007), der Koran 27 | 52 % aller zur Verfügung stehenden Mittel werden für die Behandlung und Betreuung HIV/AIDS-infizierter Personen aufgewendet, wobei der Kauf antiretroviraler Therapien und Medikamente den Hauptanteil der Kosten ausmacht (Diakité und Bah 2004: 14f, 22).

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und die Hadithe nach geeigneten Zitaten durchforstet, Horte für die Kinder HIV-positiver Prostituierten eröffnet, Menschenrechtsfragen und Erbangelegenheiten auf die HIV/AIDS-Problematik hin abgeklopft, Sparvereinigungen ins Leben gerufen, Aufklärungs- und Präventionsinstrumente entwickelt und Videoclips produziert. Mit anderen Worten: AIDS bietet unendliche Möglichkeiten, Hilfsangebote und Unterstützungsaktivitäten zu erfinden – »Die Krankheit ernährt mehr Menschen als sie tötet« ist zu einer gängigen Redensart in Bamako geworden. Nun verbessern sich die Chancen, von den Geldern des Global Fund profitieren zu können, ganz wesentlich, wenn Vereine Betroffene als Mitglieder vorweisen können – eine Gegebenheit, die das Selbstverständnis HIV-positiver Personen grundlegend verändert. Sie befinden sich nicht mehr ausschliesslich in der Rolle der Kranken, sondern bilden nun selbst eine Ressource, mit deren Hilfe der Zugang zu internationalen Geldern erleichtert wird. Dementsprechend wandelt sich auch ihre ursprünglich schwache Position zu einer relativen Machtposition und, wie ich beobachten konnte, überlegen sich HIV-positive Personen sehr genau, mit wem und zu welchen Bedingungen sie zur Kooperation bereit sind. Es würde zu weit führen, hier all die unterschiedlichen Initiativen und Interessen im malischen AIDS-Feld aufzeigen und analysieren zu wollen. Doch grundsätzlich konnte ich während meiner gesamten Forschungszeit beobachten, wie das Feld von AIDS immer mehr expandierte und sich diversifizierte, gleichzeitig aber auch von harten Verteilungs- und Konkurrenzkämpfen gezeichnet ist. Abgesehen von diesen feldinternen Konflikten sorgt die Harmonisierung vor allem auf der semantischen Ebene für unverrückbare Festschreibungen: Die direkte Verbindung zwischen AIDS und Geld ist von nun an in der gesellschaftlichen Wahrnehmung besiegelt. Darunter leidet nicht nur die Glaubwürdigkeit der gesamten AIDS-Arbeit, sondern auch die im AIDS-Bereich angestellten Personen klagen über diese Konnotation. Stellvertretend für viele schildert ein Mitarbeiter des nationalen Programms seine Situation folgendermassen: Il y a eu un investissement, mais il y a eu trop de publicité autour de cet investissement. On voit que l’État a mis de l’argent dans les véhicules, les gens voient maintenant les grosses voitures et nous qui sommes là-dedans, on ne grossit pas. On n’a pas le droit d’être bien habillé sinon les gens vont dire qu’on baigne là-dedans. [...] Les gens pensent que je suis riche alors que je ne le suis pas, je n’ai pas le droit de dire que je n’ai pas mille francs aujourd’hui. Moi, j’ai des amis qui travaillent au Ministère de l’éducation et qui me donnaient chaque mois du carburant, mais maintenant, je ne peux plus avoir ce carburant parce qu’ils me disent que je travaille dans le sida et que j’ai de l’argent. (m, 8.2.2008)

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Nachdem ich die grundlegenden Veränderungen des Feldes und den damit einhergehenden Bedeutungswandel skizziert habe, werde ich mich nun einem zentralen Akteur, der Selbsthilfeorganisation AMAS/AFAS, zuwenden und einen Blick auf dessen innere Dynamik werfen.

8.3 D IE S ELBSTHILFEGRUPPE AMAS/AFAS Es ist ein vornehmes und ruhiges Viertel, das sich zwischen Fussballstadion und Nationalmuseum ausbreitet, mit alten, in sandfarbenen Tönen gehaltenen Kolonialvillen und grossen Gärten. Insofern passt der schneeweisse, auf Hochglanz polierte Land Cruiser vor dem Sitz der Selbsthilfegruppe AMAS/ AFAS durchaus in seine Umgebung. Während das Anwesen bei meinem ersten Besuch 2003 einen eher verwahrlosten Eindruck machte, ziert jetzt gut drei Jahre später eine Flotte schicker Motorroller den Hof, das Gebäude selbst ist renoviert und um ein grosses Schatten spendendes Dach erweitert. Wie viele Organisationen HIV-positiver Personen übernimmt auch AMAS/AFAS eine Doppelfunktion. Als zivilgesellschaftliche Vereinigung ist sie einerseits dem politischen Auftrag verpflichtet, sich gegen die Verbreitung der Krankheit und für die Rechte HIV-Infizierter einzusetzen. Andererseits stellt sie betroffenen Personen einen geschützten Raum zur Verfügung, wo sie psychosoziale Beratung erhalten, sich aber vor allen Dingen mit anderen HIV-Infizierten treffen und dabei die Möglichkeit haben, ein neues Selbstverständnis zu gewinnen und so ihre soziale Isolation zu überwinden. Es sind zumeist Menschen aus ärmeren Verhältnissen und mit nur geringer Schulbildung, welche die Organisation aufsuchen. Aufgrund dieser Tatsache herrschen gerade auch bei Personen, die im Arbeitsleben stehen und sich speziell vor dem Bekanntwerden ihres Status fürchten, gewisse Vorbehalte, sich bei AMAS/AFAS zu engagieren. Mittlerweile zählt die Organisation rund 1500 Mitglieder, wobei es sich bei der Mehrzahl um eine passive Mitgliedschaft handelt. Dennoch besuchen an die 100 Personen den Sitz regelmässig – viele täglich, andere schauen nur ab und zu mal vorbei. Wie bereits angesprochen haben mit dem Gratiszugang zu antiretroviralen Medikamenten ab 2004 im gesamten AIDS-Bereich die internationalen Investitionen stark zugenommen. Für AMAS/AFAS bedeutet dies in erster Linie eine Gelegenheit, ihr Aktivitätenspektrum weiter auszubauen und dadurch mehr bezahlte Arbeitsstellen für ihre eigene Mitglieder zu schaffen – von Chorsingen über Informations- und Präventionsveranstaltungen, öffentliche Bekenntnisse, Hausbesuche bei Kranken bis zur Zubereitung gemeinsamer Mahlzeiten und medizinischen Beratungen. Die Hoffnung, die eigenen Krankheitserfahrungen als eine berufliche Qualifikation nutzen zu können und auf diesem Wege zu einer festen Anstellung zu gelangen, bildet für viele Personen das vorrangige Motiv, AMAS/AFAS beizutreten. Durchaus vergleichbar mit einem politischen

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Wahlkampf, konnte sich auch der momentan amtierende Präsident von AMAS bei seiner Kampagne mit dem Versprechen auf mehr Arbeitsplätze erfolgreich durchsetzen. Die meisten der Posten, gemäss seinen Wahlversprechungen, sind nun auf Halbe- oder Viertel-Stellen aufgeteilt, so dass möglichst viele Mitglieder in den Genuss eines regelmässigen Verdienstes kommen. Doch trotz des Splittings können die geschaffenen Stellen längst nicht die Erwartungen aller Mitglieder befriedigen. Andererseits steigen mit dem verstärkten Engagement vom Global Fund auch die Anforderungen an die Rechenschaftspflichten und die buchhalterischen Fähigkeiten der Gruppe (vergleiche dazu Tostensen et al. 2001: 23). Für die leitenden Mitglieder stellen diese administrativen Aufgaben, von deren korrekter Erledigung aber alle weiteren Finanzierungen abhängen, eine grössere Herausforderung dar, die nicht ohne die Hilfe von ARCAD/SIDA zu bewältigen ist. Die Tatsache jedoch, dass hier Personen, die kaum lesen und schreiben können oder auch nicht fliessend französisch sprechen, eine bezahlte Position einnehmen, sorgt bei vielen Arbeitssuchenden im NGO-Bereich, die oftmals ein Abitur oder sogar eine universitäre Ausbildung vorzuweisen haben, für starke Kritik. Während normalerweise, so ihre Argumentation, bestimmte berufliche Qualifikationen nötig seien, um eine der gut dotierten Arbeitsstellen zu erhalten, sei bei AMAS/AFAS allein der Nachweis der Seropositivität ausreichend. Für die meisten Mitglieder bedeutet der Sitz von AMAS/AFAS einen Ort der Zuflucht und einer neuen Zugehörigkeit. Bereits am frühen Morgen finden sie sich hier ein und bleiben auch bis zum Abend; sie vertreiben sich die Zeit mit gemeinsamem Radiohören, Handarbeiten oder Teerunden: C’est ici que je me sens à l’aise, j’ai la conscience tranquille et j’oublie ma maladie. À la maison, c’est un autre monde pour moi qui est différent de ma vie d’ici au siège. Ici je suis socialisée, on est devenu des amis, même des parents; c’est la socialisation tandis que à la maison, c’est l’individualisme. (w, 30 Jahre, 6.11.2006)

Besonders attraktiv sind die täglich vor Ort zubereiteten Mittagsmahlzeiten. Zum Preis von 100 FCFA (etwa 15 Cent) erhalten die Mitglieder ein gehaltvolles Menü, das sie gemeinsam einnehmen und zur familiären Atmosphäre innerhalb der Organisation beiträgt. Vor allem wenn sich die Situation zuhause schwierig gestaltet, von Misstrauen oder Ausgrenzung geprägt ist, scheint der tägliche Besuch bei AMAS/AFAS eine gute Alternative zu sein. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die gemeinsame Diagnose allein noch keine tragfähige Basis für Solidarität darstellt und es innerhalb der Organisation, gerade zwischen neuen und alten Mitgliedern, immer wieder zu grösseren Spannungen und Konflikten kommt. Die folgende Szene macht deutlich, wie unterschiedlich Fragen um Partizipation und Gleichberechtigung betrachtet werden, je nachdem von welcher Perspektive aus sie diskutiert werden.

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Wie jeden Mittwoch – der beliebteste Tag der Woche, da Reis mit Erdnusssauce auf dem Plan steht und nicht etwa ein ordinäres Hirsegericht – ist auch an diesem Morgen (21.3.2007) die groupe de parole, die therapeutische Gesprächsrunde, ausnehmend gut besucht. An die fünfzig Leute trudeln nach und nach ein, hauptsächlich dreissig- bis vierzigjährige Frauen. Verglichen mit den anwesenden Männern sind sie auffallend gut gekleidet und wirken mit ihren paillettenbesetzten Schuhen und raffiniert geschlungenen Foulards so elegant, als würden sie sich zu einem zeremoniellen Anlass begeben – ganz im Gegensatz zum Eindruck, den ich bei meinen ersten Besuchen vor drei Jahren gewonnen hatte. Damals versammelte sich hier eine kleinere Gruppe von ärmlich gekleideten und vielfach leidenden Menschen, die vor allem mit ihren gesundheitlichen Problemen belastet waren. Doch nun, mit dem freien Zugang zu antiretroviralen Therapien und den finanziellen Unterstützungen, hat sich das äussere Bild wie auch die innere Dynamik der Organisation stark verändert. Es ist eine auswärtige und professionell geschulte Moderatorin, die die Gruppengespräche führt. Sie kündigt an, dass man sich heute mit der Situation von Fatim befassen werde. Fatim ist 22 Jahre alt, kommt aus einem Dorf im Osten des Landes und ist mir bereits vor einigen Tagen aufgefallen, da sie im Vergleich zu anderen Mitgliedern ziemlich jung ist und recht bescheiden gekleidet wirkt – ihr einzig schickes Accessoire ist ihre knallrote Handtasche. Fatims Verhalten in der Gruppe zeichnet sich, soweit ich dies beobachten konnte, durch ungewöhnliche Servilität aus: Sie bietet den anderen Frauen Tee an, schält ihnen die Orangen – ganz so als ob sie die Position eines Dienstmädchens einnähme. Auch jetzt bringt sie ihr Anliegen so leise vor, dass ihre Nachbarin die Worte laut wiederholen muss. Fatim, so gibt diese bekannt, sei mit einem Mann, der mittlerweile verstorben ist und ihr nur die Krankheit hinterlassen habe, religiös verheiratet gewesen. Nach seinem Tod habe sie sich, gegen den Willen ihres Vaters, nach Bamako begeben und lebe nun seit einem halben Jahr bei ihren Tanten. Seit längerer Zeit kann Fatim nichts mehr zum Familienunterhalt beisteuern, zudem werde sie aufgrund von ihre Krankheit betreffenden Gerüchten geschnitten. Damit sich die Situation im Haushalt wieder verbessert, bittet sie nun um einen kleinen Kredit.28 Die Moderatorin gibt zu bedenken, dass HIV28 | Mitglieder von AMAS/AFAS haben die Möglichkeit, um so genannte AGR (Activités Génératrices de Revenus) anzufragen. Es sind dies Kredite, die ihnen als Investitionskapital zur Verfügung gestellt werden, um eine eigene berufliche Existenz aufzubauen. Allerdings schwankt der Umfang der Kredite beträchtlich: Während ARCAD/SIDA Kredite bis zu zwei Millionen FCFA (etwa 3000 Euro) vergeben kann, sind sie auf der Ebene von AMAS/AFAS auf 100.000 FCFA (150 Euro) beschränkt. In vielen Fällen jedoch wird der Betrag nicht für die eigentlich vorgesehenen geschäftlichen Investitionen verwendet, sondern für dringlichere Ausgaben eingesetzt, so dass es nachher zu Rückzahlungsschwierigkeiten kommt.

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Positive öfters ihren Verwandten unterstellen, sie zu stigmatisieren, obwohl dies gar nicht der Fall sei. Augenblicklich mischen sich auch andere Anwesende ein und schlagen vor, dass es für sie doch das Beste wäre, in ihr Dorf zurückzukehren. Fatim indessen hält dies für keine gute Lösung; ihr Vater würde sie nach ihrem Aufenthalt in Bamako als Prostituierte beschimpfen, ausserdem gäbe es in ihrem Dorf keine auf HIV/AIDS spezialisierte Versorgung. Doch mit diesem Argument geben sich die andern nicht zufrieden: Da AIDS bei ihr nicht ausgebrochen sei, könne sie sich ohne weiteres in jedem Gesundheitszentrum behandeln lassen. Dazu schweigt Fatim und schaut betreten zu Boden. Dann verändert sich plötzlich das Klima, aus dem Beratungsgespräch wird ein Verhör. Den anderen Teilnehmenden erscheint die Geschichte wenig glaubwürdig – sie fordern Antworten auf ihre Fragen und Vorschläge. Immer wieder wird konstatiert: »Elle n’est pas claire, elle veut nous cacher quelque chose.« Sehr wahrscheinlich sei sie gar nicht verheiratet gewesen oder ihr Freund nicht gestorben, sondern habe sie einfach nur verlassen – eine ganze Reihe solcher Vermutungen werden vorgebracht. Fatim schweigt stoisch und entzieht sich so der weiteren Diskussion, die langsam einen empörten Ton annimmt: Wie sie sich das denn vorstelle, man könne doch nicht allen Geld geben, wo solle das enden? Schliesslich unternimmt Fatim einen letzten Versuch und fragt, ob es denn vielleicht möglich wäre, ihr einen Heiratspartner aus der Gemeinschaft zu vermitteln? Die Antwort der Moderatorin fällt karg aus: Heiraten sei heutzutage eine schwierige Sache, man solle sich zuerst um die Gesundheit kümmern und dann um Liebesangelegenheiten; doch selbstverständlich werde ihre Anfrage zur Kenntnis genommen. Damit scheinen sich Fatims Anliegen endgültig erledigt zu haben. Auffallend an dieser Szene ist erstmal, dass Fatim als ein neues Mitglied aufgrund der allen gemeinsamen Diagnose auf Solidarität und Chancengleichheit hofft (siehe dazu auch Jamil und Muriisa 2004). Dagegen jedoch verwehren sich ältere Mitglieder und greifen zu rhetorischen Abwehrstrategien. Sie betonen die Grenzen der Loyalität und stützen sich in ihrer Argumentation auf das Prinzip der Autochthonie: Erst eine längere Mitgliedschaft berechtige auch zu bestimmten Privilegien, zum Zugang zu den vorhandenen Ressourcen. Daher sind es immer dieselben Personen, also Alteingesessene und deren treue Gefährten, die bei der Vergabe von Jobs, von Krediten und Naturalspenden zum Zuge kommen, so die Klage der Neuen. Andererseits sind es genau diese »patrimonialen Qualitäten« (Chabal 2009: 52), und nicht die von den internationalen Gebern geforderten demokratischen Grundsätze, auf denen der innere Zusammenhalt und zu grossen Teilen auch die Funktionsfähigkeit der Gruppe beruht. Mit anderen Worten: Es hat sich innerhalb von AMAS/AFAS eine Organisationsstruktur herausgebildet, die sich zwar an den äusseren Vorgaben der Geber orientiert, zum Beispiel mit demokratisch abgehaltenen Präsidentschaftswahlen, in ihren inneren Mechanismen aber auf neopatrimonialen Kri-

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terien beruht. In diesem Sinne wird die Verteilung der Pfründe als eine persönliche Angelegenheit des Präsidenten und der Präsidentin von AMAS/AFAS und deren Gefolgschaft betrachtet, so dass ein enges Netzwerk des Klientelismus entsteht, wobei die Alteingesessenen die Fäden in der Hand behalten und alle wesentlichen Entscheidungen treffen. Dabei zeigen sich im Mikrokosmos der Selbsthilfegruppe deutliche Parallelen zum politischen System in Mali, und je nach Perspektive des Betrachters werden auch ähnliche Kritikpunkte an dieser Herrschaftsfrm geäussert. Den meisten Mitgliedern, ob alten oder neuen, ist gemeinsam, dass ihre Zugehörigkeit zu AMAS/AFAS stark mit materiellen Interessen verknüpft ist (siehe dazu Dilger 2003a: 188; Ouattra 2003: 21; Kalofonos 2010: 374). Das politische Engagement, der Kampf gegen AIDS, tritt dabei oft in den Hintergrund oder interessiert nur indirekt, als Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel der Vereinigung, nämlich sich auf gesellschaftlicher Ebene für die De-Stigmatisierung HIV-positiver Personen einzusetzen, wird indessen häufig allein auf die private Situation hin interpretiert. Das heisst, materielle Unterstützungen dienen in erster Linie dazu, sich selbst vor Stigmatisierung zu schützen und mit Hilfe von Geschenken bei der eigenen Familie die notwendige Anerkennung zu finden. In diesem Sinne ist auch Fatims letzte Bitte nach Vermittlung eines Heiratspartners zu verstehen: Wenn es ihr schon nicht gelingt, an den finanziellen Ressourcen der Organisation partizipieren zu dürfen, so wäre eine Heirat für sie die Alternative, um sich vor ihrer Familie zu rehabilitieren. Doch nachdem sie auf unbestimmte Zeiten vertröstet wurde, hat Fatim ihre Besuche bei AMAS/AFAS merklich eingestellt.

8.4 D AS F ELD VON AIDS ALS K AMPFPL AT Z »Cette lutte contre le sida est très, très dure et il faut vraiment faire attention – parce que c’est une mafia«, sagt mir ein Mitglied von AMAS/AFAS und bittet mich, nun das Tonband auszuschalten. Auf meine Nachfrage, was sie denn unter »Mafia« verstehe, meint sie, dass es im Bereich von AIDS hauptsächlich ums Geld gehe und man sich nicht ungestraft gegen die Mächtigen auflehnen könne. Sechs Woche vor meiner Ankunft im Herbst 2007, erschütterte ein Wirbelsturm (un cyclone) den gesamten Bereich und hinterliess, wie mir meine Gesprächspartnerin das Ausmass der Geschehnisse bildhaft zu machen sucht, grosse Verwüstungen. Auch mir ist aufgefallen, dass die Stimmung unter den Mitgliedern der Selbsthilfegruppe merklich angespannt ist und einige über die Vorfälle im Zusammenhang mit einer Pressekonferenz noch immer sehr empört sind. Mit Hilfe verschiedener Quellen – Fernsehaufzeichnungen, Presseberichten und persönlicher Gespräche – versuchte ich, diese Ereignisse nachzuvollziehen. Dabei habe ich festgestellt, dass es sich um Konflikte handelt, die für

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ein Feld im Bourdieuschen Sinne typisch sind und sich deshalb auch gut mit seinem theoretischen Ansatz analysieren lassen. Felder begreift Bourdieu in erster Linie als Kampfplätze, auf denen um spezifische Gewinne gerungen wird. Ganz exemplarisch werde ich hier einen kleinen Ausschnitt der auf unterschiedlichen Ebenen stattfindenden Kämpfe des Feldes aufzeigen und analysieren. Im Zentrum steht der Versuch von AMAS/ AFAS, sich aus der Abhängigkeit von ARCAD/SIDA zu lösen und eine eigenständige Position einzunehmen. Diese Absichten waren zeitlich eng mit zwei weiteren Auseinandersetzungen verflochten, die den gesamten Emanzipationsversuch massgeblich prägten. Zum einen handelt es sich um den internen Wahlkampf um die Präsidentschaft von AMAS/AFAS, zum anderen um Rivalitäten mit einer neu gegründeten Konkurrenzorganisation, dem »Kollektiv«. Im Laufe des Septembers 2007 tauchen unvermittelt bei CESAC und später auch beim Sitz von AMAS/AFAS frisch gedruckte Karten mit der Aufschrift »Le Collectif – suivi par ARCAD/SIDA« auf – eine neue und unter der Schirmherrschaft von ARCAD/SIDA gegründete Selbsthilfegruppe HIV-positiver Personen. Bis anhin ist es zwar aufgrund der guten Finanzlage des Feldes zu vielen Neugründungen kleinerer Vereinigung HIV-positiver Personen gekommen, doch befinden sich diese alle unter der Ägide von AMAS/AFAS und verfolgen eine gemeinsame Politik. Die neue Organisation hingegen, die sich nun mit Rückendeckung von ARCAD/SIDA positionieren will, stellt für AMAS/AFAS, so deren Interpretation, eine offensichtliche Konkurrenz dar. Und in Anbetracht dessen, dass AMAS/AFAS sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen befindet und sich auch seit längerem aus der Kontrolle von ARCAD/SIDA zu befreien sucht, wirken diese neuen Mitgliederkarten alarmierend – dahinter vermutet werden politische Ränkespiele. Zudem machen Erzählungen die Runde, wie Leute anscheinend gezwungen wurden, diese Karten anzunehmen und sich als Mitglied beim Kollektiv einzutragen, wenn sie weiter bei CESAC behandelt werden wollen. Geschichten dieser Art heizen die Atmosphäre auf und in einer ersten, überstürzten Reaktion begeben sich präsidententreue Mitglieder von AMAS/AFAS zu CESAC, sammeln dort alle greifbaren Karten ein und vernichten diese – eine Aktion, die die anwesenden Patienten in Aufregung versetzt. Als zweite Massnahme von AMAS/AFAS wird eine Doppelmitgliedschaft verboten –um sich vor Spionage zu schützen, aber auch aus Angst, dass Anhänger des Kollektivs durch ihre Stimmabgaben die Wiederwahl des Präsidenten gefährden könnten. Gleichzeitig begibt sich eine Delegation von AMAS/AFAS zum Haut Conseil und protestiert dort gegen eine Spaltung der HIV-positiven Personen – schliesslich befänden sich alle in derselben Situation und sollten nicht zu Konkurrenten werden. Auf Seiten des neu gegründeten Kollektivs und dessen Initiatorin fällt die Beurteilung der Lage jedoch wesentlich anders aus. Mir gegenüber führt sie vor allem an, dass mit ihrer Organisation eine neue Ära der Gleichbehandlung aller

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HIV/AIDS betroffenen Personen eingeläutet werden soll. Bei der Verteilung der Naturalspenden, die AMAS/AFAS von verschiedenen Sponsoren erhält – seien dies Reis, Zucker, Milchpulver, Kleider oder Schulmaterial für Kinder – würde immer nur derselbe Kreis von Personen profitieren, und zwar diejenigen mit den besten Beziehungen zur Leitung (das heisst diejenigen mit der längsten Mitgliedschaft bei AMAS/AFAS).29 Die neue Organisation hingegen wendet sich gegen favoritisme und will das Prinzip der Good Governance hochhalten (8.2. 2008). Doch noch ist das Kollektiv keine akkreditierte Organisation, sondern besteht in ihrem Kern aus einem Dutzend Frauen, die sich ehrenamtlich, im Rahmen von Hausbesuchen oder Reinigungsarbeiten bei CESAC, engagieren. Die Leitung von ARCAD/SIDA wiederum betont mir gegenüber, dass sie keinesfalls für Neugründungen weiterer Selbsthilfegruppen sei, denn: »Si aujourd’hui on va encourager la création des associations, tout le monde va souhaiter d’être séropositif« (19.2.2008). Aufgrund ihrer Statuten sei ARCAD/SIDA jedoch dazu verpflichtet, unterschiedslos alle Aktivitäten von HIV-positiven Personen zu unterstützen. Andererseits wären die meisten Organisationen von so starken Interessenskonflikten gezeichnet, dass vielleicht eine neue Gruppierung, die sich für eine paritätische Verteilung der Gaben einsetzt, zum Überdenken der bisherigen Praxis zwinge. Es bleibe jedenfalls abzuwarten, so die Leitung von ARCAD/SIDA, inwieweit sich das Kollektiv als militante Vereinigung bewähren und seinen eigenen Richtlinien treu bleiben könne oder ob es nur darum gehe, vom Global Fund finanzierte Arbeitsstellen zu schaffen. Wenige Tage nach diesen Ereignissen beschliesst die Leitung von AMAS/ AFAS, aufgeschreckt durch die Aktivitäten der Konkurrenz, sich von der Vormundschaft von ARCAD/SIDA zu befreien. Im Rahmen einer Pressekonferenz, die im Hof von AMAS/AFAS stattfindet, soll diese Absicht öffentlich deklariert werden. Vor laufenden Kameras und etlichen Zeitungsjournalisten liest die Präsidentin von AFAS einen Text vor. Er beinhaltet hauptsächlich zwei Forderungen: Zum einen verlangt die Organisation im Verteilungssystem der Fonds30 eine Stufe höher gesetzt zu werden, das heisst von ARCAD/SIDA unabhängig zu werden und damit mehr Autonomie in ihrer Finanzführung zu erhalten. Diese Neuordnung sei notwendig, so zitiert die Tageszeitung L’indépendant:

29 | In Prinzip sollten alle, die am Tag der Spendenvergabe bei AMAS/AFAS anwesend sind, ihren Anteil erhalten. Da aber nur die wenigsten – zumeist die älteren Mitglieder – sich jeden Tag bei AMAS/AFAS einfinden, bleibt der Kreis der Beschenkten relativ begrenzt. Zudem erreichen die telefonischen Informationen über den Zeitpunkt der Spendenvergabe auch nur bestimmte, ausgewählte Mitglieder. 30 | Die Ausschüttungen des Global Fund erfolgen über eine festgelegte Rangordnung, wobei ARCAD/SIDA in diesem System als unabhängiger Empfänger fungiert, AMAS/ AFAS hingegen seine Mittel über ARCAD/SIDA erhält.

T EIL 2: D ER K ONTEXT Il y a des personnes qui souffrent sérieusement dans notre milieu, ils n’ont pas de quoi à manger. Alors qu’il y a des personnes qui circulent dans des voitures et qui ont construit des villas avec l’argent qui doit nous soutenir (Tembely 2007).

Zum anderen sollen verschiedene Aktivitäten im psychosozialen Bereich, die momentan in den Händen von CESAC liegen (wie zum Beispiel die Durchführung von Ferienkolonien für AIDS-Waisen), mitsamt den dafür vorgesehenen Geldern in den Aufgabenkreis von AMAS/AFAS überführt werden. Begründet wird dieser Vorschlag damit, dass die Mitglieder der Selbsthilfegruppe als direkt von der Krankheit Betroffene höhere Kompetenzen in diesen Bereichen hätten (Sidibé 2007). Die Konferenz endet mit der in vielen Zeitungen wie auch im Fernsehen ausgestrahlten Aussage eines Mitglieds: »On veut être l’alpha et l’oméga dans cette lutte contre le VIH/sida.« (Kanté 2007) Die an der Pressekonferenz Beteiligten berufen sich vor allem auf die Tatsache, dass ohne ihr Leiden das Feld von AIDS überhaupt nicht existieren würde und es ihnen deshalb als ungerecht erscheine, von dessen Prosperität ausgeschlossen zu werden oder wie ein Mitglied es ausdrückt, nur als blosse Mittel zum Zweck zu fungieren: Dès fois, je pense que nous sommes comme une marchandise: on nous vend pour s’enrichir avec notre maladie. C’est comme si la stigmatisation vient des décideurs eux-mêmes parce que dans les structures il n’y a pas de place pour les PVVIH (personnes vivant avec le VIH, N.S.), même pour les voyages des fois les responsables vont à la place des PVVIH, nous, nous sommes là uniquement pour faire le témoignage. On dit qu’on est solidaire avec les PVVIH, mais c’est dans la bouche seulement mais pas dans le cœur. Même si on veut s’exprimer, on nous dit: ›Il ne faut pas dire ça‹. Ce sont eux qui nous disent ce qu’on doit dire. (w, 50 Jahre, 30.11.2007)

Die Leitung von ARCAD/SIDA wiederum, die sich von der ganzen Aktion, insbesondere von den Zeitungsüberschriften wie »ARCAD/CESAC désavouée par les séropositifs« (Zan 2007) angeprangert und hintergangen fühlt, reagiert verstimmt: Les revendications qu’ils ont faites – ça c’est quoi? Ils ont dit qu’ils veulent s’occuper de la prise en charge des enfants. Nous on le fait déjà et ça fait partie d’un ensemble de prise en charge – pourquoi alors on va leur donner cette partie? Pour moi ce n’est pas de l’émancipation mais de malhonnêteté. Si c’est pour profiter, ils n’ont qu’à faire eux-mêmes leurs activités. Moi je pense que ce n’est pas correcte de dire: ›Enlevez ça de ARCAD/SIDA et donnez nous cela‹. (19.2.2008)

Insbesondere wird bedauert, dass mit diesen Forderungen nicht nur die internen Beziehungen zwischen ARCAD/SIDA und AMAS/AFAS untergraben

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werden, sondern sie auch das Ansehen des gesamten Feldes in Mitleidenschaft zögen. Denn wieder einmal würde sich in der Bevölkerung der Eindruck bestätigen, dass es sich bei AIDS lediglich um eine finanzielle Angelegenheit handle. Einen Tag nach der Fernsehausstrahlung finden sich die beiden Koordinatoren von ARCAD/SIDA im Hof der Selbsthilfegruppe ein, um die Angelegenheit persönlich zu besprechen. In ihrer Rede betonen sie vor allem ihre Enttäuschung darüber, dass man anstelle einer persönlichen Aussprache, in welcher die Dinge en famille hätten geregelt werden können, den Weg über Presse und Fernsehen gewählt habe. Zudem hätte die ganze Sache nicht nur dem Ruf von ARCAD/SIDA geschadet, sondern in erster Linie das Ansehen des Haut Conseil und damit auch des Staatspräsidenten beschmutzt. Diese Rüge, die sich vielmehr auf die gewählte Form als auf die Forderungen selbst bezieht, beschämt wiederum AMAS/AFAS (»tout le monde avait honte«). Die Leitung versucht nun einzulenken, indem sie beteuert, dass es nicht in ihrer Absicht lag, ARCAD/SIDA oder den Haut Conseil zu beleidigen, sondern sie im Gegenteil diesen Organisationen zu grossem Dank verpflichtet sei – die Journalisten hätten vieles falsch interpretiert und verdreht dargestellt. Zudem müsse man zugeben, dass aufgrund des Konfliktes mit dem Kollektiv die Situation sehr angespannt sei und infolgedessen einige Dinge vielleicht unabsichtlich überspitzt formuliert worden seien. Mit dem Eingeständnis, grosse Fehler begangen zu haben, und der Beteuerung, die dargebrachten Forderungen wieder zurückzunehmen, endet schliesslich die Sitzung. Einige Tage später begibt sich eine Delegation von AMAS/AFAS zum Haut Conseil und hinterlegt dort als Zeichen ihrer Entschuldigung zehn Kolanüsse.31 Aufgrund des dadurch zum Ausdruck gebrachten Respekts sollten auch alle weiteren Unabhängigkeitsbestrebungen beigelegt werden: C’est le respect qui est le plus important parce que ce qui a été dit à la télé n’a créé que des problèmes. Normalement on ne devrait pas aller à la télé, on devrait appeler ces gens pour discuter avec eux et tomber d’accord sur une solution – c’est ça le respect. Mais toute personne qui boit de l’eau se trompe. [...] Sinon normalement il ne doit pas avoir de problèmes entre AFAS/AMAS et ARCAD/SIDA – c’est comme le père et le fils, on ne doit pas avoir des problèmes. (m, 55 Jahre, 27.11.2007)

Wie bereits erwähnt, versteht Bourdieu soziale Felder immer auch als Kampfplätze, auf denen die einzelnen Akteure ihre Positionen zu erweitern suchen, um an den feldspezifischen Gewinnen in höchst möglichem Masse partizipieren zu können. Eine typische Konstellation in diesen Auseinandersetzungen ist 31 | Mit der rituellen Übergabe von Kolanüssen, die Eintracht und Respekt symbolisieren, gelten die Kontroversen als erledigt, und keine der beiden Seiten sollte künftig darauf Bezug nehmen.

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der »Kampf zwischen den Herrschenden und den Anwärtern auf Herrschaft« (Bourdieu 1993: 107), wobei erste zu Erhaltungsstrategien, zweite zu Umsturzstrategien – den so genannten »Strategien der Häresie« – neigen und damit die bestehende Ordnung in Frage stellen (ebd: 109). Die hier dargestellte Auseinandersetzung wiederholt in ihren Grundzügen nicht nur eine ähnliche Anordnung wie sie bereits bei den internen Spannungen von AMAS/AFAS sichtbar wurde, nämlich Konflikte zwischen neuen und alteingesessenen Akteuren, sondern sie ist auch von ähnlichen Strategien im Kampf um dieselben Ressourcen gekennzeichnet. Zwar handelt es sich bei AMAS/AFAS nicht um Neulinge im eigentlichen Sinne, aber doch um eine Organisation, für die das Feld der internationalen Zusammenarbeit, in welche das AIDS-Feld eingebettet ist, Neuland bedeutet. ARCAD/SIDA hingegen befindet sich in der Position des ältesten und am besten etablierten Akteurs – sie sind »Profis, die, da sie das Spiel kennen, das heisst die Geschichte des Spiels und die Problematik, wissen, was sie tun.« (Ebd: 112) Auffallend ist, dass in beiden Konflikten, abgesehen von ihren spezifischen Eigenheiten, zwei Argumentationslinien, aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, aufeinander treffen, um die jeweiligen Interessen zu verteidigen. So bezieht sich AMAS/AFAS in ihren Unabhängigkeitsbestrebungen auf die Prinzipien zivilgesellschaftlicher Gruppierungen, die ihre Interessen selbst, ohne Einmischung anderer Organisationen, definieren und vertreten wollen. Desgleichen entspricht die Einberufung einer Pressekonferenz durchaus einer in dieser Logik üblichen Vorgehensweise, da es zur Aufgabe solcher Vereinigungen gehört, als so genannte Pressure Groups zu agieren und mit Hilfe von Öffentlichkeitsarbeit für ihre Sicht der Dinge einzutreten (man denke an die erfolgreiche Arbeit weltweiter Aktivistenverbände um die Lockerung der Patentrechte an antiretroviralen Therapien). Die Leitung von ARCAD/SIDA wiederum, die hinter der geforderten Unabhängigkeit in erster Linie finanzielle Motive vermutet, baut in ihrer Argumentation auf die im lokalen Kontext gültigen Respektspflichten, welche verbieten, sich gegen Ältere, insbesondere gegen die eigenen Eltern, aufzulehnen oder deren Verhalten öffentlich zu kritisieren. Das heisst, die Strategie, die auf lokalen Gepflogenheiten beruht, konnte sich letzten Endes durchsetzen – im Übrigen ganz genauso, wie auch die älteren Mitgliedern von AMAS/AFAS ihre Vormachtstellung durch das Prinzip der Autochthonie rechtfertigen. Ein weiterer und nicht zu vernachlässigender Aspekt ist die Rolle der verschiedenen Kapitalsorten in diesem Konflikt. Im Zentrum der Interessen stehen ökonomische Mittel, deren Verteilung von der einen Partei als ungerecht angeprangert, von der anderen als ordnungsgemäss verteidigt wird. Da jedoch die Presse wie auch die Leitung von ARCAD/SIDA der Ansicht sind, dass es im Grunde genommen »nur ums Geld ging«, hat AMAS/AFAS ein ungeschriebenes Gesetz des Feldes verletzt – denn ihre Protestaktion machte die Moti-

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ve sichtbar, die sich hinter dem als uneigennützig deklarierten Kampf gegen AIDS verbergen. Allerdings ist der Zugang zu ökonomischem Gewinn im Feld von AIDS so geregelt, dass der Wert von kulturellem Kapital, von Bildung und Wissen, wesentlich höher eingestuft wird als derjenige des spezifischen Kapitals der Seropositivität. Doch trotz diesen ungleichen Wertungen stellt sich die berechtigte Frage, inwiefern die alteingesessenen Protagonisten des Feldes die Bedingungen so definieren, dass die Chancen für HIV-positive Akteure zu gering sind, um die im Feld herrschenden Machtverhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern. In diesem Sinne war die »Revolte der Kinder gegen ihre Eltern« wohl von Vornherein zum Scheitern verurteilt.

Nachtrag Nachdem der Global Fund seine Unterstützungen ab 2009 gekürzt hatte, verlor auch die Selbsthilfebewegung an Attraktivität. Als ich im Januar 2010, nach beendeter Forschung, den Sitz von AMAS/AFAS aufsuchte, waren abgesehen von den Angestellten der Organisation kaum fünf Mitglieder anwesend. Die Leitung, so wurde mir erklärt, war aufgrund von massiven Finanzkürzungen gezwungen, die gemeinsamen Mahlzeiten wie auch die Vergabe von Krediten einzustellen. Deshalb hätten auch die meisten Mitglieder aufgehört, den Sitz von AMAS/AFAS zu besuchen, denn: »Ici, il n’y a plus rien là-dedans.« Kurze Zeit später, als bekannt wurde, dass vom Global Fund mehrere Millionen Dollar allein in Mali veruntreut worden waren, erreichte die finanzielle Frage noch ganz andere Dimensionen. Gefälschte Rechnungen über nie stattgefundene Reisen, über Forschungsseminare und den Kauf von Medikamenten veranlassten die Staatsanwaltschaft, fünfzehn Personen aus dem Gesundheitsministerium zu verhaften; im Februar 2011 musste schliesslich auch der Gesundheitsminister von seinem Amt zurücktreten (Meunier 2010; Der Standard 2011).

9. Gesellschaftliche Wahrnehmungen der Krankheit AIDS

Erfahrungen HIV-positiver Personen, ihre Risikowahrnehmungen wie auch ihre Techniken und Strategien, diese Risiken zu meistern, sind wesentlich davon geprägt, mit welchen Bedeutungen die Krankheit auf gesellschaftlicher Ebene versehen ist. Einen möglichen Zugang zu diesen Interpretationen bietet die Analyse von AIDS-Diskursen, das heisst die Untersuchung, wie über die Krankheit gesprochen oder geschrieben wird. In diesem Kapitel sollen die Vorstellungen, in denen sich Kriterien der In- respektive der Exklusion formulieren, näher beleuchtet werden. Dabei orientiere ich mich an einem Diskursbegriff wie ihn Norman Fairclough (1992; 1993) verwendet. Diskurse – gesprochene oder geschriebene Texte – sind für ihn Formen sozialer Praxis, das heisst, sie sind Handlungen, welche in dialektischer Beziehung mit sozialen Bedingungen stehen, indem sie diese reproduzieren, aber auch transformieren (Fairclough 1992: 45). In diesem Sinne statten diskursive Praktiken nicht nur die soziale Welt mit Bedeutungen aus, sondern sie prägen auch die Beziehungen der Menschen untereinander (ebd: 60). Im Falle von AIDS-Diskursen die Beziehungen zwischen HIV-positiven Personen und ihrem sozialen Umfeld. Mir geht es hier nicht darum, die Vielfalt der lokalen Interpretationsmöglichkeiten, wie sie sich in den Anfangsphasen der Epidemie entfaltet haben, darzustellen. Hierzu liegen bereits sehr eingehende Untersuchungen vor, für Mali wie auch für andere Regionen in Afrika (u.a. Le Palec 1994; Wolf 1996; Gausset und Mogensen 1996; Hammer 1999; Dilger 1999; Rakelmann 2001). Ich möchte vielmehr zeigen, dass sich in den letzten Jahren aus der Deutungsvielfalt zwei Diskursrichtungen herauskristallisiert haben, die heute die Sichtweise auf AIDS massgeblich bestimmen und damit ihren Beitrag zur Stigmatisierung der Krankheit und der Kranken leisten. Die erste speist sich aus den medizinischen Informationen, die im Rahmen der Prävention verbreitet wurden. Sie setzt die Krankheit in Zusammenhang mit Ehebruch und Prostitution. Die zweite Deutung ist in erster Linie politisch motiviert. Sie bezieht sich auf die euro-amerikanischen Interessen, die sich hinter AIDS-Informationen und

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den hohen Spendengeldern verbergen und betrachtet die Krankheit infolgedessen als reine Erfindung. Bei der Untersuchung der unterschiedlichen Diskurse stütze ich mich vorrangig auf Aussagen aus Fokusgruppendiskussionen, aber auch auf Äusserungen in alltäglichen Begegnungen und Konversationen.

9.1 L A MALADIE HONTEUSE — DIE SE XUELLE D EUTUNG Die ersten Informationen über AIDS in den 1990er Jahren treffen in Mali auf ein Klima, das gezeichnet ist von ökonomischen Schwierigkeiten, einer grundlegenden Skepsis gegenüber weissen Interventionen und vehement geführten öffentlichen Debatten über Moral und kulturelle Identität (siehe Kapitel 6.2/6.3). Diese Erfahrungen schaffen den Rahmen, innerhalb dessen die biomedizinischen AIDS-Botschaften wahrgenommen werden, wobei sich je nach Interessen und Positionen der Empfänger unterschiedliche Deutungen ergeben. Die Krankheit, so eine gängige Meinung, ist Ausdruck der Modernität und verweist dementsprechend auf die Unordnung, welche sich durch die Auflösung herkömmlicher Hierarchien im sozialen Gefüge breitmacht.32 Insofern stellt das Sprechen über AIDS ein Forum zur Verfügung, in welchem die Vor- und Nachteile von Modernität diskutiert und gegeneinander abgewogen werden. Für die malische Bevölkerung haben sich die Inhalte der Informations- und Präventionsbotschaften offenkundig auf drei zentrale Aussagen verdichtet. Diese prägen bis heute das Bild von AIDS. Die erste und noch immer vorherrschende Information stellt AIDS als eine Krankheit dar, die in kürzester Zeit zu einem von Auszehrung gezeichneten Tod führt. Die Unterscheidung zwischen dem Stadium von HIV und demjenigen von AIDS blieb rein theoretisch und ist für Leute, denen biomedizinische Körperkonzeptionen fremd sind, nicht einsichtig.33 Insofern produziert eine HIV-Diagnose in ihrer Absolutheit so widersprüchliche Effekte wie lebende Leichname (cadavres vivants) – Menschen, die bereits vor ihrem Tod als gestorben gelten. Diese Vorstellung bestätigt sich durch die in den Medien vermittelten Bildern von AIDS-Opfern mit ausgemergelten und von Krankheiten gezeichneten Körpern.34 32 | Die Assoziation der Krankheit mit den negativen Auswirkungen des modernen Lebens beschränkt sich nicht nur auf Mali; sie ist Thema in vielen Untersuchen über AIDS-Interpretationen in Afrika (u.a.: Diarra et al. 1994; Dilger 1999, 2003; Gronemeyer 2002; Thomas 2008). 33 | Im lokalen Krankheitsverständnis existiert kein Begriff für Virus; im Zuge der AIDSArbeit hat sich jedoch die Übersetzung mit banakisè (Kern der Krankheit) eingebürgert. 34 | Diese Bilder haben in Mali unter anderem zur Folge, dass junge Frauen, die sich zu dünn glauben, ein Medikament einnehmen, dafurukubani (dicke Wangen) genannt, um nicht der Krankheit verdächtigt zu werden und sich dadurch Heiratschancen verbauen.

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Die zweite Information besagt, dass gegen diese Krankheit keine Medikamente existieren. Mit dieser Aussage verknüpfen sich vor allem Interpretationen aus dem religiösen Feld. Imame und Prediger identifizierten AIDS als die bereits im Koran erwähnte Krankheit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie als einzige ohne Heilmittel bleibt. Sie soll auf das Ende der Welt hinweisen und gilt als eine Strafe Allahs, die all diejenigen trifft, welche seine Gebote verletzen: Le sida c’est une punition divine, parce que jusqu’aujourd’hui on n’a pas trouvé un médicament efficace. Je me suis dit que la maladie a été détectée d’abord chez les homosexuels alors que Dieu n’accepte pas ça. Il a envoyé cette maladie pour que nous soyons clair dans la religion. C’est une punition de Dieu pour les infidèles. (m, 25 Jahre, 12.2.2005)

Diese Beurteilung hält sich bis heute, obwohl von islamischer Seite aus eine Kehrtwendung vollzogen wurde und heute in einigen Moscheen für Mitgefühl und Solidarität mit Infizierten gepredigt wird. Doch für viele Gläubige wirkt das nachträgliche Einschwenken auf die gesundheitspolitische Linie nur wie ein Zugeständnis aufgrund finanzieller Unterstützungen. Da auch in den Medien kaum über die Wirkungen von antiretroviralen Therapien berichtet wird – dies aus der Befürchtung, die Prävention könnte dadurch vernachlässigt werden – bleibt der Eindruck bestehen, dass es tatsächlich keine Medikamente gegen AIDS gibt. Die dritte Aussage bezieht sich auf die Übertragungsmöglichkeiten. Im Mittelpunkt der Präventionsbotschaften stand stets die sexuelle Transmission; andere Wege fanden nur am Rande Erwähnung und spielen deshalb in den heutigen Vorstellungen nur eine untergeordnete Rolle. Im Fokus der öffentlichen Gesundheit stehen vor allem, unterstützt durch die Definition von Risikogruppen, ungeschützte und als unseriös geltende Sexualkontakte. Diese Darstellungen, verbunden mit der Lancierung von Kondomen, den »Identitätskarten der Prostitution« (Vuarin 1999: 441), sorgten dafür, dass AIDS generell als eine Krankheit der Prostitution und des Ehebruchs35 eingestuft wird. Dieses Etikett gilt bis heute und prägt damit auch die Stigmatisierung HIV-positiver Personen. In Mali konzentrierten sich Präventions- und Aufklärungsbotschaften in erster Linie darauf, wie die Krankheit übertragen wird und wer besonders hohen Risiken ausgesetzt ist. Eine Antwort auf die für viele Menschen zentrale Frage, nämlich warum es diese Krankheit überhaupt gibt und welcher Sinn sich mit ihr verbindet, bleiben sie schuldig. Diese Lücke füllen Argumente, die aus den Gegenüberstellungen von sozialer Ordnung und Unordnung leben. Sie er35 | Mit jeneya (Ehebruch) ist jede sexuelle Beziehung ausserhalb der Ehe gemeint, des weiteren wird der Begriff aber auch als Synonym für Prostitution benutzt (Le Palec 1999: 345).

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klären AIDS als eine Metapher für das moderne, den herkömmlichen Regeln entfremdete Leben. Das Chaos, das sich auf körperlicher Ebene in den vielen Krankheiten manifestiert, habe seine Wurzeln im sozialen respektive im sexuellen Chaos. Diese Assoziation zwischen Erkrankung und Übertretung von sexuellen Normen ist konstituierend für die Stigmatisierung der Kranken. Stellvertretend für viele andere sei hier die Aussage einer 25 jährigen Studentin zitiert: Une fois qu’on sait que tu es atteint du sida, tu vois le cercle de tes amis se réduit. Moi je crois que cela est dû à quoi? Les gens pensent qu’une fois que tu es infecté par le sida seulement, tu es coupable, tu n’es pas sérieux, tu es une prostituée. Ici les gens pensent que c’est par le rapport sexuel que tu as eu cette maladie. (12.3.2007)

Der Bereich der Sexualität ist äusserst anfällig für die Empfindung von Scham und die Zuweisung von Schande. Diese resultieren meist aus dem Verlust von Kontrolle – über sich selbst und seine sozialen Beziehungen. Da AIDS sich durch unseriöse sexuelle Kontakte überträgt, gilt sie als maladie honteuse, als eine Krankheit der Schande, welche mutmassliche Verfehlungen offensichtlich werden lässt.36 Insbesondere für Frauen ist Sexualität ein Bereich, der durch strenge Vorschriften reglementiert ist.37 Doch die Beurteilungskriterien darüber, was erlaubt, toleriert oder gänzlich unzulässig ist, haben an Eindeutigkeit verloren und stellen sich je nach Position des Sprechenden ganz unterschiedlich dar. Vor allem bei jungen Leuten ist die Vieldeutigkeit von Sexualnormen ein beliebtes Gesprächsthema und sorgt für kontroverse Diskussionen. Sie selbst sehen sich als »chauve-souris« – als Wesen zwischen zwei Gattungen, für die die herkömmlichen Reglements nicht mehr passen, die es sich aber auch nicht

36 | Die Konnotation von AIDS als maladie honteuse findet sich bereits in früheren Untersuchungen, die in Mali im Rahmen von Präventionsverbesserungen über die gesellschaftliche Wahrnehmung der Krankheit durchgeführt wurden (u.a. Le Palec 1994a: 223; Le Palec und Diarra 1995: 112). Dabei hat es sich gezeigt, dass diese Vorstellung sich negativ auf Präservativbenutzung (u.a. Vuarin 1999: 441; Fay 1999: 285) wie auch auf die Testbereitschaft (Tioulenta 1994: 7.5) auswirkt. 37 | An dieser Stelle sei auf die vor einigen Jahren geführte Diskussion über afrikanische Sexualität im Zusammenhang mit AIDS verwiesen. Die Behauptung des Ehepaars Caldwell und ihren Mitarbeitern (1992; 1994), dass es im Gegensatz zur asiatischen Sexualität eine klar unterscheidbare afrikanische Sexualität gäbe, welche sich vor allem dadurch auszeichne, dass moralische Vorschriften fehlen und deshalb Promiskuität fördere, stiess in vielen Kreisen auf dezidierte Kritik (Le Blanc 1991; Ahlberg 1994; Heald 1995).

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leisten können, offen dagegen zu verstossen.38 Einen Ausweg bilden, ganz im Sinne von Fledermäusen, »Nachtaktivitäten« – das heisst, entscheidend ist einzig, bei seinen Unternehmungen nicht gesehen zu werden und zumindest dem Anschein nach die herkömmlichen Erwartungen erfüllen. Denn die öffentliche Meinung kritisiert nicht so sehr den Akt der Übertretung, sondern vielmehr dessen Sichtbarkeit.

9.2 L E SYNDROME INVENTÉ — DIE POLITISCHE D EUTUNG »On ne peut pas faire une journée sans entendre le mot sida à la télé ou à la radio« sagt eine junge Frau anlässlich einer Fokusgruppendiskussion (21 Jahre, 12.2.2005); andere sprechen sogar vom »AIDS-Terror«. Die starke mediale Präsenz, immer in Verbindung mit Belehrungen hinsichtlich Prävention bewirkt jedoch nicht zwangsläufig ein erhöhtes Risikobewusstsein, sondern sorgt vielfach nur für Überdruss: »On nous embête tout le temps avec ce problème du sida qui n’existe même pas.« (m, 19 Jahre, 6.2.2005) Neben den Bemühungen zur Sensibilisierung der Bevölkerung treten in den letzten Jahren, wie bereits erwähnt, zunehmend Mitteilungen darüber, mit welchen Summen sich internationale Geldgeber im AIDS-Bereich engagieren. Sie verfestigen die Assoziation der Krankheit mit Geld. Nicht, dass diese Verbindung neu wäre: Geld als Symbol der Moderne ist quasi konstitutiv für afrikanische Interpretationen von AIDS. Bereits in den Erzählungen über den Ursprung der Krankheit in Mali spielt das Motiv »Geld« eine ausschlaggebende Rolle. Populär in diesem Zusammenhang ist die Geschichte des weissen Mannes, der eine malische Frau (in gewissen Versionen auch eine Prostituierte) dafür bezahlt hat, dass sie mit einem Hund sexuellen Verkehr ausübt, sich dabei mit dem Virus infiziert und diesen anschliessend weiter verbreitet. Heute zeugen auch die Fernsehspots mit Bekenntnissen von AIDS-Betroffenen von der Nähe zwischen Krankheit und Profit. Denn, so die allgemeine Meinung, die vermeintlichen AIDS-Opfer sähen so gesund und wohlgenährt aus, dass sie unmöglich krank sein könnten, viel wahrscheinlich sei, dass sie ein hohes Honorar für ihre Auftritte erhalten haben. Damit bestätigt sich wieder: Die Krankheit ernährt mehr Menschen als sie tötet. Zudem würde sich jemand, der wirklich unter dieser Krankheit leide, niemals öffentlich dazu bekennen: »Notre culture n’accepte pas ça, parce que le sida est considéré comme une maladie humiliante, dévalorisante.« (m, 50 Jahre, 31.1.2007) 38 | Derselbe Ausdruck, ebenfalls in Verbindung mit Wandlungsprozessen, erwähnt auch Cissé (1971: 178), allerdings viel negativer konnotiert. Hier gilt die Fledermaus als eine Kreatur, die aufgrund spiritueller Verwahrlosung den Fluch Gottes auf sich gezogen hat und nun, von ihren Wurzeln abgeschnitten, ein Zwitterdasein fristet.

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Doch mit den hohen Investitionen und in Anbetracht der Unsichtbarkeit der Krankheit rückt vor allem die Frage nach dem Sinn dieser Ausgaben in den Mittelpunkt des Interessens: Warum wird dieser finanzielle Aufwand betrieben, obwohl es andere Krankheiten wie zum Beispiel Malaria gibt, an denen doch sehr viel mehr Leute sterben? In vielen Kreisen, insbesondere unter jungen Männern, hat sich eine grundlegende Skepsis gegenüber der Existenz der Krankheit und den mit ihr verfolgten Absichten breit gemacht:39 C’est une invention de l’Europe, c’est comme ça qu’on voit ici le sida. C’est quelque chose qui a été manigancé en Europe d’abord afin de l’amener en Afrique. Même si c’est vrai, en tout cas la méthode ne me plait pas. Pour nous c’est l’Occident qui est à la base de tout ce qui se passe en Afrique et surtout en matière du VIH/SIDA. [...] Pour moi le sida est une simple imagination pour décourager les amoureux. En tout cas je suis franchement contre. (m, 22 Jahre, 21.3.2007)

In dieser Äusserung findet sich eine der bereits seit mehreren Jahren kursierenden Um-Deutungen der Abkürzung SIDA – als Syndrome Inventé pour Décourager les Amoureux (das heisst: um anderes Sexualverhalten einzuführen). Während diese Interpretation in früheren Zeiten eher eine vage Behauptung mit verschwörungstheoretischem Beigeschmack war, erhält sie heute angesichts der immensen Mittel eine ganz andere Plausibilität. Sie bekräftigt die Annahme, dass es sich bei der Krankheit um ein erfundenes Phänomen handeln muss, das nur als Vorwand für andere Zwecke dient. Mit den Summen, die für eine Krankheit ohne Kranke aufgewendet werden, soll die Einführung von westlichen, das heisst von kulturell fremden Werten propagiert werden (siehe dazu auch: Castle 2003). Dies zeige sich gerade daran, dass Sexualität, früher ein tabuisiertes Thema, nun öffentlich behandelt und mit Verhaltensvorschriften belegt werde. In gewissem Sinne schliesst die Verneinung der Krankheit an die Erfahrungen der Kolonialzeit an und ist Ausdruck einer politischen Einstellung gegenüber den als imperialistisch wahrgenommenen Ambitionen. Inwieweit 39 | Meine Forschungsergebnisse zeigen, dass Frauen – gerade in Diskussionen ohne männliche Teilnehmer – eher die biomedizinische Version vertreten und AIDS als eine »Krankheit wie alle anderen« beurteilen. Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass die Äusserungen in Fokusgruppendiskussionen vielfach von der Dynamik in der jeweiligen Gruppe abhängig sind und sich ferner an den in der Gruppe angesagten Sichtweisen orientieren, das heisst in gewissem Sinne der Selbstdarstellung dienen. Ebenso werden auch die eigenen negativen Einstellungen gegenüber Betroffenen kaum thematisiert: Es sind die anderen, welche Personen mit AIDS verurteilen und ausgrenzen. Sie selbst hingegen halten Stigmatisierung für unangebracht – oder haben durch gesundheitspolitische und islamische Interventionen gelernt, dass es unangebracht ist, Stigmatisierung für angebracht zu halten.

