Kleine Eingriffe: Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne 9783035607208

Minimal transformation strategies The publication investigates the opportunities for upgrading the spatial structure o

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Kleine Eingriffe: Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne
 9783035607208

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Bildstrecke „Wohnzimmer“
Die kleinen eingriffe und die wohnungsfrage
Essay
Der sozius moderner architektur. Verräumlichung des sozialen und sozialisierung des räumlichen in ciam und team 10
„Diese häuser brauchen menschen, diese menschen brauchen häuser“. Denkmalschutz, moderne und nutzwert in britischen wohnraumerhaltungskampagnen
Abwarten und tee trinken. Warum manche häuser zeit brauchen
Projekte
Projektdaten
Projekte
Arbeit mit der bestandskonstruktion. Die umstrukturierung von wohnungen der nachkriegsmoderne in der schwedischen siedlung tensta
Die plattenbauweise bleibt sichtbar. Wohnvielfalt in einem ehemaligen bürogebäude
Wohnqualität durch optimierung und suffizienz. Zurückhaltender einsatz von ressourcen
Gebäude von innen betrachten. Eine neue haltung zur transformation
Wunschmaschine wohnanlage. Wohnen und arbeiten neu denken
Eine neubetrachtung des schwedischen miljonprogrammet. Aktuelle entwurfsstrategien für vorgefertigte bausysteme
Edited standards. Für mehr individualität im standard
Zu einer erweiterten räumlichen syntax. Ein werkzeug zur beschreibung und transformation von architektonischem raum
Transformierte moderne, kollektive moderne. Vom räumlichen zum wohnpolitischen entwerfen im umgang mit dem bestand
Autoren
Literaturverzeichnis
Bildnachweise
Impressum

Citation preview

Kleine eingriffe

Walter nägeli, niloufar tajeri (Hg.)

BirKHäuser Basel

Kleine eingriffe neues Wohnen im Bestand der nachkriegsmoderne

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inHaltsVerzeicHnis Walter nägeli

niloufar tajeri

VorWort

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BildstrecKe „WoHnzimmer“

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die Kleinen eingriffe und die WoHnungsfrage

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essays tom aVermaete

der sozius moderner arcHiteKtur Verräumlichung des sozialen und sozialisierung des räumlichen in ciam und team 10

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oWen HatHerley

„diese Häuser BraucHen menscHen, diese menscHen BraucHen Häuser“ denkmalschutz, moderne und nutzwert in britischen Wohnraumerhaltungskampagnen

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maren HarnacK

aBWarten und tee trinKen Warum manche Häuser zeit brauchen

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ProjeKte ProjeKtdaten

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niloufar tajeri

ProjeKte

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interVieW mit eriK stenBerg

arBeit mit der BestandsKonstruKtion die umstrukturierung von Wohnungen der nachkriegsmoderne in der schwedischen siedlung tensta

① Uppingegränd 17

② Björingeplan 20–22

interVieW mit oliVer clemens, anna Heilgemeir, BernHard Hummel

die PlattenBauWeise BleiBt sicHtBar Wohnvielfalt in einem ehemaligen Bürogebäude

⑤ WilMa

③ Uppingegränd 30

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④ Björingeplan 24–26

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5 Wohnqualität durch optimierung und Suffizienz zurückhaltender einsatz von ressourcen

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intervieW mit anne lacaton

geBäude von innen Betrachten eine neue haltung zur transformation

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⑦ toUr bois le Prêtre

⑧ 530 wohneinheiten in der Cité dU grand ParC

intervieW mit andreaS rumpfhuBer

WunSchmaSchine Wohnanlage Wohnen und arbeiten neu denken

intervieW mit Beat rothen und Birgit rothen ⑥ Uetlibergstrasse / FraUentalweg

⑨ hoChhaUssCheibe C

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46 grosswohnanlagen der gemeinde wien

erik StenBerg

eine neuBetrachtung deS SchWediSchen MiljonprograMMet aktuelle entwurfsstrategien für vorgefertigte Bausysteme

107

Julia gill

edited StandardS für mehr individualität im Standard

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kang zhao

zu einer erWeiterten räumlichen Syntax ein Werkzeug zur Beschreibung und transformation von architektonischem raum

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niloufar taJeri

tranSformierte moderne, kollektive moderne vom räumlichen zum wohnpolitischen entwerfen im umgang mit dem Bestand

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autoren

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literaturverzeichniS

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BildnachWeiSe

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impreSSum

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kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

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Walter nägeli

VorWort

Prof. Walter nägeli gründete 1992 nägeliarcHiteKten und bekleidet seit 1994 die Professur für Bauplanung und entwerfen im institut entwerfen, Kunst und theorie (eKut) des Kit Karlsruhe mit schwerpunkt analytisches entwerfen.

die 1960er- und 1970er-jahre stellen die produktivste und zugleich umstrittenste durchsetzungsphase des Wohnungsbaufunktionalismus der moderne dar. effiziente erschließungssysteme, bestmögliche Belichtung, Besonnung und Belüftung, differenzierte zimmergrößen und wirtschaftliche grundrisse mit Bädern und Küchen an wenigen Vertikalsträngen stehen in dieser zeit im mittelpunkt der entwurfsentscheidungen von architekten und führen zu davon geradezu überbestimmten Bauten. das optimierte objekt hat eindeutig Vorrang vor stadträumlichen oder stadtästhetischen aspekten. den Wohnungen liegt dabei meistens nur eine Vorstellung des privaten lebens zugrunde: die Kleinfamilie mit dem Wohnzimmer als repräsentativem ort, dazu das elterliche schlafzimmer als größter individualraum und quasi sakrale reproduktionsstätte. je nach Wohnungsgröße kommt ein größeres Kinderzimmer für ein älteres und ein kleineres oder weitere zimmer für die jüngeren Kinder hinzu. die klare zuweisung von nutzern und nutzungen zu ihren räumen findet sich in allen Wohnungsgrößen und wird europaweit millionenfach verwirklicht. die angewandte idealisierte Vorstellung der Kleinfamilie steht im Widerspruch zum modernistischen geist und sozialen anspruch dieser Bauten und berücksichtigt kaum die lebenswirklichkeit. Plurale gesellschaftliche ansprüche an das Wohnen ließen sich – damals wie heute – nur mit einschränkungen verwirklichen. die Bauten der nachkriegsmoderne werden heute aufwendig – oft unter Beibehaltung ihrer wesentlichen merkmale – saniert. dabei stoßen architekten an die grenzen, die sich aus der spezifik der ursprünglichen Planung ergeben, weil in jedem raum eine einzige nutzungsmöglichkeit quasi eingemauert ist. das Überwinden dieser räumlichen fesseln unter Kostendruck und innerhalb der beschränkten technischen möglichkeiten des Vorhandenen ist eine der schwierigsten aufgaben. zugleich liegt eine gewisse Herausforderung darin, besonders wirkungsvoll in die bestehenden raumstrukturen einzugreifen und sie mit möglichst geringem aufwand so neu zu konfigurieren, dass sie deutlich vielseitiger sind und zugleich ein angemessenes Verhältnis von aufwand zu ergebnis erreicht wird. so lag es für uns am Kit-lehrstuhl Bauplanung und entwerfen nahe, sich mit der untersuchung einiger dieser Bauten sowohl im seminar als auch entwerferisch

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VorWort

W. Nägeli

auseinanderzusetzen und dabei die möglichkeiten auszuloten, wie man in vorhandenes eingreifen kann, ohne es zu zerstören. Wir haben anhand von Siedlungen in Berlin auf drei maßstabs­ ebenen untersucht, ob der Bestand für die heutigen Bedürfnisse „flexibilisiert“ und aktualisiert werden kann. im städtischen maß­ stab lautete die frage, mit welchen neuen nutzungen man städ­ tische qualitäten erzeugen und eine aktive Schnittfläche mit der Stadt und ihren öffentlichen räumen generieren kann. im gebäudemaßstab wurde der frage nach gemeinschaftsräumen als erweiterungen verkleinerter Wohnungen nachgegangen. und im Wohnungsmaßstab wurde ausgehend von den veränderten haushaltsformen erörtert, wie durch kleine eingriffe neue Wohn­ formen geschaffen werden können. aus dieser Beschäftigung hat sich herausgeschält, was die Kleinen eingriffe sind: nämlich aus der spezifischen analyse sowohl der Bewohnerschaft / Belegung als auch des Bestan­ des / typologie abgeleitete maßnahmen. der maßstab der Betrach­ tung spielt dabei eine große rolle: im maßstab der Stadt hat der Kleine eingriff eine andere eingriffstiefe als im maßstab der Woh­ nung. immer geht es aber um ein flexibilisiertes verständnis von nutzung und eine verknappung räumlicher mittel. die Kleinen eingriffe können als entwurfsmethode verstanden werden, die in der moderne bereits ihre eigene geschichte hat, so etwa bei adolf loos’ villa karma in montreux von 1904, wo ein bestehen­ des gebäude dreiseitig mit einer schmalen raumschicht umbaut wurde, oder Walter Segals radikale technische und soziale mate­ rialisierungen in der englischen Wirtschaftskrise der 1970er­Jahre bis hin zu der aktuellen Szene der architekten um anne lacaton und Jean­phillipe vassal, die, angeregt durch das anonyme Bauen in nordafrika, einen ideologiefreien zugang zu unseren Wohn­ bedürfnissen propagieren, wo etwa das gegensatzpaar „innen – außen“ neu definiert wird. der Kleine eingriff beschreibt ein ideal des vorsichtig­kreativen entwerfens: respekt vor dem vorhande­ nen zeigen, analysieren, qualitäten erkennen und herausarbeiten, aus einem fundierten verständnis heraus wirkungsvoll verändern und dabei Beschränkungen überwinden. hier werden architektonische entwurfsmöglichkeiten erschlossen, mit einer eigenen ästhetik und einem Selbstver­ ständnis des architekten als vermittler, der analytisch zutage fördert, was bereits vorhanden ist und darauf nachvollziehbare entwurfsentscheidungen aufbaut. dieses Buch soll anregen, sich mit einem Bereich der architektur zu beschäftigen, der erklärter­ maßen weitgehend „unsichtbar“ ist, denn die kluge kleine maß­ nahme – in welchem maßstab auch immer sie angeboten wird – erschließt sich dem nutzer einfacher als dem Betrachter.

FotoGrAFien: Michel BonVin

514 Wohnkulturen

Erbaut 1974–1977 anzahl dEr bEwohnEr 1.700–2.000 wohnEinhEitEn 514 davon im hochhaus: 314 in den Flachbauten: 200 wohnFlächE 36.000 m² GEmEinschaFtsFlächEn 16.000 m² GEwErbE 1.000 m²

Jürgen Sawades Pallasseum ist vor allem bekannt durch die 200 Meter lange hochhausscheibe mit ihrer ikonischen Fassade, die südlich auf einem Bunker auflagert, und auch die Geschichten von früheren Zeiten, als das Gebäude umgangssprachlich noch als „Sozialpalast“ bezeichnet wurde, klingen aus der Ferne nach. Von 1974 bis 1977 auf dem Gelände des ehemaligen Sportpalastes errichtet, folgt das Gebäude streng rationalistischen Prinzipien, was durch präzise ausgearbeitete, hoch optimierte Grundrisse zum Ausdruck kommt. 1.700 bis 2.000 Bewohner zählt die Wohnanlage – eine kleine Stadt in der Stadt. Sechs der Wohnungen durften wir betreten, um die Wohnzimmer für diese Bildstrecke abzufotografieren: Der uniforme Wohnraum wird sehr unterschiedlich mit Geschichte, Sinn und Bedeutung gefüllt und gestaltet.

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

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niloufar tajeri

die Kleinen eingriffe und die WoHnungsfrage

niloufar tajeri lehrt als wissenschaftliche angestellte am fachgebiet Bauplanung, institut für entwerfen, Kunst und theorie (eKut) des Kit Karlsruhe und arbeitet am fachgebiet architekturtheorie an ihrer dissertation. sie schreibt u.a. für arCH+, dérive und Volume magazine.

Beckmann, Karen. Urbanität durch Dichte? geschichte und gegenwart der großwohnkomplexe der 1970erjahre. Bielefeld: transcript Verlag, 2015: 13. Beckmann geht davon aus, dass der Wohnungsbau der 1960erund 1970er-jahre keine kontinuierliche Weiterentwicklung des modernen städtebaus darstellt, sondern von einem Bruch am ende der 1950erjahre geprägt ist. mehr zu diesem Paradigmenwechsel in der architektur vgl. tom avermaetes text „der sozius moderner architektur“ im vorliegenden Band auf s. 25–32. 2 ebd.: 8–14. 3 Vgl. den text von owen Hatherley „diese Häuser brauchen menschen, diese menschen brauchen Häuser“ im vorliegenden Band, s. 33–40. 1

in den letzten jahren wurde den großsiedlungen und großwohnkomplexen der 1960er- und 1970er-jahre in ganz europa aufgrund anstehender weitreichender sanierungsmaßnahmen viel aufmerksamkeit zuteil. eine nicht zuletzt aufgrund des umfangreichen gebäudebestandes und des entsprechend hohen investitionsbedarfs wichtige debatte über finanzierung, denkmalschutz, soziale Brennpunkte und den demografischen Wandel begleitet diesen Prozess. der leitspruch „urbanität durch dichte“ war zur zeit der erbauung sinnbild für industrielle Vorfertigung, massenproduktion und optimierung von Bauprozessen sowie einer Verwissenschaftlichung von Planungen. zumal er auch eine abkehr vom funktionalistischen städtebau der moderne und konkret von den großwohnsiedlungen der 1950er-jahre verdeutlicht.1 der anspruch, Wohnformen für eine neue gesellschaft zu entwickeln, war entsprechend geprägt von Wohnexperimenten und brachte, gepaart mit dem einsatz neuer fertigungstechniken wie modularem Bauen und systembauweisen, nicht selten innovative Konzepte und neue Bauformen hervor. zwei gebäudetypologien zeichneten sich in dieser zeit ab: die großsiedlungen und satellitenstädte der 1960er-jahre – gebäudezeilen und Hochhausstrukturen mit weitläufigen abstandsflächen – und die großwohnkomplexe der 1970er-jahre – innerstädtische anlagen mit einer hohen baulichen und räumlichen dichte sowie einer nutzungsdurchmischung.2 zugleich bildet die gesellschaftliche und typologische auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Wohnkonzepten und den daraus resultierenden Wohnformen im umgang mit dem Bestand erstaunlicherweise eine ausnahme. die sanierungen umfassen Wohnumfeldverbesserungen, modernisierungen, die energetische sanierung und barrierefreie umbauten; in extremen fällen wird dem Bestand auch mit entmietung und abriss begegnet.3 im rahmen der sanierungsmaßnahmen wird dem städtischen maßstab viel Beachtung geschenkt – äußeres erscheinungsbild, fassade und Wohnumfeld sind im fokus –, aber

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Die KleiNeN eiNgriffe uND Die WohNuNgsfrage

N. Tajeri

nur dort, wo veränderte funktionsanforderungen am deutlichsten auf die grenzen der Bestandstypologie treffen, etwa im Hinblick auf die Barrierefreiheit, wird die angemessenheit der Wohnform für den nutzer in frage gestellt. dabei sind es vor allem die einzelnen Wohneinheiten, die formgebend für diese anlagen sind: die Wohnung ist eine raumbestimmende, strukturelle einheit, aus deren akkumulation die gesamtform entsteht. die wissenschaftliche auseinandersetzung mit den funktionalen anforderungen an das Wohnen war einer der grundpfeiler des Wohnungsbaus der nachkriegsmoderne. obschon sie typologisch meist lösungen für die sogenannten „standardhaushalte“ hervorgebracht hat, die in ihrer funktionalen Überbestimmtheit einem inzwischen veralteten familienbild entsprechen, sorgte die nähe zwischen Praxis, forschung und theorie in den 1960er- und 1970er-jahren für eine kritische auseinandersetzung mit der Bauaufgabe und eine hohe räumliche qualität der Wohnungen. daher müsste die frage, wie es sich in den Wohnungen heute wohnt, im zentrum der auseinandersetzung stehen. Wenn man Vielfalt und urbanität schaffen will, wenn die gebäude für die gegenwärtige und zukünftige gesellschaft funktionieren sollen, so die these dieses Buches, muss man sich, ausgehend vom Bestand, wieder typologisch und entwerferisch mit den Wohnungen und ihrer nutzung auseinandersetzen: innovative ansätze, die es zweifelsohne durch ihre modularität und ihren experimentellen geist gibt, können „ausgegraben“, neu interpretiert und hinsichtlich veränderter Haushaltsformen experimentell weiterentwickelt werden. zugleich rückt in vielen europäischen großstädten aufgrund des Bevölkerungswachstums und der daraus resultiertenden Wohnungsknappheit die Wohnungsfrage erneut in den Vordergrund: Wie kann man bezahlbaren Wohnraum für alle schaffen? zumal diese frage heute erweitert aufgefasst wird: für alle bauen heißt nicht die reduktion auf einen generischen standard, sondern die Produktion vielfältiger Wohnformen. relevant ist diese debatte auch angesichts einer neubaupraxis, die ebenso wie die nachkriegsmoderne noch immer vorrangig von der Kernfamilie ausgeht. neue Wohnformen ebenso wie gemeinschaftsnutzungen und -räume, die in den 1960er- und 1970erjahren noch fest im raumprogramm verankert waren, sind heute, von einigen wenigen Pionierprojekten abgesehen, eine seltenheit. die soziale Wirklichkeit des Wohnens erfordert, nicht nur im neubau, eine andere architektonische Praxis, die sich mit den veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen auseinandersetzt. nicht nur neue lebensweisen, auch migration, mobilität und postfordistische arbeitsverhältnisse bringen neue

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

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Haushaltsformen hervor, die von der Patchwork- bis zur großfamilie, von der lebenspartnerschaft ohne bis zu jener mit vielen Kindern, von der einzelwohnung bis zur clusterwohnung und Wohngemeinschaften aller altersgruppen reichen, die ausschließlich dem Privatleben vorbehalten sind oder die auch als Homeoffice dienen. all diese entwicklungen waren in ansätzen schon in den 1960er- und 1970er-jahren erkennbar – heute ist diese Vielfalt im stadtbild nicht mehr zu wegzudenken. die aktuelle Wohndebatte wirkt sich in doppelter Hinsicht auf die auseinandersetzung mit dem Wohnungsbestand aus jener zeit aus. zum einen verlagert sich – aus der politischökonomischen Perspektive betrachtet – durch die Verknappung von Wohnraum der transformationsdruck auf den Bestand und seine gegenwärtigen Bewohner: die einwohnerzahlen der städte wachsen und eine potenzielle aufwertung des Bestandes durch die flexibilisierung und aktualisierung der Wohntypologien muss durchaus kritisch diskutiert werden. so liegt dieser Publikation nicht zuletzt die frage zugrunde, wie trotz verbesserter Wohnqualität eine Verdrängung vermieden werden kann. doch auch aus theoretischer und typologischer Perspektive ist diese debatte relevant: die Wohnungsfrage wurde im 20. jahrhundert ausgiebig diskutiert und stellte eines der zentralen themen der moderne dar, das sich auch in den Wohnungsgrundrissen der 1960er- und 1970er-jahre abbildet. Wir haben es mit einem standard zu tun, der sich bewährt hat und der qualitäten offenbart, auf die man aufbauen kann: Wenn überhaupt bedarf es nur noch Kleiner eingriffe. die analyse und Weiterentwicklung der Wohnungsgrundrisse dieser jahrzehnte knüpft an die positiven errungenschaften aus der zeit an und kann im Kontext der neuen Wohnungsfrage zugleich anregungen für neue typologien im neubau geben. neue, aus diesem Prozess resultierende Wohnformen könnten in der debatte einen Beitrag leisten und mit der methode des Kleinen eingriffs dem anspruch gerecht werden, durch die typologische aktualisierung keine Verdrängungsmechanismen in gang zu setzen. Könnte die auseinandersetzung mit dem Bestand und seiner typologischen Beschaffenheit anhand ihrer realen individuellen inanspruchnahme aufschluss über eine alternative räumliche Herangehensweise geben, die zugleich aktuellen forderungen nach bezahlbarem Wohnraum gerecht wird? die moderne ging von einem ideal aus, welches typologisch präzise ausformuliert wurde – beruhend auf statistiken und wissenschaftlich ermittelten standards –, und dieses ideal wurde unter den jeweiligen Bedingungen mehr oder weniger unterschiedlich umgesetzt. mit der these der Kleinen eingriffe ist es genau umgekehrt. der Kontext wird genau

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Die KleiNeN eiNgriffe uND Die WohNuNgsfrage

ritter, markus; schmitz, martin (Hg.). lucius Burckhardt. Der kleinstmögliche eingriff oder die rückführung der planung auf das planbare. Berlin: martin schmitz, 2013: 153. 5 ebd.: 174. 4

N. Tajeri

analysiert und daraufhin eine spezifische lösung geschaffen, die kein ideal, sondern eine präzise entwickelte entwurfsstrategie darstellt, die den eigenheiten des Bestandes und seiner nutzung angemessene ergebnisse hervorbringt. Kein schema, sondern nur die analyse des objekts und seiner Bewohner sind es, die die lösung hervorbringen. der Kleine eingriff im grundriss ist effektiv, weil er auf die strukturelle, raumbestimmende ebene des gebäudes einwirkt: mit einer Verknappung räumlicher mittel kann im kleinsten maßstab eine raumvielfalt geschaffen werden, die vor allem den jetzigen nutzern zugutekommt. lucius Burckhardts Überlegungen zum Kleinen eingriff entstanden im zusammenhang mit der Kritik an funktionalistischen Planungen und letztlich auch an den grundprinzipien der moderne mit ihren regeln, manifesten und festlegungen. es sind die eingriffe, die nicht aus einer routine heraus erfolgen, sondern aus einer genauen Betrachtung des Vorhandenen in präzise entscheidungen münden.4 das würde nach seiner definition selbst änderungen in der Wahrnehmung einer landschaft oder eines gebäudes miteinschließen.5 die these dieser Publikation knüpft an seine Überlegungen an. das Konzept der Kleinen eingriffe entspringt eindeutig einer kritischen auseinandersetzung mit der nachkriegsmoderne, sieht jedoch ihre Potenziale und qualitäten und will sich produktiv mit ihr auseinandersetzen: Wie kann man die determiniertheit des Bestandes, abbild des glaubens an ein unveränderliches ideal, aufbrechen? Wie kann man ihn mit Kleinen eingriffen beweglicher machen, flexibler gestalten für eine sich fortwährend verändernde gesellschaft? im theoretischen teil dieses Buches wird eine sammlung von aspekten ausgebreitet, die für den umgang mit dem Bestand relevant sind – vom geschichtlich-theoretischen Hintergrund der entstehungszeit, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der gegenwart bis hin zur frage der standards. Hinzu kommen Beiträge zu analytischen und entwerferischen strategien. dass die frage nach der gesellschaftlichen und sozialen funktion des Wohnungsbaus ein zentrales anliegen der moderne war, stellt tom avermaete in seinem text differenziert dar. er erörtert anhand der Positionen der ciam und ihrer Kritiker, die sich im team 10 zusammenfanden, wie sich die sozialwissenschaften in der ausformulierung moderner architektur, und gerade auch des modernen Wohungsbaus, konkretisierten. denn moderne architektur, so die these avermaetes, entstand aus der Bezugnahme auf die erfordernisse einer modernen gesellschaft. maren Harnack und owen Hatherley beschäftigen sich mit den neoliberalen politischen transformationsprozessen in london und kommen beide zu dem schluss, dass im politischen

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klima englands behutsame grundrissoptimierungen nicht denkbar sind. dass es in diesem kontext primär um den erhalt der sozialen funktion der Bestandswohnbauten gehen muss, wird im essay von Hatherley deutlich: ein auf architektonische qualitäten begrenzter diskurs rettet bestenfalls das gebäude, nicht jedoch den Wohn­ raum für diejenigen Bewohner, für die er ursprünglich geschaffen wurde. Harnack vergleicht in ihrem essay anhand von zwei promi­ nenten Wohnanlagen – Brunswick centre und trellick tower – die Bestandsgrundrisse mit preisgekrönten grundrissen von neubau­ ten und stellt dabei eine typologische minderung der qualität fest. zudem droht eine solche verschlechterung im zuge von Sanie­ rungsmaßnahmen auch dem Bestand. von Bewohnern initiierte imagewechsel ganz ohne bauliche maßnahmen verhindern nicht selten alleine durch einen Wahrnehmungswandel den abriss von umstrittenen anlagen. in einer großwohnanlage Stockholms wurde hingegen schon mit der anpassung an zeitgemäße Wohnanforderungen experimentiert. erik Stenberg erkannte das potenzial der Stan­ dardisierung, setzte sich intensiv mit der typologischen und his­ torischen entwicklung sowie Statik und Struktur der modularen vorfertigung auseinander und schuf zugleich bezahlbaren Wohn­ raum. die daraus resultierenden Wohnformen werden im projekt­ teil ausführlicher besprochen. dass Standards und Standardisierung keinesfalls als gegenpol zu individualität und individualisierung aufgefasst werden müssen, stellt auch julia gill fest. aus der analyse der entstehung von baulichen Standards und ihrer aus dem frühen 20. Jahrhundert stammenden grundlagen leitet sie konkrete maßnahmen ab, wie man diese Standards aufbrechen und somit urbane vielfalt abbilden kann. gleichwohl wird eine gesellschafts­ verträgliche Weiterentwicklung, so die these gills, ohne staatli­ ches engagement nicht möglich sein. Kang Zhao befasst sich mit der entwicklung von diagram­ men, mit denen man abstrahierte räumliche zusammenhänge abbilden und zugleich aussagen über zugrunde liegende sozi­ ale Strukturen treffen kann. daran anknüpfend geht er der frage nach, ob neue soziale Strukturen auf die etagengrundrisse der nachkriegszeit übertragbar wären. im hinblick auf neue gesellschaftliche anforderungen an den Wohnbaubestand widmet sich der text von niloufar tajeri der frage, wie architekten eine kritische und gesellschaftlich relevante haltung einnehmen können. untersucht wird, wie architektoni­ sche mittel in abstimmung mit den Bedürfnissen der Bewohner entwickelt und einhergehend mit der forderung nach einer neuen Wohnungsbaupolitik entworfen werden können.

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Die KleiNeN eiNgriffe uND Die WohNuNgsfrage

N. Tajeri

das Buch ist eine anregung, in anlehnung an die entstehungszeit der großsiedlungen und großwohnkomplexe theorie, forschung und Praxis zusammenzudenken. ist es möglich, eine neue, kritische forschungspraxis zu entwickeln, die auf kleinen, sensibilisierten entscheidungsschritten basiert? das Buch plädiert auch dafür, eine nähe zwischen Praxis, forschung und theorie der Wohntypologie wie sie in der moderne vorherrschte, wiederherzustellen. der zweiteilige aufbau bringt theoretische untersuchung und praktische durchführung in eine – wie wir hoffen – produktive nähe zueinander.

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essays tom aVermaete der sozius moderner arcHiteKtur Verräumlichung des sozialen und sozialisierung des räumlichen in ciam und team 10

oWen HatHerley „diese Häuser BraucHen menscHen, diese menscHen BraucHen Häuser“ denkmalschutz, moderne und nutzwert in britischen Wohnraumerhaltungskampagnen

maren HarnacK aBWarten und tee trinKen Warum manche Häuser zeit brauchen

„Bei den ciam und beim team 10 findet sich eine kontinuierliche annäherung zweier Bereiche: dem räumlich-formalen denken der architektur und den an Beziehungen und sozialen fragen interessierten sozialwissenschaften. diese annäherung ist kein zufall, im gegenteil, sie berührt eines der fundamentalen merkmale moderner architektur.“

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„Was die Bausubstanz von städten angeht, dienten die erhaltungsbewegungen der 1970er-jahre der ‚rettung‘ vieler gebäude, und dies werden die aktuellen Kampagnen zweifellos auch erreichen. doch mit der rettung dieser gebäude ist es auch möglich geworden, die qualität eines gebäudes oder seine einzigartigkeit oder historische Bedeutung als ein argument heranzuziehen, was aber schließlich dazu dient, von einem argument abzulenken, das sich nur um nutzung und soziale Bedürfnisse drehen sollte.“

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„Heute müssen die Bewohner von sozialen Wohnungsbauten aus der nachkriegszeit bei anstehenden sanierungen häufig sogar dafür kämpfen, dass bereits bestehende qualitäten erhalten bleiben, weil andere lösungen günstiger und schneller zu realisieren wären.“

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tom aVermaete

der sozius moderner arcHiteKtur Verräumlichung des sozialen und sozialisierung des räumlichen in ciam und team 10

dr. tom avermaete ist ordentlicher Professor für architektur an der tu delft, niederlande. seine jüngsten Veröffentlichungen sind the Balcony (with r. Koolhaas) (2014), Casablanca Chandigarh. a report on modernization (with m. Casciato) (2015) und architecture of the Welfare State (with m. Swenarton and D. van den Heuvel) (2015).

„socius ī, m.: (plural: socii), ein Kollege, teilhaber, partner, Kamerad, Begleiter, gesellschafter“ 1 die architektur der moderne ist nicht ohne einen starken Bezug zu sozialen fragen denkbar. das eigentliche Konzept der moderne entstand erst in dem augenblick, in dem die „Baukunst“ bewusst und ausdrücklich mit der idee einer modernen gesellschaft in Beziehung gesetzt wurde.2 selbst die künstlerischsten Herangehensweisen an moderne architektur – vom futurismus bis zu de stijl – haben stets eine feste Beziehung zwischen ihren kreativen experimenten und, im weiteren sinne, sozialen Perspektiven und Visionen aufrechterhalten. infolgedessen haben die sozialwissenschaften – als ein anwendungsbereich und insbesondere als ein gebiet der reflexion – eine große rolle in der genese der modernen architektur gespielt. sie dienen als subtext für die definition und das Verständnis der architektonischen Kultur der moderne.

aus dieser Perspektive lässt sich die gesamte entwicklung der moderne auch als breites spektrum jener Positionen lesen, die gegenüber sozialen fragen eingenommen wurden. michael Hays hat innerhalb dieses spektrums zwischen „autonomen“ oder „heteronomen“ Herangehensweisen an die soziale frage unterschieden.3 der erste Begriff trennt zwischen architektur und gesellschaft. die architektur ist hier ein selbstbestimmtes feld, das sich nach einer internen logik entwickelt. dazu konträr begreift das „heteronome“ Konzept architektur als stowassers lateinisch-deutsches Wörterbuch (1928 ff.). 2 das war z.B. die ansicht von otto Wagner; s. Wagner, otto. moderne architektur: Seinen Schülern ein 1

Führer auf diesem Kunstgebiete. Wien: schroll, 1896. 3 siehe z.B. Hays, michael. „critical architecture: Between culture and form“. perspecta 21 (1984): 14–29.

epiphänomen, das in seinen verschiedenen umsetzungen von sozioökonomischen, politischen und kulturellen Prozessen abhängig ist. in dieser sichtweise steht architektur nicht nur für die gesellschaft, von der sie erzeugt wird, sie bestätigt auch deren Vorherrschaft und trägt zu ihrem fortbestehen bei. moderne architekten haben sich ständig, zwischen moderaten und extremen Positionen schwankend, in dem durch „autonomes“ und „heteronomes“ Verständnis der Baukunst begrenzten spektrum positioniert. ciam: sozialisierung des räumlicHen Wenn wir im folgenden mit den ciam und team 10 zwei schlüsselorganisationen der architektur der moderne betrachten, so wird deutlich, wie

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Der SoziuS moDerner ArchiTekTur

das spannungsfeld von autonomie und Heteronomie deren Konzepte beeinflusst hat. die congres internationaux d’architecture moderne (ciam) trafen auf einer reihe von Kongressen zusammen, die zwischen 1928 und 1956 unregelmäßig abgehalten wurden. team 10 folgte den ciam und organisierte bis 1981 ebenfalls eine reihe von treffen.4 Von anfang an scheint die erste organisation, ciam, untrennbar mit der definition von sozialen aspekten verbunden zu sein. neben Versuchen, avantgarde-architekten aus ganz europa zusammenzubringen, führten die unterzeichner des gründungsdokuments „erklärung von la sarraz“ von 1928 durch die Behauptung, dass die Veränderung des sozialen lebens unwiderruflich eine entsprechende Veränderung der architektur mit sich bringe, und durch den Hinweis, dass man die architektur auf der richtigen ebene, nämlich der ökonomischen und soziologischen positionieren wolle, ein starke soziale Konzeption des architekturbegriffs ein.5 dadurch, dass sie auf dieser speziellen definition der architektur bestanden, distanzierten sich die ciam-architekten von dem älteren (und autonomen) Verständnis der anhänger der Beaux arts, die den „architekten als Künstler“ betrachteten. stattdessen wiesen sie dem architektenstand eine neue rolle zu, in stärkerer Verbindung mit der gesellschaft. diese neue rolle wurde auf dem zweiten ciam-Kongress bekräftigt, der 1929 in frankfurt am main stattfand. thema war „die Wohnung für das existenzminimum“. Hier wurden der städtebauarchitekt ernst may und insbesondere seine maßgebliche Beteiligung am umfassenden und innovativen sozialwohnungsbauprogramm in frankfurt zum modell für die neue soziale rolle des architekten. mehrere der Vortragenden auf dem Kongress konstatierten eine feste Beziehung zwischen sozialer Veränderung und der formierung einer neuen architektur. so etwa Hans schmidt, einer der schweizer delegierten, der über „soziologische Phänomene der gegenwart“ sprach, wie die Veränderung von familiären strukturen und sich ändernde arbeitsbedingungen. schmidt argumentierte, dass diese nach der entwicklung einer neuen form des Wohnungsbaus verlangten, nämlich der sogenannten „minimalwohnung“. 6 Walter gropius sprach dieses Konzept auch in seiner Vorlesung „die soziologischen grundlagen der minimalwohnung“ an, siehe mumford, eric Paul. the Ciam Discourse on Urbanism, 1928– 1960. cambridge, mass.: mit Press, 2000. siehe auch risselada, max und dirk van den Heuvel. 1953–81, in Search of a Utopia of the present. rotterdam: nai, 2005. 5 „erklärung von la sarraz“ [1928]. nachdruck in conrads, ulrich (Hg.). programme und manifeste zur architektur des 20. jahrhunderts, Berlin u.a.: ullstein, 1964: 103–106. 4

steinmann, martin. Ciam = internationale Kongresse Für neues Bauen = Congrès internationaux d’architecture moderne: Dokumente 1928–1939. Basel: Birkhäuser Verlag, 1979: 48. 7 ebd., 49. 8 le corbusier, ciam 3 (1930). in: steinmann 1979: 51–52. 9 steinmann 1979: 170–171. 6

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in der er über die formen reflektierte, in denen sich die „Vergesellschaftung der arbeit“ mit der „sozialisierung eines großen teils der ehemaligen funktionen der familie“ 7 paarte. er argumentierte, dass sich hieraus die notwendigkeit kleinerer Wohnungen ergebe. daher wurde auf dem gesamten ersten ciam-Kongress die Beziehung zwischen architektur und sozialer frage benutzt, um die grundlagen der architektur und die stellung des architekten neu zu definieren. jedoch eröffnete die inkorporation der sozialen frage in die architektur auch eine debatte über die grenzen des fachgebiets und dessen „eigene“ merkmale. dies geschah auf dem dritten ciamKongress, der 1930 in Brüssel stattfand. Hier war es le corbusier, der – während er die notwendigkeit anerkannte, „andere disziplinen zu erforschen“ – dennoch auf die grenzen eines solchen ansatzes aufmerksam machte: „ich weise dringend darauf hin, dass wir uns hier nicht mit Politik und soziologie befassen. Beide Phänomene sind viel zu komplex […] wir sind nicht dafür qualifiziert, diese schwierigen Probleme auf Kongressen zu diskutieren. Wir müssen architekten und Planer sein und uns aus unserem Berufsfeld […] über die architektonischen und städtebaulichen möglichkeiten und erfordernisse informieren.“ 8 le corbusier hielt also ein deutliches Plädoyer für eine autonomere rolle der architektur und stieß damit innerhalb der ciam eine breitere debatte über die merkmale und grenzen der eigenen beruflichen identität an. trotz le corbusiers Überlegungen sollte die soziologie weiter eine herausragende rolle in der entwicklung der ciam spielen. eines der bezeichnendsten Beispiele für den Versuch der ciam, den raum zu sozialisieren, sind die von den schweizer architekten rudolf steiger und Wilhelm Hess gemeinsam mit dem deutschen architekten georg schmidt auf einer tagung von ciam-delegierten im jahre 1934 in london vorgelegten sogenannten „Historischen tabellen“.9 → 1 2 diese sollten der Weiterführung der diskussion auf dem berühmten vierten ciam-Kongress an Bord der SS patris ii dienen, die 1933 zwischen marseille und athen verkehrte. mit den „Historischen tabellen“ illustrierten die autoren, wie der städtebau von der steinzeit bis ins maschinenzeitalter in enge Beziehung zum technischen und insbesondere gesellschaftlichen fortschritt („gesellschaftliche struktur“) gesetzt werden konnte. die tabellen zeigen in der obersten reihe in chronologischer ordnung verschiedene siedlungsformen und parallel dazu in den unteren reihen die sich ändernden gesellschaftlichen strukturen und technischen entwicklungen im Bereich der Waffen, der Verkehrsmittel und der Produktionsweisen. die tafeln wurden in ciam-Kreisen positiv aufgenommen. mehr als je zuvor wurden kulturelle und soziale

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3 die „Historischen tabellen“ 1 2 der architekten rudolf steiger, Wilhelm Hess und georg schmidt, vorgestellt auf einem ciam-treffen in london 1934.

das Kreisdiagramm, das aldo 3 van eyck auf dem otterlo-treffen im jahre 1959 vorstellte.

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faktoren in die Betrachtung von architektur inte­ griert. die explizite verbindung zwischen sozialen und räumlichen Bereichen in den „historischen tabel­ len“ beleuchtete nicht nur, wie architektur durch sich ändernde Beziehungen in der gesellschaft und in den produktionsweisen konditioniert wurde, son­ dern zugleich, wie architekten auf diese Beziehun­ gen mit ihrem Schaffen einfluss nehmen konnten. die tafeln erläuterten, dass Bauprojekte durch ihre materielle verwirklichung alternative gesellschafts­ modelle verkörpern und so einen kritischen impetus haben konnten. die „historischen tabellen“ wurden erstmals 1935 als teil der ausstellung the Functional City im amsterdamer Stedelijk museum vorgestellt.10 team 10: verräumlichung deS Sozialen Während die ciam­projekte als versuche verstanden werden können, das räumliche soziolo­ gisch zu betrachten, scheinen das denken von team 10 und die von ihm in angriff genommenen projekte in die entgegengesetzte richtung zu zeigen. diese gruppe von architekten – die sich aus persönlich­ keiten wie alison und peter Smithson aus großbri­ tannien, aldo van eyck und Jaap Bakema aus den niederlanden und georges candilis und Shadrach Woods, die in frankreich arbeiteten, zusammensetzte – entwickelte ein interesse an der räumlichen ver­ bindung von sozialer logik und sozialen praktiken. aldo van eyck beschäftigte sich mit den Schriften der amerikanischen anthropologin ruth Benedict, wäh­ rend candilis und Woods von den Städtebauanalysen des französischen Soziologen paul­henri chombart de lauwe fasziniert waren. die architekten des team 10 versuchten, erkenntnisse der Sozialwissenschaf­ ten in die architektur zu integrieren. eines der besten Beispiele für diesen ansatz bleibt aldo van eycks interesse am gedankengut von martin Buber, der im vorwort zu erwin anton gutkinds Community and environment: a Discourse on Social ecology (1953) geschrieben hatte: „den architekten muss die aufgabe gegeben werden, für menschlichen kontakt zu bauen, eine umgebung aufzubauen, die zu menschlichen Begegnungen einlädt, und zentren zu schaffen, die diesen Begegnungen Bedeutung geben 10 Jedoch forderte Walter gropius

nach nur einem tag das museum auf, die 5 meter langen tafeln zu entfer­ nen. er argumentierte, die ausdrück­ liche „Sozialisierung des räumlichen sei nicht ohne gefahren“. er glaubte, dass die vorgestellten tafeln im kul­ turellen klima europas der 1930er­ Jahre nicht nur kritisch waren, sondern auch als politisch gefährlich wahrgenommen werden konnten. 11 Buber, martin. vorwort zu gut­ kind, erwin anton. Community and environment: a Discourse on Social ecology. london: Watts, 1953: vii–ix.

12 hier behandle ich die erste version

der otterlo­kreise, die persönlich auf dem otterlo­treffen vorgestellt wurden. für eine detailliertere dis­ kussion der verschiedenen versi­ onen der otterlo­kreise von van eyck siehe Strauven, francis. aldo van eyck: the Shape of relativity. amsterdam: architectura & natura, 1998: 350–351. 13 van eyck, aldo. „dogon: mand­ huis­dorp­wereld“. Forum (Juli 1967): 53.

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und sie produktiv machen.“ 11 aldo van eyck wollte Bubers appel à l’ordre ernst nehmen und begann eine Suche nach Wegen, Bubers soziale konzepte auf das gebiet der architektur zu übertragen. dieses Wandern zwischen den diszipli­ nen bildete die essenz von van eycks berühmtem kreisdiagramm → 3 , das er auf dem treffen von ciam / team 10 im niederländischen otterlo 1959 vorstellte. im linken kreis benutzte der holländische architekt drei fotos zur darstellung dreier verschie­ dener traditionen im räumlich­formalen Bereich der architektur: den niketempel auf der akropolis in athen, eine kontra­komposition von theo van doesburg und schließlich eine häusergruppe in aoulef in der algerischen Sahara.12 im rechten kreis beschrieb van eyck das reich der zwischenmensch­ lichen Beziehungen vermittels dreier Bilder bronze­ zeitlicher Skulpturen: eine Statuette einer sitzenden frau mit kind aus Sardinien, eine etruskische Statu­ ette eines stehenden mannes und eine runde Schale aus zypern, die als grabbeigabe gedient hatte und mit einer kleiner menschengruppe dekoriert ist. diese unterschiedlichen archaischen Bilder porträtieren die elementaren sozialen Beziehungen zwischen mann, frau und kind sowie zwischen dem individuum und der gemeinschaft. van eyck verband die beiden kreise mitei­ nander, weil er glaubte, dass der räumlich­formale Bereich der architektur wie das Beziehungsgeflecht der menschlichen gesellschaft strukturiert sein sollte. als verbindendes element schrieb er unter seine kreise den folgenden Satz: „der mensch atmet immer noch ein und aus. Wird die architektur ein gleiches tun?“ van eyck behauptete, dass die archi­ tektur von der art und Weise lernen sollte, in der die menschen in ihrem täglichen dasein die Spannung zwischen den gegensätzlichen feldern von innerlich­ keit und äußerlichkeit, geist und materie, dauer und Wechsel sowie individualität und kollektivität in ein­ klang bringen. er argumentierte, dass die architektur die pole, mit denen sie in ihrem eigenen räumlich­ formalen Bereich konfrontiert war – einheit und viel­ falt, teil und ganzes, offenheit und geschlossenheit, einfachheit und komplexität – miteinander in ein­ klang bringen sollte. die Bauten in aoulef in der Sahara → 4 spiel­ ten in dieser perspektive eine Schlüsselrolle, weil sie für ihn eine art einheimische „herzensarchitektur“ („ver­ nacular of the heart“) verkörperten. nach van eyck drückte sie die symbolischen Sehnsüchte und Bedürf­ nisse der Bewohner aus und war direkt mit ihnen ver­ bunden. diese idee des „vernacular of the heart“ sollte in zwei für die zeitschriften Forum und Via geschrie­ benen artikeln weiter entwickelt werden, in denen van eyck die dogon­dörfer in Westafrika – gebaut aus Schmutz und Schlamm – als ein Beispiel erwähnte.13

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5 für Van eyck waren die aoulef4 dörfer ausdruck einer direkt mit den symbolischen sehnsüchten und Bedürfnissen der Bewohner verbundenen architektur.

das „gamma-raster“ stellte 5 eine detaillierte untersuchung der Wohnkulturen sowie der Bau- und kollektiven Praktiken der bidonvilles dar.

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inspiriert durch die arbeiten von anthropologen wie marcel griaule und ruth Benedict erläuterte er, wie die dogon zeit und raum durch Verwendung einer großen anzahl unterschiedlicher symbole voneinander trennten.14 die dogon betrachten die Welt als einen „gigantischen menschlichen organismus und alle seine teile als die reproduktion des gleichen Bildes in einem kleineren oder größeren maßstab“ 15. in den dogon-Bauten fand Van eyck wieder eine sinnvolle Beziehung zur gebauten umwelt – einen Weg zur Verwurzelung des menschen in seiner umgebung. aus seiner sicht der dinge machten die dogon-dörfer „das Weltsystem verständlich, reduzieren das universum auf seine messbaren grenzen, machen die Welt zu einem bewohnbaren ort und aus dem ‚draußen‘ das ‚drinnen‘“ 16. Van eycks interesse an der nordafrikanischen tradition und spezifischer am thema der Verwurzelung, wie er sie in seinem diskurs über das „vernacular of the heart“ erkennen ließ, erklärt sich aus einem gefühl der entfremdung gegenüber dem städtebau der nachkriegsmoderne in europa. die auswirkungen dieser „architektur für die masse“ war eine der Hauptsorgen der architekten von team 10. als antwort auf diese entfremdung und die sich daraus ergebenden psychischen Probleme sah Van eyck eine „grand Vernacular architecture“. in seiner Veröffentlichung erscheint nordafrika als Hort einer großen architektonischen tradition, die auf langjähriger Überlieferung und eingespielten organisationsformen beruht. die siedlungen in der sahara und die dogondörfer stellt er als eine form von städte- oder siedlungsbau vor, die auf sinnvollen Primärformen beruht und nicht unheimlich wirkt, wie er es für die meisten europäischen Wohnsiedlungen konstatiert, sondern wohnlicher und in Harmonie mit dem sozialen umfeld. für Van eyck hatte es diese bebaute umgebung geschafft, „Probleme zwischen mensch und Kosmos, mensch und umwelt, mensch und mensch und schließlich des einzelnen menschen zu lösen“ 17. ein zweiter vom team 10 verfolgter ansatz waren die zwei „nordafrikanischen raster“, analytische 14 Van eycks Hauptquellen für das Verständnis dieser dörfer waren die arbeiten von marcel griaule. unter anderem zitierte er: griaule, marcel. Dieu d’eau. entretiens avec ogotemmêli. Paris: Éd. du chêne, 1948); griaule, marcel; dieterlen, germaine. „the dogon“. in: forde, daryll (Hg.). african Worlds. london: oxford university Press, 1954: 83–110; und die Beiträge von griaule im surrealistischen magazin minotaure. eine weitere quelle der inspiration waren die arbeiten der amerikanischen anthropologin ruth Benedict: patterns of Culture. Boston u.a.: Houghton mifflin, 1934. 15 calame-griaule, geneviève. ethnologie et langage: la parole chez les Dogons. Paris: gallimard, 1965: 27.

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(juli 1967); später veröffentlicht in jencks, charles; Baird, georges. meaning in architecture. london: Barrie & rockliff, the cresset Press, 1969. 17 Van eyck, aldo. the Child, the City and the artist (unveröffentlichtes schablonenbuch, 1962): 252. 18 die groupe d’architectes modernes marocains (gamma) bestand aus michel Écochard und einer gruppe junger architekten, darunter georges candilis und shadrach Woods. 19 siehe zum Beispiel de rotalier, Bruno. „les yaouleds (enfants des rues) de casablanca et leur participation aux émeutes de décembre 1951“. revue d’histoire de l’enfance irrégulière 4 (2002): 20–28.

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Präsentationstafeln mit text- und Bildmaterial, die 1953 auf dem neunten ciam-treffen in aix-enProvence vorgestellt wurden. diese raster nehmen nicht Bezug auf reine formen, ansprechende ästhetik und reiche architektonische traditionen, sondern auf eine alltägliche, ungeordnete städtebauliche umgebung, die aus armut und notwendigkeit geboren wird: das bidonville, wie slums auf französisch genannt werden. im „gamma-raster“ 18 → 5 und im „Bidonville mahieddinne-raster“ stehen die heruntergekommenen bidonvilles von casablanca und algier im mittelpunkt. es ist kein zufall, dass die französischen architekten – die nordafrika nicht nur bereisten, sondern dort auch arbeiteten – die bidonvilles hauptsächlich als ort eines täglichen Kampfes mit schlechten Wohnverhältnissen, Krankheit und unzureichenden sanitären Verhältnissen beschrieben. obgleich viele dieser (oft sehr jungen) französischen architekten nach marokko und algerien gegangen waren, um ihre architektonischen ambitionen auf der „tabula rasa“ der Kolonien zu realisieren, kann man die Perspektive des mitgefühls mit der rauen realität der bidonvilles, von der das „gamma-raster“ und das „Bidonville mahieddinne-raster“ zeugnis ablegen, nicht übersehen. seit dem ersten Weltkrieg entwickelten sich die bidonvilles als städtebauliches Phänomen, als folge der migration vom land in sich schnell modernisierende städte. in der folge wurden sie zu einem wesentlichen merkmal nordafrikanischer städte wie casablanca und algier. ein bidonville verkörperte in der tat ihre realität gewordene Konfiguration par excellence – ein ort, an dem die koloniale situation mit ihrer ungleichen entwicklung städtischer Bebauung (nur als Punkt der Warenfertigung und des Warentransports betrachtet) und ländlichen gebieten (als leeres territorium angesehen, das rohstoffe lieferte) am stärksten zu tage tritt. das bidonville war jener städtische Bereich, der die ankömmlinge vom land aufnahm und wo der tägliche Kampf um eine Wohnung buchstäblich sichtbar wurde. aus Berichten dieser zeit wissen wir auch, dass die bidonvilles oft der ausgangspunkt von Protesten und aktionen gegen die Kolonialmacht waren.19 Vor diesem Hintergrund sollte es nicht überraschen, dass junge, linksorientierte und engagierte architekten wie georges candilis und roland simounet die bidonvilles wegen ihres beharrlichen Bestehens und aufgrund der symbolischen Kraft dieser Wohn- und Baupraxis als bemerkenswertes urbanes Phänomen erkannten. die architekten beschrieben sehr detailliert die Wohnpraxis, wie z.B. die essenszubereitung, die schlafsituation, Versammlungen und den Bau der Baracken. sie schilderten auch kollektive rituale wie den Besuch der moschee oder den

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Verkauf von Waren auf dem markt. aber mehr als alles andere waren es die Persistenz und die anpassungsfähigkeit der traditionellen art zu wohnen, die die jungen europäischen architekten beeindruckten; dies waren die in den tafeln am meisten kommentierte merkmale. zur illustrierung dieser besonderen Perspektive der Konfiguration eines bidonville stützten sich die jungen französischen architekten auf eine anthropologische forschungstradition, wie sie beispielsweise vom Service de l’Urbanisme im marokkanischen casablanca entwickelt worden war. nach dem zweiten Weltkrieg hatten die von den französischen Protektoratsbehörden eingerichteten städtischen „services“ damit begonnen, in großen Programmen die einheimischen gepflogenheiten des Wohnens zu untersuchen – sowohl in den städten als auch in den dörfern. Beginnend im jahr 1947 entwickelte der service de l’urbanisme eine forschungsmethodologie, die auf einer mobilen einheit oder ambulanten Werkstatt, atelier ambulant beruhte – bestehend aus einem ingenieur, einem stadtplaner, einem Vermessungstechniker und zwei zeichnern, die das land bereisten, um die Wohnkultur nach ethnologischen Vorstellungen zu untersuchen.20 das atelier ambulant steht für eine veränderte Haltung gegenüber dem architektonischen und städtebaulichen entwurf. Wenn vor dem Krieg das studio der ausgangspunkt für den „meister-architekten“ gewesen war, wurde nach 1945 die alltägliche realität vor ort zum ausgangspunkt für den „architekten-ethnologen“. der service de l’urbanisme führte eine idee vom architektonischen und städtebaulichen entwurf ein, deren ausgangspunkt die sorgfältige und detaillierte analyse der verschiedenen Wohnungstypologien war – man untersuchte ihren einsatz und die jeweils zugrunde liegende logik. zusammen mit dieser methodologie wandte der service de l’urbanisme die damals relativ neue technik der luftaufnahme als Hilfsmittel zur inventarisierung der merkmale alltäglicher Bebauungsstrukturen an. am interessantesten an den untersuchungen der jungen französischen architekten war, dass sie sich nicht auf den traditionellen ländlichen Bereich beschränkten. die alltäglichen urbanen flächen der bidonvilles von casablanca oder algier wurden durch markierung und Photos auf die gleiche ethnologische art und Weise untersucht. dadurch 20 zu

diesem spezifischen ansatz für ländliche Bereiche siehe mauret, elie. „Problèmes de l’équipement rural dans l’aménagement du territoire“. l’architecture d’aujourd’hui 60 (1955): 42–45. 21 das atBat (atelier des Bâtisseurs) wurde von le corbusier 1945 als Beratungsstudio gegründet. es

spielte eine wichtige rolle bei der erstellung neuer Wohnbaukonzepte in frankreich und in den französischen Kolonien in nordafrika. 22 tafel 208-i, vom Service de l’Urbanisme für ciam ix, aix-enProvence 1953 erstelltes raster. in: C.i.a.m, gta / etH.

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waren die architekten von gamma und ciam-algier in der lage, das bidonville als substanz der alltäglichen Baupraxis und Wohnweisen zu beschreiben. sie deuteten es als das material, durch das Bewohner die rudimentärsten symbolischen und räumlichen spuren in der bebauten umgebung hinterlassen. das bidonville wurde als der ort eines symbolischen und räumlichen Kampfes beschrieben. das besondere analyseverfahren erlaubte den architekten, das bidonville als exakten schnittpunkt zwischen der „traditionellen Kultur“ jener länder – die auch in den Wohngewohnheiten der bidonvilles noch eine rolle spielte – und dem modernen leben in städten wie algier und casablanca mit ihren Kinos, dem autoverkehr und der industrie darzustellen. auf den tafeln des „gamma-rasters“ illustrierten die marokkanischen architekten, wie dies zur Bestimmung ambivalenter qualitäten der bidonvilles führte. die atBat21-architekten hoben hervor, dass die bidonvilles eine radikale abweichung von traditionellen ländlichen Wohnverhältnissen darstellten, so etwa auf einer tafel, die die frage nach den „psychologischen ursachen der landflucht“ stellte: „Wunsch des individuums, ländlichem Patriarchat zu entfliehen? stadt = eldorado?“ 22 zugleich jedoch unterstrichen sie die Beständigkeit der traditionellen Wohnkultur innerhalb der modernen städtischen umgebung des bidonville. sie demonstrierten, wie die Hoftypologien des bidonville jenen der traditionellen Hofhäuser im atlasgebirge entsprachen, während ihre integration in ein dichtes städtisches gefüge der modernen städtischen umgebung angepasst war. diese gleichzeitige anwesenheit traditioneller und moderner elemente im bidonville überzeugte candilis und Woods, dass die Wohnumgebung in der lage sei, das durch modernisierung geschaffene spannungsfeld zwischen tradition und modernität zu bewältigen. dies erklärt, warum eine der tafeln des „gammarasters“ die bidonvilles als interessante „neue formen, die in industriestädten auftreten“, beschreibt. die suche nach neuen formen, die einer neuen lebensweise entsprechen sollten, stand im mittelpunkt der forschung der gamma und ciam-algier gruppe. man suchte nach antworten, jedoch nicht in der jahrhundertealten, reichen „grand Vernacular“-tradition, sondern in der ephemeren, gewöhnlichen umgebung des bidonville, wie man es vor ort vorfand – und noch spezifischer in dessen fähigkeit, zwischen traditionellen und modernen lebensformen zu vermitteln. den architekten zufolge eröffnet das bidonville Perspektiven für eine neuausrichtung zukünftiger Wohngebiete in den damaligen Kolonien und darüber hinaus. im „Bidonville mahieddine raster“ formulierte die ciam-algier-gruppe dies wie folgt:

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„hier, mit der armut der benutzten materialien, ist das haus ein spontaner ausdruck von leben. es ist nach dem menschen geformt, atmet mit ihm und bewahrt, selbst in seiner heruntergekommenen hülle, die Würde lebender linien und proportionen. aber das leben in der gegenwart impli­ ziert techniken, die aus ökonomischen gründen zu genormten Strukturen, basierend auf westlichen vorstellungen, führen [echelle occidentale de vie]. es liegt an uns, die Basis und die unverzicht­ baren strukturellen elemente zu liefern, die es diesen menschen ermöglichen, ihren eigenen traditionellen vorstellungen einen neuen ausdruck zu verleihen. und vielleicht werden auch wir uns in diesem krea­ tiven ausdruck wiederfinden.“23 die moderne architektur zWiSchen kritiSchem anSpruch und relativer autonomie Bei den ciam und beim team 10 findet sich eine kontinuierliche annäherung zweier Bereiche: dem räumlich­formalen denken der architektur und den an Beziehungen und sozialen fragen interessier­ ten Sozialwissenschaften. diese annäherung ist kein zufall, im gegenteil, sie berührt eines der fundamen­ talen merkmale moderner architektur. der französi­ sche denker louis althusser lieferte dazu in seinem berühmten essay „ideologie und ideologische Staats­ apparate (anmerkungen zu einer untersuchung)“ 24 von 1970 ein konzept, und zwar jenes der „relativen autonomie“. mit diesem terminus beleuchtet er das verhältnis zwischen der kultur (wozu auch die archi­ tektur gehört) auf der einen und Wirtschaft, politik und gesellschaft auf der anderen Seite. relative auto­ nomie bedeutet, dass keiner dieser Bereiche nur auf die anderen reduziert oder nur von diesen bestimmt werden kann. mit anderen Worten, die architektoni­ sche praxis beispielsweise lässt sich nicht auf gesell­ schaftliche und politische praktiken reduzieren, aber ebensowenig gänzlich von ihnen trennen. althusser argumentiert, dass diese viel­ zahl verschiedener praktiken immer und nur in einer komplexen ausformung existiert. daher besteht architektonische praxis als teil eines Systems mit­ einander verbundener wirtschaftlicher, politischer und ideologischer praktiken, gekennzeichnet durch herrschafts­ und unterwerfungsbeziehungen. er konstatiert weiterhin eine „strukturelle kausalität“ zwischen der architektonischen praxis und ande­ ren wirtschaftlichen, politischen und ideologischen praktiken. Sie sind strukturell miteinander verbunden 23 Bidonville Mahieddine grid, fon­

dation le corbusier, paris. 24 althusser, louis. „ideologie et appareils idéologiques d’État (notes pour une recherche)“. la pensée 151 (1970): 3–38; übersetzt als „ideologie

und ideologische Staatsapparate: notizen für eine untersuchung“. in: ders. gesammelte Schriften, Bd. 5, hg. von frieder otto Wolf. hamburg: vSa­verlag, 2010.

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und daher voneinander abhängig. gleichzeitig jedoch besteht althusser auf der „relativen autonomie“ der verschiedenen praktiken. also entwickelt sich archi­ tektonische praxis nach anderen logiken und grund­ prinzipien als gesellschaftliche und politische praxis. althusser argumentiert, dass jede von ihnen ihren eigenen entwicklungsrhythmus hat, dergestalt, dass die ausformung einer praxis sich stets „ungleichmä­ ßig entwickelt“, d.h. immer eine komplexe konstella­ tion multipler Widersprüche ist. mit dieser Beschreibung des Spannungs­ feldes zwischen struktureller kausalität (Bezug der architektur zu gesellschaftlichen, ideologischen, politischen und wirtschaftlichen praktiken) und rela­ tiver autonomie (Beziehung zwischen architektur und ihrer eigenen rationalität und geschichte und damit unabhängigkeit von anderen feldern) berührt althusser eines der wichtigsten merkmale moderner architektur: ihren kritischen anspruch. Schließlich ist es genau diese eigenschaft – in ein heterogenes feld ideologischer, wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher praktiken eingebunden zu sein und zugleich in einem autonomen Bereich ästhetischer, struktureller und funktionaler aspekte zu operie­ ren –, die der modernen architektur eine gewisse fähigkeit verleiht, sich kritisch zu gesellschaftli­ chen missständen zu verhalten, eine eigenschaft, die im amerikanischen architekturdiskurs als criti­ cality bezeichnet wird. in der tat kann diese kon­ frontation zwischen autonomen und heteronomen aspekten der architektur unsicherheit, dissonanz und Widerspruch erzeugen und damit ein feld für kritische Betrachtung eröffnen. dies ist die rolle und Bedeutung des socius in ciam und team 10: die „Sozialisierung des räumlichen“ und die „verräumli­ chung des Sozialen“ dienen der infragestellung der autonomie der architektur und laden zur neube­ wertung ihrer voraussetzungen ein. Sie bestätigen althussers lektion: architektur ist strukturell eine antwort auf die gesellschaftlichen verhältnisse, aber nur durch ihre autonomie kann sie einen kritischen Beitrag zur verbesserung dieser verhältnisse leisten.

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oWen hatherley

„dieSe häuSer Brauchen menSchen, dieSe menSchen Brauchen häuSer“ denkmalschutz, moderne und nutzwert in britischen Wohnraumerhaltungskampagnen dr. owen hatherley arbeitet als frei­ schaffender Schriftsteller und autor. er erhielt im Jahre 2011 einen phd vom Birkbeck college, london, für seine dissertation: the political aesthetics of americanism in Wei­ mar germany and the Soviet Union, 1919–34. Seine jüngsten veröffentli­ chungen umfassen across the plaza (2012), landscapes of Commun­ ism – a History through Buildings (2015) und the Ministry of nostal­ gia (2016).

vor noch nicht sehr langer zeit wäre in großbritannien schon die idee, kampagnen zur erhaltung von Wohnanlagen oder ­siedlun­ gen der nachkriegsmoderne durchzuführen, als absurd erschie­ nen, wenn nicht gar als Widerspruch in sich. Bereits der Wunsch, solche ensembles aus architektonischen gründen zu erhalten, wäre exzentrisch genug gewesen, aber der Wunsch, ihre soziale funktion zu erhalten, hätte besondere verblüffung hervorgerufen. Seit den späten 1960er­Jahren erlebte das vereinigte königreich eine umfassende ablehnung von großwohnanlagen der moderne, mehr als vielleicht jedes andere land in europa. und noch bis vor kurzem galt eine ziemlich paranoide form traditionalistisch gesinnter architekturkritik als allgemein anerkannte Weisheit.

die intensität der ablehnung lässt sich auf etliche gründe zurückführen: einer davon war eine reihe schwerer Baumängel ab dem Jahr 1968, ein anderer die tatsache, dass die architektur der nachkriegs­ moderne im vereinigten königreich insgesamt kein ausdruck einer erstmaligen urbanisierung war (wie zum Beispiel im ostblock oder in Südeuropa), sondern ein ergebnis des prozesses der „Slumsäuberung“ – einer politik, die ehemals quer durch das politische Spektrum hochgehalten, aber durch einen ebenso überwältigenden konsens am ende der 1970er­Jahre abgebrochen wurde. die moderne wurde nun als jener faktor gebrandmarkt, der die erhaltung der alten Städte und der belebten viktorianischen Straßen im Weg stand. Sie galt als zerstörer der „gemeinschaft“ und ersetzte diese angeblich durch atomisierung und entfremdung. Je nach politischer Überzeugung wurde sie als „totalitär“ im stalinistischen oder faschisti­ schen Sinne eingestuft. als schließlich Bewegungen zur erhaltung von architektonischen meisterwerken der moderne oder zur verteidigung sozialer errungen­ schaften jener epoche auf den plan traten, mussten sie sich sehr vorsichtig auf dem extrem tückischen

terrain von ideologischen vorbehalten, etablierten meinungen und sozialen klassenkonflikten bewegen. das ergebnis war, dass die frage der gesellschaftli­ chen Bedürfnisse und des architektonischen Werts oft als zwei separate probleme behandelt wurde, was zu parallelen kampagnen führte. als auslöser für die ablehnung der nach­ kriegsmoderne in großbritannien werden gewöhnlich zwei größere ereignisse betrachtet: dies waren zum einen der einsturz des ronan­point­Wohnturms in canning town, east london, im mai 1968, zum ande­ ren der denkmalschutz fast aller gebäude aus dem 18. und 19. Jahrhundert im zentralen londoner Bezirk von covent garden im Jahre 1972. das erste ereignis wurde als fanal des technischen und gesellschaftlichen ver­ sagens interpretiert, das zweite als erfolgreiche reak­ tion des denkmalschutzes gegen ästhetische Blindheit und Bürokratie „von oben“. ronan point war einer von mehreren Wohntürmen des freemasons estate, die auf Beschluss des gemeinderats von newham durch das Bauunternehmen taylor Woodrow errichtet worden waren. er war nach dem larsen­nielsen­System erbaut worden, einem dänischen fertigbetonplattenbausatz,

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„Diese Häuser braucHen MenscHen, Diese MenscHen braucHen Häuser“

der für gebäude von nicht mehr als acht geschossen entworfen worden war – die Wohntürme auf dem freemasons-gelände besaßen jedoch zweiundzwanzig geschosse. Beim Bau auf dem gelände waren zahlreiche abstriche gemacht worden und auch dämmung und Haustechnik der gebäude waren von zweifelhafter qualität. dies hatte fatale auswirkungen, als eine gasexplosion in einer der mietwohnungen zu einem ziehharmonikaartigen Kollaps aller Wohnungen an einer ecke von ronan Point führte. obgleich an keinem anderen Wohnturm im Vereinigten Königreich – oder irgendwo sonst in europa – eine vergleichbare Katastrophe geschah, führte das unglück in Verbindung mit den Protesten vom mai 1968 in Paris, die weithin als auflehnung gegen den dirigistisch-staatsgläubigen Konsens nach 1945 gesehen wurden, zu einer gewissen libertären Kritik an der moderne und ihren auswirkungen auf städte und die hier lebenden arbeiter. laut diesem narrativ wurde die arbeiterklasse aus absolut nicht zu beanstandenden Wohnungen (die dann von der jungen intelligentia belegt werden sollten, in Vierteln wie limehouse, islington, camden und covent garden – letzteres wurde vor einer großen modernistischen sanierung durch eine Kampagne „gerettet“, die architekten, anwohner und lokale markthändler vereinte – in unsichere, schlecht gebaute Bauwerke ohne „straßenleben“ ausquartiert. Welche dieser als wesentlich erachteten merkmale den neubauquartieren fehlten, definierten meinungsführer wie die amerikanische architekturkritikerin jane jacobs. obgleich die Kritik an der nachkriegsmoderne ihren ursprung in der großstädtischen Bourgeoisie hatte – Berichte zeigten oft, dass angehörige der arbeiterklasse mit ihrer neuen Wohnung noch einige jahre später zufrieden waren –, sollte sie sich soweit ausbreiten, dass sie den modernen Wohnbau generell erfasste, insbesondere nachdem die 1979 an die macht gekommene radikalkonservative thatcher-regierung mit dem right to Buy das Kaufrecht von sozialwohnungen durch deren mieter einführte. in großbritannien wurde die mehrzahl der sozialwohnungen nicht durch Wohnungsunternehmen wie in Westdeutschland oder durch Wohnungsbaugesellschaften wie in schweden, sondern direkt durch gewählte lokale Behörden errichtet. solche Wohnungen wurden als „council housing“ bezeichnet, etwas, was im grundsatz die möglichkeit von (in Wahrheit oft nicht vorhandener) demokratischer Kontrolle und leichtem Widerruf bedeutete. das right to Buy-modell gewährte mietern, die sich für den Kauf ihrer Häuser oder Wohnungen entschieden, große ermäßigungen. in einem bewussten Versuch, eine „eigentumsdemokratie“ zu schaffen und „den sozialismus zurückzudrängen“, wurden den Kommunen die meisten freiwerdenden geldmittel verweigert, obgleich sie, bevor thatchers neoliberaler flügel die tories dominierte, eine ziemlich große zahl an

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sozialwohnungen errichtet hatten. das unmittelbare ergebnis des neuen right to Buy war, dass gerade die attraktivsten Wohngebiete – in der zwischenkriegszeit in den städtischen randbezirken und in den nach 1945 errichteten Planstädten erschlossene flachbau- und mischbaugebiete mit großzügigen gärten und großen grünflächen – im Wesentlichen privatisiert und dem öffentlichen sektor entzogen wurden. die weniger beliebten Wohngebiete hingegen – die unsicheren, anomischen, totalitären in fertigbauweise errichteten Wohntürme und gelegentlich die mehr von architekten als von ingenieuren entworfenen brutalistischen anlagen – wurden in den 1980er- und 1990er-jahren immer unbeliebter und mussten als ein ergebnis des von der regierung herbeigeführten mangels an sozialwohnungen die Bedürftigsten aufnehmen. dies ist das Klima, in dem sich letztlich die Kampagnen zur erhaltung moderner architektur in großbritannien entwickeln mussten. erHaltung Von iKonen der moderne english Heritage, jetzt Historic england, die halbstaatliche organisation, die mit der erhaltung und Pflege von Baudenkmälern beauftragt ist, operiert nach einer „fünfundzwanzig-jahres-regel“, vor deren ablauf gebäude (ausnahmen sind unter besonderen umständen möglich) nicht in die denkmallisten aufgenommen werden können. die historisch bedeutendsten Wohnhochhäuser der nachkriegsmoderne hielten in den 1990er-jahren einzug in die liste – Komplexe wie der Wohnturm the lawns in der Planstadt Harlow, ernő goldfingers trellick tower, das alton estate des londoner county councils oder das monumentale Park Hill-gelände in sheffield. in einigen fällen bedeutete dieser Prozess, die gebäude sowohl als Wohnanlagen als auch als architekturdenkmäler zu erhalten, um unsensible renovierungen abzuwehren, und ansonsten sicherzustellen, dass sie in ruhe gelassen wurden. anbetrachts der tatsache jedoch, dass in der ära thatcher den kommunalen Behörden die finanziellen mittel und ganz bewusst auch die macht entzogen worden waren, neue Wohnungen zu bauen, stellte die forderung, sich um gebäude zu kümmern, die potenziell ziemlich komplex waren, entweder ein Problem dar (wenn man es wohlwollend betrachtete) oder aber eine gelegenheit (wenn man es zynisch betrachtete). das erste Beispiel für eine solche Problemgelegenheits-gemengelage war der fall von Keeling House in Bethnal green, london → 4 , das 1958 nach Plänen des architekten denys lasdun errichtet worden war. Wie viele sozialbauten, die bei architekturhistorikern besonders beliebt sind, war Keeling House eine art gebaute Polemik. es sollte eine alternative zu den zwei modellen bieten, die damals im Wohnsiedlungsbau vorherrschten: grob einteilbar in das

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gartenstadt-modell mit rund um grünflächen angeordneten pittoresken reihenhäusern, und das modell der Ville radieuse mit in einer Parklandschaft verteilten Wohntürmen. Keeling House zog seine inspiration angeblich aus einer soziologischen untersuchung des gebiets und versuchte, den austausch innerhalb der Bewohnerschaft durch den entwurf der foyers vor den aufzügen und durch die gestaltung der eingangsbereiche zu fördern – beides sollte dazu beitragen, dass die nachbarn sich begegneten, wenn sie das gebäude betraten oder verließen, und sie dazu verleiten, an diesen orten zu verweilen. die sich daraus ergebende unregelmäßige silhouette, ein „cluster-Block“, der aus vier miniaturwohntürmen bestand, die durch den zentralen erschließungskern verbunden wurden, war ausdrucksstark und von großer Plastizität, gerade im Vergleich zu den wahlweise niedlichen oder technokratischen manifestationen von „slumsäuberung“, die Keeling House in Bethnal green umgaben. da es spezifisch als antwort auf einen besonderen sozialen Kontext entworfen worden war, ist es besonders ironisch, dass Keeling House das erste Hochhaus des sozialen Wohnungsbaus war, das als architektonisches „symbol“ privatisiert wurde. als es mitte der 1990er-jahre in die denkmalliste aufgenommen wurde, behauptete der eigentümer, tower Hamlets Council, dass die notwendigen reparaturen das Budget sprengten. das gebäude wurde an einen Bauträger verkauft und die mieter (damals großteils ältere menschen) wurden umgesiedelt. Benedict seymours film the london particular (2007) interviewt Bewohner, die mit dem gebäude eng verbunden waren und bleiben wollten, aber es kam nie zu einer größeren Kampagne gegen die räumung. die Veränderungen, die im jahr 2001 von den mit der restaurierung beauftragten architekten munkenbeck and marshall vorgenommen wurden, waren subtiler natur, verglichen mit der neuen Verkleidung, die zur gleichen zeit an vielen Wohntürmen der nachkriegszeit angebracht wurden. oft wurden deren Probleme mit der dämmung durch lösungen angegangen, die das ursprüngliche erscheinungsbild bis zur unerkenntlichkeit veränderten. im fall von Keeling House wurde der Beton lediglich neu gestrichen und ein kleines Penthouse hinzugefügt. die stärksten Veränderungen wurden im erdgeschoss vorgenommen, wo um einen neu angelegten teich und einen ebenfalls hinzugefügten Hochsicherheits-eingangspavillon ein hoher zaun errichtet wurde. um die Wohnungen in dem gebäude verkaufen zu können, das in einem gebiet gelegen war, das nach wie vor als armes arbeiterviertel galt, sollten sich investoren und Bewohner so stark wie möglich gegen die umgebung geschützt fühlen. ein gebäude, bei dessen Bau es das ziel gewesen war, eine „traditionelle arbeitergemeinschaft“ zu schaffen, wurde so in eine gated community umgewandelt. doch zumindest von ferne

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betrachtet blieb es das stolze, abstrakte stück konstruktivistischen designs, das es 1958 gewesen war – in der tat war es diese ästhetik, für die die neuen Bewohner zahlten. einige der änderungen an sozialwohnungen aus architektenhand waren, dank des right to Buy, subtilerer natur. Wohnungen in gebäuden, die immer noch zum großen teil in gemeindebesitz sind, können für astronomische summen verkauft werden, wenn sie über die magische Kombination aus bedeutendem architekten und guter lage verfügen. im fall von Berthold lubetkins sivill House → 1 hat die gentrifizierung die renovierung sogar überholt, wenn man bedenkt, dass das gebäude trotz seiner Popularität unter den gutbetuchten lokalen Hipstern ziemlich heruntergekommen ist. die bei weitem drastischste entwicklung eines denkmalgeschützten sozialwohnungskomplexes der nachkriegszeit ist die sanierung von Park Hill → 5 in sheffield, erbaut ab 1961 nach entwurf von jack lynn und ivor smith. Wie Keeling House, aber in viel größerem umfang, war diese immobilie mit ihren in eine Parklandschaft eingebetteten schmucklosen türmen eine antwort auf das modell der Ville radieuse im sozialen Wohnungsbau. auf einem Hügel gelegen, verknüpft ein system von „streets in the sky“ (erhöhten fußwegen) die verschiedenen Blocks; diese straßen sind ihrerseits mit den umliegenden viktorianischen straßen verbunden. sie wurden bewusst breit genug angelegt, um „richtige straßen“ zu werden, auf denen menschen stehen bleiben und miteinander reden konnten, und weit genug, um milchwagen durchzulassen. als eine der ersten Wohnanlagen wurde Park Hill 1998 unter denkmalschutz gestellt und anfangs sehr in ruhe gelassen. in den frühen 2000er-jahren übergab der stadtrat von sheffield das gebäude an den Bauträger urban splash – wiederum mit der Behauptung, dass die renovierungskosten „untragbar“ seien. der Bauträger riss ungefähr ein Viertel des gebäudes bis auf das Betongerüst ab und entfernte jeden einzelnen ziegel, Küche, Bad und innere Wand, die dann durch eine hellere, künstlichere annährung an den ursprünglichen entwurf ersetzt wurden. die renovierung behielt das ursprüngliche gelbrot-purpurne farbschema bei, führte es aber in eloxiertem aluminium und nicht als ziegelmauerwerk aus. ein kleiner Prozentsatz der Wohnanlage sollte als sozialwohnungen durch eine methodistische Wohnungsbaugesellschaft verwaltet, aber 80 Prozent sollten auf dem offenen markt verkauft werden. Weil die renovierungskosten angeblich zu lasten der öffentlichen Hand gingen, wurde die renovierung interessanterweise großteils von english Heritage und der sich im öffentlichen Besitz befindlichen Homes and Communities agency finanziert. dieser akt dreister Privatisierung und architektonischer ausradierung wurde 2013 auf die shortlist für

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den Stirling­preis für das beste gebäude in großbri­ tannien gesetzt, trotz der tatsache, dass noch immer erst weniger als ein viertel des projekts fertig gestellt war und das gebäude zum großen teil verfallen ist. „angemeSSene“ WohnStandardS ein vorgeschobener grund für die exzessi­ ven renovierungskosten von Sozialwohnungen in den 2000er­Jahren war ein von tony Blairs new­labour­ regierung eingeführtes programm für Decent Homes („angemessenes Wohnen“). das programm legte eine reihe von maßstäben für „angemessenheit“ fest, wie zum Beispiel dämmung, energieeffizienz und die größe der Wohnungen; gebäude, die diese Standards nicht erfüllten, sollten eher erneuert als abgerissen werden. die damit verbundenen hohen kosten veran­ lassten viele lokale Behörden, auf armut zu plädieren und (mit unterstützung der regierung) „Bestands­ übertragungen“ (stock transfer) an gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaften vorzunehmen. diese öffentlich­privaten organisationen bauen einen mix aus Sozialwohnungen und Wohnungen für den freien markt; sie sind weniger direkt an den demokratischen prozess gebunden und bieten weniger rechtssicher­ heit. Weil die Wohnungsbaugesellschaften trotzdem zu erheblichen teilen vom Staat finanziert werden, blieb der prozess ziemlich undurchsichtig – eine von verschiedenen maßnahmen unter new labour, die ein Segment des öffentlichen haushalts in einen anderen, weniger überwachten Bereich umschich­ teten. einige Beobachter wie der Journalist James meek haben argumentiert, dass die decent­homes­ Standards, wenngleich sie tatsächlich zu verbesse­ rungen in dämmung und erscheinungsbild führen, absichtlich überhöht wurden, um die „Bestandsüber­ tragung“ zu fördern (man beachte die technokrati­ sche ausdrucksweise). Beispielsweise sollten in den meisten fällen die küchen komplett ersetzt werden, was für die lokalen Behörden meist unerschwinglich war. der einzige haken war, dass der transfer von den Bewohnern demokratisch gebilligt werden musste, was, besonders in london und Birmingham, zu vielen „nein“­Stimmen führte. ein zentrum der opposition gegen die Bestandsübertragung war east london. einige gebiete mit interessanter architektur, wie das arts and crafts Boundary estate, stimmten für einen ver­ bleib in städtischem Besitz, gegen den ausdrückli­ chen Wunsch des Stadtrats. im norden englands fand ebenfalls eine größere kampagne gegen ein ähnli­ ches, aber extremeres programm von new labour 1 für einen detaillierten Bericht über die Sanierung des Brunswick centre siehe den essay von maren harnack in diesem Band, S. 41–48.