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diese Diskursrichtung, die sich gegen Einmischungen in lokale oder konkret gesprochen in intime Angelegenheiten wendet, in erster Line der Selbstdarstellung der Sprechenden dient, lässt sich anhand von Fokusgruppendiskussionen nur schwer beurteilen. Doch tendenziell hat, wie ich auch in zufälligen Alltagsgesprächen feststellen konnte, die Skepsis ganz allgemein gegenüber der AIDS-Arbeit stark zugenommen. Die einzigen Personen, welche von diesem »AIDS-Theater« profitieren, sind nach gängiger Anschauung diejenigen, die in diesem Bereich arbeiten.

9.3 O RTHODOXIE UND S TIGMATISIERUNG Die beiden vorgestellten Diskursrichtungen beinhalten Argumentationsweisen, in deren Zentrum das Sprechen über soziale Ordnung und kulturelle Identität steht. Diese Reden erhalten im Rahmen der gesellschaftlichen und ökonomischen Krisen (siehe Kapitel 6.2, 6.3) eine besondere gesellschaftliche Funktion und gewinnen dadurch auch eine besondere Intensität. In ihrer Publikation über die verschiedenartigen Effekte, welche die Unzufriedenheit mit Modernität in Afrika produziert, zeigen Comaroff und Comaroff (1993), dass sich diese mehrheitlich in der so genannten »Tradition« verorten. Orthodoxie als handlungsleitender Diskurs stellt eines dieser Phänomene dar. Wenn die Verlässlichkeit der Sozialordnung brüchig wird und die herkömmlichen Prinzipien ihre Gültigkeit verlieren, verweisen orthodoxe Diskurse auf die gemeinsamen Wurzeln. Sie verteidigen das Althergebrachte als das einzig Richtige und Wahre und stellen zumindest auf der verbalen Ebene eine Möglichkeit zur Verfügung, die durch die umfassenden Veränderungsprozesse entstandenen Brüche zu kitten.40 In diesem Sinne dienen orthodoxe Argumentationen als ein Bollwerk gegen die schädlichen Einflüsse von aussen. Andererseits kreieren sie für die einzelnen Individuen unter dem Deckmantel der »richtigen« Rede und Selbstdarstellung auch einen Raum für ihre heterodoxen Unternehmungen. Doch orthodoxe Argumentationen existieren nicht nur als »reiner« und unvermischter Diskurs, sie treten in Beziehung mit anderen Diskursen, vermi40 | Bourdieu (1976: 325f) stellt die Erfahrungen der Doxa, in welcher die soziale Ordnung als natürlich gilt und stillschweigend akzeptiert wird, denjenigen der Orthodoxie und Heterodoxie gegenüber. Sobald Fragen oder Zweifel auftreten, bricht die Selbstverständlichkeit der doxischen Ordnung und es entstehen Diskurse – heterodoxe Diskurse, die das vormals Fraglose in Frage stellen und orthodoxe Diskurse, die der Legitimation des ehemals Fraglosen verpflichtet sind. In diesem Sinne repräsentiert Orthodoxie die richtige oder vielmehr die »zurechtgebogene Meinung« (ebd: 332) und nimmt für sich in Anspruch, in Besitz der einzig offiziellen und Sicherheit versprechenden Interpretation der Welt zu sein.

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schen sich mit ihnen. Dabei formiert sich ein Prozess, den Fairclough (1992: 84) mit dem Konzept der Intertextualität fasst: die Produktion von Diskursen über Anleihen anderer Diskurse. Das heisst, Prozesse der Textproduktion zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen ursprüngliche Texte transformiert werden und neue Diskurse entstehen, die wiederum restrukturierende Wirkungen entfalten (ebd: 101). Bei den verschiedenen Diskursen über AIDS ist dieser Prozess besonders gut nachvollziehbar: Nicht nur wurden die von der öffentlichen Gesundheit postulierten Präventionsmassnahmen wie Abstinenz und sexuelle Treue vom Metadiskurs der Orthodoxie vereinnahmt, sondern auch die sich im weiteren Verlauf herauskristallisierende Verbindung zwischen AIDS und Geld gilt als ein Beweis, fremde Werte einführen zu wollen. Insofern speist sich die Wahrnehmung der Krankheit wie der Kranken aus den gesellschaftlich gut akzeptierten und intensiv geführten orthodoxen Diskursen. Selbst wenn die beiden parallel existierenden Deutungen, die sexuelle und die politische, sich hinsichtlich der Existenz der Krankheit widersprechen, so bilden sie doch nur unterschiedliche Aspekte der Auseinandersetzung über das Thema »kulturelle Identität«. In diesem Sinne bereichern die verschiedenen Informationen bezüglich AIDS die bereits bestehenden orthodoxen Argumentationslinien. Gleichzeitig erhalten dadurch aber auch die Be- und Verurteilungen der Kranken, das heisst deren Stigmatisierung in einem Klima der Orthodoxie ein ganz anderes Gewicht und andere Intensität. In Anbetracht dessen, dass gesellschaftliche Diskurse über kulturelle Identität und damit einhergehend auch über sittliche Werte vor dem Hintergrund umfassender Krisen eine wichtige Orientierungsfunktion einnehmen, müssen auch die mit AIDS assoziierten Verhaltensweisen besonders stark geächtet werden, da sie den angegriffenen sozialen Zusammenhalt und im weiteren Sinne die Gültigkeit der eigenen Weltanschauung gefährden (zur Verbindung zwischen Stigma und kultureller Identität siehe Crocker 1998: 508f). Nachdem ich hier die gesellschaftliche Konstruktion der Krankheit mittels der in der Orthodoxie verhafteten Diskurse behandelt habe, werde ich mich anschliessend der Perspektive der Betroffenen selbst zuwenden. Ihre Erfahrungen und ihre Risikoempfindungen sind in wesentlichem Masse von den kontextuellen Bedingungen, wie ich sie in diesem zweiten Teil der Arbeit aufgezeigt habe, geprägt – von den sozialen Strukturen des urbanen Umfeldes, den wechselnden Konstellationen im AIDS-Bereich und schliesslich ganz entscheidend auch von den gesellschaftlichen Wahrnehmungen der Krankheit – und wirken gleichzeitig aber auch verändernd auf diese zurück.

Teil 3: Soziale Vulnerabilität Wer den kleinsten Teil seines Geheimnisses hingibt, hat den anderen nicht mehr in seiner Gewalt. Jean Paul (1980)

Im Zeitalter antiretroviraler Therapien und deren breiter Verfügbarkeit hat sich der Vulnerabilitätskontext HIV-positiver Personen stark gewandelt. Der wesentliche Unterschied zu früher besteht darin, dass sich der zeitliche Horizont entscheidend erweitert und Lebensperspektiven und eigene Projekte wieder möglich macht. Die unmittelbare Gefahr eines mit qualvollen Krankheiten belasteten Todes ist zunächst gebannt. Ebenso verweisen keine körperlichen Zeichen mehr auf die gesellschaftlich geächtete Krankheit. Doch an die Stelle früherer Gefahren sind andere, subtilere Gefährdungen getreten. Sie verleihen der subjektiv empfundenen Risikolandschaft neue Konturen und formulieren sich in erster Linie als Bedrohung für die persönliche Identität der Betroffenen und ihrer Familien: »On a pas peur de la maladie, mais de ce que les gens vont dire derrière nous« – es sind die Gerüchte, die Worte der anderen, welche das Ansehen beschädigen und in gewissen Fällen sogar zum sozialen Tod führen können. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Perspektiven auf die Krankheit bedeutet heute HIV-positiv zu sein, mit einem »schmutzigen Geheimnis« (Stein 2003) leben und umgehen lernen zu müssen. Diese Situation birgt verschiedene Risiken, die im Leben der meisten Personen, mit denen ich gesprochen habe, einen grossen Raum einnehmen. Sie leiten ihr Handeln, Denken und Empfinden und verdichten sich vor allem darauf, ob und wie das Geheimnis gewahrt werden kann und welcher Preis damit verbunden ist. Denn Geheimnisse haben immer, insbesondere wenn sie so schwerwiegend sind wie HIV, eine »relationale Bedeutung« (Spitznagel 1998: 29). Sie verändern oder vielmehr belasten Beziehungen, ungeachtet dessen, ob sie nun mitgeteilt oder verheimlicht werden (Keppler und Luckmann 1997: 206). Andererseits befördern die Befürchtungen, als HIV-positiv entdeckt zu werden, in individueller Hinsicht Antizipationen und Wenn-Dann-Szenarien, beängstigende Vorstellungen darüber, welche Folgen eine solche Enthüllung haben könnte. Im Zentrum all dieser

Befürchtungen und Risiken – und damit im Zentrum der veränderten sozialen Vulnerabilität – steht ein lokales Anerkennungsphänomen: der gute respektive der beschädigte Name. Mein Anliegen in diesem Teil ist es, einzelne, für diesen neuen Vulnerabilitätskontext typische Risikokonstellationen vorzustellen und zu analysieren. Dabei werde ich vor allem die prozessualen Aspekte im Umgang mit dem Geheimnis betonen und deren Einbettung in bestimmte Beziehungsstrukturen und Lebenssituationen aufzeigen. Grundsätzlich gibt es zwei Wege, wie geheime Informationen nach aussen dringen können: über Hinweise oder über verbale Kommunikation. Das heisst, Geheimnisse werden unabsichtlich oder absichtlich verraten, sei es durch den Geheimhaltenden selbst, sei es durch Mitwisser oder durch Zufälle (Spitznagel 1998: 24). Mich an dieser Struktur orientierend, gliedert sich dieser dritte Teil der Arbeit in fünf Kapitel. Ich beginne mit den Besonderheiten, die ein HIV-Geheimnis im Kontext von antiretroviralen Therapien auszeichnen und den Dilemmata, die es aufwerfen kann. Daran anschliessend werde ich drei typische Risikokonstellationen vorstellen: zum einen das Risiko, durch Zufälle oder versehentliche Hinweise entdeckt zu werden, dann das Risiko, sich selbst zu verraten und als drittes das Risiko, von anderen verraten zu werden. Das Phänomen, das im Zentrum der neuen und veränderten sozialen Vulnerabilität steht, der gute Name, sowie dessen Kriterien und Erosionsprozesse bilden das Thema des fünften und letzten Kapitels dieses Teils.

10. Das Geheimnis

Angesichts der Übertragbarkeit des Virus ist Geheimhaltung respektive Offenlegung der Diagnose ein von vielen Seiten stark reglementierter Bereich. An erster Stelle sind gesundheitspolitische Vorgaben zu nennen, die hauptsächlich darauf abzielen, die Verbreitung der Krankheit einzudämmen und die deshalb für einen offeneren Umgang mit dem Geheimnis plädieren. Seit einigen Jahren sorgen auch entsprechende Gesetzestexte dafür, dass sich HIV-positive Personen ihren Sexualpartnern offenbaren (für Mali: Présidence de la République 2006). Falls diese Mitteilung nicht erfolgen sollte, ist das Gesundheitspersonal dazu aufgerufen, Anzeige zu erstatten – ein Auftrag, der allerdings für die meisten Ärzte im Widerspruch zu ihrer Geheimhaltungspflicht steht. Der Umgang mit dem Geheimnis im Kontext von HIV/AIDS in Afrika ist mittlerweile auch in der Fachliteratur gut dokumentiert (u.a. Skogmar et al. 2006; Simbayi et al. 2007; Loubiere et al. 2009). Allerdings konzentrieren sich diese aus Sicht von Public Health geschriebenen Studien vornehmlich auf Mitteilungsmuster und Mitteilungsmotivationen und zeichnen sich grösstenteils durch eine statische Perspektive aus. Ich möchte hier eine etwas andere Sichtweise einnehmen und vielmehr aufzeigen, dass für HIV-positive Personen sowohl Geheimhaltung wie auch Mitteilung weit reichende Risiken beinhalten, für deren Verständnis eine dynamische Perspektive von Vorteil ist. Das heisst: Sie haben neben juristischen, epidemiologischen und gesundheitspolitischen Vorgaben vor allem soziale Gegebenheiten und damit verbunden ihre eigenen Projekte zu berücksichtigen. Zudem präsentieren sich für die betreffenden Personen nicht nur die Risiken selbst, sondern auch deren Ausmass in völlig unterschiedlicher Art und Weise, wobei, wie ich zeigen werde, nicht nur geschlechtsspezifische, sondern auch ökonomische und lebenszyklische Aspekte eine zentrale Rolle spielen.

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10.1 M IT DEM G EHEIMNIS LEBEN Menschen mit einem Geheimnis gelten gemeinhin als interessant; ist das Geheimnis preisgegeben, verflüchtigt sich diese unergründliche Aura und zurück bleibt der Eindruck von Langeweile und Farblosigkeit. Im Falle von HIV geht es jedoch weniger darum, ein Geheimnis um der eigenen Ausstrahlung willen zu bewahren, sondern vielmehr die mit seiner Aufdeckung verbundenen, meist sozial gravierenden Folgen zu verhindern. Dennoch: Geheimnisse verwandeln Menschen in dramatische Personen, die mit einem inneren Konflikt leben müssen (Batson 2007): zwischen dem Drang, es zu enthüllen, und dem Willen, es zu verbergen. Dies ist eine Grundspannung, die jedes Geheimnis charakterisiert und die in emotionaler wie reflexiver Hinsicht an HIV-positive Personen speziell hohe Anforderungen stellt. Der erste, der sich aus soziologischer Perspektive mit der Thematik »Geheimnis« befasst, ist Georg Simmel (1992). Er vertritt eine äusserst positive Sicht auf die Leistungen von Geheimnissen, interessiert sich aber vornehmlich für deren strukturelle und formale Aspekte – als eine soziologische Form, die wertneutral über den jeweiligen Inhalten steht (ebd: 407). Grundlegend in Simmels Überlegungen ist, dass Geheimnisse eine individualisierende Wirkung besitzen und somit für die Autonomie eines Individuums bedeutsam sind. Ohne die Möglichkeit, gewisse Informationen vor anderen verbergen zu können, wären menschliche Verhältnisse zum Scheitern verurteilt. Insofern wirken Geheimnisse in besonderer Art und Weise beziehungserhaltend. Und in diesem Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Simmel das Geheimnis als eine »der grössten Errungenschaften der Menschheit« preist (ebd: 406). Geheimnisse versprechen demnach eine Erweiterung des Lebens, indem sie die »Möglichkeit einer zweiten Welt neben der offenbaren« (ebd: 406) erlauben – einer Welt, welche die andere, die reale Welt auf das stärkste beeinflusst. Allerdings wird an diesem Punkt auch die Frage nach dem Inhalt des Geheimnisses relevant und macht eine Differenzierung hinsichtlich dessen Wirkung notwendig. Denn in vielen Fällen entscheidet allein der Inhalt darüber, in welchem Ausmass und in welchen Bereichen das Geheimnis ins reale Leben eingreift und inwieweit es sich dort als positiv beziehungsweise als beziehungsfördernd erweist. Nicht jedes Geheimnis birgt zwangsläufig auch Informationen, die für andere von Interesse sein könnten.1 Doch je stärker diese Informationen mit den herrschenden Normen kollidieren, umso sensationeller ist ihre Enthüllung und 1 | In einigen Definitionen von Geheimnis spielt die Reaktion der Anderen auf die verborgene Information eine entscheidende Rolle. So definieren zum Beispiel Warren und Laslett ein Geheimnis als ein Verbergen von Informationen, welche von denjenigen Personen, die es nicht wissen dürfen, negativ bewertet werden (Warren und Laslett 1980 in Spitznagel 1998: 27).

T EIL 3: S OZIALE V ULNERABILITÄT

umso mehr Aufmerksamkeit vermag diese Enthüllung auf sich zu ziehen. In Mali besitzt das HIV-Geheimnis aussergewöhnliche Brisanz und rangiert dementsprechend auf den Stufen der Geheimhaltung ganz weit oben. Nicht ohne Grund bezeichnet Mariam ihr Geheimnis als eine bombe sociale, deren Sprengkraft soziale Bindungen zerstören kann. Vorstellungen darüber, »was wäre, wenn andere es wüssten«, bilden ein wiederkehrendes Motiv in den Erzählungen HIV-positiver Personen. Es sind Schilderungen, die oft weniger mit realistischen Einschätzungen zu tun haben als vielmehr darauf hinweisen, mit welch grossen Ängsten und Unsicherheiten dieses Geheimnis belastet ist. Einmal gelüftet, so wird gemutmasst, verbreite es sich so schnell, dass innerhalb weniger Stunden alle bedeutenden Personen informiert seien. Zudem bleibe der Makel von HIV über den eigenen Tod hinaus haften; selbst drei Generationen später verfolge er die Angehörigen und beschmutze das Ansehen der ganzen Familie (w, 23 Jahre, 13.7.04). Mit anderen Worten: die Folgen einer Enthüllung erscheinen zeitlich, räumlich und sozial nahezu unbegrenzt und als entsprechend riskant wird eine Offenlegung eingestuft.2

10.2 M IT TEILUNGSSZENARIEN Ideal wäre es, sagen HIV-positive Personen, wenn ihre Diagnose einzig zwischen ihnen und ihrem Arzt unter dem Siegel medizinischer Verschwiegenheit bewahrt bleiben könnte. Denn sobald sich der Kreis der Mitwissenden erweitere, steige auch das Risiko der Enthüllung, getreu dem Motto: »Weiss es einer, wissen es alle.« Doch im Unterschied zu den meisten anderen Geheimnissen ist es bei HIV nur schwer möglich, das Wissen hermetisch zu verschliessen. Allein schon die Tatsache, dass der Virus übertragbar ist, sorgt dafür, dass sich das Geheimnis Wege der Verbreitung bahnt respektive auch Vorgaben existieren, die zur Mitteilung verpflichten. Wie bereits erwähnt, wird von gesundheitspolitischer wie neuerdings auch von juristischer Seite verlangt, die jeweiligen Sexualpartner einzuweihen.3 Auch die Ärzte von CESAC 2 | Im Gegensatz zu diesen Einschätzungen wird in einigen Beiträgen aus gesundheitspolitischer Richtung darauf verwiesen, dass die tatsächlichen Reaktionen auf eine disclosure in vielen Fällen sehr viel positiver ausfallen als vorher befürchtet (siehe dazu Maman et al. 2003; Medley et al. 2004). 3 | Seit 2007 ist in Mali ein Gesetz in Kraft, das hauptsächlich darauf abzielt, die Rechte von HIV-positiven Personen zu schützen. Andererseits enthält es auch Artikel, welche Mitteilungspflichten benennen. So erklärt Artikel 27: »Toute personne vivant avec le VIH est tenue d’annoncer son statut sérologique au VIH à son conjoint ou partenaire sexuelle plus tôt possible. Ce délai ne peut excéder six semaines révolues à compter de la date où elle a eu connaissance de son statut sérologique au VIH. (…) Au cas où la per-

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fordern ihre Patienten auf, mindestens eine Person aus dem näheren Umfeld zu informieren, damit diese im Falle einer Erkrankung weiss, an welche Klinik sie sich wenden kann.4 Aber gerade weil eine Eröffnung mit so dramatischen wie traumatischen Vorstellungen befrachtet ist, existieren auch triftige Gründe, das Geheimnis mit niemandem zu teilen. An erster Stelle stehen dabei Befürchtungen, verraten oder verlassen zu werden, wobei das Letztere eher von Frauen als von Männern formuliert wird. Doch abgesehen von allen Gründen, die gegen eine Eröffnung sprechen, stellt sich auch die Frage, wem eine solche Information überhaupt anvertraut werden könnte. Eltern wären zwar von ihrer sozialen Position her die verlässlichsten Mitwisser: Ihr Interesse, die Information diskret zu behandeln, sollte genauso stark sein wie das der infizierten Person selbst. Doch auch hier existieren oft gute Argumente, die gegen eine Offenlegung sprechen. In vielen Fällen verhindert der Respekt eine offene Aussprache zwischen Eltern und Kindern. Denn mit den Eltern sexuelle Themen zu besprechen, wozu eine HIV-Infektion aufgrund der allgemeinen Wahrnehmung zählt, ist in vielen Familien tabuisiert. Genauso wie das Inzestverbot sexuelle Handlungen zwischen Eltern und Kindern verbietet, verhindert dessen Erweiterung auf der verbalen Ebene auch Gespräche darüber (Keita 1997: 22). Ausserdem erachten HIV-positive Kinder die physische wie auch die psychische Stabilität ihrer Eltern häufig als zu fragil, um ihnen eine solche Mitteilung zumuten zu können: Ma mère n’est pas au courant. Je n’ai pas tenu à l’informer, parce que ma sœur aînée m’a dit de ne pas le faire, sinon je risquerais de la tuer. Elle est tellement sensible que si elle l’apprend, ça va beaucoup lui faire du mal. [...] Je ne vois plus la souffrance qui pèse sur moi, mais celle qu’elle va faire à cause de moi. Je me suis alors dit que si jamais

sonne dont le statut sérologique vient d’être connu ne se soumet pas volontairement à l’obligation d’annonce prévue à l’alinéa premier du présent article dans le délai imparti, le médecin ou tout autre personnel paramédical qualifié de l’établissement de santé, après en avoir informé, peut faire l’annonce au conjoint ou au partenaire sexuel, sans violer les dispositions relatives à la confidentialité, prévues par les lois en vigueur.« (Présidence de la République 2006) 4 | Das Personal von CESAC ist über die neue Gesetzgebung im Bilde, dennoch können sich die Ärzte, mit denen ich gesprochen habe, mit der ihnen zugeteilten Aufgabe nur schwer anfreunden: »On cite des paragraphes pour faire comprendre au malade qu’il a un devoir. Nous, notre sensibilisation se limite a ça, mais pour dénoncer des gens, on ne se met pas dans cette logique. C’est pas à moi de gérer ou d’anticiper la vie future d’un patient. Je ne suis pas de la police, je ne suis pas de service des mœurs, je suis avant tout médecin. Je suis obligé d’appliquer ce vieux principe de la médecine qui est entre autres garder la confidentialité.« (7.2. 2008)

T EIL 3: S OZIALE V ULNERABILITÄT je leur parle de ma maladie, elle ne va plus dormir ni manger. Elle va se faire des soucis plus que moi-même. C’est pourquoi, je n’ai pas pu leur dire. (w, 28 Jahre, 14.7.2004)

Geschwister, wie hier zum Beispiel die ältere Schwester, sind bevorzugte Vertrauenspersonen. Von ihnen wird angenommen, dass sie, genau wie die Eltern, ein vitales Interesse daran haben, das Ansehen der Familie und infolgedessen auch das Geheimnis zu wahren. Freunde hingegen scheiden als potentielle Mitwissende fast immer aus. Die Bindung mit ihnen gilt als zu locker und zu grossen Veränderungen unterworfen, als dass man sich auf lange Sicht auf sie verlassen könnte. Gegenüber denjenigen Personen jedoch, die nach epidemiologischen Kriterien als erste aufgeklärt werden sollten, sind die Vorbehalte häufig am stärksten. Zwei in dieser Hinsicht typische Risikokonstellationen – die Situation einer unverheirateten Frau und diejenige eines verheirateten Mannes – sollen hier vorgestellt werden.

Eine unverheiratete Frau: Kadiatou Frauen können nur verheiratet eine von der Gesellschaft anerkannte Position einnehmen. Dazu kommt, wie bereits erwähnt, dass junge Frauen die Zeitspanne bis zu ihrer Eheschliessung nicht beliebig ausdehnen können. Ebenso sollten sich Witwen oder geschiedene Frauen innerhalb einer Frist von ungefähr fünf Jahren wieder verheiraten. Eine Mitteilung könnte jedoch alle in dieser Richtung unternommenen Schritte gefährden, da eine Verlobung nur geringe soziale Verbindlichkeit besitzt und sie jederzeit aufgrund von solch schwerwiegenden Sachverhalten problemlos zu lösen ist. Insofern stellt sich für eine HIVpositive Frau die entscheidende Frage, ob und wie sie ihren Anwärter informieren soll, ohne dabei zu riskieren, dass er die Beziehung beendet und ausserdem das Geheimnis weiter verbreitet. Denn dadurch wären auch alle Chancen auf eine andere Verbindung ruiniert. Eine Alternative ist nur Schweigen und das bedeutet konkret, die Ehe von Anfang an mit Heimlichkeiten belasten. Allerdings – und das ist das grosse Risiko – wäre der Eklat, falls es jemals ans Licht kommen sollte, enorm und die Frau könnte den Beschuldigungen, in voller Absicht so gehandelt zu haben, nichts entgegen setzen. Kadiatou ist ausgebildete Sekretärin. Sie hat mit 21 Jahren geheiratet und eine Tochter aus dieser Ehe. Aufgrund von sich wiederholenden Auseinandersetzungen trennt sie sich von ihrem Mann und geht eine Liebschaft mit einem anderen ein, der jedoch nach kurzer Zeit an AIDS stirbt.5 Danach kehrt Kadiatou in ihr Elternhaus zurück und beschliesst, da sie jetzt auf die finanzielle Unterstützung ihres Vaters angewiesen ist, ihn zu informieren. Er zeigt sich 5 | Von dieser Liebschaft, die für sie, weil es sich um eine aussereheliche Beziehung handelt, mit Scham beladen ist, spricht Kadiatou erst bei unserem zweiten Treffen. In ihrer ersten Version erzählt sie, dass sie von ihrem Ehemann infiziert wurde.

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willens, die hohen Kosten für die antiretroviralen Therapien zu übernehmen, besteht allerdings darauf, dass sie mit niemandem über ihre Krankheit spricht, denn – so Kadiatou: »Il est une grande personnalité et est très respecté de tout le monde. C’est lui qui prend son village en charge dans toutes les dépenses. Il ne veut pas que les gens sachent que sa fille a le sida, sinon ça peut influencer sur son nom et il sera rabaissé dans le quartier, dans la société« (24.1.2007). Diesem Wunsch ist Kadiatou bis jetzt nachgekommen, doch seit anderthalb Jahren hat sie einen Freund, der bereits verheiratet ist und sie als zweite Frau zu sich nehmen möchte. Sie selbst wäre sofort dazu bereit – »je suis pressée, mon âge est avancé« –, wenn die Krankheit nicht wäre: La seule difficulté que j’ai aujourd’hui, c’est mon problème de mariage. Maintenant je suis en forme, je travaille et je ne sors jamais en ville sans que quelqu’un me dise qu’il m’aime. Dès fois quand je me couche, je n’arrive pas à dormir à cause de ce problème. Mon copain actuel est gardien de prison, on a parlé du mariage et je l’aime aussi. Mais j’arrive pas à l’informer de mon statut. Il veut aussi qu’on fasse le rapport sexuel sans préservatif. C’est ce qui me tracasse aujourd’hui. Si c’est pas la maladie, ça trouve qu’on avait déjà fait le mariage. [...] Je veux qu’il me marie, mais je peux pas l’informer de mon statut. J’ai peur que si je lui informe qu’il me laisse tomber et qu’il aille informer mes collègues sur mon statut. [...] J’ai décidé de rester comme ça avec lui jusqu’au jour où il va lui-même découvrir mon statut. Souvent je pense à ça en me disant qu’il sera infecté – sinon je peux pas lui dire. Je l’ai chassé à plusieurs reprises, mais il revient toujours. Je veux me marier c’est pourquoi j’ai dit au Docteur S. de me chercher quelqu’un qui est positif et bien portant et qui acceptera que je mène mes activités. Comme ça je vais dire au gendarme d’arrêter avec moi et je vais me marier avec un autre. (29 Jahre, 24.1.2007)

Auch ein Jahr später hat Kadiatou noch keinen Weg gefunden, mit ihrem Freund zu sprechen. Ihre Vorstellungen hingegen, wie eine für sie ideale Lösung aussehen könnte, haben sich verändert: Pour le moment nous sommes ensemble. Je suis bloquée, je ne sais pas comment gérer. Mon souhait est qu’il fasse lui-même son test et qu’il soit positif, qu’il vient me dire qu’il est infecté et que je profite de ça pour lui dire que même s’il est infecté, je l’aime pour le mariage et qu’on fasse le mariage sans que je l’informe de mon statut. Plus tard je lui dirai que j’ai été fait mon test et que je suis positif – comme si c’est lui qui m’a contaminé. (30 Jahre, 4.12.2007)

In ihren neuen Überlegungen liegt der entscheidende Unterschied vor allem darin, dass Kadiatou von Schuld befreit wäre. Denn nach einem positiven Test ihres Freundes könnte nicht mehr eruiert werden, wer nun wen angesteckt hat. Und gemäss der üblichen Interpretation wird derjenige als schuldig gesehen,

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bei dem die Krankheit zuerst festgestellt wurde. Und dies wäre in Kadiatous Fall ihr Freund, da sie selbst über ihre Diagnose zu schweigen gedenkt. Die Schuldfrage hat innerhalb fast jeder Beziehung eine ausschlaggebende Bedeutung und wirkt sich, wie ich später noch ausführlich zeigen werde, wesentlich auf die Verhandlungsräume von Frauen aus. Insofern wäre, nur vom sozialen Gesichtspunkt aus betrachtet, eine Infektion ihres Freundes der beste Ausweg für Kadiatou und für sie in dreifacher Hinsicht vorteilhaft. Nicht nur würde sie als Opfer seiner Infektion gelten, sondern sie könnte auch absolut sicher sein, dass er die Diagnose geheim halten wird. Ferner, und dies wäre vor allem gegenüber ihrer zukünftigen Mitfrau von Bedeutung, hätte sie sich durch den ausserordentlichen Liebesbeweis, ihren Freund trotz seiner Infektion zu heiraten, eine besondere Position erworben.

Ein verheirateter Mann: Adama Ein verheirateter Mann muss, solange er seine Pflichten als Chef de famille erfüllt, kaum damit rechnen, von seiner Frau verlassen zu werden. Dennoch kann sich die Mitteilung seiner Diagnose als äusserst problematisch erweisen. Aus männlicher Sicht besteht das Risiko hauptsächlich in der mangelnden Selbstbeherrschung von Frauen. In der Geschlechterkonstruktion der Mandé stellt die Fähigkeit, Geheimnisse zu wahren, einen entscheidenden Unterschied zwischen Männern und Frauen dar; Frauen, vor allem jüngere, gelten für Männer grundsätzlich nicht als zuverlässige Geheimnisträgerinnen (siehe dazu GroszNgaté 1989: 174; Brand 2004: 20f). Sie stehen im Ruf emotional zu reagieren und über wenig Selbstbeherrschung zu verfügen; darum sind sie landläufig als notorische »Verräterinnen« gefürchtet. Erstaunlicherweise wird diese Zuschreibung teilweise auch von Frauen übernommen: Je pense que les hommes peuvent mieux gérer l’information que les femmes. Un homme peut garder le secret. Un homme et une femme n’ont pas le même caractère, ça c’est naturel. [...] Une femme, tout ce qui l’arrive, elle ne peut pas le garder, il faut qu’elle manifeste. Mais l’homme peut se maîtriser. (w, 36 Jahre, 23.11.2007)

Adama ist Agronom, arbeitet erfolgreich bei vielen NGOs als Konsulent und weiss seit elf Jahren, dass er HIV-positiv ist. Bis jetzt ist seine Frau, mit der er seit 14 Jahren verheiratet ist und zwei Kinder hat, nicht informiert, obwohl er sich stets neue Szenarien ausdenkt, wie er sie schonungsvoll einweihen könnte. Die Ungewissheit, ob sie und seine beiden Kinder ebenfalls infiziert sind, belastet ihn sehr, doch er kann es sich beruflich nicht leisten, dass irgendwelche Gerüchte über seine Diagnose publik werden. Auch für unsere Gespräche wählt Adama ganz spezielle, meines Erachtens eher kuriose Lokalitäten aus und will sich lieber nicht bei CESAC unterhalten, wo wir uns auch kennengelernt haben. So treffen wir uns unter anderem in einem winzig kleinen Abstellraum

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der Schule, in der er Weiterbildungskurse besucht. Hier entdeckt zu werden – wir beide eingezwängt in die Enge des Raums, schwitzend, flüsternd und mit einem Kassettengerät auf den Knien – ist eine verfängliche Situation, meine ich. Doch er ist sicher, dass wir hier ungestört bleiben – und behält recht. Adama berät sich schon seit geraumer Zeit mit seinem Arzt, wie er es schaffen könnte, sich endlich seiner Frau anzuvertrauen; gemeinsam gehen sie mehrere Möglichkeiten durch, die sich aber nie wie vorgesehen realisieren lassen. Doch je länger er sein Schweigen aufrecht hält, umso höher erscheint ihm auch die Hürde, die er zu überwinden hätte: Ma femme n’est pas au courant de mon statut. Je suis en train de gérer ça très, très délicat. S’il y a aujourd’hui quelque chose qui me tracasse, c’est ça. C’est un problème récurant chez moi. Chaque jour … il ne se passe pas deux ou trois jours sans ce problème ne réagisse. Mais je sais que ça va péter. J’ai toujours eu des arguments pour dire qu’il n’est pas encore temps. Je suis en train de le gérer comme ça. [...] Le problème est là et souvent c’est une fuite de responsabilité et souvent c’est un manque de courage et un manque d’alternative de solution. Je sais, elle va très, très mal réagir. [...] Les hommes ne peuvent pas communiquer avec les femmes, parce que si les femmes ont l’information, ça les amène à s’épanouir, voir mieux la chose. Quand on partage l’information avec la femme, il y a palabre, on risque ça position – c’est ça. Chaque jour je vois le pour et le contre: quand je vais dire ça? Quel garde-fou? Quelle solution il y a? Je sais que tout le monde va être informé dans sa famille, elle ne peut pas garder le secret, elle le fait sans penser parce qu’elle, si elle a un problème, elle s’effondre. Vous savez – le contrôle … elle peut aller à un niveau qu’elle-même va regretter après la mesure. S’il y a une tension, elle va s’oublier et elle va le dire, avant qu’elle ne réalise les conséquences, avant qu’elle ne soit sensible à la honte. Imagine-toi qu’elle soit dans une situation comme ça: d’abord c’est un scandale en famille, les parents vont venir pour savoir ce qui se passe. C’est un témoignage d’affection ici en Afrique, parce que s’il y a un scandale chez toi et que personne ne vienne c’est qu’on ne veut pas t’aider. Quand il y a un problème, les gens viennent et s’ils viennent, il faut leurs expliquer. [...] J’ai mis tout ça ensemble. Je pense à un scénario où elle va aller chez elle, dans sa propre famille, que je trouve un alibi pour le séjour. Je la dépose et je lui dis que je viens la chercher dans trois jours et j’envoie un ami, mon médecin, pour la sensibiliser. Le premier jour, il va causer avec elle en lui parlant un peu de la maladie. Le deuxième jour, il l’amène au CESAC, c’est un dimanche, il en y a personne, pour lui montrer les choses. Elle va s’effondrer et mon ami va lui sensibiliser en lui disant qu’il y a des remèdes, ce n’est pas grave. Le troisième jour, il va l’informer de mon statut et le quatrième jour, je viens la chercher. (m, 46 Jahre, 19.3.2007)

Als wir uns ein Jahr später wieder treffen, hat sich seine Situation wesentlich entspannt. Adamas Frau hat auf eigene Faust einen HIV-Test gemacht, ihn aber

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nicht über das Ergebnis in Kenntnis gesetzt. Danach fragen wollte er nicht, hauptsächlich aus der Befürchtung heraus, dass sie dann auch einen Test von ihm verlangen könnte. Über Umwege und Beziehungen zum Gesundheitspersonal des betreffenden Testzentrums erfährt er schliesslich, dass sie negativ ist. Damit ist Adama zwar von seiner grössten Sorge erlöst, sie angesteckt zu haben. Dennoch kann die Nachricht ihn nicht davon befreien, mit ihr über seine eigene Diagnose zu sprechen. Die Tatsache, dass er in diesem Falle als schuldig dastehen würde, kümmert ihn wenig. Innerhalb der Familie ist seine Autorität kaum angreifbar, da er seine Frau und Kinder gut versorgt. Die Folgen allerdings, die ein »Skandal« für seinen Namen und seine berufliche Laufbahn haben könnte, wären nicht wieder gut zu machen. Adamas Beispiel verweist auf ein weiteres, wichtiges Charakteristikum des HIV-Geheimnisses: auf seine zeitliche Dimension. Im Gegensatz zu anderen Geheimnissen, deren Inhalt nach einer gewisser Zeit bedeutungslos wird, bewahrt die HIV-Information ihre Brisanz. Einige Gesprächspartner waren deshalb zu Beginn ihrer Krankheit absolut entschlossen, ihr Geheimnis niemals zu enthüllen: Je n’en parlerais jamais à personne. C’est un secret et je ne pense pas qu’il soit aussi lourd pour moi de le garder. D’autant plus que je sais moi-même que sa diffusion en large est préjudiciable pour mon nom (tògò). Le mieux pour moi, c’est de bien garder ce secret. (m, 22 Jahre, 6.2.2004)

Sicher ist, dass das Geheimnis je nach Lebenslage und persönlichen Verhältnissen andere Dimensionen annimmt. Doch bei fast allen meinen Gesprächspartnerinnen erzeugte es mit der Zeit bedrängende Dilemmata – zwischen moralischen Verpflichtungen, medizinischen Vorgaben und sozialen Risiken. Die beiden Beispiele, die ich hier vorgestellt habe, unterscheiden sich nicht so sehr im Umgang mit dem Geheimnis als durch die unterschiedlichen, oft geschlechtsspezifischen Interessen, die sich mit der Geheimhaltung verbinden. Der Zwang zu heiraten besteht zwar gleichermassen für Männer und Frauen, doch ist für Frauen der zeitliche Druck wesentlich höher. Insofern möchte Kadiatou ihre soziale Situation durch eine Heirat verändern, für Adama hingegen geht es in erster Linie darum, seine soziale Situation beizubehalten. Zwar kennt er das Gebot – furugundo, Ehegeheimnis genannt –, das einer Frau Stillschweigen über die Unzulänglichkeiten des Familienchefs vorschreibt. Er weiss aber auch, dass die internen Konflikte diese Pflicht durchaus zu relativieren vermögen. Ihnen gemeinsam ist jedoch: Beide, Kadiatou wie auch Adama, sind in ihren Entscheidungen blockiert. Durch ihre Erzählungen wird deutlich, in welch hohem Masse das Geheimnis sowohl Beziehungen wie auch das eigene Wohlbefinden belastet. Andererseits zeigen ihre Beispiele auch, dass soziale Risiken in der persönlichen Einschätzung eine weitaus grössere Rolle spielen

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als das biologische Risiko der Übertragung – eine Gewichtung, die im weiteren Verlauf der Arbeit noch an mehreren Stellen offenkundig wird. Sie weist daraufhin, dass sich die Komplexität rund um Mitteilungen schwerlich über gesetzliche oder gesundheitspolitische Vorschriften regeln lässt.

11. Die Risiken der Zufälle und Hinweise

Alle meine Gesprächspartner gehören zur ersten Generation, die antiretrovirale Therapien erhalten hat. Die meisten von ihnen durchlebten vor Beginn der Therapie schwere Krankheitsphasen. Während dieser Zeit sind in ihrem Umfeld Gerüchte hinsichtlich AIDS entstanden und dementsprechend hatten auch viele von ihnen unter Ausgrenzungen zu leiden. Aufgrund der neuen Therapien und der damit verbundenen gesundheitlichen Erholung relativieren sich zwar die ehemaligen Verdächtigungen, dennoch sind diese Gerüchte nie vollends vergessen und erzeugen für die Betroffenen eine spezifische Form sozialer Vulnerabilität: Ihr Geheimnis ist wesentlich ungeschützter, und sie selbst befinden sich in einer sehr viel angreifbareren und risikoreicheren Situation als Personen, die schon zu einem früheren Zeitpunkt, bevor Krankheiten sich entwickeln konnten, die Therapien erhalten haben.6

11.1 D IE ERSTE G ENERATION MIT ANTIRETROVIRALEN THER APIEN Typisch für die erste Generation von HIV/AIDS-infizierten Personen, die antiretrovirale Therapien erhalten, ist der doppelte Beweisdruck: Sie müssen sowohl bereits bestehende Verdächtigungen entkräften wie auch neue zu verhindern wissen. Spätere Generationen hingegen, die nie manifeste Krankheiten entwickelt haben, können davon ausgehen, dass wenig Zweifel an ihrem Gesundheitszustand bestehen. Sie befinden sich demzufolge in einer sozial wesentlich stabileren Position. Das Beispiel von Amy jedoch macht deutlich, wie lange die

6 | Die nationalen Bestimmungen für den Zugang zu antiretrovirale Therapien haben sich in den letzten Jahren entscheidend gewandelt. Die ersten Patientinnen haben die neuen Behandlungen erst erhalten, wenn die Anzahl ihrer CD4-Zellen, die für die Funktionsfähigkeit des Immunsystems zuständig sind, unter 200 lag. Seit 2004 jedoch werden die Medikamente bereits bei einem Stand von 350 abgegeben – das heisst, meist bevor es zum Ausbruch der offensichtlichen, mit AIDS assoziierten Krankheiten kommt.

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Skepsis von Seiten ihrer Freunde anhält und wie sehr diese ihre Beziehungen heute bestimmt.

Verdachtsmomente bleiben: Amy Amy ist 37 Jahre alt und hat, da sie als Animatorin in einem Entwicklungsprojekt tätig war, buchstäblich in letzter Minute die neuen Therapien erhalten. Niemand in ihrem Umfeld glaubte mehr daran, dass sie sich jemals wieder von den seit Monaten andauernden Krankheiten erholen könnte. Während dieser Zeit zog sich ihr Freundeskreis nach und nach zurück. Zuerst fiel Amy nur auf, dass in der Teerunde die anderen das von ihr benutzte Glas beiseite stellten und ein neues unter sich kreisen liessen. Später kamen dann als freundliche Anteilnahme deklarierte Fragen zu ihren Krankheiten dazu und schliesslich auch ganz offene Bemerkungen über AIDS. Diese Hinweise verstand Amy und hielt sich nun von den Teerunden fern. Auch wenn sie heute mit denselben Leuten wieder zusammen sitzt und mit ihnen den Tee teilt, die Vertrautheit von früher hat sich nicht mehr eingestellt: Il y a eu un changement dans mon entourage vis-à-vis de moi (depuis le commencement avec la thérapie, N.S.). Quelques-uns disent: Amy était très malade et maigre, mais elle a beaucoup changé aujourd’hui. Elle a une bonne mine. Ils me disent: Amy, tu es sur quoi présentement? Tu as grossi et tu as bonne mine comme une personne qui baigne dans le bonheur. Parles-nous de ton secret! Ils disent ceci en termes de plaisanterie, mais en réalité ils sont sérieux. (26.1.2005)

Amy merkt sehr wohl, dass die wiederaufgenommenen Kontakte auf wackeligen Füssen stehen – eine gewisse Skepsis ihrer Freundinnen und Freunde ist geblieben, sicher auch weil ihnen die Wirkung von antiretroviralen Therapien und die Unterscheidung zwischen HIV und AIDS unbekannt sind. Es gibt zwar keinen triftigen Grund mehr, sich von ihr zu distanzieren, doch die Vorbehalte nimmt Amy wohl wahr: Es kann sich zwar niemand erlauben, sie direkt auf ihre vergangenen Krankheiten anzusprechen, doch den Fragen ihrer Freunde, heute als Scherze getarnt, sind von gefährlicher Ernsthaftigkeit. Insofern liegt es bei Amy, ob und wie sie auf diese Doppeldeutigkeiten reagiert. Im Rahmen seiner Stigmatheorie unterscheidet Goffman zwei grundlegend unterschiedliche Situationen. Entweder, so schreibt er, muss die betreffende Person annehmen, dass man über ihr Anderssein Bescheid weiss, weil es zum Beispiel unmittelbar evident ist oder sie geht davon aus, dass keine Hinweise existieren und sie es weiterhin geheim halten kann (Goffman 1975: 12). Im ersten Fall handelt es sich um die Situation von diskreditierten, im zweiten um diejenige von diskreditierbaren Personen. Amy jedoch kann weder zur ersten noch zur zweiten Gruppe gezählt werden; charakteristisch für ihre Situation ist vielmehr, dass sich ihre Diskreditierbarkeit durch ein besonders hohes Mass an

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Unsicherheit und damit auch an Verletzbarkeit auszeichnet. Jeder noch so kleine Hinweis könnte genügen, um sie wieder in die Position einer Diskreditierten zu versetzen. Diese exponierte Situation, in der Diskreditierbarkeit und Diskreditiertheit nicht nur nah beieinander liegen, sondern fliessend ineinander übergehen, ist bezeichnend für die erste Generation der Patienten mit antiretroviralen Therapien. Damit verweist Amys spezifische Lage auf die Grenzen von Stigmatheorien, welche diese ambivalente Situation zumeist vernachlässigen. Sie unterscheiden in erster Linie zwischen der Sichtbarkeit respektive der Unsichtbarkeit des Stigmas, berücksichtigen dabei jedoch nicht die Dynamik von Krankheitsprozessen. Selbst in die Darlegungen von Alonzo und Reynolds (1995), die sich zwar explizit der zeitlichen Dimension von Stigma, den stigma trajectories, widmen, lässt sich die spezifische Situation von Amy nicht einordnen. Sehr treffend gehen die beiden Autoren davon aus, dass die Formen wie auch das Erleben von Stigma wesentlich von den unterschiedlichen Krankheitsstadien beeinflusst sind und entwickeln dementsprechend eine Typologie, welche die vier für den Krankheitsverlauf charakteristischen Phasen von Stigma (gefährdet, diagnostiziert, latent, manifest) reflektiert. Da aber zum Zeitpunkt ihrer Publikation antiretrovirale Medikamente noch nicht erhältlich waren, ist diese neue Phase nicht berücksichtigt. Nun könnte man zu bedenken geben, dass Stigmaerfahrungen von antiretroviral Therapierten denjenigen von HIV-positiven Personen ohne offensichtliche Symptome entsprechen. Dies trifft nur teilweise zu – am ehesten noch für diejenigen Personen, die vor der Therapie keine mit AIDS assoziierten Krankheiten durchgemacht haben. Doch eigentlich typisch für die erste Generation mit antiretroviralen Therapien ist, dass selbst wenn keine Symptome mehr vorhanden sind, die damals gehegten Vermutungen in der Wahrnehmung der Anderen zumindest als Verdachtsmomente weiterhin präsent bleiben. Daher möchte ich die Typologie von Alonzo und Reynolds durch eine weitere, bislang in der Literatur nicht erwähnte fünfte Phase ergänzen, die ich als »ungewiss« bezeichne. Ungewiss deshalb, weil die neu gewonnene physische Stabilität nur bedingt in der Lage ist, alte Vermutungen vergessen zu machen und Sicherheit zu vermitteln.

11.2 D IE I NTEGR ATION DER THER APIEN IN DEN A LLTAG Neben den Befürchtungen einer »antiretroviralen Anarchie« in Afrika (siehe dazu Kapitel 2.2.) spielte in medizinischen und gesundheitspolitischen Diskussionen die Frage der Adhärenz eine grosse Rolle – inwieweit ist es afrikanischen Patienten überhaupt möglich, die komplexen Einnahmeschemata der neuen Therapien vorschriftsgemäss einzuhalten? Doch entgegen aller Bedenken belegen Evaluationen aus Westafrika, dass Patientinnen den medizinischen Aufla-

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gen ausnehmend gut entsprechen (Lanièce et al. 2002; Laurent et al. 2005). Die erstaunlichen Resultate erklären sich Nguyen et al. (2007) zum einen damit, dass der erste und noch sehr teure Zugang zu den Therapien in Westafrika innerhalb staatlicher Programme erfolgte. Eine schlechte Adhärenz indessen hätte, gemäss den Bedingungen der internationalen Sponsoren, automatisch auch die weitere Beteiligung am Programm gefährdet. Zum anderen erwähnen die Autoren die sozialen und historischen Voraussetzungen des Zugangs: Antiretrovirale Therapien wurden in dieser ersten Zeit quasi als eine Art »Belohnung« an diejenigen Personen vergeben, die bereit waren, sich öffentlich zu ihrem Status zu bekennen und dadurch aktiv am Kampf gegen AIDS mitzuwirken.7 Andere Untersuchungen erklären die bemerkenswerten Adhärenzziffern vor allem über die sozialen Bedürfnissen der Patienten: nur mit sichtbarer Gesundheit lässt sich der eigene wie auch familiale Status aufrecht halten (Ware et al. 2009; Nam et al. 2008). Dennoch bedeutet die Integration der Medikamente in den Alltag – und dies meist unter der Voraussetzung, dass die Beschaffung, Einnahme und Aufbewahrung geheim bleiben müssen – für viele Patienten eine besondere Herausforderung. Ohne hier genauer auf die medizinischen Bedingungen der Therapie eingehen zu wollen, ist es wichtig, sich ein Bild davon machen zu können, auf welche Art diese Therapien strukturierend in den Alltag eingreifen. Erstens müssen die Medikamente zweimal pro Tag zu strikt festgelegten Zeiten eingenommen werden – zwei Stunden davor und danach sollte nichts gegessen oder getrunken werden.8 Um zu gewährleisten, dass diese »chronischen Hausaufgaben« (Whyte 2009: 239, nach Gron et al. 2008) entsprechend befolgt werden, erhalten alle Neueinsteiger einen Einführungskurs bei CESAC (Club d’observance). Zweitens stellt die Beschaffung der Medikamente, die jeweils nur in monatlichen Rationen abgegeben werden, ein weiteres Risiko dar. Alle vier Wochen müssen die Patientinnen das auf AIDS spezialisierte Zentrum aufsuchen und gehen dabei das Risiko ein, gesehen zu werden. Während sich sehr wohlhabende Menschen ihre Termine ausserhalb der üblichen Sprechzeiten legen lassen oder ihren Arzt zum Beispiel in einem Hotel treffen, können Wartende bei CE-

7 | Ähnliche Bedingungen herrschten auch in Mali; mir gegenüber betonten die Programmverantwortlichen jedoch, dass der Mut, den ein öffentliches Bekenntnis erfordere, sich nicht durch Medikamente oder Bezahlung entgelten lasse und es sich somit auch nicht um eine Belohnung, sondern vielmehr um eine Unterstützung handle. Doch wie auch immer dieser Obolus nun benannt wird, in den Entscheidungen der Betroffenen mag dies kaum eine Rolle gespielt haben (siehe dazu auch Kapitel 12.2.). 8 | Die neuen antiretroviralen Therapien zeichnen sich durch ein wesentlich vereinfachtes Einnahmeschema aus, waren in Mali zum Zeitpunkt meiner Forschung jedoch noch nicht erhältlich.

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SAC nur ihr Gesicht mit einem Schal verhüllen oder sich in einen von aussen schwer einsehbaren Bereich zurückziehen.

Die Medikamente verstecken: Mariam Offensichtlich ist, dass die Therapie hohe Anforderungen an die Organisationsfähigkeit, aber auch an die Disziplin ihrer Konsumenten stellt. Je geheimer der Serostatus gehandhabt wird, umso umständlicher gestaltet sich die Einbindung der Therapie in den Alltag und desto minuziöser wollen die einzelnen Aktionen geplant sein. Mariam hat sich für ihre Medikamentierung ein komplexes Organisationssystem zurecht gelegt, um gegen alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Jeweils zum Zeitpunkt der Einnahme beginnt ihr Mobiltelefon zu klingeln. Falls andere Personen anwesend sind, gibt sie vor, eine SMS erhalten zu haben, wartet noch einige Minuten und zieht sich dann in die Toilette zurück. Bei unseren ersten Treffen, als sie noch bei ihrer Mutter wohnt, gestaltet sich die Aufbewahrung der Medikamente unproblematisch; hier hat sie ein eigenes, abschliessbares Zimmer. Später jedoch zieht sie in das Haus ihres Ehemannes und muss nun, weil er über ihren Status nicht informiert ist, eine neue Strategie entwickeln. Von diesem Zeitpunkt an bewahrt sie alle Produkte in ihrem ehemaligen Zimmer bei ihrer Mutter auf, gut im Schrank verschlossen. Zwei der drei Präparate füllt sie direkt in leere Vitaminpackungen um; beim dritten jedoch ist der Name Videx auf jeder Tablette eingraviert und damit leicht zu identifizieren. Jeweils zehn Stück davon verpackt sie in kleine Plastiktütchen und trägt sie – zusammen mit anderen Medikamenten – in ihrer Handtasche bei sich. So kann sie im Notfall immer behaupten, es handle sich dabei um Restbestände ihrer Patienten. All diese Handlungen, die eigentlichen »Nahtstellen« in der Geheimhaltung, sind gut organisiert und durchdacht, machen gleichzeitig auch deutlich, wie stark reflexive Aspekte die alltäglichen Handlungen HIV-positiver Personen prägen.

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12. Die Risiken, sich selbst zu verraten

Nur wenige Stunden später, nachdem Kadiatou ihr Testergebnis erhalten hat, vertraut sie sich ihrer besten Freundin an. Tags darauf revidiert sie die Nachricht – dies mit der Begründung, dass ihr Test verwechselt worden sei. Während der langen durchwachten Nacht hat sie sich alle Konsequenzen, die eine Enthüllung für sie hätte, bildhaft vorgestellt und sich bewusst gemacht, dass ein Geheimnis haben auch bedeutet, es zu schützen und in einem viel weiteren Sinne mit den widersprüchlichen Tendenzen zwischen Verhüllen und Enthüllen umzugehen. Goffman (1963: 45) führt aus, dass Personen, die unter einem bestimmten Stigma leiden, einen ähnlichen »moralischen Werdegang« durchlaufen, das heisst ähnliche Lernerfahrungen machen und ähnliche Veränderungen in ihrer Selbstauffassung erleben. In der ersten Phase des Sozialisationsprozesses, so schreibt Goffman, internalisiert die stigmatisierte Person die geltenden sozialen Normen. Sie lernt den Standpunkt der »Normalen« kennen und muss dann, in der zweiten Phase, feststellen, dass sie diesen Erwartungen nicht entspricht. Im Gegensatz zu stigmatisierenden Bedingungen, die von Geburt an präsent sind, liegen bei den HIV-positiven Personen, mit denen ich gesprochen habe, die beiden Phasen weit auseinander. Da sie erst spät im Leben mit ihrem moralischen Makel konfrontiert wurden, modifizieren sich hier Goffmans Darstellungen. Bevor HIV-positive Personen ihre Diagnose erhalten, haben sie sich selbst als »normal« gesehen. Jetzt indessen müssen sie lernen, die von der Seropositivität gezeichnete Identität zu akzeptieren, sie aber gleichzeitig auch vor anderen zu verbergen. Doch welche Praktiken gilt es sich anzueignen, damit das Geheimnis geschützt wird, ohne die für alltägliche Leben so wichtigen sozialen Kontakte zu gefährden?

12.1 S OZIALE D ISTANZIERUNG UND IHRE F OLGEN Ein entscheidender Wendepunkt in der »moralischen Karriere« einer Person stellt die Phase dar, wenn sie die Techniken des Täuschens (passing) erlernt (Goffman 1963: 128). Doch gerade in engeren Beziehungen, wie das Beispiel

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von Kadiatou zeigt, kann deren Anwendung besonders schwer fallen. Denn hier verbindet sich das Bedürfnis nach Verhüllung mit demjenigen nach Enthüllung. Das Risiko, sich unwillentlich zu verraten, in einem intimen Moment sein Vertrauen zu verschenken und dies später bereuen zu müssen, ist besonders hoch (siehe dazu Hahn 1997: 24). Oumar hat sich aus diesem Grunde entschieden, immer eine gewisse Distanz zu anderen zu bewahren und so sein Geheimnis zu schützen – dies allerdings mit dem Risiko, damit Verbindlichkeit seiner sozialen Kontakte zu verspielen.

Schwächung der sozialen Netze: Oumar In den verschiedenen Begegnungen, die ich mit Oumar, einem Student der Wirtschaftswissenschaften, hatte, versuchte er immer wieder, mir (und vielleicht auch sich selbst) zu erklären, wie einschneidend die Auswirkungen des Geheimnisses hinsichtlich seines Soziallebens sind. Als wir uns zum ersten Mal sprechen, liegt seine Diagnose erst ein halbes Jahr zurück und es fällt ihm sichtlich schwer, diese in ihrem vollen Umfang begreifen zu können. Hilflose Äusserungen wie: »je ne sais pas …«, »ce n’est pas du tout facile…« wiederholen sich während des gesamten Gesprächs. Oumar kommt aus bestem Hause, es wird ihm sogar eine nahe Verwandtschaft mit der Präsidentenfamilie nachgesagt. Darauf angesprochen, belässt er es allerdings beim dezenten Hinweis: »J’ai des parents qui sont très influents.« Eine positive Begleiterscheinung seiner guten Beziehungen ist, dass er bereits in einem frühen Stadium antiretrovirale Therapien erhielt, so dass man seine relativ kurze, doch schwere Krankheitsphase als heftige Form von Malaria erklären kann. Nach der Scheidung der Eltern ist Oumar mit seiner Mutter, die als einzige die Diagnose kennt und ihn bei all seinen Entscheidungen berät, zur Familie ihres neuen Mannes gezogen. In unseren Gesprächen betont er, wie gut er von seiner Familie akzeptiert ist und wie besorgt alle während seiner Erkrankung waren – aber dennoch soll niemand den wahren Befund erfahren. Deshalb bittet er mich auch, während der Aufzeichnungen unserer Gespräche seinen Namen nicht zu erwähnen; als er mir dennoch einmal rausrutscht, spule ich die Kassette zurück und lösche. Denn Oumar möchte, gemäss der Tradition seiner Familie, in die Politik einsteigen und unsere Aufnahmen könnten, so meint er, wenn sie in falsche Hände geraten, seine ganzen Ambitionen zunichte machen. Oumar ist ein sensibler, in Mali würde man vielleicht sagen: kein wirklicher Mann (cè kisè tè). Bei unserem ersten Gespräch ist seine Verzweiflung so gross, dass er nur mit Mühe die Tränen unterdrücken kann. Die Frage »Comment gérer le social?« beschäftigt oder vielmehr bedrängt ihn, und selbst im Laufe unserer vierjährigen Bekanntschaft hat er darauf keine wirklich befriedigende Antwort gefunden.

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K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI Mais si un jour je me déciderais de faire ressortir ça, de me faire découvrir par le public – qu’est-ce qui va se passer? Parce que je suis quelqu’un qui est très connu dans mon milieu, je suis un jeune, je fais part de pas mal des associations des jeunes – je peux dire je suis un peu connu, quoi. Est-ce que je fais savoir ce peuple qui me connaît le mal que je supporte sur moi – est-ce qu’ils vont l’accepter? C’est ça. Parce que le mal…. c’est un peu …. je ne sais pas comment dire…. c’est au vue … ça donne des frictions. Ce n’est pas du tout facile …. ce n’est pas du tout facile …. il faut l’accepter, c’est le destin, on ne peut rien contre ça. [...] C’est cette question que je me pose toujours, si je suis seul, ainsi à réfléchir seul: Est-ce que j’arriverais à informer l’extérieur un jour? Est-ce qu’ils vont m’accepter? Est-ce qu’ils vont partager les mêmes choses comme le grin 9, les causeries? Je ne sais pas…. je ne sais pas…. je ne sais pas … j’ai ce problème…. (26 Jahre, 30.1.2004)

Abgesehen von den Schwierigkeiten, sich an seine neue HIV-Identität zu gewöhnen, fragt sich Oumar ständig, wo bei seinen Freunden die Grenzen ihrer Akzeptanz liegen. Auch drei Jahre später kann er diese delikate Frage nicht beantworten, hat aber gelernt, eine spezielle Form der Beziehungsgestaltung zu entwickeln: Je me pose la question de savoir est ce que je peux concrétiser mes relations? Estce que je peux les consolider, les mettre en valeur pour le futur, pour l’avenir ? Et là je doute un peu, parce que je me dis que si je me fie trop à ces relations un jour, ils peuvent découvrir ma maladie. Ça freine alors les relations. Un jour tu tombes malade et la personne découvre que tu as cette maladie qui n’a pas de bonne renommée, la personne se sauve très rapidement. Même dans mon entourage, j’ai rompu avec certaines relations, des amis parce que je me suis rendu compte que ça sont des gens qui ne peuvent pas garder des secrets. Alors je garde ma distance. J’ai fait cette analyse car j’ai vu des cas dont leur amitié a été basculée, détruite parce que l’autre avait telle maladie. [...] Ce sont des situations qui font qu’on doute un peu des gens. On ne peut plus faire confiance aux gens. Il faut toujours se méfier, ne jamais dévoilé ta face, il faut garder une réserve. N.S.: Est-ce qu’on peut dire que tu mènes une sorte de double vie? Je suis obligé. La double vie, je l’ai connue depuis que j’ai cette maladie. Je donne l’impression aux autres que je n’ai rien, alors qu’intérieurement je sais de quoi je souffre. Je crois que c’est de mener une double vie. J’ai des amis avec lesquels j’ai fait beaucoup de 9 | In den sogenannten grins, den Tee- und Diskussionsrunden, treffen sich regelmässig, meist gegen Abend, Freunde, Nachbarn oder Berufskollegen, um sich über Alltäglichkeiten und Politik auszutauschen. Meist sind diese Runden geschlechtergetrennt, nur selten trifft man gemischte grins.

T EIL 3: S OZIALE V ULNERABILITÄT choses ensemble et que maintenant si je les vois faire ces mêmes choses, je suis obligé de m’écarter pour ne pas contaminer les autres. Avec mes amis, je trouve toujours une explication, même s’il faut mentir pour qu’ils sachent pas pourquoi je veux plus faire ces choses pareilles maintenant. C’est un peu fatigant de réfléchir toujours pour trouver quelque chose à les raconter et mettre les autres à l’aise, arriver à donner un regard positif des autres à toi – c’est vraiment un travail difficile. (29 Jahre, 20.11. 2006)

Während Oumar im ersten Gespräch ausschliesslich damit befasst ist, ob die anderen ihn irgendwann akzeptieren werden, stellt er sich drei Jahre später eine ganz andere Frage: Wird er jemals in der Lage sein, seine Beziehungen in Wert setzen zu können? Oumar hat in der Zwischenzeit gelernt, mit dem Geheimnis umzugehen, mehr noch: Er hat bestimmte Praktiken entwickelt, sein Geheimnis zu schützen. Diese beinhalten aber wiederum gewisse Risiken. Zum einen erwähnt er, fast in Form einer Anleitung, eine bestimmte Art des Täuschens, »donner l’impression aux autres«. Ausgehend vom Gedanken, dass die Beteiligten jeder Interaktion daran interessiert sind, die Meinung des Gegenübers zu kontrollieren, das heisst, von sich selbst einen bestimmten Eindruck zu erwecken, spricht Goffman (2003: 189) von Eindrucksmanipulation. Oumars Taktiken wie »Sich-etwas-ausdenken« oder »Lügen« beschreiben unterschiedliche Techniken, eine bestimmte persönliche Identität zu konstruieren. Sie beschränken sich hier in erster Linie auf die verbale Kommunikation. Die Arbeit, dies diese Eindrucksmanipulation mit sich bringt, empfindet Oumar als besonders anstrengend und ermüdend. Dazu kommt, dass jede neue Erfindung auch Gefahr läuft, den vorhergehenden zu widersprechen und sich dadurch zu entlarven. Eine weitere Praxis, welche die Arbeit des Täuschens ergänzt, ist diejenige der Distanzierung. Die von Oumar angesprochenen negativen Folgen zeigen, wie begrenzt sich Stigmatheorien, die aus einem euro-amerikanischem Kontext stammen und die das Ideal des Individualismus vertreten, in andere kulturelle Zusammenhänge übertragen lassen. Oumar erwähnt, dass er in seinen Beziehungen darauf achtet, das richtige Mass von Nähe und Distanz zu finden: Niemanden so nahe kommen zu lassen, dass das Geheimnis gefährdet ist, noch sich soweit zu distanzieren, dass die Bindung in die Unverbindlichkeit abzugleiten droht – immer misstrauisch bleiben und eine gewisse Reserve beibehalten. Besonders zwiespältig und riskant ist dieser Balanceakt bei Freunden oder nahe stehenden Familienmitgliedern, also bei Personen, mit denen bereits ein intimes Verhältnis besteht, das nun gelockert wird. Gleichzeitig ist fraglich, ob auf Distanz gehaltene Beziehungen jemals diesen Grad an Zuverlässigkeit und Tragfähigkeit erlangen, um sie auch für zukünftige Projekte nutzbar zu machen. In Mali, wo nur sehr schwache soziale Sicherungssysteme vorhanden sind, verknüpfen sich Aufbau und Pflege von Beziehungen in einem ganz anderen Ausmass mit konkreten Erwartungen als dies in einem sozialstaatlichen Umfeld der Fall ist. Ganz konkret gesagt: es ist ohne ein dichtes und verbind-

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liches soziales Netz äusserst schwierig, in Notsituationen Hilfe zu erhalten oder sich auf der beruflichen Ebene weiter zu entwickeln (siehe dazu Vuarin 2000). Aus Oumars Schilderung wird klar, dass das Bestreben, das Risiko des Verrats möglichst klein zu halten, bestimmte Anstrengungen und Einbussen mit sich bringt. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen Täuschen und Sich-Distanzieren besonders heikel sind wie zum Beispiel im Vorfeld einer Eheschliessung. Oumar sollte, damit er als erwachsener Mann gilt und sozial akzeptiert ist, verheiratet sein. Dies ist nicht nur eine gesellschaftliche, sondern auch eine religiöse Aufforderung – Junggeselle zu bleiben, sagt er, würde sein Ansehen als guter und praktizierender Muslim gefährden. Zwar steht er mit seinen 29 Jahren nicht unter demselben Zeitdruck wie Frauen, doch ohne Eheschliessung sind seine Chancen gering, jemals in der Politik oder auch in der Gesellschaft über bestimmten Einfluss zu verfügen. Doch wie soll es ihm gelingen, trotz seiner Krankheit eine Partnerin zu finden, die aus ähnlichen Kreisen wie er kommt? Auch dies eine für Oumar noch ungelöste Frage. Seine Priorität liegt vorläufig bei der Beendigung des Studiums und er hofft, danach eine gute Stelle als Bankmanager zu finden. Von seinem ursprünglichen Plan, sich zur Fortbildung in die USA zu begeben, hat er in Absprache mit seiner Mutter Abstand genommen. Denn die Herausforderung, sich in dem fremden Land ganz alleine, ohne den familiären Rückhalt zurecht finden zu müssen, erschien ihm zu gross. Vorerst will er jetzt in Mali bleiben und sich hier eine politische Karriere aufbauen.

12.2 Ö FFENTLICHE B EKENNTNISSE Sobald Menschen mit Kameras den Hof der Selbsthilfeorganisation AMAS/ AFAS betreten, macht sich unter den Mitgliedern eine leichte Nervosität bemerkbar – einige verziehen sich hinters Haus, andere verbergen ihr Gesicht unter Foulards oder lassen ihren Kopf zwischen die auf die Knie gestützten Arme sinken. Sie wollen nicht im Fernsehen als HIV-positiv identifiziert werden können. Die Programmverantwortlichen hingegen empfinden es als selbstverständlich, dass die Mitglieder der Organisation auch dazu bereit sind, ihrer Rolle als AIDS-Aktivisten gerecht zu werden und deshalb auch nicht davor zurückscheuen, sich öffentlich zu zeigen. Schliesslich, so ihre Argumentation, bezieht AMAS/AFAS seine finanzielle Unterstützung in erster Linie aufgrund seines politischen Auftrags: Est-ce qu’on est obligé d’aller dans une association? Alors ceux qui acceptent d’aller dans une association, il faut qu’ils acceptent aussi de se faire voir parce que les associations sont bien visibles. Si j’ai pas envie d’être visible, je reste au CESAC, même si on amène la télévision au CESAC, on demande aux uns et aux autres si vous ne voulez

T EIL 3: S OZIALE V ULNERABILITÄT pas être visible, allez-y de l’autre coté. Comme ça, on n’oblige personne à se faire voir. (19.2.2008)

»Sichtbarkeit« kann in mehr oder weniger exponierter Form erfolgen und ist zumeist in die diversen Aktivitäten der Selbsthilfegruppe eingebettet. Während das Risiko, bei Reportagen als eine im Hintergrund agierende Statistin erkannt zu werden, relativ gering ist, bleibt eine Beteiligung bei der Modeschau und der Miss AIDS-Wahl im Monat Dezember kaum unbemerkt. Unzweifelhaft die direkteste Form von Öffentlichkeit ist das persönliche Bekenntnis zur eigenen Seropositivität vor der Kamera, die so genannte »témoignage à visage découvert«. Solche Auftritte bedeuten für die beteiligten Akteure, obwohl sie von Seiten der Organisation gut darauf vorbereitet und begleitet werden, immer ein Wagnis. Andererseits bilden die »Offenbarungsspots« eine ganz eigene Gattung in den AIDS-Darstellungen und haben für die Protagonisten aufgrund des Honorars eine grosse Attraktivität. Anhand seiner Feldforschungen in Westafrika diskutiert Vinh-Kim Nguyen (2002; 2004) die Praxis und den Einsatz von confessional technologies als einen zentralen Baustein in der Konstitution der therapeutic citizenship (siehe dazu Kapitel 2.2.). Historisch gesehen hat sich die Praxis der témoignages als Reaktion auf die von internationalen Sponsoren geäusserten Beschwerden hinsichtlich der fehlenden Visibilität der Epidemie entwickelt. Solange die Krankheit ein Phantom bleibe und keine Glaubwürdigkeit durch die Gesichter von direkt Betroffenen erhalte, solange wären auch alle anderen Massnahmen zwecklos (Nguyen 2002: 79). Öffentliche Bekenntnisse jedoch sollen die Epidemie fassbar machen, der Stigmatisierung entgegenwirken und nicht zuletzt auch den Weg zu einem HIV-Test ebnen. Befrachtet mit diesen hohen Erwartungen avancierten témoignages zum vielleicht spektakulärsten Instrument der AIDSArbeit; sie gelten für die auswärtigen Sponsoren als Massstab für den Erfolg von nationalen AIDS-Programmen, und danach bemessen sich auch alle weiteren Investitionen (ebd: 81) – oder wie es ein Mitglied von AMAS/AFAS zusammenfasst: »Les blancs qui donnent de l’argent ont besoin du preuve, c’est pourquoi ils nous filment.« (m, 55 Jahre, 27.11.2007) Während Nguyen öffentliche Bekenntnisse aus der Perspektive des weltweit vernetzten AIDS-Aktivismus betrachtet, werde ich mich hier allein auf die Erfahrungen der Beteiligten mit diesen Auftritten konzentrieren und dabei die Risiken untersuchen, die sich aus dem unwiderruflichen Schritt in die Öffentlichkeit ergeben. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Beispielen, die von der Sorge um Geheimhaltung gekennzeichnet waren, fungiert hier das Geheimnis respektive dessen Offenlegung als eine Ressource. Sich selbst zu verraten, auf freiwilliger Basis und als eine bewusste Entscheidung, ist für HIV-positive Personen nicht nur auf der finanziellen Ebene vorteilhaft, sondern verschafft ihnen auch Anerkennung innerhalb des AIDS-Bereichs. Andererseits lässt die unver-

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hüllte Medienpräsenz auch Gerede entstehen und wirkt sich nicht nur auf das eigene Ansehen, sondern auch auf das anderer Familienmitglieder negativ aus. Auch Hawa hat sich entschieden, mit ihrer Krankheit in die Öffentlichkeit zu treten, verbindet mit ihrer Entscheidung jedoch weniger ein Engagement im Kampf gegen AIDS als die Verwirklichung ihrer eigenen, privaten Pläne.

Private Konflikte und Misstrauen: Hawa Seit ich Hawa kenne, ist sie vom Gedanken verfolgt, niemals einen Ehemann zu finden und allein und kinderlos sterben zu müssen. In ihrer Mutter hat sie eine verlässliche Vertraute, die alles unternimmt, um ihr über diese seelischen Tiefs hinwegzuhelfen. Dennoch verfällt Hawa oft tagelang in völlige Apathie, ist »découragée, seulement dégoutée de la vie«. Endlich, drei Jahre nach unserem ersten Treffen, erzählt Hawa, dass sich ein möglicher Anwärter eingefunden hätte. Da die Geschichte noch ganz neu sei, wisse er nichts von ihrer Krankheit. Ausserdem, so vermutet sie, verdiene er mit seiner Arbeit als Transporteur zu wenig, um schon bald eine Hochzeit in Erwägung zu ziehen. Doch ihre Mutter, die stets darauf bestanden hat, dass Hawa mit niemandem über ihre Krankheit spricht, möchte zum einen den Bräutigam selbst informieren und bei dieser Gelegenheit sich auch seiner Verschwiegenheit versichern. Zum anderen hat sie in Aussicht gestellt, das junge Paar, falls es zu einer Ehe kommen sollte, in vielerlei Hinsicht zu unterstützen. Insofern schöpft Hawa doch noch Hoffnung, sich endlich vom Makel einer »femme invendue« befreien zu können – vorausgesetzt ihr Freund bleibt bei seinem Angebot. Als ich Hawa das nächste Mal sehe, ist sie äusserlich vollkommen verändert – ein schickes, enges Complet und eine aufwändig geknüpfte Frisur, so dass ich mich frage, ob die Hochzeit bereits stattgefunden hat. Hawa nimmt meine Komplimente erfreut entgegen, erklärt aber, dass sie sich in der Zwischenzeit verlobt habe, doch die neue Ausstattung, die sei selbst verdient und zwar mit einer témoignage am Fernsehen. Immer noch in Erinnerung, wie sehr sie und vor allem ihre Mutter auf Geheimhaltung bedacht waren, überrascht mich diese Entscheidung ziemlich. Hawa erzählt: J’avais une de mes consultations ici à Bamako et j’ai profité pour aller au siège (AMAS/ AFAS, N.S.). Cela a trouvé que le président cherche des gens pour faire un témoignage à visage découvert et je me suis proposée. Il m’a dit d’aller réfléchir sur ça avant de prendre toute décision. Je lui ai dit que c’est pas la peine d’aller réfléchir que je suis prête à le faire. Et c’est comme cela que ça c’est passé. L’enregistrement a eu lieu au siège avec deux autres candidats; il (le président, N.S.) m’a dit de porter une chemise et un pantalon, mais il n’a pas dit de me maquiller. On nous a donné un texte qu’on devait dire. Moi j’ai dit que je m’appelle Hawa Diawara, j’ai vingt-sept ans, je suis célibataire et cela fait huit ans que je suis séropositive. J’étais pas nerveuse et je disais mon texte en souriant; on m’a dit de le dire avec joie. Je l’ai répété quatre fois, deux fois en sou-

T EIL 3: S OZIALE V ULNERABILITÄT riant et deux fois avec mine serrée. C’est en souriant qu’ils ont pris et montré à la télé. (29.12.2007)

Wie ich später selbst in einer der unzähligen Wiederholungen sehe, flimmert Hawas Gesicht in gut erkennbarer Nahaufnahme über den Sender. Als Anerkennung für ihr Engagement erhält sie 100.000 FCFA (circa 150 Euro), die sie für den Kauf einer neuen Garderobe benutzt. Ganz offensichtlich orientierte sich die Inszenierung ihres Bekenntnisses am Modell »Positiv Leben mit HIV/ AIDS« – Hawa soll selbstbewusst und heiter wirken, eine junge Frau, die sich durch ihre Krankheit nicht entmutigen lässt.10 Doch je mehr sie in ihrer Darstellung diesem Ideal entspricht – und dies ist die Kehrseite ihrer positiven Selbstpräsentation – umso unglaubwürdiger wirkt sie in den Augen der Zuschauer. Anders gesagt: für das malische Publikum rangieren témoignages unter Werbespots, als inszenierte Clips mit gewissen Showqualitäten, die wenig Bezug zu AIDS als einer todbringenden Krankheit aufweisen und noch viel weniger mit dem Bild von ausgezehrten und desolaten Infizierten übereinstimmen. In diesem Deutungsrahmen erscheinen AIDS-Aktivisten als bezahlte Schauspieler und müssen infolgedessen auch mit entsprechenden Reaktionen rechnen, wie eine Kollegin von Hawa berichtet: Quand l’information se fait à la télé, ça donne toujours l’occasion aux gens de faire des rumeurs et de dire que c’est à cause de l’argent que les gens se présentent: ›Ils n’ont rien, ils prennent seulement l’argent pour s’asseoir à la télévision et dire qu’ils sont atteints de sida, alors qu’ils n’ont rien‹. [...] Quand les gens me voient en ville, ils me disent: ›Ah, vous gagnez beaucoup d’argent maintenant, parce qu’on vous a vu à la télé. Ah, il faut que vous nous en donniez un peu, parce que vous ne devez pas manger toute seule tout cet argent.‹ Je leur dis que pour manger l’argent des blancs, il faut chier d’abord. (38 Jahre, 24.8.2005)

Mit anderen Worten: die Nachfrage der Programme nach öffentlichen Bekenntnissen haben mit Hilfe antiretroviraler Therapien einen Markt geschaffen, auf dem HIV-positive Personen ihr Geheimnis relativ geschützt, ohne als infiziert gelten zu müssen, verkaufen können. Dementsprechend attraktiv ist es gerade für Mitglieder von AMAS/AFAS, die mehrheitlich aus ärmeren Schichten stammen und deren Lebenssituation von materiellen und sozialen Zwängen geprägt ist, sich um einen solchen Auftritt zu bewerben, oftmals auch ohne die Konse10 | Hansjörg Dilger (2001; 2010) setzt sich im Rahmen seiner Feldforschung bei tansanischen NGOs vertieft mit dem Konzept »Positiv Leben mit HIV«, dessen Ursprüngen und unterschiedlichen Bedeutungen auseinander. Dabei zeigt er, dass neben Ernährungsvorschriften und ärztlichen Kontrollen vor allem das Kriterium einer »lebensbejahenden« Einstellung besonders hervorgehoben wird (Dilger 2010: 357).

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quenzen, die er für sie selbst oder ihre Familienangehörigen haben könnte, in Betracht zu ziehen. Auch Hawa hat sich spontan, ohne lange Bedenkfrist, dazu entschieden. Bei der Bevölkerung hingegen stösst die Bereitschaft, sich für diese Spots herzugeben, auf ziemliches Unverständnis: Quand tu sors à la télé pour dire que tu as le sida, les gens disent toutes sortes de mauvaises choses sur toi. Ils diront que cette personne est maudite, elle est partie dire qu’elle a le sida à cause de l’argent, elle est bête et cupide. Les gens passent tout le temps à nous faire des reproches: ›Comment on peut à cause de l’argent des blancs se montrer à la télé qu’on a la maladie du sida?‹ C’est vraiment se ridiculiser aux yeux des gens à cause de l’argent. (38 Jahre, 24.8.2005)

In der Gemeinde von AMAS/AFAS allerdings hat Hawas Auftritt ihre Position wesentlich verbessert. Der Präsident persönlich beglückwünscht sie nach der ersten Ausstrahlung und Hawa hofft nun, in den Kreis der aktiven Mitglieder aufgenommen zu werden und weitere Arbeitsangebote zu erhalten. Für sie selbst und ihr Privatleben ist jedoch entscheidend, dass sie sich mit ihrer Darstellung in einem Kontext exponiert hat, der Neugierde und Zweifel weckt. Zwar spricht der gut sichtbar angelegte Verdienst in Form der neuen Garderobe mehr für ein Arbeitsverhältnis als für ein politisches Engagement, dennoch bleiben Nachfragen nicht aus und Hawa muss sich entscheiden, bei wem sie sich wie rechtfertigen soll. Für ihre Freundinnen, die natürlich wissen wollen, ob das Geständnis der Wahrheit entspricht oder nicht, bleibt Hawa bei der Version einer Werbeveranstaltung. Ihre Schwestern, die zwar nicht direkt über die Krankheit informiert sind, sie aber vielleicht geahnt haben, machen ihr grosse Vorwürfe. Hawa hätte sie vorher um Erlaubnis fragen müssen, denn nun falle die Schande auf sie zurück und sorge für Konfliktstoff in ihren Ehen. Richtig verärgert hingegen ist ihre Mutter; sie fürchtet, dass ihre Mitfrauen nicht zögern, ihr bei der geringsten Auseinandersetzung die Krankheit der Tochter vorzuhalten. Zu ihrer Verteidigung flüchtet sich Hawa in eine Ausrede: »J’ai menti en disant que quand on nous filmait, on nous a pas dit que ça sortira à la télé. C’est après qu’on nous a dit qu’ils vont le montrer à la télé, cela a trouvé que le film a déjà été fait«. Ausserdem sei die Sache jetzt sowieso nicht mehr zu ändern. Als ich Hawa frage, weshalb sie sich zu diesem Schritt entschieden habe, sagt sie zuerst, dass sie sich davon eine Erleichterung versprochen hätte: »Je l’ai fait pour me débarrasser psychologiquement«, später im Interview revidiert sie sich und meint, dass vor allem finanzielle Beweggründe den Ausschlag gegeben hätten. Im Zentrum stand für sie, die Beziehung zu ihrem Verlobten zu festigen und in eine Ehe überzuleiten. Nach der Ausstrahlung erzählt sie ihm von ihrer Krankheit, weist aber gleichzeitig auch auf die neuen beruflichen Aussichten hin, die sich als gewinnbringend entwickeln könnten. Insofern versucht

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sie, ihre gesundheitlichen Schwierigkeiten mit beruflichem Erfolg wettzumachen und erreicht damit erstmal, dass ihr Verlobter weiterhin an einer Heirat interessiert ist. Mittlerweile ist sie sich dessen jedoch nicht mehr so sicher, die Situation hat sich verändert – »Les gens racontent derrière moi« – und Hawa merkt, dass sie weit davon entfernt ist, die Gerüchte mit ihren Erklärungen kontrollieren zu können. Sie bereut inzwischen ihren Entschluss. Denn falls es nicht zu einer Heirat kommen sollte, weil sich ihr Verlobter nun doch als unzuverlässig herausstellt, bei wem wird sie Rückhalt finden – jetzt, wo sie sich mit ihrer Familie überworfen hat? Im Gegensatz zu Oumar, der aus wohlhabenden Verhältnissen kommt und sich gegenüber allen nur denkbaren Einblicken absichert, sogar Kontakte abbricht, die ihm als zu unzuverlässig erscheinen, versucht Hawa, die Beziehung zu ihrem Freund mit dem öffentlichen Bekenntnis zu festigen, ohne dabei jedoch die Folgen der schlechten Publicity zu berücksichtigen. Dieser unterschiedliche Umgang mit Geheimhaltung, der stark von ökonomischen Kriterien abhängig ist, wurde schon bei der Möglichkeit, Konsultationen ausserhalb von CESAC stattfinden zu lassen, offensichtlich, wird aber noch in vielen anderen Aspekten der Arbeit zu Tage treten.

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13. Die Risiken, verraten zu werden

Aujourd’hui si tu confies ton secret à une seule personne à qui tu fais confiance, tout le monde sera informé. Car elle aussi va le dire à quelqu’un d’autre à qui elle a confiance et ainsi de suite jusqu’à ce que tout le monde sera au courant de ton secret. (w, 31 Jahre, 9.3.2007)

Dieses Phänomen nennt man in Mali ein »amerikanisches Geheimnis« – ein Geheimnis, das nicht lange geheim bleibt, und Vertrauen, dem nicht zu trauen ist. Es beschreibt den Prozess von Verrat über verschiedene Stufen und zeichnet zugleich ein Bild dessen, was HIV-positive Personen zutiefst befürchten: Eine vertraute Person erweist sich angesichts der Brisanz des Geheimnisses als unzuverlässig. Die Ungewissheit, wie die eingeweihte Person mit der Information umgehen wird, lässt oftmals vor einer Mitteilung zurückschrecken, verleitet aber auch dazu, die näheren Bezugspersonen auf ihre Vertrauenswürdigkeit hin zu prüfen. Denn, so nehmen es viele HIV-positive Personen wahr, es ist nicht mehr die Krankheit, von der eine Gefährdung ausgeht, es ist das soziale Umfeld. Damit verfestigt sich auch eine spezifische Sicht auf die soziale Welt, in welcher die anderen als bedrohlich empfunden werden: »Les autres sont très dangereux«. In seinen Überlegungen zu Geheimnis und geheimer Gesellschaft vergleicht Simmel ein Geheimnis haben mit dem Besitz von Geld und betont dabei die Macht, die dieses innere Kapital verleiht – die »Macht zu Schicksalswendungen und Überraschungen, zu Freuden und Zerstörungen« (Simmel 1992: 409). Allerdings konzentrieren sich seine Ausführungen allein auf völlig »abgedichtete« Geheimnisse und schliessen die Möglichkeit einer Mitteilung an andere bewusst aus.11 Überträgt man die Analogie jedoch auf ein HIV-Geheimnis, das in gewisser Weise porös ist und bei dem man damit rechnen muss, dass es sich unter bestimmten Umständen enthüllt, zeigen sich Unterschiede: Die mit Geld 11 | Die soziologische Bedeutung von Geheimnissen, so Simmels Argument, lässt sich erst an der »Fähigkeit oder Neigung der Subjekte, es auch bei sich zu behalten, bzw. an ihrem Widerstand oder Schwäche gegenüber der Versuchung zum Verrate« erkennen (Simmel 1992: 409f).

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verbundene Macht lässt sich teilen, diejenige eines Geheimnisses hingegen bleibt erhalten, vielmehr sie überträgt sich auf den neuen Mitwissenden. Mit anderen Worten: Sich jemandem mitzuteilen heisst dieser Person Macht zu verleihen, sich ihr auszuliefern. Denn von diesem Zeitpunkt an ist die Information nicht mehr kontrollierbar. Nicht zu wissen, wie die eingeweihte Person sich in Konflikten verhalten wird, von ihrer Loyalität abhängig zu sein und stets mit der Möglichkeit einer Erpressung und letztlich auch eines Verrats rechnen zu müssen, lässt den Preis einer Mitteilung oft als zu hoch erscheinen: Si je parle de mon résultat à ma demi-sœur, je sais que dès qu’il y aura une petite querelle entre nous, elle se mettra à parler de ça à tout le monde. C’est quelqu’un qui fait trop d’histoire et elle est aussi trop bavarde. Elle n’hésiterait pas à crier de ça partout dès qu’il y a une petite histoire entre nous. (w, 28 Jahre, 13.1.2004)

Obwohl die Darstellungen von Betroffenen die negativen Konsequenzen besonders betonen, kann eine Teilung von Geheimnissen durchaus auch positiv erlebt werden. Sich einer vertrauenswürdigen Person mitteilen zu können, bedeutet eine Erleichterung und kann die Beziehung zwischen den beiden Wissenden festigen und vertiefen (Keppler und Luckmann 1997: 205). Dies trifft vor allem dann zu, wenn das Interesse an Geheimhaltung von beiden Seiten gleich hoch ist, das heisst, wenn die eingeweihte Person unter den Folgen eines Verrats ebenso zu leiden hätte wie die sich mitteilende Person selbst. Da es mir hier jedoch darum geht, typische Konstellationen sozialer Verwundbarkeit aufzuzeigen, möchte ich zwei Beispiele vorstellen, welche die Wege wie auch das Ausmass der Informationsverbreitung in zwei unterschiedlichen Kontexten – einem Dorf und in Bamako – verdeutlichen. Im ersten Fall geht der Verrat von einem Mitglied der Familie aus, im zweiten von einem ehemaligen Heiratskandidaten.

13.1 V ON DER M ITFR AU VERR ATEN Aus den Papieren, die ihr Mann hinterlassen hat, konnte Oumou entnehmen, dass er an AIDS gestorben ist. Daraufhin beschliesst sie, sich selbst testen zu lassen. Vom Resultat zutiefst erschüttert, ist sie sechs Monate nicht in der Lage, mit jemandem darüber zu sprechen. Als ihr Arzt sie jedoch bittet, ihre Mitfrau zu informieren und sie zu einem Test zu bewegen, lässt sie sich überzeugen, obwohl sie genau weiss: Entre coépouse, c’est pas facile. Tu vas trouver que deux coépouses s’entendent bien, apparemment, mais au fond tu vas trouver qu’elles veulent pas se voir. Quand vous partagez un mari, vous ne pouvez pas vous aimer. Quand je l’ai annoncé, elle m’a dit qu’elle

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K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI ne dira à personne. [...] Elle est sortie de la chambre et immédiatement elle est partie informer sa grande sœur que je suis entrain de la souhaiter une mauvaise maladie. Et sa grande sœur aussi directement est partie dire à ma belle mère de me mettre en garde que je suis en train de souhaiter une mauvaise maladie à sa sœur. Comme je suis malade, je veux que sa sœur aussi tombe malade comme moi. Et ma belle mère aussi avant de parler avec moi est partie dire à son amie que comme je suis malade, je suis entrain de dire que F. (la coépouse de Oumou, N.S.) aussi est malade. C’est la fille de son amie qui est venue me dire ça. Donc l’information a fait le rond, tout le monde a été informé. [...] Ma coépouse a été naïve de divulguer mon statut, car en divulguant mon statut, elle a divulgué son propre statut sans le savoir. Car ici si tu dis aux gens que ta coépouse a le sida, les gens vont s’imaginer que toi aussi tu as le sida. (36 Jahre, 23.11.2007)

Selbst wenn es nach rationalen Gesichtspunkten recht unwahrscheinlich erscheint, dass eine Frau die Seropositivität ihrer Mitfrau weitererzählt, weil dies einer Selbstanzeige gleichkäme, gibt auch diese Situation – wie das Beispiel zeigt – keine Garantie für Verschwiegenheit. Innerhalb bestimmter auf Konflikt angelegter Beziehungen ist das Risiko gross, dass die Mitteilung auch nur in diesem Bezugsrahmen gedeutet wird. Die Interpretation von Oumous Mitfrau jedenfalls fokussiert sich ausschliesslich auf den Aspekt der Konkurrenz; die gesundheitliche Relevanz wie auch die möglichen Folgen, welche ein Verrat für das Ansehen der Familie und für sie selbst hätte, geraten dabei in den Hintergrund. Da sie sich einem HIV-Test verweigert, erkennt sie erst, als sie ernsthaft an AIDS erkrankt und jede medizinische Hilfe zu spät kommt, wie wichtig die Information für sie hätte sein können. Oumou lebt in einem grösseren Dorf ausserhalb der Stadt, insofern ist hier eine umfassende Verbreitung leichter vorstellbar als in der Zwei-MillionenStadt Bamako. Zudem verkauft sie, den herkömmlichen Aufgaben einer PeulhFrau12 entsprechend, die Milch der familieneigenen Rinder und ist dadurch mit vielen Leuten im Kontakt. Bei unserem nächsten Gespräch erkundige ich mich, welche Kreise der Verrat gezogen habe und mit welchen Auswirkungen er für sie verbunden war. Oumou unterscheidet bei ihren sozialen Kontakten zwischen drei verschiedenen Bereichen: bei sich zuhause im Dorf, ihren entfernten Verwandten und Freunden in Bamako – wo sie, sobald sie genügend Fahrgeld beisammen hat, die Woche verbringt – und schliesslich ihrer eigenen Familie in Guinea. Von Vorteil für sie ist, dass zwischen den drei Kreisen kaum Verbindungen existieren, zumal das Telefonnetz im Dorf nicht funktioniert. Insofern konnte die Nachricht bis jetzt weder zu ihrem Bekanntenkreis in Bamako, noch bis zu ihrer eigenen Familie in Guinea dringen. Anders hingegen stellt sich die 12 | Die ethnische Gruppe der Peulh oder auch Fulbe genannt sind über viele Regionen Westafrikas verbreitet (v.a Mali, Ghana, Burkina Faso, Côte d’Ivoire) und als Rinderzüchter bekannt.

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Situation im Dorf dar; hier gibt es Familien, welche die Information aus erster Hand erfahren haben und solche, die nur über Gerüchte davon gehört haben: Même au village, tu ne peux pas entrer en contact avec tout le monde. C’est un grand village. Nous sommes des Peulhs, dans cette race, on ne cause qu’avec les Peulhs surtout. Là où il y a des conversations entre mes beaux-parents et ces gens-là, eux ils savent. Ça sont à peu près trois ou quatre maisons à F. qui l’ont su à travers de ma bellefamille. Mais il y a aussi des gens qui ne sont pas certains, mais ils soupçonnent que j’ai le VIH. Ils pensent ça comme ils ont vu mon mari mourir du sida. Il y a ces rumeurs qui circulent, tandis il y a aussi des personnes qui sont certaines parce qu’ils ont appris directement. Dans le village, presque tout le monde est pressé de voir quelqu’un avec le VIH. C’est plutôt ça, la maladie sociale: les rumeurs qui circulent….c’est ça qui nous tue socialement, jusque tu n’es plus une personne. (17.2.2008)

Oumou merkt bald, dass niemand mehr im Dorf willens ist, ihre Milch zu kaufen. Die soziale Krankheit – das heisst die Gerüchte, die Nachstellungen und Provokationen – hat ein Stadium erreicht, in dem die meisten Kontakte von der Sensation geprägt sind, jemanden mit AIDS leibhaftig vor sich zu sehen. Bei gesellschaftlichen Veranstaltungen wie Hochzeiten oder Taufen muss Oumou erleben, wie die Leute anfangen, über sie zu tuscheln und sich dann demonstrativ von ihr abwenden. Am meisten habe ihr jedoch zu schaffen gemacht, dass ihre Kinder von Kameraden aufgefordert wurden, die Schule zu verlassen. Nach diesen Erfahrungen will sie sich möglichst selten im Dorf aufhalten und versucht, ihren Lebensmittelpunkt nach und nach in die Stadt zu verlegen und dort ihre Milch zu verkaufen. Dass in einem Dorf die Anonymität gering ist und die Geschwindigkeit, mit der sich Gerüchte verbreiten, schnell, entspricht den landläufigen Vorstellungen. Doch auffällig an den meisten Darstellungen ist, dass das Ausmass des Verrats von den Betroffenen fast ausnahmslos als absolut geschildert wird: die Information verbreitet sich immer »bei allen« (tout le monde) und »überall« (partout). Doch sind diese Aussagen Ausdruck der subjektiv empfundenen Gefährdung oder beruhen sie auf gemachten Erfahrungen? In Gesprächen mit Personen, die nicht selbst von HIV betroffen sind, habe ich des Öfteren gehört, dass »la vitesse qu’une rumeur court ici au Mali est telle qu’il est plus facile de faire véhiculer une information par les rumeurs que par les médias« (m, 41 Jahre, 12.1. 2010). Zudem sei die Intensität der Kommunikation hier nicht mit derjenigen in Europa zu vergleichen: »Ici, causer c’est comme respirer« und Gerüchte über vermeintlich HIV-Positive seien in den grins ein besonders beliebtes Thema. Das nächste Beispiel zeigt, wie schnell eine Information unter gewissen Umständen kursieren kann und sich die sprichwörtliche Anonymität einer Grossstadt als Trugschluss erweist.

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13.2 A US ENT TÄUSCHTER L IEBE VERR ATEN Kurz vor der Hochzeit hat Jolie ihrem Verlobten den Laufpass gegeben und flüchtete in die neue Familie ihres Vaters nach Bamako. Hier wird sie krank, kann ihrer Arbeit als Buchhalterin nicht mehr nachgehen und muss bald den Haushalt aufgrund von Zerwürfnissen verlassen. Seitdem wohnt sie alleine – eine Lebensform, die für eine Frau, will sie nicht als Prostituierte angesehen werden, auf Dauer nicht praktikabel ist. Eine Heirat wäre für Jolie, nicht nur aus sozialen, sondern auch aus wirtschaftlichen Gründen, die beste Lösung. Allerdings müsste sie einen Mann finden, der sie liebt und sie trotz ihrer Krankheit akzeptiert. Sie steht also vor derselben Schwierigkeit, die bereits eingangs (siehe Kapitel 10.1) erwähnt ist, nur mit dem Unterschied, dass sie sich nicht für Verschweigen entscheidet, sondern versucht, sich gemäss den gesundheitspolitischen und juristischen Vorschriften zu verhalten: On nous a toujours dit au CESAC que si quelqu’un vient te chercher, il faut avouer ton statut. C’est comme ça. Il avait un inspecteur de police qui partait me chercher; je l’aimais. Et un jour, je lui ai avoué mon statut, il m’avait pas cru jusqu’à ce que je lui ai montré mes ordonnances, ma carte et même les ARV (antirétroviraux, N.S.). Entre temps il a eu une mission à Darfour et il a fait deux ans là-bas. Il connaissait ma situation et c’était lui qui me prenait en charge. Il est parti sans me laisser de l’argent, même pas pour me dire au revoir. De là-bas il a essayé de faire la paix avec moi, mais moi j’ai pas accepté. À son retour, il a fait tout pour revenir avec moi. J’ai pas accepté, car je me suis dit que quelqu’un qui te laisse dans des difficultés n’est pas vraiment un ami. Il peut m’abandonner définitivement un jour. Il m’a demandé où est-ce que je travaille maintenant. Quand il partait pour sa mission, je travaillais dans un bureau d’étude. Je lui ai dit que je travaille maintenant dans un hôtel, il est parti là-bas pour me supplier. [...] Il avait ces collègues qui partaient consommer à l’hôtel et c’est comme ça qu’il leur a dit que je suis positive. Et ces collègues ont dit à mon patron. Lui il n’arrivait pas à croire jusqu’à ce qu’il appelait les gens pour venir me voir. [...] Après il m’a payé et m’a dit de partir, de ne plus aller travailler là-bas. C’est le policier qui m’a trahi comme ça. Un jour, je lui ai dit que jamais au grand, jamais je ne vais avouer mon statut à quelqu’un d’autre. Parce que là où je suis, je suis vraiment dans les difficultés – qui va m’aider maintenant? Personne. Tout le voisinage sait maintenant mon statut. C’est une fille de mon voisinage qui m’a cherché ce travail. Maintenant que la chose s’est évoluée comme ça, ils sont tous informés – mon nom est complètement gâté. (29 Jahre, 17.1.2007)

Wenig später erreichen die Gerüchte auch die Familie ihres Vaters in Bamako. Zwei von ihren Schwestern besuchen Jolie und stöbern bei dieser Gelegenheit nach handfesten Beweisen für die kursierenden Verdächtigungen. Von diesem Moment an, realisiert Jolie, dass sie Bamako verlassen muss. Sie erhält die Möglichkeit, in einer kleineren Selbsthilfegruppe HIV-positiver Personen als Buch-

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halterin anzufangen. Als wir uns ein Jahr später wieder sehen, berichtet Jolie, dass soeben ihr Dienstmädchen gekündigt hätte, weil die Gerüchte bereits bis zu ihrem jetzigen Wohnort durchgedrungen seien. Auf welchen Wegen dies geschehen ist, kann sich Jolie nicht erklären. Ganz anders als bei Oumou überschneiden und berühren sich bei Jolie die Bereiche Beruf, Nachbarschaft und Familie, so dass es zu einer breiten Streuung der Information kommt. Die Nachricht brauchte zwar etwas länger, bis sie in die Familie gelangte, doch das in Bamako geflügelte Wort »bèè bè u don« – alle kennen einander, sind auf die eine oder andere Art miteinander verwandt – hat sich für Jolie auf existenzbedrohliche Weise bestätigt. Insofern stellt sich weniger die Frage, ob sich eine solch brisante Information verbreiten kann, sondern vielmehr wie lange sie dazu braucht. Gerade in Anbetracht dessen, dass Oumous Dorf und Jolies Stadt nicht als zwei voneinander getrennte Entitäten anzusehen sind, sondern auf vielfache Weise, zum Beispiel durch Handel oder Besuche, miteinander verflochten, kann fast davon ausgegangen werden, dass die Information irgendwann auch Oumous Familie erreichen wird. Weiter ist auch der Anlass des Verrats zu beachten. Obwohl es von gesundheitspolitischer Sicht als durchaus gerechtfertigt erscheint, Mitteilungspflichten in polygamen Ehen oder zwischen Sexualpartnern zu propagieren (siehe dazu Maman et al. 2003; Serovich et al. 2008), sind die sozialen Risiken, die sich mit einer Eröffnung verbinden, nur schwer einzuschätzen. In den beiden vorgestellten Fällen war die Information mehr von epidemiologischen als von sozialen Gesichtspunkten geleitet. Und dabei hat sich auch bewahrheitet, was von vielen HIV-positiven Personen befürchtet wird: Die Macht, die jemand mit der Einweihung in das Geheimnis erhält, kann leicht missbraucht werden und die persönliche Identität der Betroffenen schwerwiegend schädigen. Nachdem ich nun die wesentlichen Risikokonstellationen aufgezeigt habe, die den alltäglichen Umgang mit einem HIV-Geheimnis für die Betroffenen und teilweise auch für ihre Angehörigen prägen, werde ich im nächsten Kapitel auf die sozialen Folgen einer Enthüllung eingehen. Im Zentrum steht dabei ein Phänomen, das bereits an mehreren Stellen erwähnt wurde: die Beschädigung des guten Namens.

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14. Der Name

Die Befürchtung, den guten Namen zu verlieren, bildet für HIV-positive Personen den Kern ihrer Risikowahrnehmungen und wurde in den Interviews dementsprechend häufig thematisiert. Dennoch fällt es schwer, mit Worten zu benennen, was mit diesem Phänomen eigentlich gemeint ist – »il y a tellement des choses là-dedans« habe ich öfters gehört. Typisch ist indessen, dass erst anhand der Bedrohung deutlich wird, welchen Stellenwert der guter Name für das soziale Leben in all seinen alltäglichen Belangen besitzt. Bevor ich mich näher mit den spezifischen Kriterien dieses facettenreichen Phänomens befasse, möchte ich im folgenden Abschnitt einige theoretische Ansätze zu sozialer Ehre vorstellen, die das Verständnis des lokalen Ehrbegriffs »Name« erleichtern. Im Anschluss daran erfolgt dann die Darstellung unterschiedlicher Stadien des Namensverlustes, welche von jeweils spezifischen Erfahrungen geprägt sind – von versteckten Vermutungen bis zu offenkundiger Respektlosigkeit.

14.1 E HRE IN SOZIALWISSENSCHAF TLICHEN A NSÄT ZEN Genau wie in den Aussagen meiner Gesprächspartner sticht auch bei der Durchsicht sozialwissenschaftlicher Wörterbücher ins Auge, wie schwer der Begriff »Ehre« in theoretischer Hinsicht fassbar ist.13 Erste elementare Einsichten in das Wesen und die Funktion der Ehre finden sich bei den beiden Klassikern der Soziologie, bei Max Weber und Georg Simmel. Ersterer interessiert sich vor allem für den Zusammenhang zwischen Ehre und Macht, wobei er feststellt, 13 | So finden sich bei Zingerle (2002: 86) an die acht Kriterien, die für Ehre bestimmend sind und die deutlich werden lassen, wie breit der Begriff ausgelegt wird. Ehre kann zugeschrieben und erworben sein; sie kann sich auf äussere Qualitäten und innere Zuständigkeiten beziehen. Ferner ist mit Ehre eine Selbstwertauffassung gemeint, die von kollektiver Wertung oder persönlicher Moralität abhängt. Und schliesslich umfasst Ehre eine von besonderen Personenkreisen beanspruchte Lebensform, aber auch eine allen Menschen zugesprochene Würde.

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dass sich mit einer bestimmten Lebensführung auch eine bestimmte Form von Ehre verbindet, die wiederum für die soziale Ordnung einer Gesellschaft ausschlaggebend ist (Weber 2001: 260). Damit betont Weber die Legitimation gesellschaftlicher Hierarchien durch spezifische Formen von Ehrung und Ehrerbietung und unterstreicht die sozial differenzierenden Funktionen von Ehre – eine Perspektive, die später von Bourdieu aufgegriffen wird. Simmel hingegen interessiert sich vielmehr für die integrativen Aspekte von Ehre, mit denen es gelingt, »dem Individuum die Bewahrung seiner Ehre als sein innerlichstes, tiefstes, allerpersönlichstes Eigeninteresse zu infundieren. Es gibt vielleicht keinen Punkt, an dem sich das Sozial- und das Individualinteresse derart verschlingt [...]« (Simmel 1992: 602). Anders gesagt: in der Ehre verknüpfen sich gesellschaftliche Erwartungen mit dem individuellen Bestreben, sich das Vertrauen und die Wertschätzung seines Umfeldes zu sichern.14 Diese Doppelseitigkeit von Ehre, das heisst, dass sie sowohl innerhalb wie auch ausserhalb des Individuums angesiedelt ist, sozusagen subjektive wie objektive Aspekte in sich vereinigt, kennzeichnet die meisten theoretischen Ausführungen (u.a. Peristiany und Pitt-Rivers 1992: 5; Vogt 1997: 23; Burkhart 2002: 11). Dass diese Trennung allerdings eine rein theoretische bleibt, da das eigene Ehrgefühl wesentlich von den Meinungen anderer abhängt, ja sogar auf diese angewiesen ist, vermerkt bereits Schopenhauer (1988: 360). Zudem können die beiden Seiten je nach kulturellen und historischen Kontexten sehr verschieden gewichtet sein. Aktuelle Beiträge zu Ehre verweisen vor allem auf die grundlegende Unterschiedlichkeit von Ehre und Reputation, wobei sie in letzterer vor allem eine rollenspezifische Form der Anerkennung sehen (Bromley 1993; Voswinkel 2001; Eisenegger 2005). Die definierenden Kriterien für Ehre hingegen beziehen sich – und dies wird auch für das weitere Verständnis des malischen Begriffs »Name« wegweisend sein – auf alle sozialen Rollen. Insofern berührt Ehrgewinn wie auch Ehrverlust die gesamte Person in all ihren Tätigkeitsbereichen und Rollen. Ethnologisch am Besten erforscht ist der Komplex von Ehre und Schande in der Region um das Mittelmeer. Auch wenn der mediterrane Ehrenkodex lokal unterschiedliche Ausprägungen annimmt, so ist er grundlegend gekennzeichnet durch ein kodifiziertes Regelwerk mit stark kontrastierenden Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit (Herzfeld 1996: 582). Als idealtypisch männliche Qualitäten gelten hier der Mut, jeder Beleidigung entgegen zu treten sowie die Bereitschaft, Rache zu üben und sich dadurch als autonom behaupten zu können. Die Ehre der Frauen hingegen definiert sich über Jungfräulich-

14 | Eine ausführliche Diskussion der unterschiedlichen Ehrbegriffe bei Weber und Simmel findet sich in der Arbeit von Ludgera Vogt (1997), die sich mit der Aktualität von Ehre in der heutigen deutschen Gesellschaft auseinandersetzt.

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keit vor und Keuschheit in der Ehe – eine Perspektive, die jedoch vor allem die männliche Sicht repräsentiert (siehe dazu Wikan 1984). Einen guten Ausgangspunkt hinsichtlich der Theoriebildung von Ehre liefert Julian Pitt-Rivers (1966, 1968, 1977, 1991). Basierend auf Feldstudien in Andalusien entwickelt er eine schlüssige und prägnante Definition, indem er drei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Aspekte von Ehre benennt: Ehre ist erstens ein Gefühl, zweitens die Manifestation dieses Gefühls im Verhalten und schliesslich die Evaluation dieses Verhaltens durch andere, wobei er das letzte Element, die Einschätzung durch andere, auch als Reputation bezeichnet (Pitt-Rivers 1968: 503). Alle drei Aspekte – Gefühl, Verhalten und Reputation – bedingen sich gegenseitig: »Honour felt becomes honour claimed and honour claimed becomes honour paid« (Pitt-Rivers 1968: 503; 1997: 2). Ehrgefühl motiviert also zu ehrenvollem Verhalten, dem wiederum Anerkennung widerfährt, wodurch sich eine positive Reputation etabliert. In Abgrenzungen von Pitt-Rivers und dessen Anliegen, gemeinsame Züge der mediterranen Ehre herauszuarbeiten, schlägt Frank Henderson Stewart (1994) einen anderen Zugang vor. Ausgehend von Untersuchungen bei Beduinen im Sinai, versteht er Ehre, in welcher sich die höchsten Werte einer Gesellschaft realisieren, als Anrecht (claim-right) darauf, von anderen respektvoll behandelt zu werden (ebd: 21). Dabei unterscheidet er zwischen horizontaler Ehre, das heisst Anrecht auf Respekt bei Gleichen, und vertikaler Ehre, dem Recht Höhergestellter auf den ihnen gebührenden speziellen Respekt (ebd: 54). Auch Bourdieus Ausführungen zu Ehre und Ehrgefühl sind dem Mittelmeerraum zuzurechnen. Während mehrjährigen Feldforschungen bei den Kabylen in Algerien versucht er, die Grundregeln des Ehrverhaltens zu erfassen und deren Logik zu analysieren, wobei er Ehre nicht als ein isoliertes Phänomen betrachtet, sondern es mit unterschiedlichen sozialen Austauschprozessen in Zusammenhang setzt. Anhand dieser Erkenntnisse entwickelt er später, in verschiedenen Schriften, das Konzept des symbolischen Kapitals (u.a. 1987: 205f; 1982: 194), das für die weitere Analyse meiner Daten leitend sein wird. Symbolisches Kapital umfasst sämtliche Formen sozialer Anerkennung und ergibt sich, wie bereits erwähnt (in Kapitel 4.2.), aus anderen Kapitalsorten, gilt als deren »wahrgenommene und legitim anerkannte Form« (Bourdieu 1985: 11). Das heisst, einerseits muss also bereits eine Investition in ökonomischer, sozialer oder kultureller Form stattgefunden haben, aus der dann symbolisches Kapital erwachsen kann; andererseits sollten aber auch die Wahrnehmungskategorien der beurteilenden Akteure in der Lage sein, den spezifischen Verhaltensweisen und Eigenschaften, die das symbolische Kapital ausmachen, Wert beizumessen (Bourdieu 1998: 108). Ein entscheidender Aspekt des symbolischen Kapitals, wie bereits von Weber angeführt, stellt seine Verbindung mit Macht dar, denn anerkannt sein, heisst auch Macht innehaben – sagen zu können »was ist oder, besser, was es

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mit dem, was ist, auf sich hat« (Bourdieu 2001: 311). Andererseits verschleiert symbolisches Kapital auch Machtverhältnisse respektive legitimiert sie, indem es von der materiellen Ebene ablenkt und die Macht als natürlich, weil durch Ehre, Prestige oder Ansehen gerechtfertigt und geadelt, erscheinen lässt (siehe dazu auch Vogt 1997: 135). Die andere, innere Seite der Ehre, das sogenannte Ehrgefühl, konzeptualisiert Bourdieu als Habitus, als eine durch die Sozialisation inkorporierte Disposition, welche unbewusst zu Handlungen motiviert und diese lenkt (Bourdieu 1976: 31). Es ist das Ehrgefühl, das die leicht verletzbare Ehre schützt und gegebenenfalls auch dazu verhilft, diese wiederherzustellen, indem es einen antreibt, ein bestimmtes Bild von sich in den Ansichten anderer zu verteidigen. Gleichzeitig nährt die gute Meinung der anderen wiederum das eigene Ehrgefühl und hält dadurch die Ehrendialektik zwischen innen und aussen aufrecht. Bedauerlicherweise gibt es kaum Studien, die sich mit Ehrphänomenen südlich der Sahara auseinandersetzen.15 Iliffe (2005: 3) vermutet, dass dieses Manko vor allem dadurch zu erklären ist, weil Ehre gemeinhin aus männlicher Perspektive untersucht wird und infolgedessen auch nur Gesellschaften mit extremen Einstellungen zu weiblicher Keuschheit als typische Ehrkulturen gelten. Mit seinem Buch »Honour in African History« (2005) versucht er, dieses Defizit wettzumachen, indem er rekonstruiert, wie sich im subsaharischen Afrika die Kriterien, nach denen Ehre vergeben wird, und deren Bedeutungsgehalt aufgrund von politischen und religiösen Bedingungen verändert haben. Anhand der frühen Reiseberichte Ibn Battutas und der schriftlichen Zeugnisse des Songhaireiches gelingt es ihm, diese Prozesse auch innerhalb der Mandégesellschaften aufzuzeigen. Mit der Einführung von Kriegspferden, so sein Ansatzpunkt, entstand in der Blütezeit des alten Malireich im 14. Jahrhundert eine Reiteraristokratie, die sich durch einen äusserst heroischen Ehrbegriff, beruhend auf Heldentum und Generosität, auszeichnete (ebd: 12f). Obschon viele westafrikanische Staaten der Savanne sich bereits seit dem 11. Jahrhundert offiziell zum Islam bekannten, um Handelsbeziehungen mit Gesellschaften jenseits der Sahara zu begünstigen, blieb der islamische Einfluss auf die Ehrbegriffe der Reiter bis ins 18. Jahrhundert relativ gering. Erst mit zunehmendem Erfolg der militärisch vorangetriebenen Islamisierung begann sich der Bedeutungsgehalt von Ehre langsam zu verändern (ebd: 43). Grundsätzlich untersagt der Islam selbstsüchtiges Streben nach Rang und persönlicher Reputation und vertritt anstelle dessen die Ideale von Tugend und Rechtschaffenheit – Kriterien, die sich eher an inneren Qualitäten orientieren. Andererseits konnte sich die neue Religion, so Iliffe, auch nur dadurch behaupten, indem sie die militäri15 | Als eine in jüngerer Zeit erschienene Ausnahme ist die im südlichen Kamerun angesiedelte Studie von Johnson-Hanks (2006) über die Ehre von Frauen im Zusammenhang mit Schulbildung zu nennen.