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statt, das pathfinder genannt wurde und große teile der häuser in städtischem Besitz zum kompletten abriss zugunsten „angestrebter“ neuer gebäude verdammte, die die fraglichen gebiete „durchmisch­ ter“ gestalten würden, so dass sie keine „ghettos“ mehr bildeten. in Sheffield zum Beispiel verwendete die von gewerkschaften unterstützte organisation Defend Council Housing viel energie darauf, sich in gebieten wie parson cross und Shirecliffe gegen den abriss von populären doppelhäusern mit Sozialwoh­ nungen zu stellen, anstatt das kontroversere park hill zu verteidigen. in der zwischenzeit wurde in london der Begriff „durchmischung“ als patentrezept gegen „soziale ausgrenzung“ (der neue Begriff für armut) übernommen. dies führte dazu, dass viele gemein­ den ihre eigene version des gesetzes für decent homes erfanden, indem sie den freiraum in sozi­ alen Wohnsiedlungen – oder, in einigen fällen, die gesamten Wohnsiedlungen – an Bauträger verkauf­ ten. es liegt eine ironie darin, dass 2008 im londo­ ner Bezirk tower hamlets zwei parallele kampagnen dem sozialen Wohnungsbau gewidmet waren, die sich jedoch überhaupt nicht überschnitten: eine, um die Bestandsübergabe in ganz london für verschiedene unbekannte Wohnanlagen zu stoppen, die andere, um eine Wohnanlage, robin hood gardens, vor dem abriss zu retten. das fragliche gebäude ist ein entwurf aus dem Jahre 1972 von alison und peter Smithson, die pioniere des in park hill so erfolgreich angewandten Systems der Streets in the Sky. die Wohnanlage, die aus zwei langen Blocks besteht, die einen offenen, landschaftsgärtnerisch gestalteten raum umschlie­ ßen, ist durch Betonmauern gegen lärm und chaos der umgebenden Straßen geschützt. Sie wurde in der architekturpresse stark kritisiert, in charles Jencks einflussreichem Buch the language of postmod­ ern architecture verteufelt und dann in der Welt der architektur großteils ignoriert, trotz der tatsache, dass die Smithsons als architekten, autoren und lehrer in akademischen fachkreisen weiterhin sehr populär blieben. als der gemeinderat von tower ham­ lets vorschlug, das gebäude abzureißen, um platz für einen „durchmischten“ ersatz zu schaffen, kam der hauptwiderstand eher von architekten als von den Bewohnern. die architekturwochenzeitschrift Build­ ing Design startete eine petition, die schnell von praktisch jedem bedeutenden architekten im Wes­ ten, von richard rogers bis denise Scott Brown und zaha hadid, unterzeichnet wurde. es ist aufschluss­ reich, dass ein unterzeichner, der tv­philosoph alain de Botton, auf den erfolg anderer Sanierungen wie park hill, keeling house und das Brunswick centre1 hinwies. in anbetracht dessen, dass die ersten zwei zur vollständigen ausquartierung der ursprünglichen mieter geführt hatten, ist kaum ersichtlich, wie dies

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1

2 Berthold lubetkins sivill House 1 in Bethnal green, london

4 aylesbury estate in Walworth, 2 london

central Hill, in lambeth, 3 london, entwurf ted Hollamby

Keeling House in Bethnal 4 green, london

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den Bewohnern von robin Hood gardens gefallen hätte sollen. die Kampagne erreichte immerhin, dass die öffentliche anerkennung für den Wert des gebäudes zunahm (obgleich dies nicht so weit ging, dass es unter denkmalschutz gestellt worden wäre – english Heritage lehnte dies zweimal ab) und allgemeiner auch der stellenwert des sozialen nachkriegswohnungsbaus, endete aber als ein geschenk an die lokalen Behörden, denen es leicht gemacht wurde, die Petition als dünkel von mittelklasseästheten darzustellen, die nie gezwungen sein würden, in dem verfallenden Betonhorror von robin Hood gardens zu leben. oft wurde eine untersuchung zitiert, die bestätigte, dass eine klare mehrheit der Bewohner auszuziehen wünschte. einige jahre später führte ein mieter seine eigene untersuchung durch, die das genaue gegenteil bewies, und veröffentlichte sie in Building Design, aber zu diesem zeitpunkt war der schaden bereits angerichtet und der gegensatz war klar: „menschen“ gegen „gebäude“. um zu verstehen, wie komplex und korrupt die sanierung von sozialwohnungen geworden war, brauchte man nur eine kurze strecke von robin Hood gardens zurückzulegen und das Beispiel des Balfron tower in augenschein nehmen. dieses gebäude, 1964 fertiggestellt, war die frühere, weniger erfolgreiche realisierung des später für den berühmten trellick tower in West london genutzten entwurfs. Bei einer abstimmung über die Bestandsübertragung befürwortete eine mehrheit die Übergabe des gebäudes an die lokale Poplar Harca-Wohnungsbaugesellschaft, die zu diesem zeitpunkt in der umgebung viele Wohnanlagen nach den decent-Homes-standards sanierte. es ist nicht verwunderlich, dass Bewohner, denen etwas ähnliches versprochen wurde, mit „ja“ stimmten. anstatt zu bekommen, was man ihnen versprochen hatte, wurden sie informiert, dass eine denkmalgerechte sanierung des gebäudes zu teuer sei. daher müsse es zuerst geräumt und als studios an Künstler vermietet werden, bevor es auf dem offenen markt verkauft würde – eine bemerkenswert dirigistische Version des etablierten Prozesses, nach dem Künstler als stoßtrupps der gentrifizierung dienen. Viele der gleichen Künstler waren später an der Kampagne zur rettung des gebäudes vor dem Verkauf beteiligt, ein gutes Beispiel für einen rettungsversuch, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen und man selbst der besonders Begünstigte ist. zu diesem zeitpunkt, um 2013 / 14 herum, waren Wohnungskampagnen überall in london militanter geworden, und eine reihe von orten, denen bis dahin keine Beachtung geschenkt worden war, wurde nun gegen abbruch und räumung verteidigt. zwei Wohnanlagen in london waren dafür besonders pointierte Beispiele: carpenters estate

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in stratford und aylesbury estate in Walworth. → 2 Beide Wohnanlagen waren systembauten, errichtet aus vorgefertigten Komponenten nach repetitiver gestaltung – in beiden fällen strukturell einwandfrei und im fall von carpenters erst kurz zuvor nach den decent-Homes-standards aufgerüstet. aber keine dieser anlagen war auch nur entfernt in der lage, in die liste denkmalgeschützter gebäude des english Heritage aufgenommen zu werden. diese gebäude waren das standardisierte ergebnis der Wohnungsbauexpansion der nachkriegszeit, so normal und unauffällig wie das durchschnittliche reihenhaus der 1870er- oder das typische doppelhaus der 1930er-jahre. am Bau von carpenters estate waren sogar einige mitglieder des teams beteiligt, das für ronan Point verantwortlich war, obgleich niemand, nicht einmal der gemeinderat von newham als Besitzer der anlage, zu behaupten versuchte, dass die gebäude vergleichbare strukturelle Probleme hätten. für eine gewisse zeit jedoch wurde aylesbury estate als eine der typischen „Problemwohnanlagen“ angesehen und war gehässigen attacken sowohl vonseiten der architekturzeitschriften als auch der Boulevardpresse ausgesetzt. entworfen von der Baubehörde des london county council unter colin lucas, besteht sie aus mehreren langen Betonplatten, die schmale offene räume überbrücken, in einer art und Weise, die deutlich die sowohl im entwurf als auch beim Bau angewandten fließbandmethoden ausdrückt. als ein angebliches zentrum „sozialer ausgrenzung“ wurden die gebäude nach seiner Wahl zum Premierminister im jahre 1997 von tony Blair besucht – vor den Kameras der Presse versprach Blair, von Polizisten flankiert, dass unter ihm niemand mehr gezwungen sein werde, unter solch furchtbaren Bedingungen zu leben. dabei waren die gebäude durchaus solide und befanden sich in einer guten lage, durch eine Busverbindung an die londoner innenstadt angebunden. das angrenzende Heygate estate wurde zwischen 2011 und 2014 geräumt und abgerissen, und die öffentliche erkenntnis, dass trotz Versprechen wenige der ersatzwohnanlagen „sozial“ waren (geschweige denn sozialen Wohnungsbau darstellten), bedeutete, dass die anwohner sehr misstrauisch gegenüber Versprechen geworden waren, dass man sie in gebäude mit ähnlicher miete und qualität umsiedeln würde. das gebäude des aylesbury estate wurde 2015 von aktivisten besetzt, und zu dem zeitpunkt, zu dem ich diesen text schreibe, dauern die öffentlichen anhörungen gegen das Vorgehen von stadtrat und Bauträgern an. im carpenters estate wurde inzwischen ein kürzlich renoviertes Haus von einer gruppe alleinerziehender mütter besetzt, die aus einer unterkunft in dieses gebiet umgesiedelt worden waren – die sich daraus

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6 sanierung von Park Hill in shef5 field durch das Bauunternehmen urban splash

cressingham gardens 6 in london

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ergebende Kampagne „focus e15 mums“2 entwickelte sich zur bedeutendsten Wohnraumkampagne in london seit jahren. im falle beider Wohnanlagen spielten akademiker der Bartlett architecture school des university college, die für die erhaltung der gebäude und ihre nutzung als sozialwohnungen eintraten, eine aktive rolle – eine willkommene umkehr der typischen rolle, die das architekturestablishment spielte. zum zeitpunkt der abfassung dieses textes, im november 2015, finden ähnliche Kampagnen in zwei Wohnanlagen des londoner stadtteils lambeth statt, die beide von dem architekten ted Hollamby entworfen wurden: central Hill and cressingham gardens. → 3 6 Keine der Wohnanlagen ist denkmalgeschützt, obgleich sie, anders als carpenters und aylesbury, beide einen hohen architektonischen standard haben und bei ihren Bewohnern stets populär waren. die lokalen Behörden schlagen in diesem fall vor, die Wohnanlagen abzureißen und sie durch eine gemischte Wohnbebauung sehr viel höherer dichte zu ersetzen, was den Verkauf des Baugrunds an Bauträger bedeuten würde. in anbetracht der tatsache, dass die städtischen finanzmittel unter der streng neoliberalen konservativen regierung noch geringer ausfallen als unter new labour, würden die einnahmen aus dem Verkauf angeblich mit sozialausgaben an anderer stelle verrechnet werden. Wenig überraschend hat es den Bewohnern nicht gefallen, so offensichtlich als Verhandlungsmasse angesehen zu werden; ihre Kampagnen fielen weit aggressiver aus als diejenigen der Bewohner von Balfron tower, Park Hill oder robin Hood garden – Bewohner von cressingham gardens haben gerade einen juristischen sieg gegen den stadtrat errungen, weil er sich geweigert hatte, sie ordnungsgemäß zu beteiligen. in diesen fällen scheint es zum ersten mal seit dem Bau der Wohnanlagen der nachkriegsmoderne möglich zu sein, eine gewisse Übereinstimmung der interessen von architekten (zumindest einigen von ihnen) und Bewohnern zu erreichen – aber die Kampagnen zielen besonders gegen die lokalen Behörden, die die Wohnanlagen errichtet haben und sich ihrer jetzt, wenn möglich, entledigen wollen. Was genau bedeutet diese seltsame umkehr? auf der einen seite vermitteln diese Beispiele den eindruck eines unerbittlichen Kreislaufs. Kampagnen gegen „slumsäuberung“ (und ihre bevorzugte ideologie und ästhetik der moderne) schufen „focus e15 mums“ ist eine londoner Kampagne, die von jungen alleinerziehenden müttern initiiert wurde. sie richtet sich gegen soziale Verdrängung durch rasant steigende mieten, Kürzung von sozialleistungen und den mangel an sozialwohnungen. 2

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etwas, das seinerseits eine neue und möglicherweise schlimmere form von slumsäuberung schuf – diesmal verschwanden die Bewohner, aber nicht notwendigerweise die gebäude. in einigen wenigen fällen werden die Projekte, auf die die ursprünglichen Wohnungsaktivisten reagierten, wie die aylesbury und Heygate estates, von den heutigen aktivisten, also ihren „nachfolgern“, verteidigt. aktivisten besetzen jetzt Plattenbauten, so wie sie einst viktorianische reihenhäuser und mietshäuser besetzten. ähnlich vorhersehbar ist der geschmackszyklus, in dem die erlesensten Beispiele der nachkriegsmoderne, wie die gebäude eines Berthold lubetkin oder eines denys lasdun, zusammen mit dem viktorianischen erbe, das sie auslöschen wollten, zu einem Kulturerbe amalgamiert werden. Was die Bausubstanz von städten angeht, dienten die erhaltungsbewegungen der 1970er-jahre der „rettung“ vieler gebäude, und dies werden die aktuellen Kampagnen zweifellos auch erreichen. doch mit der rettung dieser gebäude ist es auch möglich geworden, die qualität eines gebäudes oder seine einzigartigkeit oder historische Bedeutung als ein argument oder diskussionspunkt heranzuziehen, was aber schließlich dazu dient, von einem argument abzulenken, das sich nur um nutzung und soziale Bedürfnisse drehen sollte. der großartige slogan der gruppe focus e15 mums greift diesen Punkt auf: „diese Häuser brauchen menschen, diese menschen brauchen Häuser.“ aber nachdem die Bedürfnisse befriedigt sind, werden anwohnern und stadtbewohnern andere aspekte wichtig. Hier sind architekten, liebhaber dieser Häuser und denkmalschützer gleichermaßen gefragt. Hätte es mehr Projekte wie central Hill und das Brunswick centre gegeben und weniger wie aylesbury estate und ronan Point, hätte die ablehnung der nachkriegsmoderne nicht als die monolithische anwendung eines vermeintlich „gesunden menschenverstands“ enden können, und es wäre schwieriger für die regierungen thatchers und Blairs gewesen, das Vermächtnis des sozialen Wohnungsbaus zu zerstören. Von daher ist es notwendig, unterschiedliche strategien zu finden, um jene unterschiedlichen formen sozialer architektur zu verteidigen, die es noch gibt. es gibt keinen guten grund – außer dem Profit –, warum das Brunswick centre oder Park Hill eine filiale des edelitalieners carluccio oder rosafarben eloxierte aluminiumpaneele bräuchte. es gibt keinen guten grund, warum die engen reihen des aylesbury nicht substanziell neu entworfen werden könnten, während sie als gebäude des sozialen Wohnungsbaus überleben. aber vielleicht wäre dies vorschnell. Wohnungsbauaktivisten in großbritannien sollten sich nicht so sehr die frage stellen „Was tun wir, wenn wir diese gebäude gerettet haben?“, sondern vielmehr: „Wie können wir sowohl das gebäude als auch das darin verkörperte soziale Projekt retten?“

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maren HarnacK

aBWarten und tee trinKen Warum manche Häuser zeit brauchen

dr. maren Harnack studierte architektur, stadtplanung und sozialwissenschaften. 2011 wurde sie Professorin für städtebau an der frankfurt university of applied sciences. seit 2008 betreibt sie gemeinsam mit mario tvrtkovic das Büro „urbanorbit“.

in london wurde der Wohnungsbau schon seit dem 17. jahrhundert von kommerziellen Projektentwicklern geprägt, die Häuser für den markt produzierten.1 die Versorgung der ärmeren Bevölkerungsschichten wurde zunächst von stiftungen übernommen und ab 1900 dann auch vom london County Council (lcc), der gesamtstädtischen Verwaltung, die auch für übergeordnete infrastruktureinrichtungen zuständig war. nach dem zweiten Weltkrieg spielte das lcc eine bedeutende rolle beim Wiederaufbau. Hier lagen Bauleitplanung, finanzierung und die ausführung von öffentlichem Wohnungsbau und anderen öffentlichen Bauprojekten in einer Hand, was die realisierung fortschrittlicher architektur ermöglichte, die international publiziert und rezipiert wurden. die architekturabteilung des lcc zog junge und ambitionierte architekten an, die ihre ideen hier besser umsetzen konnten als in freien Büros. als Planungs- und genehmigungsbehörde konnte das lcc aber auch fremde Projekte massiv beeinflussen. einerseits beauftragte das lcc selbst auch externe architekten, weil die hauseigene Bauabteilung nicht alle Projekte selbst durchführen konnte, andererseits wurden fremde Planungen und auch die der boroughs nur dann genehmigt, wenn sie dessen Vorgaben weitgehend genügten.2

im Wohnungsbau war die arbeit des lcc trotz der hohen qualität der Projekte nicht bei allen politischen Parteien unumstritten. insbesondere die Konservativen hielten die arbeit des lcc für summerson, john. georgian london. london: Pimlico, 1991 (1962): 26–28; rasmussen, steen eiler. london, the unique city. Harmondsworth: Penguin, 1961 (1934): 164–167. 2 muthesius, stefan; glendinning, miles. tower Block: modern public Housing in england, Scotland, Wales and northern ireland. new Haven/ london: yale university Press, 1994: 3. 3 eine detaillierte darstellung des regierungsprogramms right to Buy 1

bietet der text von owen Hatherly in diesem Band auf s. 33–40. 4 Balchin, Paul; rhoden, maureen. Housing policy. an introduction. london/new york: routledge, 2002: 187 ff. 5 Harnack, maren. rückkehr der Wohnmaschinen. Sozialer Wohnungsbau und gentrifizierung in london. Bielefeld: transcript Verlag, 2012: 173 ff.

ineffizient und sahen darin eine Benachteiligung privater akteure auf dem Wohnungsmarkt. mit der Wahl margaret thatchers im jahr 1979 wurde der kommunale Wohnungsbau systematisch zurückgefahren und spielt seitdem kaum noch eine rolle. zudem führte das von ihrer regierung eingeführte right to Buy 3 dazu, dass vor allem attraktive Häuser und Wohnungen in den prosperierenden zentren an ihre mieter verkauft wurden.4 die privatisierten Wohnungen konnten später auf dem freien markt weiterverkauft werden, was zeigt, dass diese Bauten auch für bessergestellte Kreise attraktiv waren und bis heute mit dem kommerziellen Wohnungsbau konkurrieren können.5

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AbwArten und tee trinken

PlanungsgescHicHte zwei prominente Beispiele aus der zeit des lcc sind der trellick tower und das Brunswick centre. Beide Bauten wurden nicht von der lccarchitekturabteilung entworfen; für den trellick tower beauftragte das lcc den architekten ernő goldfinger mit der Planung,6 das Brunswick centre wurde hingegen von dem privaten investor marchmont Properties gebaut. dieser musste entwurf und Programm mehrmals anpassen, bis das Projekt schließlich unter der leitung des architekten Patrick Hodgkinson einen ausreichend großen anteil Wohnraum enthielt und das lcc die Baugenehmigung erteilte. so entstand ein gemischt genutzter gebäudekomplex, zu dem neben den Wohnungen auch eine tiefgarage, Kino und einkaufszentrum sowie einige Büroeinheiten gehörten.7 Weil die Vermarktung der Wohnungen an Privateigentümer sich schwierig gestaltete, trat der Bezirk camden 1966 in das Projekt ein und pachtete sie für 99 jahre (als leaseholder), um sie nach fertigstellung als sozialwohnungen zu vermieten. das einkaufszentrum und das Kino wurden weiterhin von marchmont Properties (dem freeholder) gemanagt. der freehold des trellick tower ist im rahmen der reformen unter thatcher vom lcc auf den royal Borough of Kensington and Chelsea übergegangen, etwa zwanzig Prozent der Wohnungen sind über das right to Buy an individuelle leaseholder privatisiert worden. der freehold vom Brunswick centre wurde mehrmals verkauft und liegt jetzt bei lazari investments limited, während der london Borough of Camden nach wie vor generalpächter der Wohnungen ist und die ebenfalls etwa zwanzig Prozent einzeleigentümer über einen subleasehold verfügen. BrunsWicK centre die von anfang an uneinheitliche eigentümerstruktur im Brunswick centre → 1 hat dazu geführt, dass die interessen von leaseholder und freeholder nicht leicht miteinander zu vereinbaren waren. Weil marchmont Properties an den Wohnungen nichts verdiente, wurden notwendige reparaturen nicht immer mit der nötigen sorgfalt und geschwindigkeit ausgeführt. camden ist für die Pflege und den unterhalt der Wohnbereiche zuständig, stritt aber lange mit marchmont Properties über die details der zuständigkeit. zeittypisch waren die eine zeitgenössische Projektbesprechung von martin richardson findet sich im architects’ journal vom 10. januar 1973. 7 eine zeitgenössische Projektbesprechung von Peter murray findet sich in der zeitschrift architectural Design vom oktober 1971, von Bill crosby im architectural review vom oktober 1972. 6

8 melhuish, clare. the life & times of the Brunswick, Bloomsbury. london: camden History society, 2006: 48 ff. 9 Payne, james a. „return of the Bloomsbury set“. Building Design (6. oktober 2006).

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gemeinschaftsflächen zunächst für jedermann zugänglich, was zu Problemen mit obdachlosen und drogenkonsumenten führte, bis 1989 die zugänge geschlossen und zum teil abgebrochen wurden, etwa die große freitreppe, die im film professione: reporter von michelangelo antonioni aus dem jahr 1975 gezeigt wird. Hier sorgte camden für den einbau der neuen türen und der gegensprechanlage. die Bewohner des Brunswick centres ihrerseits legten keinen Wert auf eine besondere Belebtheit des einkaufszentrums, was den interessen von marchmont Properties widersprach. umnutzungsanträge, die die einrichtung von Kneipen oder nachtclubs vorsahen, wurden regelmäßig mit dem Hinweis auf das ruhebedürfnis der anwohner abgelehnt. insgesamt war das Projekt für marchmont Properties so wenig rentabel, dass der freehold 1991 verkauft wurde und in der folgezeit noch mehrmals den Besitzer wechselte. jedes mal versuchten die neuen eigentümer, genehmigungen für den neubau von Wohnungen auf dem gelände zu erhalten, beispielsweise vor dem großen Portal zum Kino an der Hunter street. sie argumentierten, dass nur mit deren Verkauf die grundlegende sanierung des Brunswick centre zu finanzieren sei. diese Vorhaben scheiterten regelmäßig am Widerstand der Bewohner und der genehmigungsbehörde.8 erfolgreich war ab 2002 eine andere strategie, die mit weit weniger sichtbaren Veränderungen auskam: die außenhülle der Wohngeschosse des inzwischen denkmalgeschützten gebäudes wurden saniert, aber ansonsten nicht verändert. das shopping-center hingegen wurde umfassend umgestaltet und durch einen neuen, großen supermarkt ergänzt. auch hier waren umfassende abstimmungen mit den Bewohnern nötig, die keine allzu großen Veränderungen wünschten.9 die sanierung des shoppingcenters wird allgemein als erfolg betrachtet und hat dazu geführt, dass inzwischen auch die Wohnungen als sehr hochwertig wahrgenommen werden. die Wohnungsgrundrisse selbst haben sich über die jahre als sehr vielseitig erwiesen. → 2 die sozialmieter lebten – und leben bis heute – relativ dicht in den Wohnungen; hier ist es keine seltenheit, dass ein schlafzimmer für drei Personen dient. die offene Küche wird von vielen als Vorteil empfunden, weil sie es den Bewohnern ermöglicht, beim Kochen Kontakt zum Wohnzimmer zu halten. die eigentümer, die ihre Wohnungen später auf dem freien markt erworben haben, schätzen die relativ komfortable größe der räume und insbesondere auch den privaten freiraum, über den jede Wohnung verfügt. nur wenige Besitzer haben ihre Wohnungen verändert, einige haben Bad und Wc zusammengelegt, um hier mehr Bewegungsraum zu gewinnen, einige wenige haben die Wand zwischen den beiden schlafzimmern

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

der dreizimmerwohnungen entfernt. die Wohnungen sind so organisiert, dass sie trotz sparsamer erschlie­ ßungsflächen eine deutliche zonierung in einen pri­ vaten und einen öffentlichen Bereich sowie Stauraum bieten. Bei den größeren Wohnungen sind die Schlaf­ zimmer gleich groß, so dass nicht vorgegeben ist, welches das elternschlafzimmer ist und auch andere nutzungskombinationen möglich sind. trellick toWer der trellick tower → 5 wurde fertiggestellt, als die große zeit der Wohnhochhäuser in london bereits vorbei war. dementsprechend wurde das gebäude für seine typologie kritisiert, obwohl die fachpresse auch die qualität der Wohnungen und die zum teil sehr hochwertige ausführung lobte.10 dennoch litt der trellick tower schon bald nach der eröffnung unter einem sehr schlechten ruf, der im Wesentlichen auf gelegentlichen vandalismus zurückging. um dem entgegenzuwirken, wurden Wohnungen ab 1988 nur noch an personen vermie­ tet, die ausdrücklich im trellick tower wohnen woll­ ten, wodurch es vielen möglich wurde, die Warteliste für Sozialwohnungen zu überspringen. auch im trellick tower sind die Wohnungen gut geschnitten → 7 10 und die Schlafzimmer für bri­ tische verhältnisse großzügig bemessen. auch hier leben die Sozialmieter enger zusammen als die von außen zugezogenen eigentümer. veränderungen an den grundrissen gibt es nicht, da sie sich kaum ver­ bessern lassen. aber die räume lassen viele möblie­ rungsvarianten zu und erlauben so eine langfristige anpassung der Wohnungen an unterschiedliche Bedürfnisse. Besonders positiv werden immer wieder kleine, gut durchdachte details hervorgehoben, bei­ spielsweise die raumhoch verglasten Schiebetüren der Westfassade, die in die türrahmen integrierten licht­ schalter, → 11 die größere Stellflächen für Schränke und regale erzeugen, oder die zum teil noch im ori­ ginalzustand erhaltenen einbauküchen. im rahmen der seit langem geplanten Sanierung des gebäudes kämpfen die Bewohner dafür, dass diese Besonderhei­ ten erhalten bleiben und nicht durch Standardbauteile ersetzt werden, die zwar billiger sind, aber die Wohn­ qualität negativ beeinflussen würden. 10 richardson, martin et al. „Building

Study. housing in north kensington“. architects’ journal (10. Januar 1973): 77–96. 11 ausschlaggebend für die verän­ derungen waren die vorschläge der Studie „coming home to trellick“ vom Safe neighbourhoods unit (1987). 12 tappin, Stuart et al. the Bruns­ wick project. Visions of Space and Sanctuary. london: projektdoku­ mentation ohne verlag, 2003; lovatt, Jane. „centre forward“. observer Magazine (23. märz 2003).

13 carroll, rory. „how did this be­ come the height of fashion?“ guar­ dian g2 (11. märz 1999). 14 der guardian zitiert eine londo­ ner maklerin: „any stigma is waning fast as there’s a whole generation of people who don’t even know what a traditional council house is or was. investors are keen as they often give great yields as purchase prices are lower than average“ (osborne 2015).

43

Stärker als im Brunswick centre haben im trellick tower änderungen im management zu einer ver­ besserung der lebensumstände beigetragen. neben der veränderten Belegungspolitik wurden 1987 die bis dahin unzuverlässig arbeitenden aufzüge saniert und mit videoüberwachung ausgestattet. hinzu kam, dass die elektroversorgung neu geordnet wurde, um die häufigen Stromausfälle zu beheben. zudem wurde ein concierge installiert, der ab 1987 16 Stunden, ab 1994 24 Stunden am tag den zugang zum gebäude kontrolliert und ansprechpartner für kleinere alltags­ probleme ist – und der in der ursprünglichen planung ohnehin vorgesehen war, aber aus kostengründen zunächst eingespart wurde.11 diese verbesserungen wurden durch das unermüdliche engagement der Bewohner erstritten und haben erst dazu geführt, dass der trellick tower für private Wohnungskäufer zu einer ernstzunehmenden option wurde. Strategien der imageBildung Sowohl die Bewohner des Brunswick centre als auch jene des trellick tower haben aktiv darauf hingewirkt, das image ihres Wohnhauses zu verbes­ sern, obwohl der ruf des Brunswick centre nie so schlecht war wie der des trellick tower. in beiden fäl­ len spielte die residents’ association eine wichtige rolle, die die kommunikation nach innen und außen koordinierte. im Brunswick centre hat vor allem eine von den Bewohnern organisierte kunstausstellung im Jahr 2003 Wirkung in der Öffentlichkeit gezeigt. Sie demonstrierte, dass viele menschen im Brunswick centre leben, die nicht dem verbreiteten vorurteil kultureller und sozialer randständigkeit entspre­ chen und ihre professionelle expertise in das projekt einbrachten.12 im trellick tower waren die Bewoh­ ner maßgeblich daran beteiligt, dass das haus 1998 unter denkmalschutz gestellt wurde und standen als ansprechpartner für die presse zur verfügung, die im rahmen der unterschutzstellung auch über den alltag im gebäude berichtete und hier erstmals ein für viele außenstehende überraschend positives Bild zeichnete.13 Spätestens hier zeigte sich, dass sich die lange vorherrschende meinung, der trellick tower sei ein planungsfehler und nur durch abriss zu sanieren, durch wenig mehr als bloßes Warten grundlegend verändert hatte. kleine eingriffe Wenn Wohnungen aus dem sozialen Woh­ nungsbau stammen, wird dies in london heutzutage nicht mehr als makel wahrgenommen.14 im gegenteil, die Bauten aus der zeit des london county council sind mittlerweile für ihre hohe qualität bekannt. die damalige planungshaltung, dass der soziale Woh­ nungsbau vorbildcharakter für den privaten markt haben sollte, teilt sich auch heute noch mit – in der

44

AbwArten und tee trinken

architektursprache, den details, den räumen für die gemeinschaft und auch in der guten ausstattung der Wohnungen, die häufig besser ist als der heutige neubaustandard, wo schlafzimmer deutlich kleiner ausfallen als in den hier besprochenen Beispielen, private außenräume fehlen oder Wohnungen einseitig orientiert sind. die im heutigen Wohnungsbau übliche mittelflurerschließung erreicht auch nicht die gleichen räumlichen qualitäten wie die großzügigen, hellen erschließungsräume des sozialen Wohnungsbaus der nachkriegszeit, die immer auch Begegnungsräume für die Bewohner sind. der Vergleich vom Brunswick centre zu einem preisgekrönten Projekt wie adelaide Wharf15 im londoner stadtteil Hackney → 3 4 macht die unterschiede deutlich: strukturell ähneln sich die grundrisse, die Wohnungen sind einseitig orientiert und mit offenen Küchen ausgestattet. im detail zeigen sie jedoch erhebliche unterschiede in der nutzbarkeit: im Brunswick centre sind die schlafzimmer etwa 11 quadratmeter groß, bei adelaide Wharf 13 und 8,5 quadratmeter. im Brunswick centre ist die Küche zwar offen, aber optisch vom Wohnzimmer getrennt, beides zusammen ist 30,5 quadratmeter groß. Bei adelaide Wharf bilden Wohnzimmer und Küche einen raum von nur 23,5 quadratmetern größe. im Brunswick centre haben alle räume zugang zur geschützten loggia, zusätzlich ist ein teil des Wohnzimmers als Wintergarten ausgebildet. Bei adelaide Wharf ist der vorgehängte, exponierte Balkon hingegen nur vom Wohnzimmer aus zugänglich. im Brunswick centre werden die Wohnungen von einem laubengang aus erschlossen, der in einem großen atrium liegt. ein kleines fenster in der Küche erlaubt direkten Kontakt aus der Wohnung zum laubengang und ermöglicht gezieltes querlüften, bei adelaide Wharf grenzen die Wohnungen an einen schmalen, innenliegenden erschließungsgang. nicht zuletzt orientieren sich die Wohnungen im Brunswick centre entweder nach osten oder Westen, bei adelaide Wharf hingegen gibt es auch rein nordorientierte Wohnungen, die dann allerdings über einen Blick auf den Kanal vor dem Haus verfügen. Wenn man die maisonetten im trellick tower mit denen im ebenfalls hochgelobten donnybrook estate von Peter Barber → 9 12 vergleicht, ist das Bild ähnlich: zwar sind Barbers maisonettewohnungen zu drei seiten hin orientiert und verfügen über einen großen freiraum, aber es gibt keinen 15 eine ausführliche darstellung des Projekts adelaide Wharf von allford Hall monaghan morris, london, findet sich in Harlander, tilman; Kuhn, gerd (Hg.). Soziale mischung in der Stadt. stuttgart: Karl Krämer Verlag, 2012: 262 ff.

16 online

unter http://www.publications.parliament.uk/pa/bills/cbill/ 2015-2016/0108/cbill_2015-20160 108_en_1.htm, siehe insbesondere Part 4 chaper 2, wo geregelt wird, dass freiwerdende high value-sozialwohnungen de facto privatisiert werden müssen.

M. Harnack

Windfang oder eingangstrakt – man betritt einfach direkt den offenen Wohn- und Küchenbereich. die treppe zu den beiden schlafzimmern im obergeschoss wird von der Küche aus betreten, und eines der beiden schlafzimmer ist so klein, dass es kaum als vollwertiges zimmer angesehen werden kann. anders als im trellick tower gibt es hier kaum stellund abstellflächen, die gerade bei den kleinen zimmern die nutzbarkeit sicherstellen würden. die liste wäre bei weniger ambitionierten Projekten sicher noch fortzusetzen und zeigt, wie sehr die qualität im Wohnungsbau seit der zeit des lcc gesunken ist. Heute müssen die Bewohner von sozialen Wohnungsbauten aus der nachkriegszeit bei anstehenden sanierungen häufig sogar dafür kämpfen, dass bereits bestehende qualitäten erhalten bleiben, weil andere lösungen günstiger und schneller zu realisieren wären. zudem sind die mittel für den sozialen Wohnungsbau heute viel stärker begrenzt als zur zeit der entstehung dieser Bauten. es gibt keine subventionen der britischen regierung mehr, und auch innerhalb der Bezirke sind die möglichkeiten geld für den sozialen Wohnungsbau auszugeben, stark eingeschränkt worden. diese Konstellation erzeugt einen erheblichen abrissdruck auf die bestehenden sozialen Wohnungsbauten, da sich mit den heutigen, niedrigeren standards mehr Wohnungen auf den vorhandenen flächen realisieren lassen und dabei Privatisierungsgewinne erzielt werden können, während die sanierung von Bestandsgebäuden aus dem laufenden Betrieb heraus bezahlt werden muss. Vor diesem Hintergrund ist es aus der sicht vieler Bewohner vorteilhaft, wenn sanierungsvorhaben aufgeschoben oder abgesagt werden. mit der geplanten neuen Housing and planning Bill 16 wird sich das Problem verschärfen, weil die anbieter von sozialwohnungen verpflichtet sein werden, sogenannte high value-Wohnungen zu verkaufen. die konstruktive struktur der gebäude und der Wohnungsgrundrisse würde es in den hier diskutierten fällen ohne großen aufwand zulassen, durch zusammenlegungen oder neuzuschnitte auch größere familienwohnungen einzurichten und so die Überbelegung zu mindern. dem steht aber ein insgesamt so gravierender mangel an sozialwohnungen entgegen, dass daran in absehbarer zeit nicht zu denken ist. die neuesten initiativen der britischen regierung werden den druck auf den sozialen Wohnungsbau der nachkriegszeit sogar noch weiter erhöhen, gerade weil er seine qualitäten auch aus vergleichsweise großzügigen raumzuschnitten bezieht. Vor diesem Hintergrund ist es bereits heute schwierig, die bestehenden qualitäten zu erhalten – eine Verbesserung der Wohnungsgrößen scheitert also nicht an der konstruktiven struktur der gebäude, sondern am politischen Klima.

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

3

5m

1

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2

4

5m

5m

das Brunswick centre vom 1 Brunswick Square aus gesehen

Wohnungsgrundrisse des 2 Brunswick centre

adelaide Wharf, von der 3 queensland road aus gesehen

grundriss adelaide Wharf, frei 4 finanzierte Wohnungen

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AbwArten und tee trinken

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5

5m

7 5m

6 trellick tower von Westen aus 5 gesehen

8 rock mit trellick tower fas6 sadenmuster

Wohnungsgrundrisse trellick 7 tower, regelgeschosse

elevation mugs von people will 8 always need plates

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

47

9

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10

5m

5m

5m

11 9

12 donnybrook estate

10 Wohnungsgrundrisse trellick tower maisonetten im 23. / 24. stock

11 die lichtschalter sind in die türrahmen integriert

5m

12 Wohnungsgrundrisse im donnybrook estate

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AbwArten und tee trinken

die beiden vorgestellten Bauten des sozialen Wohnungsbaus gehören heute zu den ikonen der nachkriegsmoderne, die als cool gelten und auch popkulturell rezipiert werden. → 6 8 der Wandel in der Wahrnehmung – von einem Beinahe-slum zur gesuchten Wohnadresse – beruht dabei nicht auf umfassenden sanierungs- oder umbaumaßnahmen, sondern vor allem auf Veränderungen im management und gezielter Öffentlichkeitsarbeit derjenigen Bewohner, die schon vor dem imagewandel hier wohnten – und auf der hohen qualität der Wohnungen. in seiner grundstruktur ist der soziale Wohnungsbau der nachkriegszeit heute noch attraktiv, auch für nutzer, die sich auf dem freien markt versorgen und daher auch andere Wohnungen wählen könnten. der status beider Bauten macht sie zwar besonders erstrebenswert, doch auch in architektonisch weniger prominenten Bauten sind die Verhältnisse ähnlich, wie etwa das (vergebliche) engagement der Bewohner für den erhalt des aylesbury estates gezeigt hat, der eine ganz ähnliche eigentümerstruktur wie die hier besprochenen Beispiele aufweist.17 die qualitäten, die der soziale Wohnungsbau der nachkriegszeit in london hat und die ihn auch heute noch attraktiv machen, kommen also immer weniger denen zugute, für die sie einmal gedacht waren. Vielmehr befördert gerade seine architektonische Bedeutung die Konsumbereitschaft reicher Wohnungskäufer, die damit gegenüber ihrem umfeld auch noch einen besonders guten geschmack beweisen können. dahinter steht eine soziale und politische Haltung, die der entstehungszeit nicht nur entgegengesetzt ist, sondern diese gewissermaßen zu einem dekorativen accessoire degradiert.

17 eine detaillierte darstellung des

aylesbury estates und anderer, architektonisch wenig bedeutender estates bietet der text von owen Hatherly in diesem Band, s. 33–40.

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kleine eingriffe

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neues Wohnen im Bestand der nachkriegsmoderne

Projekte intervieW mit erik stenBerg

① UPPingegränd 17

intervieW mit oliver clemens, anna heilgemeir, BernharD hummel

arBeit mit Der BestanDskonstruktion Die umstrukturierung von Wohnungen der nachkriegsmoderne in der schwedischen siedlung tensta

② björingePLan 20–22

③ UPPingegränd 30

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④ björingePLan 24–26

Die PlattenBauWeise BleiBt sichtBar Wohnvielfalt in einem ehemaligen Bürogebäude

62

Wohnqualität Durch oPtimierung unD suffizienz zurückhaltender einsatz von ressourcen

74

geBäuDe von innen Betrachten eine neue haltung zur transformation

82

⑤ WiLMa

intervieW mit Beat rothen unD Birgit rothen

⑥ UetLibergstrasse / FraUentaLWeg

intervieW mit anne lacaton

⑦ toUr bois Le Prêtre

intervieW mit anDreas rumPfhuBer

46 grossWohnanLagen der geMeinde Wien

⑧ 530 Wohneinheiten in der Cité dU grand ParC

⑨ hoChhaUssCheibe C

Wunschmaschine Wohnanlage Wohnen und arbeiten neu denken

98

50

Projekte

Lage

Daten

nUtzFLäChe

gesaMtkosten (netto)

72 m²

30.000 euro

175 m²

30.000 euro

144 m²

30.000 euro

① uPPingegränD 17 tensta, stockholm, se

② BjöringePlan 20–22 tensta, stockholm, se

③ uPPingegränD 30 tensta, stockholm, se

④ BjöringePlan 24–26 tensta, stockholm, se

166 m²

30.000 euro

⑤ Wilma Lichtenberg, berlin, de

2.600 m²

880.000 euro

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neues Wohnen im Bestand der nachkriegsmoderne

Lage

nUtzFLäChe

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gesaMtkosten (netto)

⑥ uetliBergstrasse / frauentalWeg zurich, Ch

5.673 m²

9.716.524 ChF

7.565 m²

11.250.000 euro

⑦ tour Bois le Prêtre Paris 17°, Fr

⑧ 530 Wohneinheiten in Der cité Du granD Parc bordeaux, Fr

52.756 m²

27.200.000 euro

18.609 m²

14.663.500 euro

⑨ hochhausscheiBe c halle-neustadt, de

baUjahr

UMbaU

① ② ③ ④ ⑦





⑥ ⑨

1960

70

80

90

2000

10

20

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???

????

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

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niloufar tajeri

Projekte

1 ritter, markus; schmitz, martin (hg.). Lucius Burckhardt. Der kleinstmögliche Eingriff oder die Rückführung der Planung auf das Planbare. Berlin: martin schmitz, 2013: 153.

auf der suche nach einer Planungstheorie des kleinsten eingriffs schreibt lucius Burckhardt: „Wo tatsächlich eingriffe geplant werden, muss, und dieses wäre die forderung im sinne des ‚kleinsten eingriffs‘, vom speziellen fall ausgegangen werden. Der übliche eingriff, den wir als zu groß und brutal empfinden, erfolgt aus der routine. seine Planer sind leute, die planen gelernt haben bei lehrern, die an die allgemeine anwendbarkeit von regeln glauben. Was sich einmal irgendwo als ‚saubere lösung‘ bewährt hat […], das wird an einem ganz anderen ort wiederum angewendet.“ 1 Die fünf Projekte und studien, die im folgenden besprochen werden, setzen sich alle mit den möglichkeiten der raumstrukturellen aktualisierung von mietwohnungen im sinne des Kleinen Eingriffs auseinander: nicht die routine, nicht das ideal, sondern die genaue analyse des Bestandes und der Bedürfnisse der Bewohner stehen im vordergrund. sie ist ausschlaggebend für die entwurfsstrategie und bildet im Prozess immer wieder ein korrektiv, sowohl was die typologische ausformulierung der Wohnform als auch die ökonomische tragbarkeit für die Bewohner betrifft. Die Projekte zeigen, dass die angemessenheit der lösung nicht einen gegenpol zur nutzung und zu den Bedürfnissen der Bewohner bildet, sondern aus ihnen resultiert. Durch das nutzen vorhandener strukturen und standards kann man auch mit geringen Baukosten raumvielfalt und großzügigkeit erreichen. in jedem Beitrag wird konkret und in unterschiedlichen maßstäben aufgezeigt, was Kleine Eingriffe sein können. Der Kleine Eingriff ist auf fotos kaum sichtbar, er manifestiert sich in der nutzung – es sind die internen maßnahmen, die sich dem leser aus der genauen studie der grundrisse erschließen. im fokus steht eine Praxis, die sich der fragen nach der Wohnform und lebensform bewusst ist und ihre entwurfsstrategie darauf aufbaut. Wie wohnt man heute, wie arbeitet man? Wie kann man zum einen flexibilisieren und verallgemeinern und zum anderen präzise und gezielt auf Wohnbedürfnisse von unterschiedlichen gruppen eingehen? Wie bleibt das ganze bezahlbar?

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arBeit mit Der BestanDskonstruktion

intervieW mit erik stenBerg

erik stenberg arkitektkontor ist ein Büro, das sich auf die tektonik kleiner gebäude, von anbauten und renovierungen konzentriert. Das hauptaugenmerk des Büros gilt dem Wohnen, ob in apartments oder einfamilienhäusern. für das Büro ist kein Projekt zu klein und nichts zu groß, um abgelehnt zu werden. in den vergangenen 15 jahren hat sich das Büro auf den entwurf anspruchsloser und kaum sichtbarer vorhaben konzentriert. Die sichtbarste arbeit waren die veränderungen an den hier vorgestellten sieben apartments.

➊ außenansicht, Björingeplan 24–26

erik stenberg arkitektkontor

arBeit mit Der BestanDskonstruktion Die umstrukturierung von Wohnungen der nachkriegsmoderne in der schwedischen siedlung tensta

① UPPingegränd 17 der offene grundriss

② björingePLan 20–22 nebeneinander

④ björingePLan 24–26 die 166-QuadratmeterWohnung



③ UPPingegränd 30 das duplex

kleine eingriffe

ʹ

in welchem zustand haben sie das gebäude vorgefunden? ʶ Die bestehenden mehrfamilienhäuserblocks gehörten familjebostäder, einer der drei kommunalen Wohnungsbaugesellschaften stockholms. Die Blocks befanden sich in einem guten zustand, teils aufgrund regelmäßiger instandhaltung, teils wegen der ursprünglichen Bauqualität. Das vorgefertigte Bausystem skarne System 66 war stark genormt, systematisiert und zur Befriedigung der hohen anforderungen an rationale Bauweise und lange lebensdauer entwickelt worden. im jahre 1998, als das tensta-Projekt begonnen wurde, waren die gebäude dreißig jahre alt und noch keinen größeren renovierungsarbeiten unterzogen worden, außer einem fensteraustausch in den 1980er-jahren. Die 5.600 apartments in tensta und die 921 apartments in familjebostäder waren voll belegt. jedoch wurde nur noch ein teil der apartments von ihren ursprünglichen Bewohnern bewohnt, und viele apartments waren überbelegt.