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schen Werte und die Ehrbegriffe ihrer Gegner teilweise übernahm. Denn die angestrebte Verlagerung eines an äusseren Taten festgemachten Ehrbegriffs hin zu mehr inneren, moralisch ausgerichteten Werten – das heisst von dem, was jemand hat oder tut zu dem, was jemand ist – gelang nur in sehr oberflächlicher Weise. Im Laufe dieser historischen Prozesse erweiterte sich zwar der Bedeutungsgehalt von Ehre, verlor dabei aber nicht seinen nach aussen orientierten Charakter (ebd: 31). Kurz darauf, Ende des 19. Jahrhunderts, stellte sich mit den kolonialen Eroberungen das ein, was Iliffe die »Krise der Ehre« nennt (ebd: 6). Ähnlich den islamischen Bestrebungen unternahm auch das Kolonialregime einen weiteren, doch ebenfalls erfolglosen Versuch, den Ehrbegriff durch Lohnarbeit und westliche Bildung zu domestizieren und ihn in Achtbarkeit und Pflichtbewusstsein zu überführen (ebd: 221f).16 Doch trotz oder vielmehr gerade aufgrund militärischer Niederlagen manifestierte sich der afrikanische Widerstand darin, an den eigenen, wenngleich schon modifizierten Ehrvorstellungen festzuhalten. Im Laufe der umfassenden Veränderungen im 20. Jahrhundert allerdings splittete sich der äussere Ehrbegriff weiter auf und lebt heute in fragmentarisierter Form in verschiedenen Bereichen wie Musik oder Sport und vor allem in den Geschlechterbeziehungen und der intensiven Beschäftigung mit Aussehen und äusserer Erscheinung weiter (ebd: 262f, 297f). Ein erstes Fazit lässt sich also dahingehend ziehen, dass Ehre immer aus der Spannung zwischen innen und aussen lebt und dass diese beiden Seiten je nach Kontext variabel gewichtet sein können. Daher formulieren sich auch die Kriterien, die für Ehrgewinn beziehungsweise Ehrverlust zuständig sind, unterschiedlich. Sozial bedeutet Ehre über einen Kredit an Wertschätzung und Vertrauen zu verfügen und gibt einem das Recht, respektvoll behandelt zu werden. Konzeptuell lässt sich das Phänomen – wie auch andere Formen der Anerkennung – als symbolisches Kapital fassen. Folgt man der Annahme, dass sich symbolisches Kapital aus jeder anderen Kapitalsorte ergibt und auch wieder in diese konvertiert werden kann, stellt es im weiteren Sinne eine ökonomische und soziale Sicherheit dar; insofern hat der Verlust von symbolischem Kapital auch einschneidende Konsequenzen hinsichtlich ökonomischer und sozialer Hand16 | Einen ganz ähnlichen Prozess veranschaulicht Zunkel (2004: 17f) anhand des altdeutschen Ehrbegriffs, dessen Wurzeln in der italienischen Renaissance liegen und der sich vor allem über äussere, öffentliche Anerkennung definierte. Im Übergang zur Aufklärung und später auch geprägt vom Pietismus bestimmten dann zunehmend moralische, innere Werte das Verständnis von Ehre. Insofern verschob sich die Gewichtung der deutschen Ehre sukzessive von aussen nach innen, hin zu einem verinnerlichten und individualisierten Ehrbegriff. Als extremer Vertreter dieser Position nennt Zunkel (ebd: 27) Johann Gottlieb Fichte, dem es nicht auf das äussere Urteil seiner Mitmenschen ankommt, sondern nur auf die Würde der sittlichen Persönlichkeit.

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lungsräume. Nach diesen allgemein und theoretisch gehaltenen Ausführungen, werde ich nun auf das Phänomen des guten Namens eingehen, beginnend mit seiner sozialen Bedeutung.

14.2 D ER N AME ALS SOZIALER A USWEIS UND P RODUK T DER K OMMUNIK ATION Der Bamana Begriff für die lokale Anerkennungsform »Name« lautet tògò und beinhaltet zwei unterschiedliche Bedeutungen. Einerseits kann er mit »Vorname« im Gegensatz zu jamu, dem Familiennamen, übersetzt werden. Während das Patronym ein Vermächtnis des Kollektivs darstellt, steht der Vorname für Selbstverwirklichung und individuelle Entfaltung. Andererseits trägt tògò auch die Bedeutung von »Reputation«, deren Reichweite sich von Anerkennung im persönlichen und nahen sozialen Umfeld bis hin zur internationalen Bekanntheit spannen kann. Insofern sorgt der Name für einen Platz in der Gesellschaft, verortet eine Person innerhalb ihres aktuellen sozialen Umfeldes. Etymologisch betrachtet verbirgt sich in tògò die Verkürzung von to n’ko (das, was hinter mir bleibt). Denn der Name, so sagt ein Sprichwort, ist das einzige, das der Tod nicht zu zerstören vermag; er lebt in den Erzählungen der Nachfahren weiter. Ohne Name wäre das Leben eines Menschen ohne Sinn – für nichts geboren werden und für nichts gestorben sein (Cissé 1971: 157). Obwohl der Name geschmälert oder zerstört, gestärkt oder vergrössert werden kann, so bleibt doch niemand ohne Name. In seiner anspruchslosesten Ausprägung beinhaltet er die gesellschaftliche Minimalanforderung, welche besagt, dass sein Träger im Vergleich mit den anderen Mitgliedern der Gesellschaft keine Ausnahme darstellt und entspricht in diesem Sinne der Kategorie der horizontalen Ehre, dem Anrecht auf Respekt bei Gleichen (Stewart 1994: 54). Ferner sind es auch nicht die aussergewöhnlichen Taten, sondern vielmehr das Bekenntnis zur Konformität, das den guten Namen erhält und den Respekt der anderen sicherstellt. Le nom, c’est toi-même, c’est ta valeur sociale. Chez nous, on dit: Mògò ye e tògò dè bolo (wörtlich: der Mensch ist in den Händen seines Namens, er ist sein Name, N.S.). Le nom c’est une chose extrêmement importante, sans nom tu ne peux rien avoir dans la vie. Quand ton nom est gâté, l’on ne peut plus te faire confiance. Mais avec un bon nom tu as la confiance des gens. (m, 47 Jahre, 31.1.2007)

Der Name einer Person gibt also Auskunft über ihren sozialen Wert, darüber wie sie von anderen wahrgenommen wird und welche Vertrauenswürdigkeit sie geniesst. Dies ist auch das primäre Kennzeichen symbolischen Kapitals; es steht für regelgeleitetes Handeln im jeweiligen sozialen Feld und fungiert des-

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halb als ein Kredit an sozialem Vertrauen. Nur wer den normativen Erwartungen entspricht, kann symbolisches Kapital für sich in Anspruch nehmen und von dessen Vorteilen profitieren. Insofern schafft sich die Gesellschaft über den Namen eine Zugangsbarriere zur sozialen Teilhabe, wobei dieser als Ausweis fungiert, der – wie Bourdieu (1976: 143) es in seiner Analogie zwischen sozialem Feld und Spielfeld ausdrücken würde – eine Mitspielberechtigung darstellt. Weiter weisen die obigen Aussagen darauf hin, dass der persönliche Handlungsspielraum, die Möglichkeiten, im Leben etwas zu erreichen, sich über den Namen definieren. Insofern hängt sehr viel von einem intakten Namen ab; problematisch ist indessen, dass er sich über die Einschätzungen der anderen konstituiert – oder wie es mehrere meiner Gesprächspartner ausgedrückt haben: »Le nom vient de la bouche des autres«. Insofern bezeichnet der Name nicht den Wert einer Person, sondern nur das, was andere ihr an Wert zugestehen. Zwar bilden die Charaktereigenschaften eines Menschen, seine Lebensausrichtungen und seine Art, Beziehungen zu gestalten die Grundlage seines Namens, doch ist dies keinesfalls ausreichend. Weitaus entscheidender ist, wie andere seine inneren Qualitäten und sein von aussen beobachtbares Verhalten beurteilen. Es handelt sich beim Namen also nicht um eine menschliche Qualität, die jemand in sich trägt oder nicht, sondern vielmehr um Evaluationen des Umfeldes. Dementsprechend liegt die Gewichtung des Namens eindeutig auf dem Aspekt der äusseren Ehre, die sich im Gegensatz zur inneren Ehre, des eigenen Urteils über sich und sein Verhalten, formuliert. Diese Eigenschaft legt es nahe, dass der Name keine verbindliche oder stabile Grösse darstellt, sondern offen ist für alle denkbaren Formen der positiven wie negativen Manipulation und damit eine Quelle vielschichtiger Unsicherheit. Der Name ist also ein Produkt der Kommunikation, das heisst, seine Verfassung setzt sich aus den Worten anderer zusammen, welche im negativen Fall, wie die Befürchtungen HIV-positiver Personen zeigen, für die soziale Existenz bedrohlich werden können: Ce que la maladie nous fait, on connaît ça, mais ce que les gens vont dire à notre dos, ça peut tuer quelqu’un. C’est la parole des gens qui peut faire mourir une personne, alors que la maladie elle-même est là. Mais la maladie ne parle pas, la maladie ne dit rien. (w, 29 Jahre, 13.2.2005)

Wie in jeder oralen Kultur, so besitzen Worte auch in den Mandégesellschaften einen hohen Stellenwert, manchmal fast eine mystische Bedeutung. »Duniya ye baro ye« – die Welt ist aus Kommunikation, Unterhaltung gemacht – heisst es in einem Bamana Sprichwort, das auf die konstituierende Macht von Worten hinweist: Was man sagt, das ist. Es sind die Worte, welche die Welt kreieren, ihr Sinn und Bedeutung verleihen, sie aber auch zu zerstören oder zu bewahren vermögen. Nichts ist so handlungswirksam wie ein Wort, schreibt Amadou

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Hampâté Bâ (1993: 46), der malische Schriftsteller und Philosoph. In oralen Gesellschaften besteht eine direkte Verbindung zwischen Wort und Wirklichkeit und zwischen Wort und Handlung. Deshalb beinhaltet auch jeder Akt des Sprechens eine potentielle Gefahr und bedarf einer vorsichtigen Wahl von Worten.17 Sobald ein Wort ausgesprochen ist, wandelt es sich zu einem öffentlichen Gut und entwickelt dabei eine Eigendynamik, die sich der Kontrolle der Sprechenden entzieht.18 Diese Eigenschaft macht sowohl die Fragilität des Namens aus wie auch die oft angesprochene Angst HIV-positiver Personen vor Klatsch und kursierenden Gerüchten. Grundlage für die Beurteilung des Namens einer Person bilden in der Regel diejenigen Eigenschaften, welche dem guten Weg (sira nyuman) entsprechend das Konzept adamadenya umfasst (siehe dazu Kapitel 7.4.). Sie verbinden Kriterien harmonischen Zusammenlebens mit den Idealen der religiösen Lebensführung. Im Hinblick auf HIV/AIDS ist der Aspekt der Sexualehre besonders relevant, deren Bedingungen, wie bereits bei Iliffes (2005: 262f) historischem Ansatz erwähnt, sich in vielen Punkten weitgehend erhalten haben. Der Grund dafür, weshalb sich weibliche Ehrbegriffe noch heute vornehmlich nach männlichen Vorstellungen richten, liegt Iliffe (ebd: 263) zufolge darin, dass die Frauen selbst wie auch die Missionare und Kolonialherren zwar eine Veränderung anstrebten, dabei jedoch unterschiedliche Prioritäten setzten. Während sich afrikanische Frauen mehr Handlungsfreiheit erhofften, beabsichtigte das koloniale Regime, weibliche Ehre analog zu europäischen Vorstellungen über die Erfüllung der Hausfrauenrolle zu definieren. Diese Diskrepanz soll es den afrikanischen Männern erleichtert haben, ihre eigenen Ideen hinsichtlich weiblicher Ehre, fokussiert auf Fruchtbarkeit und Fleiss unter männlicher Dominanz, durchzusetzen. Selbst wenn die einzelnen Kriterien Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse darstellen und sich vielfach ambivalent formulieren, so existieren dennoch in der öffentlichen Meinung klar benennbare, moralische Vorstellungen darüber, was den Namen einer Frau respektive eines Mannes ausmacht, was ihn stärkt und erhält. In den Gesprächen wurde der normative Gehalt dieser Vorstellungen unterschiedlich stark betont; so formulierten die Teilnehmer an den Fokusgruppendiskussion wie auch HIV-positive Personen wesentlich strengere Kriterien als sie in Einzelinterviews zum Ausdruck kamen.

17 | Die Gefahr, die von Worten ausgehen kann, versinnbildlicht sich im schmalen oder manchmal auch gar nicht vorhandenen Mund der Bamana Skulpturen (siehe dazu: Brett-Smith in Freeman 2004: 166). 18 | Zur Genese des Wortes und seiner Wirkungen in den Mandékulturen siehe Cissé (1971: 148).

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Sexualität ist ein Bereich, der nicht nur von Seiten der Familie und der gesamten Gemeinschaft stark kontrolliert wird, sondern auch von jedem einzelnen Mitglied wird ein hohes Mass an Selbstkontrolle erwartet – von Frauen zudem auch die Bereitschaft, sich kontrollieren zu lassen. Entsprechend bezieht sich der Begriff femme libre nicht, wie man meinen möchte, auf eine freie oder emanzipierte Frau, sondern bezeichnet eine Prostituierte oder gelegentliche Geliebte und besitzt eine eindeutig negative Konnotation; in diesem Sinne verweist libre nur darauf, von niemandem kontrolliert, aber auch von niemandem geschützt zu werden (siehe dazu Vidal 1979; 1991). Aus männlicher Sicht ist es nicht vorstellbar, dass eine Frau, die keinen männlichen Schutz geniesst und keinen für sie verantwortlichen Ernährer zur Seite hat, weiterhin auf dem »guten Weg« bleibt. Schnell gerät sie in Verdacht, sich »herumzutreiben«, da der Grad an Selbstbeherrschung, den Männer für sich in Anspruch nehmen, Frauen nicht zugetraut wird. Aus diesem Grunde verlässt eine Frau, die etwas auf sich hält, das Haus nur mit dem Einverständnis ihres Ehemannes oder des Familienchefs und kehrt spätestens bei Einbruch der Dunkelheit zurück. Ihre Ehrbarkeit zeigt sich darin – so die Ansicht von vielen Männern, die auch des Öfteren von weiblicher Seite übernommen wird –, dass sie jederzeit kontrollierbar ist. Die Redewendung »Muso sigilen ye muso nyuman ye« (eine sitzende Frau ist eine gute Frau) widerspiegelt diese Auffassung – eine Frau, die zuhause sitzt, dort jederzeit anzutreffen ist, hat nichts zu verbergen und gilt deshalb als seriös und ehrenhaft (siehe dazu Le Palec 1999: 356). Das Gegenteil von ka sigi (sitzen) – im wörtlichen wie übertragenen Sinn – findet sich im Begriff ka yaala (spazieren gehen), dem im alltäglichen Gebrauch eine sexuelle Konnotation anhaftet und der soviel bedeutet wie »nach sexuellen Abenteuern Ausschau halten«.19 Dasselbe Verhalten, das Frauen zur Unehre gereicht, ist bei Männern nicht nur toleriert, sondern sogar wohl angesehen – unterliegt allerdings auch Einschränkungen. Es gehört zum guten Ruf eines jungen Mannes unter seinen Altersgenossen, die »informelle Polygamie« (Roth 1994: 157) zu pflegen und mehrere Freundinnen ausserhalb der Ehe zu unterhalten, so genannte deuxièmes, troisièmes etc. bureaux. Ein kamalenba20, der raffinierte Verführer, hat das Image eines dynamischen und aktiven Mannes und entspricht damit den Vorstellungen von Virilität. Als wenig ehrenwert hingegen gilt es, wie junge Männer in den Gruppengesprächen betonten, Prostituierte aufzusuchen – ein »richtiger« Mann sollte fähig sein, »normale« Frauen zu erobern. Als besonders niederträchtig und deshalb auch als besonders rufschädigend wird die Praxis 19 | Dieselbe Assoziation findet sich auch beim französischen Verb vagabonder (herumstreunen), das in Bamako eindeutig eine sexuelle Konnotation besitzt und übersetzt werden kann mit »wahllose sexuelle Beziehungen pflegen« (PNLS 2000: 4). 20 | Kamalenba heisst wörtlich »grosser Junge«; Bailleul (1996) übersetzt es mit: coureur, Don Juan.

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des fadento21 angesehen, das heisst, ein sexuelles Verhältnis mit der Frau eines nahe stehenden Mannes, eines Verwandten oder Nachbarn einzugehen. Möchte hingegen ein älterer Mann in der islamischen Glaubensgemeinschaft und damit auch in der Gesellschaft geachtet sein und eine entsprechende Position einnehmen, dann sollte er die religiösen Vorschriften, die Ehebruch verurteilen, respektieren. Während Frauen, die vor oder ausserhalb der Ehe sexuell aktiv sind, zumeist von beiden Geschlechtern als unseriös eingestuft werden, erhalten Männer, die das Gleiche tun, mehr Verständnis und die Bewertung hängt sehr vom jeweiligen Kontext und den beurteilenden Personen ab. Grundsätzlich streben Männer danach und sollten aus gesellschaftlicher Perspektive auch in der Lage sein, ihre sexuellen Beziehungen soweit zu kontrollieren, dass sie selbst nie zum Opfer derselben werden: »N’i sara mùso ko là, i sara i jo ko là« – ein Mann, der sich in Frauengeschichten verliert, verliert zugleich auch sein Ansehen. Doch solange die Fehltritte nicht beweisbar sind, solange ist auch der Name nicht gefährdet. Erst der Beweis einer HIV-Infektion verurteilt ein Verhalten, das sonst tolerierbar wäre: Mais normalement les hommes ne vont pas critiquer un tel comportement (l’adultère, N.S.) s’il y a pas la maladie, c’est une fierté pour les hommes de le faire. Pour l’exemple du voleur, tu es dans la belle voiture, dans des belles maisons, tu es bien habillé, tout le monde sait que tu es voleur, c’est une fierté pour toi d’être dans telle condition et personne ne dit rien. On va même dire que tu es malin, tu fais bien ton vol, mais le jour où tu seras attrapé, tout le monde va te lasser et ça serra la honte pour toi. Cela veut dire que quand on peut garder l’apparence et il y a rien derrière, ça c’est très bien. Mais si quelque chose se manifeste, il va lui-même avoir honte de lui, c’est pour cela qu’il se cache. Pour la même personne, il est physiquement, moralement et socialement rejeté. (w, 52 Jahre, 5.3.2007)

Das Kriterium der Beweisbarkeit nimmt entscheidenden Einfluss auf die Verfassung des Namens. Es ist nicht die Tat, die an sich als verwerflich, schändlich oder entehrend gilt, sondern erst die Kenntnis darüber und vor allem deren Beweisbarkeit versieht sie mit sozialer Abwertung. Solange es gelingt, den Schein der Konformität aufrecht zu halten, bleibt auch der Name intakt. Das Sprichwort »Sòn min ma ye, hòròn de ye« (der Dieb, der nicht erkannt wird, gilt als hòròn, als nobel – das heisst als ehrenwert und respektabel) illustriert sehr gut das am Schein orientierte Handeln, das zwischen den normativen Erwartungen 21 | Der Begriff fadento, meist im Zusammenhang mit dem Verb »manger« verwendet (»il a mangé le fadento«) bezieht sich etymologisch gesehen auf die von Rivalität gekennzeichnete Beziehung zwischen den Kindern der verschiedenen Frauen eines Vaters (faden, siehe Kapitel 7.4) wie auch auf die Mahlzeit to, einem malischen Hirsegericht.

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der Gesellschaft und dem konkret Gelebten zu vermitteln sucht.22 Besonders deutlich wird dies auch beim Kriterium »Jungfräulichkeit«. Zwar existiert in vielen Kreisen der Anspruch an junge Frauen, unberührt in die Ehe zu gehen, in der gelebten Realität hingegen hat Jungfräulichkeit längst eine andere Bedeutung erhalten: Actuellement être vierge c’est de se marier sans avoir d’enfants. La virginité maintenant on ne tient plus compte. La définition traditionnelle de la virginité, c’est de se marier sans connaître l’homme, mais la définition moderne c’est de ne pas avoir d’enfants avant ton mariage. 23 (w, 23 Jahre, 13.3.2007)

Insofern fungiert der Schein in Zeiten von durchgreifendem Wandel und schier unvereinbaren Ansprüchen als soziale Übereinkunft; sobald er aber durch unbestreitbare Tatsachen getrübt wird, ist auch die soziale Übereinkunft gebrochen. In diesem Sinne kann auch der Name als eine Form der Ehre verstanden werden, die auf Schein beruht – wichtig ist nicht unbedingt das, was ist, sondern vielmehr das, was den Anschein zu sein vorgibt. Dies gilt für HIV-Positivität genauso wie für uneheliche Schwangerschaften. Die oft einhellige Verteidigung der herkömmlichen Normen in den Gruppendiskussionen liesse sich dann als der Versuch beschreiben, zumindest auf diskursiver Ebene eine Ordnung aufrecht zu erhalten, die sich auf der Handlungsebene bereits in Auflösung befindet, die aber in unsicheren Zeiten dennoch Sicherheit vermittelt und eine Orientierungshilfe bietet. Bestenfalls ermöglichen gemeinsam verteidigte Beurteilungskriterien den Schein sozialer Harmonie und kultureller Identität.

14.3 N AMENSPRÜFUNGEN Keine Geheimhaltung kann so vollständig und umfassend sein, als dass sie nicht durch versehentliche Hinweise oder absichtliche Denunziationen gefährdet wäre. In dem Masse wie das Geheimnis durchlässig wird, ist auch der Name in seiner Unversehrtheit bedroht. In vielen mediterranen Gesellschaften folgt Ehre einem kodifizierten System und unterliegt, wie zum Beispiel bei den Beduinen, dem Grundsatz »alles oder nichts« – jemand besitzt Ehre oder nicht; es gibt keine 22 | Liv Haram (2005) beschreibt für die Meru im nördlichen Tansania ein ganz ähnliches Phänomen. Junge Leute richten ihr Verhalten nach einem normativen Prinzip aus, das ihnen ermöglicht – trotz strenger Vorschriften hinsichtlich Sexualität – ein breites Netz an sexuellen Beziehungen zu unterhalten. 23 | Die hohe Zahl an Abtreibungen, zu denen sich zumeist ledige Frauen gezwungen sehen und die in vielen Fällen tödlich enden, zeugen von der sozialen Relevanz der Norm (siehe Diabaté Diallo 2000).

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dazwischen liegenden Abstufungen (Stewart 1994: 123). Dies ist beim Namen nicht der Fall; Beschädigung muss nicht auch gleich Verlust bedeuten. Weil seine Substanz aus den Einschätzungen anderer besteht, eröffnen sich zwischen einem »guten Namen« (tògò nyuman) und einem »verdorbenen Namen« (tògò tyien) verschiedene Formen und Stadien, die von Vermutungen, Anspielungen oder rhetorischen Fallen gekennzeichnet sind, bevor es zu eindeutigen Ausschlusshandlungen kommt. Diese anfänglich subtilen Methoden der Infragestellung, die jedoch schnell eine gewisse Eigendynamik entfalten, sollen hier näher untersucht und vor allem aus der Sicht der davon Betroffenen dargestellt werden. Jedem Interesse des Verbergens steht immer auch eine Absicht der Enthüllung gegenüber: Der Name ist ein von der Gemeinschaft verliehener Ausweis, und insofern ist diese auch daran interessiert, ihn auf seine Gültigkeit hin zu überprüfen. Ist der Name, das symbolische Kapital einer bestimmten Person, noch kreditwürdig oder lassen sich die vagen Hinweise auf HIV-Positivität erhärten? Es geht darum zu entlarven, das verborgene »wahre« Antlitz zu enthüllen und damit die Widersprüche zwischen Sein und Schein aufzudecken. Personen, die sich solchen »Namensprüfungen« ausgesetzt sehen, erleben diese als zutiefst beunruhigend. Für sie besteht ein entscheidender Unterschied darin, ob sie mit den kursierenden Gerüchten direkt konfrontiert sind oder ob diese nur hinter ihrem Rücken ausgetauscht werden: Si je sors pour aller saluer mes parents, dans la rue les gens me saluent. Ils ne disent rien, mais je sais que si je tourne le dos, ils diront quelque chose. Personne ne m’a dit devant moi que j’ai la maladie. Les gens peuvent le dire derrière mon dos, mais personne ne me l’a dit en ma présence. (w, 29 Jahre, 25.8.2005)

Das erste Stadium einer Namensprüfung beginnt meist recht unauffällig und zeigt sich in allgemeinen, noch unadressierten Bemerkungen über AIDS und AIDS-Kranke. Diese Phase umschreiben HIV-positive Personen mit dem Verb ka bisigi, das übersetzt werden kann mit »vermuten« oder »unterstellen«. Ka bisigi ist, wie mir ein älterer Mann erklärte, geprägt von einem Vielleicht, das nach Bestätigung verlangt. Insofern beinhaltet das anfänglich harmlose Vielleicht immer auch eine Drohung. Weitere Nachfragen, die konkreter formuliert werden und denen schwer standzuhalten ist, weil die geforderten Gegenbeweise nicht erbracht werden können, werden folgen. Obwohl die veränderte Haltung des Umfeldes sich nicht unbedingt in Worten artikuliert, verunsichern bestimmte Blicke und Gesten – »ils me regardent avec un œil qui ne me plaît pas« – und diese nähren Fantasien, was die anderen unter sich wohl reden mögen: Les gens se disent: Eh bien! Pour celle-là, c’est fini. Il paraît qu’elle a le sida. Il ne faut plus jamais te confondre avec elle. Les gens se disent ça entre eux. Ça ne se dit pas devant nous. (w, ca. 30 Jahre, 7.2.2005)

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Andererseits, so räumt eine ältere Frau ein, ist auch vorstellbar, dass die Sensibilität und die permanente Sorge um den eigenen Namen besonders hellhörig machen und manche harmlosen Gesten mit einem Sinn versehen, den sie gar nicht haben wollen:24 C’est comme toute personne qui vit avec le VIH; chaque personne qui te regarde, tu te dis que c’est parce que je suis positive ou que la personne connaît mon statut qu’elle est en train de me regarder. C’est mon interprétation même qui joue. (w, 51 Jahre, 16.11.2006)

In einem zweiten Stadium sind die Bemerkungen konkreter. Sie äussern sich über die Kommunikationsform ka kòròmatigè (anspielen, kritisieren). Obschon es sich dabei nicht unbedingt um direkte Anspielungen, sondern vielmehr um unbestimmte und vage Andeutungen handelt, versteht die Zielperson meist den Hinweis – sei es dass der Hit von Babani Koné »Sidabana bè yan« (AIDS ist hier) angestimmt oder ein mageres, vorbei rennendes Huhn als sidéenne bezeichnet wird. »On lance la flèche, mais on l’adresse pas directement, mais tu sais que ce mot là est pour toi« – das heisst die eigentliche Aussage wird in eine andere Form verpackt, um so eine direkte Beschuldigung, die extrem unhöflich wäre, zu umgehen. Dennoch ist der gemeinte Gehalt für alle Anwesenden klar erkennbar. Solche Mehrdeutigkeiten zeugen von kommunikativer Eleganz, schützen gleichzeitig aber auch den Sprechenden, da ihm keine Respektlosigkeit nachzuweisen ist. Für Aussenstehende, denen diese Technik fremd ist, kann das Gespräch durchaus freundschaftlich erscheinen, sogar so, als wäre der Sprecher um das Wohl der in Frage stehenden Person besorgt. Für Eingeweihte jedoch ist die Provokation offensichtlich: Ihr Interesse richtet sich nur darauf, wie raffiniert der Angriff pariert wird. Ziemlich eindeutig und für Betroffene alarmierend ist das dritte Stadium. Es verweist darauf, dass sich die Gerüchte bereits verfestigt haben und nur noch der Bestätigung durch den Betroffenen bedürfen. Diese Methode bezeichnet einer meiner Gesprächspartner als »Fallen stellen« (piéger). Er selbst sieht sich dieser Art von Fragen, die zwar indirekt gestellt, aber direkt adressiert sind und nach Antwort verlangen, häufig ausgesetzt. Die Erkundigungen der Anderen nach der Todesursache seiner Frau, so seine Einschätzung, zielen nur darauf ab, endlich das Wort »AIDS« aus seinem Mund zu hören und damit auch das Eingeständnis seiner eigenen Infektion zu erhalten. Eine ähnliche Erfahrung beschreibt eine Frau, nachdem ihr Mann an AIDS verstorben ist:

24 | Die Problematik, inwieweit die Angst vor Stigmatisierung auf Einbildung beruht oder einer wirklichen Stigmabereitschaft in der Gesellschaft entspricht, untersucht die Arbeit von Green (1995) in Schottland.

T EIL 3: S OZIALE V ULNERABILITÄT Ils ont commencé à me poser de questions, il y a des gens qui m’ont posé des questions bêtes. Et souvent les paroles me mangeaient (kuma bè n’dun – die Worte kamen ohne meinen Willen aus meinem Mund), souvent je sentais que la parole m’allait attrapé. Ils m’ont agressé, c’est pour entendre de ma bouche que je suis séropositive. Bizarre, je ne savais pas répondre à ces questions, raison pour laquelle je me suis tu. On me demande si je connais quelqu’un personnellement qui a le sida? Un jour un frère a dit: Je veux voir quelqu’un dont son mari est décédé de VIH, mais elle vit encore – est-ce que c’est possible? Et directement une fois il me dit, est-ce que tu as vu quelqu’un qui a le VIH? Tu peux me montrer quelqu’un qui a le VIH? Ils veulent me provoquer que moi-même je le dis! Mais je dis: ›Ah, moi-même je n’ai jamais vu quelqu’un qui a le VIH‹ … Les gens sont en train de dire ça … et c’est dur! Je sais, on me taquine, mais c’est très sérieux. Souvent je sens le besoin de dire: Oui moi, je suis séropositive, mais souvent je ne sais pas…. Il y a toujours quelque chose qui me retire dans mon cœur, il ne faut pas dire ce qu’ils veulent entendre. J’évite ça, je clos les causeries. C’est sérieux. (w, 37 Jahre, 17.2.2008)

Die Beispiele zeigen, dass es der beurteilenden Person in erster Linie darum geht, ob sich bestimmte Vermutungen beweisen lassen. Das heisst, im Namen, der für soziales Vertrauen steht, lauert immer auch Misstrauen – bedingt durch seine Konstitution ist er äusserst fragil und leicht angreifbar. Erst wenn die betreffende Person dazu gebracht werden kann, ihre »Schuld« selbst einzugestehen oder sich anderweitige Bestätigungen dafür finden lassen, werden aus Gerüchten Tatsachen und man ist berechtigt, sich zu distanzieren. Diese Form der Überprüfung, die sich nicht mit vagen Aussagen zufrieden gibt, sondern in gewisser Weise »quellenkritisch« vorgeht und nach dem Gehalt von Gerüchten fragt, bevor eindeutige Ausgrenzungshandlungen vorgenommen werden, macht den Eindruck einer koordinierten Vorgehensweise. Als ich Zweifel an solcher Art von Absprachen äusserte, wurde mir erklärt, dass es doch gerade bei Anfechtungen wie HIV/AIDS wichtig sei festzustellen, ob sich dahinter nur Verleumdungen oder Fakten verbergen. Ich habe hier versucht, verschiedene Stadien von Namensbeschädigungen idealtypisch aufzuzeigen, die alle mit Respektverlust verbunden sind. In Realität sind sie natürlich niemals so klar voneinander trennbar. Ausserdem, und dies sollte nicht vergessen werden, bemisst sich der soziale Wert einer Person bei Weitem nicht allein über das Kriterium »Seropositivität«. Vielmehr fliessen auch ganz andere Aspekte wie zum Beispiel soziale Kompetenz, religiöse Gesinnung, gesellschaftliche Position und nicht zuletzt auch ökonomische Kriterien in die Beurteilungen mit ein. Und schliesslich gewinnt der Name mit zunehmendem Alter auch eine gewisse Stabilität wie das Beispiel von Habi (52 Jahre) verdeutlicht. Seit ihrer témoignage im Fernsehen ist ihre Seropositivität rundum bekannt und auch sie selbst macht in ihrem Alltag keinen Hehl, da sie sich als »leader«, als eine AIDS-Aktivistin, begreift. Wenn die Kinder in der Schule über AIDS sprechen, schickt man sie mit ihren Fragen zu Habi; wenn

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Kranke Trost bedürfen, wird Habi gerufen – sie war bereits vor ihrer Krankheit eine für ihre Hilfsbereitschaft geschätzte Person im Quartier, ihr Mann ein angesehener Marabout25 und deshalb, so denkt Habi, ist es auch jetzt nicht möglich, sie respektlos zu behandeln. Zwar weiss sie nicht, wie die Leute hinter ihrem Rücken reden, doch sie weiss, dass niemand es wagen wird, sie direkt auszugrenzen.

14.4 D ER » VERDORBENE « N AME Wenn sich das Geheimnis um die Seropositivität einer Person zunehmend lüftet, dann ist ihr Name gravierend beschädigt oder wie man in Mali sagt: »verdorben« (tògò tyien). Oumar, der Student der Wirtschaftswissenschaften, schildert die Konsequenzen eines verdorbenen Namens zwar nicht aus eigenen Erfahrungen, dennoch machen seine Aussagen deutlich, wie umfassend sie sich auswirken können: Les relations avec les gens de l’extérieur peuvent se détériorer, tes amis peuvent rompre complètement avec toi. [...] Ça joue aussi sur les moyens financiers. Les gens auront du mal à t’accepter. Si ton nom est gâté, ça peux te tuer socialement et là tu peux plus te tenir et combattre la maladie; la morale est totalement bas. Le social est très important, dans toutes les relations. Le social est quelque chose qui dépasse tout. Si tu es mal apprécié socialement, tu ne peux rien faire. Un homme ne peut rien faire seul, il faut être accepté, apprécié dans ta société pour pouvoir mettre en valeur tes projets, sans le côté social, l’homme seul n’est rien et ne peut rien faire. (m, 29 Jahre, 20.11.2006)

Ein verdorbener Name, sozusagen das negative symbolische Kapital, wird hier wie in vielen anderen Beschreibungen ebenfalls mit sozialem Tod gleichgesetzt. Dessen Kern bildet der Verlust des sozialen Kapitals (les relations avec les gens de l’extérieur), der sich sowohl auf das ökonomische Kapital (les moyens financiers) wie auch auf die emotionale Befindlichkeit (la morale basse) auswirkt. Nun wird in theoretischen Überlegungen zu symbolischem Kapital öfters die Frage diskutiert, inwieweit diese Form von Kapital eine gewisse Eigenständigkeit besitzt oder ob es sich dabei nur um eine Begleiterscheinung anderer Kapitalarten handelt (siehe dazu Schwingel 1993; Vogt 1997: 145).26 Bourdieus Ausführungen 25 | Als Marabout wird in Mali ein im islamischen Glauben verankerter religiöser Führer bezeichnet, der sich oftmals auch als Heiler oder Wahrsager betätigt. 26 | Im Rahmen seiner theoretischen Analyse von materiellen und symbolischen Konkurrenzkämpfen kommt Markus Schwingel (1993: 102, 109) zum Schluss, dass symbolisches Kapital, in seiner positiven Form, über eine »relative Autonomie« verfügt und es im Vergleich mit materiellen Kräften einer eigenen, symbolischen Logik gehorcht.

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bleiben dazu sehr unbestimmt und konzentrieren sich in erster Linie auf die Logik des symbolischen Kapitals – das heisst, sie beziehen sich vor allem auf Prozesse, welche symbolisches Kapital generieren (siehe u.a. Bourdieu 1976). Dabei fungiert selbiges zugleich als Produkt bestehender wie auch als Quelle zukünftiger Kapitalsorten. Im Kontext von HIV hingegen geht es um Prozesse, die symbolisches Kapital zerstören oder angreifen. Der Verlust dieser Kapitalsorte wirkt sich, wie von Oumar dargestellt, zugleich in zwei Richtungen aus: Er beschädigt sowohl das bestehende soziale Kapital, schränkt gleichzeitig aber auch die Chancen, soziales respektive ökonomisches Kapital zu gewinnen, erheblich ein. Dementsprechend unterscheiden sich Prozesse des Aufbaus in struktureller Hinsicht von denjenigen der Zerstörung symbolischen Kapitals. Während es in seiner positiven Form als ein »Beiprodukt« aller anderen Kapitalarten fungiert – und deswegen auch nicht als eine »besondere Art von Kapital« (Bourdieu 2001: 311) gilt – entwickelt es in seiner negativen Ausprägung explizit eigene und durchaus autonome Qualitäten. Im Falle von HIV wird diese Eigenheit besonders deutlich, da negatives symbolisches Kapital nicht alle Kapitalsorten angreift, sondern sich zunächst nur gegen eine einzige, gegen das soziale Kapital, richtet. Menschen in prekären Verhältnissen trifft dies in weit existentiellerem Masse als solche in besser gestellten Situationen. Ohne ein tragfähiges soziales Netz, das den Austausch von Gefälligkeiten, Informationen, Geschenken oder bei Bedarf auch finanzielle Hilfe ermöglicht, sind Notsituationen in Bamako kaum zu überbrücken (siehe dazu auch Vaa et al. 1989; Vuarin 2000). Obwohl es für die Gesprächspartnerinnen sehr schwierig ist, symbolisches Kapital in Worte zu fassen, gibt es in Bamanakan Umschreibungen, in welchen sich die eben angesprochenen, unterschiedlich gearteten Prozesse des Aufbaus und der Zerstörung widerspiegeln. In seiner positiven Form scheint es als eine Selbstverständlichkeit zu gelten; nie habe ich gehört, dass von jemandem gesagt wurde, er oder sie besässe einen guten Namen. Soziale Wertschätzung wird zumeist mit der Redewendung mògò sèbèn don (er oder sie ist ein ernsthafter, seriöser, vertrauenswürdiger Mensch) oder mit adamadenya b’a la (er oder sie ist soziabel; siehe dazu Kapitel 7.4.) umschrieben. Im Gegensatz dazu existiert eine reiche Auswahl an bildhaften Begriffen, mit denen soziale Missachtung ausgedrückt wird. Ihre starke Metaphorik warnt davor, jemals in diese Kategorie zu fallen: Jemand, dessen Name verdorben ist, gilt als gestorben (a banna), leer (mògò lankolon), als ein Mensch ohne Bedeutung (mògò fu) oder weitaus schlimmer: er kann im eigentlichen Sinne gar nicht mehr als Mensch bezeichnet werden (mògò tè), denn ihm fehlt das, was Menschen gemeinhin ausmacht: Soziabilität. So erntete ein älterer Mann im Rahmen einer Fokusgruppendiskussion grosse Zustimmung (und auch Heiterkeit) als er dazu fügte, dass jemand mit einem verdorbenen Namen nicht nur gestorben, sondern bereits begraben sei. All diese diskriminierenden Konnotationen stehen HIV-positiven Personen eindringlich vor Augen, wenn sie um ihren Namen fürchten. Besonders bedroh-

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lich ist dabei die Vorstellung, aktiv und absichtlich ausgegrenzt zu werden. Der Begriff ka denkèrè fè (zur Seite stellen) beschreibt diesen Vorgang der Isolierung: Si on te fait ka denkèrè fè, ça veut dire que tu restes seul. Personne ne cause avec toi et ce sont les mauvaises idées qui te viennent en tête. Les gens ne te disent rien; même ce qui te concerne, on ne te le dit pas. Tu deviens une personne sans importance, c’est comme si tu n’existes plus pour les autres. (m, 41 Jahre, 22.1.2007)

An wichtigen Entscheidungen nicht mehr beteiligt zu sein, nicht mehr gefragt zu werden, ist gleichbedeutend mit dem Verlust von Einflussnahme und Macht, selbst wenn dies nicht unbedingt mit physischer Isolation einher gehen muss (siehe dazu Gérard 1997: 226). Doch umso deprimierender und erniedrigender ist es für Menschen, deren Lebenssinn darauf ausgerichtet ist, Beziehungen zu pflegen und mit anderem in dauerndem Kontakt zu sein, von kollektiven Aktivitäten ausgespart zu werden, nicht mehr mit anderen kochen, essen, scherzen und vor allem sich bereden zu können. Denn niemand zieht sich freiwillig zurück; allein sein heisst ausgeschlossen sein, verbannt sein oder verrückt sein: Il faut le répéter avec force: les cultures maliennes privilégient avant toute autre chose l’environnement humain d’un individu: l’important c’est les autres, l’important c’est, autour de soi, ce grouillement de rires, de paroles, de cris, de salutations, d’affection, de relations, ce grouillement de vie qui protège du silence et de la solitude. Rien n’est plus triste qu’être seul. (Dumestre 2006: 118)

In der Natur der Sache liegt es, dass meine Gesprächspartner nicht wirklich wissen, wie es um ihren Namen steht, sondern dies nur anhand bestimmter Zeichen vermuten können. Eine Ausnahme ist Oumou. Sie ist auf sehr drastische Weise mit den Meinungen ihres Umfeldes konfrontiert worden und hat am eigenen Leib erlebt, was es heisst, einen verdorbenen Namen zu haben – eine Erfahrung, die bei vielen anderen auf die Vorstellungswelt begrenzt bleibt. Bei einer Taufzeremonie in ihrem Nachbarshaus bleibt Oumou, kurz nachdem sie eingetreten ist, alleine stehen: Je l’ai senti parce que les regards ont changés. [...] Tout le monde me fixe. Je vois que les gens me regardent avec des intensions qui n’étaient pas comme ça auparavant. J’ai compris tout de suite, ils savent quelque chose. Entre eux, ils ont commencé à parler. Je me sentais humiliée et ça me faisait mal. On dirait que j’étais seule. Alors je suis rentrée dans ma maison … je me sentais tellement humiliée … je ne sais pas comment dire ce mot là … tu n’as plus de dignité, tu n’est plus utile, tu ne peux rien gérer, tu peux rien faire, c’est comme si … tu te sens … je ne sais pas … (37 Jahre, 17.2.2008)

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Oumous Worte reichen nicht aus, um die Empfindungen auszudrücken, welche die öffentlich zugefügte Schande bei ihr auslöst. Diese emotionale Situation, die eng mit körperlichen Befindlichkeiten zusammenhängt, will ich im nächsten Abschnitt untersuchen.

14.5 S CHANDE ALS F OLGE DES BESCHÄDIGTEN N AMENS HIV/AIDS gilt in Mali als eine »maladie honteuse« – als eine mit Schande behaftete Krankheit, da sie in der gesellschaftlichen Wahrnehmung mit Promiskuität und Prostitution assoziiert ist. Insofern bewirkt der Verlust des Namens neben den Erfahrungen sozialer Ausgrenzung und ökonomischer Einbussen vor allem auch Schande. Genauso wie bei Ehre handelt es sich bei Schande ebenfalls um ein relationales Konzept, das eine objektive und eine subjektive Komponente beinhaltet. Die beiden unterschiedlichen Aspekte – die äussere Zuweisung und die dadurch ausgelöste innere Empfindung – werden in Deutsch als Schande und Scham unterschieden, sind in anderen Sprachen jedoch oft durch einen einzigen Begriff abgedeckt. Auch in Bamanakan umfasst der Ausdruck màloya (oder màlo)27 sowohl den Aspekt der Empfindung wie denjenigen der öffentlichen Entehrung. Als eine durch die Sozialisation einverleibte Disposition nimmt maloya eine zentrale Stellung in den Mandégesellschaften ein: »La pensée sociale est dominée par maloya« (w, 51 Jahre, 5.3. 2007).28 Dementsprechend ist die Entwicklung von maloya ein vorrangiges Erziehungsziel, denn Sinn für Schande zu haben bedeutet diskret und respektvoll zu sein, seinen Platz im gesellschaftlichen Gefüge zu kennen, kein lautes oder aufdringliches Gehabe zu zeigen und auf keinen Fall Dinge zu sagen oder zu tun, die das eigene Bild in den Augen anderer trüben könnten. Überall, wo maloya nicht gepflegt wird, so heisst es, kann es weder Respekt, Skrupel noch Zurückhaltung geben (Doumbia 2001: 175f). So ist 27 | Bailleuil (1996) übersetzt die beiden Begriffe mit: honte, pudeur, avoir honte, être gêné. Nur über die Verwendung des Wortes innerhalb des Satzzusammenhanges lässt sich eruieren, ob es sich dabei um Fremd- oder um Eigenwahrnehmung handelt. 28 | In der Literatur wird das Konzept maloya zwar nie explizit behandelt, taucht jedoch in einigen Darstellungen als Erklärung für bestimmte strukturelle Bedingungen oder Handlungen auf. So bezeichnet Grosz-Ngaté (1989: 170f) maloya als den fundamentalsten Aspekt der Personwerdung (personhood). Ihrer Ansicht nach beruht das hierarchische Verhältnis zwischen Männern und Frauen auf der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Entwicklung des Schamgefühls. In Vuarins Untersuchung (2000; 2003) wiederum liefert der Ehrenkodex die normative Referenz für sämtliche Handlungen, die zur sozialen Sicherung beitragen, sei dies nun in seinem positiven Ausdruck als Pflichterfüllung oder im negativen als Schande.

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maloya auch die treibende Kraft der gesamten Ehrendialektik – nur mit einem ausgeprägten Sinn für Schande lässt sich Entehrung verhindern.29 Ein feines Empfinden für Schande galt früher als gesellschaftliches Unterscheidungskriterium und war allein dem Stand der Aristokratie vorbehalten. Sklaven hingegen, immer aus der Sicht der Aristokratie gesehen, waren dafür bekannt, keine Scham zu kennen, sich so vulgär zu verhalten, dass sie oft als malobaly (ohne Scham) angesprochen wurden.30 Angehörige der hòrònya hingegen begründeten ihre gesellschaftlich hohe Stellung unter anderem mit ihrem speziell feinen Sensorium für Schande sowie dem daraus resultierenden Benehmen, das ihnen Anrecht auf besondere Respektsbezeugungen gibt (Olivier de Sardan 1984: 35; Grosz-Ngaté 1989: 170). In der Redeweise »Sa ka fisa ni malo ye« – der Tod ist besser als Schande – manifestiert sich der ganze Stolz und Ehranspruch der horonya – allerdings habe ich dieses Zitat auch häufig im Kontext von HIV/AIDS vernommen, um die unerträgliche Schande, welche die Krankheit auslöst, zu veranschaulichen. Die beiden Komponenten von maloya, die Erfahrung von Schande und von Scham, sind zumeist eng miteinander verknüpft, wie die folgende Passage verdeutlicht: Si tu as le virus du sida dans le corps, ça fait très honte. Ce n’est pas la même chose que les autres maladies. Mais comme personne ne le sait, alors je n’éprouve pas de honte. Je pouvais avoir honte si les gens le savent, mais comme ils ne le savent pas encore, je n’ai donc pas honte. (m, 32 Jahre, 29.7.2004)

Scham, so wird hier erkennbar, tritt als Empfindung nur in Verbindung mit Schande auf. Das heisst die Krankheit ist nur dann entehrend, wenn andere davon wissen, und auch nur dann löst sie Scham aus.31 Deshalb sind HIV-positive Personen 29 | In diesem Sinne erinnert das Konzept stark an Schopenhauers (1988: 359) prägnante Sentenz: »Die Ehre ist, objektiv, die Meinung Anderer von unserm Werth, und subjektiv, unsere Furcht vor dieser Meinung« – auch hier ist es die Furcht vor Schande, die zu ehrenvollem Verhalten anspornt. 30 | Iliffe (2005: 119f) zeigt in seiner historisch angelegten Untersuchung, dass nicht nur in der Elite, sondern in allen sozialen Gruppen bestimmte Ehransprüche vorhanden waren. Der üblicherweise den Sklaven abgesprochenen Sinn für Schande gibt nur die Perspektive ihrer Meister wider, denn Sklaven untereinander pflegten durchaus ein spezifisches, an eigenen Kriterien orientiertes Ehrverhalten. 31 | Ausgehend von einer ähnlichen Beobachtung in der japanischen Gesellschaft, entwirft Ruth Benedict (1969: 156f) im Vergleich mit der US-amerikanischen Gesellschaft die Unterscheidung zwischen Scham- und Schuldkulturen. Dieselbe Kategorisierung nimmt auch der Altphilologe Eric Dodds (1970: 20, 24) hinsichtlich der »homerischen Schamkultur« und der »Schuldkultur der klassischen Zeit« Griechenlands vor.

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auch so darauf bedacht, ihre Krankheit geheim zu halten und sich so vor Schande zu schützen (»sécuriser la honte«). Bei näherer Betrachtung zeigt es sich jedoch, dass der Zusammenhang zwischen Schande und Scham je nach Geschlecht unterschiedlich eng gesehen wird. Während Männer der Tendenz nach keine Scham hinsichtlich ihrer Krankheit empfinden, solange niemand informiert ist, in diesem Sinne die Empfindung von Scham eng an die Erfahrung von Schande gebunden ist, bekunden Frauen eher eine auf sich selbst und ihr eigenes Verhalten bezogene Erklärung. Exemplarisch hierzu ist die Aussage einer jungen Frau, die selbst ein reines Gewissen hat und deshalb auch keine Scham empfindet: Quand on m’a dit que je suis positive, j’ai eu un peu honte, mais après s’est passé, car je sais que je ne connais que mon mari. J’ai rien à me reprocher. (w, 23 Jahre, 13.7.2004)

Eine Teilnehmerin war sogar der Ansicht, dass sich Schamgefühle nicht mit dem von Gott gegebenen Schicksal vereinbaren lassen: Je ne peux pas avoir honte de cette maladie, parce qu’on ne peut pas échapper à son destin. Dieu a fait que cette maladie soit ma chance dans la vie. Je ne dois donc pas en avoir honte. (w, 20 Jahre, 29.7.2004)

Diese geschlechtsspezifisch unterschiedlichen, an aussen oder innen orientierten Begründungen für das Fehlen von Scham, zeigen sich in ähnlicher Weise bei Schamempfindungen. Speziell mit dieser Emotion belastet ist für Frauen die Vorstellung oder auch die tatsächlich erlebte Situation, dass Angehörige – die eigene Mutter oder ihre Kinder – etwas wissen oder ahnen könnten. Männer hingegen vertreten hier eher die Ansicht, dass Scham in der eigenen Familie nicht angebracht wäre, vor allem dann nicht, wenn sie ihrer Rolle als chef de famille nachkommen. Sie sind hauptsächlich darauf bedacht, ihr Gesicht nach Kennzeichnend für beide Darstellungen ist, dass Schuldkulturen den Anderen als Richter über Fehlverhalten internalisiert haben; insofern sind ihre Mitglieder, selbst wenn das Vergehen unerkannt bleibt, durch schlechtes Gewissen gequält. In Schamkulturen hingegen ist der Blick der Anderen entscheidend; hier werden Normverletzungen durch Techniken der Beschämung sanktioniert. In seiner Kritik an dieser essentialistisch anmutenden Trennung zwischen Scham- und Schuldkulturen macht Sighard Neckel (1991: 47f) darauf aufmerksam, dass Scham eine menschliche Grunderfahrung darstelle und deshalb in beiden Gesellschaften anzutreffen sei. Aus einer ganz anderen Perspektive untersucht Norbert Elias (1978) Schamempfindungen; er begreift diese als Resultate eines historisch bedingten Lernprozesses. In der fortschreitenden Zivilisierung des Menschen internalisieren sich Fremdzwänge zunehmend zu Selbstzwängen, wobei Schamgrenzen weiter vorrücken und sich Scham als »Angst vor sozialer Degradierung« (ebd: 397) vermehrt einstellt.