ʹ

Wer initiierte das Projekt? Was waren ihre motivation und zielsetzung? Das ursprüngliche Projekt wurde durch träʶ information, den verband der schwedischen holzverarbeitungsindustrie, begonnen. sie sahen es als ein mittel zur einführung von holzkomponenten in die anstehende modernisierung des großen und überwiegend aus Beton bestehenden schwedischen Wohnungsbestandes. ziel war die modernisierung der inneneinrichtung von zwei mietwohneinheiten durch holz. ich arbeitete für sandellsandberg, ein schwedisches architekturbüro, und war dort zuständig für das Projekt. Wir schlugen vor, die räumliche konfiguration der apartments den Bedürfnissen der gesellschaft von heute anzupassen, statt die funktionalistischen grundrisse der späten 1960er-jahre beizubehalten. zufällig suchte ich zur gleichen zeit ein apartment zur miete und war in der lage, im märz 1999 in das renovierte apartment einzuziehen. Dadurch wurden mir die qualitäten der Wohnblocks in tensta besonders klar. ich erstellte ein inventar des Wohnungsbestandes und schlug im jahre 2003 eine reihe von entwurfsstrategien vor. in zusammenarbeit mit familjebostäder sanierte ich schließlich sieben apartments, um sie besser an die aktuelle demografische entwicklung der Bewohnerschaft anzupassen. meine rolle als mieter und Bewohner sowie als architekt und Projektleiter erlaubte mir, das unternehmen aus einer doppelten Perspektive in angriff zu nehmen: mein anliegen war die maximierung der Wohnqualität einerseits und die minimierung der investitionen von familjebostäder andererseits. ʹ

sie haben sich bei ihrem Projekt auf bewusst gesetzte eingriffe und geringe transformatio-

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

55

nen des Bestandes konzentriert. Was war ihre hauptintention für das Belassen der grundstrukturen des gebäudes? ʶ Wir arbeiteten mit statt gegen die ursprüngliche konstruktion. Das erlaubte paradoxerweise einen größeren grad an räumlichen veränderungen. es ist relativ einfach, räume von angrenzenden Wohneinheiten „zuzuschalten“ oder räume an eine andere einheit „abzugeben“. Die ursprüngliche systembauweise war sehr viel flexibler als alles, was ich dem hätte neu hinzufügen können. folglich bestand meine strategie darin, die ursprünglichen qualitäten des systems durch kleine bauliche eingriffe eher aufzudecken und freizulegen, als darin, der ursprünglichen eine neue räumliche ordnung überzustülpen. im nachhinein bestätigte die vergrößerung oder verkleinerung der apartments eher diese positiven qualitäten als ihren negativen ruf. es war zum Beispiel in allen sieben umgebauten apartments nicht nötig, zusätzliche beheizte räume hinzuzufügen. Wir mussten nur die Benutzung des vorhandenen ändern. ʹ

gab es eine spezifische strategie, die sich auch auf andere gebäude anwenden ließe? Welche eingriffe sind beispielhaft für andere Projekte? ʶ unsere strategie lässt sich auf jede repetitive und rationalisierte systembauweise der späten nachkriegsmoderne anwenden. Da die meisten großen, modernistischen Wohnanlagen der nachkriegszeit unter strengen rationalistischen und wirtschaftlichen auflagen entstanden, waren die ergebnisse uniform und genormt. Der schlüssel zu räumlicher flexibilität ist mehr oder weniger in dieser uniformität versteckt. Der Wechsel der Perspektive vom grundriss zum Bausystem als ganzes macht es möglich, die qualitäten von ursprünglicher Planung, entwurf und erstellung neu zu entdecken. eine weitere strategie könnte die kontinuierliche, schrittweise veränderung der Wohnanlage sein, eine Wohnung nach der anderen, statt ein gesamtes gebäude oder eine komplette Wohnanlage umsiedeln zu müssen. Der mangel an kleinen einzimmerwohnungen und großen vier- oder fünfzimmerwohnungen ist ein besonderes Problem des schwedischen Wohnungsbestandes. zusätzlich führt Überbelegung in verbindung mit einem generellen Wohnungsmangel zu einem radikalen rückgang der Bewohnerfluktuation. eine strategie könnte bei einem leerstehenden apartment sein, angrenzenden nachbarn den Bezug von räumen nebenan oder die abgabe solcher räume zu erlauben. Das tensta-Projekt ist in vier hinsichten ein Beispiel für diese strategie. Das erste apartment → 61 – uppingegränd 17, Der offene Grundriss

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ArbEit mit dEr bEStAndSkonStruktion

Erik Stenberg Arkitektkontor

① uPPingegränD 17 Der offene grundriss arChitekten originalbau: hsb’s riksförbunds tekniska avdelning (Projektarchitekt: ingmar benckert) in zusammenarbeit mit dem bauunternehmen ohlsson & skarne Umbau: sandellsandberg ab (Projektarchitekten: thomas sandell und erik stenberg) Lage tensta, stockholm, schweden baUjahr 1967–1971 UMbaU 1998 eigentüMerstrUktUr / baUherr Familjebostäder, kommunale Wohnungsbaugesellschaft organisationsModeLL Mietshaus nUtzFLäChe 72 m² brUttogrUndFLäChe / gesaMt 72 m²



baUkosten ca. 500 euro / m²

➊ grundriss uppingegränd 17. Die neue raumordnung basiert auf dem kontrast zwischen kleineren geschlossenen räumen mit offenen stellflächen und einem großen raum mit geschlossenen einbauschränken. ➋ küche und Wohnzimmer



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5m

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

② BjöringePlan 20–22 nebeneinander arChitekten originalbau: hsb’s riksförbunds tekniska avdelning (Projektarchitekt: ingmar benckert) in zusammenarbeit mit dem bauunternehmen ohlsson & skarne Umbau: erik stenberg arkitektkontor in zusammenarbeit mit der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Familjebostäder ab (Lars björk) Lage tensta, stockholm, schweden baUjahr 1967–1971



renovierUng / UMbaU 2005–2006

5m

eigentüMerstrUktUr / baUherr Familjebostäder, kommunale Wohnungsbaugesellschaft organisationsModeLL Mietshaus nUtzFLäChe 53+122 m² brUttogrUndFLäChe / gesaMt 178 m² baUkosten ca. 500 euro /m²

➌ grundriss Björingeplan 20–22. Die tragende Wand zwischen zwei Wohneinheiten wurde durchbrochen, um zwei räume einer Wohnung zur angrenzenden hinzuzuschalten. Die große Wohnung ist 122 quadratmeter und das kleinere studioapartment 56 quadratmeter groß. ➍ flur und Wohnzimmer

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ArbEit mit dEr bEStAndSkonStruktion

Erik Stenberg Arkitektkontor

③ uPPingegränD 30 Das Duplex arChitekten originalbau: hsb’s riksförbunds tekniska avdelning (Projektarchitekt: ingmar benckert) in zusammenarbeit mit dem bauunternehmen ohlsson & skarne Umbau: erik stenberg arkitektkontor in zusammenarbeit mit der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Familjebostäder ab (Lars björk) Lage tensta, stockholm, schweden baUjahr 1967–1971 UMbaU 2005–2006 eigentüMerstrUktUr / baUherr Familjebostäder, kommunale Wohnungsbaugesellschaft organisationsModeLL Mietshaus nUtzFLäChe 45+99 m²



brUttogrUndFLäChe / gesaMt 144 m² baUkosten ca. 500 euro / m²



➊ grundriss uppingegränd 30, oberes geschoss. Das kleinere apartment kann als separate Wohneinheit fungieren oder mit dem größeren verbunden werden, um z.B. eine separate Wohnung für familienmitglieder zu schaffen. jede Wohnung behält eine separate eingangstür, zugleich sind sie über eine zwischentür verbunden. Dies erlaubt einen größeren grad an unabhängigkeit, als es in geschlossenen familienwohnungen üblich ist. ➋ grundriss unteres geschoss. Die Wohnung wurde vertikal mit der Wohnung darüber verbunden. ➌ Wohnzimmer mit neuer treppe ➍ offene küche und esszimmer ➎ kinderzimmer im oberen geschoss



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ArbEit mit dEr bEStAndSkonStruktion

Erik Stenberg Arkitektkontor

④ BjöringePlan 24–26 Die 166-quadratmeterWohnung

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arChitekten, ProjektLeitUng originalbau: hsb’s riksförbunds tekniska avdelning (Projektarchitekt: ingmar benckert) in zusammenarbeit mit dem bauunternehmen ohlsson & skarne Umbau: erik stenberg arkitektkontor in zusammenarbeit mit der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Familjebostäder ab (Lars björk) Lage tensta, stockholm, schweden baUjahr 1967–1971 UMbaU 2008–2009 eigentüMerstrUktUr / baUherr Familjebostäder, kommunale Wohnungsbaugesellschaft



organisationsModeLL Mietshaus nUtzFLäChe 166 m² brUttogrUndFLäChe / gesaMt 166 m² baUkosten ca. 500 euro /m²

➊ grundriss Björingeplan 24–26. Dieses Doppel-apartment kombiniert die strategien Der offene Plan und Nebeneinander zur schaffung eines grundrisses, bei dem der raum durch die neu angeordneten ursprünglichen inneneinrichtungselemente strukturiert ist. ➋ flur und Wohnzimmer



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– demonstrierte, wie die ursprünglichen elemente wie Wände, türen, küchenschränke und stellflächen in einer 72-quadrameter-Wohnung neu angeordnet werden konnten. Dieses apartment, in dem ich zwölf jahre lebte, schuf eine neue raumordnung, basierend auf dem kontrast zwischen kleineren geschlossenen räumen mit offenen stellflächen und einem großen raum mit geschlossenen einbauschränken. Die zweite änderung eines apartments – Björingeplan 20–22, Nebeneinander – zeigt, wie die „schalt“strategie zwischen zwei angrenzenden apartments funktionieren kann. in diesem fall wurde die tragende Wand zwischen zwei Wohneinheiten durchbrochen, um zwei räume einer Wohnung zur angrenzenden hinzuzuschalten. zudem ordneten wir die ursprünglichen inneneinrichtungselemente neu an, um größere küchen- und Wohnräume zu schaffen. Die dritte strategie – uppingegränd 30, Das Duplex – erkundet das Potenzial der vertikalen verbindung von Wohnungen. ein Durchbruch, groß genug für eine standardtreppe, erfolgte in der Diele, wo sich vorher eine große abstellkammer befunden hatte. Das große apartment (99 quadratmeter) hat drei räume, mit der möglichkeit einen weiteren raum hinzuzufügen, da der ursprüngliche eingang im obergeschoss beibehalten wurde. Das kleinere apartment (45 quadratmeter) kann als separate Wohneinheit fungieren oder in zukunft mit dem größeren verbunden werden. Die vierte strategie, die verbindung von zwei apartments zu einem einzigen sehr großen apartment – Björingeplan 24–26, Die 166-Quadratmeter-Wohnung – demonstriert das Potenzial des Bausystems im umgang mit Wohnungsgrößen, die in den ursprünglichen entwürfen nicht vorgesehen waren. Die bloße anzahl von räumen und ihren verschieden zuweisbaren funktionen erlauben eine große anzahl räumlicher anordnungen. Die zwei eingangstüren zum Beispiel könnten als separate eingänge für die älteren kinder dienen und der Wohnung eine „bidirektionale“ qualität verleihen, die sonst nirgendwo in tensta existiert. ʹ

Durch welchen eingriff ist in ihren augen eine wesentliche verbesserung der Wohnstruktur erreicht worden? Welcher schuf ein neues Wohnmodell, eine neue Wohntypologie oder einen neuen gebrauch? Die hauptverbesserung der Wohnstruktur ʶ von tensta besteht in der einführung großer und kleiner apartments mit neuen raumvorstellungen. Die neuen räumlichen anordnungen bieten mehr möglichkeiten für die Wahl des lebensstils. Da alle tensta-apartments in den 1960-jahren für die sogenannte „kernfamilie“ entworfen worden sind und die gesellschaft sich seither radikal verändert hat, ist der Wohnungsbestand auf der ebene der

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Wohnungsgrundrisse monoton und überholt. mehr als die hälfte der tensta-apartments sind zweizimmerapartments, weniger als zwei Prozent sind vierzimmerapartments oder größer, und weniger als fünf Prozent sind einzimmerapartments. Die „schalt“strategie zielt darauf ab, diese ungleiche verteilung zu beheben. gab es während der umsetzung herausforderungen oder Probleme, die sie produktiv umdeuten konnten? erstaunlicherweise traten während des entʶ wurfsprozesses und der umbaumaßnahmen der sieben apartments wenige Probleme auf. Die schwierigste herausforderung stellte die vertikale lastaufnahme des tragwerks für die umsetzung des Duplex-apartments dar. Die Berechnung der größe des treppendurchbruchs war viel schwieriger als etwa die eines Wanddurchbruchs durch eine tragende Wand. Der ursprüngliche entwurf des Bausystems hatte schon die meisten horizontalen herausforderungen gelöst. es ergab sich, dass die größte zu überwindende hürde darin bestand, in einer zeit zunehmenden Wohnraummangels aneinandergrenzende apartments zu finden und die längerfristige änderungsstrategie mit genehmigung der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft durchzuführen. ʹ

Welche Wohnmodelle hat das gebäude für welche Bewohnergruppen geschaffen? können sie generelle aussagen darüber treffen, wie das Wohnen heute funktioniert? jede veränderte Wohnung wurde von einem ʶ mieter mit einem spezifischen Bedürfnis belegt, das in den anderen tensta-apartments (oder im großraum stockholm) nicht erfüllt werden konnte. zum Beispiel war das größte von mir geschaffene apartment ein 166-quadratmeter-apartment mit fünf zimmern, drei Bädern, zwei Wohnzimmern, vielen abstellflächen und einer großen offenen küche. heute ist es von einer familie mit zehn kindern belegt. vorher lebte diese familie, damals mit sieben kindern, in einem zweizimmerapartment. Die Überbelegung, unter der diese familie zu leiden hatte, war furchtbar. heute bewohnt sie eines der größten apartments von stockholm, mit einer miete, die sie sich leisten kann. Die Wohnung erlaubt der familie, in einer art und Weise zu leben, die sowohl ihre Wünsche erfüllt als auch der Beweis für die stärken des ursprünglichen Baus ist. ʹ

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Die PlattenBauWeise BleiBt sichtBar

intervieW mit oliver clemens, anna heilgemeir, BernharD hummel

Die arbeitsgemeinschaft Bernhard hummel architekt und clemens krug architekten arbeitet seit 2009 für selbstorganisierte mieterprojekte und Wohnprojekte im verbund des mietshäuser syndikats. Der schwerpunkt der arbeit liegt auf der gemeinsamen Planung mit den nutzern und auf kostengünstigem Bauen. Die leistungen umfassen Projektentwicklung, erstellen der finanzierung und alle leistungsphasen von der grundlagenermittlung bis zur Bauleitung.

➊ außenansicht, hofseite. (alle Bilder sind kurz vor fertigstellung entstanden.)

arge clemens krug architekten, Bernhard hummel

Die PlattenBauWeise BleiBt sichtBar Wohnvielfalt in einem ehemaligen Bürogebäude

⑤ WiLMa das gemeinschaftliche, selbstverwaltete haus



kleine eingriffe

ʹ

in welchem zustand haben sie das gebäude im jahr 2014 vorgefunden? Das 1974 als Bürogebäude für das ministeʶ rium für staatssicherheit der DDr in fertigteilbauweise errichtete haus in der magdalenenstraße in Berlin-lichtenberg hatte drei jahre lang leergestanden. ab 1990 wurde es vom Bezirksamt lichtenberg genutzt, das es noch im jahre 2003 für die verwaltungsnutzung aufwendig modernisiert hat. Das gebäude wurde ähnlich der WBs 70-Plattenbauweise, die zwischen 1973 und 1990 in 644.900 Wohneinheiten in der DDr umgesetzt wurde, errichtet und weist in dieser sonderform 126 räume in einem raster von 3,60 × 4,80 metern mit einer Deckenhöhe von 2,80 metern auf. auf jeder etage gab es einen Doppelraum (32 quadratmeter) und einen raum, der zum gang hin offen war, sowie einige verbindende türöffnungen in den Betonplatten. heute gibt es in dem haus 14 grundrisstypen: u.a. eine barrierefreie 12er-Wg mit kindern auf einer gesamten etage, drei große Wgs für jeweils etwa sechs Personen, clusterwohnen auf zwei geschossen mit sechs Drei- bis vierpersonenhaushalten mit und ohne kinder bzw. als familie oder Wohngemeinschaft. Weiterhin finden sich einpersonenwohnungen in der sogenannten mix-etage, die sich flur, stauraum, gemeinschaftsküche sowie gästewohnung teilen und ihre Büro- und lagerflächen außerhalb ihrer Wohneinheit haben, sowie zwei große Wgs, die über ihre küchen zusammenschaltbar sind. im erdgeschoss befinden sich neben der barrierefreien Wohneinheit auch gemeinschaftliche abstellflächen und knapp 200 quadratmeter Büro- und archivflächen sowie toiletten für den im hof befindlichen veranstaltungsraum, der Platz für kulturelle und politische veranstaltungen bietet. ʹ

Wer waren die hauptinitiatoren des Projekts? Was war ihre zielsetzung? können sie etwas zum organisationsmodell sagen? ʶ Das gebäude war im Besitz des landes Berlin und wurde vom liegenschaftsfonds verkauft. Drei Bewohnergruppen, die auf der suche nach häusern und grundstücken für gemeinschaftliches Wohnen zur miete zu bezahlbaren Preisen waren, schlossen sich zusammen, um dieses Projekt im netzwerk des „mietshäuser syndikats“ umzusetzen. hauptziel war es, ein gemeinschaftliches, selbstverwaltetes haus mit unterschiedlichsten Wohneinheiten und einer quadratmetermiete unterhalb des örtlichen mietspiegels umzusetzen. zudem war es der Bewohnerschaft wichtig, dem viertel öffentliche, politische und kulturelle räume zur verfügung zu stellen. Das mietshäuser syndikat ist ein verbund aus über 100 hausprojekten in ganz Deutschland, das durch eine spezielle eigentumskonstruktion dafür

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hauptziel war es, ein gemeinschaftliches, selbstverwaltetes haus mit unterschiedlichsten Wohneinheiten und einer quadratmetermiete unterhalb des örtlichen mietspiegels umzusetzen. sorgt, dass die häuser nicht wieder verkauft werden können und somit günstige mieten langfristig erhalten bleiben. eigentümerin der einzelnen häuser ist jeweils eine eigens gegründete gmbh, an der syndikat und Bewohnerverein jeweils gleiche anteile haben. Das syndikat hat lediglich eine Wächterfunktion gegen den verkauf und andere eingriffe ins eigentum, während die Bewohnerschaft mit ihrem hausverein alle weiteren entscheidungen in selbstverwaltung trifft. ʹ Wie wurde das Projekt finanziert? syndikatsprojekte werden zu einem Drittel ʶ durch Direktkredite als eigenkapitalersatz (geldanlage direkt in die gmbh mit niedrigem zinssatz, ohne umweg über Banken) und zu zwei Dritteln durch einen normalen grundschuldkredit bei der Bank finanziert. viele kleine, mittlere und bisweilen auch größere Darlehen ergeben zusammen den benötigten eigenkapitalanteil. Darlehen sind nicht daran gekoppelt, ob der kreditgeber im haus wohnt; zudem wird als einzugsvoraussetzung nicht verlangt, eigenkapital mitzubringen. Das finanzierungsmodell des Projekts ist für die ermöglichung vielfältiger, bezahlbarer Wohnmodelle ausschlaggebend. ein ausgeglichenes verhältnis zwischen persönlichen Wünschen und dem gemeinsamen ziel, andere lebensverhältnisse im Bezug auf soziale fragen herzustellen, kann ohne individuelle Wertschöpfung leichter ausgehandelt werden. Das haus ist zwar ein mietshaus, dennoch hat die Bewohnerschaft das gefühl, dass es ihnen als gruppe, als gemeinschaft gehört, und tragen entsprechend sorge dafür. Dadurch, dass neue Bewohner einfach und ohne kapitaleinsatz zur miete einziehen können, bleibt die → 71 hausgemeinschaft in Bewegung.

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Die PlAttenBAuweise BleiBt sicHtBAr

⑤ Wilma Das gemeinschaftliche, selbstverwaltete haus arChitekten arge clemens krug architekten und bernhard hummel architekt / oliver Clemens, anna heilgemeir, bernhard hummel, emma Williams; Mitarbeit: Lisa rochlitzer, ana hivern Lage Lichtenberg, berlin, deutschland tragWerksPLanUng Und brandsChUtz ifb thal + huber haUsteChnik akUt solar- und haustechnik gmbh baUjahr 1974–1976 UMbaU 2014–2015 eigentüMerstrUktUr / baUherr WiLMa gmbh im Mietshäuser syndikat organisationsModeLL Mietshaus, Mitglied im netzwerk des Mietshäuser syndikats nUtzFLäChe ca. 2.600 m² brUttogrUndFLäChe / gesaMt ca. 3.200 m² baUkosten 1,1 Mio. euro brutto inkl. baunebenkosten, ca. 425 euro / m² Wohnfläche



Arge clemens krug architekten, Bernhard Hummel

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Die PlAttenBAuweise BleiBt sicHtBAr

Arge clemens krug architekten, Bernhard Hummel



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➋ längsschnitt ➌ Das erdgeschoss mit öffentlichem veranstaltungsraum, Büros und einer barrierefreien Wohnung ➍ grundriss einer barrierefreien 12er-Wg mit kindern, 1. og

➎ unterschiedliche gangeinbauten – kammer, vorraum, treppe – gliedern das 2. og. ➏ Die maisonette-Wohnung im 3. og ist durch die kopplung dreier räume zu einem großzügigen Wohnund küchenbereich geprägt.

➐ auf der mix-etage im 4. og befinden sich cluster-Wohneinheiten, die sich flur, stauraum, gemeinschaftsküche sowie gästewohnung teilen. ➑ im 5. og befinden sich fünf durchgesteckte Wohnungstypen,

drei davon maisonetten – dadurch ergibt sich der eindruck eines „hauses im haus“.

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➒– 13 Die Durchbrüche erzeugen eine räumliche tiefe, wo sich einst 126 nahezu identische, voneinander abgetrennte räume befanden. Die funktionale grenze zum flur wird in vielen fällen aufgehoben, wodurch der flur teil der gemeinschafts- oder Wohnflächen wird.

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14 – 18 obwohl die ursprüngliche Bauweise erkennbar geblieben ist, herrscht eine vielfalt an funktionen und nutzungen.

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sie haben sich auf bewusst gesetzte eingriffe und geringe transformationen des Bestandes konzentriert. Warum haben sie die grundstrukturen des gebäudes beibehalten? ʶ Wir haben uns gemeinsam mit der Bewohnergruppe entschieden, uns auf die internen maßnahmen, d.h. veränderungen der grundrisse zur erfüllung der unterschiedlichen Wohn- und auch arbeitsbedürfnisse zu konzentrieren und möglichst vorhandene strukturen zu nutzen. Die sicherung einer bezahlbaren miete, auch für menschen, die staatliche unterstützung oder ein geringes einkommen beziehen, spielte eine wichtige rolle für die abwägung der eingriffe. Dennoch sollten grundrisse und raumabfolgen für Wohnbedürfnisse und lebensmodelle entstehen, wie sie in bestehenden Wohnhäusern selten zu finden sind. Da wenig aufwand in eine erhöhung der standards, also in eine renovierung der oberflächen oder in den ausbau investiert werden sollte, wurde gemeinsam mit der Bewohnerschaft zunächst eine grundstruktur der Wohneinheiten mit küchen und Bädern geplant. Die räumliche aufteilung und verteilung wurde verhandelt und nur das dafür notwendige modernisiert. ein weiterer aspekt war es, die materialität und grundstruktur des Plattenbaus zu bewahren: Die Platte sollte als Platte sichtbar, die geschichte des Bauwerks erhalten bleiben. ihre funktionale anmutung sollte aber auch aus bautechnischen gründen bewahrt werden. Die vorhandenen 16-quadratmeterräume, die großzügige Belichtung durch Doppelflügelfenster, das geräumige treppenhaus, der 2,20 meter breite mittelflur und die bautechnisch guten voraussetzungen – wie z.B. die langlebige Waschbetonfassade, die bereits gedämmten sandwichfassadenplatten – bildeten eine gute grundlage für die neuen umbaumaßnahmen. so wurde z.B. zum erreichen der angestrebten enev-Werte nicht die

Das haus ist zwar ein mietshaus, dennoch hat die Bewohnerschaft das gefühl, dass es ihnen als gruppe, als gemeinschaft gehört, und tragen entsprechend sorge dafür.

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gesamte gebäudehülle gedämmt, sondern nur das Dach, die Brandwände, die Bodenplatte und ein teil der fassade. Das gebäude sollte auf städtebaulicher ebene als teil des Blocks und der historischen schichtung erhalten bleiben. ein zugang von der straße war ursprünglich nicht vorhanden – das gebäude hatte eine sehr geschlossene erscheinung – auch dies wurde beibehalten. ʹ

gab es spezifische strategien, die sich auch auf andere gebäude anwenden ließen? gibt es eine systematik in der herangehensweise? Wenn man sich auf die innere struktur des ʶ Plattenbaus konzentriert, kann man trotz geringer Baukosten viel erreichen. im Bezug auf die grundrissveränderungen war es wichtig, die vorgefundene struktur zu nutzen. Wir wollten mit bestehenden öffnungen und Durchbrüchen arbeiten und die struktur nur an wenigen stellen gezielt aufbrechen oder durch einbauten verformen. so konnten mit minimalen eingriffen auf jeder etage ganz neue räume entstehen. hierzu wurden zunächst die voraussetzungen für die verschiedenen Wohnformen analysiert und daraus abstrakte module (Durchbruchstypen und einbauvarianten) für verschiedene räumliche konstellationen entwickelt. raumbedarf, notwendige raumgrößen, raumabfolgen und -konstellationen wurden anhand von raumdiagrammen visualisiert und die entsprechend notwendigen baulichen eingriffe entwickelt. Dieser katalog denkbarer maßnahmen ermöglichte eine konkrete raumplanung in absprache mit den nutzern der einzelnen etagen. Die gruppen konnten konkrete räumliche entscheidungen treffen und die module innerhalb des rasters verteilen. Parallel dazu wurden die gesamtstruktur des hauses und gemeinschaftliche festlegungen bezüglich der lage der gemeinschaftsräume, möglicher Balkone und einer Dachterrasse sowie standards wie z.B. trittschalldämmung, fenster, aufzug etc. diskutiert. unterschiedliche nutzerstrukturen erzeugen entsprechend unterschiedliche räumliche standards. Dennoch kann man als Planer standards festlegen, die allen entgegenkommen, z.B. ein belichtetes Bad pro Wohnungseinheit, Priorität von beidseitig belichteten Wohnungen etc. zugleich war die anordnung und lage der Wohnformen abhängig von statik und Bautechnik – es durfte nur wenige eingriffe in die statische struktur in den unteren geschossen geben und die eingriffe mussten in jedem geschoss ungleich verteilt werden. Das brachte ein komplexes system aus raumfolgen hervor. Wir haben die kosten für die verschiedenen eingriffe gegenübergestellt und empfehlungen formuliert. Daraus entstand ein ranking der eingriffe, die immer wieder mit den gesamtkosten abgeglichen

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Die PlAttenBAuweise BleiBt sicHtBAr

unterschiedliche nutzerstrukturen erzeugen entsprechend unterschiedliche räumliche standards. wurden. zugleich wurde versucht, die eingriffe zwischen etagenwohnungen und kleineren Wohneinheiten gerecht zu verteilen. Die hausgemeinschaft hat sich auf eine einheitliche nettokaltmiete pro quadratmeter in höhe von 4,70 euro geeinigt, obwohl z. B. kleine Wohnungen in der herstellung teurer als etagenwohnungen sind. Das Bedürfnis, verschiedenen lebensformen nachzugehen, wurde im Bezug auf die hierfür strukturellen Baumaßnahmen gemeinsam getragen. ʹ

Welcher eingriff hat in ihren augen die Wohnstruktur verbessert? Durch welchen eingriff sind ein neues Wohnmodell / eine neue Wohntypologie oder neue nutzungen entstanden? mit vier typen von Wanddurchbrüchen, zwei ʶ typen von Deckendurchbrüchen und vier formen von Wandeinbauten ist eine enorme vielfalt an grundrissen entstanden. vier typen von Durchbrüchen wurden als module festgelegt: · Der große Durchbruch, der die schotte fast vollständig öffnet und einen Doppelraum von 32 quadratmetern mit einem „Doppelfenster“ ermöglicht (siehe grundriss eg und 2.–6. og). · Der halbe Durchbruch, der, asymmetrisch gesetzt, küchennischen oder flexibel zusammenschaltbare räume herstellt und so neue raumsysteme und lichtsituationen entstehen lässt (4.–6. og). · Das Durchbruchspaar, das zwei räume über den gang miteinander koppelt, axiale raumfolgen herstellt und ohne große statische ertüchtigung mit einer stütze funktioniert (siehe grundriss 2.–3. og). · Der vertikale Durchbruch, durch den maisonetten entstehen (siehe 2. / 3. og, 4. / 5. og). vier Wand-einbauvarianten wurden als module festgelegt: · die mittelteilung für 8-quadratmeter-räume, die in den flur erweiterbar sind (siehe grundriss eg, 2. und 3. og), · die querteilung, die einen 10-quadratmeter-raum mit vorraum und eine seitliche erschließung der räume ermöglicht (siehe eg, 1., 2. und 3. og),

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· die gangeinbauten als kammern, vorräume und treppen (2., 3. und 4. og), die mit unterschiedlichen zugängen eine asymmetrie erzeugen. so z.B. zwei mini-zimmer, die mit einem zweigeteilten zugangsmodul erschlossen werden: der vorraum des 8-quadratmeter-kinderzimmers funktioniert als spielhöhle und der vorraum zum elternzimmer auf der anderen seite ist als privater stauraum vorgesehen (2. og); · die axiale flurtrennung, die verschiedene zonen schafft (siehe grundriss 1., 2., 5. und 6. og). insgesamt haben wir 13 Durchbrüche im gesamten haus verteilt – drei große Durchbrüche, vier zum mittelflur und drei halbe, dazu drei treppen eingebaut und sechs Balkonöffnungen zum hof hin. Die Platte ist nun dadurch charakterisiert, dass sich jedes geschoss anders anfühlt, aber die ursprüngliche Bauweise trotzdem erkennbar bleibt. einst aus 126 nahezu identischen räumen bestehend, kommt man nun in einer etage in einen geräumigen gemeinschaftsraum, der den flur mit einnimmt und von dort in die ursprüngliche mittelflurstruktur mit recht identischen räumen führt (6. og), während sich in einer anderen etage ein gemeinschaftsflur mit drei Wohnungseingängen befindet, der offen zugänglich ist und der clusterWohneinheit angehört. in anderen Wohneinheiten ergibt sich durch die maisonette der eindruck eines „hauses im haus“. und in größeren einheiten ist der flur mit einbauten verengt und öffnet sich am ende zu einer Dreier-raumfolge eines über 50 quadratmeter großen gemeinschaftsbereichs. gab es während der umsetzung herausforderungen / Probleme, die sie produktiv umdeuten konnten? Die größte herausforderung war die statik des ʶ Plattenbaus, da sie wie ein kartenhaus funktioniert: ʹ

Die Platte ist nun dadurch charakterisiert, dass sich jedes geschoss anders anfühlt, aber die ursprüngliche Bauweise trotzdem erkennbar bleibt.

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jede Wand trägt und steift aus. je nach größe eines Durchbruchs muss ein stahlrahmen eingefügt werden, der die aussteifende funktion übernimmt. Die statik gibt auch vor, wo und wie viele Durchbrüche im gesamtsystem möglich sind. zudem dürfen veränderungen nicht übereinanderliegen und müssen mindestens durch eine weitere Platte abgeleitet werden. Daraus ergibt sich automatisch der zwang, auf allen geschossen anders einzugreifen und übereinanderliegende Wiederholungen zu vermeiden. Die unterschiedlichkeit der Wohnungstypen erwies sich hier als vorteil für den umgang mit der statik: Die rigidität der Platte deckte sich mit der Diversität der Bewohnerschaft und deren Wünschen nach verschiedenen Wohnformen, denn man hätte gar nicht auf jeder etage gleiche grundrisse schaffen können. ʹ

Welche ihrer eingriffe und / oder Wohnmodelle sehen sie als beispielhaft für andere Projekte? ʶ Das modell des syndikats bildet eine gute Plattform für das Planen in einer mischung aus individualität und einem gemeinschaftlichen und sozialen Pragmatismus. Die variabilität einfacher eingriffe und die herstellung von vielfältigen raumfolgen hat viel mit dem Bauen jenseits des eigentumsmodells zu tun: Durch das mietwohnmodell entsteht individuelle Beschäftigung mit dem Bestand sowie die möglichkeit, unterschiedliche lebensformen und räume zu entwickeln, zugleich tritt das „schöner Wohnen“-modell für den einzelnen in den hintergrund. in der gegenwärtigen Praxis wird oft günstig gebaut und dennoch entstehen daraus einseitige Wohnmodelle, ob nun große loftwohnungen für eine höhere Preisklasse oder günstige standardwohnungen. in der magdalenenstraße treffen sich beide ansätze: das individuelle und großzügige auf der einen und die standardisierung auf der anderen seite. in der Planung bilden dabei die Wünsche und Bedürfnisse sowie finanziellen möglichkeiten der nutzer ein wertvolles korrektiv innerhalb des aushandlungsprozesses. Dafür muss man die Bewohnerschaft nicht unbedingt kennen, denn sowohl die vielfalt anderer Wohnformen und die entsprechenden Bedürfnisse nach anderen lebensformen als auch die notwendigkeit bezahlbaren Wohnens sind in der gesellschaft immer breiter vertreten. für einen vielfältigen und günstigen (um-)Bau sollten wir als architekten und Planer der frage nachgehen, was der soziale Bedarf nach vielfältigen Wohnmodellen ist und wie er ökonomisch für die Bewohnerschaft tragbar umgesetzt werden kann. D.h. diese Diskussion sollte sowohl ökonomisch als auch räumlich geführt werden.

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Wohnqualität Durch oPtimierung unD suffizienz

intervieW mit Beat rothen unD Birgit rothen

Das Büro Beat rothen architektur wurde 1989 in Winterthur gegründet. seitdem wurden zahlreiche Projekte u.a. im Wohnungs- und siedlungsbau realisiert. neben der monografie Beat Rothen. Wohnbau aus dem jahr 2005 ist 2011 ein Buch in der reihe De aedibus: Contemporary architects and their buildings zu den arbeiten von Beat rothen erschienen. in der Edition Hochparterre erschien 2012 das Buch Noerd: Das Gewerbehaus der Kreativen.



außenansicht, uetlibergstrasse

Beat rothen architektur

Wohnqualität Durch oPtimierung unD suffizienz zurückhaltender einsatz von ressourcen

⑥ UetLibergstrasse / FraUentaLWeg durchgesteckte Wohnungen



kleine eingriffe

ʹ

in welchem zustand haben sie das gebäude vorgefunden? Die initiative für den umbau ging von der ʶ eigentümerin swiss re aus, deren ziel es war, die liegenschaft durch überschaubare maßnahmen für heutige Bedürfnisse attraktiver zu machen. grundlage dafür war die von ihr erstellte detaillierte zustandsbeurteilung und die analyse verschiedener sanierungsszenarien. Daraus resultierte ein klares anforderungsprofil für die sanierungsmaßnahmen, welches uns für die skizzenqualifikation abgegeben wurde. Die Bauherrschaft wählte aus diesem verfahren unsere interpretation der architektonischen maßnahmen aus. Die vier- bis siebengeschossigen Wohnhäuser wurden 1968 als teil einer großmaßstäblichen arealüberbauung errichtet. Die Bauherrin hatte sich entschlossen, die liegenschaften im entmieteten zustand einer gesamtsanierung zu unterziehen. Dabei wurden sie als solide architektur eingeschätzt: Die Baukörper zeugen von einem verständnis für Proportionen; die fenstersetzung und einteilungen sind sehr ausgewogen; die Wohnungsgrundrisse sind einfach strukturiert und durchdacht. sie waren jedoch nicht mehr zeitgemäß und die privaten außenräume zu klein. zudem bestand ein wärmetechnischer sanierungsbedarf. Der Wohnungsmix entsprach nicht mehr den heutigen Bedürfnissen – die liegenschaft bot zu viele kleinstwohnungen (1,5-zimmerWohnungen) und demgegenüber zu wenige größere Wohnungen. zudem waren die kleinen Wohnungen teilweise schlecht orientiert. ʹ

sie haben sich bei ihrem Projekt auf bewusst gesetzte eingriffe und geringe transformationen des Bestandes konzentriert. Was war ihre hauptintention für das Belassen der grundstrukturen des gebäudes? ʶ es war nicht nötig, große veränderungen an der gesamtstruktur vorzunehmen, um die Wohnungsstruktur zu verbessern, da die bestehenden gebäude als ausgangslage grundsätzlich eine gute grundstruktur hatten und die meisten Wohnungen mit geringer eingriffstiefe räumlich verbessert werden konnten. mit wenigen maßnahmen, z.B. durch leichte veränderungen an den küchen und nasszellen, konnte in den meisten Wohnungen eine entscheidende verbesserung der inneren form erreicht werden. Die bestehenden gebäude bargen auch in den regelgeschossen das Potenzial in sich, durch zusammenlegung zweier kleinwohnungen eine größere, durchgesteckte Wohnung zu ermöglichen. so konnte mit den bestehenden strukturen eine Diversifizierung, d.h. eine verbreiterung des Wohnungsspiegels, erreicht werden. aus dieser erkenntnis heraus wurde die grundstruktur im Wesentlichen so belassen.

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so konnte mit den bestehenden strukturen eine Diversifizierung, d.h. eine verbreiterung des Wohnungsspiegels, erreicht werden. ʹ

gab es eine spezifische strategie, die sich auch auf andere gebäude anwenden ließe? Welche eingriffe sind beispielhaft für andere Projekte? Die strategie ist, im sinne eines suffizienʶ ten verhaltens zu handeln, d.h. mittels intelligentem und zurückhaltendem einsatz von ressourcen und der konzentration auf qualität statt quantität. Dies bedeutet, an zu sanierenden gebäuden nur sanierungsmaßnahmen anzugehen, welche erforderlich sind, um den gebäuden eine nächste generation von Wohnen zu ermöglichen. Das heißt, nach einer detaillierten analyse der Bauherrschaft und der architekten muss festgelegt werden, welche maßnahmen getroffen werden müssen, um die vermietbarkeit über die nächsten jahrzehnte sicherzustellen. auch die neu zu erzielende miete wurde unter diesen aspekten definiert. Die genaue analyse der bestehenden Wohnungsgrundrisse deckte einfache Wege zur umstrukturierung der Wohnungen auf. Beispielhaft ist bei diesem Projekt, wie mit teilweise kleinen eingriffen in die gebäudestruktur der Wohnungsspiegel einer liegenschaft verbessert und die Wohnungen in ihren inneren formen wesentlich attraktiver gemacht werden konnten. Wichtig ist die konzentration auf die räumliche steigerung der Wohnqualität und weniger auf die steigerung des ausbaustandards. Die oberflächen und materialien im innenausbau wurden teilweise belassen und restauriert, wie zum Beispiel die Bodenplatten im treppenhaus. Die küchen- und Badausbauten wurden mit einfachsten normstandards und materialien ausgestattet. Die bestehende tiefgarage wurde nur mit den nötigsten maßnahmen saniert und durch partielle farbgebung optisch etwas aufgewertet. auch die außenraumgestaltung der ganzen siedlung wurde nur mit bescheidenen punktuellen interventionen des landschaftsarchitekten ergänzt. → 81

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WohnquAlität duRch optimieRung und Suffizienz

⑥ uetliBergstrasse / frauentalWeg Durchgesteckte Wohnungen arChitekten beat rothen architektur gmbh, dipl. architekt eth sia bsa, Winterthur ProjektteaM arChitektUr beat rothen, Lars reinhardt, thomas Fluck, Pit brunner Lage Uetlibergstrasse / Frauentalweg, 8045 zürich, schweiz baUjahr 1968 UMbaU 2013–2014 nUtzFLäChe 5.673 m² brUttogrUndFLäChe / gesaMt 7.561 m² eigentüMerstrUktUr / baUherr Pensionskasse schweizerische rückversicherungsgesellschaft (swiss re) baUkosten 9.716.524 ChF inkl. Mwst. kosten baUMassnahMe Pro M² / WohnFLäChe 2.488 ChF/ m²

➊ Die neue farbgebung und die erweiterten Balkonflächen prägen die außenansicht nach dem umbau.



Beat Rothen Architektur

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WohnquAlität duRch optimieRung und Suffizienz

Beat Rothen Architektur



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➋ in den regelgeschossen in der uetlibergstrasse wurden jeweils eine 2-zimmer-Wohnung und eine 1,5-zimmer-Wohnung zusammengelegt. Die daraus resultierenden, durchgesteckten 4,5-zimmer-Wohnungen wurden im haus c als fließende raumtypologien mit zwei

abschließbaren zimmern und im haus D mit abschließbarem Wohnzimmer als möglichem drittem schlafzimmer ausgeführt. ➌ Die Dachgeschosswohnung im 6. og wird direkt über den aufzug oder über das 5. og erschlossen, wodurch die treppe der Wohnung

zugeschaltet und der eingangsbereich vergrößert wurde. zuvor gab es nur ein abschließbares zimmer. nach dem eingriff ist auch der raum neben der Wohnküche optional abschließbar. ➍ Der erweiterte Balkon mit einfachem glasdetail

➎ Der neu gestaltete eingang in das haus D in der uetlibergstrasse ➏ terrasse mit Blick auf das sanierte gebäude am frauentalweg

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WohnquAlität duRch optimieRung und Suffizienz



➐ Wohnküche im Dachgeschoss mit Blick auf die terrasse. Die oberflächen und materialien wurden teilweise belassen und restauriert, wie hier der kaminbereich. ➑ küche in der 2,5-zimmer-Wohnung im ersten obergeschoss in der uetlibergstrasse. Die küchen- und Badausbauten wurden mit einfachsten normstandards und materialien ausgestattet.



Beat Rothen Architektur

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Die genaue analyse der bestehenden Wohnungsgrundrisse deckte einfache Wege zur umstrukturierung der Wohnungen auf. ʹ

Durch welchen eingriff ist in ihren augen eine wesentliche verbesserung der Wohnstruktur erreicht worden? Die Wohnungsgrundrisse waren vor der sanieʶ rung zellenartig abgeschlossen mit einem kleinen entrée. Die Wohnungen konnten nicht in ihrer tiefe und Dimension erlebt werden. im zuge einer grundrissoptimierung wurden zwei kleine Wohnungen zu einer großen Wohnung zusammengelegt. Der neue Wohn- und essbereich erstreckt sich über die ganze tiefe des hauses, offene nischen und verzweigungen erzeugen ein großzügiges raumerlebnis. zudem war der Balkon der Wohnungen zu klein bemessen und trug wenig zur Wohnqualität bei. mit der vergrößerung der Balkone wurde der vormals intime und schmale außenraum wesentlich erweitert – es wurde dadurch ein stärkerer Bezug zum öffentlichen stadtraum geschaffen und somit ausblick und Weitsicht neu inszeniert. Die neue farbgebung lässt zudem den außenraum nach innen wirken. Die öffentlichen teilbereiche der Wohnungsgrundrisse sind nach der sanierung fließender und scheinen größer als vorher. zudem bieten sie nun einen gut nutzbaren außenraum mit einer neuen aufenthaltsqualität an. Welche Wohnmodelle hat das gebäude für welche Bewohnergruppen geschaffen? können sie generelle aussagen darüber treffen, wie das Wohnen heute funktioniert? Durch die Diversifizierung des Wohnungsʶ spiegels mit größeren Wohnungen werden nach der sanierung unterschiedlichste Wohnmodelle ermöglicht, welche von viel breiteren Bewohnergruppen genutzt werden können. zum Beispiel wurden die größeren durchgesteckten Wohnungen in zwei typologien ausgeführt: eine fließende, offene Wohntypologie, in der die tiefe der Wohnung erlebt werden kann, jeweils mit zwei abschließbaren zimmern sowie eine typologie, in der das Wohnzimmer auch abschließbar und zum dritten zimmer wird. Diese Wohnform ermöglicht auch Wohnen in ʹ

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gemeinschaften oder andere formen des zusammenlebens und ist nicht auf die traditionelle kernfamilie mit kindern beschränkt. es wird ermöglicht, den Wohnungsgrundriss ökonomischer zu nutzen, das heißt, die Personenbelegung pro Wohnung zu erhöhen. Die küche mit dem esstisch wird dann zum zentrum der Wohnung mit einem zweiten angrenzenden Balkon als außenraum. Durch die farbgebung und die materialität im inneren der Wohnung und der fassade wird eine höhere Wertigkeit erreicht, die das gebäude auch auf die umgebung ausstrahlt. somit konnte mit wenigen sanierungsmaßnahmen eine aufwertung für das gesamte quartier realisiert werden, wodurch es auch für breitere Bewohnergruppen attraktiver wurde. gab es während der umsetzung herausforderungen / Probleme, die sie produktiv umdeuten konnten? Die ertüchtigung der bestehenden struktur ʶ auf erdbebensicherheit gemäß vorgabe der Bauherrschaft war sehr aufwändig zu erfüllen. als rückversicherer ist es für die swiss re selbstverständlich, erhöhte anforderungen in Bezug auf die erdbebensicherheit bei ihren eigenen liegenschaften einzuhalten. Die maßnahmen mussten mit dem Bauingenieur so ausgeführt und bemessen werden, dass sie die Wohnqualität nicht reduzierten. Die statischen verstärkungen mussten auch räumlich für die Wohnungen sinnvoll sein, die nutzflächen der Wohnungen durften nicht zu stark reduziert werden und zugleich musste alles im rahmen der gesamtbaukosten vertretbar bleiben. Die herausforderung bestand darin, die lage der erdbebenverstärkungen, die nach ingenieur-technischen erfordernissen positioniert wurden, in einklang mit dem raumsystem der Wohnungen zu bringen. ʹ

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intervieW mit anne lacaton

Das Pariser Büro lacaton & vassal arbeitet an mehreren Programmen des städtebaus und des öffentlichen Wohnungsbaus mit. alle Projekte basieren auf den grundsätzen von großzügigkeit, Wirtschaftlichkeit und der nutzung von vorhandenem unter gleichzeitiger verbesserung und veränderung der standards. vorrangiges ziel ist der komfort der Bewohner und die optimale lebensdauer der gebäude. Das Büro frédéric Druot architecture in Paris wurde 1992 gegründet. Das Büro konzentriert sich auf Wohnungsbauprojekte und städtebau. zentrale anliegen sind die themen kontext, größen- und kosteneffektivität in neuen und bestehenden gebäuden. Die beiden unabhängigen Büros arbeiteten bei der umgestaltung von nachkriegswohnungsbauprojekten wie tour Bois le Prêtre, Paris, und cité du grand Parc, Bordeaux, zusammen.

➊ außenansicht, cité du grand Parc, Bordeaux

lacaton & vassal – Druot

geBäuDe von innen Betrachten eine neue haltung zur transformation

⑦ toUr bois Le Prêtre die räumliche Ummantelung

⑧ 530 Wohneinheiten in der Cité dU grand ParC die thermische raumschicht



⑨ hoChhaUssCheibe C die studie

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im jahre 2004 leiteten sie mit ihrer untersuchung PLUS 1 eine neue vorgehensweise im umgang mit dem Bestand der nachkriegszeit ein. nach ihrer untersuchung setzten sie diese strategie bei der umgestaltung der tour Bois le Prêtre2 in Paris (2011), bei la chesnaie in saint-nazaire (2014) und bei der cité du grand Parc3 in Bordeaux (2016) um. kürzlich haben sie eine studie für einen der fünf hochhausblocks im zentrum von halle-neustadt durchgeführt. Was war die hauptintention ihrer untersuchung PLUS und wie manifestierte sich darin die nutzung durch den mieter? Wir begannen mit unserer allgemeinen vorstelʶ lung davon, was ein Wohnraum ist, was Wohnen sein sollte. als wir damals neue Wohnhäuser entwarfen, schlugen wir eine radikale änderung architektonischer normen vor, d.h. doppelt so große Wohnbereiche, zusätzlichen raum und größere freiheit der Bewohner. als wir uns dann mit der frage der renovierung beschäftigten, stellten wir fest, dass auch die bestehenden gebäude auf den gleichen standard besserer Wohnräume gebracht werden sollten. in der studie PLUS griffen wir diese ideen auf und entwickelten sie weiter. ursprünglich war PLUS eine reaktion auf die abrissstrategie des staates und das bloße setzen auf den neubau staatlich geförderter sozialwohnungen. Wir waren überzeugt, dass die vielen abrisse ein fehler wären, und versuchten zu beweisen, dass ein alternativer umbau in Bezug auf nachhaltigkeit, technische fragen, einschließlich der frage der energieeffizienz, Brandschutz, Barrierefreiheit, aber vor allem zur schaffung verbesserter Wohnverhältnisse besser wäre. und auf Dauer ist der umbau kostengünstiger als abriss und neubau. nachdem wir unser erstes Wohnungsbauprojekt realisiert hatten, beobachteten wir, dass die vergrößerung des Wohnbereichs das leben der menschen tatsächlich veränderte. so beschlossen wir, dieselbe großzügigkeit beim umbau von sozialwohnungen walten zu lassen. Die äußere form ist uns egal – ob hochhausscheibe, Wohnturm oder irgendein anderer gebäudetyp – wir gehen die frage vom gebäudeinneren her an. am wichtigsten ist für uns die verbesserung von qualität und komfort der räume. Wir sehen genau hin, um festzustellen, was gut funktioniert und was fehlt, und handeln entsprechend danach. Die Wohnungen sind meistens zu klein und abgeschlossen. oft mangelt es – abgesehen von technischen Problemen – an raum, licht und freizügigkeit. im allgemeinen haben die Druot, frédéric; lacaton, anne; vassal, jean-Philippe. PLUS – Les grands ensembles de logements – territoires d’exception. Barcelona: editorial gustavo gili sl, 2007. 1

architekten: Druot, lacaton & vassal 3 architekten: lacaton & vassal, Druot, hutin 2

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Wir glauben, dass jeder eingriff, jede finanzielle investition auch den Wohnraum verbessern und ihn auf einen höheren standard bringen muss. modernen häuserblocks, mit denen wir es zu tun haben, das Potenzial zur schaffung dieser drei elemente. gleichzeitig muss heute die thermische qualität der gebäude verbessert werden, aber wir glauben, dass es nicht genug ist, dies auf eine technische frage zu reduzieren. Wir glauben, dass jeder eingriff, jede finanzielle investition auch den Wohnraum verbessern und ihn auf einen höheren standard bringen muss. indem wir eine zusätzliche raumschicht, eine zweite gebäudehülle hinzufügen, sorgen wir für zusätzlichen Wohnraum, mehr licht, mehr offenheit und bessere sichtverhältnisse. Wir passen das gebäude auch den vorschriften zum niedrigeren energieverbrauch an. Wir sprechen also von vielfältigen vorteilen, an erster stelle aber steht die radikale verbesserung der lebensqualität der Bewohner. unsere Beobachtungen haben sich ständig bestätigt: Betrachtet man fotos derselben räume vor und nach der renovierung, sind die unterschiedliche raumnutzung, möblierung und auch Dekoration erstaunlich. Die untersuchung in halle-neustadt war eine fortsetzung unserer früheren Projekte. auftraggeber ist das Kompetenzzentrum Stadtumbau – ein forschungszentrum in sachsen-anhalt, das sich mit der renovierung und dem umbau von halle-neustadt befasst. man kannte unsere studie PLUS und war an unserer erfahrung mit dem umbau von sozialwohnungen wie dem Projekt in Paris interessiert. man beauftragte uns mit der untersuchung eines der fünf achtzehngeschossigen Wohnblocks, der sogenannten hochhausscheibe c, welche bereits seit vielen jahren leer stand. Die untersuchung in halle-neustadt kann sich auf eine reihe durchgeführter Projekte stützen. Wir können diese und den dokumentierten umbau von Wohnbereichen zeigen, um eine vorstellung davon zu vermitteln, wie die apartments nach unserem eingriff genutzt werden. Wir haben auch erfahrung mit allen → 95 technischen und finanziellen einzelheiten.

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⑦ tour Bois le Prêtre Die räumliche ummantelung arChitekten Frédéric druot, anne Lacaton & jean-Philippe vassal Lage 17. arrondissement, Paris, Frankreich baUjahr 1964 UMbaU 2009–2011 eigentüMerstrUktUr / baUherr Paris habitat, soziale Wohnungsbaugesellschaft der stadt Paris organisationsModeLL Mietshaus nUtzFLäChe bestand: 5.014 m² Umgebautes gebäude: 7.565 m² brUttogrUndFLäChe / gesaMt bestand: 8.900 m² Umgebautes gebäude: 12.460 m² anzahL der Wohneinheiten 100 Wohneinheiten baUkosten (gesaMt) 11.250.000 euro netto



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➋–➍ Die bewohnte erweiterungsschicht ➎ Der reguläre grundriss nach der sanierung ➏ Das erweiterungskonzept, das zuerst im tour Bois le Prêtre realisiert wurde

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⑧ 530 Wohneinheiten in Der cité Du granD Parc Die thermische raumschicht arChitekten anne Lacaton & jean-Philippe Vassal, Frédéric druot, Christophe hutin Lage bordeaux, Frankreich baUjahr 1960er-jahre UMbaU 2014–2016 eigentüMerstrUktUr / baUherr aquitanis, soziale Wohnungsbaugesellschaft der stadt bordeaux organisationsModeLL Mietshaus nUtzFLäChe bestand: 33.095 m² Umgebaute gebäude: 36.724 m² + 16.032 m² Wintergärten brUttogrUndFLäChe / gesaMt bestand: 44.210 m² Umgebaute gebäude: 67.717 m² anzahL der Wohneinheiten 530 + 8 Wohneinheiten baUkosten 27.200.000 euro netto



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➋ Detailansicht, fassade nach der sanierung ➌ axonometrische ansicht des regulären grundrisses nach der sanierung ➍–➏ eindrücke nach der sanierung



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⑨ hochhausscheiBe c Die studie arChitekten anne Lacaton & jean-Philippe vassal, jeanne-Françoise Fischer Lage zentrum, halle-neustadt, deutschland baUjahr 1970–1975 stUdie 2015 aUFtraggeber kompetenzzentrum stadtumbau – saLeg; sachsen anhaltische Landensentwicklungsgesellschaft mbh, Magdeburg nUtzFLäChe bestand: 11.091 m² Projekt: 14.393 m² + 4.216 m² Wintergärten nettogrUndFLäChe bestand: 14.850 m² Projekt: 22.660 m² 120 Wohnungen: 10.336 m² + 4.216 m² Wintergärten baUkosten schätzung: 14.663.500 euro netto 120 Wohnungen: 10.880.000 euro netto

➊ rendering, hochhausscheibe c im zentrum von halle-neustadt



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➋ option 2 mit einer 3,6 m-erweiterung und umgestaltetem innenraum ➌ Der querschnitt durch die bestehende struktur zeigt die fehlenden Balkone im 7. und 14. stock, die in der zweiten sanierungsvariante als Duplex-apartments mit zweigeschossigen Wintergärten benutzt werden würden. ➍ option 1 der vorgeschlagenen sanierungsstrategie sieht den ersatz der fassade und Balkone durch neue glaselemente sowie die umgestaltung des grundrisses vor.

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in welchem baulichen zustand haben sie die hochhausscheibe c zu Beginn der untersuchung vorgefunden? ʶ mit dem baulichen zustand gibt es keine Probleme: Das gebäude ist solide und voll funktionsfähig. zusätzlich haben wir einen ingenieur konsultiert, der diese gebäude gut kannte, um uns über alle möglichkeiten zu informieren, die es für bauliche veränderungen gibt. Der Baukörper ist stabil, aber sehr starr, da er auf einem Wandraster von 3,60 metern beruht. einer der vorteile der zusätzlichen schicht, die wir in der studie vorschlagen, ist der, dass dadurch die räume verbunden werden, so dass es nicht notwendig ist, viele innenwände zu verlegen oder zu beseitigen. so vermeiden wir komplexe und kostenintensive Probleme mit der statik. Die erweiterungen sorgen außerdem für mehr Platz und bieten lösungen für die gebäudefassaden. sie erlauben auch die lösung des Brandschutzproblems, aber auch anderer, eher funktionaler aspekte innerhalb der bestehenden Wohnblocks. Das gebäude war ursprünglich ein Wohnheim für studenten und arbeiter, es waren keine familienapartments vorhanden. von daher handelte es sich bei den Wohnungen um besondere Wohntypen: sie enthielten jeweils vier zimmer und ein gemeinsames Bad. folglich ist der grundriss sehr starr. unser vorschlag war die bezahlbare umwandlung in guten Wohnraum. Darum berücksichtigten wir die idee der erweiterung nach den gleichen grundzügen wie in Bordeaux. es war hier jedoch einfacher, weil die fassaden nicht tragend sind, sondern Platten, die sich entfernen lassen. auf diese art und Weise konnten wir die vorhandenen strukturen öffnen und eine neue schicht hinzufügen.

in halle-neustadt haben sie die bestehenden Wohnungsgrundrisse verändert. Das ist anders als bei früheren Projekten, wo ihre hauptaufgabe die erweiterung des vorhandenen raums war. im fall von halle-neustadt scheint es, dass das Projekt noch eine andere, typologische funktion hatte. ist das eine Weiterentwicklung ihres früheren ansatzes? ja, das ist es. aber es hängt eben auch stark ʶ vom unterschiedlichen kontext und den unterschiedlichen gebäudesituationen ab. Die Projekte sind immer ein ergebnis genauer Beobachtung, analyse, inventur der möglichkeiten des vorhandenen raums oder seines Potenzials. einerseits stehen wir vor der frage der verbesserung von räumen und Wohnqualität, andererseits werden wir immer mit unterschiedlichen räumlichen umständen frequentiert. Was die Wohnungstypen betrifft, ist halle ein sonderfall. Die Wohnungstypen in den anderen Projekten betrafen gebäude, die eindeutig für familien ʹ

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entworfen waren. Weiterhin blieben die Bewohner in Paris und Bordeaux während der Bauarbeiten in ihren Wohnungen. so behielten wir den grundriss bei, wir fügten nur eine schicht, wie z.B. einen garten, hinzu, weil es weder notwendig noch möglich war, die grundrisse zu ändern. im falle von halle-neustadt steht das gebäude leer, so dass wir die erweiterung benutzen können, um die vorhandenen typologien zu ändern und neue zu schaffen. in den verschiedenen optionen der untersuchung stellten wir fest, dass mehrere ansätze möglich sein würden – von kleinen zu größeren Wohnungen, einige besondere fälle am südostende, wo eine erweiterung der gebäudeecke und auch Duplex-apartments möglich sind. es war nicht möglich, große räume zu schaffen, weil jede zelle auf 20 quadratmeter begrenzt ist. Dies wird jedoch durch den erweiterten raum kompensiert, der auf jedem geschoss eine große offene fläche hinzufügt. Die verbindung dieser zwei verschiedenen raumarten – die vorhandenen zellen und die große erweiterung – schafft viel mehr innovative typologien als in neu errichteten Wohngebäuden, die nach heutigen konventionellen standards erstellt wurden. Welcher eingriff führte ihrer meinung nach zu einer wesentlichen verbesserung der Wohnungsstruktur? Welcher eingriff schuf eine neue typologie? Wir wollten die vorhandene struktur der Wände ʶ nutzen, das ist interessanter. zu viele änderungen sind teuer, und wir geben das Budget lieber für neuen, zusätzlichen raum aus. Die eingriffe in die vorhandene struktur sind minimal, und die erweiterung ist eine um das ganze gebäude herum auf jedem geschoss errichtete 4 meter breite ebene. Die Basisgrundrisse mit zwei zimmern beinhalten vier der 20-quadratmeter-module (zwei für die schlafzimmer, zwei für Wohnzimmer und küche), hinzu kommt der zusätzliche raum von 4 metern auf der frontseite, der die vier module miteinander verbindet. zwei varianten wurden vorgeschlagen. in option 1 schafft der grundriss mit zwei schlafzimmern auf jeder seite des apartments und Wohnzimmer und küche in der mitte zwei unabhängige private einheiten mit jeweils einem Bad, und gleichzeitig wird die äußere verbindung zwischen Wohnzimmer und küche unterbrochen (grundriss). Bei jedem zweiten modul erstreckt sich die schotte bis zur gebäudekante und trennt dadurch das erste schlaf- und das Wohnzimmer von der küche und dem zweiten schlafzimmer. es schafft, kurz gesagt, zwei gleiche einheiten in einer Wohnung. auf der anderen seite des gebäudes finden wir eine klassischere form. Die zwei schlafzimmer befinden sich auf einer seite und belegen zwei module, Wohnzimmer und ʹ

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küche die anderen beiden. hier sind Wohnzimmer und küche außen verbunden und von den beiden schlafzimmern getrennt. Diese trennung zwischen gemeinschaftsräumen und im grunde privaten räumen ist im Wohnungsbau üblicher. Beide optionen schaffen räumliche konfigurationen, die bei einem neubau nicht möglich wären. Dies ist einer der vorteile des umbaus bestehender gebäude. er erlaubt lösungen, die für gewöhnlich nicht möglich sind. Wir schlugen auch Duplex-apartments auf zwei spezifischen geschossen des gebäudes vor: Das bestehende gebäude hatte im fünften und zwölften geschoss keine Balkone. Wir wissen nicht, warum das so war, aber es ist eine unregelmäßigkeit, die das Potenzial für etwas neues barg: in option 2 (querschnitt) schlugen wir die Duplex-apartments auf eben diesen geschossen vor – d.h. auf dem vierten / fünften sowie auf dem elften / zwölften geschoss – wodurch ein zweigeschossiger Wintergarten entstand. Welche Wohnmodelle für welche Bewohnergruppen schuf das gebäude? ʶ generell war es wichtig, offene möglichkeiten für mehrere formen zu schaffen, die es unterschiedlichen Bewohnertypen erlaubten, dort zu leben. in so großen gebäuden mit fast 100 Wohnungen ist es wichtig, typologien zu schaffen, die viele unterschiedliche arten von haushalten aufnehmen können. außer den verschiedenen einheiten für familien gibt es auch einzimmer-apartments für studenten oder ältere menschen. eine weitere option wären Wohnungen für senioren mit gemeinschaftsräumen im erdgeschoss oder im ersten stock. Diese möglichkeiten wollen wir bewusst offen halten und so verschiedenen Bewohnern nutzungsfreiheit geben, d.h. nicht im vorfeld entscheiden, ob eine Wohnung für familien oder für junge menschen vorgesehen ist. ʹ

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kehren wir noch einmal zu ihrem grundkonzept und zu ihren früheren Projekten zurück: oft ging es darum, die Bewohnerschaft im gebäude zu halten. Wie haben sie dieses ziel bei den früheren Projekten erreicht? ʶ Das ist in der tat unser ziel: Die vorhandenen Bewohner sollen im gebäude bleiben, ja sie sollen es sein, die in erster linie von den umbauten profitieren. Wenn wir im sozialen Wohnungsbau arbeiten, haben wir es mit menschen mit unterschiedlichem, auch mit niedrigem einkommen zu tun. Wir engagieren uns für die Bewahrung der sozialen mischung in den gebäuden. und wir glauben, dass die schaffung besseren Wohnraums keinen anlass für gentrifizierung bieten sollte. Darum halten wir es für wichtig, diese Projekte von innen anzugehen. mit einem solchen ansatz denken wir zuerst an die Bewohner und nicht nur an das

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gebäude. von innen betrachtet ist die situation vollkommen anders, weil wir vor keinem großen gebäude stehen, sondern vor vielen kleinen Wohnungen, vielen individuen. Wenn wir die menschen treffen, fühlen wir uns ihnen verpflichtet. Die situation drinnen ist für uns also immer sehr wichtig, denn es sind die menschen, die dem gebäude und seinen Wohnungen einen Wert geben. Wie auch immer die lebenssituation ist, was immer das einkommen, wie immer das gebäude aussieht – der innenraum ist sehr privat. Die Bewohner sind stolz darauf, ihr leben wird dort an den Wänden und durch die einrichtung zur schau gestellt. Wir fühlten uns sehr eingebunden, wenn die leute uns ihre habe zeigten und wir sahen, mit welcher sorgfalt sie die räume dekorierten. nach diesen Besuchen in früheren Projekten wuchs unsere entschlossenheit, all dies zu bewahren. in der tat ist die erweiterung das beste verfahren, um innen so wenig wie möglich zu verändern. ʹ

ließen sie ihre Beobachtungen, wie Bewohner den vorhandenen raum nutzen, das Potenzial der bestehenden gebäude erkennen? ʶ eine sorgfältige Beobachtung, mit positivem Blick, aufmerksamkeit und respekt für die menschen, frei von vorurteilen ist wichtig. viele menschen sind wirklich brillant darin, Dingen Wert zu geben, die andere als wertlos ansehen würden. menschen sehen sich beim einzug langweiligen, gewöhnlichen räumen gegenüber, und doch schaffen sie es, das apartment zu individualisieren und ihm eine einzigartige qualität zu verleihen. Dies ist etwas, das wir nicht aufgeben möchten; unser ziel ist es, der Wirkung, die die menschen selbst erzeugten, ihren anstrengungen, ihren qualitäten etwas hinzuzufügen. in anbetracht des vorhandenen raums und dessen, was die menschen in der lage waren damit zu tun, versuchten wir lediglich, diese aspekte zu bewahren und etwas zusätzliches einzubringen, im vollen Bewusstsein der tatsache, dass die menschen in der lage sein werden, auch aus dem von uns neu geschaffenen raum wieder etwas zu machen. Der kern des Projekts ist der glaube an die fähigkeit von menschen, Dinge selbst in die hand zu nehmen. ʹ

mussten sie die französischen Behörden erst davon überzeugen, dass diese Bauten überhaupt ein Potenzial besitzen? ʶ es war in der tat so, dass PLUS nicht sehr gut aufgenommen wurde, weil es der renovierungsund abrisspolitik in frankreich entgegenstand. Die schwierigste aufgabe ist die Überzeugungsarbeit, dass die Wohnbauten der moderne ein Potenzial haben. sie werden generell in einem negativen licht gesehen. und wenn man etwas negativ betrachtet, beobachtet man schlecht und verkennt die

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in der tat ist die erweiterung das beste verfahren, um innen so wenig wie möglich zu verändern. Potenziale. Wir hingegen starteten mit einer positiven haltung und konnten so Potenziale und neue lösungen finden. abgesehen von dem negativen image: Welche rolle spielt die renovierungspraxis der Wohnungsbaugesellschaften? in der regel konzentrieren sie sich auf neue fassadenverkleidung, Dämmung etc. ʶ eigentümer tendieren generell zu einer standardrenovierung, d.h. zu technischen eingriffen, die den inhärenten Wert der Wohnungen nicht verbessern. im gegenteil, sie reduzieren oft die qualität der inneneinrichtung, zum Beispiel durch reduzierung der verglasung und damit der Belichtung. Weiterhin sind standardeingriffe kurzsichtig. zahlreiche gebäude, die vor zwanzig jahren gedämmt und neu verkleidet wurden, benötigen schon wieder eine neue fassade. es ist offensichtlich, dass dies ein falscher renovierungsansatz ist. man sollte hier ehrgeiziger sein. es gibt so viel bessere, intelligentere Wege als den der Dämmung, um ein gebäude energieeffizient und nachhaltig zu machen. nachhaltigkeit hat auch damit zu tun, dass geld für etwas ausgegeben wird, das länger vorhält und von größerem nutzen ist. eine verbesserte Dämmung und somit energieeinsparung werden durch die von uns ausgeführten umbauten perfekt erreicht, und es entsteht zusätzlich noch mehr raum und eine verbesserte Wohnqualität. gleichzeitig sind sie günstiger. Beim Projekt in Bordeaux beispielsweise kostet der umbau jeder Wohnung 45.000 euro. eine grundrenovierung mit volldämmung, neuen fenstern, aufzügen usw. kostet zum vergleich etwa 25.000 bis 30.000 euro. Der unterschied ist sehr gering, wenn man bedenkt, dass man im ersteren fall ein neues gebäude mit verbesserten Wohnungen schafft. Warum also beschränkt sich die große mehrheit der renovierungen auf technische eingriffe? ich glaube, das Problem ist nicht rein wirtschaftlicher natur. es ist vielmehr eine frage der großzügigkeit und des Widerstands gegen die änderung gängiger Praktiken. ʹ

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es gibt auch noch das Problem der vergabe staatlicher förderprogramme für renovierungen und ihre vorschriften, die oft neue ansätze und neuerungen verhindern. Wie funktioniert dies im französischen umfeld? in frankreich wurde das nationale renovieʶ rungsprogramm im sozialen Wohnungsbau anfang der 2000er-jahre eingeführt. Darin war der abriss und neubau von rund 150.000 Wohnungen und die renovierung von ca. 250.000 Wohnungen vorgesehen. einerseits konnte die regierung zuschüsse von 15.000 bis 18.000 euro pro Wohnung zur Durchführung kleinerer renovierungen wie der hinzufügung von Dämmung oder der instandsetzung von technischen einrichtungen gewähren, andererseits waren 150.000 bis 180.000 euro pro Wohnung für abriss und neubau vorgesehen. außer diesen beiden optionen gab es keine weiteren zuschüsse. in unserer PLUS-studie untersuchten wir die frage der wirtschaftlichen nachhaltigkeit sehr sorgfältig. so stellten wir fest, dass es für etwa 50.000 euro pro Wohneinheit möglich ist, eine Wohnung und die gemeinschaftsflächen ohne umzug der Bewohner radikal umzubauen und zu renovieren. nun, das ist ungefähr ein Drittel der für den abriss bewilligten zuschüsse. für den Betrag, der in frankreich für abriss und neubau von 100.000 apartments ausgegeben wurde, hätte man 300.000 bestehende Wohnungen umbauen können. so bestimmt die Politik schließlich den Prozess mit sehr realen auswirkungen. es ist nicht klar, warum unsere haltung, PLUS, nicht berücksichtigt oder weiterentwickelt wurde. vielleicht wird allgemein davon ausgegangen, dass die Basiswohnung ausreichend ist; dass es einfach nicht nötig ist, mehr zu tun. aber das sehen wir ganz anders: Wir glauben, dass die verbesserung der Wohnverhältnisse, dass mehr Platz, mehr licht und mehr freizügigkeit das Wichtigste ist. Die menschen sollten frei sein, diese drei elemente so zu nutzen, wie sie es für richtig halten. Wohnen ist ein zentrales element im leben aller menschen, und sie erwarten mehr, als nur die mindeststandards zur verfügung gestellt zu bekommen.

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intervieW mit anDreas rumPfhuBer

Dr. andreas rumpfhuber ist architekt und architekturtheoretiker mit arbeitsschwerpunkt neue formen der arbeit und des Wohnens. 2012 gründung des Büros „expanded Design“. vertretungsprofessuren an der akademie der bildenden künste in stuttgart (2015 / 16) und an der muthesius kunsthochschule kiel (2013 / 14), autor der Bücher Architektur immaterieller Arbeit (2013), the Design of Scarcity (2014), modelling Vienna, Real Fictions in Social Housing (2015).

➊ grünanlage in der Wiener großwohnanlage siebenbürgenstraße, Wien 22

andreas rumpfhuber, expanded Design

Wunschmaschine Wohnanlage Wohnen und arbeiten neu denken

46 grossWohnanLagen der geMeinde Wien studie zur funktionalen nachverdichtung



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mit welcher Bausubstanz beschäftigen sie sich, und in welchem zustand befinden sich die gebäude? ʶ Die studie1 umfasst 46 großwohnanlagen mit jeweils mehr als 500 Wohneinheiten, die sich im eigentum der stadt Wien befinden. sie sind zwischen 1950 und 1980 errichtet worden. zusammengenommen handelt es sich um rund 50.000 gemeindebauwohnungen, das entspricht einem viertel aller gemeindebauwohnungen Wiens. Die anlagen sind auf das ganze stadtgebiet verteilt, viele davon wurden jedoch an den rändern im süden und osten der stadt errichtet. in Wien wurde damals die moderne ideologie der funktionalen ausdifferenzierung in der variante von roland rainers Buch Die gegliederte und aufgelockerte Stadt2 umgesetzt. etliche der anlagen basieren immerhin auf seinem städtebaulichen entwurf, wurden dann aber höher gebaut, als er dies vorgesehen hatte. Über die zeit hinweg unterlagen die großwohnanlagen einer ständigen veränderung, adaption und Weiterentwicklung, die sich unter anderem in den bautechnischen möglichkeiten des fertigteilbaus, der ökonomie der erschließung von neubaugebieten und insbesondere in der absorbierung von kritik nachzeichnen lassen. Die strukturen der nachkriegsbauten mit ihrer niedrigen Bebauung und einer traditionellen erscheinung werden mit dem einsetzen des Betonfertigteilbaus durch den zeilenbau ersetzt. Der wiederum entwickelt sich zu mäandernden strukturen und camoufliert zunehmend seine Produktionsweise. typologisch betrachtet sind es fast ausschließlich aneinandergereihte Punkthäuser mit zwei- und Dreispännererschließung. Das monofunktionale Programm der Wohnanlagen ist gleichzeitig enorm robust. Der verteilungsschlüssel von Wohnungstyp a (max. 40 quadratmeter), B (max. 55 quadratmeter), c (max. 70 quadratmeter) und D (max. 80 quadratmeter) verändert sich minimal. gemeinschaftliche sonderfunktionen, wie sie noch im zwischenkriegswohnbau der stadt Wien eine wichtige rolle für die kollektivierung gespielt haben, sind kaum zu finden. Die Wohnanlagen sind gebaute Bilder der vorstellung von reproduktion in der Wohlfahrtsgesellschaft vis-à-vis der industrie, der Produktion, der administration und dem handel. mein argument ist, dass die großwohnanlagen keinen sonderfall der Wohnungsfrage darstellen, den es als solchen zu problematisieren gilt. Die großwohnanlagen sind in eine rumpfhuber, andreas. Wunschmaschine Wohnbau. Wien: sonderzahl, 2016. 2 göderitz, johannes; rainer, roland; hoffmann, hubert. Die gegliederte und aufgelockerte Stadt. tübingen: ernst Wasmuth, 1957. 3 Die seestadt aspern ist ein seit 2009 in Bau befindlicher stadtteil 1

von Wien. Bis 2028 soll das gesamte areal in drei etappen entwickelt und bebaut werden. 4 Die studie wurde ende mai 2016 – nach Beendigung der redaktionellen arbeit an dieser Publikation – fertiggestellt.

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genealogie der funktionalen ausdifferenzierung eingeschrieben, die sich seit der industriellen revolution im 19. jahrhundert herausgebildet hat. sie exemplifizieren in diesem sinne nur das sozial-liberale Paradigma des Wohlfahrtstaats, das wesentlich auf Wachstumsökonomie und automatisierung basierte, Wohnraum für alle bereitstellen wollte und die freizeitgesellschaft in aussicht stellte. Die städtebauliche Doktrin dieser zeit folgte der funktionalen trennung von arbeit und Wohnen, wie sie in der Charta von Athen (1943) formuliert war. eine evaluierung und revision durch ein Weiterbauen der großwohnanlagen muss gerade an jener funktionalen trennung ansetzen. für unsere heutige situation sind die großwohnanlagen gerade in ihrem verhältnis oder eben nicht-verhältnis zur arbeit extrem wichtig zu verstehen. zeitgenössische stadtquartiersentwicklungen, wie wir sie in Wien in der seestadt aspern3 beobachten können, ähneln immer noch dem Programm der monofunktionalen großwohnanlagen. gleichzeitig bieten die großwohnanlagen der nachkriegszeit eine enorme ressource für eine nachhaltige stadtentwicklung. signifikant für alle anlagen sind die geringe Dichte und die eigentumsverhältnisse. zum einen ist es also der luxus von freiraum: Die geschossflächenzahl (gfz) des großteils der Wiener großwohnanlagen bewegt sich zwischen 0,5 und 0,8, selten wird eine gfz von über eins erreicht, nur zwei anlagen haben eine gfz von über zwei. zeitgenössische stadtquartiere im geförderten Wiener Wohnungsbau werden zum vergleich meist mit einer gfz von 2,1 bis 2,4 errichtet. es besteht also ein Potenzial für die nachverdichtung. zum anderen sind es die klaren eigentumsverhältnisse, die die anlagen für eine entwicklung qualifizieren: Die derzeit entstehenden kooperativen, indes exklusiven modelle aus solidarischen landwirtschaftsinitiativen oder teilweise auch Baugruppen ließen sich verallgemeinern und die arbeit als teil des Wohnens mitdenken. Wer waren die hauptinitiatoren der studie bzw. des Projekts? Was waren ihre motivation und zielsetzung? können sie etwas zum beabsichtigten organisationsmodell für die gebäude aussagen? ʶ Die studie wurde im rahmen des Roland Rainer Stipendiums der stadt Wien erarbeitet.4 Die aufgabenstellung geht im Wesentlichen auf den im Wiener stadtentwicklungsplan StEP 2025 festgelegten fokus auf die Bebauungsstruktur der nachkriegsjahre zurück. Die fragestellung lautete, wie man die (Wiener) großwohnanlagen, die in den nachkriegsjahren zwischen 1950 und 1980 erbaut wurden, weiterbauen und damit urbanität erzeugen kann. meine these ist, dass mit dem verschwin→ 103 den der arbeit die urbanität verschwindet. ʹ

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Andreas Rumpfhuber, Expanded Design

46 grossWohnanlagen Der gemeinDe Wien studie zur funktionalen nachverdichtung arChitekten andreas rumpfhuber, expanded design, Wien Lage Wien, österreich baUjahr 1950–1980 anzahL Wohneinheiten 50.000 Wohnungen / potenzielle verdoppelung aUFtraggeber stadt Wien organisationsModeLL eine neu zu gründende gemeinnützige Wohn- und arbeitsgenossenschaft baUkosten im rahmen des Wiener Wohnbauförderungsgesetzes 1.590 euro / m²



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� ➊ exemplarische umsetzung der Wunschmaschine in der Per-albinhanson-siedlung ➋ Das allgemeine städtebauliche Prinzip definiert, welcher teil der landschaft als Bestand übrig bleibt, welcher teil bebaubar ist, wo 1 2 3 4 1 2 3 1 2 3 4 1 2 3 sonderformen möglich sind und wie QUO: VIRTUELLE WIEDERHOLUNG DEFINITION DER MENGE B MENGE ERSCHLIESSUNG ADDITIO CVIRTUELLE VIRTUELLE W DEFINITION DER ERSCHLIESSUNG MENGE B ERSCHLIESSUNG STATUS QUO: QUO:STATUS QUO: die anlagen erschlossen werden. STATUS VIRTUELLE WIEDERHOLUNG DEFINITION DER MENGE B ERSCHLIESSUNG AD STATUS WIEDERHOLUN DEFINITION DER B S WOHNBLOCK AUF ABSTRAKTER DER BEBAUUNG A WOHNBLOCK AUF ABSTRAKTER WOHNBLOCK AUF ABSTRAKTER DER BEBAUUNG A DERABEBAUU ➌ Die bestehende Bebauung WOHNBLOCK AUF ABSTRAKTER DER D BEBAUUNG A A S C A wird in der gebäudetiefe imA städA C’ EBENE EBENE EBENE B B EBENE B D B S tebau wiederholt, jedoch in ihrer A anordnung differenziert. Dadurch B C’ A’ A’ B’ B’ werden unterschiedliche anordnungen und räumliche Beziehungen A’ A’ zwischen Bestand und nachverdichtung möglich. ➋

2

3

4

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Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

A



A

kleine eingriffe

SINGULÄRER WOHNBLOCK AUF ABSTRAKTER EBENE



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B MARKIERUNG DER MENGE B:A B’ WOHNBLOCK, BESTEHENDE LANDSCHAFT U ND ERSCHLIESSUNG

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SINGULÄRER WOHNBLOCK AUF ABSTRAKTER EBENE

SINGULÄRER ABSTRAKTER EBENE SINGULÄRER WOHNBLOCK AUFWOHNBLOCK ABSTRAKTERAUF EBENE

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MARKIERUNG DER MENGE B: DER MENGE B: MARKIERUNG WOHNBLOCK, BESTEHENDE LANDSCHAFT U ND ERSCHLIESSUNG WOHNBLOCK, BESTEHENDE LANDSCHAFT U ND ERSCHLIESSUNG

MÖGLICHE WIEDERHOLUNG DER BEBAUUNG ALS DIFFERENZ BGF A = BGF A’

0,5 x BGF A = BGF A’

B’ A

B

A’

B’

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WunschmAschinE WohnAnlAgE

Andreas Rumpfhuber, Expanded Design

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GWA BESTAND



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typ a: 1-zimmer-Wohnung, 34,4 m2 typ c: 3-zimmer-Wohnung, 73,5 m2 typ X: flexibel, 20,0 m2 typ g: gemeinschaft, 43,0 m2 typ s: sonderformen (gewerbe, Werkstätten, …)

C D E B

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TYP A – 1 ZIMMER WOHNUNG, 34,4 M2 TYP C – 3 ZIMMER WOHNUNG, 73,5M2 TYP X – FLEXIBEL, 2O,0 M2 TYP G – GEMEINSCHAFT, 43,0M2 organisation Der Wunschmaschine

ORGANISATION DER WUNSCHMASCHINE S – SONDERFORMEN WERKSTÄTTEN, ...) ➍ TYP verortung der 46 großwohnan- (GEWERBE, ➎ Das konzept des dynamischen lagen in Wien mit insgesamt 50.000 gemeindebauwohnungen

WUNSCHMASCHINE

+

TYP TYP TYP TYP

Wohnens ➏ Die nutzungsorganisation im vergleich

TYP

kleine eingriffe

Die ideologie der funktionalen trennung von Produktion (arbeitsstätten) und reproduktion (Wohnen und freizeit) ist in einer global agierenden Wirtschaft paradox. Die schmutzige industrie ist weitgehend ausgelagert, unter dem schlagwort der industrie 4.0 verschwindet auch der rest der verbleibenden industrie- und Produktionsarbeitsplätze in absehbarerer zeit. Darüber hinaus werden administrative, juristische, medizinische und kreative arbeitsfelder zunehmend durch algorithmen ersetzt und automatisiert. Der traditionelle handel ist enorm unter Druck und wird vom versandhandel abgelöst. kurz: Die arbeit verschwindet. Die menschliche arbeitskraft wird in der effizienzlogik der globalen arbeitsprozesse von der Produktion gelöst und in eine Beschäftigungsleere entlassen. für die stadtentwicklung bleiben nur mehr der Wohnungsbau und, mit einschränkungen, die räume für den konsum als initiative instrumente der stadtentwicklung. mein vorschlag setzt auf mehreren ebenen an, um mit dem Wohnungsbau auch räume für die arbeit zu schaffen und dies, wie ich es nenne, gesellschaftlich zu organisieren. Die organisatorische und juristische metaebene bezieht sich auf das österreichische Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (Wgg) das in der derzeitigen form in österreich erstmals 1978 in kraft getreten ist. Das Wgg regelt die tätigkeit von gemeinnützigen Bauvereinigungen, die sich unmittelbar auf die exklusive erfüllung dem gemeinwohl dienender aufgaben des Wohnungs- und siedlungswesens beschränken müssen. in der Praxis hat das (verkürzt gesagt) die auswirkung, dass die gemeinnützigen Wohnbauträger ausschließlich Wohnraum schaffen. Das hängt natürlich auch mit den fördergesetzen und mit dem rationalisieren der hausverwaltungen zusammen. im Projekt argumentiere ich, dass aus heutiger sicht eine ausweitung des Wgg hin zur arbeit notwendig ist. eine neue Wohn- und arbeitsgenossenschaft kann andere infrastrukturen bauen, die sich programmatisch von den monofunktionalen strukturen abheben und die gleichzeitig gesellschaftlich, d.h. weder von oben herab durch die Politik noch ausschließlich von unten organisiert sind. in einem gewissen sinn verallgemeinere ich, was die Baugruppen heute bereits praktizieren. Dabei verschiebt sich aber die Partizipation weg von der ausverhandlung des Bauens hin zur ausverhandlung des zusammenlebens. ʹ

sie haben sich bei ihrem Projekt auf bewusst gesetzte eingriffe und geringe transformationen des Bestandes konzentriert. Welche eingriffe schlagen sie vor und welche idee steckt dahinter?

vgl. z.B. mensch und Büro 2 (1994): 29f. 5

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

103

eine evaluierung und revision durch ein Weiterbauen der großwohnanlagen muss gerade an jener funktionalen trennung ansetzen. ich verstehe meine Praxis als eine art Psyʶ choanalyse, die für jedes Problem nicht direkt eine lösung parat hat, sondern vorerst um die Probleme und symptome kreist. Das Projekt konzentriert sich daher auf das, was in den anlagen (und im Wohnungsbau) bisher nicht funktioniert beziehungsweise fehlt. Das Projekt geht vom maßstab der stadt und der Bebauung einer epoche aus. es wiederholt in einem gewissen sinn die ideologie der Wohlfahrtgesellschaft, aktualisiert sie jedoch im zuge der Wiederholung. Das Projekt konzentriert sich auf (verallgemeinerbare) interventionen in den zwischenräumen, die einen sonderbaren status haben. sie werden von oben herab verwaltet sowie gepflegt und gleichzeitig existieren sie für die Bewohnerschaft nur als distanziertes Bild einer landschaft. Besucht man die anlagen in Wien, bekommt man den eindruck durch einen Club med ohne animation zu laufen. und genau um die fehlende animation geht es in dem Projekt: Die oben erwähnte Wohn- und arbeitsgenossenschaft pachtet die freiflächen und entwickelt den freiraum. Dabei gibt es ein allgemeines städtebauliches Prinzip, das der mengenlehre entnommen ist. es definiert zunächst abstrakt in den schnittmengen, welcher teil der landschaft als Bestand übrig bleibt, welcher teil bebaubar ist, wo sonderformen möglich sind, wo eine neue nutzung der landschaft gedacht werden kann und wie die anlagen erschlossen werden. Die neue Bebauung zielt darauf ab, den nutzungsgrad der architektur zu erhöhen. Wir wissen, dass ein Bürogebäude nur fünf Prozent im jahr genutzt wird, wenn wir krankenstände, urlaub, Wochenende und organisatorische faktoren mitkalkulieren. ein öffentliches gebäude ist zu zehn Prozent genutzt.5 ähnliches gilt für den Wohnungsbau, auch wenn die zahl wohl etwas höher liegen wird. indem wir in der neuen Bebauung Wohnen, arbeiten und gemeinschaft miteinander verschränken, wird eine bessere auslastung der infrastruktur garantiert.