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aussen hin zu wahren und schämen sich dementsprechend seltener im Kreis der eigenen Familie. Diese unterschiedlich gelagerten Schamempfindungen könnten tatsächlich darauf hinweisen, wie Iliffe (2005) dies an etlichen anderen Beispielen ausführt, dass einzelne Elemente des herkömmlichen Ehr- und Schandeverständnisses in der Männerwelt eher überlebt haben. Schande verstanden als ein sozialer Sanktionsmechanismus braucht Inszenierungen vor einem Publikum: Quand les gens sont au courant de ta maladie, ils disent des choses devant des gens qui te respectent et devant qui tu as honte. Si tu entends ces paroles-là, ça te fait honte et ça te donne aussi beaucoup à réfléchir. (w, 20 Jahre, 29.7.2004)

In der Begegnung mit einer einzigen Person respektlos behandelt zu werden oder von ihr alleine stehen gelassen zu werden, ist zwar beleidigend, doch noch keine Schande. Erst die Gegenwart mehrerer anderer – eben »devant des gens« – macht aus einer persönlichen Missbilligung ein soziales Tribunal. Im Gegensatz zu den Worten, die »hinter dem Rücken« der entsprechenden Person geäussert werden, welche den Namen angreifen, ihn aber nicht völlig vernichten, stehen jetzt Worte, die direkt ins Gesicht treffen. Die Bemerkungen oder Fragen fallen nun ganz unverblümt; der Affront liegt jetzt vielmehr darin, vorgeführt, lächerlich gemacht zu werden – oder anders gesagt: bei den eigenen Namensverhandlungen anwesend zu sein und miterleben zu müssen, wie der Respekt als Schutz der persönlichen Integrität zerfällt. Simmel (1992: 396) bezeichnet Ehre als eine ideelle Sphäre, die jeden Menschen umgibt und in welche man nicht eintreten kann, ohne den Persönlichkeitswert des Individuums zu zerstören. Ein verdorbener Name jedoch bewirkt, dass dieser soziale »Schutzraum« schwindet und sich die betreffende Person den Übergriffen wehrlos ausgeliefert sieht. Die Erfahrung solcher Blossstellungen – sei es im Beisein anderer wie Luft behandelt zu werden oder verbale Attacken ertragen zu müssen – bewirkt ein Gefühl der Demütigung und Erniedrigung, das sich auch körperlich manifestiert. Der Kopf als Zentrum des Selbstbewusstseins wird zum Ort der Scham und der Schande: »la tête basse« – anderen nicht in die Augen blicken oder den Kopf nicht mehr aufrecht tragen zu können – ist bezeichnend für die körperlichen Befindlichkeiten, die sich durch Entehrung einstellen (siehe dazu auch Pitt-Rivers 1966: 25; Neckel 1991: 67). Dies beschreibt auch ein Gesprächspartner, der – wie er stets betont – aus nobler Familie stammt und eine mittlere Position in der Armee einnimmt und aus diesen Gründen Scham als besonders demütigend erlebt. Aus einer kurzen Bemerkung seiner Tante entnimmt er, dass – obwohl nie in seiner Anwesenheit darüber gesprochen wird – die Mehrheit der erweiterten Familie über seine Krankheit informiert ist. Dies erfüllt ihn mit brennender Scham: »Maintenant quand je rentre dans la grande famille, ma tête est gonflée de honte.«

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In vielen Fällen vergrössert sich die Schmach, weil Schande mit der Zuweisung von Schuld einhergeht. Dies zeigt sich bei HIV besonders deutlich. Genauso wie der intakte Name Ausdruck eigenverantwortlichen Verhaltens ist (siehe dazu: Cissé 1999: 53f), so trägt man auch an der Krankheit, laut der allgemeinen Meinung, selbst Schuld. Und damit befindet sich maloya im Zentrum der Ehrendynamik, denn auf diese emotional äusserst demütigende und entwürdigende Erfahrung richten sich die meisten Befürchtungen HIV-positiver Personen.

14.6 E NTEHRUNG UND IHRE SOZIALE Ü BERTR AGBARKEIT Als sie mit hohem Fieber darnieder lagen, als ihr Körper von offenen Wunden gezeichnet war und sie kaum Nahrung bei sich behalten konnten, haben viele von meinen Gesprächspartnerinnen erlebt, dass sich die Menschen aus ihrem nächsten Umfeld von ihnen zurückgezogen haben. Heute jedoch, mit dem Einsatz von antiretroviralen Therapien, haben sich die Motive, die solchen Distanzierungen zugrunde liegen, verändert: Es ist nicht mehr die Angst vor körperlicher, sondern vielmehr vor sozialer Ansteckung, die zum Ausschluss führt. Als ich Oumou frage, weshalb sich die Leute bei der Taufe so einmütig von ihr abgewandt hätten, erklärt sie: Moi, je peux dire, les gens se sont retirés de moi, ce n’est pas par peur que je peux les infecter – en causant avec moi, je vais t’infecter? Ils savent que ce n’est pas possible. Mais ils croient que je ne suis plus utile et que je représente un danger pour leur famille. N.S.: Un danger? Oui, c’est ça. Chez nous, on dit si tu as le sida, tu es une prostituée, tu as une mauvaise moralité. Les gens ne veulent même pas me voir parce que quelqu’un d’autre qui va passer et nous voit, va demander: Qu’est-ce que tu fais avec celle-là? Elle a le sida et tu causes avec elle? (37 Jahre, 17.2.2008)

Entehrung kann sich also einem »Tintenfleck« gleich ausbreiten und auch auf all diejenigen abfärben, die mit der fraglichen Person in Kontakt stehen (Leopold 1913: 43). Natürlich sind Familienmitglieder als besonders Nahestehende in speziellem Masse davon betroffen. Diese Form der Stigmaübertragung behandelt Goffman (1963: 43, 64) unter dem Gesichtspunkt des »Miteinanderseins«; in der neueren Literatur, gerade im Falle von HIV/AIDS, wird sie als secondary stigma (Brown et al. 2003: 51) oder family stigma (Kittikorn et al. 2006: 1292) bezeichnet.32 32 | Im Zusammenhang mit Schizophrenie und AIDS in China machen Lawrence Hsin Yang und Arthur Kleinman (2008) eine ganz ähnliche Beobachtung. Auch hier bedroht

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Auch im malischen Kontext beschädigt ein verdorbener Name das Ansehen der gesamten Familie (siehe dazu auch Dumestre 1998: 22; Le Palec 2003: 101; Diallo 2004: 187): Quand ton nom est gâté, tu te détruis, ta vie est détruite, celle de ta famille, de tes enfants, de tes proches, de toutes tes connaissances qui sont gênées par le fait que ton nom est gâté. (m, 60 Jahre alt, 31.1.2007)

Nun werden Familienmitglieder in der Literatur meist als Opfer dargestellt – als Personen, welche die gesellschaftliche Verurteilung sozusagen unverschuldet, rein aus Gründen der Sippenhaft trifft. Ich möchte hier eine etwas andere Perspektive beleuchten, und zwar diejenige von HIV-positiven Personen. Sie zeigt, welche Risiken von Angehörigen ausgehen können. Denn im Prozess der öffentlichen Namensverhandlungen besetzen sie eine zentrale Position, und oftmals hängt es allein an ihren Aussagen, ob der Name von Betroffenen geschützt bleibt oder beschädigt wird. Mit dem Einsatz der neuen Therapien ist die Krankheit unsichtbar geworden und damit hat auch die »Beweislage« an Eindeutigkeit verloren – Informationen von Nahestehenden ersetzen nun die mit AIDS assoziierten Zeichen von damals. Da diese Aussagen aus zuverlässigen Quellen stammen, sind sie in der Lage, kursierende Vermutungen zu bestätigen, zu entkräften, aber auch neue in die Welt zu setzen. In diesem Sinne erhalten Angehörige eine nicht zu unterschätzende Machtposition. Es liegt nun in entscheidendem Masse bei ihnen, ob sie das Familienmitglied schützen oder seine Seropositivität für eigene Interessen instrumentalisieren wollen: Ein AIDS-Gerücht gilt immer als ein guter Vorwand, um sich von lästigen Unterhaltspflichten zu befreien oder auch um anderweitige familieninterne Konflikte zu eigenen Gunsten zu regeln. Nach meinen Einsichten befanden sich die Personen, die auf diese Weise aus dem Haushalt ausgeschlossen wurden, in einem zum Teil länger andauernden »Besucherstatus«. Wirklich nahe Familienmitglieder werden von ihren Angehörigen kaum in dieser einhelligen Art diskreditiert – dies allein schon aus Rücksicht auf das Ansehen der Familie. Trotzdem kommt es häufig vor, dass die verschiedenen Mitglieder widersprüchliche Informationen in die Welt setdas Leiden nicht nur die erkrankte Person alleine, sondern der Gesichtsverlust kann sich auf die ganze Familie ausdehnen. Davon ausgehend entwerfen die Autoren ein StigmaModell, das vor allem die moralische Dimension von Stigma unterstreicht und spezielle Aufmerksamkeit auf die Veränderungen des moralischen Status des kranken Individuums wie auch des mitbetroffenen Umfeldes legt. Schon in einer früheren Publikation beklagten Yang, Kleinman et al. (2007), dass die moralische Dimension von Stigma in den theoretischen Auseinandersetzungen nicht genügend beachtet werde und versuchten dieses Defizit mit dem Konzept der »moralischen Erfahrung« zu auszugleichen.

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zen. Diese sind eher Ausdruck von Konflikten und Spannungen zwischen den einzelnen Angehörigen, können aber dennoch, wie das Beispiel von Mamadou zeigt, ausserhalb wie innerhalb der Familie einigen Schaden anrichten.

Die Macht von Angehörigen: Mamadou Mamadou stammt aus einer Familie höherer Staatsangestellter; er selbst hat zur Zeit des eisernen Vorhangs in Moskau studiert und später in der Ukraine gearbeitet. In Bamako hat er seit seiner Heimkehr keine längerfristige Anstellung gefunden, doch die Aura eines »intellectuel« umgibt Mamadou noch immer: Er ist der Einzige, den ich im Wartebereich von CESAC in einem Buch lesend angetroffen habe. Eine Ausnahme ist er auch insofern, als dass er mich zu sich nach Hause einladen und seiner Mutter vorstellen möchte. Seit dem Tod ihres Mannes ist sie das Oberhaupt der Familie und unterstützt aus ihren Pensionsgeldern Mamadou, seine Frau und den fünfjährigen Sohn. Bereits auf dem Weg vom Zentrum zu ihm nach Hause bereitet mich Mamadou auf die Begegnung mit seiner Mutter vor – ich würde mich bestimmt gut mit ihr verstehen, sie sei eine der ersten studierten Frauen von Mali gewesen. Seinen Worten kann ich entnehmen, wie sehr er sich der Mutter verbunden fühlt und, wie er selbst sagt, eigentlich ein »fils à Maman« ist. Doch leider, und auch darin weiht er mich schon während der Fahrt im Minibus ein, ist diese enge Bindung auch der Grund für die anhaltenden Konflikte mit seinem älteren Bruder – »il est terriblement jaloux«. Und mit der Geburt von Mamadous Sohn, dem bisher einzigen männlichen Nachfolger in der Familie, soll sich die Eifersucht noch intensiviert haben. Besonders kompliziert ist die Situation vor allem deshalb, weil der Bruder mit Frau und Tochter, zwar in einem eigenen Haus, aber dennoch im gleichen Hof wohnen. Es sind diese familieninternen Auseinandersetzungen, die Mamadou am meisten belasten und auf die er auch bei allen unseren zukünftigen Begegnungen immer wieder zu sprechen kommt. Da ich in der kurzen Zeit unseres Weges kaum in der Lage bin, die komplexe Familienkonstellation zu überblicken – Mamadou ist der drittjüngste in der Reihe von sieben Geschwistern –, bin ich unsicher, ob meine Anwesenheit wirklich erwünscht ist und nicht für zusätzlichen Konfliktstoff sorgt. Doch Mamadou meint, dass ausser seiner Mutter niemand anwesend sei. Was er mir gegenüber bescheiden als »Hof« bezeichnet hat, stellt sich als ein immens grosses Anwesen heraus, als ein fast parkartiges Areal mit altem Baumbestand, Gemüsebeeten und Nutztieren, das sich direkt neben der stark befahrenen Hauptstrasse öffnet. Zusammen mit seiner Mutter lebt Mamadous Kleinfamilie in der herrschaftlichen Villa, die – in den 1970er Jahren gebaut – in der Zwischenzeit aber ziemlich gelitten hat, weil das nötige Geld für Renovationen fehlt, wie die Mutter erklärt. Wir versinken in den riesigen Fauteuils im Salon, trinken Tee, essen die ersten Mangos aus dem Garten und sprechen über die familiären Komplikationen, welche sich durch Mamadous

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Krankheit ergeben haben. Eigentlich wäre es der Wunsch der Mutter gewesen und den hat sie auch bei der Familienzusammenkunft, die zur Information über Mamadous Diagnose einberufen wurde, vorgebracht, dass sich die Kinder solidarisch zeigen und sie gemeinsam die Kosten der Therapie tragen. Sie ist zwar enttäuscht, dass ihr Vorschlag nicht einstimmig angenommen wird, doch vielmehr schmerzen sie die Gerüchte, die kurz danach kursieren und die vielen Fragen, auf die sie nun plötzlich eingehen muss. Anscheinend hat die Schwiegertochter in der Nachbarschaft verlauten lassen, dass Mamadou an der schlimmen Krankheit leide und jetzt seine Tage gezählt seien. Die Mutter versucht das Gerede zu entkräften, indem sie die Beschwerden als chronische Malaria darstellt und argumentiert, man müsse die Schwiegertochter halt verstehen, es wäre normal, über Menschen, die man nicht mag, so schlechte Dinge zu verbreiten. Doch seit dieser Zeit hat sich etwas Grundsätzliches verändert – früher, so meint die Mutter ein bisschen resigniert, sei die Familie »zusammengeschweisst« (soudée) gewesen, heute kümmere sich jeder nur noch um seine eigenen Probleme. Später, als seine Mutter uns verlassen hat, kommt Mamadou nochmals auf diese wohl schwierigste Situation in seinem Leben zu sprechen. Vor der Krankheit sei er ein beliebtes Mitglied seines grin gewesen; die Leute hätten, weil er belesen und viel gereist wäre, seinen Rat geschätzt und hätten ihn bei Problemen sogar zu Hause aufgesucht. Nach der Intrige seiner Schwägerin ändert sich dies – Mamadou bemerkt Misstrauen und Distanz. Und von dem Jungen, der im grin den Tee zubereitet, erfährt er dann, dass schlecht über ihn geredet wird: Mon nom était gâté, c’est sûr. Et peut-être aussi celui de ma famille, ça je ne sais pas. S’ils font ça, c’est sur mon dos, pas en ma présence. Mais quand même le contact, il n’y en avait pas trop. (m, 39 Jahre, 15.2.2007)

Heute lebt Mamadou zurückgezogen, geht nicht mehr viel aus. Er bedauert es sehr, dass sich die Konflikte zwischen ihm und der Familie seines Bruders immer wieder neu entzünden und dass es zwischen ihnen, abgesehen von Streitigkeiten, keinerlei Kommunikation gibt. Aber er weiss auch, dass er sich aufgrund seiner Krankheit nur schwer verteidigen kann: »Il était toujours jaloux, mais pas comme maintenant. Maintenant c’est plus grave. Avant il n’avait pas des raisons, mais maintenant il a des raisons pour légitimer son comportement.« (15.2.2007)

Das Wissen um die Infektion verleiht Angehörigen eine Macht, der schwerlich etwas entgegen zu setzen ist und die jederzeit ausgespielt werden kann. Deswegen ist die Haltung der einzelnen Familienmitglieder oftmals entscheidend

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dafür, ob der Name gewahrt bleibt respektive beschädigt wird.33 Auf jeden Fall lassen sich, wie in Mamadous Fall deutlich wurde, Gerüchte durchaus strategisch nutzen, um familieninterne Konflikte auszutragen – »elle a divulgué mon statut pour nuire mes relations au niveau de la famille«, meint Mamadou. Andererseits fallen solche Gerüchte auch nur dann auf fruchtbaren Boden, wenn die Autorität des betroffenen Mitglieds angegriffen ist. Für Mamadou, selbst arbeitslos und auf familiäre Unterstützung angewiesen, ist von Vorteil, dass die Mutter ganz auf seiner Seite steht und alle zudringlichen Nachfragen abwehrt. Denn obwohl er seinen Namen als verdorben beschreibt, trifft weder ihn noch seine Familie das ganze Ausmass der Entehrung. Wäre der Name wirklich vollends verloren, dann würde nicht nur hinter seinem Rücken geredet, sondern er wäre ganz direkt mit Respektlosigkeiten konfrontiert.

33 | Nur durch blossen Zufall konnte ich an einem Beispiel erfahren, wie überzeugend die geschlossene Haltung von Familienmitgliedern auf Aussenstehende wirken kann. In einem Gespräch mit drei Studentinnen stellte sich heraus, dass eine von ihnen im gleichen Quartier wohnt wie ein mir bekanntes Mitglied von AFAS. Die Studentin erinnert sich noch gut daran, dass die betreffende Frau früher der Krankheit verdächtigt wurde, doch heute sei davon keine Rede mehr, denn: »Son papa même a dit que ce n’est pas vrai que sa fille a le sida. (…) Et ses beaux parents aussi l’ont dit qu’elle n’a pas le sida.« (w, 25 Jahre alt, 12.3.2007)

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15. Zusammenfassung

Im Gegensatz zu Stigmatheorien, die in erster Linie die gesellschaftliche Perspektive reflektieren, konzentriert sich der Ansatz von Vulnerabilität auf die Erfahrungen und das Erleben der betroffenen Personen. Er ermöglicht nicht nur tiefer gehende Erkenntnisse über ihr Handeln und ihre Imaginationen, sondern berücksichtigt auch prägende strukturelle Bedingungen. Ziel dieses Teils war es, ein Bild der typischen Risikolandschaften zu entwerfen, in denen sich HIVpositive Personen mit antiretroviralen Therapien bewegen. Obwohl sich die Konturen dieser Landschaft je nach persönlichen und situativen Gegebenheiten unterscheiden, sind sie doch von sehr ähnlichen Bedrohungen überschattet. Zum einen ist hier die Tatsache zu nennen, dass alle Gesprächspartnerinnen zur ersten Generation gehören, welche die neuen Therapien erhält. Das heisst, die meisten haben die physische Seite der Krankheit mit all ihren lebensbedrohlichen Auswirkungen am eigenen Leib erfahren. Zum anderen erweitert sich dieses Erleben von Vulnerabilität im und durch den Körper um die symbolische Dimension: Im Zentrum der sozialen Konstruktion von Vulnerabilität befindet sich nun das Risiko, das Geheimnis der Seropositivität nicht wahren zu können und dabei seinen guten Namen zu verlieren. Dieser steht als ein wesentlicher Aspekt der persönlichen Identität für soziale Wertschätzung und Vertrauen und ist eng an die in Teil 2 beschriebenen Grundprinzipien der kulturellen und sozialen Ordnung der Mandégesellschaften gebunden, vor allem an die Definition von Ehre. Mit anderen Worten: Der gute Name sorgt dafür, dass seine Besitzer in ihrem Alltag über den nötigen Einfluss und Respekt verfügen, um handlungsfähig zu sein (être respecté et écouté par tout le monde). Während in vielen westeuropäischen Gesellschaften eher ein verinnerlichter Ehrbegriff gebräuchlich ist, definiert sich der Name in Mali über die Perspektive der anderen und ist aus diesem Grunde leicht verletzbar. Es sind ihre Meinungen, welche den Namen konstituieren, ihn gleichzeitig aber auch bedrohen: »On craint la bouche des autres.« Zwischen einem guten und einem verdorbenen Namen, als den beiden extremen Polen sozialer Wertschätzung, eröffnen sich verschiedene Grade der Beschädigung, die die Betroffenen unter erhöhten sozialen Druck stellen. Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, ob

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ihr Name angegriffen oder gänzlich zerstört ist. Im ersten Fall wird zwar hinter ihrem Rücken schlecht über sie geredet, ihnen in der direkten Begegnung aber dennoch Respekt gezollt; im zweiten Fall müssen sie damit rechnen, vor anderen Leuten bloss gestellt zu werden. Erfahrungen dieser Art bewirken in sozialer Hinsicht nicht nur Schande, sondern lösen vor allem Gefühle der Demütigung und Erniedrigung aus. Im extremen Falle sind sie sogar mit dem Risiko verbunden, auch in ökonomischen Belangen Einbussen zu erleiden. Denn mit einem beschädigten Name verringern sich die Chancen, in Notsituationen Unterstützung zu erhalten. Mit der Herausforderung konfrontiert, widersprüchliche Anforderungen wie medizinische Ratschläge, juristische Vorschriften, eigene moralische Ansprüche und nicht zuletzt auch soziale Bedingungen ausbalancieren zu müssen, wählen HIV-positive Personen ganz unterschiedliche Wege. Sie zeichnen sich meistens durch Ambivalenz und Flexibilität aus und zielen darauf ab, bestimmte Bilder von sich zu vermitteln, durch welche das Geheimnis bewahrt bleibt. Diese unterschiedlichen Techniken, Taktiken und Strategien sollen im nächsten Teil ausführlich behandelt werden.

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Teil 4: Soziale Resilienz Ni Allah ye mògò tògò kari, à bè à taamasen dòn i kòrò. (Wenn Gott zulässt, dass dein Name beschädigt wird, gibt Er dir auch Mittel, diese Situation zu überwinden)

Im vorhergehenden Teil wurden die sozialen Risiken im Zusammenhang mit HIV aufgezeigt und analysiert; in diesem Teil geht es nun um die Frage, wie diese sozialen Risiken bewältigt werden können. Im Mittelpunkt stehen dabei die Akteure und ihre Anstrengungen, den Namen zu schützen oder ihn wiederherzustellen. Anerkennung ist laut Bourdieu (2001: 309) das seltenste Gut, das die soziale Welt zu vergeben hat. Und um dieses Gut zu gewinnen oder zu retten, reicht es oftmals nicht aus, seine Bemühungen auf eine einzige Massnahme zu konzentrieren. Wesentlich aussichtsreicher ist es, mehrere Anstrengungen, die sich gegenseitig ergänzen und unterstützen, gleichzeitig zu unternehmen. Insofern lässt sich der Aufbau sozialer Resilienz nicht auf eine einzige Praxis reduzieren, sondern umfasst eine ganze Palette von Handlungen, welche neben habituellen Handlungsmustern auch die Improvisationsfähigkeit und die Reflexivität der einzelnen Akteure beansprucht. Im Laufe der Gespräche hat es sich indessen gezeigt, dass die mit der Krankheit verbundenen Risiken niemals vollends bewältigt oder ein für allemal gelöst werden können. Vielmehr modifizieren sie sich, präsentieren sich in neuen Konstellationen oder anderen Ausprägungen – und oftmals entwickeln sich aus Lösungsversuchen auch neue Risiken, so dass die Akteure zwischen Vulnerabilität und Resilienz oszillieren. Welche Wege von HIV-positiven Personen bevorzugt beschritten werden, ist von verschiedenen Bedingungen abhängig – unter anderem von der Verfassung ihres Namens, von den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen und sicher nicht zuletzt auch von der Solidarität ihrer Familie. Wie bereits dargestellt, ist der Name ein Produkt aus den Worten der anderen und aus diesem Grunde auch nur schwer zu beeinflussen. Deshalb kümmern sich insbesondere Personen, deren soziale Anerkennung im Laufe der Krankheit entscheidend gelitten hat, nicht in erster Linie um die Verfassung ihres Namens, welche in ihrer Abwesenheit verhandelt wird, sondern sie richten ihre Anstrengungen vor allem darauf, dass sie den in jeder Interaktion direkt erfahrbaren Respekt aufrecht

erhalten können – dies in der Hoffnung, dass sich mit der Zeit auch ihr Name wieder erholt. Die Untersuchung von sozialer Resilienz bedarf, wie bereits an mehreren Stellen angeführt, einer akteurszentrierten und dynamischen Perspektive. Da sich der Name nun »aus dem Mund der anderen« formiert und dementsprechend deren Perspektive beinhaltet, hat es sich während der Datenerhebung als hilfreich herausgestellt, mit dem Begriff der sozialen Gesundheit zu arbeiten. Die von aussen erwiesene Anerkennung kontrastierend, umfasst er die Bemühungen der einzelnen Akteure um die Gestaltung ihrer persönlichen Identität und soll hier vorgestellt werden. Ferner schien es mir wesentlich, den Blick für die dynamischen Aspekte der sozialen Resilienz zu schärfen. Dies gelingt mit Hilfe des Konzeptes »soziale Navigation«. Es verfolgt die Bewegungen der einzelnen Akteure in einem instabilen, mit Risiken behafteten Terrain und macht gleichzeitig deutlich, dass die Strategien HIV-positiver Personen weder in sich abgeschlossene Handlungen noch endgültige Lösungen darstellen. Nach diesen Überlegungen, welche die Untersuchung wie auch die Analyse von sozialer Resilienz begleitet haben, erfolgt die Ausbreitung des empirischen Materials. Die Bewältigungsstrategien von HIV-positiven Personen orientieren sich in entscheidendem Masse daran, inwieweit und in welchen Kreisen das Geheimnis um die Seropositivität bereits gelüftet ist oder nicht. So wird jemand, über dessen Krankheit Gerüchte kursieren, andere Mittel und Wege bevorzugen als jemand, dem es gelungen ist, seine Diagnose geheim zu halten. Anhand von Fallbeispielen werde ich in den drei zentralen Kapiteln dieses Teils aufzeigen, wie die von mir begleiteten Personen mit ihren spezifischen Risikosituationen umgegangen sind respektive wie sie diese im Laufe mehrerer Forschungsphasen zu meistern suchten. Dabei hat es sich gezeigt, dass Akteure je nach Ausgangslage unterschiedliche Prioritäten setzen und sich somit auch unterschiedliche thematische Schwerpunkte ergeben – sei es, dass sie sich einer vertrauenswürdigen Person offenbaren wollen oder müssen, sei es, dass sie ein bestimmtes Bild von sich für andere entwerfen, sei es, dass sie ihre Familie mit Unterhaltszahlungen unterstützen. Neben der Kontextualisierung dieser Praktiken innerhalb ihres sozialen Umfeldes und den sie prägenden gesellschaftlichen Bedingungen soll die Aufmerksamkeit vor allem bei der Dynamik dieser Bewältigungsprozesse liegen. Abschliessend und zugleich als eine Erweiterung gedacht, befasst sich das letzte Kapitel mit einem Grenzbereich der Resilienzthematik. Aufgrund ihrer Krankheitserfahrungen und vor allem durch die mit dem Partner geteilte Geheimhaltung erschliessen sich HIV-positive Frauen neue Handlungsräume, die – obwohl sie nur in einem sehr indirekten Zusammenhang mit sozialer Anerkennung stehen – ihr Leben, aber auch ihre Zukunftsvisionen massgeblich beeinflussen.

16. Soziale Resilienz untersuchen

Der Name ist ein Produkt aus den Worten der anderen und reflektiert dementsprechend die Perspektive des sozialen Umfeldes. Mir war es jedoch wichtig, das eigene Engagement von HIV-positiven Personen kennen zu lernen – wie sie selbst in die über sie geführten Namensverhandlungen eingreifen, diese zu lenken oder zu beeinflussen suchen und sich dabei nicht nur als Opfer externer Beurteilungen begreifen. Daher suchte ich nach einem Zugang, der sich auf die persönlichen Initiativen konzentriert und nicht in erster Linie auf die Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen ausgerichtet ist. In diesem Zusammenhang liess mich folgende Bemerkung einer Gesprächspartnerin zu Beginn der fünften Forschungsphase aufhorchen: Pour réparer ton nom, il faut tout faire pour avoir une bonne santé sociale. (w, 25 Jahre, 12.11.2006)

Zuerst erweckte der Begriff »soziale Gesundheit« bei mir eher Assoziationen an biologistisch geprägte Analogien, die das soziale Leben mit körperlichen Funktionsweisen gleichsetzen. Als ich ihn in den nächsten Gesprächen aktiv einbrachte, konnte ich feststellen, dass er für meine Partnerinnen weder fremd noch unverständlich war, sondern ihren alltäglichen Erfahrungen zu entsprechen schien. Etwa zur gleichen Zeit erzählte mir eine ebenfalls in Bamako arbeitende Ethnologin, dass in ihren Interviews bisweilen der Ausdruck »santé économique« benutzt werde. Für mich ausschlaggebend, den Begriff »santé sociale« zur Untersuchung von Resilienz zu verwenden, war schliesslich – abgesehen von den positiven Reaktionen der Gesprächspartner –, dass sich damit eine spezifische, auf die Handlungsmöglichkeiten der Akteure ausgerichtete Perspektive verbindet: »En général, la santé sociale dépend du comportement de la personne elle-même.« (w, 30 Jahre, 18.11.2006) Im Verlauf der weiteren Gespräche zeigte sich dann, wie facettenreich und vielschichtig sich die Bemühungen um soziale Gesundheit ausnehmen. Sie umfassen sowohl proaktive wie reaktive Strategien hinsichtlich sozialer Anerkennung und beinhalten ganz allgemein gesagt das, was im obigen Zitat mit »tout faire« angesprochen ist.

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Darüber hinaus, und dies sprach ebenfalls für die weitere Verwendung des Begriffs, wurde der Bamana Ausdruck adamadenya, das heisst die Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen und sie zu pflegen, des Öfteren als Synonym für »santé sociale« benutzt (zu adamadenya siehe Kapitel 7.4). Diese Gleichsetzung weist darauf hin, dass die mit sozialer Gesundheit verbundenen Handlungen sich nicht an hierarchisierenden Kriterien festmachen, sondern sich in erster Linie auf horizontale Merkmale sozialer Anerkennung beziehen, da adamadenya als eine allgemein menschliche Qualität gesehen wird. Es geht also nicht darum, Differenz zu anderen zu schaffen, sondern mit ihnen gleich und somit zu ihnen zugehörig zu sein. Andererseits speisen sich die Anstrengungen, sozial gesund zu sein, nicht allein aus sozialen Ressourcen. Besonders aussichtsreich ist es, wenn das Ziel von mehreren Seiten zugleich angegangen wird, das heisst, wenn Bemühungen aus verschiedenen Bereichen, die sich gegenseitig verstärken, miteinander kombiniert und ausbalanciert werden. Ferner orientiert sich das persönliche Bestreben nach sozialer Gesundheit an den normativen Vorgaben der Gesellschaft. Einige meiner Informanten waren sogar der Ansicht, dass es gerade in ihrer Situation entscheidend sei, diese Erwartungen besonders korrekt zu erfüllen, um keinerlei Angriffsflächen zu bieten. Andererseits, so konnte ich in Gesprächen mit vielen Partnerinnen feststellen, befördert das Wissen um die eigene Andersartigkeit auch Reflexionen über gesellschaftliche Normen und die herrschenden Wertvorstellungen. So waren zum Beispiel die mit HIV verbundenen Erfahrungen für einige Frauen ausschlaggebend, den herkömmlichen Ordnungen kritisch gegenüberzustehen, eigene Vorstellungen bezüglich ihrer Rollen im Rahmen der Geschlechterbeziehungen zu formulieren und diese teilweise auch umzusetzen. Obwohl die meisten Frauen sehr darauf geachtet haben, sich mir gegenüber als sozial angepasst und wertkonservativ zu beschreiben, zeigen ihre Handlungen dennoch, dass sie in vielen Fällen den eigenen Handlungsraum zu dehnen wissen, ohne dabei die gesellschaftlichen Kriterien der Anerkennung zu verletzen.

16.1 N AVIGATIONEN IN R ISIKOL ANDSCHAF TEN Für HIV-positive Personen erzeugen die Risiken des Namensverlustes ein hohes Mass an Ungewissheit: Sie überschatten sämtliche Bereiche des Alltags – von öffentlichen Zusammenkünften bis zu den intimsten Kontakten. Ungewissheit bezieht sich auf einen mentalen Zustand, auf den Mangel an verlässlichem Wissen, der allerdings eng mit Unsicherheit als einer sozialen Bedingung verknüpft ist: Dealing with uncertainty is perhaps not so much about making certain, as it is about trying to make more secure. It is security that people seek to strengthen in their efforts

T EIL 4: S OZIALE R ESILIENZ to exert some degree of control, drawing on the social and cultural resources at hand. (Whyte 2009a: 214)

In den letzten Jahren sind mehrere Studien zum Umgang mit Ungewissheit in Afrika erschienen, in deren Kernpunkt die Frage nach agency steht, nach der Handlungsfähigkeit1 und den Handlungsmöglichkeiten von Akteuren. Obwohl diese Studien sich mit anderen thematischen und kulturellen Zusammenhängen befassen, enthalten sie analytische Überlegungen, welche die Situation von HIV-positiven Personen in Mali zu erhellen vermögen. Als eine grundlegende Einsicht zeigt die Untersuchung von Elísio Macamo (2008), dass wenn es Menschen gelingt, Gefahren in Risiken zu übersetzen, sie auch in der Lage sind, Handlungskontexte (contexts of action) zu kreieren. Das heisst, die Wahrnehmung von Risiken kann als eine Grundvoraussetzung gesehen werden, um Alternativen zu entwickeln und handlungsfähig zu bleiben (»to act again and again and again«, ebd: 253). Entscheidend dabei ist die Tatsache, dass gehandelt wird. Auf HIV-positive Personen in Mali übertragen, bedeutet dies, dass die Wahrnehmung von Risiken, die sie mit der Enthüllung ihres Geheimnisses verbinden, sie gleichzeitig auch dazu befähigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und es – in welcher Form auch immer – zu bändigen. In Jennifer Johnson-Hanks (2005) Untersuchung, die im südlichen Kamerun angesiedelt ist, steht der Umgang mit Ungewissheit ganz prominent an erster Stelle. Sie befasst sich mit Zukunftsentwürfen von Abiturientinnen, die zwar das soziale Ziel einer »ehrbaren Mutterschaft« anstreben, aber keine konkreten Pläne zur Umsetzung des Ideals, nämlich Kinder in einer monogamen Ehe zur Welt zu bringen, entwerfen. Dennoch gehen die jungen Frauen dabei nicht planlos oder unstrukturiert vor, sondern entwickeln eine Praxis des »grasping at whatever is available« (ebd: 366), die Johnson-Hanks als »umsichtigen Opportunismus« (judicious opportunism, ebd: 370) bezeichnet: The extreme uncertainty of everyday life does not make people act recklessly or without structure but prestructures their expectations and reactions in a particular way. A habitus born of repeated experience of uncertainty and sudden change predisposes the actor to discount choice and refrain from committing himself to specific imagined futures, futures that are—in any case—unlikely to be attained. (Ebd: 376)

Nun konzentrieren sich Johnson-Hanks‹ Ausführungen in erster Linie auf den Umgang mit einer ungewissen Zukunft. HIV-positive Personen jedoch sind 1 | Die deutsche Übersetzungen von agency mit »Handlungsfähigkeit« benennt genau genommen nur die Vorbedingung zum Handeln und lässt das Handlungsengagement, das der englische Begriff ebenfalls mit einschliesst, ausser Acht (siehe dazu Emirbayer und Mische 1998: 963).

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nicht allein mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert, sondern ebenso mit einer ungewohnten Gegenwart, die viel von ihrer Selbstverständlichkeit eingebüsst hat und die mit neuen Risiken aufwartet. Insofern befinden sie sich in einer Situation, wo ihnen habituelle Handlungsmuster nur beschränkt weiterhelfen. Selbst wenn ihre Lebenswelt vor der Krankheit auch nicht durch besondere Stabilität gekennzeichnet war, so waren es zumindest bekannte Unsicherheiten, die sie zu bewältigen hatten. Durch die Krankheit hat sich jedoch die soziale Welt zu einem bedrohlichen Umfeld entwickelt: Plötzlich ist es vorstellbar, dass Freunde zu Feinden werden, Familienmitglieder zu Verrätern und unbedachte Gesten soziale Existenzen zum Einstürzen bringen können. In diesem Sinne bewegen sich HIV-positive Personen auf unsicherem Grund, immer darum bemüht, einen Weg durch die neuen Risikolandschaften zu finden und so das Beste aus ihrer Situation zu machen. Dieses Bild von Bewegung auf einem unbekannten und instabilen Terrain, verbunden mit den gleichzeitigen Anstrengungen von Akteuren, alle sich bietenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihr Leben in Erfolg versprechende Bahnen zu lenken, ist mit dem von Henrik Vigh (2006; 2006a) formulierten Konzept des sozialen Navigierens (Social Navigating) treffend erfasst. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen die Laufbahnen von jugendlichen Milizsoldaten in Guinea Bissau während des Bürgerkrieges von 1998-1999. Das Konzept der sozialen Navigation dient Vigh als eine analytische Optik auf das taktische2 Handeln der jungen Akteure, die sich ebenfalls in weitgehend ungewohnten Umständen bewegen: … choosing to navigate the terrain of war is primarily a question of evaluating the movement of the social environment, one’s own possibilities for moving through it, and its effect on ones planned and actual movement. (Vigh 2006: 13)

Obwohl das Konzept im Rahmen von gewaltsamen Konflikten entwickelt wurde, eignet es sich, wie Vigh betont, für die Analyse jeglicher Arten von Praktiken, die in instabilen oder von sozialem Wandel betroffenen Zusammenhängen generiert werden. Denn im Prinzip navigieren wir alle angesichts der unsicheren Zukunft. Die Unterschiede liegen in der Intensität der Navigationen, die 2 | De Certeau (1988) beleuchtet den grundlegenden Unterschied zwischen Taktik und Strategie, auf den sich Vigh (2006: 133f) in seinen Ausführungen ebenfalls bezieht. Während de Certeau den Begriff »Strategie« für weit gefasste Aktionen verwendet, die ein Aktionsfeld abstecken und definieren, er also für Akteure in machtvollen Positionen reserviert ist, stehen Taktiken für die kurzfristigen, spontanen Handlungen von schwachen Akteuren: »… a tactic depends on time – it is always on the watch for opportunities that must be seized ›on the wing.‹ Whatever it wins, it does not keep. It must constantly manipulate events in order to turn them into ›opportunities‹.« (De Certeau 1988: xix)

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sich abhängig vom Grad der Unsicherheit verändern (ebd: 13).3 Theoretisch gesehen modifiziert das Konzept, das an der Schnittstelle zwischen den subjektiven Handlungsmöglichkeiten der Akteure und den Einwirkungen objektiver Kräfte anzusiedeln ist, die Bourdieusche Perspektive um eine dynamische Komponente (Vigh 2008: 18). Dabei lenkt es die Aufmerksamkeit auf die bewegten Wege der einzelnen Akteure, was das Konzept als Denk- und Analysemodell besonders für eine Langzeitforschung, die sich mit instabil gewordenen Lebenswelten beschäftigt, interessant macht. Wie ich nachfolgend zeige, setzen die Navigationen von HIV-positiven Personen je nach Verfassung ihres Namens, ihrer materiellen und sozialen Lage andere Prioritäten. Sie sind zwar gleichermassen auf den Erhalt der sozialen Gesundheit ausgerichtet, ohne aber deshalb rein zielorientiert ausgerichtet zu sein. In erster Linie widerspiegelt die aus der Seefahrt entliehene Metapher des Navigierens eine Bewegung innerhalb von Bewegungen – »motion within motion« (Vigh 2006a: 52). Sie verweist auf sich stetig ändernde aktuelle Bedingungen – gesellschaftliche Wandlungsprozesse oder soziale Konstellationen. Gleichzeitig steht die Metapher aber auch für die Anstrengungen von Akteuren, die ihre Routen je nach Beschaffenheit des Terrains immer wieder neu austarieren müssen. Soziales Navigieren ist die Kunst des »Surfens« zwischen drohenden Risiken und aktuellen Chancen, zwischen Wellen, Strömungen und Gezeiten in Richtung auf ein erwünschtes Ziel – selbst wenn sich dieses unterwegs immer wieder neu definieren sollte. Denn wie bei allen Fortbewegungen auf Gewässern, sind die Routen nicht allein vom eigenen Willen bestimmt, sondern ebenfalls den Einwirkungen anderer Kräfte unterworfen: Man bewegt sich selbst, wird gleichzeitig aber auch bewegt. Dementsprechend beinhaltet soziales Navigieren Umwege, unfreiwilliges Abdriften oder Neupositionierungen. Es liegt im vitalen Interesse aller Navigatoren, die für sie aussichtsreichsten Routen auszuloten und ihre Aufmerksamkeit zugleich auf das Nahe wie auf das Ferne zu richten, auf das momentan Dringliche wie auch auf das künftig Erwünschte (Vigh 2006a: 55). Um zu verhindern, dass sie in stürmischen Gewässern kentern oder auf Grund laufen, setzen die Akteure sowohl auf ihr Erfahrungswissen als auch auf ihre Imaginationsfähigkeit. Dies trifft für HIVpositive Personen in besonderem Masse zu. Denn Ungewissheit hinsichtlich sozialer Wertschätzung kann nicht nur, wie Susan Reynolds Whyte (1997) dies im Zusammenhang mit physischen Beschwerden beschreibt, pragmatisch angegangen werden. Für den Erhalt der sozialen Gesundheit helfen weder Rituale noch Besuche bei Marabouts. Vielmehr ist diese Ungewissheit zutiefst mit der Ungewissheit hinsichtlich der anderen verbunden, und sie bewirkt, wie es für viele Situationen, welche die Routine des Alltags erschüttern, typisch ist, 3 | Eine weitere Anwendung des Konzeptes findet sich bei Mats Utas (2005) Fallstudie einer jungen Frau im Bürgerkrieg in Liberia (1990-1996).

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verstärkte reflexive Aktivitäten.4 HIV-positive Personen evaluieren zwar auch ihre veränderte Position, aber in erster Linie analysieren sie ihr soziales Umfeld, ihre Angehörigen, ihre Freunde und Kollegen. Sie wissen, wie schwierig es ist, anderen ins Herz zu blicken, ihre Absichten und Charakterschwächen zu durchschauen, dennoch zeugen viele Interviewpassagen genau von solchen Bemühungen. Oftmals handelt es sich dabei um lange Ketten ineinander verflochtener Überlegungen: Was würde passieren, wenn ich diesen oder jenen Weg einschlagen würde, welche Komplikationen könnten sich daraus ergeben und wie würden sich diese wiederum auf meine jetzige oder zukünftige Situation auswirken? Sich imaginativ in die Perspektiven der anderen zu versetzen, die eigenen Entscheidungen aus deren Sicht zu betrachten, bildet einen wichtigen Aspekt im Umgang mit Risiken. Vigh spricht in diesem Zusammenhang von »social reflexivity«, welche sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass nicht nur die Reaktionen der anderen antizipiert, sondern auch die eigenen Interpretationen und Sinngebungen hinterfragt werden: Social reflexivity, in this perspective, involves people becoming aware of how they interpret the social terrain, simply because the speed and/or unpredictability of change within the social world they inhabit is such that the agent must constantly check the efficacy of his interpretation in relation to changes in the environment he seeks to move in. [...] In situations of turmoil, therefore, it becomes increasingly necessary, even critical, for the agent to reflect upon reflections; to scrutinize his way of anticipating and predicting what was, what is and what is about to happen. (Vigh 2008: 19)

Um nicht völlig auf Experimente angewiesen zu sein, ist es für viele HIV-positive Personen wichtig, jemanden zu finden, dessen Perspektive oder Ratschläge helfen, die Gültigkeit der eigenen Interpretationen zu überprüfen. Andererseits heisst eine beratende Person zur Seite zu haben auch, sich jemandem mitzuteilen – und dieses Wagnis ist eng an Vertrauen gebunden.

4 | Auch Whyte (1997) betont in ihrer Untersuchung zu Unglück und Ungewissheit in Uganda, wie wichtig es für die Lösung eines Problems ist, sich über die Motive und die moralischen Grundlagen der anderen klar zu werden: »Deliberation is other-directed. You must fathom the motives and requirements of other agents in order to take action and adjust relations appropriately.« (Ebd: 30)

17. Den Namen schützen

Solange niemand über das Geheimnis Bescheid weiss, ist es unnötig, einschneidende, von aussen erkennbare Änderungen in seinem Alltag vorzunehmen. Vielmehr handelt es sich darum, das Geheimnis respektive den Namen zu schützen und den Anschein von Normalität aufrecht zu halten. Allerdings ist es kaum möglich, die Last der Krankheit über einen längeren Zeitraum hinweg ganz alleine zu tragen – sowohl aus inneren, gefühlsmässigen Gründen, die nach Entlastung verlangen, aber auch aus der Überlegung, für eventuell eintretende Zwischenfälle Vorsorge treffen zu wollen. Insofern sind HIV-positive Personen früher oder später vor die Herausforderung gestellt, ihr Geheimnis mit jemandem zu teilen – mit jemandem, auf den sie sich verlassen können und der ihnen auch in schwierigen Zeiten beistehen wird. Und diese Entscheidung ist in hohem Masse beeinflusst von der Frage nach Vertrauen.

17.1 V ERTR AUEN SCHAFFEN — » GAGNER UN CONFIDENT« Für viele Menschen in Mali ist allein schon die Bewältigung des Alltags ein riskantes Unternehmen. Da ist die Unsicherheit, wie der tägliche prix de condiment5 eingebracht werden soll, ob das Geld für die nötigen Medikamente reicht oder eine Arbeitsstelle gefunden wird. Für HIV-positive Personen erweitert sich diese an sich schon komplexe Risikolandschaft noch um verschiedene neue und ungewohnte Herausforderungen. »La maladie est trop lourde pour une seule personne« – dieser Ansicht sind viele von ihnen und bekunden damit ihr Bedürfnis, jemanden zur Seite zu haben, der fähig ist, sie durch diese unbekannten Risiken zu lotsen. Es sollte eine Person sein, die sich nicht nur als Ratgeberin eignet, sondern die auch nach aussen hin als »Ensemblemitglied« auftritt – das heisst, als jemand, der hilft, die persönliche Identität mit zu konst5 | Es gehört zu den Aufgaben der Männer, ihren Frauen jeden Tag den so genannten »prix de condiment« (nasongo in Bamanakan) für die Saucenzutaten des Reisgerichts zu überreichen, üblicherweise sind das 1000 FCFA (etwa 1,50 Euro).

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ruieren und zu festigen und so die eigenen Versionen der Wirklichkeit bestätigt (Goffman 2003: 78). Zu Beginn der Forschung haben mir einzelne Beteiligte ihren festen Vorsatz mitgeteilt, niemanden über ihre Krankheit einzuweihen. Doch im Laufe der Zeit erwies sich der innere wie der äussere Druck als zu hoch, um diesem Entschluss treu bleiben zu können. Insofern hatten sich alle mindestens einmal, bedingt durch die sich schnell verändernden Lebenssituationen meistens jedoch mehrmals, mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ihr Geheimnis bei dieser oder jener Person sicher aufgehoben wäre – eine Frage, die sich im Vornherein kaum beantworten lässt und die in ihrem Kern an die Problematik von Vertrauen rührt. Dementsprechend häufig wurde in den Gesprächen dieses Thema im Zusammenhang mit Mitteilen und Verschweigen angeschnitten. Während sich der Public Health-Ansatz im Rahmen von disclosure vor allem auf Faktoren konzentriert, die eine Information begünstigen oder verhindern (u.a. Simbayi et al. 2007; Loubiere et al. 2009), stelle ich hier den Aspekt von Vertrauen und dessen Bedeutung für den Aufbau von sozialer Resilienz in den Mittelpunkt. In den Gesprächen haben die Befragten immer wieder betont, wie wichtig es sei, eine Vertrauensperson zu gewinnen – »gagner un confident«, gleichzeitig aber auch beklagt, dass sich die heutige Zeit durch ein Klima gegenseitigen Misstrauens auszeichne und jemandem zu vertrauen eher als ein Indiz hoffnungsloser Realitätsferne gelte: Actuellement, on ne doit avoir confiance à personne. Les gens de maintenant ont changé, avant les grandes personnes gardaient le secret, mais maintenant les gens à qui tu as confiance dévoilent tes secrets aux autres. Moi, j’ai confiance en personne. (w, 33 Jahre, 17.11.2006)

Der Akt des Vertrauens bezieht sich auf eine noch unbestimmbare Zukunft und ist charakterisiert durch – wie Luhmann es nennt – ein »problematisches Verhältnis zu Zeit« (Luhmann 2000: 9). Wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg und handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre. Gleichzeitig verknüpfen sich mit Vertrauen auch immer spezifische Erwartungen an die Vertrauenswürdigkeit des anderen – Erwartungen, die selbstverständlich das Risiko beinhalten, enttäuscht zu werden (Gambetta 2001: 210). Denn anderen vertrauen heisst ein Risiko eingehen, sich abhängig machen – sowohl von deren Wohlwollen wie auch von ihren Interessen, über die man nie genau Bescheid wissen kann. Vertrauen schenken erhöht demzufolge die eigene Vulnerabilität, und je mehr die Vertrauensinhalte die wichtigen Dinge des Lebens berühren, umso höher ist der Grad der Verletzbarkeit (Baier 2001: 43). Dessen sind sich HIV-positive Personen wohl bewusst. Andererseits verweist der Ausdruck »gagner un confident« auch auf den Aspekt der Machbarkeit, auf proaktive Möglich-

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keiten, Vertrauen aufzubauen, das heisst sich mit jemandem so zu verbinden, dass Vertrauen verlässlicher und das Risiko tragbarer wird. Mit Vertrauen als einem kulturell konstruierten Phänomen verknüpfen sich je nach Umfeld und situativem Kontext unterschiedliche Erwartungen (Markova und Gillespie 2008). Im Verständnis der Mitglieder von Fokusgruppen ausserhalb des HIV-Kontexts stand der Respekt vor dem und die Treue zum gegebenen Wort einhellig an erster Stelle – eine Verbindung, die sich über die kulturelle Prägung durch Oralität erklären lässt. Die Bedeutung von »avoir une seule parole« (kankelentigiya) beruft sich auf ein gegebenes Versprechen, auf die ursprüngliche Quelle von Vertrauen, schliesst aber auch weitere Erwartungen mit ein: Avoir confiance à quelqu’un pour moi c’est-à-dire quelque soit le degrés de ton problème quand tu viens et tu lui parles, c’est quelqu’un qui est là, toujours prêt à t’écouter et à te donner des conseils et il ne serra jamais capable de dire ce secret en publique ou à quelqu’un d’autre. Alors c’est quelqu’un qui est prêt à t’aider et à garder tes secrets. Et ça, c’est très difficile à trouver. (w, 21 Jahre, 12.3.2007)

Für HIV-positive Personen trifft diese Auslegung von Vertrauen in verstärktem Masse zu. Zwar steht, wie nicht anders zu erwarten, Verschwiegenheit an erster Stelle der Kriterien, die eine Vertrauensperson aufweisen sollte, doch daneben erhoffen sie sich von ihr auch praktischen und emotionalen Beistand. Idealerweise agiert eine Vertraute so, dass sie den Handlungsspielraum, den sie durch den Akt des erwiesenen Vertrauens erhält, in Sinne der vertrauenden Person nutzt. Deren Wohlbefinden sollte ihr genauso am Herzen liegen wie ihr eigenes. Wie bereits angedeutet, umfasst Vertrauen ein breites semantisches Feld. Umso entscheidender ist es, den Begriff, so wie er in den Interviews verwendet wurde, zu kontextualisieren, denn je nach Gegenüber und inhaltlichem Bezug verändern sich die Bedeutungen des Begriffs und verbinden sich mit unterschiedlichen Erwartungen (siehe dazu Markova et al. 2008: 17): Einer Freundin können vielleicht alle Details einer Liebesgeschichte anvertraut werden, nicht aber eine HIV-Diagnose. Das nun anschliessende Fallbeispiel zeigt emotionale und reflexive Momente von Vertrauen, macht aber auch deutlich, wie bestimmend der Umgang mit Vertrauen oder auch mit Misstrauen für den Erhalt der sozialen Gesundheit sein kann.

17.2 V ERTR AUEN UND V ERTR AUTHEIT In Mariams Leben hat die soziale Verantwortung, die eine noble Herkunft mit sich bringt, einen hohen Stellenwert. Ihre Verwandten gehören den besseren Kreisen von Timbouctou an, und auch sie selbst fühlt sich den Erwartungen

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ihres Standes verpflichtet. Mariam bleibt das einzige Kind ihrer Eltern. Als diese sich trennen, geht die Mutter zwei weitere Verbindungen ein – eine Tatsache, die sich auf den Namen der Familie nicht positiv auswirkte und die Mariam für ihre eigenen Heiratschancen als ungünstig wertet. Darum ist es umso wichtiger, dass niemand, absolut niemand ihre Diagnose erfährt. Sie jedenfalls trifft alle erdenklichen Vorkehrungen, damit diese geheim bleibt. Mariam ist ausgebildete Krankenschwester. Als ich sie kennen lerne, lebt sie mit ihrer Mutter und drei jüngeren Brüdern, die aus den späteren Ehen der Mutter stammen, in einem Gehöft. Da sie ein eigenes Zimmer bewohnt, verfügt sie über genügend Privatsphäre, um ihre Medikamente ungestört einnehmen zu können. Ausserdem arbeitet sie, obwohl es von der Familie nicht gerne gesehen ist, als Praktikantin im HIV/AIDS-Zentrum CESAC und kann sich so die monatliche Therapieration im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit besorgen. In punkto Geheimhaltung befindet sie sich also in einer gut organisierten und geschützten Situation. Andererseits aber ist es für sie höchste Zeit, ihre Jugendjahre zu beenden und zu heiraten. Als ich Mariam ein halbes Jahr später wieder sehe, hat sie der gesellschaftlichen Konvention Folge geleistet und ist mit einem zwanzig Jahre älteren Verwaltungsangestellten vermählt. Die Entscheidung fiel Hals über Kopf – knapp ein Monat lag zwischen dem Tag des Kennenlernens und der Hochzeit. Obwohl für Mariam Vertrauen und Aufrichtigkeit zu den Voraussetzungen einer guten Ehe zählen, zweifelt sie, wie sie ihren Verlobten, der schon sechsmal geschieden ist, über die Krankheit informieren soll, ohne ihn mit dieser Nachricht in die Flucht zu schlagen. Als Erstes möchte sie prüfen, wie weit seine Zuneigung zu ihr reicht – vielleicht wäre er ja auch bereit, nicht nur in eine religiöse, sondern auch in die viel verbindlichere zivile Hochzeit mit ihr einzuwilligen? Doch daran ist er definitiv nicht interessiert; seine Familie hätten nur den Eindruck, er liesse sich bereits jetzt schon von ihr herumkommandieren. Als einen nächsten Versuch schlägt sie ihm einen gemeinsamen HIV-Test vor – dies in der Absicht, dass der Arzt die Übermittlung der Diagnose übernimmt. Doch auch darauf lässt sich der Verlobte nicht ein: Er glaube nicht an AIDS und ausserdem vertraue er ihr. Nun ist Mariam klar, dass sie sich, wenn sie heiraten will, den Bedingungen ihres zukünftigen Mannes zu fügen hat – und verschiebt die Mitteilung auf später. Der Ehealltag gestaltet sich jedoch weit weniger harmonisch als erhofft. Mariam fühlt sich durch das permanente Verstecken und Verdecken überfordert: Medikamente in den Taschen ihrer im Schrank gestapelten Jeans verteilen, heimliche und hastige Einnahmen in unbeobachteten Momenten und vor allem: immer wieder neue Ausreden erfinden. Mariam fragt sich ernsthaft, wie lange es wohl noch dauert, bis ihr der erste Fehler unterläuft:

T EIL 4: S OZIALE R ESILIENZ Souvent, je m’assis tout en réfléchissant sur la situation. Je vois que je suis moi-même dépassée par les choses. Quand je me mets à réfléchir, je me pose la question, comment je peux retourner dans le passé pour dire à mon mari: Je ne devrais pas me marier avec toi, parce que je suis séropositive. C’est ce que je devrais lui dire. [...] Mais maintenant je ne peux pas lui dire qu’il m’a trouvé séropositive. Je vais rester fermée sur ça, je ne peux jamais dévoiler ça à lui! Il va seulement dire que je savais que j’étais positive et que je me suis mariée avec lui pour lui contaminer. Même s’il était positif dans le temps, il ne va jamais le dire. Et puis il va toujours se mettre en tête que c’est moi qui lui a contaminé. En milieu noir, c’est toujours comme ça! Je réfléchis souvent à ça. Je ne sais même pas quelle décision je dois prendre. (28 Jahre, 13.2.2005)

Bereits wenige Wochen nach der Heirat, als Mariam bewusst wird, welch gravierende Folgen eine zufällige Entdeckung des Geheimnisses für ihre Ehe und ihren Namen hätte, erachtet sie es für dringend notwendig, zumindest eine Vertrauensperson zu haben, die ihr, falls sie krank werden sollte, die entsprechenden Medikamente besorgt. Sie überlegt sich, dass es a) jemand aus ihrer Familie sein soll, b) jemand, der sie nicht diffamieren wird und c) auf dessen Verschwiegenheit Verlass ist, denn: »En matière de secret, il faut qu’il y ait la confiance d’abord. Qui dit confiance, dit confidence et dit secret.« Automatiquement habe sie dabei an ihren jüngeren Bruder Ali gedacht. Seit seiner Geburt besteht zwischen den beiden Geschwistern eine ganz besondere Nähe – eine Nähe, die Mariam durch Zuwendungen und Geschenke immer wieder aufs Neue bestärkt und bestätigt. So finanziert sie unter anderem auch seinen dritten Versuch, das Abitur zu bestehen. Ali anerkennt all ihre Aufwendungen und weiss auch um deren verpflichtenden Charakter. Als sie den Schritt wagt und sich ihm anvertraut, reagiert er so, wie sie es sich erhofft hat – er versteht ihre Krankheit als Schicksal, beschuldigt sie nicht, sondern verspricht: Tu m’as fait confiance, tu m’as parlé de ton secret que tu gardais depuis très longtemps. Donc, moi aussi, je garderais le secret à jamais – à moins que si toi-même tu le dévoiles, sinon moi je ne le dévoilerais jamais. C’est ce qu’il m’a dit! (13. 2.2005)

Das Vertrauen, das Mariam ihrem Bruder entgegenbringt, beruht auf vergangenen Erfahrungen, auf einer tieferen Kenntnis seiner Person, die sich über die Jahre gemeinsamer Erlebnisse eingestellt hat. Damit beschränkt sich der zeitliche Horizont von Vertrauen nicht nur, wie bereits erwähnt, auf den prospektiven Aspekt, sondern er dehnt sich genauso – und dies ist für den Aufbau von Vertrauen entscheidend – in die Vergangenheit. Dieser doppelte Zeitbezug, zukünftig und vergangen, führt Endress dazu, Vertrauen als einen Modus der Vermittlung von Vergangenheit und Zukunft zur Orientierung in einer Gegenwart zu verstehen (Endress 2001: 174f.). Dabei steht der von Schütz und Luckmann konzeptualisierte Begriff »Vertrautheit« im Mittelpunkt seiner theo-

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retischen Überlegungen. Vertrauen, so Endress, gründet auf Konstellationen der Vertrautheit – auf Erfahrungen, die mit der Achtung der eigenen Person einhergehen (ebd: 166). Einerseits erinnert Mariams »automatiquement« stark an Schütz‹ und Luckmanns Bemerkung über das hohe Mass an Fraglosigkeit und Selbstverständlichkeit, welche Vertrautheit begleiten und damit alle weiteren Auslegungen zur Bewältigung der Situation unnötig werden lassen (Schütz und Luckmann 2003: 158). Andererseits verweist es darauf, dass Vertrauen zwischen den beiden Geschwistern eigentlich erst durch Mariams Ausführungen in unseren Gesprächen thematisiert wurde, im Grunde aber einem präreflexiven Modus von Vertrauen entspricht, den Endress (2010: 99, 108) als »fungierendes Vertrauen« bezeichnet – ein nicht ausgesprochenes, doch pragmatisch wirksames Vertrauen. Vertrauen braucht Zeit, um entstehen zu können. Dies wurde von Seiten meiner Gesprächspartner immer wieder betont: »La confiance ne vient pas sur un seul coup, ça vient avec le temps.« (m, 41 Jahre, 9.3.2007). Und dieser Mangel an Zeit ist es auch, der es für Mariam unmöglich macht, ihren Verlobten vor der Eheschliessung zu informieren; die Verlobungszeit ist zu kurz, um Vertrauen aufbauen zu können. Das Vertrauen zwischen Ali und Mariam hingegen hatte 22 Jahre Zeit, sich entwickeln zu können, ist eingebettet in ihre gemeinsame Geschichte und dementsprechend gut abgesichert. Eine zusätzliche Stärkung erhält dieses Vertrauen durch die spezielle Beziehung, welche zwischen den beiden Geschwistern besteht: Si je suis de même père et même mère avec quelqu’un, je peux avoir confiance en cette personne parce que le lien descend d’un lit. À cause de ça, la personne peut garder un secret. [...] Il ne faut jamais avoir confiance à une personne si vous n’êtes pas lié par un lien de sang et de sein maternel. C’est le lait et le sang qui vous unit, pour le meilleur et pour le pire. On ne peut jamais trahir le lait qu’on a bu. Mais si vous êtes de même père, ça ne peut pas se faire. (18.11.2006)

Damit verweist Mariam auf eine Institution, in der Vertrauen als Ideal bereits angelegt ist: Badenya bezeichnet die Einheit der Kinder derselben Mutter (siehe dazu Kapitel 7.4.). Diese Beziehungen sind, so beobachtet Vuarin (2000: 77f), weniger fordernd und rigide wie diejenigen, die zwischen den Kindern desselben Vaters bestehen und in denen eher Konkurrenz und Konflikte dominieren. Badenya-Beziehungen zeichnen sich durch ihre affektive Qualität aus – durch ein hohes Mass an Vertrauen und Solidarität und ganz explizit auch durch die Wahrung von Geheimnissen.6 Der Beziehungsrahmen bestimmt hier also we6 | Roth (2004) konnte im Zusam menhang mit urbanen Wandlungsprozessen in Bobo-Dioulasso (Burkina Faso) feststellen, dass badenya-Beziehungen eine entscheidende Grundlage für soziale Sicherheit darstellen. Sie bilden, wenn sie gepflegt

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sentlich die in ihm zum Tragen kommende Emotionalität. Im Gegensatz zum Verhältnis Ehemann-Ehefrau, in dem Vertrauen nicht per Struktur das definierende Element darstellt, bietet der jüngere Bruder derselben Mutter mehr Sicherheit und Schutz für Frauen. »On est les mêmes«, erklärt Mariam diese auf Blut und Muttermilch beruhende ideelle Einheit und macht damit auch deutlich, wie gering das Risiko eines Verrats in dieser Verbindung ist. Allerdings garantiert die Institution badenya nicht an sich Sicherheit, sondern diese muss aktiv produziert, das heisst immer wieder aufs Neue bestätigt werden. Insofern bildet badenya nur eine Bezugsform, die jedoch gepflegt und genährt werden muss, damit sie tragfähig wird. Im Prinzip stünden Mariam noch zwei andere, jüngere Brüder derselben Mutter als Vertrauenspersonen zur Verfügung, doch aus gutem Grund entscheidet sie sich jedoch für Ali. Für ihn hat sie sich weitaus am meisten engagiert und kann deshalb auch auf seine Zuverlässigkeit zählen. Folglich ist ihr Vertrauen nicht nur durch Vertrautheit und Blut respektive Muttermilch abgesichert, sondern auch durch fortgesetzte materielle Aufwendungen in, um mit Bourdieu zu sprechen, soziales Kapital, das sich wiederum positiv auf ihr symbolisches Kapital niederschlägt. Als ich Mariam das dritte Mal treffe, ist sie bereits vom Ehemann getrennt. Sie wirkt erleichtert. Da man nicht sie als die Schuldige des Zerwürfnisses betrachtet, sondern – aufgrund seiner sechs vorhergehenden Scheidungen – ihren Mann, hat es ihrem Namen nicht geschadet, meint sie. Eine positive Folge des kurzen Eheintermezzos ist jedenfalls, dass sie nun als »deçue de la vie« gilt und für ungefähr fünf Jahre, so schätzt sie, von weiteren Heiratspflichten befreit ist. Diesen Zeitgewinn, zu dem sich der anfängliche Zeitdruck schliesslich gewandelt hat, nutzt sie für ihre beruflichen Weiterbildungen. Mariams Beispiel verdeutlicht gut die in unterschiedlichen Bereichen unternommenen, doch ineinander greifenden und sich ergänzenden Navigationen: vom gesunden Misstrauen gegenüber ihrem Verlobten, dann die Hochzeit und das von vielen Seiten abgestützte Vertrauen zum jüngeren Bruder bis schliesslich zum Ausbruch aus den langsam kritisch werdenden Versteckspielen ihrer Ehe und den Beginn einer neuen beruflichen Ausrichtung. Angenommen Mariam hätte beschlossen, ihrem Mann zu vertrauen – selbst wenn er die Information nicht nach aussen getragen hätte –, die Bedrohung allerdings wäre stets präsent gewesen und hätte ihren Handlungsraum wie auch ihre Position innerhalb der Ehe erheblich geschwächt. Diese Form von Macht, die sich über Drohung und Erpressung artikuliert, bezeichnet der deutsche Soziologe Heinrich Popitz als die typische Alltagsmacht; hierbei ist das alltägliche Verhalten durch das »jederzeit Mögliche« (Popitz 1992: 26) bestimmt.

und revitalisiert werden, eine zuverlässige Alternative zu den mehr und mehr gelockerten und fragmentarisierten Bindungen in den Grossfamilien.

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Ob sich die Situation nun ganz von alleine zu ihren Gunsten entwickelt hat oder ob sich Mariam mit vorausahnendem Weitblick, sozusagen aus Berechnung, einen als unzuverlässig bekannten Ehepartner ausgesucht hat, dies lässt sich anhand der Gespräche nicht beurteilen. Sicher ist jedoch, dass ihre Hochzeit für den Erhalt ihrer sozialen Gesundheit äusserst hilfreich war, und sie sich trotz risikoreicher Umständen neue Wege durch das äusserst unwägbare Terrain erschlossen hat.

17.3 D IE M UT TER UND IHRE S TELLVERTRE TERINNEN Wenn es darum geht, das Geheimnis sicher zu deponieren und eine Begleitung oder Beratung zu finden, dann ist die Mutter die dafür prädestinierte Person. Die ehemalige physische Einheit zwischen Mutter und Kind bleibt ideell lebenslang bestehen und sorgt für die weit verbreitete und tief verankerte Idealisierung dieser Beziehung. Sie bildet das prototypische Modell von »être les mêmes« und gründet auf einer Zusammengehörigkeit, die von Identifikation geprägt ist und durch kein noch so schwerwiegendes Geheimnis gesprengt werden kann. Es scheint nahezu undenkbar, von der eigenen Mutter verraten zu werden, da sie sich mit ihren Worten zugleich selbst beschuldigen würde. Insofern wundert es nicht, dass HIV-positive Personen die Beziehung zur Mutter als ihre stärkste Vertrauensbindung bezeichnen. Als eine mögliche Verbündete steht sie an erster Stelle, weil bei niemandem sonst die Information so sicher aufgehoben ist wie bei ihr: »C’est seulement ma mère à qui je fais confiance.« (m, 39 Jahre, 15.2.2007). Von ihrer Seite kann mit Loyalität und Mitgefühl gerechnet werden, denn das Fundament des Vertrauens beruht nicht nur auf dem subjektiv empfundenen Einssein, sondern auch aus gesellschaftlicher Sicht gilt der Name als ein gemeinsames Gut. Und diese Gleichsetzungen machen sehr zuversichtlich, dass von dieser Verbindung kein Verrat ausgehen kann. Eine ältere Gesprächspartnerin, deren Mutter bereits verstorben ist, hat in ihrer Familie niemanden gefunden, die sich als Geheimnisträgerin eignen würde. Mit ihrem Bedürfnis, sich seelisch von der Last der Krankheit zu erleichtern, wendet sie sich an eine Frau im Alter ihrer Mutter und reproduziert auf diese Weise die verlorene Vertrauensbeziehung: Je l’ai mis à la place de maman – vraiment je l’ai mis dans la même assiette que ma maman. Je l’ai pris comme ma confidentielle [...] Elle me donne des conseils et me soutient moralement: Il faut te faire coquette tous les jours, elle me dit, il faut pas mettre la maladie dans ta tête. (w, 52 Jahre, 19.1.2007)

Vom Vertrauensverhältnis Mutter-Kind leiten sich weitere Konstellationen ab, sozusagen Übertragungen des ursprünglichen Modells, die sich ebenfalls als

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besonders vertrauenswürdig auszeichnen. Sie gründen auf der bereits dargestellten Institution badenya, der Verbindung über Muttermilch und Blut. Innerhalb des Kreises der Kinder derselben Mutter nimmt die ältere Schwester eine besondere Position ein. Sollte die Mutter aus irgendwelchen Gründen, aufgrund von Scham oder Respekt als Ansprechperson nicht in Frage kommen, dann gilt oftmals die ältere Schwester als ihre Stellvertreterin. Speziell bevorzugt für die Eröffnung des HIV-Geheimnisses ist das Verhältnis zwischen älterer Schwester und jüngerem Bruder. Doch im Gegensatz zur Beziehung Mutter-Kind, wo eine HIV-Information zumeist nur eine Richtung nimmt, nämlich vom Kind zur Mutter7, kann sie zwischen älterer Schwester und jüngerem Bruder in beide Richtungen gehen. Auffallend ist, dass dieses gegengeschlechtliche Vertrauen, das die MutterSohn-Bindung zum Vorbild hat, sich für meine Informanten und Informantinnen nie als enttäuschend herausgestellt hat, sondern im Gegenteil die Beziehung zwischen den beiden Geschwistern vertiefte: C’est une seule personne à qui j’avais confiance et je me suis dit si je l’informe, il va m’accepter telle que je suis, c’était mon jeune frère et ça c’est passé exactement comme j’avais prévu. (w, 36 Jahre, 17.2.2008)

Bemerkenswerterweise finden sich in meinen Daten keine Erzählungen über persönliche Mitteilungen zwischen älterem Bruder und jüngerer Schwester. Eine Erklärung könnte darin zu finden sein, dass diese Beziehung als Analogie zum Verhältnis Vater-Kind gewertet wird – eine Beziehung, die üblicherweise von Respekt und Distanz gekennzeichnet ist. Denn rein von seiner Position als Elternteil käme der Vater als Vertrauensperson durchaus in Frage, auch er würde den Namen der Familie niemals mit Verrat belasten wollen. Insofern steht hier nicht der strukturelle Aspekt einer Mitteilung entgegen, sondern es 7 | Diese eindeutige Tendenz mag jedoch auch davon geprägt sein, dass sich in meiner Untersuchungsgruppe nur wenige Mütter befanden, deren Kinder alt genug waren, um die Tragweite einer HIV-Information überhaupt erfassen zu können. Zudem ist es für eine Mutter, aufgrund der sexuellen Assoziation der Krankheit, besonders belastend, ihre Kinder einzuweihen und ist zumeist mit der Befürchtung verbunden, deren Zuneigung und Respekt zu verlieren: Je pense qu’ils doivent me traiter de mauvaise mère (denbajugu) …. D’abord j’ai moi-même honte pour les enfants qu’ils ne vont pas prendre la chose comme un comportement suspect et douteux. Parce que, avant de bien comprendre la maladie, on a tendance à la confondre avec une maladie exclusivement sexuelle. Les enfants peuvent seulement penser à ça, sauf si Dieu ouvre leur esprit à comprendre davantage le problème et à m’épargner de ce fait. S’ils comprennent qu’ils ne me reconnaissent pas de cette pratique, ils pourront alors m’épargner de vagabondage sexuel. (w, 28 Jahre, 13.1.2004)

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ist vielmehr der affektive Charakter, der dieser Beziehung fehlt und deshalb die vertrauliche Nähe verhindert. In den bisherigen Darstellungen habe ich versucht, bestimmte Muster bevorzugter Vertrauenskonstellationen aufzuzeigen – dabei handelt es sich selbstverständlich um Typisierungen real erlebter Vertrauensbeziehungen. Wie bereits im Beispiel von Mariam und ihrem Bruder Ali deutlich geworden sein dürfte, stellen diese abstrahierten Bezüge zwar einen Vertrauensrahmen zur Verfügung, sind jedoch weit entfernt, blindes Vertrauen zu generieren. Im Gegenteil, sie benötigen der konkreten Nahrung, das heisst, sie müssen im Alltag immer wieder aufs Neue belebt und wach gehalten werden. Doch ungeachtet aller Bedingungen, die sich positiv auf Vertrauensbildung auswirken sollten wie die gemeinsam verbrachte Zeit, eine bestimmte Beziehungskonstellation oder gemachte Investitionen, gibt es dennoch Beispiele, in denen sich Vertrauen allen Erwartungen zum Trotz als Fiasko erwies. Besonders schmerzvoll und beschämend ist es, von der eigenen Mutter verraten zu werden, wie dies einer meiner Gesprächspartner erlebt hat. Er selbst stand dieser Erfahrung vollkommen konsterniert und hilflos gegenüber, umso mehr als er, wie er sagt, seine Mutter über alles liebt und sie stets finanziell unterstützte.

Moussa: von der Mutter verraten Moussa kommt aus einem Dorf weit im Norden des Landes; dort gilt jemand, der sich aufmacht, die Gemeinschaft zu verlassen und sein Leben in der Stadt fortzusetzen, als arbeitsscheu. Auch Moussas Familie war nicht erbaut, als er die Feldarbeit aufgeben und in der Hauptstadt sein Auskommen suchen wollte. Zu Beginn lief es dort ganz gut für ihn; tagsüber arbeitete er als Handlanger auf dem Bau, des Nachts als Wächter in einem Privathaus. Zwar konnte er seiner Mutter regelmässig etwas Geld schicken, doch für Besuche war der Weg zu weit. Als er sie nach zwei Jahren der Trennung wieder sieht, bittet sie ihn nachdrücklich, zu bleiben und die Feldarbeit wieder aufzunehmen, da er hier dringend benötigt werde. Moussa weiss nicht, wie er seiner Mutter glaubhaft erklären soll, dass es ihm beim besten Willen nicht möglich ist, diesen Wunsch zu erfüllen. In seiner Hilflosigkeit beschliesst er, ihr die Wahrheit zu sagen: Neben dem Geld, das er in Bamako verdiene, gäbe es noch einen viel entscheidenderen Grund, dort zu bleiben – nur in der Stadt erhalte er die Medikamente, die er zur Behandlung seiner Krankheit brauche. Anscheinend, so Moussas Interpretation, empfindet seine Mutter dies als eine faule Ausrede, denn ungeachtet dessen schlägt sie ihm vor, endlich seine Cousine zu heiraten, die schon lange als Frau für ihn bestimmt sei. Erneut verweist er auf seine Krankheit und lehnt ab. Daraufhin verlässt er das Dorf und kehrt nach Bamako zurück. Wie es kam und warum es kam, dass sich die Nachricht über seine Krankheit im Dorf verbreitet hat, kann sich Moussa zuerst nicht erklären. Über drei Ecken erfährt er, dass alle im Dorf Bescheid wüssten und er sich deshalb besser

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fernhalte. Aber ausser mit seiner Mutter hat er doch sonst mit niemandem gesprochen? In unseren Gesprächen, die stets in den Räumlichkeiten von CESAC stattgefunden haben, lässt Moussa immer wieder durchblicken, wie sehr er sein Leben im Griff habe und all seine verschiedenen Jobs gut zu jonglieren wisse. Nach dem Besuch bei seiner Mutter jedoch ist er ziemlich verunsichert. Er weiss, dass sich für ihn im Dorf etwas grundsätzlich verändert hat und er sobald nicht mehr dorthin zurückkehren kann. Kurz vor Ende des Gesprächs ringt er sich zu einer Deutung seiner Situation durch, entschuldigt sich allerdings sogleich dafür: Moussa: (long silence) … Entre la maman et son enfant, c’est très sérieux … je pense, elle a divulgué mon statut … Mais elle est ma maman, et la maman reste la maman. Même si elle a divulgué mon statut, je ne peux pas considérer cela, car l’enfant c’est l’enfant, je ne peux pas la désobéir et ça m’a fait mal. Un enfant ne doit pas dire et ne doit pas montrer qu’il n’a plus confiance en sa maman. (m, 25 Jahre, 23.1.2007)

Als wir uns zum dritten Male sehen, hat sich eine andere und für ihn selbst vielleicht auch akzeptablere Erklärung für den Verrat gefunden. Jetzt ist er der Ansicht, seine Halbbrüder väterlicherseits (fadenw) seien es gewesen, die die Nachricht im Dorf verbreitet hätten. Auf jeden Fall ist ihm der Weg zu seiner Mutter versperrt, und das ist es, was ihn am meisten quält: Ce qui me tracasse maintenant est que j’ai la nostalgie de ma mère, mais je peux pas aller la voir car je n’ai pas d’argent et dans mon village je suis la seule personne qui a le sida. (11.12.2007)

Moussas anfängliche Erschütterung und auch seine zuletzt geäusserte Betroffenheit zeigen, wie stark dieses fungierende Vertrauen – gleich ob sich die entsprechende Person als dessen würdig erweist oder nicht – affektiv geprägt ist und sich somit stark von spiel- und rational-choice-theoretischen Vertrauensansätzen unterscheidet (siehe dazu Jones 1996; Coleman 1991: 115f). Das Vertrauen hier ist mit dem zutiefst optimistischen Gefühl verbunden, dass von dieser speziellen anderen Person kein Schaden ausgehen kann, und sie sich für das Wohl der vertrauensgebenden Person einsetzen wird. Sollte dieses Vertrauen jedoch enttäuscht werden, dann stimmt die Welt nicht mehr – das Unmögliche ist eingetroffen und zugleich unaussprechbar geworden, denn: »Chez nous, la mère est sacrée.« Moussas Erfahrung, die aller sozialen Logik und gesellschaftlichen Norm widerspricht, ist nicht nur für ihn schwer fassbar, sondern sie ist auch schwer in Worte zu fassen. Dafür gibt es keine kulturell adäquate Art und Weise, ohne sich dabei selbst zu beschämen. Doch abgesehen von dieser Hürde zeigt seine Erfahrung auch, wie ungewiss der Akt des Vertrauens letzten Endes

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immer bleibt – selbst alle erfüllten Sohnespflichten schützen nicht vor einer bitteren Enttäuschung.

17.4 V ERTR AUEN UND K ONTROLLE Simmel zufolge bewegt sich Vertrauen zwischen Wissen und Nichtwissen; der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der völlig Nichtwissende hingegen kann nicht vertrauen (Simmel 1992: 393). Dementsprechend ist fungierendes Vertrauen, das auf einer relativ gut abgestützten Basis gegenseitiger Vertrautheit und ideeller Einheit beruht, eher durch Wissen, durch gemeinsame und wiederholte Erfahrungen geprägt. Ist nun aber dieser Erfahrungsschatz dürftig oder weist er grössere Lücken auf, dann beginnt Vertrauen, das nun verstärkt von Nichtwissen gezeichnet ist, zu einem grösseren Wagnis zu werden. Mit anderen Worten: Vertrauen zu gewähren erscheint unter solchen Umständen, gerade im Zusammenhang mit HIV, eine speziell unsichere Angelegenheit zu sein, und oftmals wird versucht, diese Ungewissheit reflexiv zu bewältigen. »La confiance n’exclue pas le contrôle«, sagt Mariam (2.12.2007). Kontrolle zeigt sich einerseits in den Versuchen, das Wissen über eine potentielle Vertrauensperson zu erweitern, ihre möglichen Interessen und charakterlichen Dispositionen zu überprüfen, andererseits aber auch in den Überlegungen hinsichtlich der eigenen Sanktionsmöglichkeiten. In solch unsicheren Angelegenheiten ist es das Beste, meint Mariam, sich wie ein Chamäleon zu verhalten – unauffällig und nur in kleinen Schritten: »Petit à petit, ça marche à pas de caméléon.« Denn ein Chamäleon, so erklärt sie, vergewissert sich erst, ob der Grund auch wirklich tragfähig ist, bevor es seine Füsse aufsetzt. Auf soziale Beziehungen übersetzt bedeutet dies, den anderen beobachten, die gemachten Erfahrungen auswerten, aber auch mit Hilfe von unverfänglichen Andeutungen deren Zuverlässigkeit testen. Es gab eine Zeit, da Mariam überlegte, sich ihrer besten Freundin aus den Teenagertagen anzuvertrauen. Mit ihr konnte sie früher vorbehaltlos alles teilen, sie galten als ein unzertrennliches Paar. Als die Freundin nach mehrjährigem Aufenthalt aus der Elfenbeinküste zurückkehrt, ist Mariam froh, dass sich die Nähe von früher wieder einstellt. Andererseits verändern sich Menschen durch fremde Einflüsse. Deshalb fragt sie sich, ob sie wirklich an die Vertrautheit von früher anknüpfen kann oder ob ein geteiltes HIV-Geheimnis die bislang unbedenkliche Verschwiegenheit zu sehr strapazieren würde. Sie beginnt, ihre Freundin zu »studieren«, versucht, aus ihren Reaktionen abzulesen, ob sie ihr auch wirklich wohlgesonnen ist oder ob sie hauptsächlich ihre eigenen Interessen verfolgt. Eine einzige Begebenheit allerdings macht Mariam stutzig und veranlasst sie schliesslich, von rückhaltlosem Vertrauen Abstand zu nehmen: Die Freundin ist verrückt nach einem Kleid von ihr, will sie aber nicht danach

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fragen, sondern streitet sich bis zur Scheidungsandrohung mit ihrem Mann, damit er es ihr kaufe. Als Mariam sie beruhigen und ihr das Kleid schenken will, lehnt die Freundin ab. Diese Geste indessen, so Mariams Interpretation, verweist auf Neid: Die Freundin will verhindern, in die Position der Empfangenden zu geraten oder anders gesagt: Sie will Mariam keine Chance lassen, sich als Gebende und damit als die Überlegene zu zeigen. Daraufhin beschliesst Mariam, sie nicht einzuweihen: Il y a certains secrets que tu sais que ta copine peut garder, il y en a d’autres que ta copine ne peut pas garder. Aujourd’hui, je l’ai étudiée, mais je ne peux pas lui dire ça (la séropositivité, N.S.). Pourquoi? J’ai remarqué qu’elle était jalouse de moi. Et elle est devenue ingrate. Quelqu’un qui est jalouse ne veut jamais ton bonheur, elle veut toujours te diffamer, dire des trucs qui peuvent te faire descendre, pour cela je me suis retenue. Parce que avec toute chose, il faut réfléchir avant d’agir. (26.3.2007)

Im Gegensatz zu dem Vertrauen, das sie ihrem Bruder entgegenbringt, muss sich Mariam hier die Sache genau überlegen. Vertrauen schenken wird zu einer Gabe, welcher sich eine mögliche Vertrauensperson erst als würdig erweisen muss. Das vorenthaltene Vertrauen in diesem Falle ist jedoch nicht mit dem gesunden Misstrauen gegenüber ihrem Verlobten gleichzusetzen. Mit ihm gab es überhaupt keine Basis von gemeinsamen Erfahrungen; bei ihrer Freundin indessen ist Mariam nur in dieser einen Hinsicht nicht bereit, eine risikoreiche Entscheidung zu fällen. Abgesehen vom eingehenden »Studium« der anderen Person, eignen sich auch Gespräche über AIDS als ein Testfeld, das zwar nicht direkt Aufschlüsse hinsichtlich der Vertrauenswürdigkeit geben kann, aber doch über die grundsätzliche Einstellung zur Krankheit und zu Kranken. Auch Astou hat auf diese Weise versucht, eine ihrer Mitbewohnerinnen zu testen. Astou ist eine der älteren Gesprächspartnerinnen; nach der Trennung von ihrem Mann kehrt sie aus der Elfenbeinküste in ihre eigentliche Heimat Bamako zurück und wohnt bei den jüngeren Brüdern ihres verstorbenen Vaters. Ausser mit einer befreundeten Frau, der sie – wie bereits in Kapitel 17.3. erwähnt – den Platz ihrer Mutter eingeräumt hat, kann sie mit niemandem über ihre Krankheit sprechen. Doch mit der Zeit hat sich zur Frau eines Cousins, die auch im selben Hof lebt, eine gewisse Nähe angebahnt, so dass Astou zu überlegen beginnt: J’ai un petit frère dont sa femme m’encourage beaucoup, elle ne connaît pas ma sérologie. [...] Un jour, je lui ai posé la question sur le sida; elle m’a dit que c’est comme les autres maladies, ça se soigne et on peut faire des enfants avec, il suffit de faire bien ton traitement. Le jour où elle m’a parlé comme ça, cela m’a soulagé, mais j’ai pas eu la confiance en elle de lui dire que j’ai le sida. (w, 52 Jahre, 7.12.2007)

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Entscheidend für Astous Zurückhaltung war schliesslich die Beobachtung, dass sich ihre Mitbewohnerin beim Besuch einer durch das Fernsehen bekannten AIDS-Aktivistin neugierig und sensationslüstern verhalten habe. Auffallend viele der Vertrauenstests enden, genau wie bei Astou und Mariam, mit negativem Resultat; die auf diese Weise eingeholten Informationen scheinen eine Vertrauensbeziehung vielmehr zu behindern als sie zu befördern (siehe dazu auch Preisendörfer 1995: 268). Ebenfalls ein Kriterium, das die Vergabe von Vertrauen zweifelhaft macht und das es im Vorfeld zu bedenken gilt, ist die finanzielle Ausstattung der möglichen Vertrauenspersonen: »On ne peux pas avoir confiance à quelqu’un qui n’a rien, la confiance est liée à l’argent.« (m, 54 Jahre, 15.11.2006) Armut verhindert Vertrauenswürdigkeit, so die Essenz dieser Aussage. Dahinter liegt eine grundsätzliche Einstellung gegenüber Armut, die mir im Laufe der Forschung in verschiedenen Zusammenhängen begegnet ist und die konträr zu der im westeuropäischen Umfeld üblichen Auffassung steht, nämlich dass arm sein moralische Integrität nicht ausschliesst (wie sie in vielen Redensarten wie »arm, aber aufrichtig«, »arm, aber ein gutes Herz« etc. deutlich wird). Faantanya ist der bamanakan Ausdruck für Armut; etymologisch gesehen verbirgt sich darin fanga–tan, Machtlosigkeit, und verdeutlicht damit, dass mit Armut nicht allein der Mangel an materiellen Mitteln gemeint ist, sondern vor allem die sozialen Konsequenzen dieses Mangels. Armut sorgt für soziale Bedeutungslosigkeit, dies ist die eine Seite; zugleich verhindert Armut aber auch die Ausbildung von gesellschaftlich geschätzten, von ehrbaren Eigenschaften. Denn Armut, so die Annahme, bewirkt eine so hohe Bedürftigkeit, dass sich soziale, uneigennützige Qualitäten verlieren. Der materielle Druck ermüdet8, zehrt an der Substanz einer Person und verführt zu »egoistischen« Handlungen wie Diebstahl, Verrat und Betrug: Si tu deviens pauvre, tu embarrasses tous les mauvais caractères et même si tu n’as pas ces caractères, on te traite de tous ces maux. Si tu deviens pauvre et si tu ne fais pas attention sur la maîtrise de tes yeux et de tes mains, tu prendras les choses d’autrui. Il te faut avoir la maîtrise de tes yeux, de tes mains et de ta bouche. (w, 20 Jahre, 10.2.2005)

Die unterschiedlichen Richtungen der Vertrauensprüfungen weisen daraufhin, dass die Erwartungen an die Vertrauenswürdigkeit von möglichen Verbündeten sehr hoch sind. Daher ist es angebracht, zum Schluss des Kapitels über Vertrauen ein paar Überlegungen zur grundlagentheoretischen Verortung des Begriffs im Kontext einer HIV-Information anzufügen. 8 | Bezeichnenderweise fungiert sègèn (Mühe, Müdigkeit, Erschöpfung) als ein Synonym von faantanya.

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17.5 E INGEBE T TE TES V ERTR AUEN In den letzten Jahren haben soziologische Beiträge, die sich mit dem Thema Vertrauen auseinandersetzen, erheblich zugenommen. Dies ist zu einem grossen Teil damit zu erklären, dass Vertrauen als eine soziale Ressource betrachtet wird, die im Zusammenhang mit Modernität und sich ausdifferenzierenden Gesellschaften koordiniertes Handeln ermöglichen soll (Hartmann 2001: 14). Dabei wird davon ausgegangen, dass persönliches Vertrauen in modernen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung verliert und durch Vertrauen in abstrakte Systeme oder Institutionen abgelöst wird. Diese neuere Form von Systemvertrauen unterscheidet sich auch begrifflich vom Vertrauen in Menschen und wird entsprechend als Zutrauen (confidence) bezeichnet (Giddens 1995; Luhmann 2001). Im Kontext von HIV hingegen ist das persönliche Vertrauen angesprochen, und dabei ist, wie wir gesehen haben, der Umgang mit diesem Vertrauen – handle es sich um Gewährung oder um Verweigerung – für den Erhalt der sozialen Gesundheit entscheidend. Allerdings stellt sich die Frage, wie der Vertrauensbegriff, der hier verwendet wird und der eine gewisse Nähe zu Absicherung und Kontrolle aufweist, überhaupt zu verstehen ist. Obwohl das Phänomen in diesen Debatten sehr breit und mit divergierenden Bedeutungen diskutiert wird – vom strategisch orientierten Handlungsmodus bis zur emotionalen Haltung des Optimismus (siehe dazu Endress 2002) – existieren auch Versuche, den Begriff »Vertrauen« gegenüber anderen Handlungsformen oder Einstellungen abzugrenzen. So weisen einige Autoren daraufhin, dass hinterfragtes Vertrauen nicht mehr als Vertrauen zu bezeichnen ist: Das Vertrauen ist gerade dann ganz zu sich gekommen, wenn es als solches nicht bewusst ist, wenn es ohne einen Akt expliziter Reflexion anderen entgegengebracht werden kann. Man könnte sogar soweit gehen zu behaupten, dass ein reflexiv gewordenes Vertrauen (Kann ich ihm, kann ich ihr vertrauen oder nicht?) kein Vertrauen ist. (Hartmann 2001: 25)

Andererseits, und darin unterscheiden sich meine empirische Daten von theoretischen Überlegungen, zeigt die häufige Verwendung des Begriffs in den Gesprächen, dass es im Zusammenhang mit der Preisgabe einer HIV-Information äusserst leichtfertig wäre, die Vertrauensfrage nicht zu stellen, selbst wenn sie sich »automatisch« beantworten liesse. Auf der anderen Seite des Vertrauensspektrums hingegen, auf derjenigen, die sich eher der subjektiven Gewissheit zuneigt, haben Autoren vorgeschlagen, den Begriff des Vertrauens von demjenigen des Sich-Verlassens-auf zu unterscheiden (u.a. Jones 1996: 14; Baier 2001: 42). Von Vertrauen kann also nur dann die Rede sein, wenn es nicht auf völliger Sicherheit, nicht auf kalkulierbaren Garantien beruht.

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Dennoch sind für die Vergabe von Vertrauen auch immer die Motive der anderen Person in Betracht zu ziehen: Welche Interessen könnten ihre Vertrauenswürdigkeit respektive ihre Vertrauensunwürdigkeit beeinflussen? Hierbei kann es sich allerdings nur – wie Moussas enttäuschtes Vertrauen gegenüber seiner Mutter zeigt – um Spekulationen und niemals um absolute Sicherheiten handeln. Denn die Möglichkeit, dass sich die Vertrauensempfängerin sozial unlogisch verhält oder einem selbst Fehleinschätzungen unterlaufen, besteht immer. Insofern erscheint es als durchaus gerechtfertigt, im Zusammenhang mit HIV-Informationen von Vertrauen und nicht von Gewissheit zu sprechen. Andererseits, und das ist ein wesentliches Kennzeichen des hier verwendeten Vertrauensbegriffs, ist er stark von den befürchteten Konsequenzen geprägt, welche ein sorglos vergebenes Vertrauen nach sich ziehen könnten. Das heisst, er tendiert eher in Richtung des Sich-Absicherns als dass er sich durch besondere Experimentierfreudigkeit auszeichnet. Daher scheint es mir angebracht, im Kontext von HIV von »eingebettetem Vertrauen« zu sprechen – eingebettet in Vertrautheit, in die Empfindung von Gleichheit und emotionaler Nähe, eingebettet aber auch in die eigene Beziehungsarbeit. Gleichzeitig festigt dieses eingebettete Vertrauen, um mit den Worten Bourdieus zu sprechen, das soziale Kapital der persönlichen Bindungen und erhält auf diesem Wege das symbolische Kapital des guten Namens. Insofern nimmt Vertrauen hier eine Mittelstellung ein – es erwächst aus sozialem Kapital, nährt und bindet dieses aber auch in solcher Weise, dass das Geheimnis und damit der Name geschützt respektive erhalten bleiben. Meine obigen Darstellungen zeigen, dass sich der spezifische Bedeutungsgehalt von Vertrauen nur empirisch, durch eine Kontextualisierung der einzelnen Vertrauenssituationen, erschliessen lässt. Dabei sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die persönliche Bereitschaft zu vertrauen immer auch von objektiven Bedingungen abhängig ist. Nun geniesst weder das politische noch das wirtschaftliche System in Mali eine besonders hohe Vertrauenswürdigkeit, das heisst, das gesellschaftliche Vertrauensklima ist nicht unbedingt dazu angetan, Vertrauen auf der persönlichen Ebene zu generieren. Zudem sind Vertrauensdispositionen ebenfalls von den zur Verfügung stehenden Ressourcen gekennzeichnet. Denn Vertrauen muss man sich leisten können. Und je leichter man auf alternative Ressourcen wie Geld, Macht und Wissen zurückgreifen kann, desto weniger verwundbar ist man im Falle einer Enttäuschung. Schlecht gestellte Personen können sich Vertrauen oft gar nicht erlauben, weil eine Enttäuschung existenziell bedrohlich für sie wäre. Offe (2001: 260) verweist auf dieses Paradox, dass gerade Personen, die am meisten auf Vertrauen angewiesen wären, am wenigsten in der Lage sind, dieses Risiko einzugehen. Und in diesem Sinne ist auch die Einbettung dieses spezifischen Vertrauens zu verstehen. Abschliessend möchte ich darauf hinweisen, dass meine Darstellungen in Hinsicht auf Resilienz sich vornehmlich mit der Vertrauensfrage befassten. Die

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Vertrauensfrage steht einerseits im Zusammenhang mit der Wahrung des Namens, andererseits nährt die Vergabe von Vertrauen das soziale Kapital und kreiert zuverlässige Verbündete – Personen, mit denen die emotionale Last geteilt werden kann und die helfen, die organisatorische wie soziale Seite der Krankheit zu bewältigen. In diesem Sinne ist die Vertrauensthematik eng mit der gesamten Informationspraxis verknüpft. Dabei sollte allerdings nicht übersehen werden, dass längst nicht alle persönlichen Mitteilungen über den Serostatus auf Vertrauen basieren. Im Gegenteil, in vielen Fällen entspringt eine Information nicht dem freiwilligen Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen, sondern vielmehr äusseren Notwendigkeiten. So war zum Beispiel Modibo als Armeeangehöriger gezwungen, seine Vorgesetzten zu informieren, als er in die Wüstengebiete im Norden des Landes versetzt werden sollte, denn dort hätte er seine Therapie nicht weiterführen können. Doch abgesehen von der eindeutigen und ausgesprochenen Form der Mitteilung existieren auch, wie im nächsten Kapitel ausgeführt, andere, eher subtilere Möglichkeiten der Information ohne dabei die soziale Gesundheit zu gefährden.

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18. Den Respekt bewahren

Der Name ist ein Produkt aus den Worte der anderen, doch diese Worte sind schwierig zu beeinflussen. Auf den Respekt hingegen, der in jeder alltäglichen Interaktion direkt wahrnehmbar ist, kann bis zu einem gewissen Grad proaktiv eingewirkt werden. Im vorherigen Kapitel ging es um Versuche, das Geheimnis zu schützen und sich dadurch Name und Respekt zu erhalten; hier möchte ich nun darauf zu sprechen kommen, wie es gelingt, sich den Respekt zu bewahren, selbst wenn bereits Gerüchte kursieren und der Name entsprechend angegriffen sein sollte. Im weitesten Sinne sind diese Praktiken darauf ausgerichtet, bestimmte Eindrücke von sich zu vermitteln, um so Nähe und Distanz zu anderen Interaktionspartnern auszutarieren und den persönlichen Freiraum zu schützen. Anders als es bei der Vergabe von Vertrauen zum Ausdruck kam, sind diese Handlungen weniger von reflexiven Abwägungen geleitet als vielmehr durch den in der Bourdieuschen Theorie zentral behandelten praktischen Sinn – »jene präreflexive, unterbewusste Beherrschung der sozialen Welt, die von den Akteuren durch ihr dauerhaftes Eintauchen in diese Welt erworben wird« (Wacquant 1996: 41). Es ist dieser Sinn für das Spiel, der im Zusammenhang mit Respekt und Ehrerbietung bestimmte, von Flexibilität und Ambivalenz gekennzeichnete Strategien hervorbringt. Damit ist ein Repertoire von Handlungen angesprochen, die meine Gesprächspartner nur schwer begründen können, eben weil sie vorwiegend unbewusst stattfinden. Insofern basieren die in diesem Kapitel behandelten Versuche zum Erhalt der sozialen Gesundheit mehr auf Beobachtungen denn auf Interviewaussagen. Des Weiteren haben sich mir Sinn und Organisation bestimmter Praktiken erst im Laufe der Zeit, durch wiederholte Beobachtungen entschlüsselt. Infolgedessen lässt sich der Goffmansche Ansatz, der hauptsächlich einzelne Situationen im Blick hat, hinsichtlich seiner zeitlichen Dimension erweitern und zwar dahingehend, dass es sich hier anstelle von allein stehenden Szenen in gewissen Fällen vielmehr um »Anerkennungsdramen« handelt. Während ich im ersten Teil dieses Kapitels eine bestimmte Form indirekter Kommunikation vorstellen möchte, die dafür sorgt, dass der Respekt in den alltäglichen Interaktionen erhalten bleibt und zudringliche Fra-

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gen unterbunden werden, befasst sich der zweite Teil mit der inszenatorischen Ausgestaltung von Respekt.

18.1 R ESPEK T UND WORTLOSES W ISSEN — » É VITER LES MOTS DIRECTS « Nach zahlreichen Interviews, die sich alle auf die eine oder andere Weise mit den sozialen Folgen von HIV beschäftigten, interessierte es mich schliesslich, ob wohlhabende Personen – wie mir von Seiten meiner bisherigen Gesprächspartner immer wieder erklärt wurde – in sozialer Hinsicht nicht gefährdet sind. Oder anders gefragt: Wie wirkt sich eine hohe gesellschaftliche Position und damit verbunden auch ausreichend finanzielle Mittel auf den Umgang mit dem HIV-Geheimnis respektive auf den Erhalt der sozialen Gesundheit aus? Das Beispiel von Herrn Sidibé, der von seinem Sohn als »un cas exceptionel« bezeichnet wird, bestätigt auf den ersten Blick die These von der sozialen Unverwundbarkeit. Als ehemaliger Parlamentsabgeordneter verfügt Herr Sidibé über hohes Ansehen, ist aber auch für seinen grosszügigen Umgang mit Geld bekannt. Dass er trotz der vielen und schweren Krankheitsphasen nie unter Ausgrenzungen zu leiden hatte, lässt sich ganz schlüssig mit der von Bourdieu dargestellten Kapitaltransformation – ökonomisches in symbolisches – analysieren. Doch abgesehen von dieser strukturellen Erklärung war es für den Erhalt seiner sozialen Gesundheit ganz wesentlich, dass er innerhalb seiner Familie eine sehr spezielle Form der Informationspraxis pflegen konnte, die ihn gegenüber ehrverletzenden, respektlosen Reaktionen von aussen zuverlässig abgeschirmt hat. Zum Zeitpunkt unserer Begegnung befindet sich Herr Sidibé im Point G in Bamako, dem grössten und ältesten Krankenhaus von Mali. Seit mehreren Jahren wird er antiretroviral therapiert, nimmt seine Medikamente aber nur sehr unregelmässig ein, wie mir sein Arzt erklärt – der Weg von seinem Dorf in die Hauptstadt erscheine ihm oft zu lang und zu beschwerlich und so schicke er lieber seinen Sohn die Rezepte besorgen, verpasse dadurch aber auch die für ihn wichtigen medizinischen Kontrollen. Für unsere Verabredung hat sich Herr Sidibé besonders feierlich gekleidet, doch die Stoffmassen seines hellblauen, reich bestickten Boubous erdrücken ihn fast. Man sieht auf den ersten Blick, dass diese Menge Tuch, die eigentlich dazu angetan ist, Reichtum und Macht zu demonstrieren, zu einer Zeit geschneidert wurde, als sich Herr Sidibé noch in anderer, besserer körperlicher Verfassung befand. Heute sitzt er, um Haltung bemüht, auf der Untersuchungsliege im Konsultationsraum. Doch auf mich wirkt allein schon der Gegensatz zwischen der prächtigen Kleidung und seines mittlerweile sehr mitgenommenen, ausgezehrten Körpers äusserst beelendend. Ich würde das Interview lieber auf einen anderen Tag zu verschieben, denn Herr

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Sidibé erscheint mir zu angegriffen, um ihn noch mit Fragen zu strapazieren. Aber ganz dezidiert wehrt er meine Bedenken ab, ist sogar der Ansicht, dass ihm unser Gespräch gut tun würde. In Anwesenheit seiner Frau und seines Sohnes Karim, den er mir als Student der Rechtswissenschaften vorstellt, beginnt Herr Sidibé über die Anfänge seiner Krankheit zu erzählen, berichtet vom Test und den anschliessenden Behandlungen. Als ich soziale Problematik der Krankheit anspreche, meint er nur, dass es in dieser Hinsicht überhaupt keine Probleme gebe; seine Frau wie auch die älteren Söhne seien über seinen Status informiert und stünden ihm bei all seinen Unternehmungen zur Seite. Ebenso habe er auch in seinem weiteren Umfeld nie Missachtung erfahren: Les gens me respectent, c’est l’important. Même si je retourne au village, les gens vont me saluer: ›Ah, Sidibé, tu as duré! Ton séjour était long!‹ Mais il n’y a pratiquement pas de changement de comportement; moi, je pénètre les gens comme les gens me pénètrent aussi. Ils viennent manger chez moi, on cause, il n’y a aucun problème. La façon de pénétrer les gens, ça compte beaucoup ici. Quand tu rentres chez les gens, il n’y a aucun problème. La société africaine est difficile et facile à la fois. Quand tu te réserves, les gens se réservent envers toi; quand tu les pénètres, ils viennent aussi envers toi. Je vais chez les gens qu’ils sachent, ah, Sidibé est là, il vient à nous quand même qu’il est malade. Il cause avec nous, on prend le thé ensemble et c’est tout. (56 Jahre, 9.2.2007)

Ich beglückwünsche ihn zu seinem regen und im Vergleich mit den oft schwierigen Situationen anderer Patienten aussergewöhnlich intakten Sozialleben. In der Zwischenzeit hat Karim den Raum verlassen. Verstanden habe ich bis jetzt nur, dass Herr Sidibés Lage sich vor allem dadurch erklärt, dass er eine im öffentlichen Leben einflussreiche Position einnimmt und aufgrund dessen von Anspielungen und Respektlosigkeiten verschont bleibt. Doch wie handhabt er, da sich die Krankheit nicht verheimlichen lässt, die Information innerhalb seiner Familie? Mit welchen Reaktionen war er da konfrontiert? Auf diese Fragen antwortet Herr Sidibé nicht, sondern er wiederholt nur, dass es keinerlei Schwierigkeiten gebe, dass die Krankheit für ihn ein rein medizinisches und kein soziales Problem darstelle. Denn da er sich und sein Sozialverhalten nicht geändert habe, bestünde auch für sein Umfeld kein Anlass, dies zu tun. Ebenso sei er nie mit konkreten Nachfragen bezüglich seiner Diagnose konfrontiert: Les autres peuvent penser à des questions, des doutes, mais personne m’a demandé: ›Sidibé, c’est quelle sorte de maladie? Il faut aller te soigner!‹. Et si tu ne me demandes pas, je ne te dis rien. Petit à petit, on commençait à me dire: ›Sidibé, tu es fréquemment à Bamako.‹ J’ai dit, je viens pour des soins médicaux. Finalement, ils ont su que je ne

T EIL 4: S OZIALE R ESILIENZ me porte pas bien, mais ils ne disent rien. Bon, je suis un fonctionnaire de l‹ État, je prends mes médicaments et je retourne. Et c’est tout – il n’y a pas des comptes rendus à craindre.

Unser Gespräch ermüdet Herrn Sidibé – von seiner Seite aus, so scheint mir, ist alles gesagt, was es zu seiner Krankheit zu erzählen gibt. Mit dem unbefriedigenden Gefühl, nur magere Antworten auf ungeschickt gestellte Fragen erhalten zu haben, verabschiede ich mich von ihm und seiner Frau. Eine verpasste Chance, denk ich mir. Draussen im Hof des Krankenhauses kommt Karim auf mich zu, er fragt: »Mon père, a-t-il avoué sa maladie? Est-ce qu’il sait de quoi il souffre?« Etwas perplex antworte ich, dass er doch dabei war, als über den Test und die Diagnose gesprochen wurde. Ja schon, aber das Wort »AIDS« habe er nie vernommen – ob ich denn sicher sei, dass sein Vater Bescheid wisse? Jetzt verstehe ich gar nichts mehr, bin gleichzeitig auch ratlos, wie ich mich verhalten soll, da ich plötzlich befürchte, an Dinge gerührt zu haben, die vielleicht besser hätten verdeckt bleiben sollen – ich entschuldige mich für den Fall, mit meinen direkten Fragen ein Familientabu gebrochen zu haben. Karim meint, nein, er sei froh, wenn sein Vater informiert sei, denn bis jetzt sei der Name der Krankheit nie genannt worden. Er selbst habe es aufgrund der Symptome geahnt, doch nie zu fragen gewagt. Auch ist er sich sicher, dass seine Geschwister nicht konkret Bescheid wissen; ob die Mutter unterrichtet sei, könne er nicht mit Bestimmtheit sagen, da er auch mit ihr nicht offen sprechen könne, ohne sie selbst der Krankheit zu bezichtigen. Andererseits, so nehme er an, mache sich jeder so seine Gedanken und werde wohl ähnliche Schlüsse ziehen. Für mich ist dies nur schwer verständlich: Wie soll das gehen, während mehr als zehn Jahren über die Diagnose zu schweigen? Karim: Ca fonctionne comme ça. On se tait là-dessus et on passe. Je peux vous dire que les gens sont au courant, ses proches même. N.S.: Mais si tout le monde est au courant, pourquoi pas en parler? Karim: Bon, c’est pas une bonne idée. Pour eux, ça marche comme ça, en ne disant rien en famille. On se tait là-dessus. [...] On parle indirectement. La maladie de notre père ne permet pas de demander quel genre? J’ai peur si j’informe mes frères et sœurs qu’ils vont se faire une certaine idée, qu’il a fréquenté… Moi je peux gérer ces problèmes à ma façon. Mais est-ce que mes frères sont capables de supporter ces informations, je ne le sais pas… N.S.: Et comment vous parlez entre vous sur la maladie du père? Karim: On dit, notre père est malade, il vient parfois se soigner et il retourne. Personne n’en parle sur la maladie proprement dite. Personne n’en parle sur ça. On évite les mots directs. Même mes sœurs parlent qu’il est malade, qu’il se soigne… bon. On ne parle pas sur la maladie proprement dite. Mais derrière les mots, il y a quand même une

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K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI certaine idée qui se transmet. Ici en Afrique, on préfère de ne pas parler sur certaines choses que d’en parler. (m, 23 Jahre, 9.2.2007)

Nicht nur Herr Sidibé vermeidet direkte Worte, sondern auch die anderen Familienmitglieder bemühen sich um eine möglichst unverfängliche Sprache. Demzufolge sind beide Seiten, der Betroffene wie die Angehörigen, an der Produktion von Uneindeutigkeiten beteiligt – alle wissen zwar mehr oder weniger Bescheid, ziehen es jedoch vor, dieses Wissen nicht in Worte zu fassen. Dabei ist aus Karims Beschreibungen zu entnehmen, dass diese Art der Kommunikation innerhalb der Familie Sidibé ganz selbstverständlich funktioniert und überhaupt nicht als umständlich oder anstrengend wahrgenommen wird – anstrengend erscheint es eher, mir diesen einfachen Sachverhalt zu erklären. Herr Sidibé muss sich um keine ausgeklügelten Techniken des Versteckens oder Täuschens bemühen, sondern er tut – oder besser: er unterlässt etwas, das von seinen Angehörigen sofort verstanden und akzeptiert wird, weil es den spezifischen Dispositionen aller entspricht. Der Strategie »éviter les mots directs« liegt also keine reflexive Berechnung, kein kalkulierter Handlungsplan zu Grunde, sie entsteht vielmehr aus dem Sinn für das Spiel und gehört zu den habituellen Praktiken des allgemeinen Handlungsrepertoires im Zusammenhang mit Respekt. Das Schlüsselwort der gesamten Strategie heisst Respekt – »les gens me respectent, c’est l’important« – dass diese, wie Simmel (1992: 396) sie nennt, ideelle Sphäre, die jeden Menschen umgibt, doch je nach Besitzer und Gegenüber ungleich gross ist und das Selbst vor Angriffen abschirmt, nicht tangiert wird. Direkte Worte würden diesen Sphäre ignorieren, wohingegen uneindeutige Kommunikation sie schützt und damit auch Herrn Sidibé vor Blossstellung bewahrt. Ein anderer Informant, dessen Familie ebenfalls nicht expressis verbis über seine Diagnose informiert ist, sie aber dennoch ahnt, meint, es lohne der Mühe nicht, etwas auszusprechen, das nur Schande bereite und den Respekt zwischen Familienmitgliedern in Frage stelle. Worte würden seine Krankheit nur banalisieren, sie als gewöhnlich oder alltäglich erscheinen lassen (m, 42 Jahre, 4.1. 2008). Indem über sie geschwiegen wird, bewahrt sie ihre Unfassbarkeit, bleibt unsagbar schrecklich und traurig, verliert gleichzeitig aber auch die in ihr enthaltene bedrängende Realität. Konträr zum Schweigen und den verpackten Worten im engeren Familienkreis stehen die neugierigen Nachfragen von ausserhalb, mit denen sich Karim auseinanderzusetzen hat. Sie weisen daraufhin, dass trotz familieninterner Diskretion Gerüchte nicht ausbleiben: On me pose souvent des questions de quoi il (le père, N.S.) souffre. Parfois je reste muet; je dis, moi-même, je n’ai pas une idée sur ça, je ne suis pas médecin. Certains disaient même qu’il est attrapé par cette maladie-là. On attendait une réponse de moi comme un piège. Je réponds que je ne sais pas trop. Mais tout ça reste pour moi un se-

T EIL 4: S OZIALE R ESILIENZ cret. Je ne peux pas avouer à quelqu’un que mon père a le sida, même s’il me demande. Je ne peux pas dire ça. Je peux dire qu’il est malade, gravement même, mais quel genre de maladie, je ne peux pas exprimer ça. (9.2.2007)

Die Erkundigungen von aussen belegen zum einen, dass das Gerede über die Krankheit von Herrn Sidibé nie das Stadium von unbestätigten Vermutungen überschritten hat, sondern sich im Bereich des Diffusen, des Uneindeutigen und Vagen bewegt. Zum anderen zeigen sie aber auch, dass sein Name durch die zahllosen Gerüchte bereits ziemlich angeschlagen ist. Interessant ist nun, weshalb die Fragen Karim gestellt werden, sein Vater jedoch verschont bleibt. Dafür ist wohl die Tatsache verantwortlich, dass sich Herr Sidibé in den meisten Fällen – als chef de famille wie auch als fonctionnaire de l’etat – in einer asymmetrischen Beziehung zu seinen Gesprächspartnern befindet, das heisst, die Kommunikationsstruktur von Über- und Unterordnung geprägt ist (Goffman 1971: 72). Als Zeichen von Respekt akzeptiert sein Gegenüber die unbestimmte Ausdrucksweise und fragt nicht nach Dingen, die Herr Sidibé nicht von sich aus preisgibt. Für gewöhnlich haben, wie Goffman anhand vieler Beispiele aufzeigt, alle an einer Interaktion Beteiligten das Interesse, die soziale Situation nicht einbrechen zu lassen. Das heisst, sie sind darauf bedacht, sich gegenseitig anzuerkennen und damit das Bild, das jeder von sich entwirft, zu bestätigen – selbst wenn die Übereinstimmung nur auf Lippenbekenntnissen beruhen sollte (ebd: 17). Karim gegenüber verfällt allerdings diese »verbale Rücksicht« (ebd: 73). Doch obschon er sich mit lästigen Befragungen von aussen auseinanderzusetzen hat, er profitiert dabei auch von der uneindeutigen Kommunikationsweise innerhalb der Familie. Sie entbindet ihn davon, konkrete Auskünfte zu geben, denn er besitzt ja keine expliziten Kenntnisse – er kann guten Gewissens schweigen, ohne etwas zu verschweigen. Im Falle von Herr Sidibé ging die Initiative zu dieser speziellen Informationspraxis von ihm, der HIV-positiven Person selbst, aus. Dies muss jedoch nicht unbedingt so sein; in anderen Familien wurde die indirekte Kommunikation durch Angehörige etabliert, zumeist durch die Eltern, wie dies im wortlosen Einvernehmen zwischen Mariam und ihrer Mutter deutlich wird: Mariam: Ma maman voit les médicaments, mais ne sait pas quels médicaments ce sont. Si je tombe malade, elle me dit que ce sont les gens du CESAC qui connaissent ma maladie, ce sont eux seulement qui peuvent me traiter. Chaque fois, elle me dit ça, mais je l’ai jamais dit que c’est le VIH que j’ai. [...] Elle le présume, mais elle ne le prononce pas. N.S.: Et pourquoi tu n’en parles pas si elle le présume déjà? Mariam: Pour moi, ça, c’est respecter la pudeur de son prochain. Et aussi il y a une négation qui est là qui va la dire: Non, il ne faut pas croire à cette chose que tu penses que ta fille a. Elle est toujours dominée par cette négation. Elle ne veut pas que ça soit une réalité. (w, 30 Jahre, 18.11.2006)

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Den Namen der Krankheit auszusprechen würde den Schein von Normalität in Frage stellen und damit auch das fragile Ideal sozialer Harmonie innerhalb der Familie gefährden. Die Dinge wären nicht mehr »in Ordnung«, die Situation würde einen bedrohlichen Charakter annehmen: Mariams Mutter müsste zur HIV-Diagnose ihrer Tochter Stellung beziehen, sie kommentieren, und die Krankheit würde damit bedrängend real. Uneindeutigkeit hingegen verzichtet auf alle verletzenden Worte und kreiert Raum für Ambivalenzen, nichts ist fixiert, alles bleibt fluide – und dies entspricht nicht zuletzt auch den Interessen der Angehörigen.9 Wissen und nichts aussprechen, ahnen und nichts fragen – diese Form der Informationspraxis bildet eine Alternative sowohl zum persönlichen, von Vertrauen bestimmtem Mitteilen wie auch zum bewussten Verheimlichen. Und wie Karim zu Recht auffällt, habe auch ich im Gespräch mit seinem Vater, mich dieser indirekten Art der Kommunikation bedient. Obschon ich diese Methode nie bewusst angewendet habe, hat sie mir bestimmt in vielen Fällen geholfen, die Gesprächssituation zu entspannen, weil die mit Schuldzuweisungen behaftete und oft auch als persönliche Beleidigung aufgefasste Diagnose nicht direkt benannt wird. Andererseits frage ich mich auch, ob es nicht gerade der Absicht von Herrn Sidibé entsprach, endlich mit den Uneindeutigkeiten zu brechen und Karim und möglicherweise auch seine Frau durch unser Gespräch über seine Krankheit zu informieren. Hätte er es sonst nicht vorgezogen, mit mir alleine zu reden?