104

WunschmAschinE WohnAnlAgE

ʹ

Was war ihre haupt-intention für das Belassen der gebäude? ʶ Der gebäudebestand weist eine enorme qualität auf, was die grundrisse betrifft.6 gleichzeitig erlaubt der Betonfertigteilbau kaum strukturelle eingriffe. Die vorgeschlagene Bebauung nimmt in der städtebaulichen figuration die Bestandsbebauung auf, kann aber auch in zukunft ohne den Bestand weiterfunktionieren. ʹ

gibt es eine systematik in der herangehensweise? ʶ Das grundsätzliche Prinzip des Projekts ist die Differenzierung in der Wiederholung. Das Prinzip des Wgg wird einerseits wiederholt, andererseits um den aspekt der arbeit erweitert. es wird die bestehende Bebauung u.a. in der gebäudetiefe im städtebau wiederholt, jedoch in ihrer anordnung differenziert. Die innere organisation übernimmt Prinzipien des bestehenden Wohnungsbaus, löst sich jedoch vom Paradigma des räumlich zusammenhängenden Wohnverbunds und schafft damit eine andere Dynamik im zusammenleben. Der Wohnungsbestand der existierenden anlagen ist in das system integriert und es entsteht eine Wechselwirkung zwischen alt und neu. ʹ

Durch welches konzept kann in ihren augen eine wesentliche verbesserung der Wohnstruktur erreicht werden? Durch welchen eingriff ist eine neue Wohntypologie entstanden? ʶ Das Projekt versucht die animation der bestehenden quartiere durch (selbstorganisierte) arbeit zu denken. Diese animation ist aber keine Beschäftigungstherapie à la Club med oder Luna Park, sondern hat die implementierung einer eigenen ökonomie zum ziel, die das Potenzial hat, in die stadt auszustrahlen. Die vom österreichischen gesetz geforderte größe und kapitalstärke der gemeinnützigen genossenschaften ist für das gedankenexperiment ungemein wichtig, um tatsächlich jenseits der konzerne eine lokale, gesellschaftlich organisierte arbeit zu schaffen. im Prinzip wiederholt das Projekt ein Wohnmodell, das die überwiegende mehrheit des Bestandes ausmacht. 90 Prozent aller Wohnungen in Wien (privat, öffentlich gefördert und gemeindebau) sind a- und B-Wohnungen. Bei einem schnitt von 2,02 Personen je Wohnung sind 45 Prozent in Wien einpersonen- und 39 Prozent zweipersonenhaushalte. in der neuen Bebauung gibt es daher nur a- und c-Wohnungen. Die daraus resultierende freiwerdende fläche wird mit gemeinschaftsräume und einem neuen typ X (derzeit ca. 20 quadratmeter) siehe den grundrissvergleich von maren harnack in diesem Band, s. 45–47, für Beispiele aus london, 6

sowie die Beispiele aus stockholm im Beitrag von erik stenberg, s. 111–112.

Andreas Rumpfhuber, Expanded Design

sowie mit Werkstätten als sonderformen belegt. Der typ X kann als strategischer „leerstand“ kurz-, mittel- und langfristig als Wohn- oder arbeitsraum angemietet werden und dient somit als eine art ressource für verschiedene lebenssituationen. Durch die einführung des typ X und die Betonung der gemeinschaftsräumen verschiebt sich der fokus auf das zusammenleben in der gemeinschaft, ohne den privaten rückzugsraum in frage zu stellen. im moment gibt es Bestrebungen, das modell logistisch zu simulieren, um den strategischen leerstand zu definieren. zudem kann man so beziffern, wann ein derartiges system dynamisch wird. gleichzeitig werden die gemeinschaftsräume aufgewertet und durch die verschobenen Wohn- und arbeitsrhythmen besser ausgelastet. ähnliches gilt für die Werkstätten, die von verschiedenen gewerken, oder aber auch für den privaten gebrauch oder von schulen, zu verschiedenen zeiten genutzt werden können. Wichtig für mich ist dabei die abgrenzung zu Projekten, die meist eine offene Bürolandschaft für die erdgeschosszone vorschlagen, in der sich die neuen selbstständigen versammeln können. solche Designs suggerieren eine gemeinschaft in analogie zur fabrikhalle, die historisch gesehen nicht nur raum der ausbeutung war, sondern auch raum der kollektivierung. Diese lösungen übersehen die qualitativen unterschiede zwischen fabrikarbeit und neuen formen der kreativarbeit, die zwischen gruppen- und einzelarbeit changieren. so schlage ich arbeitszellen vor, in der konzentrierte, individuelle arbeit stattfinden kann, und gemeinschaftsräume mit unterschiedlichen qualitäten, die der kollektivierung dienen. ʹ

sind für die umsetzung herausforderungen absehbar? Die herausforderung für ein Pilotprojekt ist ʶ die frage nach der einbindung der Bewohnerschaft der bestehenden anlagen. insbesondere liegt die schwierigkeit darin, dass es sich in dem Projekt primär nicht um ein „partizipatorisches“ Designprojekt handelt, in dem ausverhandelt werden soll, wie ein haus auszusehen hat, sondern um einen partizipatorischen Prozess, der danach fragt, wie die anlagen bespielt werden und wie zusammengelebt wird.

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

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ESSayS ErIK StENBErG EINE NEuBEtrachtuNG DES SchWEDISchEN MiljonprograMMet aktuelle Entwurfsstrategien für vorgefertigte Bausysteme

JulIa GIll EDItED StaNDarDS Für mehr Individualität im Standard

KaNG ZhaO Zu EINEr ErWEItErtEN räuMlIchEN SyNtax Ein Werkzeug zur Beschreibung und transformation von architektonischem raum

NIlOuFar taJErI traNSFOrMIErtE MODErNE, KOllEKtIVE MODErNE Vom räumlichen zum wohnpolitischen Entwerfen im umgang mit dem Bestand

„Durch kleine, spezifische Eingriffe und die strategische Wiederaneignung ursprünglicher Ideen und Komponenten lassen sich Schwedens Nachkriegswohnungen leicht und erschwinglich erneuern, um den Bedürfnissen unserer Gegenwart zu entsprechen.“

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„Mehr Wohnqualität, mehr Identifikation und mehr abbildung urbaner Vielfalt sind auch für die Großsiedlungen erreichbar – beispielsweise durch die hier aufgezeigten Strategien. Ohne staatliches Engagement und langfristige Sozialbindungen allerdings wird eine gesellschaftsverträgliche Entwicklung der Bestände nicht möglich sein.“

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„Berücksichtigt man jedoch, dass raum sowohl physikalische als auch soziale attribute hat, besteht hier die Notwendigkeit, für die Erstellung einer erweiterten Version dieser analysewerkzeuge – eine, die die raumstruktur abstrahieren und gleichzeitig die sozialen und qualitativen Merkmale von raum beschreiben kann.“

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„architekten können Strategien entwickeln und öffentlich machen, die die anpassung an neue Bedürfnisse im Bestand und die Verbesserung der sozialen räume mit der Bewohnerschaft bewerkstelligen. Zugleich können sie die Politik dazu auffordern, spezifische Instrumente zur realisierung zu finanzieren. Damit wird das Konzept des sozialen Wohnungsbaus gestützt und zugleich neu definiert.“

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kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

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ErIK StENBErG

EINE NEuBEtrachtuNG DES SchWEDISchEN MiljonprograMMet aktuelle Entwurfsstrategien für vorgefertigte Bausysteme Erik Stenberg ist architekt und außerordentlicher Professor an der Kth School of architecture and the Built Environment in Stockholm, Schweden. Er arbeitet gegenwärtig an der Entwicklung des Sustainable homes lab am Kth center for a Sustainable Built Environment.

hall, thomas; Vidén, Sonja. „the Million homes Programme: a review of the Great Swedish Planning Project“. planning perspectives 20 (2005): 301–328. 2 Vidén, Sonja; lundhal, Gunilla (hg.). Miljonprogrammets bostäder: bevara – förnya – förbättra. Stockholm: Statens råd för byggnadsforskning, 1992. 3 hall, thomas (hg.). rekordå­ ren: en epok i svenskt bostadsbyg­ 1

Im Zuge des Miljonprogrammet (Millionenprogramms) wurden für Schwedens wachsende Mittelklasse zwischen 1965 und 1974 über eine Million Wohnungen gebaut. Jene zehn Jahre markieren den höhepunkt des schwedischen Wohlfahrtsstaats, der seine Bürger von der Wiege bis zur Bahre versorgte.1 Von dieser einen Million Wohneinheiten waren ungefähr ein Drittel Einfamilienhäuser, ein Drittel Mehrfamilienhäuser und ein Drittel vier- oder mehrgeschossige Bauten.2 Die meisten dieser Wohnsiedlungen im Stil der Moderne wurden in neuen, autonomen urbanen Ballungsräumen auf unberührtem Gelände außerhalb der Stadtzentren errichtet, nur schwach durch eine einzige Straße oder Eisenbahnlinie mit der vorhandenen Infrastruktur verbunden. Die neuen Satellitenstädte wurden als Pendlervororte mit kleinen Einkaufszentren zur Befriedigung des täglichen Bedarfs der Bewohner konzipiert, während die Mehrzahl der arbeitsplätze sich andernorts befand. ähnlich wie der Wohnungsbau der Nachkriegsmoderne im restlichen Nachkriegseuropa wurden die Wohnquartiere des Millionenprogramms von Beginn an heftig kritisiert, debattiert und diskutiert.3 Diese bereits früh negative haltung gegenüber dem Programm besteht bis heute fort, wenn auch die Kritik differenzierter geworden ist und man das Potenzial dieser Siedlungen in puncto sozialer, wirtschaftlicher und ökologischer Nachhaltigkeit entdeckt hat, das allein schon in der tatsache begründet liegt, dass fast ein Viertel des heute existenten schwedischen Wohnungsbestandes während dieser zehn Jahre errichtet wurde.4

gande. Karlskrona: Boverket, 1999; Söderqvist, lisbeth. rekordår och miljonprogram: flerfamiljshus i stor skala: en fallstudiebaserad under­ sökning av politik, planläggning och estetik. Stockholm: Stockholms universitet, 1999. 4 Johansson, Birgitta (hg.). Formas Fokuserar 20: Miljonprogrammet – utveckla eller avveckla? Stockholm: Formas, 2012.

um das gesteckte Ziel zu erreichen, eine Million Wohnungen zu bauen, war der Bauprozess an politischen Vorgaben orientiert und streng reguliert. Die Errichtung war hoch automatisiert und genormt, überwiegend industrialisiert und die Gebäude wurden in positivistischem Geist geplant. Dementsprechend wurden die fertiggestellten Gebäude als repetitiv und funktional, zuweilen auch als flexibel und meistens

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EinE nEubEtrachtung dES SchwEdiSchEn MiljonprograMMet

uniform wahrgenommen. aber im Gegensatz zu dem, was man von einem Prozess erwarten könnte, der so schnell und zweckbestimmt war, war die ära des Millionenprogramms auch eine Dekade aufregender kreativer Experimente. Die Distanz zwischen Forschung und Praxis war extrem gering.5 Im Nachhinein kann gesagt werden, dass das Programm eine Zeit der von anreizen und hoher Nachfrage getriebenen Innovation und Veränderung war. Günstige Darlehen mit niedrigen Zinsen wurden gewährt, um den Bau von Fabriken zu fördern, wo Wohnraum in Serien von mindestens 1.000 Einheiten produziert wurde. um jedoch in den Genuss der günstigen raten für die Finanzierung von Wohnraum zu gelangen, mussten alle Einheiten die Mindestanforderungen an funktionelle Wohnstandards erfüllen, wie sie in der schwedischen Bauvorschriftensammlung god Bostad („Gutes Wohnen“).6 festgelegt waren. Diese Doppeltaktik – der Wohnungsbau wurde durch eine größere Nachfrage nach einem großen Bauvolumen vorangetrieben und zugleich verstärkt politische Steuerung und Wissensproduktion in den Wohnungsbau eingebracht – ist ein wichtiger Grund, warum die Wohnungen des Millionenprogramms einen so hohen Standard nicht nur im räumlichen Verständnis, sondern auch im Bau erreichten. Das Wohnungsbauprogramm spiegelt die volle Entwicklung der Moderne sowie den Wandel von einer handwerks- zur Industriegesellschaft, der in Schweden damals stattgefunden hatte. Insgesamt 15 Prozent der Einheiten des Programms – d.h. ca. 100.000 der fast 700.000 Mehrfamilienhäuser – wurden unter Einsatz von Betonfertigteilen errichtet. Die meisten übrigen Mehrfamilienhäuser wurden mit Ortbetonteilen und tragenden Zwischenwänden errichtet. Wenn auch die meisten anderen Mehrfamilienhäuser zu dieser Zeit durch industrialisierte Prozesse wie Stahlschalungen für wiederholten Gebrauch oder genormte Komponenten errichtet wurden, so waren ihre tragkonstruktionen doch nicht voll vorgefertigt.7 1968 wurden in Schweden 16 verschiedene Vorfertigungssysteme benutzt. Jedes dieser Systeme hatte besondere Qualitäten und seine eigene evaluation of Swedish archi­ tectural research 1995–2005, Formas Evaluation report 7. Stockholm, 2006. 6 Vidén / lundahl 1992 (wie anm. 2). 7 Ebd.; Stenberg, Erik (hg.). Struc­ tural Systems of the Million program era. Stockholm: Kth, 2013. 8 andersson, Gösta. „Flerfamiljshus med stomelement av betong“. Byggmästaren 6 (1968): 24–25. 9 andersson, Gösta. Svenska ele­ mentbyggsystem för flerfamiljshus 1 & 2. Byggforskningen, Informationsblad 7 & 8 (1968). 10 Schneider, tatjana; till, Jeremy. Flexible Housing. Oxford: archi5

tectural Press, 2007; alonso, Pedro; Palmarola, hugo. panel. london: architectural association, 2014. 11 hall / Vidén 2005 (wie anm. 1); Johansson 2012 (wie anm. 4); und Stenberg, Erik. Structural Systems of the Million program era. Stockholm: Kth, 2013. Zuletzt andersson, roger et al. reState report 2i: large Housing estates in Sweden. utrecht university, Faculty of Geosciences, 2003. 12 Urbant utvecklingsarbete – del­ rapportering av regeringsuppdrag. rapport 2013:6. Karlskrona: Boverket, 2013.

E. Stenberg

strukturelle logik; die benutzten Elemente reichten von kleinen, leichten Wand- und Plattenelementen mit kurzer Spannweite bis zu großen, schweren, spannenden Elementen von der Größe eines ganzen raums.8 Die vorgefertigten Systeme lassen sich grob in zwei Kategorien unterteilen: Elemente in raumgröße und Elemente in apartmentgröße. Die erste Kategorie enthielt Komponenten, die raumunterteilungen horizontal und vertikal innerhalb und zwischen apartments verbinden. Die zweite Kategorie auf der anderen Seite hatte längere, freispannende Elemente, die flexible (d.h. bewegliche) leichtgewichtige Innenwände innerhalb von apartments erlauben.9 Im Vergleich zu anderen Fertigbetonsystemen in der ganzen Welt scheinen die Fertigbetonsysteme des schwedischen Programms extrem gut gebaut zu sein. Die Grundrissabmessungen sind großzügig, die Bauteile sind passgenau, die Systeme haben sich gut gehalten, die Materialien sind von hoher Qualität, und ein hoher Standardisierungsgrad zieht sich durch das gesamte Gebäude — von der Gebäudebreite bis hinunter zur Größe von Küchenschubladen.10 VOrhErrSchENDE ErNEuEruNGSStratEGIEN Die Wohnungen des Millionenprogramms werden derzeit einer genauen Prüfung unterzogen, da die haustechnik zu altern beginnt, neue Energieanforderungen eingeführt werden und viele der großen Wohnanlagen sozioökonomischem Verfall und zunehmender ausgrenzung unterworfen sind.11 Von den 15 Wohngebieten in Schweden, in denen kürzlich extreme arbeitslosigkeit, ein hoher anteil an Sozialhilfeempfängern und eine niedrige Zahl von Schülern, die auf weiterführende Schulen gehen, festgestellt wurden, wurden alle bis auf zwei während der ära des Millionenprogramms gebaut.12 Diese 13 Siedlungen laufen jetzt Gefahr, zu Symbolen des fortgesetzten Versagens der Moderne im Bereich der Stadtplanung und zum Gegenstand großflächiger renovierungsoder turnaround-Projekte zu werden. Diese symbolische Dimension ist eine starke Motivation, die ausstehenden technischen Erneuerungen in angriff zu nehmen und sie zu nutzen, um gleichzeitig die sozialen Probleme zu bekämpfen. aus diesem Grund sehen die meisten aktuellen Vorschläge für renovierung oder Neubau der großen Wohnanlagen größere bauliche Veränderungen vor. hinzu kommen ehrgeizige Zielsetzungen zur umkehrung ihres sozioökonomischen Verfalls – der günstige augenblick für eine Erneuerungsstrategie scheint also gegeben. Selbst wenn die Zahl fertiggestellter großer renovierungsprojekte wächst, variieren die Effekte und auswirkungen und werden debattiert, da sie dazu tendieren, den wirtschaftlichen Nutzen zur Priorität zu erklären. Einige Projekte wie die renovierungen von

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

gårdstensbostäder und Sigtunahem werden weithin als erfolgreich angesehen. Sie haben die schwierige aufgabe gemeistert, umfangreiche technische Über­ holungen und verbesserungen der energieeffizienz mit dem Bewusstsein für soziale nachhaltigkeit zu verbinden. ihre lösung bestand darin, stark in die Beteiligung der Bürger zu investieren und dem einzel­ nen die Wahl zu lassen, wenn es um den Standard der apartmenterneuerung ging.13 andere projekte wie die renovierung von Järvalyftet, alingsåshem oder pen­ nygången werden als zu teuer oder zu radikal ange­ sehen, um als modell zu dienen. Sie haben alle, aus unterschiedlichen gründen, zum auszug der bishe­ rigen Bewohner geführt, selbst wenn es gelang, den Wohnungsbestand wiederzubeleben.14 auf der ande­ ren Seite haben eine wachsende anzahl von projek­ ten und Studien – wie Botkyrkabyggen, mitt alby und telgehovsjö – einen auf den inhärenten gebäude­ qualitäten und konservierungstaktiken basierenden schrittweisen prozess als wesentlichen teil der erhal­ tung und entwicklung von langfristigem eigentum angewandt.15 diese schrittweise renovierungsstra­ tegie steht im gegensatz zur Strategie des günstigen augenblicks, indem sie den Schwerpunkt auf soziale nachhaltigkeit legt. mit der schrittweisen renovie­ rung bleibt es die absicht, große bauliche änderun­ gen vorzunehmen, aber dies über einen gestaffelten zeitraum hinweg, so dass die mieter nicht sofort mit starken mieterhöhungen belastet werden. Während jedoch die grundrisse der im rahmen des millionenprogramms gebauten Woh­ nungen weiterhin als gut geplant und funktional gel­ ten, sind sehr wenige renovierungsprojekte auf die anpassung der grundrisse an die anforderungen der Bewohner fokussiert. Sowohl die Strategie des güns­ tigen augenblicks als auch jene des schrittweisen vorgehens nehmen umfangreiche änderungen vor: es werden etwa eine externe isolierung oder neue lüftungssysteme hinzugefügt, ohne das regel­ maß der Wohnungen oder die Statik der Bauten zu 13 lind, hans; lundström, Stellan.

Uppsats 44 affären gårdsten – Har förnyelsen av gårdsten varit lön­ sam? Stockholm: kth institutio­ nen för fastigheter och byggande, 2008. 14 thörn, catharina et al. Bosta­ dsvrålet på tensta Konsthall. 2014, https://abfstockholm.se/event/2014/ 05/bostadsvralet/ und https://www. facebook.comevents/14367965965 60133/  15 SaBo. Hem för miljoner: förut­ sättningar för upprustning av miljon­ programmet – rekordårens bostäder. Stockholm: SaBo, 2009. Siehe auch rutström, k. Miljonprogrammets för­ nyelse: inspiration till en helhetssyn. Stockholm: rådet för byggkvalitet [Bqr], 2008; reppen, lars; vidén, Sonja. att underhålla bostadsdröm­ men: kvaliteter och möjligheter i

flerbostadshus från åren 1961–1975. Stockholm: formas, 2006. 16 vidén / lundahl 1992 (wie anm. 2); Björk, cecilia; kallstenius, per; reppen, laila. Så byggdes husen 1880–1980. Stockholm: Statens råd för byggnadsforskning, 1984. 17 SaBo 2009 (wie anm. 15); Sam­ uelsson, nilson (hg.). Förändra var­ samt: vägledning vid ombyggnader av rekordårens bebyggelse. Stock­ holm: riksantikvarieämbetet, 2004; Boverket. Flerbostadshusens för­ nyelse: behov och förutsättningar, 2002 / 03. karlskrona: Boverket, 2003. 18 ohlsson & Skarne, typ Skarne 66 – typhus med flexibla och elas­ tiska lägenheter konstruerad enl system S­66 (1972). unveröffent­ lichter Satz von zeichnungen, archiv des autors.

109

berücksichtigen. diese maßnahmen sind auch nicht auf kleine eingriffe fokussiert, die die existierenden räumlichen und strukturellen qualitäten der gebäude nutzen, wie ihre elastizität, Standardisierung und modularisierung. abgesehen von der tatsache, dass ein solcher ansatz unnötig teuer ist, verpasst er die gelegenheit, größere änderungen wie die anpassung von grundrisslayouts an aktuelle Wohnformen vor­ zunehmen, interne und externe energielösungen zu optimieren und eine positive Wahrnehmung ganzer Wohnanlagen durch überraschende veränderungen der architektur zu erzeugen. ein neueS verStändniS deS WohnungSBeStandeS das Wissen über die mehrfamilienhäuser des schwedischen millionenprogramms basierte bislang auf wenigen veröffentlichungen, die in einem klima der ernüchterung zehn bis zwanzig Jahre nach sei­ nem abschluss erschienen. diese veröffentlichungen sind wichtige Wissensquellen, tendieren aber dazu, die Bestrebungen des millionenprogramms zu verallge­ meinern.16 → 1 auch in jüngerer zeit wurden abhand­ lungen über die gebäude veröffentlicht – meistens, um dem Bedarf eines erneuerten verständnisses des programms im lichte der fälligen renovierungen und der sich schnell wandelnden schwedischen gesell­ schaft zu entsprechen. diese tendieren jedoch dazu, sich auf materialausführung, entwurfsqualitäten wie einheitlichkeit und regelmäßigkeit oder eigentümer­ mieter­verantwortlichkeiten und ­mechanismen zu konzentrieren.17 diesen veröffentlichungen mangelt es an konkreten entwurfsstrategien für eine zukünf­ tige entwicklung aktueller Wohnungsgrundrisse. Wenn wir zurückblicken und die anstren­ gung unternehmen, die ursprünglichen entwürfe und historischen absichten der stark vorgefertig­ ten Bausysteme der ära des millionenprogramms zu verstehen, können wir verborgene und verges­ sene qualitäten entdecken. diese würden entwurfs­ strategien unterstützen, die auf einen schrittweisen und adaptiven eingriff fokussiert sind. eines der am weitestgehenden vorgefertigten Systeme aus jener ära ist das Bausystem S66 von ohlsson & Skarne. dessen ehrgeiz war es, zu gleichbleibendem preis größere apartments zu bauen, und zwar durch ratio­ nalisierung aller phasen des Bauvorgangs – von pla­ nung und entwurf bis zu fertigung und Bau. in die­ sem System sind sowohl die außenwände als auch die internen pfeiler tragend und verleihen jedem apartment ein flexibles, veränderliches layout.18 → 4 innenwände und Schränke sind ebenfalls beweglich. die ursprüngliche absicht war es, einer kernfami­ lie zu erlauben, im gleichen apartment alle lebens­ phasen zu durchlaufen: zuerst als junges paar ohne → 113 kinder, dann als familie mit nachwuchs in

110

EinE nEubEtrachtung dES SchwEdiSchEn MiljonprograMMet

E. Stenberg

1

2 Ein typischer Plattenbau des 1 „Millionenprogramms“

3 Bauvorgang für das System 2 3 von aB Norrköping byggelement in Navestad

Flexibler, über die Jahre verän4 derlicher Grundriss von Ohlsson & Skarnes System S66. Beispiel aus Orminge

raumvarianten des Fertigbe5 tonbausystems a-betong von 1964 bei Wohnungen in råslätt

kleine eingriffe

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Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

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E. Stenberg

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9 angepasster Innenraum in 9 einem Wohnblock in Brogården, alingsås, entwickelt im Seminar „reconstruction of the Million Program Era“, Kth School of architecture, 2012

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Entwurfsstrategien für 6 7 8 die umgestaltung von Wohnblocks in Orminge von Ohlsson & Skarne, entwickelt im Seminar „reconstruction of the Million Program Era“, Kth School of architecture, 2012

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unterschiedlichem alter und schließlich als ehepaar nach dem auszug der erwachsenen kinder.19 frühe Studien der vermieter hielten diese flexibilität und elastizität für überflüssig, und die entsprechenden qualitäten sind heutzutage bei den hauseigentü­ mern großteils in vergessenheit geraten.20 ich habe zwischen 2003 und 2013 sieben apartments in S66­gebäuden von ohlsson & Skarne umgebaut, und zwar auf der grundlage der ursprüng­ lichen vorfertigung und Bausysteme. die ursprüng­ lichen Wandelemente, Schränke, abstellräume und türen wurden im existierenden gebäude umge­ stellt, um einen nichtfunktionalistischen grundriss zu erzeugen.21 auch wenn einige dieser ideen über die ursprünglichen absichten der erbauer hinaus­ gingen, waren sie wegen des modularen originalsys­ tems doch möglich. die abmessungen wiederholen sich, und die elemente können daher leicht ohne änderung neu angeordnet werden. diese restruk­ turierten apartments haben einiges von dem gro­ ßen potenzial demonstriert, das in der änderung der Wohnungsgrundrisse liegt, um die aktuellen prob­ leme der häuser anzugehen. denn es mangelt diesen an identifikation, da sie scheinbar zu wenig individu­ alisierung ermöglichen und zudem überbelegt sind.22 a­betong, ein weiteres fertigbetonbau­ system, erreichte Schweden 1964. es beruhte auf dem dänischen Jespersen­System und war ebenfalls nach dem 3m­modul entworfen und stark modula­ risiert (es wird auf ein 300 mm­konstruktionsras­ ter übertragen).23 die flexibilität des Systems wurde beim Bau von 2.541 Wohnungen in råslätt, einem Stadtteil von Jönköping, getestet. der architekt lars Stalin behauptet, damals innerhalb eines begrenz­ ten Satzes von raumgrößen sechzig verschiedene apartmentpläne erstellt zu haben.24 → 5 dies ist ein unterschied zu anderen funktionalistischen grund­ rissen, zum Beispiel jenem von Skarnes S66, wo die räume mit spezifischen funktionen verbunden sind, 19 curman, Jöran; gillberg, ulf; Skarne, a. en elementbyggd låg­ husstad (a pre­fabricated low­rise housing estate). Stockholm: ohlsson & Skarne, 1969. 20 olsson, Bertil; nilson, rolf. anpassbara bostäder i flerfamiljs­ hus. institutionen för Byggnadsfunk­ tionslära. lund: tekniska högskolan, 1969. 21 zu den weiteren einzelheiten siehe den abschnitt über das pro­ jekt auf S. 54–61 im gleichen Band. 22 Stenberg, erik. „restructuring Swedish modernist housing“. nor­ dic journal of architecture 3, heft 2 (2012): 89–93. 23 andersson, gösta. „flerfamiljs­ hus med stomelement av betong“. Byggmästaren 6 (1968): 24–25 sowie duvhök, ivar. lite om abe­ tongs medverkan: utdrag ur boken om abetong. unveröffentlichtes manuskript des autors. växjö, 2015.

24 Stalin,

lars. råslättsprojektet: projektering – produktion. Stock­ holm: aB kopia, 1968. 25 Wetterblad, elina. Bärande betongkonstruktioner i miljonpro­ grammets flerbostadshus. Stock­ holm: kth examensarbeit, 2009. 26 Johnsson, arne. elementbygg­ nadssystem för bostadshus i norr­ köping: tekniska meddelanden nr 14. Stockholm: esselte aB, 1965. 27 Samuelsson, nilson; eliasson, pär. navestad 1998. rapport med stöd från riksantikvarieämbetet, 1998, unter: http://pe­ark.com/nav­ estad1998/innehall.htm 28 Bråmå, Åsa. går det att vända utvecklingen i utsatta bostadsom­ råden?exemplet navestad / ring­ dansen i norrköping. universität linköping: centrum för kommun­ strategiska studier, 2011.

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die ohne änderung der raumgröße nicht geändert werden können. die flexibilität von a­betong liegt in den vielen möglichen raumfunktionen, die innerhalb derselben raumgröße angeordnet werden können. der architekt und Baumeister versuchte, allge­ meine und „modularisierte“ raumgrößen zu finden, die eine vielzahl verschiedener funktionen erlaub­ ten (stomfacksvarianter). Weiterhin wurden diese raumgrößen an jenem Bausystem ausgerichtet, das den Bauvorgang rationalisierte. deswegen erlau­ ben die vorgefertigten Bodenplattenelemente ihre anpassung an aktuelle Wohnformen. zum Beispiel lässt sich durch entfernung eines oder mehrerer der Bodenplattenelemente über einem Wohnzimmer aus zwei kleineren apartments ein geräumiges duplex­ apartment erstellen.25 Beide mit dem a­betong­Sys­ tem möglichen entwurfsstrategien müssen noch in großem maßstab getestet werden. für die planung der 2.300 apartments des navestad­Bauvorhabens in norrköping entwickelten der architekt eric ahlin, der Bauingenieur dr. arne Johnson ingenjörsbyr und das Bauunternehmen aB norrköpings byggelement seinerzeit ein weiteres stark rationalisiertes und vorgefertigtes System.26 dieses System war am horizontalen 3m­modul aus­ gerichtet und benutzte nur 74 elemente unterschied­ licher größen für sämtliche gebäudeteile – von den fassaden, tragenden Wänden, Bodenplatten, dach­ platten, treppen bis zu den pfeilern. die innenwände waren tragend, und drei oder vier große Bodenplat­ tenelemente waren zur Überbrückung der Breite des gebäudes nötig.27 vorfertigung und ein rationalisier­ ter Bauvorgang waren die treibenden kräfte hinter der reduzierung des auf der Baustelle benötigten personals. → 2 3 die layouts der apartments im norrköping­System sind nicht wie üblich flexibel oder elastisch wie grundrisse in den Systemen von ohlsson & Skarnes S66 oder in den a­betong­Syste­ men. die inhärenten Stärken dieser Systeme liegen stattdessen im hohen grad der vorfertigung. zwi­ schen 2000 und 2003 wurde navestad einer großen modernisierung und renovierung unterzogen, um das gebiet von seinem negativen ruf zu befreien. Sechshundert apartments wurden abgerissen – einige, um die gebäudehöhen zu reduzieren, andere, um die gebäudelängen zu verkürzen. hauptziel der abrisse war eine größenreduzierung der Wohn­ anlage. im lichte des gegenwärtigen mangels an Wohnraum scheint ein solches vorgehen kurzsichtig zu sein, aber zu jener zeit wurde die erreichung sozial stabiler verhältnisse als vordringlich angesehen.28 leider nutzte das renovierungsprojekt den hohen vorfertigungsgrad nicht in seiner entwurfsstrate­ gie. zum Beispiel wäre es möglich gewesen, in einem größeren umfang elemente wiederzuverwenden, die entfernt worden waren, und damit an anderer Stelle

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EinE nEubEtrachtung dES SchwEdiSchEn MiljonprograMMet

neue und innovative Wohnungen zu bauen. Weiterhin wäre es möglich gewesen, an den Wohnungsgrößen und -arten radikale änderungen vorzunehmen, aber auch diese chance wurde verpasst. Dabei wäre es durchaus möglich gewesen, die Grundrisse so zu verändern, dass sie die heutigen Erfordernisse des Wohnens besser berücksichtigt hätten, und so ein Gegenstück zu den ursprünglichen, hetero-normativen Zweizimmergrundrissen der Nachkriegszeit zu liefern. Ein solcher ansatz hätte aus Navestad wieder ein visionäres Wohngebiet gemacht.29 Die ursprünglichen Entwurfsstrategien, die den eben beschriebenen Bausystemen zugrunde lagen, wurden stark unterbewertet oder einfach vergessen. Jüngst wurde versucht, diese Wissenslücke zu schließen, indem die Bausysteme des Millionenprogramms untersucht und ihre spezifischen Merkmale und größten Stärken identifiziert wurden.30 auf Grundlage der inhärenten, systemischen und strukturellen Qualitäten der Systeme ist es möglich, neue Wohnungsgrundrisse vorzulegen, die damals von den architekten beim Bau nicht ins auge gefasst wurden. → 6 7 Durch Bau und untersuchung von Modellen der Bausysteme im Maßstab 1:20 fand eine Studie der Kth School of architecture neues Potenzial für die räumliche Entwicklung mit kleinem Budget. Zum Beispiel lassen sich die Wohnungsgrundrisse von Flachbauten in Orminge, einem Stadtteil von Nacka bei Stockholm, die mit dem Ohlsson & Skarne S66-System errichtet wurden, unter Befolgung der in tensta getesteten Strategien zur aufnahme größerer und kleinerer Familien verändern. Weiterhin können an der außenfassade neue Vakuumisolierpaneele und Balkone angebracht werden, um den Energieverbrauch der Gebäude zu senken und damit sowohl die soziale als auch die umweltnachhaltigkeit zu verbessern. Für den außenentwurf schlug die Studie vor, die ursprünglichen unterteilungen der Paneele in der Fassade als etwas austauschbares zu behandeln. Daher wurde eine änderung des Materials vorgeschlagen, unter Beibehaltung der ursprünglichen abmessungen und Proportionen. Ein weiteres erfolgreiches Beispiel für die Nutzung der strukturellen Qualitäten der Gebäude sind die Wohnungen in Brogården, alingsås. hier besteht die tragende Konstruktion aus den raumaufteilenden Querwänden – d.h. einer Struktur wie bei einem Bücherregal. Ein längsdurchbruch durch die tragenden Wände verläuft in der Mitte des Gebäudes und erlaubt den Zugang zu den einzelnen räumen vom treppenhaus aus. Diese Qualität erinnert an die tragenden Mittelwände in holzkonstruktionen, allerdings umgekehrt, 29 hayden, Dolores. redesigning the american Dream: the Future of Housing, Work and Family life. New york: WW Norton & co, 2002

und andersson, c. abnorm. Stockholm: Examensarbeit, Kth School of architecture, 2006. 30 Stenberg 2013 (wie anm. 11).

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und erlaubt mit der Zeit die elastische Erweiterung von apartments – sowohl ausdehnung als auch Schrumpfung sind so möglich. → 7 Die vertikale Verrohrung des Bades und der Küche bleibt an Ort und Stelle. Dies minimiert die Zahl teurer baulicher Eingriffe und bedeutet, dass neuen Innenwänden, die zu den Originalwänden und Schrankkonstruktionen hinzukommen, mehr Beachtung geschenkt werden kann. → 9 Durch Verschiebung der einen oder anderen Wand, Durchbrüche in den Betonwänden, Neuanordnung von Nasszellen oder die Verwendung von Verkleidungen, abgestimmt auf die externen Paneele, lassen sich Methoden entwickeln, die auf den inhärenten Qualitäten der Wohnblocks fußen. Übergreifendes Ziel ist die restrukturierung der Bausysteme der Mehrfamilienhäuser des Millionenprogramms in einer art und Weise, die auf ihren vorhandenen Qualitäten aufbaut. anstelle der ursprünglichen genormten Einzelapartments für jedermann sollen Wohnungen entstehen, die auf die Bedürfnisse der Bewohner zugeschnitten und individuell sind. tatsächlich eignen sich die Bauten des Millionenprogramms wegen der hohen Qualität ihrer ursprungsstrukturen und wegen ihres hohen Grades an Standardisierung, Modularisierung und Vorfertigung sehr gut für eine anpassung an die Bedürfnisse der Gesellschaft von heute. Durch kleine, spezifische Eingriffe und die strategische Wiederaneignung ursprünglicher Ideen und Komponenten lassen sich Schwedens Nachkriegswohnungen leicht und erschwinglich erneuern, um den Bedürfnissen unserer Gegenwart zu entsprechen. Es ist zu hoffen, dass die Durchführung eines solchen Projekts uns in die lage versetzen wird, aus den Vorfertigungssystemen des Millionenprogramms lehren zu ziehen – wie Industrialisierung und Standardisierung dazu beitragen können, das Problem des wachsenden Mangels an Wohnraum im heutigen Schweden zu lösen.

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JulIa GIll

EDItED StaNDarDS Für mehr Individualität im Standard

Dr. Julia Gill forscht zu Produktionsbedingungen und aneignungsstrategien im Wohnungsbau. lehr- und Vortragstätigkeit an verschiedenen hochschulen, Vorstandsmitglied im Netzwerk architekturwissenschaft.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er-Jahre in Westund bis in die 1980er-Jahre in Ostdeutschland errichteten Wohnbauten sind heute für unsere Versorgung mit sozialem Wohnraum unverzichtbar. Insgesamt nehmen diese Gebäude über zehn Millionen Wohnungen auf – mehr als ein Viertel des gesamten bundesdeutschen Wohnungsbestandes.1 Knapp die hälfte davon befindet sich in den sogenannten Großsiedlungen mit mehr als 500 Wohnungen. Diese Ensembles wurden meist durch große Wohnungsunternehmen überwiegend in Programmen des „Sozialen Wohnungsbaus“ oder zur „lösung der Wohnungsfrage als soziales Problem“ mit industriellen Methoden erbaut. Es leben dort heute etwa acht Millionen Menschen, die zu einem großen teil auf preiswerten Wohnraum angewiesen sind.2

Errichtet wurden die Siedlungen an den damaligen Stadträndern oder auf innerstädtischen trümmerfeldern – dort, wo „viele Planer […] vor allem freigelegte Baufelder erblickten, auf denen die Forderungen nach ‚licht, luft, Sonne‘ endlich ungehindert einzulösen waren“3. Die mit den Kriegserfahrungen und der erneuten Bedrohung des Kalten Krieges4 verbundenen Überlegungen zum luft- und Katastrophenschutz führten dabei zu einer Begünstigung stark Vgl. Statistisches Bundesamt 2011: 6; Statistische ämter des Bundes und der länder 2014: 15f.; Statistisches Bundesamt 2015, tafel 1. 2 Vgl. hunger, Bernd. „Weiterentwicklung großer Wohnsiedlungen. Großes Zukunftspotenzial, trotz erheblicher Investitionsbedarfe“. Die Wohnungswirtschaft 8 (2015): Der anteil der Wohnungen in Großsiedlungen am Mietwohnungsbestand beträgt sogar etwa 20 Prozent. 3 Kil, Wolfgang. „Zwischenruf! Wie steht es um das Bild der großen Wohnsiedlungen in der Öffentlichkeit?“ In: leben in großen Wohnsiedlungen. Soziale Stadt – stabile nachbar­ schaften – bezahlbares Wohnen. Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V. (hg.). Berlin, 2013: 47. 4 Vgl. leutz, hermann. „aufgaben des baulichen luftschutzes“. pro­ tar 11–12 (1959): 117–120; hampe, 1

Erich. Der Zivile luftschutz im Zwei­ ten Weltkrieg, Frankfurt am Main: Graefe, 1963: 269–297. 5 Jacobs, Jane. tod und leben gro­ ßer amerikanischer Städte, Berlin: ullstein, 1963: 199. 6 Vgl. hierzu Mitscherlich, alexander. Die Unwirtlichkeit unserer Städte. anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1965. 7 Vgl. Benze, andrea; Gill, Julia; Ebert, carola; hebert, Saskia. „Exzentrische Normalität. Zwischenstädtische lebensräume“. dérive 47 (2012): 4 f. 8 Gemäß einer Studie des Kompetenzzentrums Großsiedlungen e.V. in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für urbanistik (DIFu) aus dem Jahr 2015 (Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V. 2015). 9 Vgl. hunger 2015 (wie anm. 2): 9 f.

durchgrünter, offener und monofunktionaler städtebaulicher Strukturen, die mitunter bis heute als „von der normalen Stadt losgelöste und getrennte Gebiete“5 erscheinen. Diese sogenannten „Schlafstädte“ oder „Betonburgen“ genießen in der regel keinen guten ruf: zu groß, zu anonym, zu unwirtlich6 die Siedlungen – zu klein, zu gleich und zu unflexibel die Wohnungen. Dabei deckt sich die medial bediente und verstärkte, häufig stigmatisierende außensicht nicht zwangsläufig mit der Innensicht derjenigen, die hier ihre persönliche lebensmitte etabliert haben.7 Der Investitionsbedarf zur baulichen Weiterentwicklung allein dieser großen Siedlungen wird aktuell mit insgesamt rund 90 Milliarden Euro bis 2030 beziffert.8 Diese Zahl umfasst Maßnahmen an Gebäuden, Infrastruktur und umfeld zur energetischen Modernisierung, zum abbau von Barrieren und für eine verbesserte ausstattung – kurz: zur anpassung an heutige Standards.9 StaNDarDS Standards definieren ein anerkanntes oder angestrebtes Qualitätsniveau, dessen Sicherung zum Nutzen der allgemeinheit und im Interesse gesamtgesellschaftlicher Ziele erfolgt oder erfolgen

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sollte. Standards können sich auf Produkte und Produktionsweisen im weitesten Sinne beziehen, aber auch auf soziale oder kulturelle Werte. Die Felder, die durch Qualitätsmaßstäbe überprüft werden sollen, sind vielfältig. Ebenso mannigfaltig präsentieren sich auch die Möglichkeiten und Bedingungen der anwendung entsprechender Prüfkriterien und -methoden. So fußen die Normen und regeln, nach denen Standards definiert und überprüft werden, zum einen auf dem anerkannten Stand von Wissenschaft und technik. Durch die fortschrittsbedingte Erlangung immer wieder neuer Erkenntnisse wiederum unterliegt dieser naturgemäß einer stetigen Veränderung. Zum anderen beruhen die Beurteilungsmaßstäbe und -methoden auf politischen, gesellschaftlichen, kulturellen oder auch moralischen Übereinkünften, die sich ebenfalls im laufe der Zeit verändern. Standards treffen also Festlegungen, sind dabei jedoch selbst dynamisch und müssen immer wieder überprüft werden. Das gilt auch für die baulichen Standards beim Wohnungsbau. Deren Definition stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert – also aus einer Zeit, in der Industrialisierung und urbanisierung in den Städten zu Wohnverhältnissen geführt hatten, die in vielfacher hinsicht dringend der Intervention bedurften.10 Getragen von einem positiv besetzten Fortschrittsdenken und vor dem hintergrund einer zu dieser Zeit noch stark handwerklich geprägten Bauwirtschaft blickte die architektonische avantgarde dabei geradezu euphorisch auf die Potenziale der Industrialisierung. Überzeugt von der Wirksamkeit 10 Vgl. hierzu u.a. die 1901 bis 1920

durchgeführte Wohnungsuntersuchung der Berliner Ortskrankenkasse (ab 1914 aOK). 11 Siehe hierzu z.B. le corbusier: „häuser im Serienbau“. Vgl. le Cor­ busier. ausblick auf eine architek­ tur. Basel: Birkhäuser Verlag, 1991: 165–200. 12 tatsächlich basiert der Wohnungsbau jener Jahre auf standardisierten Grundrissen unter Einsatz von typung und Normung, gebaut wurde jedoch überwiegend in konventioneller Stein-auf-Stein-Bauweise. Vgl. auch Benze et al. 2013 (wie anm. 7): 8. 13 Siehe Baunutzungsverordnung vom 23. Januar 1990, zuletzt geändert 11. Juni 2013 mit Wirkung vom 20. September 2013, insbesondere 1. abschnitt: art der baulichen Nutzung (§§ 1–15), http://dejure.org/ gesetze/BauNVO. Ergänzung: Die Entflechtung der einstmals kleinräumig stark durchmischten Funktionen der Stadt wurde unter anderem auch in der charta von athen verankert, dem Ergebnispapier des Vierten Internationalen Kongresses Moderner architektur (cIaM) von 1933, welche vor und nach dem Zweiten Weltkrieg großen Einfluss auf den internationalen Städtebau ausübte.

14 Die abschaffung einzelner regel-

werke bedeutet nach ansicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht, dass die darin definierten Standards nicht mehr gelten sollen, sondern vielmehr, dass sie sich inzwischen als „heute selbstverständlich“ (BtDrucks. 10 / 2913, S. 13) etabliert haben. Dies betrifft etwa die Forderungen zu minimalen raumgrößen in der 1967 eingeführten und 1983 zuletzt aktualisierten DIN 18011 – Stellflächen, abstände und Bewegungsflächen im Wohnungsbau (zurückgezogen 1991), weiterhin den zwischen 1980 und 1985 gültigen § 40 des II. Wohnungsbau- und Familienheimgesetzes (WoBauG) zur Mindestausstattung von sozial geförderten Wohnungen bzgl. Sanitär- und Elektroausstattung; die DIN 18022 – Küchen, Bäder und Wcs im Wohnungsbau, Planungsgrundlagen – wurde 2008 durch die richtlinie VDI 6000 Blatt 1:2008-02 – ausstattung von und mit Sanitärräumen – Wohnungen – ersetzt. 15 EnEV (2002 / 2016). 16 DIN 4109-1 – Schallschutz im hochbau (1989 / 2013). 17 DIN 18025 – Barrierefreie Wohnungen (1992), heute Bestandteil der DIN 18040 – Norm Barrierefreies Bauen (2010).

künstlerisch-planerischer Eingriffe im Dienste einer sich freiheitlich entwickelnden Gesellschaft bezog sie die Forderung nach Standards nicht allein auf technische und baukonstruktive, sondern auch auf gestalterische und gesellschaftliche Fragen.11 Die Bewohner wurden dabei zum statistischen Gegenstand der Planung einer besseren Welt, die die architekten und Stadtplaner als Diagnostiker und pädagogen mit revolutionärem Impetus am reißbrett entwarfen: Praktische, gut belichtete und leicht zu reinigende Wohnungen im Grünen für ein physisch und psychisch gesundes leben sollten die feuchten, dunklen, krankmachenden Mietskasernen der Großstadt ersetzen. typengrundrisse und Serienbau standen dabei für kosteneffizientes Bauen – und damit für bezahlbares Wohnen.12 Die damals etablierten baulichen Standards prägen unsere Baugesetze und -verordnungen bis heute. Dies betrifft zum Beispiel die in der BauNVO verankerte trennung von Wohnen und Gewerbe.13 auch die in den Muster- und landesbauordnungen definierten Vorgaben hinsichtlich abgeschlossenheit und Sanitärausstattung von Wohnungen oder Größe und Belichtung von aufenthaltsräumen haben ihre Wurzeln in dieser Zeit.14 Dasselbe gilt auch für bau- und planungsrechtliche Vorschriften, die den abstand von Gebäuden, Brandschutz und Fluchtwegen regeln. letztere wurden nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich verschärft. hinzugekommen sind in den vergangenen zwei Jahrzehnten außerdem auflagen zu Energieeffizienz15, Schallschutz16 und Barrierefreiheit17. Neben diesen gesetzlich definierten Standards argumentieren Investoren und Wohnungsunternehmen mit solchen, die für einen verlässlichen absatz erforderlich seien. Diese betreffen etwa Wohnungsgrößen und raumzuschnitte, ausstattung von Bädern und Küchen sowie Materialien für Wand- und Bodenbeläge. StaNDarDISIEruNG uND StaNDarD Der Begriff der Standardisierung bezeichnet die Vereinheitlichung von Erzeugnissen oder Fertigungsweisen mit dem Ziel einer rationellen, kostengünstigen Produktion bei gleichbleibender Qualität. Ist eine derartige Standardisierung erfolgt, sprechen wir vom Standard: von Standardprodukten oder -verfahren. Im Wohnungsbau haben wir es mit Standardisierungsprozessen auf unterschiedlichen Ebenen zu tun: in der Planung beispielsweise durch sich wiederholende Grundrisse oder ausführungsdetails, in der Produktion etwa durch industriell vorgefertigte Bauteile oder genormte Bauelemente und Baustoffe. Der hier betrachtete Wohnungsbestand ist in beiderlei hinsicht standardisiert. aus dem „doppelten Erbe der Moderne und des Nationalsozialismus

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gespeist“18, wurden die schnell und in großer Zahl gebrauchten Wohnungen mit Blick auf die oben beschriebenen Standards für eine vermeintlich homogene Zielgruppe – die typische Kleinfamilie – entworfen. Man entwickelte funktionale typengrundrisse, die sich durch eine meist starre anordnung schachtelartig aneinandergefügter räume auszeichnen: kleine Schlaf- und ein etwas größeres Wohnzimmer sowie minimierte, einfach ausgestattete Bäder und Küchen. Die in großer Zahl nebenund übereinander gestapelten Wohnungen wurden zudem unter weitreichendem Einsatz serieller Bauweisen und industrieller Vorfertigung errichtet. auch wenn die derart standardisierten Gebäude und Wohnungen gesellschaftliche Vielfalt nicht sehr gut nach außen abzubilden vermögen und die aneignungsspielräume der auf ihre spezifisch intendierte Nutzung hin funktional optimierten und minimierten Grundrisse sich in engen Grenzen halten, bieten sie dem Einzelnen doch noch immer raum für individuelle Entfaltung – ja fordern das „Weltbildungsbedürfnis der Einzelnen“ vielleicht sogar erst heraus.19 INDIVIDualItät uND INDIVIDualISIEruNG Der Begriff der individualität bezeichnet die tatsache, dass ein Mensch (oder Ding) einzeln ist und sich von anderen Menschen (oder Dingen) unterscheidet. In unserer pluralisierten Gesellschaft legen wir großen Wert auf diese andersartigkeit. Deshalb möchten wir sie nach außen abbilden – beispielsweise in der Gestaltung unserer Wohn- und lebenswelten. Dabei spiegelt sich der Wunsch nach andersartigkeit (gegenüber anderen Individuen) ebenso wie der nach Zugehörigkeit (zu bestimmten Statusgruppen) wider: Das Verhältnis zwischen Gruppenzugehörigkeit und -abgrenzung ist also ambivalent. hier wird nun der Begriff der individualisierung wichtig. In Bezug auf die industrielle Fertigung bezeichnet er das „individuell Machen“ von zuvor Gleichem unter Beibe­ haltung serieller Produktion. Durch die Orientierung an standardisierten Vorbildern jedoch zeitigen dabei auch nach individuellen Wünschen oder dem Prinzip der Mass Customization geplante Wohnwelten oft uniforme lösungen.20 18 Kraft, Sabine. „Die Großsiedlungen. Ein gescheitertes Erbe der Moderne?“ arCH+ 203 (2011): 52. 19 Sloterdijk, Peter. „architekten machen nichts anderes als In-theorie“, Peter Sloterdijk im Gespräch mit Sabine Kraft und Nikolaus Kuhnert. arCH+ 169 / 170 (2004): 17. 20 Gill, Julia. „traumhauskataloge“. dérive 47 (2012): 26f. 21 Varianten für die umgestaltung des Bestandes bietet der Beitrag von Erik Stenberg im Projektteil auf S. 54. 22 Siehe hierzu horn 2014.

23 als

Beispiel im Neubau vgl. hierzu die Selbstbauprojekte Wohnregal (IBa 87 Berlin, Kjell Nylund, christof Puttfarken, Peter Stürzebecher) und Grundbau und Siedler (IBa hamburg 2006–2013, Bel architekten). Für eine Übertragung von Eigentumsmodellen auf den Mietwohnungsbau könnten Eigenleistungen der Nutzer mit Mietvergünstigungen ausgeglichen werden. 24 Vgl. Pressemitteilung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung 2013.

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Bezogen auf eine transformation der hier betrachteten Gebäudebestände würde eine Individualisierung eine nachträgliche Veränderung des Standards bedeuten. Dies kann durch die Neuorganisation der Gebäude geschehen, etwa durch umgestaltung, Zusammenlegung oder teilung bestehender Wohneinheiten für mehr typologische Vielfalt.21 Die Entwicklung flexibler Einbaumöbel- und ausbausysteme – ähnlich dem bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren durch rudolf horn zusammen mit den Deutschen Werkstätten hellerau entworfenen und über viele Jahre produzierten Montagemöbel (MDW) oder dem integrierten Möbelund ausbausystem (aN 20) für „Variables Wohnen“22 – böte vor diesem hintergrund insbesondere für Plattenbauten großes Potenzial. Durch den hohen Standardisierungsgrad der Gebäude und eine tragstruktur, die größtenteils ohne tragende Innenwände auskommt, ließen sich derartige Systeme sinnvoll konzipieren und kostensparend umsetzen. Denkbar wäre auch, Mieterwünsche in geplante Sanierungsmaßnahmen mit einzubeziehen – wenngleich abzuwägen ist, wie weit dies für Mietmodelle sinnvoll ist. Eine individuelle „raumproduktion“ durch die jeweiligen Bewohner ließe sich auch noch auf anderen Wegen unterstützen, etwa durch freiere regularien zur aneignung von Standardwohnungen – in Bezug auf die raumaufteilung ebenso wie die Oberflächengestaltung – als im rahmen herkömmlicher Mietverträge. Dadurch würde zwar der Verwaltungsaufwand erhöht, dafür jedoch zu einer gewünschten Durchmischung der Bewohnerschaft beigetragen: Die Wohnungsgrundrisse könnten an verschiedenartige Bedürfnisse, die Wohnungsausstattung an individuelle Budgets angepasst werden.23 aus diesen ausführungen wird deutlich, dass Standards und Standardisierung nicht zwangsläufig als Gegenpol zu Individualität und Individualisierung zu verstehen sind. Im Gegenteil eröffnet gerade eine Verbindung der jeweiligen aspekte großes Potenzial – etwa die Individualisierung von Standard-Wohnungen oder die anpassung von Standards für mehr Individualität. EDItED StaNDarDS Eine mögliche revision geltender Standards könnte – neben den oben angesprochenen ausbaustandards – auch die Wohnungsgrößen betreffen. So mögen die in den 1960er- und 1970erJahren errichteten Wohnungen nach heutigen Maßstäben als zu klein erscheinen. aber stimmt das? aus geringen Wohnflächen ergeben sich geringe Wohnkosten, und die tatsache, dass sich die ProKopf-Wohnfläche in Deutschland in den vergangenen 50 Jahren etwa verdreifacht hat,24 trägt weder den Klimaschutzzielen noch aktuellen Bevölkerungsentwicklungen rechnung. So gesehen besitzen die

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Wohnungen vielleicht für viele genau die richtige Größe – und sind zudem höchst funktional organisiert. Erweitert werden könnten die knapp bemessenen Flächen durch nachbarschaftlich genutzte, großzügige Wohn- und Essbereiche, Gästezimmer oder ähnliches. Derartige Modelle werden derzeit beim Neubau sogenannter clusterwohnungen erprobt, beispielsweise beim Berliner Spreefeld.25 teilen lassen sich nicht nur räume, sondern auch Gegenstände. Das gilt besonders für Dinge, die nicht täglich gebraucht werden, ob Bohrmaschinen oder Bücher, Sackkarren oder Saftpressen. Diese individuelle Interpretation von Wohnstandards hilft, Platz zu sparen und kann Gemeinschaft stiftend erlebt werden. Der raum für derartige Nutzungen – oder auch für angebote zur anpassung der Quartiere an sich verändernde soziale und demografische anforderungen – ist in den Bestandsbauten zum teil bereits angelegt oder wäre leicht zu ergänzen. So könnten die sonst nur schwierig nutzbaren Erdgeschosszonen oder die ursprünglich für „Gemeinbedarfseinrichtungen“ vorgesehenen, heute oft leerstehenden Flächen dafür umgestaltet werden. und wenn die Wohnungen dennoch vergrößert werden sollen? Warum sieht man dann nicht im rahmen energetischer Sanierungen anstelle einer Styroporschicht gleich eine neue raumschicht vor, wie bei der Sanierung des tour Bois le Prêtre in Paris? 26 hier fungiert eine dem Bestandsgebäude vorgestellte, drei Meter tiefe Wintergartenkonstruktion als klimatische und akustische Pufferzone, die zugleich raum zur individuellen Entfaltung bietet. Die durch eine einfache Konstruktion und die Verwendung von Standard-Industriematerialien äußerst kostengünstig durchgeführte Maßnahme ermöglichte hier außerdem den Ersatz der alten Fassadenpaneele durch großzügige Glasschiebeelemente, wodurch die Wohnungen eine ganz neue gestalterische Qualität erhielten. Eine solche Verknüpfung energetisch und räumlich wirksamer Maßnahmen ließe sich im Sinne einer neuen Interpretation von Wärmeschutzstandards weiterdenken. So könnte die anlage verschiedener Klimazonen innerhalb einer Wohnung dazu 25 Fertiggestellt 2012 (carpaneto Schöningh, Bar architekten, Fat KOEhl architekten); für ähnliche ansätze s. auch die Wohnungsbauten r50 (fertiggestellt 2013, IFau, heide von Beckerath), M29 (fertiggestellt 2012, clemens krug architekten). 26 Errichtet 1961 (raymond lopez), Sanierung 2012 (lacaton & Vassal, Frédéric Druot); s. auch Deutsches architekturmuseum (hg.). Druot, lacaton & Vassal: tour Bois le prêtre (Englisch). Berlin: ruby Press, 2012. 27 Für eine detaillierte Besprechung der Entwurfsstrategie von lacaton & Vassal, Fréderic Druot, siehe Projektteil S. 82.

28 Für

Beispiele im Neubau vgl. ring, Kristien (hg.). Selfmade City Berlin. Stadtgestaltung und Wohn­ projekte in eigeninitiative. Berlin: Jovis, 2013. 29 Errichtet 1974–1976, Sanierung 2014–2015 (clemens krug architekten und Bernhard hummel architekt); siehe Projektteil S. 62 für eine detaillierte Darstellung des Projekts. 30 Vgl. §§ 136 ff. BauGB in der Fassung der Bekanntmachung vom 23. September 2004, zuletzt geändert 20. Oktober 2015.

anregen, im Sinne ganzheitlicher Energiekonzepte den Verbrauch von heizenergie pro Wohnung zu kalkulieren – statt pro Quadratmeter außenwand, wie es die gültige EnEV vorsieht.27 Strategien zur Neudefinition von Standards lassen sich hierzulande vor allem im privat initiierten und selbst genutzten Wohnungsbau beobachten.28 Da sich hier eine reduzierung der Baukosten unmittelbar auf die Wohnkosten auswirkt und die Orientierung an einem anonymen Markt nicht zwingend erforderlich ist, werden konventionelle Vorstellungen einfacher hinterfragt und spezifische Vereinbarungen leichter getroffen. Doch auch für den Mietwohnungsbau lassen sich Fragen des Wärme- und Schallschutzes oder der Barrierefreiheit verknüpft mit Überlegungen zu alternativen Wohnformen, (temporär wachsendem und schrumpfendem) raumbedarf, Gemeinschaftsflächen und Belegung diskutieren. Das Projekt WilMa29 in Berlin zeigt, dass die Verhandlung der Frage, welche Standards im Sinne individueller und gemeinschaftlicher Interessen sinnvoll und unumstößlich erscheinen und welche dagegen entbehrlich oder neu zu definieren wären, als Prozess der teilhabe verstanden werden kann, die neben baulichen auch soziale aspekte berührt. Grundsätzlich kommt dabei die Standardisierung der Bauten, ihre kompakte Form und auch die Dichte der meisten Siedlungen den anforderungen des Klimaschutzes entgegen, denn dies ermöglicht rationelle und kostengünstige bauliche Maßnahmen zur Individualisierung. Durch die tatsache, dass sich viele der Ensembles noch in der hand von Wohnungsunternehmen befinden, ist – gesetzt den Fall, es bleibt dabei – eine wichtige Voraussetzung für abgestimmte Maßnahmen im Sinne langfristiger Perspektiven erfüllt. Die Festlegung von Sanierungsgebieten30 würde dabei Voraussetzungen für eine Förderung baulicher Maßnahmen schaffen, die ebenfalls sozial wirksam sind. Dieses Instrument hat sich schließlich auch bei der Entwicklung der heute so beliebten Gründerzeitquartiere bewährt: Erst die seit den 1970er-Jahren erfolgten massiven Überformungen der Gebäude in Bezug auf Dichte und technische ausstattung und zumindest temporär geltende soziale auflagen verhalfen ihnen zu ihrer jetzigen attraktivität. Mehr Wohnqualität, mehr Identifikation und mehr abbildung urbaner Vielfalt sind auch für die Großsiedlungen erreichbar – beispielsweise durch die hier aufgezeigten Strategien. Ohne staatliches Engagement und langfristige Sozialbindungen allerdings wird eine gesellschaftsverträgliche Entwicklung der Bestände nicht möglich sein.

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

119

KaNG ZhaO

Zu EINEr ErWEItErtEN räuMlIchEN SyNtax Ein Werkzeug zur Beschreibung und transformation von architektonischem raum

Kang Zhao ist Doktorand am Institut Entwerfen, Kunst und theorie des Karlsruher Instituts für technologie (KIt). Seine Forschung ist fokussiert auf die den räumlichen Systemen menschlicher Siedlungen zugrundeliegenden Bildungsmechanismen und ihre potenzielle anwendung in der modernen Stadtplanung.

Die ersten Beispiele, bei denen Menschen räumliche Gegebenheiten in abstrakte Grafiken transformierten, stammen aus dem 18. Jahrhundert. Im Jahre 1736 veröffentlichte leonhard Euler ein Papier über das mathematische Problem der „Sieben Brücken von Königsberg“. Die Stadt, heute Kaliningrad, liegt an beiden ufern des Pregels (heute Pregolya), der zwei Inseln umfloss, die teil der Stadt waren. Diese Inseln waren sowohl miteinander als auch mit der umgebenden Stadt durch insgesamt sieben Brücken verbunden. Die herausforderung, wie in Eulers Papier dargestellt, bestand darin, sich einen Parcours durch die Stadt auszudenken, bei dem jede Brücke nur einmal überquert werden müsste. Euler gelang es zu beweisen, dass es eine lösung für dieses Problem gibt, indem er die räumliche Konfiguration der Stadt in eine abstrakte Grafik transformierte. Damit entwickelte er zugleich eine neue untersuchungstechnik. Der wichtigste aspekt aber war, dass er durch eine abstrakte Neuformulierung des Problems, d.h. durch Fokussierung auf die Verbindung zwischen landmassen („Scheitelpunkten“) und Brücken („Kanten“) und nicht auf ihre räumliche Position oder Form, die Fundamente für die Graphentheorie legte. → 1

In den folgenden Jahren suchten Forscher nach systematischeren Wegen zum Verständnis des architektonischen raums unter Verzicht auf den rückgriff auf dessen materielle Eigenschaften und die Formulierung reiner räumlicher Beziehungen als beschreibende Modelle. am Ende des 20. Jahrhunderts hatten Forscher spezifische und systematische Methoden zur Beschreibung architektonischer räume in Form abstrakter Diagramme entwickelt. Die systematischste dieser Methoden ist die theorie der

raumsyntax. Obgleich der diesbezügliche rahmen ziemlich komplex ist, haben ihre theoretischen Fundamente die gleichen Grundsätze wie die Graphentheorie: räume werden in Sätze von Scheitelpunkten transformiert, während die Verbindungen zwischen ihnen als Kanten dargestellt werden. → 2 Durch diesen ansatz können die Grundrisse von Gebäuden oder selbst von großen urbanen Flächen in Diagramme abstrahiert werden, die die in Frage stehenden → 127 wesentlicheren räumlichen Beziehungen

120

Zu einer erweiterten räumlichen Syntax

a–D: land

K. Zhao

1–7: Brücke

A 1

A

3

2

1

B

7

5

6

5

7

B

C

4 4

3

2

C

6

D

D

1

GEtEIltEr rauM

Positiv geteilte räume Wohnzimmer, Esszimmer, Küche, etc. Negativ geteilte räume Korridor, Wc, etc.

PrIVatEr rauM

Primär privater raum Schlafzimmer, etc. Sekundär privater raum Privates Wc, privater Balkon, etc. Eingang / ausgang Verbindung territory

2

3

l W K E B S

lager Wohnzimmer Küche Esszimmer Badezimmer Schlafzimmer

r B'

4

K B

K

S K

S

E+W

Balc

S

S

B

B B

S

S

K

E+W

S

5

E+W

tyP a

unbekannter architekt: Gutbrodstraße, Stuttgart, Deutschland, 1930er-Jahre

Das „Königsberger Brücken1 problem“, untersucht 1736 von leonhard Euler räumliche Diagramme in der 2 theorie der raumsyntax

Konzept der positiv und nega­ 3 tiv geteilten räume Konvertierung des Diagramms 4 rB’ in einen Grundriss

S

tyP B

unbekannter architekt: Beihang road, Shanghai, china, 2015

räumliche Diagramme von 5 zwei verschiedenen arten von Verkehrsflächen: Bei typ a verbindet der negativ geteilte raum alle

anderen räume, bei typ B der posi­ tiv geteilte raum. Eine auswahl räumlicher Struk6 turen, abgeleitet von der Kombination grundlegender Diagramme

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

R B’

RB N Y

R AB N N

Wurzel (r)

N Y

R BA

R A’B’ N Y/N

N Y

R A’

RA N N

N N

C B’

CB Y/N Y

Kreuz (c) c=r+t

C AB Y/N Y/N

Y/N Y

C BA Y/N Y/N

C A’B’ Y/N Y/N

C A’

CA N N

N N

D B’

DB Y Y

Diamant (D) D=t+r

D AB N Y/N

DA

TB

Y Y

D BA Y Y/N

D A’B’ N Y/N

D A’

N N

T B’

Y Y

T AB Y Y

T BA Y N

6

N N

Y Y

T A’B’ Y/N Y/N

T A’

D B’A’ Y Y/N

N N

Baum (t)

TA

121

N N

T B’A’ Y Y/N

122 L W K E B S

Zu einer erweiterten räumlichen Syntax

K. Zhao

Lager Wohnzimmer Küche Esszimmer Badezimmer Schlafzimmer

K+E S B WC W L W+E

S

S

5m

0

K

3. Margret Duinker, Wagenaarstraat/ Van Swindenstraat Amsterdam-Dapperbuurt, Niederlande, 1989

WC B

2. Le Corbusier, Unité d’Habitation, Marseille, Frankreich, 1946–1947

W S

B B

L

S S

K B

WC

W S

E

K

S

S

1. Unbekannter Architekt: Großbritannien, 1949

E K

S

W

4. Alvar Aalto, Hansaviertel, Berlin-Tiergarten, Deutschland, 1956–1957

WC B

S

K

S

W+E K

6. Diener & Diener, Hammerstrasse / Bläsiring, Basel, Schweiz, 1978–1981

B

WC

W

L

S WC B

W B

L

B

S

S

S

E

S

S K

S

5. Diener & Diener, Hammerstrasse / Bläsiring, Basel, Schweiz, 1978–1981

S

S

7. Johannes Uhl, Rheinbabenallee 23-27, Berlin-Grunewald, Deutschland, 1980–1982

8. Gustav Peichl, Schloßstraße, Berlin-Tegel, Deutschland, 1984–1989

S K S B B

L

K

WC

WC

B E

S

E

B

S

E

W

L

L

B

S S W

K W

9. Josep Puig Torné, Villa Olimpica Barcelona, Spanien, 1991

7

W

10. Jörg Herkommer, Boxberg, Heidelberg, Deutschland, 1969–1971

11. Hilde Léon, Schlesische Straße /  Taborstraße Berlin-Kreuzberg, Deutschland, 1993

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

typ ab

typ aB

2. le corbusier, unité d'habitation marseille, frankreich, 1946–1947

1. unbekannter architekt: großbritannien, 1949

5. diener & diener, hammerstrasse / Bläsiring, Basel, Schweiz, 1978–1981

Y/N Y/N

123

typ Ba

3. margret duinker, Wagenaarstraat/ van Swindenstraat amsterdam­dapperbuurt, niederlande, 1989

4. alvar aalto, hansaviertel, Berlin­tiergarten, deutschland, 1956–1957

7. Johannes uhl, rheinbabenallee 23­27, Berlin­grunewald, deutschland, 1980–1982

6. diener & diener, hammerstrasse / Bläsiring, Basel, Schweiz, 1978–1981

8. gustav peichl: Schloßstraße, Berlin­tegel, germany, 1984–1989

Y Y/N

N

10. Jörg herkommer, Boxberg, heidelberg, deutschland, 1969–1971

N

8

9. Josep puig torné, etc.: villa olimpica Barcelona, Spanien, 1991

Beispiele für verschiedene 7 8 moderne Wohneinheiten. die dazu­ gehörigen diagramme zeigen die

Y Y

11. hilde léon, Schlesische Straße / taborstraße Berlin­kreuzberg, deutschland, 1993

neue herangehensweise an die raumsyntax.

124

Zu einer erweiterten räumlichen Syntax

S

K. Zhao

S

W

hausdach

W

S

3. OG 1 l

h

1. OG

l

S

S

4. OG V

S

l l

2. OG

2

K

W S

W

S

K

1. OG Wc

W

K

S

2. OG

E

EG Wc

K

W

K

1. OG

S

K

S

1 Wohneinheit 2 Gedeckter Gang 3 Vieh 4 ahnensaal

7. Erdhaus Fujian, china

1. OG

Männertrakt S

4

l

3. OG

EG 1. Zweifamilienhaus Schwarzwald, Deutschland

K

3

W K

V

l

l

S V

Frauentrakt

l

l

EG

1. OG

0

2. acehnese haus Banda aceh, Indonesien

10m

6. Wohnturm al hajjarah, Jemen

S S

S K

S

K

tochter

S

S

K

S

S S

E

E

l

K

l

S

S

S

S

E

l

l K

W

S

l

Sitzung

S S

S

S S

S

S

S

E

S

S

S

S

S

W+E

S

S K

8. römischer Domus Barcelona, Spanien

W+E

W+E

S W

l

l

S

V

S W

l / Wc

K K

W

4. höhlenhaus cuevas del almanzora, Spanien

l

S

S

W

S

Bedienstete

Privatschule

K

S

10. hofhaus Peking, china

EG S

S

S

S

S ahnensaal

W

l Familientempel

uG

S

Wc l

5. Balinesisches haus Nigis, Indonesien

9 Beispiele für verschiedene 9 10 arten traditioneller Wohnungen und dazugehörige Diagramme in der neuen herangehensweise an die raumsyntax

l

ältester Sohn

l

l

leseraum

Shop

Shop

W

S

Eltern

3. lobi haus Elfenbeinküste

S

W

Shop

S

E

S

S

l

Jüngster Sohn

S

Sklaven S

K

9. trullo alberobello, Italien

W

S

1. OG 11. toraja haus Nanggala, Indonesien

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

arbeitsraum

eg 1. og 1. og

1. og

eg

eg

2. og

3. og 4. og

1. og

5. og

eg

Wohnraum familie B

familie a

eg

6. Wohnturm al hajjarah, Jemen

1. zweifamilienhaus Schwarzwald, deutschland

7. erdhaus fujian, china

tochter männer

frauen

Sklaven

2. acehnese haus Banda aceh, indonesien

eltern & großeltern

Shop Shop

Jüngerer Sohn

älterer Sohn

eigentümer

Shop Bedienstete

8. römischer domus Barcelona, Spanien vater

10. hofhaus peking, china

Sohn

3. lobi haus elfenbeinküste

Weinkeller lager

haus 1

9. trullo alberobello, italien

haus 2

haus 3

haus 4

4. höhlenhaus cuevas del almanzora, Spanien

10

ehemann

frauen & kinder

gäste

5. Balinesisches haus nigis, indonesien

11. toraja haus nanggala, indonesien

125

126

Zu einer erweiterten räumlichen Syntax

K. Zhao

StaMMBauM

G1

G1

G1

G1

G1

G1

G2

G2

G2

G2

G2

G2

G3

G3

G3

G3

G3

G3

FaMIlIENStruKtur G1

G2

G2

G2

G2

G2

G2

G3 G1

G2

G2

G2

G1

G2

Maid

G2

G3

G2

G2

G2

G2 Maid

G2

G2

G3

G1 G1

G1 G1

G2

G1

G1

G2 G2

G1 G1 G1

G2

G2 G3

Maid

ENtSPrEchENDE räuMlIchE StruKtur

11

VOrhEr

B

K

S

NachhEr

W

W

S

S

B

K

12 Entwicklung sozialer und kor11 respondierender räumlicher Strukturen. Die ideale Konfiguration der erweiterten Familie in der traditionellen chinesischen Gesellschaft weist deutliche ähnlichkeit mit dem

räumlichen Diagramm eines chinesischen hofhauses in abb. 9 auf. 12 Das Diagramm eines traditionellen Schwarzwaldhauses (abb. 9) wird auf den Grundriss eines Plattenbaus vom typ WBS QP 71-r angewandt.

B

K

S

S

S

W

S

B

K

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

suggerieren; diese können einer weiteren analyse unterzogen werden.1 Ein Nachteil der in der raumsyntax benutzten Grafik der „Scheitelpunkte und Kanten“ ist, dass sie räumliche Systeme vereinfacht und sie nur als Beziehungen zwischen homogenen Knoten und Verbindungen ausdrückt, während sie die qualitativen unterschiede zwischen räumen fast vernachlässigt. Bei der Darstellung und analyse von Grundrissen, insbesondere unterschiedlicher Wohnungsgrundrisse, hat die „Scheitelpunkte- und Kantengrafik“ einige Nachteile, besonders, wenn es um die Beschreibung der sozialen und qualitativen aspekte von raum geht. Julienne hanson, eine Pionierin der raumsyntax, machte später einen unterschied zwischen zwei Funktionen des raums: Sie trennte zwischen dem effektiven raum und dem Verkehrsraum. Der erste Begriff bezeichnet einen raum mit haushaltsfunktion, den sie als leerkreis darstellte, der letztere Durchgänge, Vorräume und treppen mit Beförderungsfunktion, die als Vollkreise dargestellt werden.2 Berücksichtigt man jedoch, dass raum sowohl physikalische als auch soziale attribute hat, besteht hier die Notwendigkeit für die Erstellung einer erweiterten Version dieser analysewerkzeuge – eine, die die raumstruktur abstrahieren und gleichzeitig die sozialen und qualitativen Merkmale von raum beschreiben kann. und würden wir ein solches Werkzeug entwickeln, würde es die Erforschung der Beziehung zwischen räumlicher und sozialer Struktur in einer systematischeren Weise ermöglichen? als ein Versuch, die analysegrafik mit mehr Informationen anzureichern, könnten räume in zwei Primärtypen unterteilt werden: gemeinschaftlicher und privater raum. → 3 Die wichtigsten täglichen Verhaltensweisen – etwa Zusammentreffen, Kommunizieren und Sich-absondern – werden alle durch das ausmaß definiert, in dem sie entweder gemeinsam vollzogen werden oder privat sind; die sozialen attribute jedes raums werden von diesen sozialen Indikatoren bestimmt. unter anwendung der gleichen logik kann der gemeinschaftliche oder geteilte raum in zwei weitere arten unterteilt werden: positiv und negativ geteilter raum. Positiv geteilte räume sind jene räume, in denen die Bewohner zusammentreffen – wie das Wohnzimmer, Esszimmer etc. Negativ geteilte räume sind die räumlichkeiten, in denen eine geringe Kommunikation zwischen den Bewohnern herrscht – wie Flure, Bäder etc. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Merkmale jeder spezifischen raumart relativ sind, was bedeutet, dass sie von Fall zu Fall untersucht hillier, Bill; hanson, Julienne. the Social logic of Space. cambridge: cambridge university Press, 1984; hillier, Bill. Space is the Machine: a Configurational theory of architec­ 1

ture. cambridge: cambridge university Press, 1996. 2 hanson, Julienne. Decoding Homes and Houses. cambridge: cambridge university Press, 1998.

127

werden müssen. Zum Beispiel wird ein abgeschlossener, schmaler und dunkler Flur als negativ geteilter raum angesehen werden, während ein offener, geräumiger und heller Flur Zusammentreffen und Kommunikation zwischen Menschen fördern kann und dazu führt, dass er positiv eingestuft wird. Durch Benutzung dieser logik für unsere Definitionen können wir eine reihe von Werkzeugen entwickeln, die es möglich machen, Gebäudegrundrisse oder sogar Siedlungspläne in Diagramme umzuwandeln, die wesentlichere Informationen zu tage fördern. → 5  Wie die Diagramme illustrieren, erlaubt diese Methode durch ihren Vergleich eine sofortige klare unterscheidung zwischen dem ersten Diagramm (typ a, wo ein leerkreis – der negativ geteilte raum – alle anderen räume verbindet) und dem zweiten Diagramm (typ B, wo ein Vollkreis – der positiv geteilte raum – alle anderen räume verbindet). Wenn es um soziale Begegnungen geht, lässt das Diagramm von typ a erkennen, dass der Verkehrsraum (Flur) von sozialen Begegnungen abhält, wohingegen das Diagramm von typ B erkennen lässt, dass der geteilte raum (z.B. ein Wohnzimmer) gleichzeitig als Verkehrsraum dient, die Kommunikation fördert und zu treffen zwischen Bewohnern ermutigt. Diese zwei Diagramme sind nur Beispiele einfacher Strukturen in einer modernen Wohneinheit. In weiterem Sinne – wenn auch die meisten der diese Methode anwendenden Pläne komplizierter sind und komplexere räumliche Netze enthalten – lassen sich alle ihre Diagramme in drei Varianten klassifizieren: ab, aB, Ba – gekennzeichnet durch die entscheidenden Grundsätze der vorher erwähnten Prototypen a und B. → 8 Die abbildungen 7 und 8 beschreiben die Ergebnisse der analyse einer großen anzahl verschiedener Grundrisse und zeigen die unterschiedlichen arten von räumlichen Strukturen auf, die in modernen Wohneinheiten vorgefunden werden → 8 , und die ursprünglichen Grundrisse der ausgewählten Beispiele. → 7 VON DEr BESchrEIBuNG Zur traNSFOrMatION Wie kompliziert auch immer ein Diagramm sein kann, grundsätzlich ist es immer eine Variante einer sehr grundlegenden Struktur oder eine Kombination mehrerer Basisstrukturen. Daher kann eine Kombination und Vermischung der grundlegenden Prototypen ebenso neue Diagramme mit komplizierteren räumlichen Strukturen erzeugen. → 6 Diese Varianten sind nicht nur Beispiele dafür, wie bestehende Grundrisse als abstrakte Diagramme beschrieben werden können, sondern zeigen auch, wie das umgekehrte möglich ist: abstrakte Diagramme lassen sich zu konkreten Grundrissen entwickeln. Die anwendung dieses deduktiven Prozesses erzeugt

128

Zu einer erweiterten räumlichen Syntax

deswegen nicht nur spielerische Graphiken, sondern tatsächlich Varianten, die für den Entwurf vielfältigerer räumlicher Strukturen genutzt werden können. Die Struktur rB’ zum Beispiel → 4 ist eine symmetrische räumliche Struktur, deren Erscheinungsbild ziemlich ungewöhnlich ist, da sie an beiden Enden sowohl private räume aufweist als auch zwei positiv geteilte räume in ihrer Mitte. Diese art der Struktur, so meine these, hat einen potenziellen „Gruppeneffekt“, was bedeutet, dass die zwei positiv geteilten räume in der Mitte die privaten räume an beiden Enden ergänzen und dazu dienen würden, das ganze System in untergruppen aufzuteilen. Zu einem schematischen Grundriss entwickelt, könnte eine solche anordnung sich ideal für Menschen eignen, die in sehr privaten individuellen räumen leben, wie zum Beispiel in Studentenwohnheimen. Obgleich diese räume einen hohen Grad an Privatsphäre aufweisen würden, würde jedes Paar eine untergruppe bilden, die sich einen Innenhof teilt, der eine soziale Verbindung innerhalb jeder untergruppe herstellt. Die Verbindung zwischen den zwei Innenhöfen würde zudem einen weiteren Grad der sozialen Verbindung zwischen verschiedenen untergruppen herstellen. VErBINDuNGEN ZWISchEN räuMlIchEr StruKtur uND SOZIalEr StruKtur Neben ihrer anwendung für die Beschreibung der raumstrukturen moderner Wohnungen kann die Studie auch auf traditionelle Wohnungen angewendet werden. Die abbildungen 9 und 10 zeigen Grundrisse traditioneller Wohnanlagen aus verschiedenen Kulturen der Welt → 9 und ihre Konvertierung in Diagramme. → 10 Verglichen mit den Diagrammen moderner Wohnungen zeigen viele der räumlichen Diagramme traditioneller Wohnungen komplexere Strukturen, was Größe und räumliche hierarchie angeht. Dies bestätigt den größeren umfang und die Komplexität von hierarchien in den verschiedenen traditionellen Familienstrukturen. → 11 Mit der Festlegung der Nachkriegsgesellschaft auf die Kernfamilie stellt man fest, dass räumliche Diagramme des Wohnungsbaus der Nachkriegszeit im Vergleich einfach erscheinen. heute können wir jedoch in der aktuellen Gesellschaft eine Diversifizierung der Familienstrukturen feststellen – mit einem größeren anteil an kinderlosen Familien, alleinerziehenden, Paaren nach dem auszug der Kinder sowie Patchwork-Familien, Großfamilien und Wohngemeinschaften. Offensichtlich kommt der uniforme und standardisierte Entwurf vieler Nachkriegswohnungen dieser neuen gesellschaftlichen Dynamik nicht ausreichend entgegen. Berücksichtigt man jedoch,

K. Zhao

dass Funktionalismus in der architektur das Ziel hat, Basislebensstandards für so viele Menschen wie möglich durch Massenproduktion zu liefern, liegt der größte Wert jener Wohnungen in ihrer Basis­ infrastruktur. Diese bietet ein enormes Potenzial, die Wohnungen zu aktualisieren, zu transformieren und an die lebensverhältnisse der Gegenwart anzupassen. Betrachtet man eine Wohnanlage der Moderne aus der Perspektive des gesamten Etagengrundrisses, liegt ein großes Potenzial in der Öffnung der Wohneinheiten und ihrer Verbindung zum Zweck der Schaffung komplexerer Strukturen, die aktuellen lebensmodellen entsprechen. Ein solcher ansatz würde es Wohnanlagen erlauben, eine höhere räumliche Qualität zu erreichen. Wenn wir das Diagramm des traditionellen Doppelhauses im Schwarzwald → 10 zum Beispiel auf die Grundrisse eines ostdeutschen mehrgeschossigen Plattenbaus in Berlin (typ WBS QP 71-r, 1971) anwenden, können wir sehen, dass die vorhandene Struktur sich ziemlich leicht an eine solche anordnung anpassen lässt. Die traditionelle typologie sieht eine Küche vor, deren Nutzung sich zwei separate Familien teilen. Wenn wir zwei Einheiten des Plattenbaus kombinieren, können wir dieselbe Struktur wie beim Schwarzwaldhaus erreichen: Zwei Familien haben Zutritt zu einem separaten Eingang, während sie sich einen Gemeinschaftsraum teilen. → 12 Die analytische Grafik kann so als ein Entwurfswerkzeug funktionieren. auf der einen Seite können Pläne in Diagramme umgewandelt und diese Diagramme für eine zusätzliche räumliche analyse benutzt werden, auf der anderen Seite können neue Diagramme erzeugt und dann zu Plänen entwickelt oder als Werkzeuge zur transformation existierender Grundrisse benutzt werden. Von diesem zweiten ansatz ausgehend bietet der neue ansatz der räumlichen analyse eine einzigartige Gelegenheit – ein Mittel zur Integration aktueller gesellschaftlicher Strukturen in räumliche Diagramme bei gleichzeitiger Nutzung dieser sozial optimierten Diagramme für die Entwicklung neuer ansätze zur Veränderung unserer gebauten umwelt.

kleine eingriffe

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

129

NIlOuFar taJErI

traNSFOrMIErtE MODErNE, KOllEKtIVE MODErNE Vom räumlichen zum wohnpolitischen Entwerfen im umgang mit dem Bestand Niloufar tajeri lehrt als wissenschaftliche angestellte am Fachgebiet Bauplanung, Institut für Entwerfen, Kunst und theorie (EKut) des KIt Karlsruhe und arbeitet am Fachgebiet architekturtheorie an ihrer Dissertation. Sie schreibt u.a. für arCH+, dérive und Volume Magazine.