18.2 R ESPEK T UND DIE V ERMEIDUNG VON F R AGEN In meiner nächsten Forschungsphase, ein Jahr später, teilt mir Karim mit, dass sein Vater vor fünf Monaten gestorben ist. Im Laufe unserer Unterhaltung, die sehr von dieser traurigen Nachricht geprägt ist, meint Karim, nun müsse er mir doch noch etwas sagen, das er in unserer letzten Unterhaltung verschwiegen habe: Er sei nicht der leibliche Sohn von Herrn Sidibé. Er lebe zwar seit mehr als fünfzehn Jahren in dieser Familie, doch ihre Verwandtschaft verzweige sich auf der Ebene der Urgrossväter. Ganz abgesehen von der im Feldforschungsprozess üblichen, aber doch immer wieder überraschenden Erfahrung, dass die Dinge ganz anders sind, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen und sich 9 | In einigen gesundheitspolitischen Untersuchungen wird zwar erwähnt, dass indirekte Kommunikation eine für den afrikanischen Kontext typische Form von disclosing darstelle. Doch sie wird weder aus der Perspektive der beteiligten Akteure beleuchtet, noch wird auf ihre sozial positiven Wirkungen eingegangen (u.a. Miller et al. 2007; King et al. 2008; ganz allgemein über den Nutzen indirekter Kommunikation siehe Hendry und Watson 2001: 2).

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– je nach Perspektive der Erzählenden – nochmals anders darstellen, verweist die Eröffnung auf die Bedingungen, die zum Gelingen des spezifischen Kommunikationsstils beigetragen haben: Karim nimmt die Position eines Aussenseiters ein, die ihn für die Betreuung seines Pflegevaters besonders qualifiziert. Obwohl Herr Sidibé auch eigene, teilweise sogar ältere Söhne hat, die ohne weiteres diese Aufgabe übernehmen könnten, ist es Karim, der die Rezepte besorgt, sich um die Medikamenteneinnahme kümmert oder ihn ins Krankenhaus begleitet. Denn seine Stellung innerhalb der Familie erfordert von ihm besonderen Respekt und besondere Diskretion – »ça me permet pas de me mêler de leurs vies«. Und vor allem lässt sie es nicht zu, dass Karim Fragen stellt. Wäre er indessen der leibliche Sohn, dann könnte die Nähe zu Fragen beziehungsweise zu Bekenntnissen führen. Der Erfolg von »éviter les mots directs« ist wesentlich davon bestimmt, ob es gelingt, direkte Fragen zu unterbinden: Wenn man mich nichts fragt, dann sage ich auch nichts, erklärt Herr Sidibé. Er gleicht die physische Nähe, welche sich zu Karim durch die Pflege einstellt, mit sozialer Distanz, mit verwandtschaftlicher Entfernung aus. Im Zusammenhang mit Ehrerbietung unterscheidet Goffman (1971: 64-85) zwischen zwei verschiedenen Formen, soziale Distanz zu erzeugen – Vermeidungsrituale (avoidance rituals) und Zuvorkommenheitsrituale (presentational rituals).10 Vermeidungsrituale umfassen Handlungen, die unterlassen werden sollten, damit die ideelle Sphäre um das Selbst intakt bleiben kann. Dazu gehört unter anderem auch, nichts anzusprechen, das für die jeweilige Person, in diesem Falle Herrn Sidibé, peinlich, entwürdigend oder demütigend sein könnte. Respektsregeln folgen also dem persönlichen Recht auf Distanz und Diskretion, das sich je nach sozialer Beziehung unterschiedlich streng formuliert und an das je nach Respektsempfänger unterschiedlich wirksam appelliert werden kann. Auf diese Aura der Unangreifbarkeit vertrauen zu können, heisst auch, den lebensnotwendigen Handlungsraum zu erhalten: Herr Sidibé kann weiterhin seine Kontakte pflegen, er ist überall ein gern gesehener Gast, niemand blamiert oder beleidigt ihn. Zwar kann er nicht verhindern, dass über ihn geredet wird, er kann jedoch sicher sein, dass diese kompromittierenden Reden nicht bis zu ihm vordringen. Das heisst, die von Herrn Sidibé vorgegebene und von seinem Umfeld übernommene Strategie »éviter les mots directs« zielt darauf ab, sowohl den Respekt wie auch seine soziale Position zu erhalten; umgekehrt schirmt ihn der mit seiner Position als Familienchef und Parlamentsmitglied verbundene Respekt vor direkten Erkundigungen ab. 10 | In Anlehnung an Radcliffe-Brown verwendet Goffman den Begriff »Ritual«: »… weil diese Handlungen, selbst wenn sie informell und profan sind, es dem Individuum ermöglichen, auf die symbolischen Interaktionen seines Handelns zu achten und diese zu planen, wenn er unmittelbar einem Objekt gegenübersteht, das von besonderem Wert für ihn ist.« (Goffman 1971: 64f)

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Doch welche Mittel und Wege stehen Personen zur Verfügung, die nicht über diesen Einfluss, nicht über finanzielles Kapital und deshalb auch nicht über eine besonders ausgedehnte und abgesicherte Respektssphäre verfügen? Mariam beschreibt, dass sie sich bestimmte Praktiken angewöhnt hat, die Distanz bewirken und so ihre Privatsphäre schützen: La première des choses, ça, c’est le respect. Il faut respecter les gens. Si tu respectes n’importe quelqu’un, même s’il sait que ta propre mère est morte de sida, il ne va jamais te dire ça. Il peut le dire derrière toi, mais il ne va jamais te dire ça directement. C’est la première des choses. La deuxième des choses, il faut faire du bien à quelqu’un. Si tu fais du bien à quelqu’un, ce bien peut être comme un mur entre cette personne et toi. La personne ne pourra jamais te dire que tu as telle maladie. Ce sont ces deux choses que moi, j’ai adoptées. (w, 28 Jahre, 13.2.2005)

Anderen Respekt erweisen oder ihnen behilflich sein gehören laut Goffman zu den symbolischen Handlungselementen der Zuvorkommenheitsrituale. Es sind, wie Goffman diese Form der Ehrerbietung charakterisiert, »Handlungen, durch die das Individuum den Empfängern zeigt, was es von ihnen hält und wie es sie in der beginnenden Interaktion behandeln wird« (Goffman 1971: 79). Während sich Goffman in erster Linie mit den Bemühungen der Einzelnen befasst, die Interaktionsordnung in alltäglichen Kontakten aufrechtzuerhalten, benutzen Herr Sidibé wie auch Mariam diese Methode, um bei ihrem Gegenüber bestimmte Standards der Distanzierung zu etablieren und so die Sphäre des Selbst proaktiv gegen Eingriffe von aussen abzusichern. Der Erhalt der sozialen Gesundheit ist so gesehen eng mit der Fähigkeit verbunden, Nähe und Distanz in alltäglichen Interaktionen sinnvoll auszubalancieren, so dass das Geheimnis geheim bleibt oder zumindest nie durch Worte eine erdrückende Realität erhält. Einen ganz ähnlichen Balanceakt zwischen Nähe und Distanz, zwischen sehr persönlichen Fragen und dem berechtigten Anspruch auf Respekt, kennzeichnet die Situation ethnologischer Interviews. Das trifft besonders auf Fragen bezüglich des Umgangs mit HIV-Informationen zu, der von gesundheitspolitischer Seite sehr normativ belegt ist und eine eindeutige Offenlegung innerhalb der Familie befürwortet. Umso unangenehmer und – wie die folgende Reaktion einer Gesprächspartnerin zeigt – sogar bedrängender mögen deshalb meine Nachfragen hinsichtlich der Hintergründe ihrer unklar gehaltenen Mitteilungspraxis wirken: N.S.: Comme ta mère doute déjà quelque chose et il y a la confidentialité entre vous, pour quelles raisons alors pas parler de ta maladie avec elle? N.: Les raisons pour lesquelles je ne le dirai pas, c’est moi-même qui connais ça. C’est tout! Je sais que tu ne vas pas comprendre, donc je veux qu’on passe sur ça. Il y a certains points dans ma vie privée, je ne veux pas qu’on touche à ça. Ça me gêne beau-

T EIL 4: S OZIALE R ESILIENZ coup. Il y a des secrets qu’une fille peut bien cacher à sa mère. Et je sais qu’elle ne va pas me harceler avec des questions pour ça comme vous êtes en train de le faire maintenant. (w, 38 Jahre, 24.8.2005)

Die Gesprächspartnerin hat Recht – es war für mich zu Beginn der Forschung nicht einfach nachzuvollziehen, weshalb eine Information, die mehr oder weniger als Tatsache bekannt ist, nicht auch ausgesprochen werden kann. Die Vorteile uneindeutiger Reden und der dabei kunstvoll eingesetzten Umschreibungen eröffneten sich mir erst, als ich begann, sie in Hinsicht auf zukünftige Möglichkeiten zu verstehen. Meistens ist der Alltag nicht von klaren Handlungsplänen gezeichnet; vielmehr fallen Entscheidungen pragmatisch und spontan, noch unklar, wohin sie führen und welche Konsequenzen sie beinhalten. Denn allzu schnell verändern sich Konstellationen oder neue, vorher nicht abzusehende Chancen eröffnen sich. Uneindeutig bleiben zu können, sich nicht festlegen zu müssen und damit auch Scham und Brüskierungen zu umgehen, bedeutet für HIV-positive Personen, ihren persönlichen Handlungsfreiraum zu vergrössern. Es bedeutet, sich nicht an der einengenden Logik des Entweder-oder zu orientieren, sondern sich jeder Festlegung und Zuordnung zu entziehen und eine Logik des Sowohl-als-auch zu pflegen. Und es bedeutet vor allem, sich für aussichtsreiche Gelegenheiten, die das Leben manchmal überraschend bieten kann, offen zu halten und sich entsprechend flexibel an die jeweiligen Erfordernisse anpassen zu können.

18.3 D ER INSZENIERTE R ESPEK T — » FAIRE SEMBL ANT« Astou ist eine Dame, deren Präsenz nicht unbemerkt bleibt. Wo immer sie einen Raum betritt, sie zieht Aufmerksamkeit auf sich – und dies nicht allein aufgrund ihrer Körperfülle, sondern auch durch ihre exquisite und mit viel Gold assortierte Garderobe. Auf die Idee, dass Astou HIV-positiv sein könnte, kommt niemand. Dafür sorgt allein schon das äussere Erscheinungsbild, und dies zähle enorm viel, meint Astou. Von Anfang an ist sie mir bei CESAC, wo auch all unsere Gespräche stattgefunden haben, aufgefallen, denn um sie herum herrschte stets eine Atmosphäre von Vornehmheit und Contenance. Seit ihrer Jugend, erklärt Astou, habe sie einen ausgeprägten Sinn für Eleganz und zudem das Glück, dass selbst die billigsten Stoffe an ihr kostbar wirken. Nach der Trennung von ihrem Mann und jahrelangen Aufenthalten in Russland, Senegal und zuletzt in der Côte d’Ivoire kehrte Astou in ihre eigentliche Heimat Bamako zurück. Vom ehemaligen Wohlstand ist nichts übrig geblieben, heute muss sie all ihre Ausgaben auf das Kleinste kalkulieren. Mitgenommen hat sie einzig ihre gesamte Garderobe und ihren Schmuck. Und die helfen ihr heute, ihre soziale Gesundheit zu schützen, in ihrem Umfeld respektiert zu werden.

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Im Gegensatz zu der im vorherigen Kapitel behandelten, mehr auf verbale Kommunikation ausgerichteten Strategie stehen nun performative Aspekte des Respektserhalts im Vordergrund, das heisst die verschiedenen Formen bewusst eingesetzter Selbstinszenierungen. »Il faut tout faire pour que les autres pensent que tu es riche«, sagt Astou, weil Reichtum Respekt einflössend wirkt und macht, dass andere sich dezent verhalten (»aller dessous à cause de ton argent«): Garder l’apparence, c’est important pour moi, car en me voyant on me met dans une place où je ne suis pas arrivée. Par exemple toi, tu me vois et tout de suite tu te dis que moi, j’ai tout, alors que je n’ai rien. [...] La santé sociale c’est l’apparence; les gens voient seulement le côté extérieur. C’est pour ça que ›le faire semblant‹ est important. On fait semblant que extérieurement ça va, alors que intérieurement ça ne va pas. Il ne faut pas te laisser, il faut toujours tromper l’apparence des gens. Ce n’est pas toi seul qui a des problèmes, il y a beaucoup de gens qui ont des problèmes, mais il faut faire semblant comme s’il y n’a rien. C’est ça mon cas. Je fais semblant que extérieurement ça va, alors que intérieurement ça va pas. (w, 51 Jahre, 19.1.2007)

Besonders hübsch macht sich Astou, wenn sie ihre Schwiegerfamilie besucht. Hier hat ihr Mann – wie Astou vermutet, um sich selbst von Schuld zu befreien – verbreitet, dass sie AIDS habe. Doch die Gerüchte fechten Astou nicht an. Im Gegenteil: Dank ihres beeindruckenden Äusseren zweifeln die meisten, ob ihr Mann nicht aus lauter Ressentiments Lügen über sie verbreite; direkt zu fragen, wagt jedoch niemand, denn: »Le respect, c’est comme une couverture, surtout quand tu es âgée, il devient de plus en plus épais et ça te protège.« Die Kehrseite der glänzenden Selbstdarstellung ist allerdings, dass sie es schwierig macht, andere um Unterstützung zu bitten, weil niemand diese für gerechtfertigt halten würde. Und zudem ruft eine aufsehenerregende Garderobe bei anderen Frauen oftmals Neid hervor. Doch vielleicht ist die Reaktion die direkteste, wenn auch recht unangenehme Form von Anerkennung. Astou ist die erste Frau, die mir gegenüber so explizit über diese Methode des Respekterhalts spricht. Dass die äussere Aufmachung für HIV-positive Frauen einen überaus hohen Stellenwert einnimmt, konnte ich bereits bei vielen Besuchen in der Selbsthilfegruppe AMAS/AFAS beobachten. Der Weltaidstag ist in Mali nicht auf den 1. Dezember beschränkt, sondern während des ganzen Monats sind etliche Aktivitäten im Gange, die für die Betroffenen willkommene Gelegenheiten bieten, sich etwas Geld zu verdienen. Gleichzeitig verändern sich die Garderoben vieler Frauen, sie erwecken den Anschein von Wohlstand und Luxus. Entsprechend häufiger entzünden sich auch die von Neid geprägten Konkurrenzkämpfe (yeko kèlèw, wörtlich übersetzt: »Kämpfe um das Aussehen«) – überaus lautstarke Duelle zwischen Frauen, die wiederum Klagen in der Nachbarschaft nach sich ziehen. Für gewöhnlich schreitet die Präsidentin

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von AFAS ein und sorgt für Ruhe und Frieden. Regelmässig, immer bei den wöchentlichen Sitzungen ermahnt sie die Frauen, dass die Lautstärke ihrer Auseinandersetzungen das Zentrum ernsthaft gefährden und die Frauen aufhören sollen, sich gegenseitig ausstechen zu wollen. Vernünftiger wäre, ihre Verdienste in dringlichere Ausgaben wie Essen oder Gesundheit zu investieren als in Kleidung und Make-up. Die Worte der Präsidentin werden stets mit grosser emphatischer Zustimmung angenommen: »absolument correcte«, »tu as complètement raison«. Doch die Zwischenrufe klingen immer so, als würde man sich über abwesende Dritte unterhalten und niemand von den Anwesenden hätte sich jemals etwas derartiges zu Schulden kommen lassen. Gemäss Goffman (2003: 104) befinden wir uns bei AMAS/AFAS auf einer »Hinterbühne«, an einem Ort, der für das eigentlich avisierte Publikum nicht einsehbar ist. Hier bereiten sich die Eingeweihten auf ihre Auftritte vor, hier besprechen sie ihre Techniken, geben szenische Tricks und Kniffe weiter, begutachten und kritisieren sich aber auch gegenseitig. Insofern sind Hinterbühnenzwiste die Bestätigung einer gelungenen Garderobe. Wäre diese nicht in der Lage, Neid hervorzurufen, könnte sie auch auf den Vorderbühnen ihre Wirkung verfehlen. Viele der Frauen sind verwitwet oder geschieden, sind deshalb auf der Suche nach einem passenden Ehemann oder einem Arbeitsplatz. Und dabei hilft eine eindrucksvolle Garderobe: Si tu as une bonne apparence, ça peut te faciliter d’avoir du boulot. Mais si tu es mal habillé, les gens vont se mettre dans la tête que tu es un profiteur, que tu vas manger l’argent du service. (w, 51 Jahre, 31.11.2007)

Von den männlichen Mitgliedern der Gruppe werden diese Kämpfe um Aussehen und Anschein etwas abfällig als »Frauensachen« abgetan. Kleidung als Quelle von Respekt zu benutzen, hätte sich erst in der heutigen Zeit und auch nur in einem urbanen Umfeld durchgesetzt, vernachlässige dabei aber dessen wirkliche Basis, nämlich das Wort und die Kunst des sprachlichen Ausdrucks. Andererseits, so gibt ein älterer Herr zu bedenken, nehme die Kleidung heute, gerade in einem Kontext, wo niemand mehr wisse, wer wer sei und woher jemand komme, einen wichtigen Stellenwert ein, als Statussymbol sowie als Mittel der Identifikation. Das Sprichwort »Mògò nyuman denw tè ye, fini nyuman denw de bè ye« (es gibt keine Kinder von guten Leuten, nur Kinder von guten Kleidern), obwohl als Kritik an der heutigen Zeit formuliert, bestätigt seine Aussage. Das heisst, moralische Werte werden durch offensichtliche Zeichen ersetzt, selbst wenn diese bei näherer Betrachtung das, was sie bezeichnen, nicht einlösen können. Dennoch, obwohl ohne Substanz, besitzt das Zeichen allein schon eigenen Wert. Auch wenn die Präsidentin von AFAS die Praxis »faire semblant«, die darauf abzielt, den Anschein von Reichtum und Normalität zu erwecken, kritisiert und zu »nützlicheren« Investitionen ermahnt, ist sie aus

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der Perspektive HIV-positiver Frauen keineswegs unvernünftig. Denn die zur Verfügung stehenden Mittel für luxuriöse Kleidung aufzuwenden, entspricht der lokalen Logik der Anerkennung, die sich grundsätzlich an der Perspektive der anderen orientiert (mògò ye jogo, die Art und Weise, wie man gesehen wird): Je m’habille bien pour avoir de la considération, pour être parmi les personnes importantes. C’est l’habillement qui est important pour moi et je travaille pour avoir des habits et si j’ai l’argent, mon premier souci c’est avoir des habits. (w, 34 Jahre, 13.12.2007)

Genau betrachtet ist die Gestaltung der persönlichen Identität, so dass der Eindruck von Wohlstand und Wichtigkeit entsteht, in doppeltem Sinne sozial klug. Denn es ist eine Sache, durch die Informationen, welche die Garderobe vermittelt, einen idealisierten Eindruck von sich zu erzeugen – sei es im Sinne von Reichtum oder hinsichtlich Gesundheit – und damit die Deutung der jeweiligen Situation zu beeinflussen (Goffman 2003: 9, 35f). Eine andere ist es hingegen, dass die Trägerin einer ausgesuchten Garderobe damit ebenfalls bekundet, dass sie den Blick der anderen wertschätzt und es ihr nicht einerlei ist, wie über sie geurteilt wird. Denn den Blick der anderen zu bagatellisieren, hiesse dessen Macht zu verkennen und im Endeffekt der Gemeinschaft nicht würdig und damit auch »keine Person« zu sein (mògò tè). Zudem dokumentiert eine entsprechende Kleidung auch die Absicht, niemanden mit seinen Problemen belasten zu wollen – so tun, als ob alles in bester Ordnung wäre, wie Astou sagt, selbst wenn dies überhaupt nicht der Fall ist. Dabei ist das Zeichen selbst gewichtiger als das Bezeichnete, der Anschein realer als das eigentliche Sein, denn es sind die über die luxuriöse Kleidung vermittelten Absichten, die honoriert werden. Hinsichtlich der Fähigkeit, bestimmte Eindrücke hervorzurufen, unterscheidet Goffman (2003: 6f) zwischen zwei Arten der Zeichengebung. Die eine, die das Beispiel von Astou belegt, umfasst den Ausdruck, den jemand sich selbst gibt. Die andere konzentriert sich mehr auf den Ausdruck, den jemand ausstrahlt, und ist somit stärker in das Gesamtverhalten der Person eingebunden. Denn in allen alltäglichen Interaktionen geben Beteiligte durch zufällige Zeichen mehr von sich preis als ihnen bewusst ist. Auf diesen Raum, der die scheinbar spontanen Seiten des Verhaltens umfasst und sich deshalb gut für Inszenierungen der absichtlichen Unabsichtlichkeit eignet, bezieht sich Goffman (1971; 2003). Während die Mittel des ersten Typus eine relativ klare Sprache sprechen, fällt es bei letzterem deutlich schwerer, bewusste Inszenierungen zu erkennen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Darstellenden darum bemüht sind, bestimmte Aspekte ihrer Ich-Identität zu verbergen und sich mit Hilfe von Gesten, Mimik und innerer Einstellung eine persönliche Identität konstruieren, sozusagen allumfassend die von ihnen avisierte Rolle ausfüllen. Selbstpräsentationen solcher Art können nur entschlüsselt werden, wenn Zuschauer beide Welten, sowohl Hinter- wie Vorderbühne, kennen. Aus Gründen

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der Diskretion ist es im Falle von HIV-positiven Personen jedoch nur schwer möglich, ihre Darstellungen auf den jeweiligen Vorderbühnen miterleben zu können. Eine Ausnahme bildet Mariam; bei ihr konnte ich im Laufe unserer Bekanntschaft direkt miterleben, wie sie ihre Auftritte bei CESAC immer mehr ausgebaut hat und sich so auch des Respekts der anderen Patienten versicherte. Seit Ende ihres Praktikums ist Mariam nicht mehr im Zentrum CESAC tätig, muss es aber dennoch einmal pro Monat aufsuchen, um sich das neue Rezept zu besorgen. Von Mal zu Mal nimmt die Inszenierung dieser Besuche mehr Gestalt an: nicht nur verfeinert sich der dramaturgische Ablauf der Szene, sondern auch die Interpretation ihrer Rolle gewinnt zunehmend an Dichte. Doch es ist nicht Mariams Darstellung allein zu verdanken, dass ihre Auftritte soviel Wirkung entfalten. Die Glaubwürdigkeit einer Szene erhöht sich laut Goffman (2003: 78) wesentlich, sobald mehrere Personen an deren Aufbau beteiligt sind und zwischen ihnen als einem Ensemble ein besonders enges Verhältnis herrscht. Mariams Mitspieler ist Fofana, der Mann am Empfang von CESAC. Als ehemalige Arbeitskollegen sind sie miteinander befreundet – Mariam vermutet sogar, dass von seiner Seite aus noch andere Gefühle mit im Spiel sind. An seinem Schreibtisch, der sich mitten im Warteraum befindet, verwaltet Fofana das grosse Buch der Konsultationslisten. Normalerweise meldet sich jeder eintreffende Besucher bei ihm an, Fofana trägt dessen Name in die Liste der Wartenden ein, holt die entsprechende Patientenakte aus dem grauen Blechschrank und legt sie auf dem Pult ab. Sobald die betreffende Person an der Reihe ist, nimmt Fofana ihr Dossier und begleitet sie in den Konsultationsraum. Nicht so bei Mariam; ihre Auftritte im Zentrum sind mit dramaturgischer Sorgfalt geplant, orientieren sich allerdings immer an derselben szenischen Grundstruktur. Ungefähr eine Stunde vor ihrem Besuch ruft sie Fofana an und bittet ihn, sie in die Warteliste einzuschreiben. Von dieser Anweisung bekommt niemand im Raum etwas mit, Fofana nennt keine Namen. Wenn Mariam eintrifft, begrüsst sie erst alle Anwesenden und erkundigt sich dann bei Fofana, ob der Arzt zu sprechen sei. Er bejaht und meint, sobald dieser frei sei, könne sie ihn sehen. Sobald Mariam im Sprechzimmer ist, wird auch Fofana dorthin beordert – er verlässt den Empfang, kehrt wieder zurück und sucht nach Mariams Akte, die er dann, das Deckblatt mit Name gegen seinen Körper gewendet, in den Konsultationsraum bringt. Dadurch entsteht für die Wartenden der Eindruck, dass sich Mariam in einer beruflichen Besprechung unter Kollegen befindet, zu der nähere Patienteninformationen benötigt werden. Nach und nach fügen sich andere Elemente zu dieser Grundstruktur hinzu: Mariam begnügt sich nicht mehr mit Begrüssungen, sondern reicht allen wartenden Patienten persönlich die Hand, erkundigt sich nach ihrem aktuellen Befinden, macht Bemerkungen über die Temperatur der Hand, konstatiert Gewichtszunahmen – und immer wieder ermahnt sie zu gesundem Essen und gewissenhafter Einhaltung der Therapie. Damit kreiert sie eine Situation, die

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sie ganz in der Rolle der besorgten Krankenschwester zeigt, gleichzeitig aber auch ihre Besuche als eine rein berufliche Mission erklärt. Folglich käme es niemandem in den Sinn, sie nach ihrem eigenen Befinden oder dem Grund ihrer Anwesenheit zu fragen. Nach ihrer Konsultation verabschiedet sich Mariam zuerst von den anwesenden Patienten, dann von ihrem Mitspieler. Wohl wissend, dass sie auf seine Kooperation für das Gelingen der Szene angewiesen ist, schenkt sie ihm zum Abschied besondere Aufmerksamkeiten – Küsse auf die Wange und den Kosenamen amore mio. Beide Formen des Eindruckmanagements mit ihren je unterschiedlichen Zeichengebungen zielen auf die Inszenierung einer vertrauenswürdigen Identität. Sie befördert nicht nur die soziale Gesundheit der Darstellenden, sondern auch ihre Selbstwahrnehmung als anerkannte Mitglieder der Gesellschaft. Dabei erweist sich die Praxis des »faire semblant« nicht als eine bewusste und reflexiv eingesetzte Strategie, sondern ist vielmehr durch den Sinn für das Spiel bestimmt. Insofern leitet sich hier das symbolische Kapital aus inkorporiertem kulturellem Kapital ab, aus den kulturellen Kenntnissen der unausgesprochenen, aber von allen beachteten Regeln des Respekts. Doch ungeachtet seines Erzeugungsprinzips eröffnet das »faire semblant« aber auch Fragen hinsichtlich des Zusammenhanges zwischen den Bemühungen um Respekt und der Glaubwürdigkeit der Darstellenden im Sinne von Authentizität. Gerade aus externer Perspektive wird diese Verbindung als in ihrem Kern widersprüchlich begriffen und führt schnell zur moralischen Bewertung, dass sich dieses Tun-als-ob allein mit der Ausgestaltung des Scheins befasst, der zwar nach aussen strahlt, jedoch seines eigentlichen Inhalts entleert ist und sich deshalb die gesamten Bemühungen als blosse Verstellungen disqualifizieren. Mit anderen Worten, die »Arbeit an einem Bild für die Augen anderer« (Goffman 1971: 87) impliziert gleichzeitig auch den Verlust von Ehrlichkeit. Dieser Ansicht sind auch einzelne Kritiker von Goffmans Analysen, indem sie ihm vorwerfen, Menschen auf einen einzigen Lebensaspekt zu reduzieren, nämlich auf den eines zynischen Theaterspielers (siehe dazu Hitzler 1992: 449f). Dazu möchte ich zu bedenken geben, dass Anerkennung immer und überall performative Dimensionen aufweist. Es handelt sich dabei nicht um einen Besitz oder um eine Eigenschaft der Akteure, sondern um ein Produkt aus sozialen Interaktionen. In welchem Masse allerdings die Erwartung besteht, dass sich die Darstellungen mit dem »wahren Charakter« der Person decken sollen, hängt vorrangig mit kulturell unterschiedlichen Ausrichtungen der jeweiligen Anerkennungsstrukturen zusammen. Wie ich anhand der Fallbeispiele zeigte, definiert sich Respekt im urbanen Kontext von Mali mehr über die zum Ausdruck gebrachten Absichten als über das Kriterium der Authentizität. Oder anders gesagt: Respekt orientiert sich mehr an der Potentialität, an den Chancen und Gelegenheiten, die sich durch ihn eröffnen als an inneren Haltungen. Gerade für HIV-positive Frauen ist die Arbeit am Schein und damit auch die Be-

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mühungen um Respekt, wie unter anderem die Investitionen in ihre Garderobe zeigen, zentral und wichtig. Zum einen fungiert Respekt als eine »Mauer«, um mit Mariams Worten zu sprechen, welche eine bestimmte Distanz zu anderen legt und dadurch hilft, das Geheimnis zu wahren. Zum anderen kreiert er – und hiermit sei nochmals an die physischen Aspekte erinnert, auf die sich der Begriff bonya (Respekt) in erster Linie bezieht (siehe dazu Kapitel 7.4) – die für das alltäglichen Leben und Überleben notwendigen Handlungsspielräume.

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19. Den Respekt wiederherstellen

Mit den grössten Herausforderungen sind Personen konfrontiert, welche im Laufe ihrer Krankheitsgeschichte den Rückhalt ihrer Angehörigen verloren haben und sowohl innerhalb wie ausserhalb der Familie unter Respektsverlust leiden. Im Gegensatz zu den zuvor behandelten Fallbeispielen mit wesentlich günstigeren Konstellationen ist hier das Geheimnis der Seropositivität zumeist gelüftet, das heisst, der Name hat bereits gewissen Schaden genommen. Insofern handelt es sich bei diesen Bemühungen um soziale Gesundheit nicht um eine proaktive, sondern vielmehr um eine reaktive Form sozialer Resilienz. Zuerst ist entscheidend, in der Familie selbst wieder eine geachtete Position zu einnehmen zu können – und dies geht selten ohne den Einsatz von ökonomischem Kapital. Während sich die meisten Publikationen im Kontext von HIV/ AIDS mit den Grenzen der familialen Solidarität befassen und zeigen, dass seropositive Personen so gut wie nie mit der Unterstützung ihrer Angehörigen rechnen können (siehe dazu u.a. Bossart 2005; Attané und Ouédraogo 2008), sind es in meiner Studie einige der Betroffenen selbst, die durch ihre Aktivitäten im AIDS-Bereich, insbesondere durch öffentliche Bekenntnisse, einen substantiellen Beitrag zum Lebensunterhalt ihrer Familien leisten.

19.1 D IE F AMILIE ALS B ASIS DER ÖFFENTLICHEN A NERKENNUNG — » OFFRIR DES CADE AUX À MA FAMILLE « Amy erinnert sich noch gut an die Zeit, als man sich gegenseitig damit aufzog, AIDS zu haben – »Eh! Tu as le sida, hein! Non, c’est toi qui as le sida!« Damals war sie sich sicher, dass diese Krankheit in Mali für grossen Aufruhr sorgen werde, gleichzeitig bedrängte sie indessen die böse Vorahnung, dass auch in ihrem Blut früher oder später der Virus entdeckt werden könnte. Zu diesem Zeitpunkt ist ihre Tochter sieben Jahre alt und sie selbst wieder auf der Suche nach einem geeigneten Ehepartner. Als Verkäuferin von getrocknetem Fisch kommt Amy viel im Land herum und lernt schliesslich, fast sechshundert Kilometer von ihrem Wohnort entfernt, ihren zukünftigen Mann kennen. Die Ehe

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hält nicht lange; bereits zwei Jahre später trennt sich das Paar, Amy ist öfters krank und ihr Mann zeigt wenig Bereitschaft, für die ständig anfallenden Kosten aufzukommen. Sie kehrt in die Wohnung ihrer Kindheit zurück, dort, wo auch ihre Mutter und die drei jüngeren Schwestern leben. Doch Amy kann sich trotz der aufwändigen Behandlungen nicht erholen; eine Krankheit folgt auf die andere und immer deutlicher treten die für AIDS bekannten Symptome zu Tage. Ihr Freundeskreis zieht sich nach und nach von ihr zurück, immer häufiger kommt es zu gemeinen Bemerkungen; bald meiden auch die Schwestern ihre Nähe und beschimpfen sie als sidéenne. Als selbst die Tochter es ablehnt, ihr ein Glas Wasser ans Bett zu bringen, ist Amy so getroffen, dass sie sie nicht mehr sehen will und sie zu ihrem Vater schickt. Schliesslich, nach unzähligen, erfolglosen Behandlungen schlägt der Arzt einen HIV-Test vor. Amy unterrichtet ihre Mutter von der bevorstehenden Untersuchung, doch diese hört nicht richtig hin und erkundigt sich auch nie nach dem Resultat. Ihr Verhalten interpretiert Amy als eine Aufforderung, künftig über die Diagnose zu schweigen. Denn im Grunde genommen, so sagt Amy heute, glaubte niemand mehr daran, auch sie selbst nicht, dass sie sich jemals wieder erholen könnte. Als ich Amy das erste Mal begegne – wir ziehen uns nach einem kurzen Gang durch das Quartier in einen Raum von CESAC zurück –, nimmt sie die Therapie erst seit einigen Monaten und vertraut deshalb der neu gewonnen Gesundheit nicht wirklich. Obschon es ihr manchmal tagsüber gelingt, die Krankheit zu vergessen, des Nachts bedrängen sie noch immer Gedanken über ein einsames und elendes Sterben: Tu sais que quand une personne est malade jusqu’à un certain niveau, elle ne pense qu’à la mort. Il y a aussi plusieurs manières de mourir. La manière de mourir mal et dans un état de délabrement, domine mes pensées. J’ai très peur de finir comme ça. (37 Jahre, 12.7.2004)

Amy wünscht sich einen Neuanfang, kann sich aber nicht vorstellen, wie dieser hier, wo sie alle als AIDS-krank kennen, aussehen soll. Eine Heirat, meint sie, wäre wohl die beste Lösung, damit würde auch die Familie finanziell entlastet. Doch nach all ihren Krankheiten einen Anwärter zu finden, hält sie für ziemlich unrealistisch. Eine andere Möglichkeit indessen, von der sie sich viel verspricht und deren umfassende Wirkungen mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht einsichtig sind, formuliert sie als: »Je veux travailler pour prendre ma famille en charge.« Ein halbes Jahr später treffe ich auf eine völlig veränderte Amy – voll von Tatendrang und neuen Projekten; sie sei in ihrer Seele gesundet (n’ka kènè n’ni na). Anstelle von Krankheit und Tod konzentriert sie sich nun aufs Geldverdienen und Geldausgeben:

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K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI Mes pensées sont maintenant tournées vers autres choses. Je suis tellement en bon état de santé que je pense aux choses les plus aimables de la vie: que je puisse bien m’habiller, bien manger, que j’ai beaucoup d’argent pour résoudre tous mes problèmes. C’est ce qui domine mes pensées. (26.1.2005)

Amy hat beschlossen, ihre Krankheit zukünftig als Einkommensquelle zu nutzen – eine Möglichkeit, die zwar sehr einträglich erscheint, dennoch gewisse Risiken birgt, da ein öffentliches Engagement immer auch Aufmerksamkeit auf sich zieht und Gerede provoziert. Als einen ersten Schritt schliesst sie sich der Selbsthilfegruppe HIV-positiver Personen an und arbeitet nebenbei am Empfang von CESAC. Dabei verdient sie zwar nichts, erfährt jedoch als eine der ersten, wo welche Aktivitäten stattfinden und wie viel diese einbringen. Ein relativ zuverlässiges Entgelt kann Amy über ihre im Rahmen von Informationsund Sensibilisierungskampagnen stattfindenden Bekenntnisse über die eigene Infektion erzielen. Allerdings achtet sie darauf, dass sie diese témoignages nur in Bezirken abhält, die weit ausserhalb der Stadt liegen – dort, wo niemand sie kennt. Einen Grossteil des Verdienstes investiert Amy, ihrem ursprünglichen Vorsatz entsprechend, in Kleidung und gutes Essen für ihre Familie: Le mieux pour moi, c’est d’assurer d’abord la nourriture de ma famille. C’est le besoin le plus pressant: payer la nourriture pour la famille. [...] Il me plait aujourd’hui d’offrir des cadeaux à toute ma famille. Si je fais les témoignages, l’argent que je trouve, je garde ça. [...] Je paye de la nourriture pour ma famille, je paye des habits, je prépare de très bons plats. Il me plait aujourd’hui d’acheter un kilo de poisson et du riz pour faire plaisir à toute ma famille. (26.1.2005)

Eine für Amy wirklich ausserordentlich lukrative Gelegenheit bietet sich anlässlich des Weltaidstages: In einer Spezialsendung des malischen Fernsehens präsentiert sie sich als Kandidatin zur Wahl der Miss AIDS. Natürlich löst dieser Auftritt bei ihren Nachbarn Neugierde aus, doch sie rettet sich, indem sie ihn als berufsbedingten, von Weissen bezahlten schauspielerischen Einsatz ausgibt. Allein die sehr gewagte Kombination von öffentlichem Bekenntnis und privatem Verschweigen stellt in vielfacher Hinsicht eine besondere Herausforderung dar – sowohl für die Solidarität der Familienmitglieder wie für ihr Informationsmanagement – und kann auch nur unter der Voraussetzung gelingen, dass Amy bereit ist, ihren Gewinn mit der Familie zu teilen. Anders gesagt: Sie braucht den Rückhalt der Angehörigen, die ihre Bekenntnisse als Schauspielerei bestätigen. Auch in Amys Familie wird die Sendung verfolgt, doch ohne jeglichen Kommentar und ohne Fragen. Mit ihren Angehörigen über die Diagnose zu sprechen ist für Amy unvorstellbar; dennoch geht sie davon aus, dass alle Bescheid wissen. Dieses Wissen hat innerhalb der Familie den Status eines geteilten,

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vor der Aussenwelt abgeschirmten Familiengeheimnisses erlangt (siehe dazu Keppler und Luckmann 1997: 208). Damit etabliert sich, eng verknüpft mit Amys Beitragszahlungen, eine besondere Form der Familienbindung. Sie bildet das Fundament von Amys sozialer Anerkennung – sollte diese Basis jedoch zu bröckeln beginnen und die Familie als moralische Gemeinschaft auseinanderbrechen, dann ist es höchst unwahrscheinlich, dass das Geheimnis weiterhin gewahrt bleibt. Ferner verlangen die bezahlten Bekenntnisse nach einer dem jeweiligen Publikum entsprechenden und deshalb äusserst differenzierten Informationspraxis. Während Amy in ihrem privaten Umfeld über die Krankheit schweigt oder sie verleugnet, sind die einzigen Personen, denen sie ihre Diagnose mitteilt, verzweifelte, ebenfalls HIV-positiv getestete Patientinnen bei CESAC. Ihnen versucht sie Mut zuzusprechen, indem sie sich selbst als betroffen und ehemals dem Tode nahe zu erkennen gibt. Zwischen diesen nur in Einzelfällen stattfindenden face-to-face-Informationen und ihren TV-Bekenntnissen besteht indessen ein beträchtlicher Unterschied hinsichtlich der Glaubwürdigkeit. In der persönlichen und intim gestalteten Offenlegung wird ihren Aussagen ohne Weiteres Glauben geschenkt, bei den TV-Bekenntnissen oder den témoignages in den Quartieren hingegen kann Amy vom Image des AIDS-Bereichs profitieren. Er gilt aufgrund der enormen internationalen Summen als ein florierender Markt und ihre Aktivitäten lassen sich ohne grosse Erklärungen als eine blosse Verdienstquelle deklarieren. Natürlich entspricht diese Art des Umgangs nicht den Erwartungen, die sich von gesundheitspolitischer Seite mit öffentlichen Bekenntnissen der AIDS-Aktivisten verknüpfen. Doch anhand des flexiblen Informationsarrangements gelingt es Amy, den unüberwindbaren Widerspruch zwischen Mitteilen und Verschweigen aufzulösen und zwischen den beiden an sich konträren Handlungsoptionen einen neuen Raum entstehen zu lassen, in welchem die Gegensätze zwischen Sein und Schein, zwischen Ich-Identität und sozialer Identität verschwimmen und sich zu einer selbst konstruierten persönlichen Identität zusammenfügen. Bei entsprechendem Einfallsreichtum liegen in der Aneignung solcher Zwischenräume Navigationschancen, die sich jenseits von Faktizität verorten. Sie zeichnen sich vielmehr durch ihren fluiden und schwebenden Charakter aus und dienen so der Rekonstruktion einer positiven persönlichen Identität und damit dem Aufbau von sozialer Resilienz. Abgesehen von Beitragszahlungen und Informationsmanagement bilden bestimmte Formen der Selbstpräsentation eine weitere und unverzichtbare Komponente in Amys Bemühungen um soziale Gesundheit – ganz entscheidend hierbei ist die Wahl der Garderobe. Im Laufe meiner täglichen Anwesenheit bei CESAC fällt mir auf, wie viel Aufmerksamkeit Amy auf ihre äussere Erscheinung legt, dass sie ihre Kleidung jeweils mit besonderer Sorgfalt aussucht. Denn das frisch gebügelte Complet, ein gut drapiertes Foulard und vor allem die obligate Schriftmappe sollen, wie sie mir erklärt, belegen, dass sie bei

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CESAC nur als Arbeitnehmerin und nicht etwa als Patientin verkehrt. Diese nach aussen vermittelten Zeichen stützen den Eindruck einer professionellen Autorität – und machen sich übrigens auch in der Anrede »docteur« bemerkbar, mit der Amy ab und zu angesprochen wird. Bei unserer nächsten Begegnung, wiederum ein halbes Jahr später, scheinen sich Amys Ambitionen erfüllt zu haben. Nicht ohne Stolz verkündet sie: »J’ai la santé, j’ai de l’argent, j’ai des gens qui m’aiment bien – aujourd’hui, je suis admirée par tout le monde.« Jetzt kann sie, wie sie sagt, die Früchte ihrer Arbeit ernten. Ihre Position innerhalb der Familie hat sich durch die Beitragszahlungen so gefestigt, dass die Angehörigen ihre Hilfsbereitschaft öffentlich loben und sie dadurch die Sicht des Umfeldes auf Amy korrigieren. Im Zuge ihrer neugewonnenen Wertschätzung verspürt auch Amy das dringende Bedürfnis, meine Sicht auf ihre Angehörigen zu revidieren. Die einstigen Klagen über ihre Schwestern und Tochter seien ganz ungerechtfertigt gewesen und nur durch den Einfluss der Krankheit, die sie ungehalten und zornig werden liess, zu erklären: Au cours de nos entretiens précédents, j’avais dit que ma fille aussi bien que mes sœurs ne s’occupaient pas de moi et m’avaient complètement rejetée. Je pense que c’était sous l’effet de la colère. Sinon, aucun de mes parents ne m’a rejetée ni abandonnée. (24.8. 2005)

Mit dem Anliegen, ihre Familie als eine harmonische Einheit darzustellen, dokumentiert Amy, dass sie nun eine neue Verantwortung übernommen hat, diejenige eines Familienvorstands. Ihre jetzige Lebensform, ihr Umgang mit ihrer Krankheit beschreibt sie als sutura, als im Verborgenen, im Geschützten lebend. Sie fällt niemandem zur Last und ist deswegen auch niemandem Rechenschaft schuldig, im Gegenteil: Sie geniesst die neue Autonomie und ist auch nicht willens, diese für eine vorschnelle Heirat aufzugeben. Denn mittlerweile haben sich ihre Ansprüche an eine Partnerschaft grundlegend verändert. Jetzt vertritt sie ein durchweg romantisches Liebesideal und erwartet von einem Mann, dass er sie um ihrer selbst willen liebt und sie trotz oder vielmehr mit ihrer Krankheit akzeptiert: »Celui qui sait que tu es malade et qui t’aime avec ta maladie, c’est celui-là qui t’aime réellement.« Den Erfolg ihrer Navigationen – von den überstandenen Krankheiten zu beruflichem Engagement, zu Autonomie und neuem Selbst- und Fremdverständnis – macht Amy in erster Linie an ihren finanziellen Ressourcen fest: Tu sais, si tu n’as rien dans la vie, les gens ne t’aiment pas. [...] C’est une question de position, car si tu n’as pas les moyens, les réactions sont autres que si tu as une bonne position – surtout financièrement. On considère tout ce que tu diras et il est impensable de te mettre à côté. (24.8.2005)

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Damit veranschaulicht Amy eines der grundlegenden Prinzipien der Bourdieuschen Kapitaltheorie: Mit Hilfe von ökonomischem Kapital konnte sie ihr soziales und im weiteren Verlauf auch ihr symbolisches Kapital stärken respektive wiederherstellen. Ähnliche Ansichten vertritt auch Pitt-Rivers (1968: 510), wenn er Ehrgewinn in urbanen Gesellschaften in Zusammenhang mit materiellem Wohlstand stellt. Doch urbane Ehre konstituiert sich nicht nur über ökonomische Mittel, sondern ein urbanes Umfeld trägt auch – wie sich bei Amy zeigt – wesentlich dazu bei, diese zu erlangen. Ohne die Selbsthilfegruppe und ohne eine entsprechende Position bei CESAC wäre es für Amy ungleich schwieriger, vielleicht sogar unmöglich gewesen, die für die Wiederherstellung ihrer sozialen Gesundheit notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Einen ganz ähnlichen Navigationskurs, wenngleich unter sehr viel ungünstigeren Bedingungen, verfolgt auch Oumou. Sie wohnt nicht wie Amy in der eigenen, relativ kleinen Familie, sondern lebt im Kreis ihrer mehr als fünfzig Personen zählenden Schwiegerfamilie. Hier gilt sie seit dem Tod ihrer beiden Ehemänner, zweier Brüder, als Unglücksträgerin. Der Argwohn, mit dem man ihr bislang begegnete, wandelt sich in offene Ablehnung, als sie eine ihrer Mitfrauen über die wirkliche Todesursache ihres gemeinsamen Gatten informiert und diese die Nachricht erst in der Familie und dann im ganzen Dorf weiter verbreitet (siehe Kapitel 13.1). Ihr Name ist, wie sie durch die demonstrativ geäusserten Distanzierungen bei Taufen oder anderen Zeremonien erfahren muss, stark angegriffen. Auch die Situation innerhalb der Schwiegerfamilie ist für Oumou nicht einfach. Im hohen Alter von 102 Jahren ist der Schwiegervater den Aufgaben eines Familienchefs nicht mehr gewachsen; diese Position besetzt nun einer seiner Söhne, der ältere Halbbruder von Oumous Ehemännern. Aufgrund der fadenya-Beziehung zwischen den Brüdern mit unterschiedlichen Müttern besteht auch zwischen Oumou und dem stellvertretenden Familienchef ein gespanntes Verhältnis. Er war es, der ihr anlässlich des AIDS-Verdachtes verbietet, weiterhin für die Familie zu kochen – für Oumou bedeutet dies, dass ihr das Amt, mit dem sich eine Frau innerhalb ihrer Schwiegerfamilie Achtung erwirbt, genommen ist. Daraufhin möchte sie auch nicht mehr an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen. Die Familie zu verlassen scheint ihr keine gute Lösung, denn ihre Kinder würden gemäss der patrilinearen Ordnung in der Familie der Väter verbleiben. Eine Chance indessen, die zur Verbesserung ihrer Situation beitragen könnte, sieht sie in folgendem Versuch: »Ce que j’essaie de faire actuellement, c’est de pouvoir gagner l’amour de mon beau-frère qui est très difficile. Car si j’arrive à gagner son amour, à travers lui, j’aurai toute la famille parce que c’est lui le chef.« Zur Verwirklichung ihres Vorhabens engagiert sie sich in der Selbsthilfegruppe AMAS/AFAS, wo sie dank ihrer guten Ausbildung schnell in der Hierarchie aufsteigt. Sie wird zur engsten Vertrauten der Präsidentin und erhält einen der wenigen fest bezahlten Arbeitsplätze, der ihr wiederum erlaubt, zum Unterhalt der Schwiegerfamilie regelmässig etwas bei-

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steuern zu können. Bereits bei unserem nächsten Gespräch berichtet sie vom Erfolg ihrer Bemühungen: Avant, quand j’étais à la maison et je ne sortais pas, j’étais mal traitée. Maintenant que je travaille et j’arrive à amener quelque chose à la maison, les gens commencent à m’accepter. Mais pourquoi ça a changé? Parce que je commence à apporter quelque chose dans la famille. Ils ont commencé à me considérer. Ce n’est pas que je donne de bons conseils, mais parce que je gagne un peu maintenant. [...] Moi, ce que j’ai compris, c’est que la discrimination est liée au problème de l’argent. (36 Jahre, 23.11.2007)

Damit verfolgt Oumou einen ähnlichen Weg wie Amy, ausser dass sie zudem auch ihre Bildung, ihr kulturelles Kapital, dafür einsetzen kann, ökonomisches und schliesslich symbolisches Kapital zu gewinnen. Beide Frauen stellen in ihren Darstellungen die Wirkung des ökonomischen Kapitals absolut in den Vordergrund. Amy betont sogar ausdrücklich als Fazit ihrer verschiedenen Bemühungen: »L’argent, c’est tout, c’est à cause de l’argent que Amy est devenue Amy d’aujourd’hui.« Dennoch wäre es zu kurz gegriffen beziehungsweise würde den unterschiedlichen Anstrengungen zu sozialer Gesundheit zu gelangen, nicht gerecht, den Erfolg ihrer Navigationen allein auf den Einsatz von finanziellen Mitteln zu reduzieren – obschon ohne diese ein Name schwerlich zu retten wäre. Vielmehr ist es die gelungene Kombination unterschiedlicher Taktiken, die sich gegenseitig unterstützen und ergänzen – abgesehen von Beitragszahlungen auch Selbstdarstellungen und eine flexible Informationspolitik –, mit denen sich soziale Gesundheit zurückgewinnen lässt. Ferner erscheint es mir ebenfalls beachtenswert, dass Respekt und Anerkennung zwar bis zu einem gewissen Grade »käuflich« sind – »le respect s’achète«, wie mir einige Male gesagt wurde. Andererseits können Akteure durch finanzielle Aufwendungen auch ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Wertschätzung ausdrücken. Doch hierbei reicht der gute Wille allein nicht; Absichten oder auch Gefühle im weiteren Sinne wirken nur überzeugend, wenn sie sich über Handlungen äussern, das heisst, wenn sie sich materialisieren.

20. Exkursion in Grenzbereiche der Resilienzthematik

Die Untersuchung von Resilienz richtet die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Fähigkeiten von Akteuren, bestimmte Risiken zu bewältigen. Die Risiken HIV-positiver Personen in Mali bestehen darin, ihren Namen beziehungsweise ihren Respekt zu verlieren. Nun erschliessen sich aber Akteure im Kontext von HIV und antiretroviralen Therapien auch neue, für sie bedeutsame Handlungsräume, die nicht direkt im Zusammenhang mit dem Erhalt von Anerkennung stehen, aber dennoch durch die Krankheit und deren Geheimhaltung geprägt sind. In diese Grenzbereiche der Resilienzthematik führt das vorliegende Kapitel. Es zeigt, dass sich mit der Geheimhaltung nicht nur Risiken verbinden, sondern diese auch bestimmte Möglichkeiten für Betroffene eröffnet – Möglichkeiten, die sich unter anderen Umständen so nicht geboten hätten und vielleicht auch nicht realisierbar gewesen wären. Im Rahmen dieses leicht erweiterten Untersuchungsfokus werde ich mich insbesondere mit den neuen Verhandlungschancen befassen, welche Frauen innerhalb von Paarbeziehungen für sich ergreifen. Aufgrund ihrer sexuellen Verbindung werden Paare als von der Krankheit gleichermassen betroffen wahrgenommen. Dass nur ein Partner an der Krankheit leidet, der andere hingegen davon verschont bleibt, ist kaum vorstellbar – »l’autre aura aussi sa part du gâteau«, wie es eine Informantin formuliert. Das heisst, das geteilte Geheimnis verbindet, nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen, kann aber gleichzeitig auch benutzt werden, um eigene Interessen innerhalb der Beziehung zu verfolgen. Mit anderen Worten: Das Geheimnis eröffnet Verhandlungsräume. Einerseits zwingt es die Partner zu kooperieren, andererseits fördert es aber auch Möglichkeiten, bislang fraglos geltende Regelungen neu zu diskutieren und damit die Machtbalance innerhalb der Beziehung zu verändern. Während viele Männer, wie meine Daten zeigen, vorrangig daran interessiert sind, die im Rahmen der Geschlechterhierarchie, Polygamie und Patrilokalität geltenden Konventionen zu reproduzieren und dadurch ihre Position zu behaupten, versuchen Frauen eher, eigene Vorstellungen von Ehe und

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Liebe durchzusetzen und so die bislang übliche Ordnung zu ihren Gunsten zu erweitern. Im Vordergrund stehen dabei eine am romantischen Liebeskonzept orientierte Eheschliessung, die Forderung nach Monogamie und schliesslich der Wunsch nach einem Leben in der Kleinfamilie. Die zum Teil erfolgreichen Umsetzungen dieser Ideale werden innerhalb der Selbsthilfegruppen nicht nur lebhaft diskutiert, sondern erhalten Vorbildcharakter für neue und unter bestimmten Voraussetzungen durchaus realisierbare Modelle des Zusammenlebens.