Die Wohnanlagen der Nachkriegszeit provozieren aufgrund ihrer Größe, ihrer sozialen Bedeutung und ihrer radikalen architektonischen ausformulierung eine fortwährende kritische Diskussion der Fragen „Wie will man wohnen?“ und „Wie soll man wohnen?“ Die Geister scheiden sich an der Beurteilung der Dimensionen, der normativen Grundrisse und der sozialen Struktur dieser Großsiedlungen. Die Debatte scheint sich zwischen drei lagern zu entfalten. Da sind jene, die eine direkte Kausalität zwischen Form und Nutzung vermuten und soziale Spannungen innerhalb der Wohnanlagen auf deren äußere Form zurückführen. andere halten die autonomie der architektur hoch und lassen dabei mitunter die Bewohnerschaft und Sozialpolitik außen vor oder machen sie gar für das negative Image dieser Wohnform verantwortlich. Der folgende text ist einem dritten lager zuzurechnen: hier wird eine komplexe Wechselwirkung zwischen Form und politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praktiken anerkannt und in ihrer Verschränkung mit der autonomen Entwicklung der Wohnform, die ihre eigene Entstehungsgeschichte und inhärente rationalität besitzt, betrachtet.1

ausgehend von der Fähigkeit der architektur, sich mit ihren eigenen Werkzeugen in einem heterogenen Feld zwischen ideologischen, wirtschaftlichen und politischen Praktiken zu bewegen, werden im Folgenden Überlegungen angestellt, wie man nicht allein neuen gesellschaftlichen anforderungen an den Wohnbaubestand gerecht werden kann, sondern auch, wie architekten in anbetracht der heftig diskutierten Gebäude überhaupt eine kritische und gesellschaftlich relevante haltung einnehmen können. Vgl. dazu den Beitrag von tom avermaete in diesem Band auf S. 25. 1

WOhNuNGSFraGE uND NOrMatIVItät Die Entstehung der Wohnungsfrage, also der Diskussion, wie sich bezahlbarer Wohnraum schaffen lässt und welche lebensweisen durch ihn ermöglicht werden sollen, ist in engem Zusammenhang mit der Industrialisierung und urbanisierung im 19. Jahrhundert zu sehen. Die produktive arbeit im privaten haushalt, in dem sich zuvor Wohnen und arbeiten überlagerten, wurde in die Fabriken und Bürogebäude verlagert. Durch diese trennung von arbeiten und Wohnen aber stellte sich überhaupt erst die Frage, was Wohnen ist und wie man wohnen sollte.2

130

TraNsformierTe moderNe, kollekTive moderNe

als politische oder unternehmerische antwort auf die Wohnungsfrage wurde die Wohnraumversorgung stets „von oben“ organisiert. Im 19. Jahrhundert geschah dies zunächst durch den Bau von arbeitersiedlungen, die von „paternalistischen Philantropen“ verantwortet wurden. Dadurch wollten die unternehmer „Selbstverantwortung, Sparsamkeit und das Familienleben fördern“3, aber auch die arbeiter an den arbeitsplatz binden. Diese Bemühungen waren somit nicht weniger normativ als die Wohnprojekte der sozialdemokratischen Kommunalverwaltungen, die am anfang des 20. Jahrhunderts durch ihre Wohnungspolitik das Wohnen in der Kleinfamilie zum Standard machten.4 Eine Fortsetzung dieser paternalistischen Wohnraumversorgung fand sich in den Nachkriegsjahrzehnten in der Formulierung und Festsetzung von Standards, Normen und Gesetzen, die die massenhafte realisierung der Wohnanlagen bestimmten. Die Wohnprojekte der Nachkriegszeit, ihre normativen Grundrisse und die top down-Entwurfsmethodik sind im Kontext dieser Entwicklung zu sehen; nicht „die Moderne“ an sich, sondern der gesellschaftliche und politische hintergrund, vor dem diese Bauten entstanden sind, hat zu nutzungsspezifischen und funktionstrennenden Wohnungsgrundrissen geführt. WOhNEN alS ratIONalEr VOrGaNG Die Wohnanlagen der Nachkriegsjahre stellen ein politisch verwaltetes, großmaßstäbliches Projekt des Sozialstaats dar, das sich, wenngleich in jedem land unterschiedlich5, in allen europäischen Staaten manifestierte. In Westeuropa ging der massenhafte soziale Wohnungsbau der Nachkriegszeit mit der umsetzung einer fordistischen agenda einher. Massenproduktion und Massenkonsum sowie eine kontrollierte Wirtschaftspolitik bildeten den Kontext für die neue ästhetik einer rationalisierten, modernen, demokratischen Gesellschaft.6 Zugleich 2 häußermann, hartmut; Siebel, Walter. Soziologie des Wohnens. eine einführung in Wandel und aus­ differenzierung des Wohnens. Weinheim und München: Juventa Verlag, 2000: 85. 3 Ebd.: 135. 4 Ebd.: 132–136. 5 avermaete, tom; van den heuvel, Dirk; Swenarton, Mark (hg.): architecture and the Welfare State. Oxon: routledge, 2015: 8. 6 harvey, David: the Condition of postmodernity. Malden: Blackwell Publishing, 2010: 125f. 7 Ebd.: 121f., harvey stellt fest, dass das fordistische akkumulationssystem auf der Grundlage eines kohärenten Schemas der reproduktion existiert, und dass dies wiede-

rum auf einem regulationsmodus (nach lipietz) fußt, d.h. einem verinnerlichten Satz an regeln, Normen, Standards und Gesetzen und sozialen Prozessen (Gewohnheiten und regulierenden Netzwerken). 8 Ebd.: 138. 9 Ebd.: 139. 10 Bensussan, Gérard; labica, Georges. Dictionnaire critique du marxisme. Paris: Presses universaires de France, 1999: 997. 11 Flexibilisierung von Produktionsprozessen, arbeitsmarkt, Produkten und Konsumgewohnheiten, und vor allem einer erhöhten Geschwindigkeit kommerzieller, technologischer und organisatorischer Innovationsprozesse. Ebd.: 147.

N. Tajeri

beruhten die Siedlungen oft auf vereinfachten, statistisch definierten Vorstellungen von gesellschaftlichem leben und haushaltsformen sowie auf den Paradigmen des Wachstums, der Normen und Standards7 und der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beständigkeit. Die industrielle Bauweise war ein maßgeblicher aspekt beim massenhaften Bau der Wohnanlagen im 20. Jahrhundert. Die programmatische Entwicklung des standardisierten Grundrisses folgte der zentralen Idee einer rationalisierung sowohl der Bauproduktion als auch des Wohnens.8 tayloristische Prinzipien dienten der Bewegung des neuen Bauens als leitlinie bei der Definition der modernen Wohnung. Das Wohnen wurde wie eine industrielle tätigkeit als sich ewig wiederholende Verrichtung einzelner Funktionen verstanden. Man betonte, dass in der Wohnung die immer gleichen Vorgänge – kochen, essen, sich entleeren, sich waschen und schlafen – stattfänden, denen jeweils ein besonderer, spezifisch ausgestatteter raum zugewiesen wurde: Küche, Esszimmer, toilette, Bad, Schlafzimmer.9 Die Wohnung als die Sphäre der reproduktion (beständige Wiederherstellung der Bedingungen und Verhältnisse der Produktion, z.B. rekreation, Bildung und Erziehung, soziale Beziehungen10) war zwar räumlich von der Sphäre der Produktion getrennt, funktional aber nach den gleichen Prinzipien ausformuliert. Sie war nicht dafür gedacht, unabhänging von der Produktion zu funktionieren, obschon paradoxerweise die Funktion „arbeiten“ in den Wohnräumen nicht durch einen besonderen Bereich berücksichtigt wurde. Der strukturierende Einfluss der arbeitsideologie bei kompletter abwesenheit der arbeit und der zugleich allgegenwärtigen hauhaltsarbeit sind charakteristisch für die Wohnkonzepte der Moderne bis in die 1970er-Jahre. WISSENSchaFtlIchE PlaNuNG VErSuS DyNaMISchE WIrKlIchKEIt Da sich die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Bedingungen seit der Errichtung dieser Bauten fundamental gewandelt haben, müssen wir uns erneut fragen, wie wir die soziale Frage im Zusammenhang mit räumlichen aspekten diskutieren möchten. In Folge der ersten rezession der Nachkriegszeit im Jahr 1973, die den Übergang vom Fordismus zum Postfordismus11 markiert, hielt in den späten 1970er-Jahren der Neoliberalismus Einzug. Er führte zum abbau der sozialen und wirtschaftlichen Sicherungssysteme, flexibilisierte den arbeitsmarkt und beschnitt im Speziellen die Grundlagen und Instrumente zur lösung der Wohnungsfrage. Während die Nachkriegszeit von aspekten der Planbarkeit und Machbarkeit (von Familie, arbeit usw.) geprägt

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treppenturm der hochhaus1 scheibe, Pallaseum, Berlin. Die vorgeschlagene, kollektive raumschicht würde diesen raum nach außen erweitern. adaptierter Grundriss des 2 treppenhauses, hochhausscheibe, Pallasseum, Berlin. Beispiel für Eingriff 2: Dem treppenturm der

hochhausscheibe wird ein Kollektivraum für eine Etage zugeschaltet. Das Prinzip der vorgeschalteten raumschicht deutet die Methode von lacaton & Vassal kollektiv um: Die neue raumschicht verknüpft mehrere Wohnungen miteinander und bedeutet eine funktionale Erweiterung der privaten räume.

adaptierter Etagengrundriss, 3 Flachbau an der Potsdamer Straße, Pallasseum, Berlin. Beispiel für Eingriff 1: Die Wohnung erhält einen neuen, öffentlicheren Wohnbereich, der dem kollektiven Flur zugewandt ist. Studentische arbeit von Max Kaske und Stephan Dietzel, entwickelt im Seminar „Zwischenformen.

Minimaleingriff als Denkwerkzeug“, KIt, Fachgebiet Bauplanung, 2014/ 2015

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war12, ist die zeit seit etwa 1980 vom neoliberalis­ mus, also von dynamik und mobilität, flexibilität und wirtschaftlicher unbeständigkeit geprägt.13 der Übergang zur dienstleistungs­ und Wis­ sensgesellschaft ging vor allem in den Städten mit veränderten arbeitsverhältnissen und ­bedingun­ gen einher, die keine familientauglichen lebensbe­ dingungen mehr gewährleisten und dadurch eine der ursachen für die gesellschaftliche individualisierung sind.14 insgesamt entsteht eine „vervielfältigung von interessen und Bedürfnissen in der Stadt und an die Stadt“.15 eine ausdifferenzierung von Wohn­ und lebensformen ist die konsequenz. Somit gibt es längst zweifel daran, ob das Wohnen tatsächlich ein rationaler, in seine einzel­ elemente zerlegbarer vorgang ist, der sich ewig wiederholt. vielmehr scheinen Wohnen und zusam­ menleben einer stetigen veränderung unterworfen zu sein – und zwar nicht nur im tagesablauf, sondern vor allem in Jahren und Jahrzehnten. Selbst wenn man von einer „normalfamilie“ ausgeht, gibt es zwei phasen der familiären entwicklung, jene des Wachs­ tums mit kindern und jene der reduktion mit deren auszug. letztere ist zugleich die phase des höchsten einkommens, während der raumbedarf stagniert.16 Weitere dynamische variablen sind zum Beispiel die veränderung des einkommens, des arbeitsortes oder des zusammenlebens. Wohnen ist dynamisch, ist transformation. und mit der ausdifferenzierung in vielfältige haushaltsformen nimmt die Bedeutung dieses transformationsaspekts weiter zu. auch sind arbeiten und Wohnen nicht länger zwangsläufig voneinander getrennt. der Bezug zwi­ schen beiden Sphären hat sich fundamental verän­ dert: es gibt heutzutage zum einen gesellschaftliche gruppen, die immer und überall arbeiten. räumlich ausgedrückt heißt das, dass in allen räumen (küche, Schlafzimmer, esszimmer) die komponente arbeit 12 Beckmann,

karen. Urbanität durch Dichte? geschichte und ge­ genwart der großwohnkomplexe der 1970er­jahre. Bielefeld: tran­ script verlag, 2015: 137. 13 harvey, david: the Condition of postmodernity. malden: Blackwell publishing, 2010: 189–192. 14 41 % aller haushalte sind ein­ personenhaushalte. ergebnisse des mikrozensus 2013. quelle: presse­ mitteilung des Statistisches Bun­ desamtes am 02.12.2014. online verfügbar unter https://www.de­ statis.de/de/presseService/presse/ pressemitteilungen/zdw/2014/pd14_ 050_p002.html (zuletzt aufgerufen am 28.5.2016). 15 holm, andrej: Die Vergesellschaf­ tung der Stadt. neuordnungen des Städtischen in kapitalistischen gesellschaften (2008). online ver­ fügbar unter http://www.linksnet.de/ de/artikel/23801 (zuletzt aufgerufen am 15.5.2016).

16 ritter, markus; Schmitz, mar­ tin (hg.). lucius Burckhardt. Der kleinstmögliche eingriff oder die rückführung der planung auf das planbare. Berlin: martin Schmitz verlag, 2013: 79. 17 vgl. die definition von Wohnkultu­ ren in häußermann, hartmut und Wal­ ter Siebel. Soziologie des Wohnens. eine einführung in Wandel und aus­ differenzierung des Wohnens. Wein­ heim und münchen: Juventa verlag, 2000: 44. „lebensstil, geschmack und persönlichkeitsmerkmale prä­ gen die funktionale und ästhetische gestaltung der Wohnungen – aber Wohnweise und Wohnkultur reprä­ sentieren auch die soziale zugehö­ rigkeit, die normen einer gesellschaft und die verfügung über materielle und kulturelle ressourcen.“ 18 vgl. die projekte von erik Sten­ berg in diesem Band auf S. 54–61. 19 vgl. die projekte von lacaton & vassal in diesem Band auf S. 82–97.

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hinzukommt (produktion und reproduktion überla­ gern sich ähnlich wie in vorindustriellen Wohnfor­ men). auf der anderen Seite stehen diejenigen, deren arbeitssituation prekär und fluktuierend ist. entwe­ der gehen sie überhaupt keiner oder immer wieder anderen arbeiten nach. räumlich ausgedrückt: der arbeitsplatz befindet sich möglicherweise nach wie vor außerhalb der Wohnung, aber der arbeitsort ver­ ändert sich fortwährend. architektoniSche mittel in der Sozialen Wirklichkeit Was bedeutet dieser Wandel nun für das Wohnen in ebenjenen gebäuden, die einem konkre­ ten Bild des „richtigen“ Wohnens folgten und für eine „statistische gesellschaft“ maßgeschneidert wurden? Schließlich haben wir es mit entwürfen zu tun, in denen vor allem dem zuschnitt der grundrisse besondere aufmerksamkeit galt, die – als architek­ tonische antwort auf statistische annahmen über die gesellschaft – präzise ausformuliert wurden. die optimierung, die verwissenschaftlichung der Woh­ nungsgrundrisse ist einerseits eine errungenschaft, insofern sie auf eine verbesserung des Wohnbedin­ gungen abzielt. Sie kann zum anderen aber auch eine Schwäche der gebäude darstellen, und zwar genau dann, wenn sich die Wohnkultur17 verändert. diese veränderung ist bereits erfolgt – die räume werden längst auf andere Weise und von anderen Bewohnergruppen genutzt als vorgesehen. Somit stellt sich, wenn man über eingriffe in den Bestand sprechen möchte, nicht mehr die frage, wie man den Bestand transformieren kann, sondern wie sich die aktive nutzung verändert hat und wo neue Wohnweisen mit der grundrisskonfiguration kollidie­ ren. auch sind die räumlichen Strategien zu suchen, mit denen sich Wohn­ und lebenssituation wieder in einklang bringen lassen. denn in der Bestandswoh­ nung trifft architektur auf die soziale Wirklichkeit des aktiven Wohnens – ihre Wechselwirkung kann ins­ besondere dort analysiert und verstanden werden. räumliche Strategien einer weniger rigiden vorstellung von Wohnkultur können in der architek­ turgeschichte gefunden werden. man kann Wohnun­ gen schrumpfen und wachsen lassen, sie aushöhlen, zubauen und wieder aushöhlen … Wenn man die typi­ sierten Wohnungsgrundrisse, die aneinandergereiht und übereinandergestapelt sind, als „wachsende“ häuser (im Sinne martin Wagners) betrachtet, kann man sie unterschiedlich verschalten18 oder räume der privaten einzelwohnung auch der hausgemein­ schaft oder den nachbarn zugänglich machen. man kann über eine kollektive nutzung von räumen nachdenken, etwa über kinder­ oder altenetagen, die mit den einzelwohnungen verknüpft sind, man kann raumschichten um den Bestand bauen19 und so

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neue Verknüpfungen schaffen oder Einküchen-Etagen nach dem Vorbild der Einküchenhäuser planen. Der Einsatz dieser Mittel ist stark von der analyse und der sozialen Wirklichkeit des Wohnens, von den kollektiven und individuellen, aber auch von wohnpolitischen und verwaltungstechnischen aspekten abhängig. Einerseits müssten architektonische Mittel im Zusammenhang mit den Bedürfnissen der Bewohnerschaft betrachtet und gedacht werden – eine bezahlbare Miete nach dem umbau spielt hier eine besonders wichtige rolle. Zudem müssen wohnpolitische Instrumente und Förderprogramme mit diesen architektonischen Mitteln einhergehend, mitgedacht und mitentworfen werden.20 Denn die Siedlungen der Nachkriegszeit sind Monumente des Sozialstaats. Bis heute kann kein anderes Konzept die gesamtgesellschaftliche aufgabe der Wohnraumversorgung auf so gerechte Weise erfüllen. Ein staatliches Projekt, dem die Versorgung einer großen Mehrheit mit Wohnraum gelang, kann nicht ohne die Beteiligung eben jener staatlichen Ebene neu ausgerichtet werden – bottom up­Strategien kommen hier nur in Kombination mit den top down­ Strategien staatlicher regelwerke in Frage. DIE NEuE CritiCality DES archItEKtEN Die Wohnungsfrage kehrt zurück: In Deutschland fehlen 4,2 Millionen Sozialwohnungen21. Vor allem in Großstädten sind Wohnungen knapp und die Mieten steigen. In Berlin beispielsweise lassen sich in diesem Zusammenhang zwei Phänomene beobachten: Die Mobilität der Mieter der großen Wohnungsbaugesellschaften ist aufgrund der steigenden Mieten so gering wie noch nie. und auch außerhalb der Wohnungsbaugesellschaften 20 Beispiele für neue wohnpolitische Instrumente: Salzburger Wohnungsbaufond oder die Initiative für einen Mietenvolksentscheid. letzterer legte dem Berliner Senat einen Gesetzesentwurf zur Neuausrichtung der sozialen Wohnraumversorgung vor. Der Senat hat den verfassungsmäßigen auftrag, Menschen mit geringem Einkommen mit günstigem Wohnraum zu versorgen. Obwohl der Gesetzesvorschlag nicht übernommen wurde, bewirkte der Druck jedoch die Verabschiedung eines Wohnraumversorgungsgesetzes von SPD und cDu, die viele der Punkte aus dem Mietenbündnis aufgenommen hat. 21 Pestel Institut, Bedarf an Sozialwohnungen in Deutschland. Studie im auftrag der Wohnungsbau Initiative, hannover 2013. 22 andrej holm in einem Gespräch: „Kein Platz für Familien? Bezahlbarer Wohnraum wird knapp in der Innenstadt“, Zeitpunkte – Debatte, rbb online, 25.04.2015, 17:04. Online verfügbar unter https://www.

youtube.com/watch?v=o9-exyzf_ 08&feature=share (zuletzt aufgerufen am 29.05.2016). 23 hinsichtlich der „quantitativen Wohnungsfrage“ konstatiert holm unter anderem ein Problem der Überbelegung bei Bedarfsgemeinschaften: „Sozialstudien in Berlin haben bei 18 Prozent der hartz-IVhaushalte mit mehreren Personen eine Überbelegung (...) festgestellt.“ holm, andrej: „Wiederkehr der Wohnungsfrage“. In: aus politik und Zeitgeschichte 20/21 (2014). Online verfügbar unter http://www. bpb.de/apuz/183446/wiederkehrder-wohnungsfrage?p=all (zuletzt aufgerufen am 15.05.2016). 24 „abgabebezirke“ sind Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Pankow, als „aufnahmebezirke“ gelten reinickendorf, Marzahn-hellersdorf und Spandau. Berner, laura; holm, andrej; Jensen, Inga: Zwangsräu­ mungen und die Krise des Hilfe­ systems. eine Fallstudie in Berlin. Berlin: humboldt-universität zu Berlin, 2015: 36.

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reagieren die Mieter mit einem „Mobilitätsstreik“. laut dem Stadtsoziologen andrej holm gab es Ende der 1990er- und anfang der 2000er-Jahre jährlich etwa 350.000 umzüge in der Stadt – heute sind es weniger als die hälfte davon. „BerlinerInnen ziehen nicht mehr um, weil jeder weiß, der umzug katapultiert die Miete so in die höhe, dass selbst ungünstige Wohnsituationen, die den lebensbedürfnissen häufig nicht mehr entsprechen, in Kauf genommen werden.“22 haushalte mit geringem Einkommen haben immer öfter zu kleine Wohnungen – Bedarfsgemeinschaften sind überbelegt.23 Wer staatliche transferleistungen bezieht, wandert zudem in die außenbezirke ab.24 Dadurch gehen gewachsene soziale Netze und Nachbarschaften in der Innenstadt verloren. Schwerwiegend ist diese Entwicklung vor allem für ärmere und ältere Menschen, für die nachbarschaftliche hilfe und Solidaritätsnetzwerke besonders wichtig sind. Folglich sind Forderungen nach einem umzug oder der „richtigen Wohnung zur richtigen Zeit“ abwegig. Der umzug bedeutet für eine wachsende Familie, dass sie eine kleinere Wohnung bezieht ohne weniger Miete zu zahlen, oder für eine Seniorin, dass sie ihr nachbarschaftliches Netzwerk samt sozialen Kontakten verlassen muss – in beiden Fällen werden die Probleme nicht gelöst, sondern lediglich durch neue ersetzt. hingegen kann sich die Familie den umzug in eine größere Wohnung mit höherer Miete wahrscheinlich nicht leisten; ebensowenig wie die Seniorin, die sich paradoxerweise eine kleinere Wohnung nicht leisten kann. architekten können Strategien entwickeln und öffentlich machen, die die anpassung an neue Bedürfnisse im Bestand und die Verbesserung der sozialen räume mit der Bewohnerschaft bewerkstelligen. Zugleich können sie die Politik dazu auffordern, spezifische Instrumente zur realisierung zu finanzieren. Damit wird das Konzept des sozialen Wohnungsbaus gestützt und zugleich neu definiert. Im umgang mit dem Bestand ist also eine neue, transformatorische herangehensweise erforderlich: die Wohnräume für diejenigen, die trotz veränderter Bedürfnisse bleiben und unter umständen von Überbelegung betroffen sind, müssen verbessert werden. Doch wie kann man mit einem umbau Missstände beseitigen und zugleich bezahlbare, sozialverträgliche Wohnräume schaffen? Es bedarf neuer Förderprogramme und einer Neuausrichtung der Wohnbaupolitik, die bei der transformation des Bestandes die vorhandenen Wohnpraktiken und lebenssituationen berücksichtigt und finanzierbar erhält. Zugleich sind soziale räume erforderlich, die kollektive Netzwerke und das teilen von Wohnfunktionen, Geräten und Dienstleistungen ermöglichen. Die Neuausrichtung der Bestandswohnungen sollte

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nicht ausschließlich räumlich stattfinden, sondern auch zeitlich: zur entlastung der oftmals zu kleinen privatwohnungen müssen kollektive räume bereitge­ stellt werden, deren nutzung zeitlich verwaltet wird. verSuch einer differenzierten kollektivität ausgehend von einem konzept der „ver­ gesellschaftung des haushalts“ ist zu untersuchen, inwiefern die streng auf die kleinfamilie ausgerich­ teten modelle, die wir im Wohnungsbau nach 1945 finden, zugunsten einer neuen differenzierten kollek­ tivität aufgebrochen werden könnten. als Beispiel sei das pallasseum (ehemals umgangssprachlich „Sozial­ palast“ genannt) von Jürgen Sawade in Berlin heran­ gezogen. um die enorme dichte der anlage zu kom­ pensieren, die in den Jahren von 1974 bis 1977 erbaut wurde und die über 514 Wohneinheiten vefügt, wurde der Bau damals mit verschiedenen gemeinschafts­ flächen ausgestattet. auf den flachbauten waren dachterrassen für die Bewohner vorgesehen, das luftgeschoss unter der hochhausscheibe und eine plattform, die diesen riegel mit zwei höfen verknüpft, waren als gemeinschaftsflächen ausgeschrieben. heute werden lediglich die höfe genutzt, während die dachterassen nicht betreten werden können und die meisten zugänge zum luftgeschoss wie zur plattform verschlossen sind. dies liegt daran, dass die dimensio­ nen der gemeinschaftsflächen zu groß und nicht mit den einzelnen Wohneinheiten verknüpft sind. hinge­ gen ist der zweite hof gerade deshalb belebt, weil sich dort heute ein gemeinschaftsraum für die Bewohner befindet. es bedarf also kleinerer gemeinschaftsflä­ chen, um die größeren kollektivbereiche zu beleben. man könnte in einer Wohnanlage dieser größe einen weiteren Schritt gehen und zusätzliche, nochmals kleinere gemeinschaftsräume schaffen, die einer einzelnen etage oder einer gruppe von Wohnungen zugeordnet wären. in diesem zusammenhang erscheint der ansatz des pariser Büros druot, lacaton & vas­ sal25 am einfachsten und radikalsten: der grundriss wird unverändert übernommen. es wird lediglich ein angebot zur erweiterung gemacht, das natür­ lich nicht neutral ist, weil die erweiterung die zimmer miteinander verbindet und einen zweiten korridor schafft, der wiederum das innenleben der Wohnung verändert. Bei den bisherigen projekten von lacaton 25 vgl. die projekte von druot, lacaton & vassal in diesem Band auf S. 82–97. 26 im Berliner Wohnhaus r50 von ifau und Jesko fezer, heide & von Beckerath, geschieht dies durch einen umlaufenden Balkon. 27 vgl. maak, niklas. Wohnkomplex. Warum wir andere Häuser brauchen. münchen: carl hanser verlag, 2014:

205 f. „die Bedeutung dessen, was ‚privat‘ ist, verändert sich mit dem sozialen und dem technologischen Wandel aber ebenso wie die rituale, die das Wohnen prägen.“ 28 vgl. das projekt Wilma von arge clemens krug architekten und Bern­ hard hummel architekt in diesem Band auf S. 62–73.

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& vassal geschieht dies innerhalb der privaten zelle – der ansatz kann aber auch kollektiv umgedeu­ tet werden: die neue, zusätzliche abgeschlossene raumschicht könnte mehrere Wohnungen miteinan­ der verknüpfen und kollektive räume als funktionale erweiterung der privaten räume anbieten.26 dadurch würde eine feinere körnung der kollektiv nutzbaren flächen erreicht werden. zwei optionen der kollektivierung wären denkbar: einerseits könnten bislang private räume öffentlicher gemacht und dem kollektiv zugeschal­ tet (und somit als öffentlicher teil eines globalen, städtischen oder nachbarschaftlichen netzwerks genutzt) werden, andererseits könnten diese priva­ ten räume noch radikaler als privat angesehen und alle potentiell kollektiven nutzungen nach außen getragen werden. eingriff 1 – der innenraum, der die Welt Bedeutet dieser raum ist nicht mehr nur privat27, in ihm findet mehr statt als früher, er wird gesellschaft­ lich. in ihm wird gearbeitet, es wird kommuniziert, man organisiert sich aus dem privaten raum heraus. es wird in unterschiedlichsten zeitaspekten auch getauscht, vermietet, zusammengelegt – temporär und wiederholt. dies kann zum Beispiel dadurch erreicht wer­ den, dass, wie z.B. in der Wilma28, der erschließungs­ gang der Wohnung zugeschaltet und somit wirklich kollektiv nutzbar wird: nicht nur zur erschließung, son­ dern zur verknüpfung der Wohnungen. die Wohnung hingegen erhält dadurch einen öffentlicheren Bereich, der dem kollektiven raum zugewandt ist. → 3 eingriff 2 – pluSraum privater und größer können die räume nicht mehr werden. nicht nur, weil die Struktur dafür zu rigide ist, sondern auch aus ökologischen und finanzi­ ellen gründen. Was also, wenn man spezifische funk­ tionen auslagert und der private raum dadurch zwar flächenmäßig gleich bleibt, aber funktional verdich­ tet wird, sodass mehr „raum“ für private funktio­ nen entsteht? man könnte bestimmte funktionen, die bisher auf die Wohneinheit beschränkt waren – kochen, arbeiten oder kindererziehung – auslagern und somit die frühen konzepte der kommunehäuser in der Sowjetunion aus den 1920er­Jahren neu inter­ pretieren. → 1 2 So kann beispielsweise ein erweitertes esszimmer für gemeinsame mahlzeiten oder große dinnerparties dienen, ein lernzimmer mit Bibliothek allen kindern aus einer etage oder aus mehreren Wohneinheiten zugänglich gemacht werden. man kann auch große gemeinschaftsküchen schaffen, sodass sich bisherige küchen in den Wohneinheiten

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in weitere Schlafzimmer umfunktionieren lassen. auch können, wie in andreas rumpfhubers Vorschlag zu einem „typ x“29, diese kollektiven Erweiterungen als neutrale räume, die einen strategischen leerstand bilden, konzipiert werden. Diese neutralen Zimmer stünden dann, je nach tageszeit, für unterschiedliche Funktionen zur Verfügung. ErFOrDErNIS NEuEr WOhNPOlItISchEr INStruMENtE Doch wie verhalten sich diese affirmative herangehensweise und das kritische agieren gegenüber den gegenwärtigen politischen und sozialen rahmenbedingungen? Verhindert eine (vermeintliche) Bejahung der Zustände die tatsächliche Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse? Wie strickt man aus diesen Überlegungen einen neuen realismus oder Pragmatismus, der sich kritisch und aktiv mit der sozialen Wirklichkeit auseinandersetzt? Es ist wichtig, sich mit den politischen Verhältnissen kritisch und konstruktiv auseinanderzusetzen und Staat und Kommune in die Verantwortung zu nehmen. Durch bestimmte sozialpolitische Instrumente (wie zum Beispiel „hartz IV“) entstehen spezifische Missstände hinsichtlich der Wohnraumsituation (wie beispielsweise Überbelegung). Zugleich stellt sich heraus, dass es keine adäquaten wohnpolitischen Instrumente gibt, mit denen man diesen Missständen begegnen könnte. Denn Neubauten sind nicht immer die beste lösung – zumal dann, wenn ein städtebaulicher anspruch wie die Erhaltung nachbarschaftlicher Netzwerke gewahrt werden soll. Die neuen wohnpolitischen Instrumente sind keine „rechtfertigung“ und „Bejahung“ jener sozialpolitischen Instrumente, die die Missstände überhaupt erst hervorgebracht haben, sondern eine Möglichkeit, Missstände aufzuheben und Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, indem die Politik auch finanziell wieder zur Verantwortung gezogen wird. architekten können räumliche Strategien beisteuern und mit Stadt- und raumsoziologen, Politikwissenschaftlern, Juristen, aktivisten und Gemeinschaften die wohnpolitische, juristische und finanzielle umsetzbarkeit dieser Strategien mitdenken, entwickeln, gestalten und durchsetzen. räumliche Ideen und Strategien, vielfältige Organisationsmodelle und Bedarf gibt es zur Genüge, sie müssen nicht neu erfunden werden. Was fehlt ist ein politischer Verhandlungsraum – der erste raum, der geschaffen werden muss, bevor wir die bestehenden erneuern können.30 29 Vgl. die Studie von andreas rumpfhuber in diesem Band auf S. 98–103. 30 ausgehend von einem recht auf Wohnen fordern stadtpolitische Initiativen, wie z.B. die Initiativen

„Stadt von unten“ und „Kotti & co.“ in Berlin, diesen Verhandlungsraum und damit das recht auf Mitbestimmung und kollektive Gestaltung und Nutzung des städtischen raumes.

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autOrEN

autOrEN tOM aVErMaEtE Dr. tom avermaete ist ordentlicher Professor für architektur an der tu Delft, Niederlande. Seine jüngsten Veröffentlichungen sind the Balcony (2014), Casablanca Chandigarh (2015) und architecture of the Welfare State (2015). JulIa GIll Dr. Julia Gill forscht zu Produktionsbedingungen und aneignungsstrategien im Wohnungsbau. lehr- und Vortragstätigkeit an verschiedenen hochschulen, Vorstandsmitglied im Netzwerk architekturwissenschaft. MarEN harNacK Dr. Maren harnack studierte architektur, Stadtplanung und Sozialwissenschaften. 2011 wurde sie Professorin für Städtebau an der Frankfurt university of applied Sciences. Seit 2008 betreibt sie gemeinsam mit Mario tvrtkovic das Büro „urbanorbit“. OWEN hathErlEy Dr. Owen hatherley arbeitet als freischaffender Schriftsteller und autor. Er erhielt im Jahre 2011 einen PhD vom Birkbeck college, london, für seine Dissertation: the political aesthetics of americanism in Weimar germany and the Soviet Union, 1919–34. Seine jüngsten Veröffentlichungen umfassen across the plaza (2012), landscapes of Communism – a History through Buildings (2015) und the Ministry of nostalgia (2016). arGE clEMENS KruG archItEKtEN, BErNharD huMMEl archItEKt Die arbeitsgemeinschaft Bernhard hummel architekt und clemens krug architekten arbeitet seit 2009 für selbstorganisierte Mieterprojekte und Wohnprojekte im Verbund des Mietshäuser Syndikats. Der Schwerpunkt der arbeit liegt auf der gemeinsamen Planung mit den Nutzern und auf kostengünstigem Bauen. Die leistungen umfassen Projektentwicklung, Erstellen der Finanzierung und alle leistungsphasen von der Grundlagenermittlung bis zur Bauleitung.

lacatON & VaSSal – DruOt Das Pariser Büro lacaton & Vassal arbeitet an mehreren Programmen des Städtebaus und des öffentlichen Wohnungsbaus mit. alle Projekte basieren auf den Grundsätzen von Großzügigkeit, Wirtschaftlichkeit und der Nutzung von Vorhandenem unter gleichzeitiger Verbesserung und Veränderung der Standards. Vorrangiges Ziel ist der Komfort der Bewohner und die optimale lebensdauer der Gebäude. Das Büro Frédéric Druot architecture in Paris wurde 1992 gegründet. Das Büro konzentriert sich auf Wohnungsbauprojekte und Städtebau. Zentrale anliegen sind die themen Kontext, Größenund Kosteneffektivität in neuen und bestehenden Gebäuden. Die beiden unabhängigen Büros arbeiteten bei der umgestaltung von Nachkriegswohnungsbauprojekten wie tour Bois le Prêtre, Paris, und cité du Grand Parc, Bordeaux, zusammen. WaltEr NäGElI Prof. Walter Nägeli gründete 1992 NäGElIarchItEKtEN und bekleidet seit 1994 die Professur für Bauplanung und Entwerfen am Institut Entwerfen, Kunst und theorie (EKut) des KIt Karlsruhe mit Schwerpunkt analytisches Entwerfen. BEat rOthEN archItEKtur Das Büro Beat rothen architektur wurde 1989 in Winterthur gegründet. Seitdem wurden zahlreiche Projekte u.a. im Wohnungs- und Siedlungsbau realisiert. Neben der Monografie Beat rothen. Wohnbau aus dem Jahr 2005 ist 2011 ein Buch in der reihe De aedibus: Contemporary architects and their buil­ dings zu den arbeiten von Beat rothen erschienen. In der edition Hochparterre erschien 2012 das Buch noerd: Das gewerbehaus der Kreativen. aNDrEaS ruMPFhuBEr, ExPaNDED DESIGN Dr. andreas rumpfhuber ist architekt und architekturtheoretiker mit arbeitsschwerpunkt neue Formen der arbeit und des Wohnens. 2012 Gründung des Büros „Expanded Design“. Vertretungsprofessuren an der akademie der bildenden Künste in Stuttgart

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(2015 / 16) und an der Muthesius Kunsthochschule Kiel (2013 / 14), autor der Bücher architektur immaterieller arbeit (2013), the Design of Scarcity (2014), Model­ ling Vienna, real Fictions in Social Housing (2015). ErIK StENBErG Erik Stenberg ist architekt und außerordentlicher Professor an der Kth School of architecture and the Built Environment in Stockholm, Schweden. Er arbeitet gegenwärtig an der Entwicklung des Sustainable homes lab am Kth center for a Sustainable Built Environment. ErIK StENBErG arKItEKtKONtOr Erik Stenberg arkitektkontor ist ein Büro, das sich auf die tektonik kleiner Gebäude, von anbauten und renovierungen konzentriert. Das hauptaugenmerk des Büros gilt dem Wohnen, ob in apartments oder Einfamilienhäusern. Für das Büro ist kein Projekt zu klein und nichts zu groß, um abgelehnt zu werden. In den vergangenen 15 Jahren hat sich das Büro auf den Entwurf anspruchsloser und kaum sichtbarer Vorhaben konzentriert. Die sichtbarste arbeit waren die Veränderungen an den hier vorgestellten sieben apartments. NIlOuFar taJErI Niloufar tajeri lehrt als wissenschaftliche angestellte am Fachgebiet Bauplanung, Institut für Entwerfen, Kunst und theorie (EKut) des KIt Karlsruhe und arbeitet am Fachgebiet architekturtheorie an ihrer Dissertation. Sie schreibt u.a. für arCH+, dérive und Volume Magazine. KaNG ZhaO Kang Zhao ist Doktorand am Institut Entwerfen, Kunst und theorie des Karlsruher Instituts für technologie (KIt). Seine Forschung ist fokussiert auf die den räumlichen Systemen menschlicher Siedlungen zugrundeliegenden Bildungsmechanismen und ihre potenzielle anwendung in der modernen Stadtplanung.

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literaturverzeichniS

literaturverzeichniS 17

die kleinen eingriffe und die WohnungSfrage niloufar tajeri

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der SoziuS moderner architektur tom avermaete

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aBWarten und tee trinken maren harnack

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GEBäuDE VON INNEN BEtrachtEN Interview mit anne lacaton

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98

WuNSchMaSchINE WOhNaNlaGE Interview mit andreas rumpfhuber

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EINE NEuBEtrachtuNG DES SchWEDISchEN MIlJONPrOGraMMEt Erik Stenberg

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Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

141

142

BildnachWeiSe

BildnachWeiSe 9–16

BildStrecke michel Bonvin

27, 29

der SoziuS moderner architektur tom avermaete

1 2 collection het nieuwe instituut, Stam p5 & p6 3 4 Strauven, francis. aldo van eyck. the Shape of relativity. amsterdam: architectura en natura, 1998. 5 photothèque, École nationale d’architecture de rabat, morocco.

37, 39

„dieSe häuSer Brauchen menSchen, dieSe menSchen Brauchen häuSer“ owen hatherley

alle abbildungen: owen hatherley

45–47

aBWarten und tee trinken maren harnack

1 colin Westwood, camden local Studies and archives centre 2 3 4 maren harnack 5 martin kohler 6 clothkits ltd (www.clothkits.co.uk) 7 8 maren harnack 9 christian holl 10 11 12 maren harnack

54–60

arBeit mit der BeStandSkonStruktion interview mit erik Stenberg

planmaterial: erik Stenberg arkitektkontor alle abbildungen: matti Östling

62–70

die plattenBauWeiSe BleiBt SichtBar interview mit oliver clemens, anna heilgemeir, Bernhard hummel

planmaterial: arge clemens krug architekten und Bernhard hummel architekt alle abbildungen: christoph löffler

74–80

Wohnqualität durch optimierung und Suffizienz interview mit Beat rothen und Birgit rothen

planmaterial: Beat rothen architektur gmbh alle abbildungen: pit.Brunner architekturfotografie

82–94

geBäude von innen Betrachten interview mit anne lacaton

➊ philippe ruault ⑦ ➊ frédéric druot ➋–➍ philippe ruault ➎ ➏ druot, lacaton & vassal ⑧ ➊ philippe ruault ➋ ➍–➏ philippe ruault ➌ lacaton & vassal—druot ⑨ ➊–➍ lacaton & vassal

98–102

WunSchmaSchine Wohnanlage interview mit andreas rumpfhuber

abbildungen, planmaterial: andreas rumpfhuber, expanded design

110–112

eine neuBetrachtung deS SchWediSchen milJonprogrammet erik Stenberg

1 Björk, c.; kallstenius, p.; reppen, l.. Så byggdes husen 1880­1980. Stockholm: Statens råd för byg­ gnadsforskning, 1984. 2 3 erik Stenberg 4 curman, J.; gillberg, u.; Skarne, a.. en element­ byggd låghusstad [a pre­fabricated low­rise housing estate]. Stockholm: ohlsson & Skarne, 1969. 5 Stalin, lars. råslättsprojektet: projektering – produktion. Stockholm: aB kopia, 1968. 6 7 8 9 kth School of architecture

kleine eingriffe

120–126

zu einer erWeiterten räumlichen Syntax kang zhao

alle abbildungen: kang zhao

131

tranSformierte moderne, kollektive moderne niloufar tajeri

1 michel Bonvin 2 niloufar tajeri 3 max kaske und Stephan dietzel

Neues Wohnen im Bestand der Nachkriegsmoderne

143

dank Stephan Becker, eric emery, kim förster, gal kirn, claudia iordache, Julia von mende, arjen oosterman, dagmar pelger, peter pulm, achim reese, karin rieck­ mann, eva Schuh, gudrun Sack, dubravka Sekulić, nastaran tajeri­foumani, renzo vallebuona, georg vrachliotis, anselm Weidner

144

IMPrESSuM

IMPrESSuM Diese Publikation wurde ermöglicht durch das Karlsruher Institut für technologie (KIt), Institut Entwerfen, Kunst und theorie (EKut), Fachgebiet Bauplanung und Entwerfen, und der IKEa Stiftung. texte mit freundlicher Genehmigung der autoren; abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Fotografen / Bildrechteinhaber hErauSGEBEr: Walter Nägeli, Niloufar tajeri lEKtOrat: hans Georg hiller von Gaertringen ÜBErSEtZuNG: Peter Schönau GraFIK uND art DIrEKtION: Onlab, thibaud tissot, Svyat Vishnyakov BIlDStrEcKE: Michel Bonvin PlaNBEarBEItuNG: carolyne couston PrOJEKtKOOrDINatION: Silke Martini, alexander Felix PrODuKtION: Katja Jaeger PaPIEr: Schleipen Fly 130 g / m2, luxoart gloss 150 g / m2 DrucK uND BINDuNG: DZa Druckerei zu altenburg Gmbh

library of congress cataloging-in-Publication data a cIP catalog record for this book has been applied for at the library of congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von abbildungen und tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book (ISBN PDF 978-3-0356-0720-8; ISBN EPuB 978-3-0356-0712-3) sowie in englischer Sprache (ISBN 978-3-0356-0843-4) erschienen. © 2016 Birkhäuser Verlag Gmbh, Basel Postfach 44, 4009 Basel, Schweiz Ein unternehmen der Walter de Gruyter Gmbh, Berlin/Boston Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. tcF ∞

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