20.1 R OMANTISCHE L IEBE (LE TEST D’AMOUR) Nana und Alou bezeichnen ihre Beziehung als eine vom Schicksal gefügte »amour fou«. Im Dokumentarfilm, der im Rahmen der Forschung für IAMANEH entstanden ist, verkörpern beide das Idealbild eines romantischen Liebespaars: Gekleidet im Partnerlook leuchtend blauer Boubous, deren üppige Stoffe sich im Wind blähen, spazieren sie Hand in Hand über die Flussauen (Steuer und Kish 2005). Ab und zu halten sie inne, schauen den vorbei gleitenden Pirogen nach oder verlieren sich im Anblick des anderen – ein Paar, das sich mit seinem offen gezeigten Liebesglück wesentlich vom gewohnten Verhalten anderer Paare absetzt. Die Beziehung zwischen Nana und Alou ist erst seit wenigen Monaten offiziell besiegelt, wurde allerdings zuvor, bedingt durch Nanas Diagnose, auf eine harte Probe gestellt. Doch in dieser sehr kritischen Zeit stand Alou unerschütterlich zu ihr – selbst wenn sie die Hölle in sich trüge, er würde sie weiterhin lieben, versicherte er ihr immer wieder. »Cela a fait qu’il est devenu encore plus respectable pour moi. Je n’ai jamais vu un mec comme ça. Si je ne vais pas aimer celui-ci, qui je dois aimer alors? C’est la vraie raison de mon amour«, bekennt Nana. In einem halben Jahr erwarten sie ihr erstes Kind und wollen alles in ihrer Macht Stehende tun, um es vor einer Übertragung des Virus zu schützen. Nana ist die einzige Interviewpartnerin, die ich über die gesamten sechs Forschungsphasen hinweg begleiten konnte. Währenddessen hat sich in ihrem Leben viel und für sie ganz Entscheidendes verändert (siehe auch Kapitel 20.2.) An all diesen Bewegungen hat sie mich mit aussergewöhnlicher Offenheit teilhaben lassen, sogar in Zeiten meiner Abwesenheit haben wir hin und wieder miteinander telefoniert. Insofern etablierte sich zwischen uns, auch vertieft durch die gemeinsamen Dreharbeiten, ein kontinuierliches Gespräch, so dass unsere Begegnungen, vor allem in den letzten Phasen der Forschung, mehr freundschaftlicher Art waren und zumeist im privaten Rahmen stattfanden. Ebenfalls ungewöhnlich, für mich aber sehr aufschlussreich, war, dass sich auch ihr Mann bereit erklärte, mit mir zu sprechen. Als ich Nana das erste Mal bei CESAC treffe, hat sie bereits zwei Ehen hinter sich und ist nicht willens, sich ein weiteres Mal auf diese Art des Arrangements

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einzulassen: »Je ne crois plus aux hommes et à leur façon de faire.« Nach ihrer letzten, enttäuschenden Erfahrung ist Nana mit ihren drei Kindern ins Gehöft ihrer Eltern zurückgekehrt; hier fühlt sie sich aufgehoben und erhält in den schweren Zeiten ihrer Krankheit jede nur erdenkliche Pflege und Anteilnahme. Die konkrete Diagnose indessen kennt nur ihre ältere Schwester; für alle anderen leidet sie an einer besonders schlimmen Form von Typhus. Vor ihrer Krankheit hat sich Nana den Ruf einer aussergewöhnlich tüchtigen Geschäftsfrau in Sachen Kleidung und Kosmetik erworben; sobald es ihr Gesundheitszustand dank der neuen Therapien wieder erlaubt, versucht sie, an ihre ehemaligen Erfolge anzuknüpfen, wenngleich auch nur auf einem sehr viel bescheidenerem Niveau. Ein kleines Zubrot verdient sie sich ausserdem als pair éducatrice in der Selbsthilfegruppe HIV-positiver Personen. Ebenfalls beeindruckt von ihrem geschäftlichen Talent, melden sich bei ihr immer wieder Verehrer, die auch an einer Heirat interessiert wären. Doch Nana sieht in deren Absichten nur Berechnung, die sich mit ihren eigenen Ansprüchen an eine Partnerschaft nicht vereinbaren lässt: Je veux quelqu’un qui m’aime et pas quelqu’un qui m’utilise pour ses fins en signant sa cupidité par rapport à ce que je gagne. Moi, je veux avoir un mari qui me met à l’aise, parce que je suis malade et je ne veux plus faire de débrouillardise. Sinon, je ne suis pas là-dedans. (28 Jahre, 13.1.2004)

Unter ihren Verehrern befindet sich auch Alou, der Polizist. Obwohl ihm Nana die kalte Schulter zeigt, lässt er sich nicht entmutigen und besucht sie weiterhin so regelmässig, dass er in der Nachbarschaft bereits als ihr Verlobter gilt. Als die Gespräche über eine mögliche Hochzeit schliesslich eine ernsthafte Wendung nehmen, besteht Nana auf einen gemeinsamen HIV-Test. Dass sie ihre Diagnose bereits kennt, behält sie für sich. Alous Ansicht nach ist diese Untersuchung vollkommen überflüssig – er liebe sie, wie auch immer das Resultat ausfallen werde. Doch Nana will es genau wissen, für sie hat der Test den Stellenwert einer Liebesprüfung (test d’amour), die allerdings genau inszeniert sein will. Ihr Arzt erklärt sich bereit, nichts über Nanas Diagnose und ihre laufende Therapie zu verraten, sondern so zu tun, als würden sie sich nicht kennen und das ganz normale Prozedere wie bei jeder anderen erstmaligen Abklärung durchzuführen. Der Befund zeigt, dass Alou gesund, Nana indessen infiziert ist. Um Schuldzuweisungen oder die sonst üblichen Unterstellungen von vornherein zu verhindern, erklärt der Arzt, dass man sich auch auf anderen Wegen als dem bekannten sexuellen infizieren könne. Ausserdem sei die Krankheit nach den heutigen medizinischen Kenntnissen kein Hinderungsgrund, ein normales Leben zu führen und Kinder zu haben – vorausgesetzt gewisse Vorsichtsmassnahmen werden beachtet. Nach der Eröffnung ist Nana zwar erleichtert, jetzt weiss Alou Bescheid, doch sie zweifelt auch, ob er sein Heiratsangebot

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aufrecht halten wird, insbesondere nachdem er sich einige Tage nach der Eröffnung nicht mehr bei ihr meldet. Von Nanas Kolleginnen in der Selbsthilfegruppe wird ihr Vorgehen, den HIV-Test als eine Art Liebesprüfung zu nutzen, eingehend besprochen und erntet als neues Rollenmodell grosse Zustimmung. Von zwei Gesprächspartnerinnen jedenfalls höre ich, dass sie sich bei einer nächsten Ehe aufgrund von Nanas Erfahrungen ebenfalls an dieser Methode orientieren wollen, obwohl es, wie die eine betont, in dieser kleineren Stadt noch immer eine »Revolution« bedeute, seine Heiratsentscheidungen von emotionaler Verbundenheit und nicht von familiären oder pragmatischen Interessen abhängig zu machen. Eine Voraussetzung für dieses Vorgehen ist jedoch, ausreichend Zeit zur Verfügung zu haben – ein Luxus, den sich viele Frauen gerade bei ihrer ersten Heirat nicht leisten können, weil sie befürchten, den Bewerber an eine andere, vielleicht vorteilhaftere Partie zu verlieren. Wird aber der Verehrer vom Umfeld bereits als Verlobter wahrgenommen, so wie es bei Nana der Fall war, dann verringert sich auch das Risiko, verraten zu werden. Doch abgesehen davon, dass auch einige Imame zum HIV-Test vor der Ehe raten, erweist sich das Modell, den Partner auf diese Weise in das Geheimnis einzubinden, für Frauen gleich in dreifacher Hinsicht als vorteilhaft. Zum einen erlaubt es ihnen, ihren zukünftigen Partner hinsichtlich seiner »wahren Gefühle« zu prüfen. Des Weiteren gelingt es, ihre Interessen zu denjenigen ihres Anwärters zu machen und sich so seiner Verschwiegenheit zu versichern (siehe dazu Hahn 1997: 27). Und schliesslich werden sie durch die professionellen Erklärungen des Arztes von Schuldzuweisungen erlöst. Andererseits jedoch, und dies sollte nicht vergessen werden, gebiert diese Methode der Geheimniseinbindung ein neues, ein »existentielles Geheimnis« (Spitznagel 1998: 20), das nie aufgedeckt werden darf und das unter gewissen Umständen auch als Last empfunden wird: das Wissen um die längst vor dem gemeinsamen Test bekannte Diagnose.

20.2 L EBEN IN DER K LEINFAMILIE (UN FOYER MODERNE) Das Liebesglück, in welchem das Paar während der dritten Forschungsphase schwelgte, ist nicht geschenkt. Alous grosse Familie ist von seiner Absicht, eine zweite Ehe einzugehen und dies mit einer Frau, an deren Wahl sie nicht beteiligt wurde, alles andere als begeistert. Als besonders störend wird empfunden, dass die Heiratszeremonien mit seiner ersten Frau, vor allem die zivile Trauung, noch nicht vollzogen sind. Zudem sei Alous Gehalt besser in der dringend notwendigen Renovation des Hofes angelegt, als es für eine weitere Heirat zu verschwenden. In Anbetracht all dieser Vorhaltungen steht Nanas Aufnahme in ihre Schwiegerfamilie nach der Eheschliessung unter einem denkbar ungünstigen Stern. Die Familienversammlungen häufen sich, ernsthafte Beschuldigun-

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gen und Vorwürfe fallen, wobei Nanas Verhalten im Vergleich mit demjenigen ihrer Mitfrau immer wieder als respektlos bezeichnet wird. So befindet sich Alou in der unangenehmen Situation, sich entschuldigen zu müssen, seine Gefühle für Nana zu verteidigen – »qu’elle n’est pas le genre de femme qu’ils pensent«. Dies wiederum weckt die Eifersucht der ersten Ehefrau, die Nana nun ihrerseits bezichtigt, ihrem Mann alles Geld aus der Tasche zu ziehen und es, egoistisch wie sie sei, für sich alleine zu verschleudern. Nach all diesen Ereignissen beschliesst das Paar, dass es besser ist, wenn Nana nur alle zwei Tage auf Besuch kommt, sonst aber weiterhin bei ihrer Familie wohnt, zumindest solange bis sich die Spannungen etwas gelegt haben. Das nächste Mal treffe ich Nana mit ihrem neu geborenen Sohn Moussa im Hof der Schwiegerfamilie, wo sie mittlerweile lebt. Eigentlich hatte ich nur vor, ihr zur Geburt zu gratulieren, doch Nana, dies ist auf den ersten Blick erkennbar, ist nicht in der Stimmung, Glückwünsche in Empfang zu nehmen. Aussergewöhnlich nervös und beunruhigt, meint sie, dringend handeln zu müssen, um ihren Sohn vor dem Schlimmsten zu beschützen. Kurz nach der Geburt, so erzählt sie, sei Alou nach Bamako beordert worden, so dass sie sich nun ganz alleine, ohne den Beistand ihres Mannes, mit der Schwiegerfamilie zu arrangieren habe. Das Paar hat auf Anraten des Arztes beschlossen, Moussa nicht zu stillen, sondern ihn, um eine Übertragung des Virus zu vermeiden, mit künstlicher Milch zu ernähren – eine Methode, die der Schwiegerfamilie überhaupt nicht behagt. Als einer der ältesten Verwandten extra vom Dorf anreist, um den jüngsten Spross der Familie zu segnen und ihm schützende Amulette umzubinden, kommt es zum Eklat: Das Fläschchen wird auf den Boden geworfen und die Pulvermilch verstreut. Von nun an soll Nana im selben Raum wie ihre Schwiegermutter schlafen, die die »richtige« Ernährung des kleinen Moussa überwacht. Zudem wird sie tagsüber, und dies erscheint Nana als besonders schikanös, in speziell strapaziöse Hausarbeiten eingespannt. Auf diese Weise soll sie lernen, dem Wohl der Familie zu dienen und Moussa nicht wie ihr Eigentum zu behandeln. Doch für Nana ist der familiäre Druck, dem sie sich jetzt ausgesetzt sieht, nicht tragbar. Obwohl sie, wie es für jede Frau üblich ist, vierzig Tage nach der Entbindung den Hof nicht verlassen sollte, bittet sie mich inständig, bei mir zuhause ungestört mit Alou telefonieren zu dürfen. Sie will ihn überzeugen, sie nach Bamako zu holen. Ich bin einverstanden, kann mir aber nicht vorstellen, dass ihre Schwiegermutter sie wirklich aus dem Haus gehen lässt. Doch tatsächlich, einen Tag später steht sie mit Moussa auf dem Arm bei mir vor der Türe. Dezidiert erklärt sie, dass ein Zusammenleben mit dieser Familie für sie ausgeschlossen sei, zu verschieden seien ihre Lebenseinstellungen: Moi j’ai un esprit plus large que les membres de ma belle-famille. Quoi que ce soit ce que tu leur fais, ils ne sont pas satisfaits, ils te maltraitent. Ils sont resté traditionaliste, c’est-à-dire ils sont dépassés et ils font des choses dépassées. (25.8.2005)

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Beim Telefongespräch, das sie in meiner Anwesenheit führt, hat sich der Ton zwischen dem Paar, zumindest von Nanas Seite aus, deutlich verschärft. Die ehemals zärtlichen Töne sind verschwunden, und ohne Umschweife fordert Nana, sie sofort nach Bamako zu holen, ansonsten, so droht sie, würde sie sich scheiden lassen. Die Situation in der Familie habe sich zugespitzt, und das Leben ihres Sohnes stünde auf dem Spiel. Unter diesen Umständen könne sie nicht garantieren, dass sich ihre Krankheit weiterhin verheimlichen lasse. Während der folgenden, relativ lautstark geführten Auseinandersetzung ziehe ich mich in ein anderes Zimmer zurück. Doch letztendlich scheint das Gespräch für Nana erfolgreich gelaufen zu sein: »Comme Dieu sait bien faire les choses, Alou est muté à Bamako et moi aussi, je vais partir très bientôt.« Zwei Tage danach ist sie mit ihrem Sohn auf dem Weg nach Bamako. Wiederum ein halbes Jahr später, bei unserem fünften Gespräch, hat sich die Familie in einem kleinen Appartement in einem Aussenquartier der Stadt eingerichtet. Alou ist über diese Situation nur bedingt glücklich: Je me sens très mal à l’aise, isolé… Les femmes veulent ça, mais moi, je ne veux pas ça. Je veux que ma femme fasse la lessive de ma maman, qu’elle fasse tous les travaux que la maman veut. Parce que pour personne dans la vie j’ai senti plus d’affection que pour ma maman. Mes femmes veulent que moi je suis là pour elles, mais moi, je n’aime pas ça. (9.3.2007)

Als ich ihn frage, weshalb er denn in diese Kleinfamilienlösung eingewilligt habe, meint er, dass er es auf keinen Fall riskieren könne, seine Familie über Nanas Krankheit in Kenntnis zu setzen. Erstens würde sie dann annehmen, er selbst sei ebenfalls infiziert, und zweitens verlöre er in ihren Augen jegliche Autorität. Mit der Entscheidung für Nana habe er gegen das Einverständnis der Familie gehandelt und dabei soviel Unmut und Unruhe heraufbeschworen, dass er nun, wenn er sich nicht lächerlich machen möchte, zu dieser Wahl stehen müsse. Nanas Idealvorstellungen von einer, wie sie sagt, modernen Ehe (foyer moderne) hingegen gehen noch einen Schritt weiter. Sie befürchtet, dass über kurz oder lang die erste Frau nach Bamako nachgeholt werden wird – eine Mitfrau, mit der sie keine Gemeinsamkeiten verbindet und mit der ein friedvolles Zusammenleben kaum vorstellbar ist: »Pour moi, je vaux mille fois mieux qu’elle. Elle n’est pas une femme propre et élégante qui est comparable à moi.« Insofern wäre ihr lieb, wenn sich Alou von ihr scheiden liesse und sie eine moderne Ehe als monogame Kleinfamilie führen könnten. Doch zu diesem Schritt sei ihr Mann (noch) nicht bereit. An diesem Beispiel wird gut sichtbar, wie es Nana aufgrund eigener Initiativen und begünstigender Umstände gelingt, für Frauen ungewohnte Verhandlungsräume zu erobern und so ihre Vorstellungen einer modernen Ehe

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nach und nach zu verwirklichen. Ausgehend vom beidseitigen Interesse des Paares, eine Enthüllung zu vermeiden, besitzt das geteilte Geheimnis erst mal ein verbindendes Moment; es ist ein gemeinsames Gut, um das man sich auch gemeinsam zu kümmern hat – ein Gut, das Verhandlungen und Kooperation bedingt. Andererseits kann in einem bestimmten Kontext das Interesse, das Geheimnis zu wahren, zumindest vordergründig, unterschiedlich hoch sein. Dies wiederum bedeutet, dass die Frage der Geheimhaltung nicht nur verbindet, sondern sich in gewissem Sinne auch instrumentalisieren lässt und sich damit, wie bei Nana und Alou erkennbar, die herkömmliche Machtbalance zwischen den Ehepartnern verschiebt. Obwohl es der unterschiedliche Serostatus des Paares eigentlich nahe legen würde, dass sich Nana in der wesentlich fragileren Situation befindet, kann sie eigene Lebens- und Beziehungsmodelle durchsetzen. Der entscheidende Punkt dabei ist, wie Alou selbst betont, dass er sich durch die vehement geäusserten Stellungnahmen für Nana in eine angreifbare Lage manövriert hat und es sich nun weder erlauben kann, die Familie mit weiteren Konflikten zu belasten, noch sie seine eheinternen Krisen spüren zu lassen. Anders gesagt: Er kann seine Position in der Familie nur behalten, indem er Nanas Verhandlungsspielraum in der Ehe vergrössert. Während die Eröffnung des Geheimnisses in diesem Fall als indirekte Drohung wirkt, setzt eine andere Informantin diese Möglichkeit ganz direkt als Argument ein. Ihr Mann, der genau wie sie HIV-positiv ist, soll von seinen Verwandten eine zweite Frau vermittelt bekommen. Er selbst ist von dieser Aussicht durchaus angetan, erhält jedoch von seiner Frau die klare Botschaft, auf alle weiteren Schritte zu verzichten: Je lui ai dit: ›Tu sais que tu es malade et tu m’as dit de ne rien dire à personne et maintenant tu viens me dire que tes parents t’ont proposé une fille en mariage‹. Je lui ai demandé: ›Est-ce que tu ne vas pas contaminer cette fille?‹ [...] Je lui ai dit s’il prend une autre femme en mariage, elle sera d’abord informée par moi-même. (w, 34 Jahre, 13.12.2007)

Im Schatten der Geheimhaltung gedeihen also auch Verhältnisse, in denen die Mittel der Drohung und Erpressung durchaus ihren Platz haben – dies insbesondere dann, wenn es darum geht, eigene Vorstellungen hinsichtlich der Ehe durchzusetzen. Für Frauen bedeutet das Leben in der Schwiegerfamilie wie auch die Aussicht, sich mit einer Mitfrau arrangieren zu müssen, zumeist eine Quelle ständiger Zerwürfnisse. Das für beide Partner gleiche Bedürfnis, die Krankheit um jeden Preis zu verheimlichen, ermöglicht indessen Verhandlungen über Angelegenheiten, über die herkömmlicherweise die Männer und deren Familien alleine entschieden haben. Im Gegensatz zur Liebesprüfung, der ein überlegtes Handlungsszenarium zugrunde liegt, ist Nanas Weg bis zum Leben in der Kleinfamilie vielmehr von

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Navigationen zwischen Hindernissen und Ereignissen, zwischen schicksalhaften Konstellationen (»comme Dieu sait bien faire les choses«) und medizinischen Bedingungen geprägt. Retrospektiv lässt sich auf jeden Fall feststellen, dass Nanas Fähigkeiten, die sich in Risikosituationen bietenden Chancen zu erkennen und diese auch für ihre Interessen zu nutzen – handle es sich dabei um die Ablehnung durch ihre Schwiegerfamilie oder um die Zerstörung der Babyflasche –, sie der Verwirklichung ihres Lebensentwurfes näher gebracht haben. Das heisst, es gelingt ihr, nicht nur die Schwierigkeiten zu sehen, die sich mit ihrer Krankheit verbinden, sondern auch die Möglichkeiten, die sie eröffnet. Zudem ist Nana, bedingt durch ihre Krankheit, in die Position einer Aussenseiterin gerutscht – eine Position, die dazu angetan ist, sich über gewisse gesellschaftliche Vorgaben Gedanken zu machen und sie kritisch zu hinterfragen. In diesem Sinne haben sicher auch die Krankheitserfahrungen dazu beigetragen, dass sich ihre Idealvorstellungen in besonderem Masse von gängigen Normen und Werten absetzen und sie deshalb nicht mehr bereit ist, bestimmte Ordnungen einfach als gegeben zu akzeptieren. Weder gefällt ihr die Art und Weise, wie Männer die Dinge zu ihrem Vorteil regeln, noch die Regelungen in ihrer Schwiegerfamilie, die sie als altbacken und überholt wahrnimmt. Sie formuliert, und zwar bevor sie diese umzusetzen versucht, eigene Visionen, wie sie ihr Leben gestalten möchte, selbst wenn sie dabei gegen die herrschenden Normen verstossen sollte. Und in diesem Punkt macht sich eine deutliche Abgrenzung zu den vorher dargestellten Praktiken der Resilienz hinsichtlich sozialer Anerkennung bemerkbar. Nanas Bestrebungen sind darauf gerichtet, strukturelle Beschränkungen verhandelbar zu machen, und damit verorten sie sich analytisch gesehen im Bereich von agency. Van Dijk et al. (2007: 6) gehen in ihrem Beitrag zu agency in Afrika davon aus, dass agency von Akteur und Struktur produziert wird und sich dementsprechend auch Verhandlungsräume zwischen den beiden eröffnen. Dabei betonen die Autoren vor allem das reflexive Potential wie auch die normenverändernde Qualität von agency: [...] there is no agency without reflexivity; agency is not simply ›acting‹ but is reflexive, purposeful acting and directed towards a changing of the predicament, structure and condition that has been perceived in the first instance. (Ebd: 9)

Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse dieses Kapitels stellt sich die Frage, wo Abgrenzungen respektive Überschneidungen zwischen agency und Resilienz zu suchen sind – dies umso mehr als in einigen Publikationen die beiden Begriffe synonym verwendet werden (u.a. van Djik et al. 2007; Bohle et al. 2009). Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass die beiden analytischen Konzepte Resilienz und agency gewisse Verbindungen aufweisen, Resilienz jedoch die Aufmerksamkeit auf Bewältigungsstrategien im Zusammenhang mit bestimmten

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Risiken legt und somit eine eingeschränkte Sicht von agency darstellt. Nun haben indessen die Analysen der Fallstudien in diesem Teil meiner Arbeit gezeigt, dass die mit sozialer Resilienz verbundenen Praktiken nur teilweise einen reflexiven Charakter aufweisen, sondern oftmals vom Sinn für das Spiel geleitet sind, das heisst sich durch eine habituelle Disposition auszeichnen. Ferner zeichnen sie sich in erster Linie durch die Erfüllung von Normen aus und sind nicht darauf ausgerichtet, diese zu erweitern oder zu verändern, eben weil soziale Anerkennung für normenkonforme Leistungen vergeben wird. Besonders deutlich wird dies anhand der Beitragszahlungen an die Familie. Mit anderen Worten: Die Gleichsetzung der beiden Begriffe ist nur bedingt zutreffend und bedarf für jeden Fall einer differenzierten Untersuchung des jeweiligen Kontextes. Dennoch – und dies ist beiden Konzepten gemeinsam – betonen sie die soziale Stärke der Akteure, ihre Fähigkeiten, problematische Situationen zu meistern, sei es auf reflexive oder habituelle, auf normenverändernde oder normenbefolgende Art und Weise. Und mit diesem Fokus treten sie einer viktimisierenden Sichtweise entgegen und stellen vielmehr die eigenen Initiativen der Akteure ins Zentrum ihrer Analysen.

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Schluss: Die drei Dimensionen der sozialen Gesundheit

Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht ein lokales Phänomen der Anerkennung, das durch den Status der Seropositivität bedroht ist: der gute Name. Er ist das Produkt »de la bouche des autres« und konstituiert sich über die Einschätzungen des sozialen Umfeldes. Seine Verfassung bestimmt den sozialen Wert einer Person und deren Anspruch auf Respekt. »Der Mensch ist sein Name« heisst es und in den Augen der Gesellschaft gilt jemand nur soviel, wie sein Name verspricht. Wichtig sind also nicht die inneren Qualitäten einer Person, sondern vielmehr der Eindruck, den sie bei anderen hinterlässt. All diese Eigenheiten verweisen auf die soziale Relevanz des Namens und darauf, wie abhängig der Einzelne von den Bewertungen der anderen ist. Die Fallbeispiele zeigen jedoch auch, dass Mittel und Wege existieren, auf den Namen einzuwirken. Als besonders hilfreich für die Untersuchung resilienzbildender Prozesse im Zusammenhang mit sozialer Anerkennung erwies sich der von den Gesprächspartnern selbst eingebrachte Begriff »soziale Gesundheit«. Im Gegensatz zum Namen, der in erster Linie die gesellschaftliche Perspektive reflektiert, bezieht sich soziale Gesundheit auf die Bemühungen der einzelnen Akteure und auf ihre aktive Gestaltung der persönlichen Identität. Je nachdem, wie weit ihr Geheimnis um die Diagnose gelüftet ist, mit welchen Ressourcen sie ausgestattet sind oder welche Stellung sie in der Gesellschaft beziehungsweise in ihrer Familie einnehmen, wählen HIV-positive Personen unterschiedliche Wege, sozial gesund zu bleiben. Obwohl in meinen Gesprächen am häufigsten Befürchtungen, den Namen zu verlieren, formuliert wurden, richteten sich die konkreten Bemühungen darauf aus, respektiert zu werden – und machten damit auf die unterschiedlichen Kriterien der beiden Anerkennungsformen aufmerksam. Während der Name aus den Beurteilungen des Umfeldes resultiert und für die jeweiligen Träger nicht direkt kontrollierbar ist, manifestiert sich Respekt im Rahmen jeder Interaktion und kann darum auf ganz direkte Weise erfahren und überprüft werden. Die Verweigerung von Respekt lässt zumeist auch auf eine Beschädigung des

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Namens schliessen, wohingegen erwiesener Respekt nicht unbedingt als ein Indiz für einen intakten Namen gelten muss. Anders gesagt: Respekt ist die Minimalanforderung der sozialen Anerkennung im Alltag. Er bestätigt die soziale Existenz eines Menschen, sichert seine Zugehörigkeit und gewährt Handlungsmöglichkeiten. Doch beide Anerkennungsformen, Name wie Respekt, sind als symbolisches Kapital Ausdruck sozialer Gesundheit – ein Begriff, der sich nun aufgrund der in den Fallbeispielen gewonnenen Erkenntnisse und den in ihnen angesprochenen Praktiken genauer bestimmen und als ein lokales Konzept definieren lässt. Soziale Gesundheit umfasst drei Dimensionen, die in ihrer Gesamtheit die unterschiedlichen Aktionsfelder sozialer Resilienz wiedergeben – eine kommunikative, distributive und performative Dimension, die sich zwar analytisch trennen lassen, in den konkreten Strategien der Akteure hingegen miteinander verbunden sind. Die kommunikative Dimension bezieht sich im weitesten Sinne auf den sprachlichen Umgang mit dem Geheimnis und fokussiert die Frage: Wem teile ich mich in welcher Form mit? Wie aus den Darstellungen ersichtlich wurde, sind Informationen über die eigene Krankheit immer mit bestimmten Risiken verbunden – sei es, dass man verraten werden kann, sei es, dass man sich in eine Abhängigkeit begibt, die die eigenen Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Obschon es am sichersten wäre, das Geheimnis mit niemandem zu teilen, gibt es im Leben der Betroffenen immer wieder Konstellationen, die aus verschiedenen Gründen eine Mitteilung notwendig machen. Mit diesem Risiko umsichtig umzugehen, ohne den Namen zu gefährden oder sich zukünftige Chancen zu verbauen, ist in Anbetracht der Verbindlichkeit, die eine persönliche Information in den Augen anderer besitzt, oftmals eine Frage von Vertrauen – von »eingebettetem Vertrauen«, das sich im Kontext von HIV durch einen ungewöhnlich hohen Grad an Kontrolle auszeichnet. Eine weitere Möglichkeit, wenn schon nicht den Namen, dann sich zumindest den Respekt zu sichern, gründet auf uneindeutigen Kommunikationsweisen: Einerseits Informationen über die eigene Diagnose nie explizit werden zu lassen und andererseits durch die Wahrung von Distanz zudringliche Fragen von vornherein auszuschliessen. Die distributive Dimension umschliesst alle Praktiken, die im weitesten Sinne mit der Vergabe von bestimmten Ressourcen zusammenhängen – »rendre service aux gens«, »être utile pour les autres« oder »apporter quelque chose«, wie diese Bemühungen in den Gesprächen umschrieben wurden. Denn sozial gesund sein heisst, etwas zu geben zu haben, und verweist auf die »intimate connection between being, giving and belonging« (Chabal). Solange jemand auf die Hilfe seines Umfeldes angewiesen ist, selbst aber nichts beisteuern kann, befindet er sich in einer angreifbaren Position und wird es schwer haben, anerkannt und respektiert zu sein. Ein zahlendes Familienmitglied hingegen kann sich meistens auf die Solidarität und Verschwiegenheit seiner Angehörigen verlassen. Desgleichen sorgt eine gewisse Freigiebigkeit im weiteren Umfeld, also

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ausserhalb der Familie, für Respekt – möglicherweise wird hinter dem Rücken der betreffenden Person schlecht über sie gesprochen, doch in den direkten, alltäglichen Interaktionen muss sie nicht damit rechen, blossgestellt zu werden. Obwohl HIV-positive Personen aufgrund ihrer speziell gefährdeten Situation finanzielle Autonomie und finanzielle Aufwendungen für ihre soziale Gesundheit als besonders wichtig erachten, beschränkt sich die distributive Dimension nicht allein auf den materiellen Aspekt. Anderen Ratschläge geben zu können, seien sie religiöser, profaner oder medizinischer Art und damit sein Interesse am Schicksal anderer zu bezeugen, ist bedeutungsvoll – man denke beispielsweise an die krankenschwesterlichen Kommentare, mit denen sich Mariam gegenüber anderen Patienten profilieren konnte. Desgleichen gelten Krankenund Höflichkeitsbesuche, die von vielen HIV-positiven Personen besonders intensiv gepflegt werden, als Ausdruck von Anteilnahme und der Bereitschaft, die Freuden und Leiden der anderen zu teilen. Die performative Dimension schliesslich gründet auf der Fähigkeit, sich selbst und seinen sozialen Wert zu inszenieren. Für HIV-positive Personen und ihre Ehrbarkeit ist es wesentlich, bestimmte Bilder von sich zu erzeugen, die in den Augen der anderen einen idealisierten Eindruck hinterlassen sollen. In diesem Sinne besitzt zwar auch die kommunikative und distributive Dimensionen performative Aspekte, explizit wird das dramaturgische Handeln jedoch vor allem durch Strategien von »faire semblant«. Sie zielen darauf ab, sich als körperlich gesund und sorgenfrei zu präsentieren, ferner aber auch, und diesen Aspekt betonen vorrangig Frauen, über Kleidung den Eindruck von Wohlstand zu erwecken und sich dadurch Respekt zu sichern. Von aussen, aus kulturell fremder Sicht betrachtet, wird diese Praxis häufig negativ als »mehr Schein als Sein« oder »viel Gewese und nichts dahinter« bewertet. Diesen moralischen Beurteilungen hinsichtlich der Authentizität des Dargestellten oder der Darstellenden liegt in vielen Fällen ein ganz unterschiedlich gelagertes Ehrverständnis zugrunde und sie sind daher eher Ausdruck ethnozentrischer Voreingenommenheit. Besonders deutlich tritt der Gegensatz zwischen innerer oder äusserer Orientierung des Ehrverständnisses in der deutschen Sprache zu Tage, wo sich der Begriff »Ehre« etymologisch wie semantisch mit Ehrlichkeit verknüpft. In Mali hingegen interessiert das Kriterium der Authentizität der Selbstdarstellungen wenig; viel entscheidender ist, inwieweit die Inszenierungen erfolgreich sind und die für das soziale Leben notwendige Anerkennung erzeugen. Anhand der performativen Dimension wird deutlich, wie gewinnbringend die Verknüpfung der theoretischen Ansätze von Bourdieu und Goffman sowohl für das Verständnis wie für die Analyse lokaler Anerkennungsphänomene ist. Allein mit Bourdieus Kapitaltheorie hätte sich diese Form sozialen Handelns, der aufgrund der äusseren Gewichtung von Name und Respekt eine zentrale Stellung innerhalb der Bemühungen um soziale Gesundheit zukommt, nicht so differenziert erschliessen lassen. Mit Goffmans analytischem Instrumentarium

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wiederum schärft sich der Blick für die stark in kommunikativen und repräsentativen Techniken verankerte Praxis der Akteure: Den Schein wahren, So-tun-alsob, aber auch sich selbst in ein bestimmtes Licht zu rücken sind typische Strategien sozialer Resilienz. Sie erweitern den Raum zwischen der sozial erwünschten und der durch die Diagnose bestimmten Identität, zudem vermitteln sie soziale Relevanz und sorgen insofern für einen Zuwachs an Macht und Kontrolle. Soziale Gesundheit, in der Bourdieuschen Terminologie als symbolisches Kapital verstanden, erwächst aus anderen Kapitalformen – aus sozialem, ökonomischem oder kulturellem Kapital. So gesehen sind für die Prozesse sozialer Resilienz und die sie kennzeichnenden Praktiken der Zugang zu materiellen wie immateriellen Ressourcen bedeutsam. Das Beispiel von Amy zeigt, dass »offrir des cadeaux à la famille« zwar auf ökonomischem Kapital aufbaut (das durch den Einsatz des spezifischen Kapitals der HIV-Positivität gewonnen wurde), dieses jedoch hauptsächlich zur Stärkung des sozialen Kapitals, des familialen Rückhaltes, dient. Amys Idee hingegen, soziale Gesundheit über Geschenke an ihre Familie herzustellen, entspringt ihrem kulturellen Kapital, genauer gesagt ihrem inkorporierten kulturellen Kapital. Diese besondere Ressource besitzt in allen Fallbeispielen, die ich vorgestellt habe, eine ausserordentlich wichtige Funktion. Als im Laufe der Sozialisation erlerntes Wissen stellt sie einen wertvollen Fundus an kulturspezifischen Kenntnissen und Fertigkeiten zur Verfügung, der Akteure dazu befähigt, ihre Strategien so zu gestalten, dass sie von den Wahrnehmungskategorien ihres Umfeldes positiv aufgenommen werden. Bourdieu spricht an anderen Stellen auch vom »Sinn für das Spiel«. Diese Ressource, die – eben weil sie einverleibt ist – weder entwendet noch der Zugang zu ihr verhindert werden kann, leitet die Navigationen HIV-positiver Personen und hilft ihnen, problematische Situationen ohne bewusste Überlegungen – sozusagen »automatisch«, wie Mariam meint – zu erfassen und entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Auch das Bedürfnis, sich selbst als anerkennungswürdige und sozial wertvolle Person darzustellen, speist sich aus dieser Quelle, wobei die schauspielerischen Fähigkeiten nicht allein einer individuellen Begabung geschuldet, sondern wesentlich von historischen Bedingungen geprägt sind. Die unterschiedlichen Bedeutungssysteme, welche sich in der Stadt innerhalb von wenigen Jahrzehnten überlagerten, bieten ein variationsreiches Reservoir verschiedenster Rollenprofile und begünstigen so einen gewissen Sinn für Flexibilität und Ambivalenz (siehe dazu Kapitel 6.3.). Die Schlüsselposition für den Aufbau von symbolischem Kapital allerdings nimmt das soziale Kapital ein. Es ist nicht nur der Bereich, in den die meisten Investitionen fliessen, sondern es bildet auch das Fundament jeglicher Anerkennung, wobei Familienmitglieder die wichtigsten Positionen besetzen. Ohne ihren Beistand ist es kaum möglich, sich Respekt zu verschaffen oder den guten Namen zu behalten. Denn jemand, der innerhalb seiner eigenen Familie nicht respektiert wird, kann in den Augen der Gesellschaft schwerlich als eh-

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renwert und respektwürdig gelten. Dementsprechend besteht der erste Schritt, einen beschädigten Namen wieder aufzubauen darin, sich den Rückhalt der eigenen Angehörigen zu sichern. Dies veranschaulicht die in sozialer Hinsicht existenzielle Abhängigkeit des Einzelnen vom Kollektiv, insbesondere von der Familie. Andererseits wird gerade im Kontext von HIV auch die Abhängigkeit der Familie von ihren einzelnen Mitgliedern deutlich, insofern als sich der beschädigte Name eines einzelnen Angehörigen auch auf denjenigen der gesamten Familie auswirkt. In diesem Zusammenhang wird öfters darauf hingewiesen, dass theoretische Ansätze, die in europäischen oder US-amerikanischen Kontexten entwickelt wurden, der Tragweite des sozialen Gedankens nicht gerecht werden können, sondern vielmehr von westlich geprägten Subjektdefinitionen ausgehen und deshalb nur bedingt auf afrikanische Verhältnisse zu übertragen seien. Dies würde im Prinzip auch auf Goffman zutreffen; auch er beschreibt seine Akteure als Individuen, die sich selbst inszenieren – wäre da nicht die Position der Ensemblemitglieder. Ohne die enge Zusammenarbeit eines Ensembles, das gemeinsam versucht, eine bestimmte Situationsdefinition aufrecht zu halten, wirkt eine Inszenierung kaum glaubwürdig. Es ist diese Form einer gemeinsam getragenen Inszenierung, die Familienangehörige wie auch Aussenstehende (beispielsweise Fofana, der Mann am Empfang von CESAC) zu einem Ensemble vereinigt und die ausserdem auch deutlich macht, wie abhängig der Einzelne in seinen Darstellungen von den Unterstützungen seines Umfeldes ist. Deshalb denke ich, dass Goffmans Ansatz in dieser Hinsicht nicht nur in westlich-industriellen Ländern greift, sondern durchaus auch einen geeigneten Untersuchungsrahmen für afrikanische Kontexte darstellt. Von HIV-positiven Personen selbst wurde zumeist die Wichtigkeit von ökonomischem Kapital betont. Über diese Mittel zu verfügen, bildet für sie in Anbetracht der zunehmend materiell definierten urbanen Ehre eine Möglichkeit, einige der Risiken im Zusammenhang mit sozialer Anerkennung zu meistern. Andererseits ist Geld oder überhaupt materieller Besitz in erster Linie Mittel zum Zweck: Es kann seine Wirkung nur entfalten, wenn es verteilt oder zur Schau gestellt wird. Während es in Form einer eleganten Garderobe ostentativ eingesetzt ist und so ganz direkt vor Blossstellungen und Respektverweigerungen schützt, macht sich die finanzielle Unterstützung der eigenen Familie eher auf längere Sicht, doch umso nachhaltiger bemerkbar, denn sie festigt die Basis – das soziale Kapital – auf der soziale Gesundheit gedeiht. So helfen in der problematischen Situation eines beschädigten Namens und des in vielen Fällen damit einhergehenden Respektsverlustes hauptsächlich finanzielle Beiträge, den Respekt innerhalb wie ausserhalb der Familie zurückzugewinnen. Ein möglicher und vor allem von einigen Frauen bevorzugter Weg, zu ökonomischem Kapital zu gelangen, ist, die eigene HIV-Positivität als Einkommensquelle zu nutzen.

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Die Langzeitperspektive der Untersuchung verdeutlicht den prozessualen Charakter der einzelnen Strategien. Sie lässt aber auch erkennen, dass der Aufbau sozialer Resilienz nie als abgeschlossen betrachtet werden kann, sondern es sich dabei immer nur um vorläufige »Lösungen« handelt, insofern als der Name, obwohl er durch das Alter der Träger, materielle Gegebenheiten und bestimmte soziale Qualitäten an Stabilität gewinnt, nie als gesichert gilt. Die Arbeit am Namen erfordert von den Akteurinnen fortlaufende Anstrengungen sowie die Fertigkeit, mögliche Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und ihnen durch geeignete Massnahmen zuvorzukommen. Mit anderen Worten: Soziale Resilienz realisiert sich nicht über eine einzige bestimmte Handlung, sondern baut vielmehr auf Kombinationen verschiedener Praktiken, die sich gegenseitig bestärken – Praktiken, die vorzugsweise über ein hohes Mass an Ambivalenz verfügen und damit den Akteuren Flexibilität und Handlungsalternativen ermöglichen, ohne sie auf die einengende Logik des Entweder-oder festzulegen. Über die Verbindung der theoretischen Ansätze von Bourdieu und Goffman gelingt es, den auf bestimmten Ressourcen basierenden Aufbau des symbolischen Kapitals sowie die dazu eingesetzten Darstellungstechniken zu analysieren. Die unterschiedlichen Optiken, welche die beiden Autoren auszeichnen – Bourdieus Bezug zu strukturellen Bedingungen im Kampf um soziale Positionen und Goffmans minuziös aufgeschlüsselte Rituale der Interaktionsordnung – erlauben ein Oszillieren zwischen verschiedenen Aspekten und Ebenen der Analyse und ermöglichen so erweiterte wie vertiefte Erkenntnisse hinsichtlich der sozialen Logik der Namensarbeit.

E INSICHTEN UND A USBLICKE Meine Arbeit thematisiert das alltägliche Ringen mit einer lebensbedrohlichen Krankheit – im medizinischen wie im sozialen Sinne. Sie zeigt, dass die Vergabe antiretroviraler Therapien, die für viele Menschen Hoffnung in einer extrem leidvollen Situation bedeutet, auch neue Risiken und Ungewissheiten im sozialen Bereich mit sich bringt. Letztere kontrastieren den einhelligen Optimismus, der sich angesichts der lebensverlängernden Möglichkeiten einstellt und werden von der ersten Generation in Behandlung als besonders beeinträchtigend wahrgenommen. Doch welchen Beitrag leisten die differenzierten Einsichten in die Lebenswelten der Betroffenen zur Lösung konkreter Probleme? Können die hier gewonnenen Erkenntnisse Anregungen zu Verbesserungen oder Modifikationen von Public Health-Massnahmen geben? Da sich Medizinethnologie auch als eine anwendungsbezogene Wissenschaft versteht, hat sich jedes Forschungsprojekt in diesem Fach auf die eine oder andere Weise dieser Frage zu stellen – insbesondere dann, wenn das Leiden alles erdenkliche Mass übertrifft, wie dies

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bei HIV/AIDS der Fall ist. Meine Studie mit dem Fokus auf soziale Resilienz widmet sich vornehmlich den Lösungswegen, die HIV-positive Personen aus eigener Initiative beschreiten. Damit macht sie auf die Bedeutung von sozialer Anerkennung und die vielfältigen Bemühungen, diese zu erhalten, aufmerksam. Dass die gewählten Wege der Betroffenen in vielen Fällen konträr zu gesundheitspolitischen, medizinischen oder auch juristischen Vorgaben stehen und ihr »Kampf um Anerkennung« sich infolgedessen in einem Spannungsfeld gegensätzlicher Erwartungen behaupten muss, ist aus vielen Gesprächen ersichtlich. Die grundlegende Diskrepanz besteht in den ganz unterschiedlich gesetzten Prioritäten – biologisch-medizinische auf der einen Seite und mehr sozial ausgerichtete auf der anderen. Meine Arbeit kann einen Beitrag zu einem besseren Verständnis zwischen professionellen Fachkräften und Betroffenen, also HIV-infizierten Menschen und deren Familien, leisten. Daher würde ich mir wünschen und hielte es auch für sinnvoll, dass einige der hier geförderten Einsichten auch der Praxis zugänglich gemacht werden, insbesondere Personen und Organisationen, die im Feld der internationalen Zusammenarbeit in Mali tätig sind oder in dieser Region zu forschen gedenken. Denn ein differenziertes Verständnis lokaler Anerkennungsformen und deren spezifischer Kriterien öffnet den Blick für soziale Gegebenheiten, insbesondere für die spezifischen Dilemmata HIV-positiver Personen. Diese Erkenntnisse können in zukünftigen Programmen der öffentlichen Gesundheit aufgegriffen werden, indem man sozialen und symbolischen Aspekten eine erhöhte Aufmerksamkeit schenkt. Insofern lassen sich aus meiner Arbeit keine direkt umzusetzenden Aktivitäten ableiten, sondern sie bietet vielmehr eine Grundlage zu einem vertieften Verständnis und weiterführenden Überlegungen. Obschon es ein zentrales Anliegen meiner Arbeit ist, fremde Erfahrungswelten und Ehrbegriffe verständlich zu machen, war ich selbst im Laufe der Forschungszeit immer wieder mit den Grenzen meiner eigenen Fähigkeit, zu verstehen und zu akzeptieren, konfrontiert. Für mein moralisches und sicher auch biomedizinisch geprägtes Empfinden bedeutete es eine Herausforderung, die sozialen Interessen, die für meine Informantinnen in bestimmten Situationen über der physischen Unversehrtheit ihrer Partner standen, ohne innere Widerstände zu akzeptieren. Nachdenklich machte mich vor allem die Tatsache, dass ich in vielen anderen Zusammenhängen die Priorität des Sozialen fast ausnahmslos als positiv erlebe. Sobald es aber aus meiner Perspektive gesehen um Gesundheit und Krankheit oder sogar um Leben und Tod ging, löste sie bei mir moralische Konflikte aus – das heisst, es fiel mir schwer, in bestimmten Situationen einfach nur zu schweigen und von wohlgemeinten Ratschläge zum Beispiel hinsichtlich Kondomverwendung abzusehen. Zwar haben sich meine diesbezüglichen Vorbehalte nie vollends aufgelöst, sich aber zusehends relativiert, je länger ich den Erzählungen meiner Gesprächspartner zuhörte und ihre Sicht der Dinge besser verstand. Doch diese Erfahrungen zeigten mir in erster

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Linie, wie tief verankert eigene kulturelle Prägungen sind und wie deutlich sich die Grenze zwischen Verstehen und Akzeptieren bemerkbar macht, sobald es um existentielle Fragen geht. Mit meiner Arbeit habe ich eine erste »Probebohrung« in das weite Feld sozialer Anerkennung unternommen, und zwar beschränkt auf die spezifische Situation HIV-positiver Personen in einem urbanen Umfeld. Die Aussagen und Erfahrungen meiner Gesprächspartner zeugen von der Relevanz der Thematik und verweisen auf den Forschungsbedarf, der sich auch jenseits von HIV eröffnet. Abgesehen von den Studien über Ehre als einem kodifizierten Regelwerk im mediterranen Raum, wurde das Phänomen »Anerkennung« bislang vor allem aus soziologischer und philosophischer Sicht bearbeitet. Meine Untersuchung hingegen zeigt, dass die kulturell unterschiedlichen Bedeutungen, die sich mit Anerkennung verknüpfen, für alltägliches Handeln leitend sind und deshalb auch für die Ethnologie ein fruchtbares Untersuchungsfeld öffnen. Durch die krankheitsbedingte Geheimhaltung, die meine Studie massgeblich bestimmt, müssen viele Aspekte unberücksichtigt bleiben, deren nähere Beachtung unter anderen Voraussetzungen absolut lohnenswert wäre. Dazu gehört unter anderem die Frage, inwiefern sich Anerkennungskriterien angesichts sozialer Differenzierungsprozesse unterschiedlich ausprägen und vermehrt rollenspezifische Eigenschaften annehmen. Gerade für medizinethnologische Forschungen, die sich um ein komplexes Verständnis der Prozesse um Gesundheit und Krankheit bemühen, könnte es sich als eine Bereicherung erweisen, diese Thematik weiter zu verfolgen und zu einer breiteren Konzeptualisierung von Anerkennung und deren Einfluss zu gelangen. Mit Hilfe der analytischen Ausrichtung auf soziale Resilienz und dem dabei herausgearbeiteten lokalen Konzept bezüglich Ehre und Respekt ist mit meiner Arbeit ein erster Schritt getan, diese Forschungslücke aufzuzeigen und Anerkennung als eine wesentliche Komponente des sozialen Aspektes von Gesundheit darzustellen.

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B IBLIOGRAPHIE

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279

Anhang

a) Liste der Abkürzungen AFAS AMAS ARCAD/SIDA

CESAC IAMANEH NGO PNLS WHO

Association Féminine d’Aide et Soutien au veuves et orphelins du SIDA Association Malienne d’Assistance et de Soutien des personnes vivant avec le VIH/SIDA Association de Recherche, de Communication et d’Accompagnement à Domicile des personnes vivant avec le VIH/SIDA Centre d’Écoute, de Soins, d’Animation et de Conseil International Association for Maternal and Neonatal Health Non-Governmental Organization Programme National de Lutte contre le Sida World Health Organisation

1974

1977

1978

1976

1977

1981

1976

1967

1977

1978

1976

1971

1956

1955

Anta

Hawa

Jolie

Nana

Kadiatou

Fanta

Mariam

Amy

Fatim †

Aminata

Fatoumata

Oumou

Habi

Astou

geschieden

verwitwet

verwitwet

verheiratet, p

verheiratet, p

verwitwet

geschieden

ledig

verheiratet, m

verwitwet

geschieden

ledig

ledig

Beginn verheiratet, m2

1

FAMILIENSTATUS

2 m: monogam; p: polygam 3 Anzahl der Jahre 4 Sprache, in welcher das Interview geführt wurde (b: bamanakan, f: französisch) 5 CAP: Certificat d’Aptitude Professionnelle (zwei Jahre nach DEF) 6 DEF: Diplôme d’Étude Fondamentale

1 Zu Beginn und am Ende der Forschung

JAHRGANG

NAME

b) Liste der Inter viewpartner 1. Frauen

geschieden

verwitwet

verwitwet

getrennt

verheiratet, p

verwitwet

geschieden

geschieden

geschieden

verwitwet

verheiratet, p

ledig

verlobt

Ende verheiratet, m

Schule (6)

Sekretärin

Kleinhandel

Beraterin

Kleinhandeln NGO-Angestellte

DEF6

Rinderpflege

Köchin

Pair éductrice

K’schwester

in Ausbildung

arbeitslos

Hausfrau

arbeitslos

Kleinhandel

Beginn Hausfrau

TÄTIGKEIT

Buchhaltung

Koranschule

Medersa (2)

Krankenschwester Schule (4)

Buchhaltung

CAP

5

Medersa (5)

Buchhaltung

Schule (5)

Medersa (2)3

AUSBILDUNG

Kleinhandel

NGO-Angestellte

NGO-Angestellte

Kleinhandel

Rinderpflege

Krankenschwester Animatrice

Gefängnisaufseherin in Ausbildung

Animatrice

NGO-Angestellte

Kleinhandel

Ende Hausfrau

2 f

2 f/b

4 f/b

3 f/b

2 b

3 b

3 f/b

7 f

5 f/b

3 f

8 f/b

3 f

3 f/b

3 b4

INTERVIEWS

282 K RANKHEIT UND E HRE — Ü BER HIV UND SOZIALE A NERKENNUNG IN M ALI

1977

1981

1964

1952

1968

1951

1961

Oumar

Moussa

Alpha †

Hamidou

Mamadou

Sidibé †

Adama

1975

1959

1984

1972

1983

1966

Awa

Abdoul †

Mah

Aliou

Tabita

Modibo

3. Paare

JAHRGANG

NAME

2. Männer

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, p

verheiratet, m

getrennt

verheiratet, m

ledig

ledig

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

verheiratet, m

geschieden

geschieden

verheiratet, m

ledig

FAMILIENSTATUS Beginn Ende

DEF

Sekretärin

Schule (5)

Koranschule

Koranschule

Koranschule

Universität

CAP

Universität

Koranschule

Koranschule

Koranschule

Universität

AUSBILDUNG

Militär

Praktikantin

Schneider

Salatverkäuferin

Wächter

Haushaltshilfe

Agronom

Pensionär

Hausarbeit

arbeitslos

Rinderhirte

Hilfsarbeiter

Student

TÄTIGKEIT Beginn

Militär

arbeitslos

Händler

Hausfrau

Waschfrau

Agronom

Hausarbeit

Transporteur

arbeitslos

Student

Ende

2 f

2 f/b

3 f

2 b

2 b

2 b

2 f

1 f/b

4 f

3 f/b

2 b

3 b

2 f

INTERVIEWS

A NHANG

283

Kultur und soziale Praxis Isolde Charim, Gertraud Auer Borea (Hg.) Lebensmodell Diaspora Über moderne Nomaden März 2012, 280 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1872-3

Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3

Monica Rüthers Juden und Zigeuner im europäischen Geschichtstheater »Jewish Spaces«/»Gypsy Spaces« – Kazimierz und Saintes-Maries-de-la-Mer in der neuen Folklore Europas August 2012, 252 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2062-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Burkhard Schnepel, Felix Girke, Eva-Maria Knoll (Hg.) Kultur all inclusive Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus Dezember 2012, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2089-4

Stefan Wellgraf Hauptschüler Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung April 2012, 334 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2053-5

Erol Yildiz Die weltoffene Stadt Wie Migration Globalisierung zum urbanen Alltag macht Dezember 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1674-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur und soziale Praxis Anıl Al-Rebholz Das Ringen um die Zivilgesellschaft in der Türkei Intellektuelle Diskurse, oppositionelle Gruppen und Soziale Bewegungen seit 1980 Dezember 2012, ca. 408 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1770-2

Bettina Fredrich verorten – verkörpern – verunsichern Eine Geschlechtergeografie der Schweizer Sicherheits- und Friedenspolitik Juni 2012, 302 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2063-4

Eran Gündüz Multikulturalismus auf Türkisch? Debatten um Staatsbürgerschaft, Nation und Minderheiten im Europäisierungsprozess September 2012, 262 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2109-9

Matthias Lahr-Kurten Deutsch sprechen in Frankreich Praktiken der Förderung der deutschen Sprache im französischen Bildungssystem August 2012, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2017-7

Andrea Nachtigall Gendering 9/11 Medien, Macht und Geschlecht im Kontext des »War on Terror« Juli 2012, 478 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2111-2

Ewa Palenga-Möllenbeck Pendelmigration aus Oberschlesien Lebensgeschichten in einer transnationalen Region Europas Dezember 2012, ca. 390 Seiten, kart., ca. 31,80 €, ISBN 978-3-8376-2133-4

Johanna Rolshoven, Maria Maierhofer (Hg.) Das Figurativ der Vagabondage Kulturanalysen mobiler Lebensweisen Oktober 2012, 280 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-2057-3

Minna-Kristiina Ruokonen-Engler »Unsichtbare« Migration? Transnationale Positionierungen finnischer Migrantinnen. Eine biographieanalytische Studie Juni 2012, 408 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1876-1

Ariane Sadjed »Shopping for Freedom« in der Islamischen Republik Widerstand und Konformismus im Konsumverhalten der iranischen Mittelschicht Juli 2012, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1982-9

Adelheid Schumann (Hg.) Interkulturelle Kommunikation in der Hochschule Zur Integration internationaler Studierender und Förderung Interkultureller Kompetenz Juli 2012, 262 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1925-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de